Übertragung - Übersetzung - Überlieferung: Episteme und Sprache in der Psychoanalyse Lacans [1. Aufl.] 9783839400746

Titel und Thema des vorliegenden Bandes markieren die in erkenntnistheoretischer und wissenschaftsgeschichtlicher Hinsic

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German Pages 442 [440] Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Übertragung – Übersetzung – Überlieferung. Episteme und Sprache (in) der Psychoanalyse. Freuds und Lacans
Lacan a-t-il fait acte? Hat Lacan »Akt gemacht«? Hat Lacan Wirkung gezeigt?
»Jenseits dieser Grenze ist Ihr Ticket nicht mehr gültig.« Lacan in Österreich und die Folgen (1955–1999)
Das Scheitern ist gescheitert, oder: Weshalb Lacan in Italien kein Glück hatte. Lacan in Italien 1953–1974
Übertragung – Übersetzung – Überlieferung der Psychoanalyse an der Universität Gent
Lacan in Irland 2000
Fremdsprache
Wie man einen Autor ver-setzt, indem man ihn über-setzt. Mißglückte Begegnungen mit Lacan
Lost in Translation. Vom Verschwinden des Bilddenkens in Übersetzungen Benjaminscher Schriften
Schriftstörungen. Anmerkungen zur Ambivalenz der Legasthenie
Schrift-Störungen
Der andere Weg
Die Botschaften des Boten. Kafka-Lektüren
Überflüssiges? Über den schwindenden. Erkenntniswert einer Pirouette
Ulrike Oudée Dünkelsbühler
Über Fehlübersetzen: Schrift – Hysterie – Institution
Metapher – Übertragung. Überlegungen zur »Rhetorik des Unbewußten«
Der Gesetzesdiskurs in Psychoanalyse, Medizin und Totenrecht. Ein Übersetzungsproblem
Rhetorik des Anfangs. Über die Anrufung als inaugurative Kraft
Das Optisch-Unbewußte. Zur medientheoretischen Analyse der Reproduzierbarkeit
Von der Häresie zum Heiligen Mann
AEffekte. Signifikante Einschreibungen in »Soma«, »Nous« und »Psyche«
Vom Fluidum zur Libido. Der halluzinatorische Charakter der Übertragung
Freud und Fechner. Zur Rekonstruktion eines Paradigmenwechsels
Wissen, Übertragung, Genießen. Zum Verhältnis zwischen Ludwig Binswanger und Sigmund Freud
Die Zukunft der Psychoanalyse, oder: Von der Psychoanalyse der Zukunft
Übertragungsgefahr. Herausforderungen psychoanalytischer Kulturtheorie heute
Die Autorinnen und Autoren
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Übertragung - Übersetzung - Überlieferung: Episteme und Sprache in der Psychoanalyse Lacans [1. Aufl.]
 9783839400746

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Übertragung – Übersetzung – Überlieferung

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Georg Christoph Tholen, Gerhard Schmitz, Manfred Riepe (Hg.) Übertragung – Übersetzung – Überlieferung Episteme und Sprache in der Psychoanalyse Lacans

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) T00_03 innentitel.p 298403519154

Publikation zur internationalen Tagung »Übertragung – Übersetzung – Überlieferung. Episteme und Sprache (in) der Psychoanalyse Freuds und Lacans«, veranstaltet vom Wissenschaftlichen Zentrum für Kulturforschung an der Universität Gesamthochschule Kassel (unter Leitung von G.C. Tholen) im Juli 2000.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Übertragung - Übersetzung - Überlieferung : Episteme und Sprache in der Psychoanalyse Lacans ; [Publikation zur Internationalen Tagung »Übertragung - Übersetzung - Überlieferung. Episteme und Sprache (in) der Psychoanalyse Freuds und Lacans«] / [veranst. vom Wissenschaftlichen Zentrum für Kulturforschung an der Universität Gesamthochschule Kassel]. Georg Christoph Tholen / Gerhard Schmitz / Manfred Riepe. Bielefeld : Transcript, 2001 ISBN 3-933127-74-2

© 2001 transcript Verlag, Bielefeld Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: digitron GmbH, Bielefeld Druck: DIP, Witten ISBN 3-933127-74-2

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) T00_04 impressum.p 298403519194

Inhalt Vorwort 9

Georg Christoph Tholen Übertragung – Übersetzung – Überlieferung. Episteme und Sprache (in) der Psychoanalyse Freuds und Lacans 13

Charles Melman Lacan a-t-il fait acte? Hat Lacan »Akt gemacht«? Hat Lacan Wirkung gezeigt? 37

Michael Schmid »Jenseits dieser Grenze ist Ihr Ticket nicht mehr gültig.« Lacan in Österreich und die Folgen (1955–1999) 41

René Scheu Das Scheitern ist gescheitert, oder: Weshalb Lacan in Italien kein Glück hatte. Lacan in Italien 1953–1974 55

Filip Geerardyn Übertragung – Übersetzung – Überlieferung der Psychoanalyse an der Universität Gent 73

Helena Texier Lacan in Irland 2000 81

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Jutta Prasse Fremdsprache 93

Gerhard Schmitz Wie man einen Autor ver-setzt, indem man ihn über-setzt. Mißglückte Begegnungen mit Lacan 105

Sigrid Weigel Lost in Translation. Vom Verschwinden des Bilddenkens in Übersetzungen Benjaminscher Schriften 125

Roger Hofmann Schriftstörungen. Anmerkungen zur Ambivalenz der Legasthenie 141

Bettina Noddings Schrift-Störungen 149

Samuel P. Weber Der andere Weg 157

Marianne Schuller Die Botschaften des Boten. Kafka-Lektüren 171

Susanne Gottlob Überflüssiges? Über den schwindenden Erkenntniswert einer Pirouette 183

Ulrike Oudée Dünkelsbühler Über Fehlübersetzen: Schrift – Hysterie – Institution 195

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Elisabeth Strowick Metapher – Übertragung. Überlegungen zur »Rhetorik des Unbewußten« 209

Claudia Jost Der Gesetzesdiskurs in Psychoanalyse, Medizin und Totenrecht. Ein Übersetzungsproblem 225

Andrea Allerkamp Rhetorik des Anfangs. Über die Anrufung als inaugurative Kraft 257

Burkhardt Lindner Das Optisch-Unbewußte. Zur medientheoretischen Analyse der Reproduzierbarkeit 271

Max Kleiner Von der Häresie zum Heiligen Mann 291

Artur R. Boelderl AEffekte. Signifikante Einschreibungen in »Soma«, »Nous« und »Psyche« 305

Edith Seifert Vom Fluidum zur Libido. Der halluzinatorische Charakter der Übertragung 323

Manfred Riepe Freud und Fechner. Zur Rekonstruktion eines Paradigmenwechsels 343

Regula Schindler Wissen, Übertragung, Genießen. Zum Verhältnis zwischen Ludwig Binswanger und Sigmund Freud 371

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René Major Die Zukunft der Psychoanalyse, oder: Von der Psychoanalyse der Zukunft 387

Claus-Dieter Rath Übertragungsgefahr. Herausforderungen psychoanalytischer Kulturtheorie heute 395 Die Autorinnen und Autoren 433

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DIE AUTORINNEN UND AUTOREN

Vorwort Das vorliegende Buch versammelt die Vorträge, die auf der internationalen Tagung Übertragung, Übersetzung, Überlieferung (I). Episteme und Sprache (in) der Psychoanalyse Freuds und Lacans vom 14. bis 16. Juli 2000 in Kassel gehalten worden sind. Ausgangspunkt für Planung und Durchführung dieser Tagung war das individuell geteilte »Unbehagen« an den Überlieferungs- und Rezeptionsbedingungen der Lehre des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan, das die Veranstalter Mitte der 1990er Jahre in einer Initiativgruppe zusammengeführt hatte. Einer der ersten Effekte dieses, noch informellen, Austauschs war der Wunsch, Literaturwissenschaftler und Philosophen, Psychoanalytiker und Psychologen aus dem In- und Ausland einzuladen, um im Sinne der Freudschen Universitas Litterarum gemeinsam über die Frage nach dem epistemologischen (Selbst-)Verständnis der Psychoanalyse zu diskutieren – eine in wissenschaftsgeschichtlicher wie berufspraktischer Hinsicht grundlegende Frage, wenn man den derzeitigen Rückgang der Bereitschaft, den eigenständigen und eigensinnigen Status psychoanalytischer Methoden und Theoreme zu durchdenken, in Betracht zieht. Anders als vom Titel her naheliegend, war nicht an eine thematische Zentrierung der Beiträge auf je einen der drei Begriffe gedacht – weshalb auch in diesem Buch auf rubrizierende Zwischentitel verzichtet wurde. Vielmehr zeigt sich der Lektüre, daß bei aller Diversität und Heterogeneität der gewählten Sujets und Perspektiven stets alle drei Begriffe präsent sind, stehen sie doch für komplementäre Formen der Bewegung und Wandlung des psychoanalytischen Diskurses. So kann die Entdeckung der Übertragung mit Recht als die eigentliche Geburt der Psychoanalyse bezeichnet werden. Die Übertragung ist einerseits ein nicht szientifisch formalisierbarer, andererseits auch nicht esoterisch verwässerbarer Rapport zwischen zwei Subjekten; Übertragung funktioniert aufgrund der Unterstellung eines Wissens, das erst auf nachträgliche Weise seine Wirkungen entfaltet. Übersetzung ist nicht nur eine Technik zur Verbreitung von Texten über eine Landessprache hinaus; mit der Problematik der Übersetzung wird die Unumgehbarkeit der Sprachlichkeit des Unbewußten und aller damit verbundenen Effekte in den Blick genommen. Aus diesen beiden Begriffen resultiert 9

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GEORG CHRISTOPH THOLEN/GERHARD SCHMITZ/MANFRED RIEPE

schließlich das Problem der Überlieferung, das im Gegensatz zur integralen Übermittlung des naturwissenschaftlich exakten Wissens eine permanente Neuentdeckung des Gegenstands impliziert. Ob diese Neuentdeckung im psychoanalytischen Feld eine Bestätigung bestimmter Grundmuster (z. B. des Ödipuskomplexes) impliziert oder, wie die dekonstruktivistische Lesart nahelegt, eine permanente Revidierung der Ergebnisse, ist eine offene Frage. Mit Übertragung, Übersetzung und Überlieferung sind auch drei Formen theoretischer Verschiebung und Entstellung angesprochen, denen die Autorinnen und Autoren auf den Feldern der (Fremd-)Sprache und der sprachbezogenen therapeutischen Klinik, des Textes und der Schrift, der Interdiskursivität und der Gesellschaft nachgehen. Daraus ergab sich eine lose, aber nicht willkürlich zu verstehende Anordnung der Texte. So folgt einem einleitenden, das Terrain des Kongresses abstekkenden und grundsätzliche Fragen, Probleme und Perspektiven behandelnden Beitrag (Tholen) sowie einer pointierten, programmatisch zu lesenden »Erinnerung« (»rappel«) an die Position des Psychoanalytikers, wie sie sich aus dem Denken Freuds und Lacans ergibt (Melman) ein erster Block mit rezeptionsgeschichtlich orientierten Referaten zu ausgewählten Ländern Europas (Schmid, Scheu, Geerardyn, Texier). Setzt sich der darauf folgende Block mit der Koinzidenz von Übersetzen, Übertragen und Überliefern, ihren Subjektwirkungen sowie den Tücken, die sie bereithält, auseinander (Prasse, Schmitz, Weigel) – wobei der Akzent nicht nur auf dem technischen Verständnis des Übersetzens von einer Sprache in eine andere liegt –, so beleuchten die beiden anschließenden, klinisch orientierten Beiträge am verbreiteten Phänomen der »Schriftstörung« (»Legasthenie«) bei Schulkindern, wie irreduzibel die Subjektstruktur des Menschen in der Sprache gegründet ist und daß Defekte hier immer auch Defiziten in der Überlieferung zwischen den Generationen geschuldet sind (Hofmann, Noddings). Die darauf folgenden neun Beiträge repräsentieren Facetten einer möglichen Anwendung der Freud / Lacanschen Lehre auf die Probleme der Übersetzung, Übertragung und Überlieferung zwischen der Psychoanalyse und anderen Diskursen: Literaturwissenschaft, Grammatologie, Medizin, Gesetzgebung, Medien, sowie innerhalb der Psychoanalyse selbst (Weber bis Kleiner). Vier weitere Beiträge untersuchen, unter dem Aspekt des jeweiligen epistemologischen Basisparadigmas und zum Teil durchaus kontrovers, die Stellung der Psychoanalyse Freuds und Lacans zu anderen Diskursformen des »Wissens vom Menschen« – so zur Philosophie Spinozas (Bölderl), zur Psychophysik Fechners (Riepe), zur Fluidum-Lehre Mesmers (Seifert) sowie zur anthropologischen Psychiatrie Binswangers (Schindler). 10

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VORWORT

Den Schluß bilden zwei Beiträge, die sich mit der Zukunft der Psychoanalyse in der »globalisierten« Gesellschaft auseinandersetzen. Während der Beitrag von René Major sich der, immer schon theorieimpliziten, Forderung nach einer permanenten Revision ihrer Stellung gegenüber staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen zuwendet, zeigt Claus-Dieter Rath die beeindruckende Fülle und Dichte der kulturtheoretischen Reflexionen Freuds und macht deren ungeminderte Aktualität für die These vom »Unbehagen« – auch und gerade des »postmodernen« – Subjekts deutlich. Zusammengelesen bieten die Beiträge eine Momentaufnahme des interdisziplinären Umgangs mit der intellektuellen Herausforderung, die die Psychoanalyse – nicht beabsichtigt zwar, aber gewiß auch nicht zufällig, im 100. Jahr der Traumdeutung und zum 100. Geburtstag Jacques Lacans – sowohl für die Gesellschaft als auch für die Wissenschaften, und hier insbesondere die »vom Menschen«, noch immer darstellt. Basel und Frankfurt am Main, im Juli 2001 Die Herausgeber

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VORWORT

Übertragung – Übersetzung – Überlieferung. Episteme und Sprache (in) der Psychoanalyse Freuds und Lacans 1 Georg Christoph Tholen

Die Wissenschaft vom Unbewußten. Eine Retro-Perspektive Datiert man den in institutioneller Hinsicht wirksamen Beginn der deutschsprachigen Lacan-Lektüren auf das Jahr 1978 (Lacan lesen. Ein Symposium, dokumentiert in der Sondernummer der psychoanalytischen Zeitschrift Der Wunderblock, Berlin 1978), so erweist sich die seither sprichwörtlich gewordene ›Rückkehr‹ Lacans zu Freud als eine gegenüber anderen Ländern verspätete Rückübersetzung der Theorie Freuds nach Deutschland. Freuds Traum von einer Universitas Litterarum zwischen Natur- und Geisteswissenschaft, zwischen Klinik und Kulturtheorie, wurde als eine unabgegoltene Möglichkeit erneut thematisch und zum Leitgedanken einer anfangs zögerlichen und auf wenige Zirkel beschränkten Rezeption. Im Spannungsverhältnis zwischen Psychotherapie und verschiedenen Kulturwissenschaften artikulierten sich Lesarten, die von der Reflexion der epistemischen Grundlagen der Psychoanalyse bis zur Neuorientierung im Verständnis analytischer Praxis reichten. Gleichwohl lassen sich im Rückblick auf die wechselvolle Rezeptionsgeschichte in den letzten 25 Jahren zwei Schwierigkeiten nicht verleugnen: Erstens divergieren je nach institutionellen Vorgaben Formen der Übertragung und Überlieferung des psychoanalytischen Wissens. Zweitens steht die Praxis des Interpretierens und Übersetzens der Werke Lacans vor dem Problem einer prekären Textherstellung und Editionspolitik, die insbesondere den ungeklärten Status der Seminarmitschriften (›Texte ohne Original‹), aber auch die Zugänglichkeit der bisher vorliegenden ›öffentlichen‹ wie ›privaten‹ Übersetzungen betrifft.

1. Unter Mitarbeit von Roger Hofmann, Susanne Lüdemann, Manfred Riepe und Gerhard Schmitz. 13

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GEORG CHRISTOPH THOLEN

Der vorliegende Band widmet sich also der Metapsychologie Sigmund Freuds unter besonderer Berücksichtigung ihrer Fortschreibung im Werk Jacques Lacans, welcher in seinen Schriften und Seminaren stets den eigenständigen Ort der Psychoanalyse gegenüber den Human- wie Naturwissenschaften hevorzuheben sich bemühte und zugleich den wissenschaftsgeschichtlichen Horizont eben dieser Wissenschaften zu rekonstruieren und einzugrenzen versuchte. Anders als zur Zeit Freuds, der, noch im Prozeß seiner unabgeschlossenen Theoriebildung, von einer künftigen Hochschule des analytischen Denkens zu träumen vermochte und diesem einen Zwischenraum ›zwischen‹2 Medizin und Geisteswissenschaft eröffnen wollte, ist die epistemologische Situation heute komplexer: Zum einen wurde mit der ich-psychologischen Lesart, die sich in den 1920er Jahren durchzusetzen begann und sich nach dem Zweiten Weltkrieg im Kontext der International Psycho-analytical Association (IPA) mit nachhaltiger Wirkung auch in den europäischen Ländern zu etablieren wußte, ein nach bestimmten medizinischen bzw. therapeutischen Vorgaben institutionell legitimiertes und als solches notwendigerweise um Selbsterhaltung bemühtes Wissenschafts- und Berufsverständnis festgeschrieben. Bei allem Pluralismus in den theoretischen Grundlagen (Freudianer, Kleinianer, Jungianer usw.) gilt das IPA-orientierte Korpus der technischen Verfahrens- und Ausbildungsregeln, von bescheidenen Toleranzmargen abgesehen, als eindeutig normierbar

2. Er träume – so Sigmund Freud in einem als verschollen geltenden Text von 1918 – von einer ›künftigen Universitas Litterarum‹, in der das psychoanalytische Denken in einem eigensinnigen und eigenständigen Prozeß seinen Ort zwischen Medizin und Geisteswissenschaft zu finden habe. Wie aber wäre dieses ›Zwischen‹ zu institutionalisieren, wenn bereits der hier zitierte und die erstrebte Institution begründende Text Freuds nur als entstelltes Original vorliegt, nämlich in einer englischen Übersetzung von 1955, die ihrerseits, abermals entstellt, weil den oben genannten Zwischenraum auf Wissens- und Ausbildungsstandards vereinseitigend, hierzulande erst 1969 erschien – und kaum gelesen wurde? (vgl. Sigmund Freud: »Soll die Psychoanalyse an den Universitäten gelehrt werden?«, in: Das Argument 50 [1969], S. 80. Bereits dieser Text belegt das Dilemma von Übersetzung und Überlieferung der Freudschen Theorie: Es handelt sich bei der Argument-Fassung um eine – auch in inhaltlicher Hinsicht nicht unerheblich gekürzte – Rückübersetzung der englischen Übersetzung des als verloren geltenden Originaltextes aus dem Jahr 1918. Der englische Titel lautet: »On the teaching of Psycho-Analysis in Universities«, in: The Standard Edition of the Complete Works of Sigmund Freud, Vol. XVII, London 1955, S. 171–173) Allein dieses Beispiel zeigt schon, daß wir es in der Wissenschaftsgeschichte der Psychoanalyse stets mit Problemen der Übertragung, Übersetzung und Überlieferung ihrer eigenen Grundlagen zu tun haben, mit dissipativen Sprüngen in der Rückversicherung ihrer theoretischen Fundamente. 14

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ÜBERTRAGUNG – ÜBERSETZUNG – ÜBERLIEFERUNG

und – wie bei jedem prüfungsrelevanten Wissen professioneller Ausbildung – ›habitualisierbar‹. Ob mit dieser – in der Wissenschaftsgeschichte der erst hundertjährigen psychoanalytischen Theoriebildung durchaus kontrovers bewerteten – Rückkehr der Psychoanalyse in den Schoß einer ›normal science‹ nicht zugleich ein Widerstand gegen die Eigenart der psychoanalytischen Erkenntnis tradiert wurde, ist zumindest eine offene Frage. Dieser ›Widerstand‹ wird als ein Krisensymptom bezeichnet, das die psychoanalyse-externe wie -interne Wissenschaftsforschung begleitet. Gründe für diese wiederkehrende Abwehr der Entdeckung des Unbewußten, die sich bereits zu Beginn der Geschichte der psychoanalytischen Bewegung bei einigen ihrer namhaften Schüler und Mitglieder zeigte, nennt bereits Freud, u. a. in der gleichnamigen Schrift von 1914, in der er Alfred Adlers Ich-Psychologie ebenso wie C.G. Jungs Modell kollektiver Archetypen als komplementäre Verkennungen der Theorie des Unbewußten entzifferte: als Fiktion eines um Selbstbewahrung kreisenden Ich bzw. als ich-lose Verschmelzung mit einem quasireligiösen, Differenzen stillstellenden Ursprung. Zum anderen entwickelte sich mit dem Werk Jacques Lacans (1901–1981)3 unter der Leitidee einer »Rückkehr zu Freud« eine gegenstrebige Wiederbelebung der gefährdeten Eigenständigkeit der Psychoanalyse. Das erwähnte tertium datur der von Freud nicht von ungefähr Metapsychologie genannten Wissenschaft zwischen Natur- und Geisteswissenschaft erfährt nunmehr eine epistemologische Neubegründung, die ohne Lacans Rekonstruktion der sprachanalytischen Dimension des Freudschen Werkes (»das Unbewußte ist strukturiert wie eine Sprache«) nicht denkbar gewesen wäre. Die Aufnahme und minuziöse Entfaltung des Szientismusproblems der Freudschen Metapsychologie im Werk Lacans führte zu einer ›Logik des Signifikanten‹, die für die Frage des theoretischen Status der Psychoanalyse und ihres Verhältnisses zum Diskurs der Wissenschaft maßgeblich wurde. Weil in der Sprache der Triebschicksale sich das Begehren des Menschen artikuliert – und dieses Begehren dem unvordenklichen Angewiesensein auf den »Nebenmenschen« (Freud) geschuldet ist, der sich in einen verstehbaren Teil und in ein dem Verstehen entzogenes, heterogenes Ding aufspaltet –, situiert sich die Frage nach der Struktur der Sprache und des Unbewußten in einem eigenständigen Feld. Dieses Feld ist nicht deckungsgleich mit dem Horizont einer wie auch immer sich begründenden Wissenschaft (gleichviel, ob sie sich als Natur-, Human-

3. Vgl. zur allgemeinen Bibliographie der Werke Jacques Lacans u. a.: Elisabeth Roudinesco: Jacques Lacan. Bericht über ein Leben, Geschichte eines Denksystems, übers. v. Hans-Dieter Gondek, Köln 1996, S. 725–784, sowie Joël Dor: Nouvelle Bibliographie des Travaux de Jacques Lacan (Thésaurus Lacan, vol. II), E.P.E.L. (Hg.), Paris 1994. 15

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GEORG CHRISTOPH THOLEN

oder Geisteswissenschaft versteht oder als Philosophie). Der erkenntnislogische Ort der Psychoanalyse ist allenfalls ein negativ-anthropologischer (U. Sonnemann).4 Doch ohne die systematische Klärung der hierzu von Lacan formulierten Logik des Signifikanten bliebe die von ihm in seinen Seminaren (die zum großen Teil noch unübersetzt sind bzw. im französischen Original durch drastische Texteingriffe des Herausgebers Jacques-Alain Miller keineswegs unproblematisch ediert werden) sowie in seinen Aufsätzen entfaltete Kategorienlehre des Realen, Imaginären und Symbolischen ›unterbestimmt‹. Dies gilt für die Psychoanalyse selbst wie auch für psychoanalytisch orientierte Kulturwissenschaften. Und erst von einer solchen diskursanalytischen Platzbestimmung des Lacanschen Werkes aus läßt sich eine erkenntnistheoretische Würdigung der inneren Kohärenz der Freudschen Theorie formulieren. Zwar beginnt sich im internationalen Forschungskontext das in wissenssoziologischer Hinsicht ebenso hartnäckige wie fragwürdige Vorurteil aufzulösen, Freud habe sich nur allmählich vom angeblichen Szientismus seiner naturwissenschaftlichen Frühschriften befreit (vgl. hierzu beispielsweise die bekannte Position von Habermas in seiner Abhandlung Erkenntnis und Interesse) und mit seiner zweiten Topik sich einer theoretisch wie therapeutisch tragfähigen Psychologie des Ich genähert. Im Lacanschen Feld hingegen ist die erwähnte Kohärenz der Freudschen Lehre dank einer genaueren Lektüre der grundlegenden metapsychologischen Schriften kein Anathema mehr: Die Alterität des Begehrens und die diesem verantwortete Ethik der psychoanalytischen Lehre, die das Unbewußte statt zu beziffern zu ›entziffern‹5 sucht, findet sich, wie die neuere Wissenschaftsgeschichte der Psychoanalyse6 gezeigt hat, sowohl in den Frühschriften Freuds (etwa in seiner Studie Zur Auffassung der Aphasien von 1891, seinem »Entwurf

4. In der Spur dieser Abgrenzung zum ›Wissenschaftsdiskurs‹ gilt es herauszuarbeiten, daß einer am mathematischen Determinismus sich orientierenden ›wissenschaftlichen‹ Disziplin der Psychoanalyse gerade auch jene ›Rhetorik‹ des Unbewußten entgehen muß, die Freud in den Träumen, Fehlleistungen, Versprechern und Witzen analysierte und sowohl als Sprache der Symptome wie als Symptom der Sprache dechiffrierte. Vgl. hierzu auch die im Abschnitt 2 dieses Exposés erwähnte subtile Analyse über den Zwischenraum der Sprache(n), die Georges-Arthur Goldschmidt an bestimmten Fallgeschichten Freuds, insbesondere an der Zwangsneurose des ›Rattenmanns‹ und der »Grundsprache« Daniel-Paul Schrebers, entfaltet hat (Literaturangabe siehe Anm. 11). 5. Vgl. hierzu Jacques Lacan: »Television«, in: ders., Radiophonie / Television, Weinheim / Berlin 1988, bes. S. 72 f. 6. Genannt seien hier – exemplarisch – die psychoanalytischen Fachzeitschriften Der Wunderblock, RISS, WO ES WAR, Fragmente, DISKURIER, texte. 16

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ÜBERTRAGUNG – ÜBERSETZUNG – ÜBERLIEFERUNG

einer Psychologie« von 1895 und seiner Traumdeutung von 1900) als auch in seinen späteren metapsychologischen und kulturanalytischen Schriften wie etwa Totem und Tabu, Jenseits des Lustprinzips und Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Forschungsdesiderat jedoch ist und bleibt bei aller seit etwa 1978 im internationalen Maßstab durchaus intensiver und breiter gewordenen Rezeption der Metapsychologie Freuds und Lacans, die nicht zuletzt in die Kulturwissenschaften Eingang fand (namentlich in sogenannte ›Cultural, Media, Literary und Gender Studies‹), der innere Zusammenhang der Psychoanalyse als einer Theorie der Übertragung (subjektive, klinische Dimension), der Übersetzung (textuelle, hermeneutische Dimension) und der Überlieferung (soziale und kulturelle Dimension des ›Gesetzes‹ der ›Weitergabe‹ von Vorbildern und Selbstbildern zwischen den Generationen). Der paradox anmutende Sachverhalt, der die hier vorgestellte spezielle Thematik der Tagung – ähnlich wie andere vergleichbare7

7. Zu nennen sind vor allem der von der Gruppe »Convergences« (R. Major u. a.) initiierte internationale Kongreß »Les Etats Généraux de la Psychanalyse / Psychoanalysis on the brink of a new millenium«, der in Paris vom 8. bis 11. Juli 2000 stattfand, sowie der von der Assoziation für die Freudsche Psychoanalyse und der Freud-Lacan-Gesellschaft. Psychoanalytische Assoziation Berlin organisierte Kongreß »Psychoanalyse jenseits der Verordnung« (14.–16.1. 2000). Im Rahmentext des Pariser Kongresses, der wie der hier vorgestellte ebenfalls den originären Status der Psychoanalyse und ihrer Überlieferung (›Transmission‹) sowohl im Verhältnis zu den heutigen Leitwissenschaften ›Neurowissenschaften, Biologie, Genetik‹ als auch in dem zu Kunst, Literatur, Philosophie und Recht untersucht, wird ebenfalls die auf 1900 rückbezogene Reflexion der Psychoanalyse und der Signatur ihrer Modernität thematisch: »Während mehr als eines Jahrhunderts konnte die Psychoanalyse sich entwickeln und hat dank ihrer beharrlichen Aktivität, sogar unter den repressivsten politischen Systemen, ihre Vitalität behauptet. Wenn das zwanzigste Jahrhundert einerseits als eine Epoche von Angst und Zerstörung – deren Ausmaß erst allmählich bekannt wurde – beschrieben werden kann, war es andererseits auch eine Zeit der Befreiung von zahlreichen Vorurteilen, wozu auch die Psychoanalyse ihren Beitrag geleistet hat. Dies geschah nicht nur durch ihre klinische Praxis, sondern auch durch den Einfluß ihrer Theorie in verschiedenen Gebieten der zeitgenössischen Kultur. Die Psychoanalyse hat neue Gedankenwege in vielen Bereichen eröffnet, zu denen Kunst und Wissenschaft, Literatur und Literaturkritik, Philosophie, Geschichtswissenschaften und Soziologie gehören, so wie Freud es vorausgesehen hatte. Dennoch, trotz der während hundert Jahren klar behaupteten Kraft und Vitalität, liegt es im Wesen der Psychoanalyse und des Unbewußten, hartnäckige Widerstände hervorzurufen. […] Auch die psychoanalytischen Institutionen, die gegründet wurden, um das Erbe Freuds zu bewahren und die psychoanalytische Forschung zu fördern, haben oft eine diesem Ziel entgegenstrebende Starrheit entwickelt. Die Institution hat eine konservative Funktion, während das analyti17

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GEORG CHRISTOPH THOLEN

auch – notwendig werden läßt, ist folgender: Obschon sich an der hundertjährigen Wirkungsgeschichte der Psychoanalyse ein, mit Freud zu reden, ›Fortschritt in der Geistigkeit‹ des Verständnisses der psychischen, sozialen und kulturellen Belange des Menschen ablesen läßt, ist dieser Fortschritt kein linearer und auch kein gesicherter. Die oben skizzierten Mißverständnisse und Divergenzen in der Einschätzung der metapsychologischen Eigenart der Wissenschaft vom Unbewußten und ihres Ortes im Feld der Humanwissenschaften sind wie um 1900 auch heute virulent. Mehr noch: Die Sorge um die Zukunft der Psychoanalyse8, die weder mit therapeutischen noch mit philosophischen Disziplinen, in die sie seit ihrer Gründung wirkmächtig interveniert hat, zu identifizieren ist, gilt einem zugleich internen und externen Widerstand gegen die Psychoanalyse. Dieser hat seine Ursache in der die psychoanalytische Theoriebildung von Beginn an begleitenden Gefahr der Assimilation. Doch paart sich diese, wie z. B. Pierre Legendre gezeigt hat9, mit dem wenig analysierten Phänomen einer institutionellen ›Selbstimmunisierung‹.10

sche Denken innovativ, ja, sogar subversiv ist« (René Major, Programmtext zur Pariser Tagung). 8. In gewisser Hinsicht »hat«, wie Jean-Luc Nancy präzisiert, die Psychoanalyse »nicht ›eine Zukunft‹, sondern ist das dem Denken (oder der Erfahrung) immer unmittelbar Zukünftige. Das Zukünftige hat für den Analytiker keinen Ort, was nicht heißen soll, daß es für die Psychoanalyse kein Morgen gibt, sondern daß das Zukünftige, auf’s Ganze gesehen, keine Orte hat. Die Unvollendetheit ist wesensmäßig VerOrtung« (J.L. Nancy: »Das unendliche Ende der Psychoanalyse«, in: Zeta 02. Mit Lacan, Dieter Hombach [Hg.], Berlin 1982, S. 19. Vgl. zur weder linearen noch zyklischen Zeit- und Geschichtsvorstellung der Psychoanalyse auch zwei weitere grundlegende Beiträge: Philippe Lacoue-Labarthe / Jean-Luc Nancy: »Panik und Politik«, übers. v. Claus-Volker Klenke, in: Fragmente. Schriftenreihe zur Psychoanalyse 29 / 30 [1989], S. 63–98 [frz. Original: »La Panique Politique«, in: Cahiers Confrontations 2 {1979}, S. 33–57], sowie dies.: »Das jüdische Volk träumt nicht«, übers. v. ClausVolker Klenke, in: Fragmente 29 / 30 [1989] S. 99–128 [frz. Original: »Le Peuple juif ne rêve pas«], in: La Psychanalyse est-elle une histoire juive? [Colloque de Montpellier 1980], A. u. J.J. Rassial [Hg.], Paris 1981, S. 57–92). 9. Pierre Legendre: »Die verordnete Psychoanalyse. Anmerkungen zur Auflösung der École freudienne de Paris«, übers. v. Claus-Volker Klenke / Georg Christoph Tholen, in: Fragmente. Schriftenreihe zur Psychoanalyse 39 / 40 (1992), S. 275–290 (frz. Original: »Administrer la psychanalyse. Notes sur la dissolution de L’École freudienne de Paris«, in: Pouvoirs. Revue française d’ études constitutionelles et politiques 11 [1981], S. 205–218). 10. Vgl. zur ›offenen Epistemologie‹ (Gumbrecht) einer in sich unabschließbaren BeGründung des psychoanalytischen Denkens auch die neueren Beiträge von Jacques Derrida in: Hans-Dieter Gondek (Hg.), Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse!, 18

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Gegen ein solches (Selbst-)Vergessen, welches zumindest hierzulande mit einer mangelnden Erörterung des epistemologischen Ortes der Psychoanalyse in der wissenschaftlichen wie allgemeinen Öffentlichkeit (aber auch mit dem unterentwickelten Interesse an einer historisch-kritischen Edition der Werke Lacans) einhergeht, beabsichtigte die Tagung das Verhältnis der Freudschen und Lacanschen Theorie genauer zu situieren. Zum einen sollte die Verschränkung der Begriffe Übertragung, Übersetzung, Überlieferung jeweils werkimmanent untersucht werden; zum anderen sollte diese triadische Begriffs- und Problemkonfiguration auf das Fortleben der Psychoanalyse selbst bezogen werden: Wie überträgt sich die Psychoanalyse im Zuge einer Politik des Übersetzens, die stets auch eine Politik der Überlieferung konstituiert bzw. nach sich zieht? Betrifft diese Fragestellung die Verantwortung der und für die Psychoanalyse (auch in ihrem Verhältnis zu den Kultur- und Medienwissenschaften), so befaßte sich die Tagung hierzu vornehmlich mit der Übersetzungs- und Tradierungspolitik der Texte Lacans sowie – zunächst im europäischen Vergleich – mit den Weisen ihrer institutionellen wie nicht-institutionellen Übertragung aus Frankreich in andere ›Sprachländer‹. Geht man, wie oben dargelegt, davon aus, daß die Psychoanalyse kein (ab-)geschlossenes System von Aussagen darstellt, sondern eine Denkweise, die auch von der Möglichkeit der Dissoziation und Dissemination ihres Wissens von sich selbst lebt, dann wird gerade die Politik der Übertragung, Übersetzung und Überlieferung der Texte Lacans zu einem vorrangigen Problem.

Der Zwischenraum der Sprache(n) »Sprache ist, was zwischen den Sprachen auftaucht«11 Freuds Traumdeutung, erneut bzw. wieder gelesen, zeigt eine innere Verwandschaft von Trieb und Sprache, die in den Studien über Hysterie, in der Analyse des Witzes und der Fehlleistungen in der Psychopathologie des Alltagslebens, aber auch in seinen späteren Schriften wie Jenseits des Lustprinzips thematisch bleibt. Doch eben dieser ›Königsweg‹ zum Unbewußten, nämlich die These, daß Träume – diese seltsamen Mischgebilde aus Wortgliedern, Silben- oder Buchstabenketten und surrealen

Frankfurt a. M. 1998, sowie ders.: Dem Archiv verschrieben, übers. v. Hans-Dieter Gondek u. Hans Naumann, Berlin 1997. 11. Georges-Arthur Goldschmidt: Als Freud das Meer sah. Freud und die deutsche Sprache, übers. v. Brigitte Große, Zürich 1999 (frz. Original: Quand Freud voit la mer – Freud et la langue allemande, Paris 1988). 19

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Bilderfragmenten – so zu lesen seien wie die somatischen Ausdrucksgebärden der Hysterie oder die in sich ausweglosen Erzählungen der Zwangsneurose, blieb in der Rezeptionsgeschichte unterbelichtet.12 Das wesentliche Theorem der Traumdeutung, nämlich daß Träume verhüllte Erfüllungen von verdrängten Wünschen seien, wurde gleichsam naturalistisch ›übersetzt‹: als ginge es bei der Wunscherfüllung statt um konfliktreiches Begehren um eine Befriedigung von Bedürfnissen. Fern jedweder symbolistischen Deutung manifester oder latenter Trauminhalte betont Freud in den sprachanalytisch wegweisenden Kapiteln der Traumdeutung die maskeradenhafte Entstellung und Verstellung der Traumarbeit als Signum der umwegigen Sprache der Wunscherfüllung. An ihr betont Freud den Als-ob-Charakter, d. h. den Zeichencharakter der Ersatzbildungen des unbewußten Denkens, die dem witzigen wie poetischen Spielraum der Sprache selbst so ähnlich sind: »Die Traumgedanken sind uns ohne weiteres verständlich, sobald wir sie erfahren haben. Der Trauminhalt ist gleichsam in einer Bilderschrift gegeben, deren Zeichen einzeln in die Sprache der Traumgedanken zu übertragen sind. Man würde offenbar in die Irre geführt, wenn man diese Zeichen nach ihrem Bilderwert anstatt nach ihrer Zeichenbeziehung lesen wollte. […] Ein solches Bilderrätsel ist nun der Traum.«13 Zu Beginn des sechsten Kapitels der Traumdeutung vergleicht Freud das Verhältnis von (latenten) Traumgedanken und (manifestem) Traum mit dem Verhältnis von Original und Übersetzung: Verdichtung und Verschiebung gestalten die Übertragung aus der einen in die andere Ausdrucksweise, den Ersatzbildungen des Wunsches gemäß, die Zensur umgehend und den Darstellungszwängen der ›Zielsprache‹ gehorchend. Vielleicht enthält die Theorie der assoziativen und lückenhaften Traumarbeit bereits eine Theorie der Übersetzung, eine Theorie der Psychoanalyse als Übersetzung: Das Übersetzen zwischen einer natürlichen Sprache und einer anderen, aber auch zwischen dem Unbewußten und dem, was man zu sagen beabsichtigt, ist nur möglich, weil dieses zugleich einer Unvollständigkeit, einem Unmöglichen oder Unübersetzbaren an und in der Sprache begegnet. Die Inkommensurabilität der Sprachen bedeutet, daß sie nicht aufeinander abbildbar sind. Daraus

12. Vgl. hierzu das Interview von Fani Hisgail mit Georg Christoph Tholen für die brasilianische Tageszeitung Folha de Sâo Paulo anläßlich des internationalen Symposiums »100 Jahre Traumdeutung. Zur Wissenschaft vom Unbewußten«, das in Sâo Paulo vom 23. bis 30. Mai 1999 stattfand (siehe http://www.hrz.uni-kassel.de/wz2/ tholen/), sowie Laurence Bataille: Der Nabel des Traums. Von einer Praxis der Psychoanalyse, übers. v. Norbert Haas, Weinheim / Berlin 1988. 13. Sigmund Freud, »Die Traumdeutung«, in: ders., Gesammelte Werke, 2. und 3. Bd., London 1942, S. 283 f. 20

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folgt, daß jedes Übersetzen zwischen verschiedenen Sprachen (einschließlich des Rückübersetzens)14 ein Deuten eröffnet, das den übersetzten Text dank der Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Zielsprache verschiebt und so eine Differenz produziert, die das ›Original‹ auf andere, neue Weise lesbar macht.15 Beispielhaft hierfür ist Jacques Lacans »Rückkehr zu Freud«, da in ihr eine verdichtende und verschiebende Übersetzung der Texte Freuds aus dem Deutschen ins Französische geschieht. Und dies gilt nicht nur für die Übersetzung einzelner Freudscher Grundbegriffe16, sondern ebenso für deren durch diese deutende Übersetzung nachträglich möglich gewordene Lesbarkeit in ihrem theoretischen Zusammenhang. So wird etwa der für die Psychoanalyse wesentliche Unterschied zwischen Bedürfnis, Anspruch und Begehren, der im Wort Wunsch verdeckt bleibt und doch bereits mitartikuliert ist, deutlicher, wenn die Theorie der Wunscherfüllung in der

14. Vgl. hierzu auch – wie gerade das Beispiel der Übersetzung des um eine eigene Theorie der Übersetzung bemühten Sprachdenkens Walter Benjamins ins Englische zeigt – die Studie von Sigrid Weigel: Lost in Translation – Vom Verschwinden des Bilddenkens in Übersetzungen Benjaminscher Schriften in diesem Band auf den S. 125–140. 15. Vgl. zur Frage der Übersetzung: Jutta Prasse / Claus-Dieter Rath (Hg.), Lacan und das Deutsche. Rückkehr der Psychoanalyse über den Rhein, Freiburg 1994, in dem die Erträge der 1992 in Berlin stattgefundenen gleichnamigen Tagung dokumentiert sind. Auf dieser Tagung, die mit der hier vorgestellten in engem Zusammenhang steht, ging es ebenfalls um das Über-Setzen der Freudschen Psychoanalyse (nach deren Verbot im Nationalsozialismus) nach Frankreich, ihre Wiederaufnahme in der Lehre Lacans sowie um die ›Rück-Übersetzung‹ der Psychoanalyse Lacans nach Deutschland, die aufgrund der historischen Ereignisse keine unproblematische sein kann und will. Daß mithin dieses Übersetzen politische und traumatische Zäsuren zu verantworten hat, entfalten u. a. die Beiträge von Jutta Prasse, Claus-Dieter Rath, Georges-Arthur Goldschmidt, Hans-Joachim Metzger, Norbert Haas, Anne Lise Stern und Lucien Israël in diesem Band. 16. Goldschmidt erwähnt in seiner Untersuchung über Freud und die deutsche Sprache (vgl. dort Anm. 10, S. 36 / 37) neben weiteren Beispielen, daß Lacan wohlüberlegt das Unbewußte mit ›L’insu‹ (eigentlich: das Ungewußte) übersetzt habe, weil das Suffix ›-scient‹ im französischen ›inconscient‹ ein aktives, wissendes Tun im Denken bezeichne, während im Deutschen das ›Bewußtsein‹ eher einen Zustand (im Sinne von Bewußtheit) beschreibe. Goldschmidt ergänzt, daß der Unterschied zwischen ›Bewußtsein‹ und ›conscience‹ beim – für die Psychoanalyse ja thematisch bedeutsamen – ›Gewissen‹ einen weiteren Aspekt aufweist: »J’ai mauvaise conscience – im Französischen ist Bewußtsein und Gewissen dasselbe, im Deutschen nicht –: Ich habe ein schlechtes Gewissen. Die Sprache hat hier offensichtlich für Freud gearbeitet und das Bewußtsein von jeder moralischen Konnotation frei gehalten« (ebd., S. 37). 21

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Traumdeutung genauer gelesen, d. h. die Sprache der Traumarbeit, die Freud in diesem Werk keineswegs beiläufig untersucht, nicht überlesen wird. Norbert Haas nannte, anschließend an Lacan, diesen für die Übersetzung der Werke Freuds und Lacans stets zu bedenkenden Prozeß der Verschiebung »Diffreudierung«.17 Die Kluft der Deutung, ohne die es weder Übertragung noch Übersetzung (und auch keine Überlieferung) gäbe, erlaubt – wie besonders Goldschmidt gezeigt hat – in jeder Übersetzung ein Zugleich des Scheiterns und der Chance der Sprache(n). Übersetzungen machen Lücken und Deutungen gerade dort lesbar und hörbar, wo die eine Sprache mit der anderen ›nicht mitkommt‹.18 Diese ›Heterotopie‹ der Sprachen und des Übersetzens – so Hans-Joachim Metzger in seiner Aufnahme der Übersetzungstheorie Goldschmidts – setzen »die Begriffe Sprache, Unbewußtes und Übersetzung in ein Verhältnis, das eine Angewiesen-

17. Norbert Haas: »Antworten an Poinçon«, in: Der Wunderblock. Zeitschrift für Psychoanalyse 13 (1985), S. 14. Das Wort findet sich in einem Text von Lacan (»Ouverture de la Section clinique«, in: Ornicar? 9), der, wie Haas ausführt, für die Frage der Übersetzung Freuds ins Französische, der Übersetzung Lacans ins Deutsche und das Problem der Rückübersetzung Freuds aus dem Französischen zu beachten ist: »Wollte man«, so resümiert Haas, »eine Formel geben für das, was die Übersetzung Lacans ins Deutsche zu leisten hat, so wäre es die: Die Übersetzung muß erkennbar lassen, welche Mühe sich Lacan gibt zu zeigen, welche Mühe Freud sich gibt. Zum Beispiel: Freuds Mühe in der Arbeit des Traums, die eine Arbeit aus und mit Wörtern ist, in der sich zuträgt, ereignet, was Lacan am Geschriebenen der ›Traumdeutung‹ herausarbeitet: die Differenzierung von Begehren und Anspruch. Lacan zeigt dies und er zeigt es, indem er so streng wie möglich dem Bau des Freudschen Textes folgt« (ebd.).; vgl. auch den Beitrag von Norbert Haas: »Was heißt Lacan übersetzen?«, in: Lacan lesen. Ein Symposion (= Der Wunderblock. Zeitschrift für Psychoanalyse, Sondernummer 1), Berlin 1978, S. 49–58. 18. Georges-Arthur Goldschmidt: »Mit der Tür ins Haus fallen«, in: Prasse / Rath (Hg.), Lacan und das Deutsche, S. 37; daß diese Differenz und Nichtübereinstimmung der Sprachen gerade ihre ›Zugänglichkeit zueinander‹ eröffnet, zeigt – so Goldschmidts mit Benjamins Übersetzungstheorie vergleichbare These – noch mehr: »Die Sprachwerdung fängt gerade da an, wo eine Sprache der anderen gegenüber als lückenhaft erscheint. Was die Psychoanalyse in ihrer Freudschen Formulierung hat zu Tage treten lassen, ist die Übersetzbarkeit der Sprachen, sie deckt in ihnen ihre Sprachlichkeit auf. […] Das ›Dazwischen‹ ist ja der Sinn der Sprachen und der Übersetzer […]. Daß immer etwas ausbleibt, zeigt, daß die Analyse ›unendlich‹ ist. Weil man nie ganz mit der Sprache durchkommt oder zurechtkommt, gibt es überhaupt Sprachen, aber keine, die irgendwie ›sprachlicher‹ wäre als eine andere, keine, die sich dem ›Denken‹ besser eignete als eine andere; die ›Mangelhaftigkeit‹ einer Sprache ist eben ihre ›Unendlichkeit‹« (ebd., S. 35 u. 38). 22

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heit der einen Sprache unter anderen Sprachen auf die anderen Sprachen impliziert.«19 Das, was nach Goldschmidt ›der Sprache zum Trotz‹ durch sie hindurch geht, von einer Sprache zur anderen, ist die Leibräumlichkeit der Sprache selbst. Bereits die Verschiedenheiten des ›Sprachbaus‹ der unterschiedlichen Sprachen widerlegen die Annahme einer sogenannten ›Volksseele‹, die unübertragbar sein soll oder gar den ›Geist‹ eines auserwählten ›Volkes‹ gemeinschaftlich versammelt. Die Sprachgeschichte belegt zwar die Existenz von gebieterischen Unterwerfungsschemata und diskursiven Ordnungen, nach denen sich Völker wie Einzelne zu richten haben; gerade deshalb aber konnte die Psychoanalyse zeigen, wie der kollektive Wahn des den anderen als solchen ausschließenden völkischen Rassismus zu einem phantasmatischen Gebot des Über-Ich pervertierte.20 Daß die psychoanalytischen Schriften Freuds jedoch nicht nur »eine Art unbewußte Voranalyse des Nazismus«21 darstellen, sondern sich in ihnen eine Kritik bisheriger Sprachtheorien – z. B. die langlebige Annahme einer linearen Ordnung der Sprache als Repräsentation – artikuliert, verdient besondere Aufmerksamkeit.22 Überdies zeigt sich, wie Goldschmidt dargelegt hat, auch die kategoriale Eigenart Freudscher Grundbegriffe erst dann, wenn ihr Bedeutungshorizont in der Sprache, in der sie geschrieben wurden, thematisch wird. Die Verdrängung etwa geht nicht auf in Unterdrückung (refoulement), und Trieb ist nicht vollständig gleichzusetzen mit Begehren (désir) – und doch wurde erst mit dieser deutenden Übersetzung lesbar, daß Trieb weder bloß Wunsch noch Bedürfnis

19. Hans-Joachim Metzger: »Vor Freud. Sprachzwang und Übersetzungswiderstand. Eine Präparation von Georges-Arthur Goldschmidt ›Quand Freud Voit La Mer‹«, in: Prasse / Rath (Hg.), Lacan und das Deutsche, S. 96–97; es ist also die je andere Sprache, »die macht, daß die Sprache, die man spricht, sich im Verhältnis zu sich verschiebt, sich von sich unterscheidet« (ebd., S. 97). 20. Vgl. hierzu Philippe Lacoue-Labarthe / Jean-Luc Nancy: »Der Nazi-Mythos«, in: Elisabeth Weber / Georg Christoph Tholen (Hg.), Das Vergessen(e). Anamnesen des Undarstellbaren, Wien 1997, S. 158–190. 21. G.-A. Goldschmidt: Als Freud das Meer sah, S. 12. 22. So zeigt Goldschmidt an der notwendigen Unschärfe der Übersetzung einzelner Wörter und Begriffe der Psychoanalyse deren Entsprechung mit der ›Sache selbst‹: Wie im Deutschen das Unbewußte bereits die Differenz der Geschlechter (ihren nicht substantialisierbaren Zwischenraum) andeutet, ist z. B. im französischen En wegen dessen Unbestimmtheit mehr vom Freudschen Es enthalten als im ça. Und daß an der sprachgeschichtlichen Verschiebung etwa von »ce suis je« (es bin ich) zu »c’est moi« (es ist ich) auch eine Tendenz in der historischen Entwicklung unserer Kultur ablesen läßt, die der Verwechslung des Ichs mit dem Subjekt Vorschub leistet, hat Jacques Lacan in seinem Text »La chose freudienne«, in: ders., Écrits, Paris 1966, S. 417, untersucht; vgl. hierzu G.-A. Goldschmidt: Als Freud das Meer sah, S. 40 f. 23

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meint. Solche Differentialität zeigt sich auch in Freuds Theorie des Drangs oder Zwangs zur Wiederholung, da diese nicht unmittelbar dasselbe meint wie die Wiederkehr Nietzsches, obschon von ihr her das weder zyklische noch lineare Zeitmoment des Einbruchs der Vergangenheit in die Gegenwart als entscheidendes Theorem der Metapsychologie zu entdecken bleibt. Im Wiederholen wird »deutlicher, wieso das Unbewußte nur mit wieder verknüpft werden kann, nicht aber mit zurück. Was wiederkehrt, hört nicht auf dazusein. Die Partikel wieder sichert dem nicht Bewußten seine Gegenwart in der Zeit.«23 Neben Goldschmidts Beiträgen sind es freilich schon Walter Benjamins Essays Über die Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen (1916) und Die Aufgabe des Übersetzers (1921 / 23), die in jüngster Zeit sowohl unter literaturwissenschaftlicher bzw. philosophischer Perspektive24 als auch in ihrer Nähe zur Sprachauffassung der Psychoanalyse, wie sie insbesondere von Lacan am metaphorisch-metonymischen Geflecht der Traumsprache (Entstellung, Verdichtung, Verschiebung)25 rekonstruiert wurde, erneut gewürdigt wurden. In Benjamins Texten ist wohl zuerst die Einsicht formuliert worden, daß der Mangel der Sprache, der sich in der Verschiedenheit der Sprachen bekundet, in der Kunst der Übersetzung »offenzuhalten«26 ist. Mehr noch: Die gastliche – d. h. nicht in einer totalisierenden Übereinstimmung eines vermeintlich unmittelbaren27 Sinngehalts stillzustellende – Differenz der Sprachen verweist,

23. G.-A. Goldschmidt: Als Freud das Meer sah, S. 48. »Wieder ist wie ein Hinweis aus dem Inneren der Sprache, zurück zeigt eine Richtung im Raum an – es führt zur Ordnung des Sichtbaren zurück« (ebd., S. 52). 24. Exemplarisch seien hier genannt: Alfred Hirsch (Hg.): Übersetzung und Dekonstruktion, Frankfurt a. M. 1997 (mit für die hier konzipierte Tagung einschlägigen Texten von Jacques Derrida, Paul de Man, Hans-Dieter Gondek, Thomas Schestag u. a.); Sigrid Weigel: Entstellte Ähnlichkeit. Zu Walter Benjamins theoretischer Schreibweise, Frankfurt a. M. 1997; dies.: »Benjamin liest Freud – oder vom Schriftcharakter der Allegorie«, in: dies., Bilder des kulturellen Gedächtnisses, Dülmen-Hiddingsel 1994; Roger Hofmann: Beschreibungen des Abwesenden. Lektüren nach Lacan, Frankfurt a. M. 1996; Susanne Lüdemann: Mythos und Selbstdarstellung. Zur Poetik der Psychoanalyse, Freiburg 1994; Gregor Schwering: Benjamin – Lacan. Vom Diskurs des Anderen, Wien 1998; Marianne Schuller: Im Unterschied. Lesen / Korrespondieren / Adressieren, Frankfurt a. M. 1990; dies.: Moderne. Verluste. Literarischer Prozeß und Wissen, Basel 1997. 25. Jacques Lacan: »Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud«, in: ders., Schriften II, Olten / Freiburg i.Br. 1975, S. 34–38. 26. Patrick Primavesi: Kommentar, Übersetzung, Theater in Walter Benjamins frühen Schriften, Basel / Frankfurt a. M. 1998, S. 127. 27. Zu den auch in medientheoretischer Hinsicht grundlegenden Begriffen der ›Mittel24

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wie Alfred Hirsch Benjamins Erbschaft zusammengefaßt hat, auf die ›differentielle Konstitution der Sprache im allgemeinen‹. Die Inkommensurabilität der Sprachen, an der sich die Nicht-Entsprechung von Wort und Ding und ebenso das der Sekundarität der Sprache geschuldete Halb-Sagen der ›Wahrheit‹ ablesen läßt, reflektiert sich – so Hirsch – im Benjaminschen Gebot für den Übersetzer: Dieser möge wegen der stets nachträglichen Erschließung des Gemeinten auf das Fremde der Sprachen so achten, daß die ›Art des Meinens‹ der anderen Sprache in der eigenen gewahrt bleibt. Man kann in der Tat wegen dieses Selbstentzugs der Sprache, die Benjamin in seiner wohl vorschnell als ›theologisch‹ gedeuteten Idee der ›reinen‹ Sprache formuliert hatte, von immer schon ›unreinen‹ Texturen und Überschneidungen zwischen den Sprachen sprechen, von anfangs- und endlosen »Intertexten«.28 Was wiederum heißt, daß die Aufhebung der babylonischen Sprachverwirrung, verstanden als Ende der Möglichkeit und Unmöglichkeit von Übersetzung, zugleich das Ende der Sprache und das Ende der Geschichte wäre.

Textualität – Subjektivität – Sozialität Übersetzung als Deutung und Verschiebung, also das, was in einer anderen Sprache jeweils ›nicht geht‹, ist untrennbar mit einer anderen ›Unmöglichkeit‹ verknüpft, die sich im Prozeß der je singulären Übertragung zwischen Analysant und Analytiker29, aber auch in der Überlieferung und Tradierung von kulturellem Wissen und sozialisierenden Geboten und Verboten fortschreibt. Wenn wir nur sprechen können, weil andere sprechen, weil andere vor uns gesprochen haben und nach uns sprechen werden, das Sprechen des Subjekts mithin in sich selbst differiert, dann ist auch die Überlieferung (nicht nur von Lektüren und Übersetzungen) eine, die als stets prekäre Transformation des ›Erbes‹ zu entziffern bleibt. Namentlich die ›Rückkehr‹ zu überlieferten Texten Freuds und Lacans hat jede Generation neu zu leisten. Ihre ›Überset-

barkeit‹ und ›Übertragbarkeit‹ bei Benjamin vgl. Samuel Weber, »Virtualität der Medien«, in: Georg Christoph Tholen / Sigrid Schade (Hg.), Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München 1999, S. 35–49, sowie Hans-Joachim Lenger: Vom Abschied. Ein Essay zur Differenz, Bielefeld 2001. 28. Alfred Hirsch: Vorwort zu Übersetzung und Dekonstruktion, Frankfurt a. M. 1997, S. 12. 29. Vgl. zum ›Gesetz‹ der Übertragung, das in der psychoanalytischen Situation zugleich auf die symbolische Ordnung der menschlichen Gesellschaften verweist, die Studie von Moustafa Safouan: Die Übertragung und das Begehren des Analytikers, übers. v. Geerd Schnedermann, Würzburg 1997. 25

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zung‹ selegiert und kombiniert das Werk in einer stets veränderten Lesart, indem sie vergißt und wiederholt. Diese Arbeit der Überlieferung gelingt nicht ohne Übertragung, d. h. nicht ohne Interpretation des Begehrens des Anderen im beschränkten Rahmen des je eigenen Phantasmas (so wie z. B. ohne die Übertragung Freuds auf Fließ vielleicht keine Metapsychologie, ohne die Übertragung Lacans auf Freud keine lacanianische Überlieferung des Freudschen Erbes und ohne die Übertragung auf Lacan keine Rückübersetzung der durch die französische Sprache gegangenen Psychoanalyse nach Deutschland möglich gewesen wäre). Die Psychoanalyse Freuds und ihre vielschichtige deutschfranzösische Rezeptionsgeschichte ist also nur als Wechselwirkung von Übertragung, Übersetzung und Überlieferung zu studieren. Dies gilt um so mehr, wenn man berücksichtigt, daß bestimmte Formen der Rezeption und bestimmte Institutionen der Überlieferung in keineswegs unerheblicher Weise die Praxis des Lesens, Interpretierens und Übersetzens in verschiedenen Wissenschaften30 verändert und damit auch tradierte Auffassungen von der Wissensvermittlung in Frage gestellt hat. Die drei Leitbegriffe der Tagung – Übertragung, Übersetzung, Überlieferung – verweisen also an sich selbst auf die Begriffe Subjektivität, Textualität und Sozialität, mithin auf das Feld der Literatur- und Textwissenschaften und der Sozial- und Kulturwissenschaften. Ihr Verhältnis zur Psychoanalyse war folglich ein Themenschwerpunkt der Tagung. So wenig man nach Freud und Lacan die Frage nach dem Text, dem Subjekt und dem Sozialen noch unabhängig voneinander zu situieren vermag, so sehr bedürfen die Psychoanalyse und ihre ›Nachbarwissenschaften‹ einer ständigen Reflexion ihres Übertragungsverhältnisses: Wo ist ihre Schnittmenge, was unterscheidet den ›universitären‹ Diskurs (der nicht mit einzelnen Disziplinen der Universität gleichzusetzen ist) vom psychoanalytischen? Die hierzu nötige und längst überfällige interdisziplinäre Bestandsaufnahme der Rezeptionsgeschichte von Lacans »Rückkehr zu Freud« hat insofern vom Begriff der Übertragung auszugehen, als von ihm her – wie oben gezeigt wurde – der Beitrag der Psychoanalyse für die Übersetzungs- und Texttheorie, aber auch für das kulturelle und soziale Problem der Überlieferung (Gesellschaftstheorie), noch unausgelotet ist. Folgende Fragestellungen sind hier zu nennen:

30. Daß diese Veränderung in epistemologischer Hinsicht nicht nur die Kultur-, sondern auch die Naturwissenschaften angeht, zeigt – um ein exemplarisches Werk der neueren Wissenschaftsgeschichtsschreibung zu nennen – der Sammelband von Hans-Jörg Rheinberger / Michael Hagner / Bettina Wahrig-Schmidt (Hg.), Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997. 26

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Wie unterscheidet sich der spezifische Begriff der Übertragung der Psychoanalyse Freuds und Lacans, (einschließlich des Aspekts der ›Transmission‹ ihrer ›Lehre‹) von dem der Natur- und Sozialwissenschaften, aber auch von dem der Philosophie? Ist – beispielsweise – das Konzept der Energieübertragung und das des Rollentauschs mit der psychoanalytischen Übertragungsbeziehung in kategorialer Hinsicht verwandt? Welche Funktion haben bestimmte Grundbegriffe der Psychoanalyse (Über-Ich, Gesetz, Phantasma, das Imaginäre usw.) für die Konstitutionsanalyse von Sozialität und Textualität im Kontext der Literatur- und Gesellschaftstheorie?31

31. Ausgehend von einer Relektüre der Freudschen Schrift Der Mann Moses und die monotheistische Religion hat sich mit Lacans Unterscheidung des realen, imaginären und symbolischen Vaters eine Fragestellung in den Kulturwissenschaften herausgebildet, die nicht nur eine vordergründige Religions- und Kulturkritik motiviert, sondern vielmehr Grundprobleme einer Theorie der Gesellschaft, des Rechts und des Politischen neu situiert: Wenn etwa das psychoanalytische Gesetz des Symbolischen, das sich nach Lacan in seiner den Austausch der Menschen regelnden Funktion als Name bzw. Nein des ›Vaters‹ (Nom / Non du Père) ex-poniert, ein Verbot ist, das – wie wiederum Derrida (insbesondere in seiner Kafka-Studie Préjugé. Vor dem Gesetz) gezeigt hat – seinen Ort als einen zugrundeliegenden aufschiebt, d. h., als das ›kastrierende‹ Gesetz der Unterbrechung ein an sich selbst haltloses Gesetz ist und die imaginäre Übereinstimmung mit sich selbst (paternalistischer Stifter-Mythos) untersagt, also als höchstes Gut oder als das Gute ebenso verboten bleibt wie der Ort der Mutter (siehe die Mutterimagines paradiesischer Verschmelzung, Ursprungsmythen absoluter Gemeinschaft usw.), dann zeigt sich mit Freud, daß die gesellschaftsbildende Annahme des Vatermordes als eines ›Urverbrechens‹ bereits als Mythos den Ursprung, den er zu fassen versucht, unterbricht (vgl. dazu Georg Christoph Tholen: »Vom Gesetz des Symbolischen«, in: Armin Adam / Martin Stingelin [Hg.], Übertragung und Gesetz. Gründungsmythen, Kriegstheater und Unterwerfungstechniken von Institutionen, Berlin 1995, S. 249–254, sowie Edith Seifert: Perversion der Philosophie. Lacan und das unmögliche Erbe des Vaters, Berlin 1992). Daß und wie die ›ursprungslose‹ Ordnung des Symbolischen zwischen vorher (Naturzustand) und nachher (Gesellschaftszustand) unterscheidet, ihren eigenen ›Anfang‹ also nur nachträglich setzen und be-gründen kann, analysiert die im genannten Band enthaltene Untersuchung von Susanne Lüdemann: »Der Tod Gottes und die Wiederkehr des Urvaters. Freuds Dekonstruktion der jüdisch-christlichen Überlieferung« (ebd., S. 163–178); zur Frage der Konstitution des Politischen, die sich an das Gesetz des Symbolischen gebunden weiß, vgl. u. a.: Thanos Lipowatz: Politik der Psyche. Eine Einführung in die Psychopathologie des Politischen, Wien 1998, sowie Alain Badiou / Jacques Rancière / Rado Riha / Jelica Sˇumiˇc (Hg.): Politik der Wahrheit, Wien 1997; zum Verhältnis von ›Vatermetapher‹ und Recht vgl. auch Pierre Legendre: Das 27

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Auf welchen Wegen (innerhalb wie außerhalb analytischer Institutionen) und in welchen Formen wird die Psychoanalyse überliefert? Welchen Einfluß haben Übertragungspraktiken und Übersetzungsstile auf die Überlieferung der Texte Freuds und Lacans, in Frankreich, in Deutschland und in anderen europäischen Ländern (ein internationaler Vergleich soll explizit auf einer zweiten Tagung thematisch werden, siehe aber auch hierzu Anm. 6 auf S. 16).

Freud-Lacan-Rezeption: Umwege und Hemmnisse32 Einen weiteren Schwerpunkt der Tagung bildete die Analyse der Lacan-Rezeption in den deutschsprachigen und einigen anderen europäischen Ländern. Wenn auch zunächst nur exemplarisch, soll die Frage der Vermittlung des theoretischen Werkes mit der nach der kategorialen Genese und Geltung der psychoanalytischen Grundbegriffe verknüpft werden, und zwar deshalb, weil die von erheblichen Verzögerungen und problematischen Textherstellungen nicht freie Herausgabe der Seminare von Jacques Lacan in Frankreich durch dessen Schwie-

Verbrechen des Gefreiten Lortie. Abhandlung über den Vater (Lektionen VIII), Freiburg i.Br. 1998. 32. Vgl. hierzu, neben den insbesondere in der Fußnote 5 genannten Zeitschriften, in denen die Rezeption und ihre Schwierigkeiten seit etwa 1978 dokumentiert werden, das »Restorfer Gespräch über die Lacan-Edition«, das im Herbst 1992 stattfand (Teilnehmer: Norbert Haas, Vreni Haas, Hans-Joachim Metzger, Hans Naumann) und nachzulesen ist in: Der Wunderblock. Zeitschrift für Psychoanalyse 20 / 21 (1994), S. 73–144, sowie den Kommentar von Georg Christoph Tholen, der, als »Offener Brief an die Teilnehmer des Restorfer Gespräches« verfaßt, unter dem Titel »Symptome des Schweigens. Anmerkungen zum Restorfer Gespräch über die Lacan-Edition« erschienen ist in: Fragmente 46 (1994), S. 163–170. Die seither zumindest hierzulande ziemlich unveränderte Situation einer mangelnden – wissenschaftlichen wie politischen – Öffentlichkeit in Sachen Textherstellung und Editionspolitik des Werkes Lacans, die keineswegs der Intensität der Rezeption (oder der Bereitschaft dazu) entspricht, ist eines der Motive, das zur Bildung der ›Initiativgruppe Lacan-Übersetzungen‹ geführt hat. In mehrjährigen Gesprächen der für diese Tagung verantwortlich zeichnenden Veranstalter, die vorwiegend im Rahmen der seit 1980 bis heute am Wissenschaftlichen Zentrum für Kulturforschung, Universität Kassel, stattfindenden Freud-Lacan-Seminare ihren Ort hatten, aber auch im Erfahrungsaustausch mit vielen anderen an der Übersetzungsarbeit der Psychoanalyse interessierten Personen und Institutionen, konkretisierte sich die Dringlichkeit, die hier beschriebenen Fragestellungen einer größeren wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. 28

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gersohn (Jacques-Alain Miller) sowie die damit unauflöslich verbundene Frage der ›autorisierten‹ Übersetzungen und des Zeitpunkts ihrer Veröffentlichungen die Vermutung nahelegen, daß die Rezeption der theoretischen Texte Lacans seit ihrem Beginn (und zwar in mehreren Ländern) nicht ohne beschwerliche Umwege verlief. Zu dieser Art von Umwegen, die nicht mit Goldschmidts oder Benjamins Gebot einer nachträglichen Restituierung des ›originalen‹ Textes zu verwechseln sind, gehören verlags- und übersetzungspolitische Hemmnisse, aber auch das Dilemma bruchstückhafter bzw. unnötig vereinfachender Lektüren (wozu gewiß eine kontextlose, allzu verdaulich verpackte Lesart des berühmten Spiegelstadiums gehört, vgl. hierzu die Hinweise in den in Anm. 30 genannten Kommentaren). Hierzu zählt gewiß aber auch die Editionspolitik und -strategie der bis heute leider weder chronologisch veröffentlichten noch historisch-kritisch kommentierten Seminare Lacans in der französischen Originalsprache. Das markanteste Beispiel hierfür ist die unabhängig von Miller erschienene Edition des Seminars VIII (Le transfert) durch die Gruppe Stécriture und die Publikation des Buches Le transfert dans tous ses erratas (hg. v. der E.P.E.L.), in denen auf die Gefahr einer ›logizisierenden‹ Glättung des Lacanschen Werkes durch Miller und seine global sich ausrichtende ›Schule‹ hingewiesen wurde. Die Stellungnahme von Stécriture ist eine der wenigen kritischen Stimmen, die in Frankreich immerhin von einer breiten kritischen Öffentlichkeit begleitet wurde, in Deutschland aber kaum ein nennenswertes Echo (auch nicht in der Wissenschaftspublizistik) fand.33

33. Überhaupt ist hierzulande das – für die Genese und Institutionalisierung wissenschaftlicher Paradigmen – wesentliche Problem der Instituierung und Überlieferung wissenschaftlichen Wissens ein ziemlich blinder Fleck in der Wissenschaftsforschung, jedenfalls in den Kultur- und Humanwissenschaften. Von externen wie internen Faktoren der Wissenschaftssteuerung zu sprechen scheint für die Natur- und Technikwissenschaften eher zulässig als für ein ›geisteswissenschaftliches‹ Selbstverständnis, das infolge ideengeschichtlicher Kontinuitätsvorstellungen nach einer ungebrochenen Hermeneutik seiner selbst sucht. Für die Psychoanalyse und die Geschichtsschreibung ihrer eigenen Grundbegriffe kompliziert sich, wie oben dargelegt, diese diskursanalytische und -historische Frage nach der Institution. Gleichwohl bleibt es rätselhaft, warum gerade solche Texte zur Geschichte der konfliktträchtigen Institutionalisierung der Überlieferung der Psychoanalyse, die auf psychoanalytischen Erkenntnissen beruhen, ihrerseits kaum wahrgenommen oder gar ausgeblendet werden. Drei für unsere Themenstellung wichtige Texte sollen hierzu erwähnt werden: Hans-Joachim Metzger: »Zur Auflösung der École freudienne de Paris«, in: Der Wunderblock. Zeitschrift für Psychoanalyse 5 / 6 (1980), S. 69–96; Pierre Legendre: »Die verordnete Psychoanalyse. Anmerkungen zur Auflösung der École freudienne de Paris«, in: Fragmente 39 / 40 (1992), S. 275–290, sowie René Major: Lacan avec Derrida: Analyse Désistentielle, Paris 1991. 29

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Texte ohne Original: Vergleichende Analysen zur Textherstellung und Editionspolitik der Schriften und Seminare Jacques Lacans Lektürewiderstände, zumal unbewußte, sind nicht nur in der Überlieferung der Psychoanalyse zur Zeit Freuds bekannt. Ihre Gründe hat Freud bereits mit vorgreifender Gültigkeit am Beispiel der ›Verfallsformen‹ der Metapsychologie bei Adler und Jung in der eingangs erwähnten Schrift Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung erläutert. Sie lassen sich aber nicht nur in der je aktuellen Lektüre von Texten finden, die vom Unbewußten handeln. Vielmehr gibt es in wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht einen systematischen Aspekt dieses in sich zwiespältigen Widerstandes: Gerade jene Theorien und Denksysteme, in denen sich auf paradigmatische Weise eine Krise des kulturellen Selbstverständnisses verdichtet (dies gilt für die Metapsychologie Freuds, aber auch für Karl Marx, Max Weber u. a.), befördern eine vorschnell verallgemeinernde Rezeption, die sowohl das Mißverstehen des Gemeinten als auch die nachträgliche Einsicht in den jeweils unabgegoltenen Erkenntnisgehalt der Theorien zuläßt. In besonderem Maße nun gilt diese Nachträglichkeit, insofern sie als Widerstand gegen vorschnelles ›Immer-schon-verstanden-Haben‹ wirksam bleibt, für das Werk Freuds und Lacans. Der negative Aspekt von Lektürewiderständen hingegen verstärkt sich, wenn – jenseits einengender Interpretationsmuster – die schlichte Zugänglichkeit der Texte selbst behindert wird. Letzteres betrifft nun ganz unmittelbar die Textherstellung, aber auch die Editions-, Herausgeber- und Übersetzungspolitik, die Lacans Schriften und Seminare erleiden müssen. Nicht nur die vielfach beklagte Verzögerung der Übersetzung der Seminarbände (vgl. Anm. 30), die nachweislich die Lesbarkeit der prozeßhaften Entwicklung des Kategoriengeflechts von Lacans Psychoanalyse erschwert hat (Theorie des Realen, Imaginären und Symbolischen, Status der sogenannten topologischen Formalisierung in ihrem Verhältnis zum Frühwerk), sondern auch der prekäre Zustand der Ausgangstexte stellen Lektüre und Rezeption vor ein fast unlösbares Problem: Es gibt mittlerweile zwar einige offizielle, vom Herausgeber verantwortete Textversionen der Seminare Lacans, die in Frankreich beim Verlag Seuil (Paris) erschienen sind. Und ebenso gibt es – mit erheblicher Zeitverzögerung gegenüber dem ursprünglichen Plan des Erscheinungsrhythmus der Bände, den sich die deutschen Herausgeber und ebenso viele Leser (seit etwa 1978) gewünscht hatten – einige deutsche Übersetzungen.34 Die entscheiden-

34. Genannt werden sollen hier exemplarisch zwei für die Entwicklung der Theorie wichtige Seminare: Le Séminaire de Jacques Lacan. Texte établi par Jacques-Alain Miller. 30

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de Crux für eine historisch-kritische Edition wie für eine verantwortungsbewußte Übersetzung der veröffentlichten wie nichtveröffentlichten Seminare Lacans (sowie einiger wegweisender Vorträge und Aufsätze) besteht jedoch darin, daß die durch Miller etablierte und für Übersetzungen maßgebliche ›offizielle‹ Textversion der Seminare zum Teil erheblich von der der Transkriptionen und privaten Mitschriften abweicht. Dies gilt – wie eine Analyse des ins Deutsche noch nicht ›offiziell‹ übersetzten und insbesondere für seine kulturanalytische und politische Bedeutung grundlegenden Seminars XVII von 1969 / 70 (L’envers de la psychanalyse [Die Kehrseite der Psychoanalyse]) zeigt – für Abweichungen hinsichtlich des Wortlauts, der Satzkonstruktion und ganzer Teilsätze, betrifft aber auch die Binnenchronologie des Seminars (einschließlich der Auslassung einer Sitzung, die gerade für die zur Zeit des Seminars virulente Debatte über den Ort der Psychoanalyse innerhalb und außerhalb des universitären Diskurses maßgeblich war). Keineswegs nebensächlich ist auch die Art und Weise der Verschriftlichung der im Seminar stattfindenden Dialoge Lacans mit den Seminarteilnehmern oder mit zum Vortrag eingeladenen ›Gastwissenschaftlern‹. Und dort, wo es um die Begriffswahl geht, scheinen – wie bereits ein flüchtiger Vergleich einiger, untereinander nicht deckungsgleicher Mitschriften zeigt – bisweilen gravierende Hörfehler und Fehlschreibungen den Sinn mancher Textpassagen völlig unterschiedlich auszulegen.35 Die bisherige Diskussion zum Stand der Editionsarbeit und Editionspolitik (u. a. in der ›Initiativgruppe Lacan-Übersetzungen‹) ergab unter anderem, daß bestimmte der Verständlichkeit bzw. der vermeintlichen Stimmigkeit und kategorialen Strenge des Werks dienende Glättungen, die mit den offiziellen Versionen mancher Seminare vorliegen, eben die gewünschte Lesbarkeit der Seminare erschweren. Anders gesagt: In manchen Mitschriften erlaubt es gerade das Geflecht heterogener Textpassagen (Falldarstellungen und theoretische Ausführungen), daß die Dynamik der Lektüre jene Oszillation zwischen momentanem Verstehen (Hast) und widerständigem Nichtverstehen (Zögern) aufweist, die

Livre III, Les psychoses, 1955–1956, Paris 1981 (dt.: Das Seminar von Jacques Lacan. Buch III [1955–1956], Die Psychosen. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. v. Michael Turnheim, Weinheim / Berlin 1997); Le Séminaire de Jacques Lacan. Texte établi par Jacques-Alain Miller. Livre VII, L’éthique de la psychanalyse, 1959–1960, Paris 1986 (dt.: Das Seminar von Jacques Lacan. Buch VII [1959–1960], Die Ethik der Psychoanalyse. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. v. Norbert Haas, Weinheim / Berlin 1996). 35. Vgl. hierzu Gerhard Schmitz: »Vorbericht« zur Übersetzung von Jacques Lacan, Seminar XVII, »Die Kehrseite der Psychoanalyse«, Ms, Frankfurt a. M. 1997. 31

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der Sache und ihrer Theorie eher angemessen scheint. Ein wissenschaftliches Archiv der Lacan-Edition, das diese Differenzen innerhalb des ›Textkorpus‹ aus Schriften, Seminaren und Vorträgen festhält und weder der »Hagiographie« noch dem »purgierten Raum«36 einer geschichts- und widerspruchslosen Theoriesystematik das Wort redet, existiert erst in Anfängen und benötigt vielfältige Unterstützung bei der Sammlung und Übersetzung verschiedener Textfassungen. Erst eine solche komparative Forschung wiederum, soviel haben unsere Vorstudien ergeben, würde es gestatten, die schon seit 1936 wechselvolle Geschichte der Institutionalisierung und De-Institutionalisierung der Psychoanalyse Lacans in ihrem Verhältnis zur Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (insbesondere den Zeitraum 1953–1964 betreffend) genauer zu situieren. Die theoriegeschichtliche Rekonstruktion des Werkes von Jacques Lacan, die sich idealiter auf den Zeitraum von 1926 bis 1981 beziehen müßte, hat es neben der schwierigen Lage der Editions- und Übersetzungspraxis mit weiteren ›zerstreuten‹ Formen der Überlieferung zu tun: Gerade in Deutschland läßt sich eine Mitte der 1970er Jahre beginnende, dem quantitativen Umfang nach jedoch nicht kontinuierlich gesteigerte Rezeption feststellen. Verschiedene universitäre oder universitär gebundene Disziplinen, wie Literaturwissenschaft, Philosophie, Soziologie usw., waren an der ersten Rezeptionsphase federführend beteiligt – ein Phänomen, das mit einer bestimmten Entwicklung der universitären und außeruniversitären Ausbildung in den Disziplinen Medizin, Psychologie, Pädagogik zu tun haben mag, sich aber auch dem Umgang mit der ›Frage der Laienanalyse‹ nach dem Zweiten Weltkrieg verdankt. Dies genauer zu analysieren, wäre Thema eines eigenständigen Kongresses. An der also vornehmlich geistes- und kulturwissenschaftlichen Lektüretradition galt es, so ein zweiter Schwerpunkt der Tagung, Vor- und Nachteile der bisherigen Rezeption in einem historischen Rückblick zu erkunden. In diesem Zusammenhang ist auch das Problem der bisherigen Übersetzungen und der ›Übersetzbarkeit‹ der Psychoanalyse anzusiedeln und auf den oben beschriebenen ›Zwischenraum der Sprache‹ zu beziehen. Daß die an der bisherigen Rezeption zu beobachtende Selektivität bestimmter Begriffe und Theoreme auch in einer Wechselwirkung mit bestimmten klinischen Feldern psychoanalytischer Praxis (und dem Problem der eigenständigen Institutionalisierung dieser Praxis in psychoanalytischen Schulen und Gruppierungen ›nach Lacan‹) steht, ist eine weitere Frage, die die Überlieferung des

36. Vgl. Gerhard Schmitz, »Von der SFP zur EFP oder Rezeption als selektive Wahrnehmung?«, Vortrag, gehalten in Kassel am 28.11.1998, Ms, Frankfurt a. M. 1998, S. 3 bzw. 2. 32

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psychoanalytischen ›Wissens‹ betrifft. Die Problematik oder Kunst der Übersetzung ist also nicht nur eine zwischen den Idiomen (beispielsweise der deutschen und der französischen Sprache). Sie betrifft schon die schwierige Frage der Transkription des gesprochenen Wortes in den Seminaren Lacans. Darüber hinaus ist – wie hier dargelegt – ein Sprechen über das Übersetzen und als Übersetzen über die Grenzen der Disziplinen hinweg dringend geboten. Wird man sich der durchaus unterschiedlichen Überlieferung der Werke Freuds und Lacans in verschiedenen Ländern bewußt, taucht vielleicht erst die Möglichkeit auf, die erwähnte Kunst bzw. Theorie der Übersetzung in einem Dialog zwischen Disziplinen und Sprachräumen genauer zu konturieren. Der Gedanke jedenfalls, daß die Überlieferung der Wissenschaft vom Unbewußten ein lohnenswertes Unterfangen darstellt, lag dem Konzept der Tagung zugrunde.

Literatur Badiou, Alain u. a. (Hg.): Politik der Wahrheit, Wien 1997. Bataille, Laurence: Der Nabel des Traums. Von einer Praxis der Psychoanalyse, übers. v. Norbert Haas, Weinheim / Berlin 1988. Derrida, Jacques: Préjugés. Vor dem Gesetz, übers. v. Detlef Otto u. Axel Witte, Wien 1992. — Dem Archiv verschrieben, übers. v. Hans-Dieter Gondek u. Hans Naumann, Berlin 1997. — Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse!, Hans-Dieter Gondek (Hg.), Frankfurt a. M. 1998. Dor, Joël: Nouvelle Bibliographie des Travaux de Jacques Lacan (Thésaurus Lacan, volume II), E.P.E.L. (Hg.), Paris 1994. Freud, Sigmund: »Die Traumdeutung«, in: ders., Gesammelte Werke, 2. u. 3. Bd., London 1942, S. 1–642. — »Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung«, in: ders., Gesammelte Werke, 10. Bd., London 1946, S. 43–113. — »Soll die Psychoanalyse an den Universitäten gelehrt werden?«, in: Das Argument 50 (1969), S. 80–82; engl.: »On the teaching of Psychoanalysis in Universities«, in: The Standard Edition of the Complete Works of Sigmund Freud, Vol. XVII, London 1955, S. 171–173. Goldschmidt, Georges-Arthur: Als Freud das Meer sah. Freud und die deutsche Sprache, übers. v. Brigitte Große, Zürich 1999 (frz. Original: Quand Freud voit la mer – Freud et la langue allemande, Paris 1988) — »Mit der Tür ins Haus fallen«, in: Jutta Prasse / Claus-Dieter Rath (Hg.), Lacan und das Deutsche (1994), S. 35–39. Haas, Norbert: »Was heißt Lacan übersetzen?«, in: Lacan lesen. Ein Symposion (= Der Wunderblock. Zeitschrift für Psychoanalyse, Sondernummer 1), Berlin 1978, S. 49–58. 33

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— »Antworten an Poinçon«, in: Der Wunderblock. Zeitschrift für Psychoanalyse 13 (1985), S. 6–18. Hirsch, Alfred (Hg.): Übersetzung und Dekonstruktion, Frankfurt a. M. 1997. Hofmann, Roger: Beschreibungen des Abwesenden. Lektüren nach Lacan, Frankfurt a. M. 1996. Lacan, Jacques: Das Seminar von Jacques Lacan. Buch III (1955–1956), Die Psychosen. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. v. Michael Turnheim, Weinheim / Berlin 1997. — Das Seminar von Jacques Lacan. Buch VII (1959–1960), Die Ethik der Psychoanalyse. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. v. Norbert Haas, Weinheim / Berlin 1996. — Radiophonie / Television, übers. v. Hans-Joachim Metzger (Radiophonie) u. Jutta Prasse / Hinrich Lühmann (Television), Weinheim / Berlin 1988. — Schriften II, Olten / Freiburg i.Br. 1975. — »La chose freudienne ou Sens du retour à Freud en psychanalyse«, in: ders., Écrits, Paris 1966, S. 401–436. Lacoue-Labarthe, Philippe / Nancy, Jean-Luc: »Panik und Politik«, übers. v. Claus-Volker Klenke, in: Fragmente. Schriftenreihe zur Psychoanalyse 29 / 30 (1989), S. 63–98 (frz. Original: »La Panique Politique«, in: Cahiers Confrontations 2 [1979], S. 33–57). — »Das jüdische Volk träumt nicht«, übers. v. Claus-Volker Klenke, in: Fragmente. Schriftenreihe zur Psychoanalyse 29 / 30 (1989), S. 99–128 (frz. Original: »Le peuple juif ne rêve pas«, in: La Psychanalyse estelle une histoire juive? [Colloque de Montpellier 1980], A. und J.J. Rassial [Hg.] Paris 1981, S. 57–92). — »Der Nazi-Mythos«, in: Elisabeth Weber / Georg Christoph Tholen (Hg.), Das Vergessen(e). Anamnesen des Undarstellbaren, Wien 1997, S. 158–190. Legendre, Pierre: »Die verordnete Psychoanalyse. Anmerkungen zur Auflösung der École freudienne de Paris«, übers. v. Claus-Volker Klenke / Georg Christoph Tholen, in: Fragmente. Schriftenreihe zur Psychoanalyse 39 / 40 (1992), S. 275–290 (frz. Original: »Administrer la psychanalyse. Notes sur la dissolution de L’École freudienne de Paris«, in: Pouvoirs. Revue française d’études constitutionelles et politiques, 11 [1981], Paris, S. 205–218). — Das Verbrechen des Gefreiten Lortie. Abhandlung über den Vater (Lektionen VIII), Freiburg 1998. Lipowatz, Thanos: Politik der Psyche. Eine Einführung in die Psychopathologie des Politischen, Wien 1998. Lüdemann, Susanne: »Der Tod Gottes und die Wiederkehr des Urvaters. Freuds Dekonstruktion der jüdisch-christlichen Überlieferung«, in: Edith Seifert (Hg.), Perversion der Philosophie, Berlin 1992, S. 111– 128. 34

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— Mythos und Selbstdarstellung. Zur Poetik der Psychoanalyse, Freiburg 1994. Major, René: Lacan avec Derrida: Analyse Désistentielle, Paris 1991. Metzger, Hans-Joachim: »Vor Freud. Sprachzwang und Übersetzungswiderstand. Eine Präparation von Georges-Arthur Goldschmidt ›Quand Freud Voit La Mer‹«, in: Prasse / Rath (Hg.), Lacan und das Deutsche (1994), S. 83–100. — »Zur Auflösung der École freudienne de Paris«, in: Der Wunderblock. Zeitschrift für Psychoanalyse 5 / 6 (1980), S. 69–96. Nancy, Jean-Luc: »Das unendliche Ende der Psychoanalyse«, in: Zeta 02. Mit Lacan, Dieter Hombach (Hg.), Berlin 1982, S. 13–22. Prasse, Jutta / Rath, Claus-Dieter (Hg.): Lacan und das Deutsche. Die Rückkehr der Psychoanalyse über den Rhein, Freiburg 1994. Primavesi, Patrick: Kommentar, Übersetzung, Theater in Walter Benjamins frühen Schriften, Basel / Frankfurt a. M. 1998. Rheinberger, Hans-Jörg / Hagner, Michael / Wahrig-Schmidt, Bettina (Hg.): Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997. Roudinesco, Elisabeth: Jacques Lacan. Bericht über ein Leben, Geschichte eines Denksystems, übers. v. Hans-Dieter Gondek, Köln 1996. Safouan, Moustafa: Die Übertragung und das Begehren des Analytikers, übers. v. Geerd Schnedermann, Würzburg 1997. Seifert, Edith (Hg.): Perversion der Philosophie. Lacan und das unmögliche Erbe des Vaters, Berlin 1992. Schade, Sigrid / Tholen, Georg Christoph (Hg.): Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München 1999. Schmitz, Gerhard: »Vorbericht zur Übersetzung von Jacques Lacan, Seminar XVII: Die Kehrseite der Psychoanalyse«, Ms, Frankfurt a. M. 1997. — »Von der SFP zur EFP oder Rezeption als selektive Wahrnehmung?«, Vortrag, gehalten in Kassel am 28.11.1998, Ms, Frankfurt a. M. 1998. Schuller, Marianne: Im Unterschied. Lesen / Korrespondieren / Adressieren, Frankfurt a. M. 1990. — Moderne. Verluste. Literarischer Prozeß und Wissen, Basel 1997. Schwering, Gregor: Benjamin – Lacan. Vom Diskurs des Anderen, Wien 1998. Tholen, Georg Christoph: »Symptome des Schweigens. Anmerkungen zum Restorfer Gespräch über die Lacan-Edition«, in: Fragmente. Schriftenreihe für Kultur-, Medien- und Psychoanalyse 46 (1994), S. 163– 170. — »Vom Gesetz des Symbolischen«, in: Armin Adam / Martin Stingelin (Hg.), Übertragung und Gesetz. Gründungsmythen, Kriegstheater und Unterwerfungstechniken von Institutionen, Berlin 1995, S. 249–254. Weigel, Sigrid: »Benjamin liest Freud – oder vom Schriftcharakter der Allegorie«, in: dies., Bilder des kulturellen Gedächtnisses, DülmenHiddingsel 1994. — Entstellte Ähnlichkeit. Zu Walter Benjamins theoretischer Schreibweise, Frankfurt a. M. 1997. 35

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Lacan a–t–il fait acte? 1 Hat Lacan »Akt gemacht«? Hat Lacan Wirkung gezeigt? Charles Melman

Der brave Mann, der im Stedtl die Aufgabe hat, Beschneidungen durchzuführen, beklagt sich darüber, daß er nichts findet, was er ins Schaufenster stellen könnte. Nach schlaflosen Nächten entscheidet er sich schließlich dafür, eine Pendule zu installieren. Die verwunderten Passanten wollen wissen: »Warum eine Pendule?« Man kennt die Antwort: »Warum denn keine Pendule?« Den Psychoanalytikern scheint es oft ähnlich zu gehen. In Zeiten, wo die Gesetze des Marktes bewirken, daß man nur unter der Bedingung öffentlich erscheinen kann, daß man das Preis-LeistungsVerhältnis seiner Ware anpreist, suchen sie verzweifelt nach etwas, das sie ins Schaufenster stellen könnten. Ich biete an, also bin ich. Und wie man weiß, war einer der an Lacan adressierten Vorwürfe genau der, keine Pendule in seinem Fenster zu haben. Denn es stimmt schon: Wenn die Sitzung keine 45 Minuten dauert, was bleibt da als Angebot? Die Heilung? Sie fände sich paradoxerweise dem versprochen, der auf Heldentum verzichtet – nicht wahr, Sie wissen doch, was Ödipus zugestoßen ist – und sich in die Unbefriedigung gefügt hätte, um diese, wenn er religiös ist, wie ein Opfer zu zelebrieren. Es sei denn, diese Heilung bestünde in einer Verbesserung des ehelichen, elterlichen, beruflichen etc. Wohlbefindens, wie eine psychotherapeutische Abweichung versichert. Aber ist die Kur nicht ein gar langwieriger und beschwerlicher Weg für ein so ungewisses Resultat? Kürzlich hat man einem Psychopride beiwohnen können; es vereinigte in Paris Psychoanalytiker, die keine theoretische oder praktische Referenz verband, es sei denn der

1. Zuerst erschienen in: La Célibataire, Paris, automne / hiver 2000; übers. v. Regula Schindler. 37

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CHARLES MELMAN

an einen bewundernswerten Philosophen gerichtete Hilferuf, sie unter seine Schirmherrschaft zu nehmen, sowie das Versprechen, man werde sie lehren, mit einer allfällig sich ankündigenden Klientel gebräunter und gehetzter Jungmanager umzugehen. In erster Linie bekam man das Recht auf eine Denunziation des Souveränismus (»Generalstände« künden zwingendermaßen das Schafott an – diesbezüglich ist man vorgewarnt) und der »dogmatischen« Behinderungen, sich dem freien Markt zu überlassen. Aber dieses Festmahl der Universität und der Medien schien eher die Marxsche These der Ideologie als Überbau zu illustrieren denn die Lehre Freuds. Wenn sich Psychoanalytiker so leicht dazu hergeben, ihre Originalität zu verkaufen, um sich, wie Lacan sagte, »in den Dienst des Guten / der Güter zu stellen« [»se mettre au service des biens«], so doch wohl, weil sie ihr Objekt noch nicht akzeptiert haben. Zweifellos verdanken wir genau dieser Ablehnung den besonderen Aspekt ihrer Domäne: auf ihrem Arbeitsfeld werden endlos immer dieselben Furchen umgegraben und immer dieselben Fragmente ständig wiedergekäut, ohne daß sich ein Schluß aufdrängte, der es dem Staub erlauben würde, sich wieder zu setzen. Es stimmt schon: dieses Objekt läßt sich nicht spiegeln – versuchen Sie also mal, es ins Schaufenster zu stellen –, und auch wenn die pathischen Effekte seines Auftauchens im Feld der Realität für ein Subjekt beachtlich sind, so kann doch nur sein schriftliches Notat dazu führen, daß mit ihm gezählt und kalkuliert werden kann. Wenn Lacan sagt, die Psychoanalyse sei eine Stochastik, spezifiziert er ihr Objekt als etwas, das sich dazu hergibt, mit Sicherheit anvisiert zu werden, denn obwohl außerhalb des Feldes, ist es wahrscheinlich: es muß da sein. In seinem Entwurf einer Psychologie für den Neurologen sagt Freud nichts anderes, wenn er berichtet, wie der Säugling dazu gelangt, nur noch Ersatzbildungen des gesuchten und verlorenen Primärobjekts zu finden. Dieses Objekt ist das, was das Phantasma nährt: als das, was begehrt und vor allem nicht gewollt wird, hält es die Existenz des Subjekts aufrecht. Wahrscheinlich brauchte es das Genie des Marketings, um uns trotzdem an künstliche Objekte zu gewöhnen, die die physiologischen Grenzen des Körpers und seiner Öffnungen verletzen und eine Mehrlust garantieren, so als handele es sich um dieses Objekt selbst. Wahr ist, daß sie uns im selben Zug abhängig (im Sinne der Drogensucht) und wild positivistisch machen. Wie übrigens auch gewisse Psychoanalytiker, die aus dem Mangel selbst einen positiven Wert machen möchten. Lacan warnte davor, daß die, die diesen Punkt seiner Lehre nicht zur Kenntnis nehmen wollten, dazu bestimmt seien würden, in die Irre zu gehen. Und dennoch: Als er den Begriff des Objekts klein a bei seinen Schülern einführte – es muß 1965 oder ’66 gewesen sein, ein grauer 38

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LACAN A-T-IL FAIT ACTE?

Saal in der rue de Varenne –, nahmen ihn die ersten und besten unter ihnen mit einem Gezeter auf, das die kommenden Trennungen ankündigte. Weshalb? Zweifellos, weil er das gute Recht des Subjektivismus (welches besagt: jedem sein Begehren und demnach sein Gesetz) zuschanden machte zugunsten der Regel, die ihn in ein Allgemeines integriert (kein Subjekt, das nicht vom Fall dieses Objekts abhängt). Wahr ist, daß diese Resorption des Besonderen durch das Allgemeine ein Gefühl von Seelenmord quasi Schreberscher Façon auslösen konnte. Denn woran hängt das Ich am meisten, wenn nicht an der Besonderheit seiner Geschichte, insofern sie ihm seine Unbefriedigung garantiert? Die Prozedur, die die passe genannt wurde, sollte einer Jury erlauben, jenen Analytikern ihre Zustimmung zu geben, die ihr persönlicher Weg dazu geführt hatte, die klassische und geziemend gehütete Antinomie zwischen der Ausnahme (das, was jedes Subjekt zu sein überzeugt ist) und dem Allgemeinen aufzulösen. Sie schrieb sich in einen eher beruhigenden Horizont ein: bewohnt nicht vom Kantschen Imperativ, dessen Verwandtschaft mit dem Sades Lacan festgestellt hatte, sondern von seinem, Lacans, Begehren, zu wissen: Weshalb begehrt ein Analysant, Analytiker zu werden, das heißt, für einen anderen die ursprüngliche Operation zu wiederholen, wobei diesmal er es wäre, der als Objekt genommen würde? Aber die Frage nach dem Begehren des Analytikers ist bis heute ohne Antwort geblieben. Wenn der Akt am Anfang [au principe] einer subjektiven Veränderung steht, und wenn der psychoanalytische Akt am Ende einer Analyse das Auftauchen eines neuen Subjekts markieren sollte, entlastet unter anderem vom Kult des Leidens, dann kann man nicht sagen, daß die Lehre Lacans Akt gemacht, Wirkung gezeigt hätte. Der Streit unter den eifersüchtigen Gleichen oder den mißachteten Schülern, das Auftauchen von in ihrem Glück erstickten Erben, die Forderungen nach Unabhängigkeit gehören zum immer gleichbleibenden Repertoire der menschlichen Komödie. Nichts Neues also – außer der täglichen Erfahrung unserer Unfähigkeit, eine Veränderung [mutation] geltend zu machen, die, möglich, da geschrieben, der zunehmenden Barbarei Widerstand leisten könnte.

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»Jenseits dieser Grenze ist Ihr Ticket nicht mehr gültig.« Lacan in Österreich und die Folgen (1955–1999) Michael Schmid

Die erste deutschsprachige Darstellung von Lacan in Österreich geht auf das Jahr 1992 zurück. Die Tagung Lacan und das Deutsche bot hierfür den geeigneten Rahmen. Ein zweiter Versuch unter dem Titel Die Wahrheit spricht wurde 1993 in der österreichischen psychoanalytischen Zeitschrift texte publiziert. Beide Texte standen unter dem Signifikanten ›Stimme‹: Die Stimme über dem Wiener Heldenplatz als Signifikant der österreichischen Geschichte des 20. Jahrhunderts; die Stimme des ›Heros‹ Freud, die Lacan in seinem Wiener Vortrag anruft; die Stimme Lacans, die er der Wahrheit leiht, der Wahrheit, die spricht; die Stimme des Pathos, die zu jener Zeit, als Lacan zu seinem Wiener Auditorium spricht, die wiedereröffnete Staatsoper mit den Klängen von Beethovens Fidelio erfüllt: »Wahrheit wagt ich kühn zu sagen […]«. Au-delà de cette limite, votre ticket n’est plus valable ( Jenseits dieser Grenze ist Ihr Ticket nicht mehr gültig) – unter dem Titel des Romans von Romain Gary, der mit Ach Liebster, das macht doch nichts ins Deutsche übersetzt worden ist – man sieht, was Übersetzen macht, ach! – soll im folgenden erneut auf die verfehlte Begegnung Lacans mit dem Wien Freuds hingewiesen werden. Kann denn Sünde Liebe sein? könnte man in Umkehrung des Schlagers von Zarah Leander fragen. Der Übersetzer hat diesen Schritt möglicherweise für berechtigt gehalten, weil der Roman von den Nöten eines älteren Mannes handelt, der die Schwächen des Alters an der Sinnlichkeit einer jungen Frau erfährt. Der Witz des Originals, daß es ein Diesseits gibt, in dem alles volle Gültigkeit hat, geht dabei leider verloren. Doch ich will hier nicht länger verweilen, da ich mich weniger zur Frage des Übersetzens äußern möchte als vielmehr zu den Fragen des Über-Setzens. Es scheint, als überschreite der »transfer« Lacans von Paris nach Wien eine Grenze, jenseits deren das Lacansche Denken invalid wird. Der Frage nachzugehen, ob dieses Denken Spuren in Österreich hinterlassen hat, erneuert die Frage nach 41

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der Validität der Psychoanalyse, besonders in Österreich, da Lacan ja nicht zufällig Wien für seine programmatische Forderung einer »Rückkehr zu Freud« gewählt hat. »Dauernd arbeits- oder dienstunfähig, erwerbsunfähig« gibt das Wörterbuch als deutsche Übersetzung für ›invalid‹ an. Gibt man dem Über-Setzen die Bedeutung eines Sprungs, so lenkt man die Aufmerksamkeit auf die Kluft, die es dann allerdings noch zu benennen gälte. Oder, denkt man an die Handlung des Springens selbst, so führt uns das unmittelbar zum Begriff der Übersprungshandlung. Beide Konzepte scheinen mir für die Analyse der Situation in Österreich gleichermaßen berechtigt. Einerseits die Kluft, die die Psychoanalyse mit ihrer Theorie des Unbewußten selbst darstellt. Sie kann nur übersprungen werden um den Preis, im Jenseits der Psychoanalyse anzukommen. Andererseits die Übersprungshandlung, die als Lösung eines Konflikts der Begehren bei etwas Drittem Zuflucht sucht und das Dritte mit dem Vermiedenen gleichsetzt oder verwechselt. Das entspricht in etwa dem Befund, den ich vorlegen kann. Die Rückkehr zu Freud am Ursprungsort der Psychoanalyse zu fordern, heißt, diesen Ort als Ort der Abwesenheit zu beklagen, die ihm mehrfach eingeprägt ist. Nicht nur, daß Freud und seine Familie aus dieser Stadt vertrieben worden ist wie viele andere auch; es war die Psychoanalyse selbst, die durch das Feuer der Bücherverbrennung gegangen ist, als sollte sie für immer aus dem Gedächtnis der Menschen gelöscht werden. Daher bleibt die Rückkehr zu den Texten Freuds und zur ›ursprünglichen Praktik‹, wie Lacan es verlangt, ein Unterfangen, das die Lektüre auf eine zusätzliche Probe stellt. Auf die Probe der ›Rekonstruktion‹ der Sprache Freuds aus den ›Verstümmelungen‹ der Geschichte. Aber auch die Probe auf den Kern der Psychoanalyse selbst, den Bruch des Ursprungs, der jede Rückkehr zu einer unmöglichen Rückkehr werden läßt. In ihr lebt die Frage nach ›Der Psychoanalyse‹ weiter. Sie artikuliert sich in der Forderung Lacans nach einer Rückkehr, die nichts anderes sein soll als die Ankunft ›Der Psychoanalyse‹, die dem Namen Freud zurückgegeben werden sollte und ihren Ort im Diskurs der Wissenschaften behaupten könnte. Mit seinem Vortrag in Wien dürfte es Lacan gelungen sein, dieser Unmöglichkeit einen Namen zu geben, indem er den Namen der Stadt mit dieser Unmöglichkeit verband. Daß er bei seinen Zuhörern auf Unverständnis stieß, lag nicht allein an seinem damaligen Publikum. Das war ihm durchaus geneigt und wohlgesonnen. Sondern der Impetus der Rückkehr selbst, in dem so etwas wie die List der ›Hintergehung‹ steckt, öffnet die Kluft, die zeigt, daß man die Psychoanalyse nie ›haben‹ und deshalb auch nicht verlieren kann: Ihr Ort ist weder im Sein noch im Nicht-Sein, sie ist weder da noch nicht da – man muß sie jeweils erfinden, ausgehend von dem, was Freud dazu gesagt hat. 42

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Nun, wie ist es um die Psychoanalyse in Österreich bestellt, und welche Folgen der ›Überschreitung‹ Lacans lassen sich anführen? Diesseits des Lacanschen Diskurses existiert der vollgültige psychoanalytische Legitimismus, der sich seine Hegemonie neuerdings mit einer Inkorporation erkauft hat. Mit diesem Legitimismus dürfte der Weg der Psychoanalyse Freuds an seinem vorläufigen Höhepunkt angelangt sein. Daher soll zunächst von den Barrieren die Rede sein, die sich heute einer Zuwendung zu Freud, wie sie von Lacan praktiziert worden war, in Österreich entgegenstellen und einer an der Lacanschen Inspiration orientierten Praxis des ›Begehrens des Analytikers‹. 1990 ist in Österreich Gesetzeswirklichkeit geworden, was Freud noch Anlaß zu einer Sottise gab: »[…] als sei die Rolle der Sexualität von Sr. Majestät amtlich anerkannt, die Bedeutung des Traums im Ministerrat bestätigt, und die Notwendigkeit einer psychoanalytischen Therapie der Hysterie mit 2 / 3 Majorität im Parlament durchgedrungen«, schreibt er anläßlich seiner Ernennung zum Professor im Ton der Belustigung am 11.3.1902 an Fließ.1 Auf wessen Seite die Lacher wohl heute sind? Daß es auch einige geben wird, denen das Lachen vergangen sein dürfte, ist anzunehmen. Seit 1990 hat Österreich als einziges europäisches Land ein umfassendes Gesetz zur Regelung der Psychotherapie (PsythG), das mit der Formulierung beginnt: »Psychotherapie ist …«. Diese Formulierung beschränkt sich nicht darauf, den Beruf des Psychotherapeuten zu reglementieren. Sie will zugleich auch das Feld der Psychotherapie definieren. Psychoanalyse wird als eine von vielen Methoden der Psychotherapie unter den Geltungsbereich und auch die Legitimität des Gesetzes gestellt. Dieses Gesetz stellt den Rahmen für die Ausübung der Psychoanalyse dar. Das Außerhalb des PsythG ist aber nicht, wie man vielleicht erwarten würde, der gesetzesfreie Raum, sondern hier stößt man auf das Psychologengesetz und dann auf das Ärztegesetz. Zu den Problemen, die sich daraus für die Psychoanalyse ergeben, und zur Logik des Gesetzes hat sich die Assoziation für die Freudsche Psychoanalyse (AFP) in einem längeren Dossier, das an die zuständigen österreichischen Behörden gerichtet war, geäußert. Es wurde von diesen Stellen nie zur Kenntnis genommen. Eine weitere Konsequenz dieses Gesetzes ist, daß Ausbildung staatlich anerkannten Ausbildungsvereinen vorbehalten ist, deren Anerkennung von der Erfüllung gesetzlich geregelter Anforderungen abhängig ist. Auf diese Weise legt das Gesetz den Weg zum Analysieren fest. Innerhalb des Reglements gibt es nur eine, standardisierte, Form der Ausbildung. Selbstverantwortete Formen, die vom Begehren des einzelnen ausgehen, finden in diesem System keinen Platz. Denn neben

1. Sigmund Freud: Briefe an Wilhelm Fließ. Ungekürzte Ausgabe, hg. v. Jeffrey Moussaieff Masson, Frankfurt a. M. 1986, S. 503. 43

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einem Curriculum gibt es definierte Positionen wie Kandidat, Lehr- und Kontrollanalytiker sowie festgelegte Stadien, die durchlaufen werden müssen. Was ist das anderes als eine Verstaatlichung der Psychoanalyse? Ist es das, was Freud im Sinn hatte, als er in dem erwähnten Brief an Fließ fortfuhr: »Ich habe gelernt, daß diese alte Welt von der Autorität regiert wird wie die neue vom Dollar. Ich habe meine erste Verbeugung vor der Autorität gemacht, darf also hoffen, belohnt zu werden. Wenn die Wirkung auf die fernen Kreise so groß ist wie auf die näheren, so dürfte ich mit Recht hoffen.«2 Vielleicht hat Freud gemeint, man entrichtet einmal einen Preis, der dann für alle Zeiten gültig ist. Heute sind wir etwas klüger: Die Welt wird von der Autorität und vom Dollar regiert, und diese fordern beständig ihren Tribut. Die Psychoanalyse droht darin zu verschwinden. Die Initiatoren des PsythG jedenfalls glaubten, dieses Gesetz Freud schuldig gewesen zu sein. Welche Wegbegleiter findet man im Lacanschen Feld in Österreich? Die Schwierigkeit beginnt schon bei der geringen Zahl von Analytikern, die sich in ihrer Arbeit auf Lacan berufen. In den etablierten Schulen spielt die Lehre Lacans so gut wie keine Rolle. Die Frage des Analysierens und die Wege zum Analysieren finden keinen Widerhall in der öffentlichen Debatte. In den Vereinigungen findet keine – jedenfalls keine ausgewiesene Arbeit – an diesen Fragen statt. Das heißt, wenn der Name Lacan auftaucht, dann als modische Attitüde oder als Ausweitung des sogenannten Schulenpluralismus. Insbesondere die Österreichischen Arbeitskreise für Psychoanalyse treten für größtmögliche Pluralität ein. Das hängt nicht zuletzt mit ihrer Gründungsgeschichte zusammen. Wir werden noch davon hören. Der Name Lacan wird wie überall im deutschsprachigen Raum auch in Österreich an den Universitäten gehandelt. Außerhalb der Universitäten gibt es vereinzelt Gruppierungen, in denen sich Analytiker mit dem Lacanschen Denken auseinandersetzen. In Wien ist es die Neue Wiener Gruppe / Lacan-Schule, innerhalb deren seit Jahren Seminare und Lektüregruppen bestehen. Die von den Österreichischen Arbeitskreisen für Psychoanalyse herausgegebene Zeitschrift texte hat sich inzwischen zu einem Forum entwickelt, das Beiträge aus dem Lacanschen Feld aufnimmt. Die in Wien ansässigen Verlage Turia + Kant und Passagen Verlag haben sich Verdienste auf dem Feld der Psychoanalyse erworben, indem Autoren aus Philosophie, Kunst, Literatur und Thea-

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ter zu Wort kommen, die mit Lacan arbeiten. Der Passagen Verlag bereitet die Herausgabe der Dissertation Lacans De la psychose paranoïaque … vor. Der Verlag Turia + Kant in Wien hat die deutschen Rechte an einigen Seminaren Lacans erworben und plant die Herausgabe der Seminare IV und V, die bisher noch nicht in einer offiziellen Übersetzung vorliegen. Daneben wurde unter den Auspizien des Lacan-Archiv Bregenz eine Schriftenreihe unter dem Titel Das Lacansche Feld eingeführt. Seit 1998 erscheint die Zeitschrift RISS, die jahrelang von Peter Widmer im Eigenverlag herausgebracht worden war, unter einer neuen Herausgeberschaft mit Sitz in Basel ebenfalls bei Turia + Kant. Einige der genannten Projekte erhalten über die Vermittlung des Lacan-Archiv von öffentlicher Seite finanzielle Unterstützung. So das Übersetzungsprojekt von Lacans Dissertation im Passagen Verlag, der RISS sowie die genannte Schriftenreihe bei Turia + Kant. 1993 wurde, aus keinem anderen Grund als dem, daß die Gründungsmitglieder hier ihren Sitz hatten, in Bregenz das Lacan-Archiv / Psychoanalytische Bibliothek gegründet. Die Gründung geht auf Personen zurück, die zum Teil in einer seit 1980 bestehenden Lektüregruppe miteinander gearbeitet hatten: Monika Mager, Irmgard Moosmann und Michael Schmid. 1994 trat das Archiv mit einer Tagung unter dem Titel Die Frage der Transmission (in) der Psychoanalyse erstmals vor eine größere Öffentlichkeit. Seit seiner Gründung gibt es jährlich ein bis zwei Kataloge heraus. Im Zentrum der Tätigkeit des Archivs steht das Sammeln der Texte Lacans und das Bemühen, die Rezeption seines Denkens in der deutschsprachigen Literatur bibliographisch zu dokumentieren. Seinen Gründungsimpuls hat das Archiv in der ›Vorzeit‹ der AFP erhalten und sich auch immer als Teil eines Netzwerkes verstanden, das nicht auf Österreich beschränkt ist. Von einer institutionalisierten Zusammenarbeit innerhalb Österreichs kann keine Rede sein, ebensowenig von ambitionierten Versuchen einer öffentlich geführten Debatte über die Wege zum Analysieren. Der Zusammenhalt besteht in einzelnen persönlichen Kontakten. Die geringe Resonanz, die Lacans Auftritt in analytischen Kreisen hervorgerufen hat, hängt auch mit dem für Österreich typischen Umgang mit der Psychoanalyse zusammen. Ein nicht unerheblicher Einfluß kommt einer Tendenz zu, die sich schon in der Frühgeschichte der Psychoanalytischen Bewegung in Österreich durchgesetzt hat in der Absicht, die Lehre Freuds mit ihren diversen Abspaltungen unter dem Dach einer ›Allgemeinen Psychotherapie‹ wieder zusammenzuführen. In dieser Absicht taucht erstmals die Präferenz für einen Begriff auf, den Freud oft nicht streng von Psychoanalyse unterschieden hat. Obwohl – oder weil? – man seit dem berühmten Satz aus der 34. Vorlesung zu Einführung in die Psychoanalyse, »[…] aber nicht als Therapie wollte ich sie Ihrem Interesse empfehlen, sondern wegen ihres Wahrheitsge45

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haltes«3, zwischen ›Wahrheit‹ und ›Heilung‹ unterscheiden könnte, wobei die Beziehungen, die beide zueinander eingehen, näher zu untersuchen wären, wurde die Psychotherapie zum Leitbegriff. Liegt darin der eigentliche Schlag gegen die Psychoanalyse, sie ihres Wahrheitsanspruchs zu berauben, um sie in das Prokrustesbett der Therapie zu legen – als eine unter vielen? Dies geschah bereits 1936 auf Anregung Jungs mit der Gründung der Österreichischen Gesellschaft für Psychotherapie und Psychohygiene und findet seinen vorläufigen Abschluß in den Vorannahmen des Psychotherapiegesetzes. Daß beim ersten Versuch politische und ideologische Gründe im Spiel waren, verraten das Datum der Gründung des Vereins sowie die Polemik der Absichtserklärung, die das Bestreben zum Ausdruck bringt, eine »Gesamtanschauung zu schaffen, welche den Grundtatsachen der menschlichen Seele in höherem Maße gerecht wird, als das bisher der Fall war«4, und die eindeutig gegen die Psychoanalyse gerichtet war. Diese Synopsis stand auch an der Wiege des Psychotherapiegesetzes Pate. Ob neben Machtansprüchen auch diesmal ideologische Motive im Spiel waren, läßt sich nicht genau sagen. Für Lacan bedeutet die Rückkehr zu Freud einerseits die Notwendigkeit, die Lektüre wiederaufzunehmen und herauszuarbeiten, was bisher noch nicht gesehen wurde, andererseits aber auch eine Rückkehr zur ursprünglichen Praktik, die er für dringend geboten hält, weil die Ausrichtung auf das autonome Ich in der amerikanischen Psychoanalyse seiner Meinung nach eine verhängnisvolle Entwicklung darstellt. Da eine solche Rückkehr nichts anderes sein kann als eine Rückkehr zur Sprache Freuds, stellt sie auch eine Rückkehr ins Österreichische dar, aus dem Freud durch den Nationalsozialismus so lange verbannt war, bis die Freudlektüre Lacans die Frage nach der Authentizität der Sprache Freuds und den Möglichkeiten ihrer Rückkehr wieder neu stellte. Solcherart Rückkehr zu Freud stellt jeden Versuch einer »Gesamtanschauung der Seele« als haltlos dar. Denn diese Gesamtanschauung bewirkt nichts anderes als die Beseitigung der Radikalität des Freudschen Unbewußten. Denken wir hier an die von Freud ausdrücklich eingeführte Dimension der Wahrheit. Es ist bestimmt kein Zufall, daß Lacan nach Wien gekommen ist, um das »Ding« als den Kern der Entdeckung Freuds ins Zentrum seiner Aussagen zu stellen. Im Gegenteil, man kann davon ausgehen, daß er dies aktiv betrieben hat – geht es doch bei der Frage nach dem »Ding« um die Konstitution des Freud-

3. Sigmund Freud: »Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse«, in: ders., Gesammelte Werke, 15. Bd., London 1940, S. 169. 4. Wolfgang Huber: Die Geschichte der Psychoanalyse in Österreich seit 1933, Wien 1977, S. 30. 46

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schen »Es«. Mit dem »Ding« als »Es« verbindet Lacan eine neue Möglichkeit, die Wahrheit der Psychoanalyse zu denken bzw. zu sagen. Daß dies, neben den gedanklichen Problemen, die sich gestellt haben mögen, im Wien des Jahres 1955 vielleicht auch kaum verheilte Wunden berührte, ist durchaus denkbar, wollte man doch nach der Katastrophe des »Dritten Reiches« die Vergangenheit rasch vergessen und so schnell wie möglich neu beginnen. Was aber kann unter den Bedingungen, die der Nationalsozialismus geschaffen hat, Neubeginn heißen? Erinnerte Lacan mit seinem Aufruf nicht auch an einen Freud, von dem sich viele losgesagt hatten? Verbürgt ist, daß die damals versammelten Psychoanalytiker den Ausführungen Lacans ratlos gegenüberstanden. Er hatte ihnen eine Lektüre gezeigt, die ihnen einen Freud zurückgab, den sie nicht kannten. Denn die ›Sprachlichkeit‹ des Unbewußten, wie von Freud grundgelegt worden war, wurde in dieser Form vor Lacan von niemanden so konsequent gedacht. Sein Publikum war in einem dualen Denken gefangen, das die Struktur des Unbewußten nicht mit der Sprache in Zusammenhang bringen konnte. Außerdem steckte es in einer Aporie: Dem Totalitarismus gerade erst entkommen, formulierte es die Freiheit des einzelnen und die Autonomie des Subjekts als Antwort auf Unterdrückung und Totalitarismus, wodurch es einerseits in Widerspruch zur Freudschen Lehre geriet, die jeder Idee eines autonomen Ich zuwiderläuft; andererseits gelangte es zur Formulierung einer neuen Totalität, der des Ich. Hierin stimmte es, trotz aller Unterschiede, überein. Diejenigen unter den Zuhörern, die Mitglieder der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV ) waren, gingen konform mit dem Kodex der International Psycho-analytic Association (IPA); die Mitglieder des Wiener Arbeitskreises für Tiefenpsychologie (WAT ) wandten sich dem christlichen Existentialismus und dem Konzept der Einheit der Person zu. Die von Lacan geforderte Rückkehr zu Freud bedeutete zweierlei: einerseits die Notwendigkeit, die Lektüre Freuds wiederaufzunehmen und herauszuarbeiten, was bisher übergangen oder erst mit den Mitteln des zeitgenössischen Wissens ausformuliert werden konnte. Das bedingt eine Hinwendung zum Text; andererseits – und das ist ebenso brisant – die Rückkehr zur ursprünglichen Praktik, das heißt die Abkehr von Konzepten der Anpassung, Beherrschung oder Ertüchtigung. Die implizite Forderung, zur Sprache Freuds zurückzukehren, war für die einen unmöglich, weil für sie die ›Einheit der Person‹ eine unhinterfragbare Grundtatsache darstellte. Für die anderen galt die Loyalität zur herrschenden Lehrmeinung der IPA, da ihnen die Wiedereingliederung in die Internationale Schutz, Sicherheit und Anerkennung brachte. Lacan hat wohl gewußt, daß sie in Wien aneinander vorbeigeredet hatten, sein Publikum und er. Noch zehn Jahre später spricht er in gereiztem Ton von dieser Begegnung. Er sagt, er verdanke diesem Wien 47

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seine erste Begegnung mit dem »heruntergekommensten Teil der Welt der Psychoanalyse.«5 Die Folgen für die Rezeption des Wiener Vortrags sind auch nicht gänzlich von der Editionspraxis der deutschen Herausgeber der Écrits zu trennen. Im Unterschied zu den in den beiden anderen deutschsprachigen Ländern Schweiz und Deutschland gehaltenen Vorträgen6 wurde der Vortrag von Wien nicht in die drei Auswahlbände der Schriften aufgenommen. Ist das die Antwort des »Biographen« auf Lacans Erfahrungen mit diesem Teil der Welt der Psychoanalyse?7 Wollte er es selbst so? Im Hinblick auf die Grenze, die der Lacansche Diskurs nicht überschreiten kann, ist dieser Widerstand symptomatisch. Der Wiener Vortrag wird auch nur selten zitiert. Der deutschsprachige Leser erfährt nichts über den bedeutenden Text, der die konzeptionellen Grundlagen der Sprachlichkeit des Unbewußten enthält. Erst viele Jahre später (1988) hat die Zeitschrift WO ES WAR die Vortragsfassung publiziert. Diese ist nicht identisch mit der in den Écrits publizierten Fassung. Es handelt sich um die einzig existierende Vortragsfassung. Dieses ›Original‹ ist in deutscher Sprache abgefaßt. Von der ›amplification‹, die Lacan für die Écrits freigegeben hat, gibt es bis heute nur eine Werkstattübersetzung des Lacan-Archivs. In gewissem Sinne gehört der Text zum Gründungsmoment des Archivs. Das Original des Wiener Vortrags beginnt ohne jede Anspielung auf den Ort des Geschehens und die Zuhörerschaft. Erst die ›amplification‹ gibt dem Pathos Raum. Darin wird die Stimme der Oper beschworen, die in diesen Novembertagen des Jahres 1955, als er in Wien weilte, begonnen hatte, erneut ihre kulturelle Mission zu erfüllen. Lacan erinnert daran, daß die Stimme des Pathos diejenige des Heros zu übertönen droht, die Stimme Freuds, die an jenem Ort, von dem sie ihren Ausgang genommen hat, kaum noch vernommen wird. Die Anspielung auf sein Thema verdankte Lacan der Oper, mit der die Wiener Staatsoper zur Zeit seines Wienbesuchs ihren Spielbetrieb wieder aufgenommen hatte: Beethovens Fidelio. »Wahrheit wagt’ ich kühn zu sagen!«, heißt es in der Arie des Florestan. Lacan weilte auf Einladung von Prof. Hoff, dem damaligen Vorstand der Universitätsklinik, und von Doz. Dr.

5. Jacques Lacan: »Die Wissenschaft und die Wahrheit«, in: ders., Schriften II, Olten / Freiburg i.Br. 1975, S. 245. 6. Jacques Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion« (Zürich 1949), in: ders., Schriften I, Olten / Freiburg i.Br. 1973, S. 61–70, und ders.: »Die Bedeutung des Phallus« (München 1958), in: ders., Schriften II, Olten / Freiburg i. Br. 1975, S. 119– 132. 7. In »Die Wissenschaft und die Wahrheit« heißt es an der angegebenen Stelle : »Mein Biograph wird das festzuhalten haben.« 48

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Arnold in Wien. Das Redemanuskript trägt den Titel »Der Sinn einer Rückkehr zu Freud in der Psychoanalyse.«8 An die Stimme Freuds müssen dann viele Jahre später auch diejenigen gedacht haben, die anläßlich seines 50. Todestages in der Nähe von Freuds Wohnhaus einen Park nach ihm benannten und in dessen Mitte eine Gedenktafel aufstellen ließen, auf der zu lesen steht: Die Stimme der Vernunft ist leise. Angeblich wurde bei der Enthüllung des Denkmals Das Unbehagen in der Kultur als Quelle des Zitats angegeben.9 Über diesen Lapsus konnte Lacan damals noch nicht stolpern. Er leitet die ›amplification‹ mit einer Anspielung auf die »symptomatische Schwäche« derer ein, deren Obhut Freud die Psychoanalyse anvertraut hat und erinnert an die Vorgänge rund um die Errichtung einer Tafel am Hause Freuds, die seiner Meinung nach eine Verleugnung verraten, die aus dem Innersten der Psychoanalytischen Bewegung kommt, in der die Dinge so weit gediehen seien, daß der Appell »zurück zu Freud« einen Umsturz bedeute.10 Alfred Winterstein, der damalige Vorsitzende der WPV konnte diese Vorgänge aufdecken.11 Um so mehr kann Lacan den Ort seines Vortrages als Ort des Gedenkens hervorheben, denn in Hoff begegnet er einem Mann, der sich um die Integration der Psychoanalyse in das psychiatrische System verdient gemacht hat, auch wenn ein solches Verdienst im Lichte der Distanz, die Freud zwischen Psychoanalyse und Medizin stets gewahrt wissen wollte, zweifelhaft ist. Hoff war es auch, auf dessen Drängen hin die Medizinische Fakultät im Arkadenhof der Wiener Universität eine Freud-Büste aufstellen ließ.12 Lacans Forum ist die zu diesem Zeitpunkt renommierte »Wiener Schule« der Psychiatrie, in der Hirnpathologie und Hirnphysiologie ebenso zur Geltung kamen wie Psychoanalyse und Sozialpsychiatrie. Hoff selbst war kein Psychoanalytiker, wurde aber wegen seiner Verdienste um die Verbreitung der Lehre Freuds zum Ehrenmitglied der WPV gewählt. Doz. Arnold, ein Verfechter der Anthropologie, war zu diesem Zeitpunkt Oberarzt bei Hoff und Stellvertretender Vorsitzender des von Igor A. Caruso 1949 gegründeten Wiener Arbeitskreises für Tiefenpsychologie. Mit Caruso war Lacan schon bekannt, bevor er nach Wien einge-

8. Jaques Lacan: »Der Sinn einer Rückkehr zu Freud in der Psychoanalyse«, in: WO ES WAR 5–6 (1988), S. 5–9. 9. Kurt Eissler: »Sic gloria ingenii. Die Inschrift am Freud-Denkmal in Wien«, in: Psyche 40 (1986), S. 1139–1144. 10. Jacques Lacan: »La chose freudienne ou Sens du retour à Freud en Psychanalyse«, in: ders., Écrits, Paris 1966, S. 401 f. 11. Die Initiative kam von Prof. Dr. Ruemke, dem damaligen Präsidenten der World Federation of Mental Health. 12. Am 4.2.1955. 49

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laden worden war. Der Arbeitskreis Carusos hatte 1954 in Brüssel eine Tagung der europäischen Psychologen veranstaltet, bei der die Frage diskutiert wurde: »Hat die psychologische Forschung zur Erfassung der menschlichen Person mit ihren wesentlichen Bindungen beigetragen?« Lacan war eingeladen, an dieser Tagung zu sprechen. Von seinem Beitrag ist das erhalten geblieben, was Caruso in der Zusammenfassung der Tagung folgendermaßen festgehalten hat: »Andererseits war es ein hervorragender französischer Psychoanalytiker, Herr Lacan, der, von einem ganz anderen Standpunkt ausgehend, die Wichtigkeit des inneren Dialogs, der aus uns erst Menschen macht, unterstrichen hat.«13 In einem anderen Tagungsbericht, der nicht namentlich gekennzeichnet ist, heißt es, daß »Herr Dr. Lacan (Paris), Leiter der französischen Psychoanalytischen Gesellschaft […] auf die innere Dialektik der Person in Theorie und Technik der Psychoanalyse [einging].«14 Die Tagungsbeiträge wurden, allerdings ohne einen Text Lacans, im Jahrbuch für Psychologie und Psychotherapie veröffentlicht. Zwei Autoren berufen sich in ihren Beiträgen auf Lacan: Pater Beirnaert, der sich als sein Schüler bezeichnet, und Pater Bruno de Jésus-Marie, indem er erklärt, eine Gegenposition zu Lacan zu vertreten. Dann verlieren sich die Spuren Lacans. Vermutlich war die Begegnung in Brüssel der erste Kontakt zwischen Lacan und Caruso, der offenbar so gelungen war, daß Lacan auf Carusos Vorschlag hin ein Jahr später nach Wien eingeladen wurde. Die Versammlung in Brüssel bestand zum Großteil aus Personen, die dissidenten Gruppierungen angehörten: Lacan war zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr Mitglied der Société Psychanalytique de Paris, Carusos Arbeitskreis ohnehin außerhalb der IPA bzw. der WPV angesiedelt. Das Interesse am Zusammenrücken war deshalb vermutlich größer als die Kenntnis der jeweiligen theoretischen Positionen. Davon, daß Lacan oder Caruso das Denken des jeweils anderen aufgenommen hätten, kann zu keinem Zeitpunkt ihrer Bekanntschaft gesprochen werden. Im Gegenteil: Caruso hat in den wenigen Äußerungen zu Lacan, die verbürgt sind, immer betont, daß er ihn für einen genialen Praktiker halte, dessen theoretische Positionen er allerdings nicht nachvollziehen könne.15

13. Igor A. Caruso: »Ausblick auf eine Tiefenpsychologie der Person«, in: Jahrbuch für Psychologie und Psychotherapie 3 (1955), S. 249. 14. In: Wiener Archiv für Psychologie, Psychiatrie und Neurologie, Bd. 4, Wien 1954, S. 114. 15. Mündliche Mitteilung von Dr. August Ruhs und Doz. Dr. Raoul Schindler, beide Wien. Ich selbst hörte Caruso nur die Lektüre von Daniel Lagache und Maurice Merleau-Ponty empfehlen. 50

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In der dritten und letzten Begegnung Lacans mit Österreich spielt der damalige Vorsitzende der WPV, Wilhelm Solms-Rödelheim eine unrühmliche Rolle. Er wurde vom Zentralausschuß der IPA wegen seiner Wiener Herkunft in jene Enquêtekommission berufen, die klären sollte, ob der Société Française de Psychanalyse (SFP), deren Mitbegründer Lacan war, die Mitgliedschaft in der IPA zuerkannt werden könne. SolmsRödelheim war als Vertreter der orthodoxen Linie bekannt. Die Stellungnahme dieser Kommission führte dann beim IPA-Kongreß von Stockholm 1963 zur ultimativen Forderung nach der Streichung Lacans von der Liste der Lehranalytiker der SFP. Solms soll es gelungen sein, das Gleichgewicht innerhalb der Kommission zu zerstören.16 Zurück nach Wien. Als Lacan dort 1955 sprach, tat er dies vor einem Publikum, das sich u. a. aus Mitgliedern der WPV und des WAT zusammensetzte. Die WPV hatte sich aus den Überresten der Wiener Zweigstelle des Reichsinstituts für Psychologie und Psychotherapie unter Vorsitz von August Aichhorn als eigenständiger Verein konstituiert. Erste Sorge der Vereinigung war es, die durch das »Dritte Reich« zerstörte Infrastruktur der alten Vereinigung wieder aufzubauen. Dementsprechend verfolgte sie in den ersten Jahren konsequent das Ziel, die Ausbildung von Psychoanalytikern sicherzustellen. Die Neugründung erhielt von Anfang an die Zustimmung der IPA. Unter Aichhorn als Vorsitzendem wurde die Ich-Psychologie besonders herausgestrichen und das Hauptaugenmerk auf die Bewahrung der Freudschen Überlieferung und den Kampf um öffentliche Anerkennung gelegt. Die Linie Aichhorns wurde auch unter Winterstein fortgesetzt. Sie lautete: Es gibt keine Weiterentwicklung der Freudschen Lehre, es sei denn, ein Genie arbeitet an Freuds Lebensarbeit weiter. Daß der, der zu ihnen sprach, dieses Genie sein könnte, das hat wahrscheinlich keiner der damaligen Zuhörern angenommen. Winterstein schärfte seinen Mitgliedern außerdem ein, »sich in das Studium der Schriften Freuds zu vertiefen und neue Ideen mit größter Vorsicht zu prüfen.«17 Ob die Mitglieder der WPV beim Hören von Lacans Vortrag der Empfehlung ihres Vorsitzenden gefolgt sind, läßt sich nicht mehr feststellen. Bis heute ist keine nennenswerte Beschäftigung mit Lacan in Kreisen der WPV bekannt geworden. Der Arbeitskreis Carusos hat eine ganz andere Tradition: Im letzten Kriegsjahr war Victor von Gebsattel nach Österreich gekommen und hatte August Aichhorn im Vorsitz des Reichsinstituts abgelöst. Von Gebsattel war kein Vertreter der Psychoanalyse Freuds, sondern stellte

16. Elisabeth Roudinesco: Histoire de la Psychanalyse en France, Bd. 2, Paris 1994, S. 346. 17. W. Huber: Psychoanalyse in Österreich, S. 85. 51

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ihr den der Anthropologie entliehenen Begriff der »Person« als einer biologisch-psychologisch-spirituellen Einheit gegenüber. Von Gebsattel war von Otto Seif analysiert worden, der ein Anhänger Jungs gewesen war, den Bruch Jungs mit Freud aber nicht mitvollzogen hatte. Von Gebsattel gilt als Pionier einer anthropologischen Medizin und als derjenige, der die anthropologische Analytik in die Tiefenpsychologie eingeführt hat. Die anthropologische Psychotherapie ist ihrem Wesen nach hermeneutisch. Die menschliche Person in ihrer Totalität steht im Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. Es heißt, von Gebsattel habe seine Praxis sehr freudianisch gestaltet, jedoch wahrte er stets eine starke Skepsis gegenüber der Freudschen Theorie. Diese Distanz findet sich in der Bezeichnung »Tiefenpsychologie« im Unterschied zu »Psychoanalyse« wieder.18 Mit der Ankunft von Gebsattels spaltete sich die Wiener Gruppe: Manche der Schüler Aichhorns, unter ihnen auch Caruso, scharten sich um von Gebsattel, die anderen blieben bei Aichhorn, dessen Weiterarbeit unter dem Titel eines Forschungsauftrags vom Reichsinstitut geduldet worden war. 1948 / 49 formierten sich die Anhänger der personalistischen Psychotherapie unter Caruso zum Wiener Arbeitskreis in der Absicht, sich von jedem totalitären Dogma abzusetzen. (Statt dessen wandten sie sich der »Totalität der Person« zu.) Das Interesse der Mitglieder war auf eine unorthodoxe Psychotherapie gerichtet, die, wie es bei Caruso heißt, nicht im »deterministischen Konzept der Psychoanalyse« gefangen bleibe, sondern zu einer »existentiellen Synthese« führe.19 Die freud-kritischen Überlegungen der Mitglieder des WAT gipfelten in der Antwort auf die selbstgestellte Frage, ob sie noch Psychoanalytiker seien: »Wir sind keine Psychoanalytiker. Aber wir sind es nicht mehr, und zwar in dem Sinne, daß wir darüber hinausgegangen sind […]. Wir vertreten also eine Tiefenpsychologie, die, von Freud herkommend, die bisherigen Ergebnisse bejaht, sie aber in ein System einordnet, das sich durch die Einführung der subjektiven Absolutsphäre, die auf die objektive hinzuordnen ist, von der bisherigen Tiefenpsychologie unterscheidet.« 20 Der WAT fand in Österreich die weiteste Verbreitung. Heute gibt es ihn in Innsbruck, Bregenz, Salzburg, Linz, Graz und Wien. Die WPV dagegen ist über ihren Wirkungskreis in Wien und innerhalb der IPA hinaus im übrigen Österreich kaum bekannt. Mit der Ausbreitung der Arbeitskreise wurde die Tiefenpsycholo-

18. Vgl. ebd. 19. Igor A. Caruso: Psychoanalyse und Synthese der Existenz, Wien 1952, S. 146. 20. Wilfried Daim: »Die Umwertung der Psychoanalyse«, in: Wolfgang Huber (Hg.), Die Geschichte der Psychoanalyse in Österreich seit 1933, Wien 1977, S. 101 f. 52

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gie zur einflußreichsten Schule in Österreich. Erst in den 1990er Jahren sind die Arbeitskreise dazu übergegangen, den Namen Tiefenpsychologie zu streichen und sich in Arbeitskreis für Psychoanalyse umzubenennen. Die Darstellung der Situation der Psychoanalyse in Wien um 1955 zeigt deutlich, daß Lacan vor einem Publikum gesprochen hat, das ganz unterschiedliche theoretische Positionen vertreten hat, in einem Punkt aber übereinstimmte, der zugleich die größte Differenz zu Lacans Position markiert: das autonome Ich. Diesem Publikum gilt Lacans Einsatz für Freud. Soweit bekannt ist, wollte Lacans Überlegungen damals in Wien niemand so recht folgen, so sehr schien die Einheit der Psychologie bedroht, die wiedergewonnen wurde, kaum daß der Riß des Unbewußten aufgetaucht war. Und man darf auch den Nachhall des Satzes des letzten Kanzlers der I. Republik, Schuschnigg, nicht vergessen, mit dem Österreich aus der Schuld am Nazifaschismus ausgeschlossen wurde: »Ich weiche der Gewalt!« Diesem Akt verdankt Österreich seine Anerkennung als erstes Opfer des Faschismus und die Gründung seines neuen Staates, die erst wenige Monate vor Lacans Vortrag besiegelt worden war. Die Folgen dieser »Urverdrängung« waren zur Zeit des Vortrags Lacans zu spüren. Sie bestimmen das politische Geschehen in Österreich auch heute noch. Von Lacans Impuls, Freud nach Wien und Österreich zurückzubringen, hat man dann nichts mehr gehört, bis Anfang der achtziger Jahre die ersten zaghaften Schritte gemacht wurden, auf Lacan zurückzukommen. Die Frage nach der Validität der Psychoanalyse Freuds, die sich durch Lacans ›Scheitern‹ mit Wien verknüpft, hält sich auch durch die Folgen des PsythG aufrecht. In jedem Verfehlen taucht sie erneut auf und fordert ihre Anstrengungen. Im universitären und künstlerischen Diskurs ist der Name Lacan präsent. Es sind aber noch immer die ›legitimen‹ Nachfolger Freuds, die Analytiker, die gegen das Fehlgehen Barrieren errichten, jenseits deren das ›Ticket Lacan‹ keine Gültigkeit mehr hat. Verschwindet mit seiner Entwertung auch die Frage selbst?

Literatur Caruso, Igor A.: »Ausblick auf eine Tiefenpsychologie der Person«, in: Jahrbuch für Psychologie und Psychotherapie 3 (1955), S. 113–116. — Psychoanalyse und Synthese der Existenz, Wien 1952. Daim, Wilfried: Umwertung der Psychoanalyse«, in: Wolfgang Huber (Hg.), Die Geschichte der Psychoanalyse in Österreich seit 1933, Wien 1977, S. 101 f. Eissler, Kurt: »Sic gloria ingenii. Die Inschrift am Freud-Denkmal in Wien«, in: Psyche 40 (1986), S. 1139–1144. 53

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— »Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse«, in: Gesammelte Werke, 15. Bd., London 1940. Freud, Sigmund: Briefe an Wilhelm Fließ. Ungekürzte Ausgabe, hg. v. Jeffrey Moussaieff Masson, Frankfurt a. M. 1986. Huber, Wolfgang: Die Geschichte der Psychoanalyse in Österreich seit 1933, Wien 1977. Lacan, Jacques: »Das Spiegelstadium als Bilder der Ich-Funktion«, in: ders., Schriften I, Olten / Freiburg i.Br. 1973, S. 61–70. — »Der Sinn einer Rückkehr zu Freud in der Psychoanalyse«, in: WO ES WAR 5–6 (1988), S. 5–9. — »La chose freudienne ou Sens du retour à Freud en Psychanalyse«, in: Écrits, Paris 1966, S. 401–436. — »Die Bedeutung des Phallus«, in: ders., Schriften II, Olten / Freiburg i.Br. 1975, S. 119–132. — »Die Wissenschaft und die Wahrheit«, in: ders., Schriften II, Olten / Freiburg i.Br. 1975, S. 231–257. Roudinesco, Elisabeth: Histoire de la Psychanalyse en France, Bd. 2, Paris 1994. Wiener Archiv für Psychologie, Psychiatrie und Neurologie, Bd. 4, Wien 1954.

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Das Scheitern ist gescheitert, oder: Weshalb Lacan in Italien kein Glück hatte. Lacan in Italien 1953–1974 1 René Scheu

Einleitung Ich werde von »Lacan in Italien« sprechen. Man kann aber nicht von Lacan sprechen, ohne mit Freud zu beginnen. Niemand wußte das besser als Lacan selbst, der sich stets als »Freudianer« definierte und es anderen überließ, »Lacanianer« zu sein. Daß er seine italienische Schule nach Freud benannte – La cosa freudiana, »Das Freudsche Ding« sollte sie heißen –, war deshalb nur folgerichtig. Und daß er seine Pariser Freud-Schule ausgerechnet nach Italien ausweiten wollte, war ebenfalls alles andere als ein Zufall: Italien war nicht nur Freuds, sondern auch Lacans »Ding«. Sein Verhältnis zu Rom aber war zweifellos von Freud beeinflußt. Daß Freud eine besondere »Liebe« zu Italien hegte, war Lacan als genauem Freud-Leser natürlich nicht entgangen: amour d’Italie nannte er sie.2 Und in der Tat, Freud sprach in seinen Briefen an Wilhelm Fließ unablässig von Rom, wobei er erst spät wagte, seinen Fuß auf die heilige Erde zu setzen. Am 23.10.1898 schrieb er an Fließ: »Ich bin allerdings nicht gesammelt genug, daneben etwas anderes zu tun, außer etwa Topographie von Rom zu studieren, da die Sehnsucht immer quälender wird. Der Traum ruht, unveränderlich; es fehlt mir das Motiv, ihn zur Publikation fertig zu machen.« 3

1. Der Text ist die erweiterte Version eines Vortrags, den ich unter dem Titel »Lacan in Italien« am 15. Juli 2000 in Kassel gehalten habe. Aller Modifikationen ungeachtet, habe ich mich bemüht, den Ton der mündlichen Rede beizubehalten. 2. Le Séminaire de Jacques Lacan. Texte établi par Jacques-Alain Miller. Livre IV, La relation d’objet (1956–1957), Paris 1994, S. 419. 3. Sigmund Freud: Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904. Ungekürzte Ausgabe, hg. v. Jeffrey Moussaieff Masson, Frankfurt a. M. 1986, S. 363 (Hervorhebung durch mich, R.S.). 55

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Am 6.2.1899 schreibt er, der Verzweiflung nahe: »In der Arbeit geht es langsam vorwärts […]. Das geheime Dossier wird dabei immer dicker […]. Wann Ostern in Rom möglich sein wird, darauf bin ich schon selbst neugierig.«4 Am 2.3.1899, wiederum an Fließ: »Rom ist noch weit, Du kennst ja meine römischen Träume.«5 Freuds »Sehnsucht«, seine »Neugierde«, sein »Wunsch«, Rom zu sehen, war nichts anderes als sein Begehren, Die Traumdeutung (»den Traum«, »das Dossier«) endlich veröffentlicht zu sehen. Um in Rom anzukommen, mußte er noch erheblich mehr Zeit verstreichen lassen: Zwar erschien im November 1899 endlich Die Traumdeutung, aber erst zwei Jahre danach kam er in Rom an. Am 19.9.1901 schreibt er an Fließ: »Nun sollte ich Dir über Rom schreiben; es ist schwer. Es war auch für mich überwältigend und die Erfüllung eines, wie Du weißt, lange gehegten Wunsches.«6 Zurück zu Lacan. Wie für Freud war auch für ihn das italienische Kernland so etwas wie ein »Ding«, dem er sich lange nicht anzunähern wagte, zu dem er – wenigstens für eine lange Zeit – eine gewisse Distanz bewahrte. Als Lacan 1974 dann doch zur Tat schritt und in Italien eine Schule ganz nach seinem Gusto gründen wollte, war sein Projekt von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Wie ich zeigen möchte, lag das Problem jedoch nicht im Scheitern der Schule. Um es paradox zu formulieren: Tragisch an der Gründung war vielmehr, daß das Scheitern scheiterte, daß es nicht zu jenem Scheitern kommen sollte, das JacquesAlain Miller später als »ideales Ende« der analytischen Erfahrung bezeichnen wird.7 Was ist damit gemeint? Mit der Entdeckung der Fehlleistung hat die Psychoanalyse das Scheitern – Lacan spricht auch vom »Anecken«, »Mißlingen«, »Straucheln« und »Stolpern«8 – in den Rang eines gelungenen und erfolgreichen Aktes erhoben. In der Psychoanalyse gibt es deshalb stets eine »gute« und eine »schlechte« Art zu scheitern. Die Analyse etwa scheitert »schlecht«, wenn sie nicht über die Kompromißbildung des Symptoms hinauszugelangen vermag; sie scheitert »gut«, wenn es ihr gelingt, in eine Sublimation zu münden. Und was auf der Ebene der Analyse gilt, kann für die Institution nicht falsch sein. Wenn sie die reine Freudsche Lehre verkündet, wenn sie die Regeln für das Setting bis ins Detail vorschreibt, wenn sie die getreue Übertragung der Wahrheit überwacht, wenn sie sich also darauf beschränkt, Altes zu

4. 5. 6. 7. 8.

Ebd., S. 376 (Hervorhebung durch mich, R.S.). Ebd., S. 380 (Hervorhebung durch mich, R.S.). Ebd., S. 493. Jacques-Alain Miller: »Von einem anderen Lacan«, in: WO ES WAR 2 (1986), S. 63. Vgl. Das Seminar von Jacques Lacan. Buch XI (1964), Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. v. Norbert Haas, Olten / Freiburg i.Br. 1978. 56

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DAS SCHEITERN IST GESCHEITERT

erhalten und zu verteidigen, muß die Institution notwendig »schlecht« scheitern. Wenn sie hingegen den Weg der theoretischen und praktischen Erneuerung einschlägt, hat sie die Möglichkeit, »gut« zu scheitern und weiterzubestehen. Worin dieses »gute« Scheitern genau liegt, darauf gibt es wohl bis heute keine endgültige Antwort. Ich bin überzeugt, daß dies die Frage war, auf die Lacan in Italien eine Antwort zu finden hoffte. Über Lacans Italien-Abenteuer – die Gründung einer italienischen Schule, La cosa freudiana – ist in unseren Breiten nur wenig bekannt. Ich möchte Ihnen heute zeigen, daß dieses Abenteuer zu Unrecht unterschätzt wird. Ich meine, daß es von großer Bedeutung ist – nicht sosehr für ein besseres Verständnis von Italien oder von Lacans Biographie, als vielmehr deshalb, weil gerade Lacan der Frage nach der »richtigen« Institution einen wichtigen Platz in der psychoanalytischen Theorie einräumt. Ohne die »richtige« Institution – so war er überzeugt – war die Freudsche Entdeckung dazu bestimmt, in Vergessenheit zu geraten. Mein Vortrag handelt davon, wie Lacan versuchte, diesem Vergessen vorzubeugen. Freilich nicht davon allein, sondern ebenso vom Scheitern, zu dem dieser Versuch vorherbestimmt war. Lacans ItalienAbenteuer dauerte immerhin 21 Jahre, von 1953 bis 1974. Die italienische Institution selbst überlebte dagegen kaum ihren Gründungsakt. Ich werde mich darauf beschränken, von diesen zwei Jahrzehnten zu sprechen. Und dies, obwohl es über die bald drei Jahrzehnte nach dem Scheitern von Lacans Experiment ebensoviel zu erzählen gäbe. Die gegenwärtige Situation der Lacanschen Psychoanalyse in Italien, oder vielleicht sollte man besser sagen: die gegenwärtige Politik der Lacanschen Psychoanalyse in Italien, präsentiert sich so unübersichtlich, wie wir das vom Land der tausend Parteien und der permanenten Regierungswechsel gewohnt sind. Dies wiederum hängt wohl damit zusammen, daß die Politik in Italien recht eigentlich eine Religion ist. Dem nordländischen Auge präsentiert sie sich ganz anders als dem italienischen: nicht etwa als hermeneutische Vielfalt der Interpretationen, sondern als Kampf um die Wahrheit. So gesehen wird es in Italien stets einen Papst oder einen Cavaliere Berlusconi, aber nie eine italienische Psychoanalyse geben. Das war es, was Lacan 1953, zu Beginn seines Abenteuers, noch nicht erkannte, was er aber, mehr als 20 Jahre danach, nicht mehr zu verbergen vermochte, auch nicht vor sich selbst, als er einem italienischen Journalisten durch die Blume zu verstehen gab, daß die Religion über die Psychoanalyse gesiegt habe. Wie dem auch sei, ich beschränke mich in meinem Referat explizit auf die Jahre zwischen 1953 und 1974. Ich habe es in zwei Teile eingeteilt. Der erste Teil ist philologisch. Ich habe alle verfügbaren Vorträge herangezogen, die Lacan in Italien hielt, und werde versuchen, sie miteinander in Beziehung zu setzen. Lacans Experiment ging in der Tat eine rege Reflexion über die psychoanalytische Institution voraus. 57

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Der zweite – kürzere – Teil ist mehr philosophisch. In ihm möchte ich anhand von drei Büchern dreier wichtiger Persönlichkeiten die italienische Lacan-Rezeption vom Ende der 1960er bis zum Beginn der 80er Jahre verfolgen. Es handelt sich um Texte von Umberto Eco, Franco Rella und Pier Aldo Rovatti.

Lacan in Italien 1953–1974: Klinische Rezeption von Lacans Rückkehr zu Freud Italien war für Lacan ein Signifikant mit mindestens drei Signifikaten. In Italien verbrachte er oft die Ferien, Italien bedeutete für ihn Rom, die Ewige Stadt, und Italien war für ihn das Land eines einzigartigen Abenteuers, ein Land, das es zu erobern galt, das Land, in dem sich das Schicksal der Psychoanalyse entscheiden sollte. Rom selbst hatte für ihn zwei einander widersprechende Bedeutungen: die Ewige Stadt bedeutete für ihn Freud, der immer von ihr sprach, sie aber erst 1901, nach der Veröffentlichung der Traumdeutung, zu besuchen wagte. Rom bedeutete für Lacan also den Beginn der Psychoanalyse. Sein Gang nach Rom war eine Rückkehr zu Freud. Rom hatte für ihn aber auch den umgekehrten Sinn: die Niederlage der Psychoanalyse, der Sieg der Religion über die Psychoanalyse. 1974 gab Lacan in einer Pressekonferenz im Centre culturel français in Rom, wo der Siebte Kongreß der École freudienne de Paris, sein letzter offizieller Besuch in Italien, abgehalten wurde, auf die Frage eines Journalisten, welches denn die »wahre Religion« sei, eine klare Antwort: »Si la religion triomphe, ce sera le signe que la psychanalyse a échoué.«9 Italien war für Lacan aber auch ein Abenteuer, und zwar ein Abenteuer im eigentlichen Sinne des Wortes: eine ebenso spannende wie ungewisse Angelegenheit, ein Wagnis, ein »Risiko«, wie er es selbst nannte. Im berühmten Brief aus dem Jahr 1974 an das italienische tripode (zu Deutsch »Dreifuß«: bestehend aus den Füßen von Giacomo Contri, Muriel Drazein und Armando Verdiglione), in dem er seine italienische Gruppe zur Gründung einer italienischen Schule aufforderte, schrieb Lacan: »Ce que le groupe italien gagnerait à me suivre, c’est un peu plus de sérieux que ce à quoi je parviens avec ma prudence. Il faut pour cela qu’il prenne un risque.«10 Lacans italienisches Abenteuer dauerte ziemlich genau 21 Jahre. Es

9. Vgl. Muriel Drazein (Hg.): »Lettres de l’École freudienne«, in: Bulletin intérieur de l’École freudienne de Paris 16 (1975), S. 7. 10. Lacans Brief ist abgedruckt in: Giacomo Contri (Hg.), Lacan in Italia – Lacan en Italie, Milano 1978, S. 160. 58

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DAS SCHEITERN IST GESCHEITERT

begann 1953 mit der berühmten Rede von Rom und fand sein Ende mit dem eben erwähnten Kongreß der École freudienne, ebenfalls in Rom. Sein Projekt, im Land der Ewigen Stadt eine Schule zu gründen, war definitiv gescheitert. Von diesem Scheitern möchte ich im ersten Teil meines Vortrags sprechen. In Rom war er gewiß, auf jene »stillschweigende Nachsicht« rechnen zu können – wie er in seinem Vorwort zur Rede von Rom schrieb –, die ihm in Paris verwehrt blieb, als er sich am 16. Juni 1953 gezwungen sah, aus der Société psychanalytique de Paris (SPP) auszutreten. Seine erste Begegnung mit Italien hat gleichsam symptomatischen Charakter. Von Frankreich vertrieben, zog er gen Süden, um das zu verwirklichen, was er in seiner Heimat vorerst nicht verwirklichen konnte, nämlich in »seiner Disziplin die Fundamente [zu erneuern], die in der Sprache liegen.«11 Dieses Bewußtsein, etwas Neues gebracht zu haben – nicht um der Neuigkeit Willen, sondern um das Alte zu bewahren –, dieses Bewußtsein klingt auch 1974 noch nach, als er in der besagten Pressekonferenz auf seinen ersten römischen Aufenthalt zurückblickt: »J’ai pris mes positions de la psychanalyse, c’était en 1953, très exactement. Il y a eu un premier congrès en octobre à Rome. Je crois qu’on a pensé pour moi à quelque chose comme un anniversaire: ce n’est pas peu, vingt-et-un ans; c’est les vingt-et-uns ans pendant lesquels j’ai enseigné d’une facon qui a fait tranchant. C’est peut-etre donc ce à quoi on a pensé. D’un autre côté, je n’avais, moi, aucune raison d’y faire objection, d’autant que Rome, malgré tout, c’est un lieu qui conserve une grande portée, spécialement pour la psychanalyse.«12 Italien war für Lacan eine Art Utopia. Obwohl von ihm kaum Bemerkungen zu Italien überliefert sind, strahlen die Vorträge, die er zwischen 1953 und 1974 in Italien hielt, zumeist einen eigentümlichen Geist der Hoffnung aus. Es mochten zwar stets handfeste Gründe sein, die ihn nach Italien führten: 1967, ein Jahr nach dem Erscheinen der Écrits, unternahm er seine erste Vortragsreise, die ihn nach Neapel, Rom, Mailand und Pisa führte, um die Werbetrommel zu rühren; dasselbe gilt für seine Italien-Aufenthalte im Jahre 1972, die auf die Publikation einer Teilübersetzung der Écrits folgte, und für die Vorträge, die er 1974 nach der kompletten Übersetzung durch Giacomo Contri hielt. Dennoch: Es fällt auf, daß die meisten Texte um die Problematik der Institution kreisen. Die Frage nach der richtigen Institution und der richtigen Praxis, die die Entdeckung Freuds – die Entdeckung des Unbewußten – nicht

11. Jacques Lacan: »Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse«, in: ders., Schriften I, Olten / Freiburg i.Br. 1973, S. 74. 12. Vgl. M. Drazein (Hg.): »Lettres«, S. 7. 59

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wieder zum Verschwinden bringt, hat ihn in Italien immer besonders beschäftigt. Das war schon in seiner Rede von Rom so. Er spricht dort von der Psychoanalyse als einer Disziplin, »die nur dadurch überleben kann, daß sie sich auf dem Niveau unverkürzter und ungetrübter Erfahrung hält.«13 Um diese Erfahrung war es ihm zu tun. Um sie zu bewahren, sah er von Anfang an kein anderes Mittel als die theoretische Neuerung. Darin besteht für Lacan das Wesen der psychoanalytischen Erfahrung, wie sie von Freud begründet wurde: Die Psychoanalyse vermag sich nur dann treu zu bleiben, wenn sie sich immer wieder verwandelt. Freuds theoretische Entwicklung, die sich über 40 Jahre hin immer wieder erneuerte, war für Lacan auch in dieser Hinsicht bestimmend. 1967 hielt er in Neapel einen Vortrag, in dem er über die Entwicklung der Psychoanalyse seit 1953, dem Jahr seiner Erneuerung durch die Linguistik, laut nachdenkt: »Qu’est-ce que l’inconscient? La chose n’a pas encore été comprise.«14 Dies wird auch 1974 noch so sein, als er sich entschließt, in Italien eine Schule zu gründen, eine Schule, die nicht vergessen soll, was das Unbewußte ist. Im unverrückbaren Glauben an eine solche Schule schien er freilich vergessen zu haben, was er 1967 in der Proposition vom 9. Oktober geschrieben hatte: »Mais il y a un réel en jeu dans la formation même du psychanalyste. Nous tenons que les sociétés existantes se fondent sur ce réel. […] Le fait n’est pas moins patent – et pour nous concevable – que ce réel provoque sa propre méconnaissance, voire produise sa négation systématique.«15 Lacan scheint bei sich selbst zu verkennen, was er bei anderen Schulen sehr wohl erkannte: Jede Schule verkennt ihren eigenen Gründungsakt. Sein Irrtum bestand wohl darin, an der Möglichkeit einer Schule festzuhalten, die ihren Gründungsakt nicht verkennt. Die Zauberformel dafür war die passe. Genau darin bestand sein Projekt, das er in Italien zu verwirklichen hoffte: eine gänzlich auf die passe (s. u.) gegründete Schule. Was in Frankreich zum Scheitern verurteilt war, sollte in Italien gelingen. Daß Lacan seinen Blick nach Italien richtete, hat deshalb jenseits römischer und Freudscher Mythen auch noch einen anderen – höchst konkreten – Grund. Italien war psychoanalytisches Neuland. Die Psychoanalyse kam hier erst nach dem 1. Weltkrieg in Triest zur Welt: Die Geburt läßt sich auf 1925 datieren, als Edoardo Weiss, der Analytiker Italo Svevos, zum erstenmal auf einem Psychiatrie-Kongreß offiziell

13. J. Lacan: »Funktion und Feld des Sprechens«, S. 74. 14. Jacques Lacan: »La méprise du sujet supposé savoir«, in: Scilicet 1 (1968), S. 31. 15. Jacques Lacan: »Proposition du 9 octobre 1967 sur le psychanalyste de l’École«, in: Scilicet 1 (1968), S. 15 f. 60

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DAS SCHEITERN IST GESCHEITERT

einen Vortrag über die Psychoanalyse hielt. Der Psychoanalyse gelang es lange nicht, in Italien Fuß zu fassen. Der Idealismus à la Gentile und Croce, die dominante Kulturphilosophie Italiens, die beide Weltkriege überlebte, betrachtete die Psychoanalyse stets als eine Pseudowissenschaft. Sie warf ihr vor, die Philosophie auf eine seltsame psychologische Mythologie zu reduzieren. Der Katholizismus war ihr ebenfalls alles andere als wohlgesonnen, vom Faschismus ganz zu schweigen. Die Società italiana di Psicoanalisi (SIP) zählte 1945, nach dem zweiten Weltkrieg, bloß sechs Mitglieder. Aber auch später hatte es die Psychoanalyse schwer: Der Marxismus, der sich nach 1945 als Gegenbewegung zum konservativen Idealismus etablierte, betrachtete sie – zumindest bis 1968 – als bourgeoise Ideologie, die es zu bekämpfen galt. So erstaunt es kaum, daß die SIP von der International Psycho-analytic Association (IPA) erst 1969 anerkannt wurde. Italien war für Lacan willkommenes Neuland, das er, wo nicht erobern, so doch entdecken zu können glaubte. Abgesehen von einem kurzen Zwischenhalt 1964, als er an einem vom römischen Institut für Philosophie organisierten Kolloquium über Kasuistik teilnahm – der Text ist in den Écrits (in den Schriften leider nicht) unter dem Titel Du Trieb de Freud et du désir du psychanalyste abgedruckt –, abgesehen von diesem kurzen Zwischenhalt kehrte er erst 1967 nach Italien zurück. Es sind drei Vortragsmanuskripte erhalten, die in der ersten Nummer von Scilicet abgedruckt sind: La méprise du sujet supposé savoir, gehalten in Neapel am 14. Dezember, De Rome 53 à Rome 67: La psychanalyse. Raison d’un échec, gehalten am 15. Dezember in Rom, und De la psychanalyse dans ses rapports avec la réalité, gehalten am 18. Dezember in Mailand.

Der Brief erreicht immer seinen Bestimmungsort Wie bereits erwähnt, beginnt Lacans erster Vortrag mit der Gretchenfrage: Was ist das Unbewußte? Im Anschluß daran führt er in bekannter Manier aus, wie alle Versuche nach Freud, sich des Unbewußten zu vergewissern, schließlich dahin führten, es zu vergessen. Die Psychoanalyse als Widerstand gegen die Psychoanalyse, oder besser: die Psychoanalyse als Widerstand gegen Freuds Entdeckung. Seine Rückkehr zu Freud, so bemerkt er in seinem zweiten Vortrag mit dem bezeichnenden Titel Raison d’un échec, sei 1953 nicht begriffen worden. Lacan denkt hier gleichsam öffentlich über das Scheitern seines Versuchs nach, die psychoanalytische Lehre zu erneuern, um die psychoanalytische Erfahrung zu bewahren. Der ganze Vortrag dreht sich um das Wort échec, um das Scheitern also. In der Psychoanalyse ist jedoch Scheitern nicht gleich Scheitern:

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»Encore de l’acte psychanalytique faut-il dire qu’à être de sa révélation originelle, l’acte qui ne réussit jamais si bien que d’être manqué, cette définition n’implique pas […] la réciprocité, notion si chère à la divagation psychologique.«16 Wenn das Scheitern auch nicht mit dem Gelingen zusammenfällt, so ist es doch die Voraussetzung allen Gelingens. Genau deshalb – und ein weiteres Mal vergleicht er sich mit Freud – sei es ihm trotz, oder eben: wegen seiner Niederlage gelungen, das Interesse an der psychoanalytischen Erfahrung wachzuhalten: »Je joue donc la règle du jeu, comme fit Freud, et n’ai pas à m’étonner de l’échec de mes efforts pour dénouer l’arrêt de la pensée psychanalytique.«17 Wenn er bisher auch gescheitert ist – so scheint hier Lacan zu suggerieren –, so ist dies alles andere als eine endgültige Niederlage, sondern vielmehr die notwendige Bedingung eines zukünftigen Erfolges. Alles hängt davon ab, in der richtigen Weise zu scheitern. Darin besteht im Grunde die Tragik seiner italienischen Erfahrung: Sein Aufruf zum Scheitern wurde nicht erhört. Ebenso wie 1953 bleiben auch Lacans Versuche von 1967 ohne Gehör. Er wird von den Italienern kaum bemerkt. Erst 1972, als er sich nach dem Erscheinen einer Teilübersetzung seiner Écrits wieder nach Italien begibt, ist Lacan erfolgreicher. Es beginnen sich kleine Gruppen zu bilden. Vor zahlreich erschienenem Publikum hält er am 12. Mai 1972 in Mailand einen Vortrag mit dem Titel Du discours psychanalytique. Der Vortrag ist ungewohnt verständlich, Lacan spricht über die Écrits, über seine Lehrtätigkeit, über Freud und die Psychoanalyse im allgemeinen. Wiederum wartet er mit einer Neuerung auf: er spricht – meines Wissens zum erstenmal – vom Diskurs des Kapitalisten.18 1973 wird Lacan von Giacomo Contri und der in der Zwischenzeit von diesem gegründeten Scuola Freudiana wieder nach Mailand eingeladen. Er unterbricht seinen Winterurlaub, um der Einladung nachzukommen, hält am 3. und 4. Februar dort einen Vortrag mit dem Titel La psychanalyse dans sa référence au rapport sexuel und stellt sich

16. J. Lacan, »La méprise du sujet«, S. 41. 17. Ebd., S. 50. 18. Massimo Recalcati hat sich eingehend mit diesem Diskurs befaßt. Die Logik des Diskurses des Kapitalisten »gründet sich auf die Illusion, daß es möglich ist, das Genießen ohne Verlust zirkulieren zu lassen. Das Objekt (a) scheint weniger als Beschränkung des Verlustes an Genießen (dies ist die Funktion des Supplements, die ihm Lacan als plus-de-jouir, als Mehr-Genießen zuschreibt), vielmehr als seine a-subjektive Vergegenwärtigung zu agieren. Das heißt also, daß es keine Grenze des Genießens gibt, sondern allein seine Zirkulation in einer Ökonomie, welche die Unmöglichkeit des Realen nicht kennt. Eine Ökonomie, wo präzise alles möglich ist.« Vgl. Massimo Recalcati: Der Stein des Anstoßes, Wien 2000, S. 88 f. 62

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anschließend geduldig den Fragen der Scuola Freudiana, die ihm im voraus in schriftlicher Form präsentiert worden waren.19 1973 entsteht in Mailand unter der Leitung von Armando Verdiglione eine andere Gruppe, die sich den Namen Semiotica e psicoanalisi gibt und in den 1970er Jahren zahlreiche interdisziplinäre Kongresse mit dem Schwerpunkt Psychoanalyse abhält. Lacan selbst nimmt daran nie teil. Ebenfalls 1973 bildet sich in Rom unter der Leitung von Muriel Drazein La cosa freudiana. Diese drei Analytiker – Giacomo Contri, AP, analyste praticien, von Beruf Arzt, Muriel Drazein, Literaturwissenschaftlerin und Ärztin, AME, analyste membre de l’École, und Armando Verdiglione, Philosophieprofessor an einem Gymnasium in Mailand – bilden das italienische tripode, an das Lacans berühmter Brief von Ende April 1974 gerichtet sein wird.20 Im Jahr 1974, nach der Publikation der kompletten Übersetzung der Écrits, beginnen sich die Ereignisse zu überstürzen. Am 22. März fährt Lacan auf Einladung von Drazein einmal mehr nach Rom, wo er in der Clinica delle malattie nervose e mentali zum Thema La logique de l’amour spricht. Am 30. März geht es weiter nach Mailand, wo er die Scuola Freudiana trifft und ex tempore einen Vortrag hält, zu dessen Beginn er an die Italiener einige sehr konkrete Worte richtet, in denen ein lange gehegter Wunsch zum erstenmal klar zum Ausdruck kommt: »Je suis ici parce que ce que j’attends c’est que quelque chose se produise en Italie.«21 Es wird sich etwas produzieren, wenn auch bestimmt weniger, als Lacan sich gewünscht haben mag. Irgendwann Ende April, die Zeilen sind nicht näher datiert, trifft in Italien ein Brief ein, auf dem sich zwar keine Signatur von Lacan findet, über dessen Autorschaft aber kein Zweifel besteht. Die ersten Zeilen lauten: »Tel qu’il se présente, le groupe italien a ça pour ça qu’il est tripode. Ca peut suffire à faire qu’on s’assoie dessus. Pour faire le siège du discours psychanalytique, il est temps de le mettre a l’essai: l’usage tranchera de son équilibre.«22 Lacan fordert das tripode – also Contri, Drazein und Verdiglione – auf, als passeurs zu fungieren und zusammen eine Schule mit dem Namen

19. Alle Vorträge sind abgedruckt in dem mittlerweile vergriffenen Bändchen Lacan in Italien – Lacan en Italie, das 1978 von Giacomo Contri herausgegeben wurde. 20. Was die genaue Charakterisierung der drei italienischen Protagonisten angeht, erlaube ich mir, auf den Aufsatz »Zur Lacan-Rezeption in Italien« von Jutta Prasse zu verweisen (in: Lacan lesen. Ein Symposion [= Der Wunderblock. Zeitschrift für Psychoanalyse, Sondernummer 1], Berlin 1978, S. 83–90). 21. G. Contri (Hg.): Lacan in Italia, S. 104 f. 22. G. Contri (Hg.): Lacan in Italia, S. 154. 63

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La cosa freudiana zu gründen. Diese Schule wird freilich das Licht der Welt nie erblicken. Alle drei ziehen es vor, ihre eigenen Schulen zu gründen. Aber gehen wir der Reihe nach vor. Worum geht es in Lacans Brief? Der Brief selbst ist eine neue Proposition, die sich in Ton und Ausdruck stark an diejenige vom 9. Oktober 1967 anlehnt – mit einem kleinen, aber wichtigen Unterschied: Die italienische Schule sollte einzig und allein auf die passe gegründet werden. Die Titel des AME, analyste membre de l’École, und des ME, membre de l’École, sollten verschwinden; es sollte nur mehr den AE, analyste de l’École, geben.23 »Le groupe italien, s’il veut m’entendre, s’en tiendra à nommer ceux qui postuleront leur entrée sur le principe de la passe, prenant le risque qu’il n’y en ait pas.«24 Lacans Brief wurde zwar gelesen, aber – einmal mehr – nicht erhört. Niemand war bereit, das Risiko, von dem er hier spricht, auf sich zu nehmen und in der richtigen Weise zu scheitern. Vergebens fordert Lacan das italienische tripode dazu auf, sich auf eine neue Erfahrung einzulassen, auf das Abenteuer der passe, vergeblich fordert er es auf, um alles oder nichts zu spielen. Dies – so möchte man im Rückblick fast meinen – ist das Schicksal, das Lacan in Italien 21 Jahre lang beschieden war: gelesen und gehört, aber nicht erhört zu werden. Dem könnte man immerhin entgegenhalten: Daß der Brief zwar gelesen, wenn auch nicht erhört wurde, heißt noch lange nicht, daß der Brief nicht seinen Bestimmungsort erreichte. Dieser Bestimmungsort war freilich nicht Italien, sondern Paris, nicht das tripode, sondern Lacan selbst. Auch wenn ich hier nicht näher darauf eingehen möchte, sei es mir erlaubt, eine Hypothese zu wagen: daß nämlich das Scheitern des italienischen Abenteuers von Anfang an Lacans Erfindung der passe eingeschrieben war. Lacan schien das gewußt zu haben, auch wenn er davon nichts wissen wollte: Sein Wissen liegt in seiner Polemik gegen die Verschulung der Psychoanalyse offen zutage. Es genügt, seine klaren Analysen zu den Freudschen und nachfreudschen Schulen auf seine eigene zu übertragen.

23. Gemäß den im Januar 1969 von der Generalversammlung der École freudienne angenommenen Principes concernant l’accession au titre de psychanalyste dans l’École freudienne de Paris verleiht die Pariser Freud-Schule »den Titel des Psychoanalytikers denjenigen ihrer Mitglieder, deren Qualifikation von der Jury d’agrément oder von der Jury d’acceuil anerkannt worden ist.« Die Jury d’agrément vergibt den Titel analyste de l’École (AE), die Jury d’acceuil den Titel analyste membre de l’École (AME). Der Titel AE zeichnet innerhalb der Schule diejenigen aus, die ausgehend von ihrer persönlichen Erfahrung an der von der Erfahrung der Schule als Institution nicht zu trennenden Ausarbeitung der Lehre beteiligt sind, während mit dem Titel AME nach außen hin eine ausreichende Ausbildung bzw. effektiv psychoanalytische Berufstätigkeit des Mitglieds garantiert wird. 24. G. Contri (Hg.): Lacan in Italia, S. 154. 64

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Lacans Projekt in Italien scheiterte also endgültig. Das letzte Mal weilte er vom 31. Oktober bis zum 3. November 1974 in Italien, anläßlich des Siebten Kongresses der École freudienne, der in Rom stattfand. Daß Lacans Projekt scheiterte, hatte weniger mit Heroismus – den sich Lacan gewünscht hatte – als mit Kleinlichkeit und politischem Krämergeist zu tun. Im Italienischen kann man sich an dieser Stelle mit einem Wortspiel behelfen: Das tripode entpuppte sich als tripodio, der »Dreifuß« verwandelte sich in »dreifachen Haß«. Die von Lacan auserkorenen Schüler begannen schon bald um die Position des »Auserwählten« zu buhlen und zu kämpfen. Noch bevor La cosa freudiana das Licht der Welt erblickte, war sie gestorben. Contri, Drazein und Verdiglione gründeten ihre eigenen Schulen und begannen sich gegenseitig zu befehden. Antonello Sciacchitano hat mir einmal gesagt, das Problem des italienischen Lacanismus habe schon immer darin bestanden, daß es viele kleine Lacans, aber keine großen Schüler Lacans gegeben habe.

Lacan in Italien 1968–1980: Philosophische Rezeption Was die Rezeption des Lacanschen Denkens in einem nicht-klinischen Umfeld anbelangt, hält Italien zwei Überraschungen bereit. Erstens: Die nicht-klinische Rezeption ging der klinischen voraus. Und zweitens: Der erste, der sich in Italien mit Lacan beschäftigte, war niemand anderer als Umberto Eco. Dies mag erstaunen, hat Eco später doch den Namen Lacans – von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen – stets gemieden. Wie auch immer, Lacan wurde in Italien eigentlich erst nach 1968, in der Folge des Freudo-Marxismus, richtig wahrgenommen. Michel Davids in jenen Jahren erschienene Studie zur Lage der Psychoanalyse in Italien – der Titel lautet: La psicoanalisi nella cultura italiana – erwähnt Lacan auf 600 Seiten nur viermal, und dies stets in Fußnoten.25 Wo er ihn einmal mit einem ganzen Satz würdigt, da rückt er ihn in die Nähe eines psychoanalytischen Marxismus à la Althusser. In diesem Umfeld wurde Lacan auch von Franco Rella rezipiert, auf den ich noch zu sprechen komme. Pier Aldo Rovatti hingegen hat damit nichts im Sinn. Seine Lacan-Lektüre ist wohl die einzige, die – abgesehen vom dokumentarischen Wert – auch heute noch wert ist gelesen zu werden.

Umberto Eco: 1968 Wie wir gesehen haben, begann die klinische Rezeption nach 1972, im engeren Sinne mit den Gruppen um Drazein und Contri, im weiteren Sinne mit den interdisziplinären Kongressen, die Verdiglione in den

25. Michel David: La psicoanalisi nella cultura italiana, Torino 1970. 65

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1970er Jahren in Mailand veranstaltete. Umberto Eco kam ihnen allen zuvor. La struttura assente erschien 196826, die Écrits waren eben erst erschienen. Ecos Buch war ebenso als Grundlagenarbeit zur Semiotik wie als Polemik gegen den Strukturalismus konzipiert. Es existiert zwar unter dem Titel Einführung in die Semiotik so etwas wie eine deutsche Übersetzung.27 Bei der deutschen Bearbeitung haben sich die Akzente jedoch entscheidend verlagert: Nicht mehr die Widerlegung des »ontologischen« Strukturalismus – zu dem Eco auch Lacan zählte – steht im Vordergrund, vielmehr geht es um die Bestimmung der Grenzen der Semiotik überhaupt. Dies nur am Rande. Von den 400 Seiten waren ursprünglich immerhin etwa fünfzig Lacan gewidmet. Eco selbst nennt sein Buch ein »Pamphlet«. Die darin vertretene Position ist heute sicher überholt. Ich will deshalb auf seine Polemik nur ganz kurz eingehen. Sie richtet sich gegen jenen Strukturalismus – er nennt ihn »ontologisch« –, der sich selbst als Philosophie mißversteht. Sein Begründer war in Ecos Augen Claude Lévi-Strauss, sein Vollender Jacques Lacan. Dieser Strukturalismus beruht nach Eco auf einem einfachen philosophischen Mißverständnis: Der ontologische Strukturalismus verwechselt Denken und Realität, er hypostasiert eine bloße Methode – die strukturalistische – zu einer Ontologie, zu den objektiven Gesetzen der Realität. Bei Lévi-Strauss waren das – immer frei nach Eco – die »Gesetze des Geistes«, bei Lacan der »große Andere«. »Der große Andere«, das bedeutet für Eco etwa folgendes: Zuerst wird vom Denken auf die Realität geschlossen, und dann von der Realität auf die Richtigkeit des Denkens. Eco wirft Lacan also vor, wie ein Zauberer zu verfahren, der am Ende immer wieder dasjenige Kaninchen aus dem Hut hervorzaubert, das er zuvor darin versteckt hat. Ich zitiere eine kurze Passage aus Ecos Buch, die ebenso witzig wie symptomatisch ist: »Kurz und gut, jede Untersuchung erweist sich als wahr und fruchtbar in dem Maße, in dem sie uns sagen wird, was wir schon wußten. Es wird im Lesen des Ödipus-Mythos keine schönere Entdeckung geben als die, daß Ödipus schon am Ödipus-Komplex litt: denn wenn man etwas weiteres entdecken würde, so wäre dieses weitere ein Mehr, eine Art von Fleisch, das noch nicht genügend abgenagt wurde und den Knochen der ersten Bestimmung bedeckt.«28 Interessanter als die Polemik gegen den Strukturalismus ist freilich die Editionsgeschichte des Buches, auch und gerade in Hinsicht auf unser

26. Umberto Eco: La struttura assente: La ricerca semiotica e il metodo strutturale, Milano 1968. 27. Umberto Eco: Einführung in die Semiotik, übers. v. Jürgen Trabant, München 1972. 28. U. Eco: La struttura assente, S. 331. 66

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Thema. Hier nur einige Stichworte: François Wahl weigerte sich, nach L’opera aperta auch La struttura assente bei Seuil zu publizieren. Eco gelang es, anderswo unterzukommen: bei Mercure de France. Eine Polemik brach los – wie Eco bemerkt, freilich nur von seiten der Lacanianer, nicht von Lacan selbst. Dieser versuchte Eco 1974 in Mailand gar zu verführen. Man höre und staune – oder auch nicht: Lacan verlängerte seinen Mailandaufenthalt, um Eco zu schmeicheln. Eco biß an – wie so mancher vor ihm auch –, und das war das erste und letzte Mal, daß er den Verführungskünstler zu Gesicht bekam.29

Franco Rella: 1978 Franco Rellas Buch mit dem bezeichnenden Titel Il mito dell’Altro30, »Der Mythos des Anderen« – wobei er das »A« des »Anderen« entgegen der italienischen Rechtschreibung groß schreibt – ist 1978 erschienen, in jenen philosophisch – aber nicht nur philosophisch – hochexplosiven Jahren also, die ihren Namen von einem Buchtitel erhielten, und zwar vom Titel eines Sammelbandes, der 1979 von Aldo Gargani herausgegeben wurde und der erstmals deutlich aussprach, was damals in der Luft lag: La crisi della ragione, die Krise der Vernunft.31 Es war zudem eine politisch hochexplosive Zeit, in welcher der Marxismus in einer Krise steckte und die Terroristengruppe Brigate Rosse, die italienische Version der RAF, ihr Unwesen trieb. Es waren auch jene Jahre, in denen die italienische – meist marxistisch dominierte – Philosophenzunft einen Blick über die Landesgrenzen hinaus nach Deutschland und Frankreich wagte. In Rellas Buch ist diese politische Dimension in jeder Zeile präsent, auch und gerade da, wo er die Politik auszublenden scheint. Wenn er von der radikalen Negation der Vernunft spricht, dann schwingt unterschwellig immer auch die totale Negation der Politik, der Terrorismus der Brigate Rosse, mit, und wenn er von der Abwesenheit einer politischen Dimension im Denken Lacans und des linken Lacanismus spricht, dann ist immer auch die Krise des Marxismus gemeint. Der Politik der totalen Negation oder eben: dieser totalen Negation der Politik – so im Grunde Rellas These – entspricht auf theoretischer Ebene ein Denken, das die klassische Vernunft radikal verneint. Ein Denken also, das sich zwar als irrational oder anti-rational gebärdet – insofern es sich gegen die klassische Vernunft auflehnt –, zugleich

29. Vgl. hierzu Ecos eigenen, im übrigen sehr vergnüglichen Bericht mit dem Titel »Ricordo di un seduttore« in: La psicoanalisi. Studi internazionali del Campo Freudiano 10 (1991), S. 42–46. 30. Franco Rella: Il mito dell’Altro, Milano 1978. 31. Aldo Gargani (Hg.): La crisi della ragione, Milano 1979. 67

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aber ein Denken, das – und dies ist für Rella der springende Punkt – alles andere als irrational ist, das vielmehr, unter dem Deckmantel des Irrationalismus, einen neuen Rationalismus heraufbeschwört. Und der Vordenker dieses neuen Hyperrationalismus soll niemand anderer sein als Jacques Lacan. Rellas Buch ist also einer einzigen Aufgabe gewidmet: Es soll zeigen, wie und wo in einem neuen Pseudo-Irrationalismus die Vernunft selbst am Werke ist. In Rellas Augen entwirft Lacan eine Mythologie des Anderen, die nicht über das Schema einer einfachen Opposition von Vernunft und Nicht-Vernunft, von Eigenem und Anderem hinauszugelangen vermag. Was jedoch seiner Meinung nach die »Krise der Vernunft« lehrt, geht über die bloße Parteinahme für die Unvernunft, den Wahnsinn, das Andere und das Unbewußte hinaus: die Grenze zwischen Eigenem und Anderem, zwischen Rationalismus und Irrationalismus selbst wird brüchig. Oder einfacher gesagt: Die Unterscheidung Vernunft / Unvernunft ist selbst vernünftig, wobei die »Krise der Vernunft« – nach Rella – an die Grundfesten eben dieser Unterscheidung rührt. Rella situiert Lacans gesamtes Denken innerhalb dieser Unterscheidung; er deutet es als Versuch, die Unterscheidung zwischen Vernunft und Unvernunft auch und gerade in einer Zeit, in der sie nicht mehr aufrechtzuerhalten ist, mit unglaublichem theoretischem Aufwand dennoch aufrechtzuerhalten. Aus seiner Perspektive stellt sich Lacans Psychoanalyse zuletzt als »ein auf den Kopf gestelltes Spiegelbild eines einheitlichen und ganzheitlichen Modells der Vernunft« dar.32 Diese starke Vernunft, diese Überzeichnung des Anderen führt nach Rella zuletzt zur Ent-politisierung der Psychoanalyse und zur Entmächtigung des Subjekts. Der Andere spricht, das Subjekt hat die Aufgabe, den Anderen sprechen zu lassen, und der Analytiker, der »maître de la vérité«, bestimmt, was das Subjekt gesagt haben wird – so beschreibt Rella die analytische Grundkonstellation der Lacanschen Psychoanalyse.

Pier Aldo Rovatti: 1980 Bei Pier Aldo Rovatti liegen die Dinge ein wenig anders. Er hat sich nur vereinzelt zu Lacan geäußert, mehr in Neben- als in Hauptsätzen. Die unterschwellige Präsenz Lacans in seinen Texten dauert aber seit den 1970er Jahren ungebrochen an. Seit 1976, also seit dem Tod seines Lehrers Enzo Paci, einer Art italienischem Sartre, leitet er Aut-Aut, die Philosophie-Zeitschrift Nummer eins in Italien. 1980, noch zu Lebzeiten Lacans, wurde dem Maître eine ganze Nummer von Aut-Aut gewidmet. Der Titel lautete A partire da Lacan, also »Im Ausgang von Lacan«, eine

32. F. Rella: Il mito dell’Altro, S. 10 68

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Mega-Nummer mit Beiträgen von Autoren verschiedenster Couleur.33 Schon zwei Jahre nach der Publikation von Rellas Buch wird Lacan ganz anders gelesen: Wie Rovatti in seinem kurzen Vorwort festhält, geht es darum, Lacan vor dem Hintergrund einer neuen psychoanalytischen Vernunft, die mit der klassischen Ratio bricht, als Subjektdenker neu zu entdecken. Ich möchte mich deshalb hier auf Rovattis Text beschränken, einen sehr dichten Text von kaum mehr als zehn Seiten. Er trägt den Titel Per un uso di Lacan, »Für einen Gebrauch von Lacan«. Um welchen Gebrauch handelt es sich? Wozu wird Lacan hier gebraucht? Rovatti ist und bleibt Phänomenologe: Wie immer bei ihm dreht sich alles um das Subjekt. Gleichzeitig befaßt er sich in jenen Jahren auch mit der Frage nach neuen Formen des Wissens, die in der Folge von Garganis »Die Krise der Vernunft« aufgeworfen wurden. Im Zentrum seines Textes stehen deshalb zwei Begriffe: Subjekt und Wissen. Er stellt sich folgende Fragen: Was läßt sich wissen von einem Subjekt? Existiert ein Wissen vom Subjekt, ohne daß sich das Subjekt sogleich in ein Objekt verwandelt? »Was auf Anhieb gesagt werden muß, ist, daß Lacan – indem er sich sogleich auf der Seite des Subjekts situiert, oder besser: indem er zu zeigen sucht, daß dies die einzige Seite ist und daß die unterstellte Seite des Objekts bloß imaginär ist –, daß also Lacan wenigstens den Begriff eines [objektiven, R.S.] Wissens verschiebt.«34 Rovatti teilt zumindest zwei Grundüberzeugungen mit Lacan, oder besser: mit dem »früheren« bis »mittleren« Lacan. Erstens, daß sich das Subjekt auf kein Objekt reduzieren läßt und daß die subjektive Seite der objektiven vorzuziehen ist – das Subjekt ist gleichsam real, das Objekt bloß imaginär – bzw. daß die Objektivität von der Subjektivität aus gedacht werden muß und nicht umgekehrt. Und zweitens, daß das Subjekt bei Lacan nicht einfach »da« ist, sondern produziert wird, daß es sich aber zugleich auf kein Produkt reduzieren läßt, daß es, wie Rovatti mit Lacan sagt, stets »pulsiert«. Die Psychoanalyse ist der Versuch, ein Wissen – das eben kein bloßes Objekt-Wissen ist – zu erfinden – und in der Analyse, in der Übertragung immer wieder neu zu erfinden –, das dem Pulsieren des Subjekts Rechnung trägt. Für Rella führte dies zur Entmächtigung des Subjekts, zu einem Subjekt, das zur Passivität verdammt wird, dazu, den Anderen sprechen zu lassen. Ganz anders Rovatti. Er betont den gleichsam aktiven Part, den das Subjekt zu übernehmen hat, wenn es sich dem Anderen öffnen will. Für ihn ereignet

33. Aut-Aut 177–178 (1980); der Text wurde wieder abgedruckt in: Pier Aldo Rovatti, Trasformazioni del soggetto, Padova 1992, S. 85–96. 34. P. Rovatti: Trasformazioni, S. 87. 69

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sich in der Analyse – wenn sie denn gelingt und das Subjekt sich zu öffnen vermag – die Erfahrung der Subjektivität: »ein Sich-zum-Sprechen-Bringen, das das Subjekt ist«.35 Die Betonung liegt auf dem »sich« und dem »ist«. Das Subjekt verschwindet nicht, um dem Anderen Platz zu machen – wie bei Rella –, sondern es dehnt sich aus. »Weit davon entfernt, ein Mythos oder eine metaphysische Instanz zu sein«, tritt die Dimension des Anderen ins Spiel, um zu einem »Register« der Subjektivität als solcher zu werden. Dieser einzigartige Moment, in dem das Subjekt sich zum Sprechen bringt, ist unvorhersehbar, er kann von keinem Wissen antizipiert werden. Genau in diesem Sinne verschiebt die psychoanalytische Erfahrung den Begriff des traditionellen Wissens, das immer ein Objekt-Wissen ist, ein »sapere-padrone«, ein HerrenWissen, ein Wissen, das sein Objekt beherrscht. Die Psychoanalyse verläuft entlang der Grenze, die dieses Herren-Wissen von dem trennt, was Rovatti das »saper-fare« nennt, das »savoir-faire«, das MachenWissen, das Wissen-Wie. Darin erkennt er die andere Form des psychoanalytischen Wissens, kein Wissen-von, sondern ein Wissen-wie. Was Rella der Psychoanalyse zum Vorwurf macht – das Fehlen einer politisch-praktischen Dimension –, versucht Rovatti zu rehabilitieren. Lacans Theorie ist nach ihm kein psychoanalytischer Idealismus – wie Rella implizit unterstellt –, sondern das pure Gegenteil: eine Praxis, die erlaubt, ein Wissen zu konzipieren, das keine bloße Theorie mehr ist, und ein Subjekt, das alles andere als ein passives und manipulierbares Objekt ist. So kann Rovatti behaupten, daß »die ›Wahrheit‹ des Subjekts sich allein praktizieren läßt. Die einzige Art und Weise, sie nicht gänzlich zu verraten, besteht darin, sich von einem Herren-Wissen zu einem saper-fare, zu einem Wissen-wie zu verschieben.« Die Psychoanalyse – so im Grunde Rovattis These – bezeichnet den Übergang von einer bloßen Subjekttheorie zu einer Ethik der Subjektivität.

Literatur Contri, Giacomo (Hg.): Lacan in Italia – Lacan en Italie, Milano 1978. David, Michel: La psicoanalisi nella cultura italiana, Torino 1970. Drazein, Muriel (Hg.): »Lettres de l’École freudienne«, in: Bulletin intérieur de l’École freudienne de Paris 16 (1975). Eco, Umberto: La struttura assente: La ricerca semiotica e il metodo strutturale, Milano 1968. — Einführung in die Semiotik, übers. v. Jürgen Trabant, München 1972. — »Ricordo di un seduttore« in: La psicoanalisi. Studi internazionali del Campo Freudiano 10 (1991), S. 42–46.

35. Ebd., S. 90. 70

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Freud, Sigmund: Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904. Ungekürzte Ausgabe, hg. v. Jeffrey Moussaieff Masson, Frankfurt a. M. 1986. Gargani, Aldo (Hg.): La crisi della ragione, Milano 1978. Lacan, Jacques: Le Séminaire de Jacques Lacan. Texte établi par JacquesAlain Miller. Livre IV, La relation d’objet (1956–1957), Paris 1994. — Das Seminar von Jacques Lacan. Buch XI (1964), Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. v. Norbert Haas, Olten / Freiburg i.Br. 1978. — »Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse«, in: ders., Schriften I, Olten / Freiburg i.Br. 1973. — »Proposition du 9 octobre 1967 sur le psychanalyste de l’École«, in: Scilicet 1 (1968), S. 14–30. — »La méprise du sujet supposé savoir«, in: Scilicet 1 (1968), S. 31–41. Miller, Jacques-Alain: »Von einem anderen Lacan«, in: WO ES WAR 2 (1986), S. 61–70. Prasse, Jutta: »Zur Lacan-Rezeption in Italien«, in: Lacan lesen. Ein Symposion (= Der Wunderblock. Zeitschrift für Psychoanalyse, Sondernummer 1), Berlin 1978, S. 83–90. Recalcati, Massimo: Der Stein des Anstoßes, Wien 2000. Rella, Franco: Il mito dell’Altro, Milano 1978. Rovatti, Pier Aldo: Trasformazioni del soggetto, Padova 1992.

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ÜBERTRAGUNG – ÜBERSETZUNG – ÜBERLIEFERUNG ...

Übertragung – Übersetzung – Überlieferung der Psychoanalyse an der Universität Gent Filip Geerardyn

Übertragung Wenn ich mir die Frage stelle, auf welche Art und Weise Psychoanalyse heute an der Universiteit Gent vermittelt bzw. ›übersetzt‹ wird, dann führt mich das sofort zur Karriere und dem Streben eines Mannes, nämlich von Julien Quackelbeen; eine Karriere, die in den frühen 1970er Jahren mit seiner Rückkehr aus Afrika begann. Ich bin mir nicht sicher, ob er es akzeptieren würde, daß ich ihm eine zentrale Rolle in meinen Ausführungen zukommen lasse. Als Ikonoklast reinsten Wassers ist er nicht gerade ein Anhänger der Geschichte der ›Großen Männer‹. Es scheint mir jedoch unmöglich, der Geschichte gerecht zu werden, ohne Übertragungsfiguren einzubeziehen: die Übertragung der Psychoanalyse hat unvermeidlich mit solchen Figuren zu tun, und das Festmachen der auf dieser Konferenz gestellten Fragen am Verlauf der Karriere einer Übertragungsfigur erscheint mir darüber hinaus eine elegante Art, die Spezifik der psychoanalytischen Landschaft in Gent zu artikulieren. Selbstverständlich gab es schon vor den 1970er Jahren Vertreter der Psychoanalyse in Gent. Denken wir nur an Juliaan Varendonck (1879–1924), den ersten belgischen Psychoanalytiker, dessen Buch über The psychology of day-dreaming ein Vorwort von Freud bekam und durch dessen Tochter übersetzt wurde – sozusagen als eine ›Zulassungsprüfung‹ für die Zunft.1 Nicht zu vergessen auch Jacques De Busscher (1902–1966), der Genter Psychiater und Direktor des Hoger Instituut voor Opvoedkundige Wetenschappen.2 Beide waren Mitglied der

1. Juliaan Varendonck: The psychology of day-dreaming, London 1921. 2. Julien Quackelbeen: »Over de geschiedschrijving van de psychoanalyse in België, Naar aanleiding van een nummer over Prof. Dr. Jacques De Busscher«, in: Psychoanalytische Perspectieven, 36 (1999), S. 91–99. 73

25.09.01 --- Projekt: transcript.übertragung.übersetzung / Dokument: FAX ID 00f5298810078970|(S.

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FILIP GEERARDYN

Nederlandse Psychoanalytische Vereniging – die zur International Psychoanalytic Association gehörte; beide veröffentlichten auch vielfach, aber weder Varendonck noch De Busscher widmeten sich der Übertragung der Psychoanalyse an die jüngere Generation. Schließlich gab und gibt es Jacques Schotte, der noch immer in Gent als Psychoanalytiker tätig ist, der Jacques Lacan persönlich kannte, dessen Einfluß sich in institutioneller Hinsicht vor allem auf und um die Katholieke Universiteit Leuven und deren Schwesteruniversität, die Université Catholique de Louvain erstreckte. Als Quackelbeen Anfang der 1970er Jahre aus Afrika zurückkehrte, wo er Dekan an der Faculteit Opvoedkundige Wetenschappen an der Universität von Lumumbashi im früheren Zaïre gewesen war, machte er es sich zu seiner Aufgabe, innerhalb der neu gegründeten Faculteit Psychologie en Pedagogische Wetenschappen der Rijksuniversiteit Gent die Sektion Klinische Psychologie auszubauen. Konsequent entschied er sich für eine persönliche klinische Ausbildung, die ihn schon bald mit der Psychoanalyse in Berührung brachte. Er ging bei Jacques Schotte in die Analyse und wurde Mitglied der Belgische School voor Psychoanalyse, eine lacanianische Vereinigung, in der die meisten Mitglieder in Löwen / Louvain ausgebildet worden waren und die nur einige flämischsprechende Mitglieder hatte. Anfang der 1980er Jahre kam er mit Mitgliedern der École de la Cause freudienne in Kontakt, einer Schule, an der die Ausbildung auf dem Gebiet der Psychoanalyse zu diesem Zeitpunkt, kurz nach der Auflösung der École freudienne de Paris und dem Tod Lacans, lebendiger war. Als Folge davon kehrten er und einige andere der Belgische School voor Psychoanalyse den Rücken und schlossen sich der École de la Cause freudienne en Belgique an. Inzwischen hatte Quackelbeen an der Genter Universität neben dem Ausbau einer Reihe von psychoanalytischen Kurse innerhalb des normalen Lehrprogramms der Richtung klinische Psychologie mit einer postgraduellen Ausbildung begonnen, die von vielen Teilnehmern schon bald als eine ständige Ausbildung betrachtet wurde. Deren Schwerpunkt waren die sogenannten Mittwochabendtreffen, bei denen anfänglich vor allem belgische Mitglieder der École de la Cause freudienne sprachen. Die Theorie Lacans wurde hier gelehrt und deren klinische Anwendbarkeit veranschaulicht. Zur gleichen Zeit wurde das ›Kartell‹, d. h. die typische lacanianische Arbeitsgruppe als Instrument für das Studium und die Verbreitung von Lacans Theorie eingeführt. In der gleichen Weise wurde Anfang der 1980er Jahre eine informelle Gruppe um Quackelbeen gebildet, eine Gruppe, die einerseits eng mit der Genter Universität und anderseits mit der École verbunden war. Hier stoßen wir bereits auf zwei wichtige Aspekte der Übertragung der Psychoanalyse an der Universität Gent: 1. diese hat ganz ge74

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wiß sowohl mit der großen Übertragung auf Quackelbeen als Persönlichkeit als auch mit seinem starken Streben, eine Ausbildung von Klinikern zu schaffen, zu tun; ein Streben, das seit Beginn seiner Karriere vorhanden war; 2. die Wirkung dieser Übertragung läßt sich durch die Verwendung und das Schaffen von Instrumenten zur Unterstützung erklären.

Unterricht Das erste Instrument war die Universität. Das Lehren der Psychoanalyse sowohl innerhalb als auch außerhalb der Universität ist nie eine Selbstverständlichkeit; trotzdem bleibt die Universität ein geeignetes Instrument der Übertragung. Obwohl die Psychoanalyse, so wie sie in Gent Anfang der 1980er Jahre unter dem Einfluß der École vermittelt wurde, ziemlich dogmatisch war – vor allem im Hinblick auf die Zurückweisung der Psychotherapie, des akademischen Diskurses und insbesondere der akademischen Psychologie –, wurde sie von vielen Studenten als reizvolle und vollwertige Alternative und als eine fruchtbare Subversion des akademischen Diskurses erlebt. Zum Teil als Ergebnis dieses Erfolges gelang es Quackelbeen, bei der Neustrukturierung der Universiteit Gent eine Vakgroep voor Psychoanalyse en Raadplegingspsychologie anzusiedeln. Was die Übertragung der Psychoanalyse betrifft, so können wir feststellen, daß im Zeitraum vom Ende der 1970er Jahre bis heute Tausende Studenten in der Klinischen Psychologie, aber auch in der Philosophie, Pädagogik und in den Kunstwissenschaften mehr oder weniger mit dem Werk von Freud und Lacan vertraut gemacht wurden. Die Letzteren bilden tatsächlich die wichtigsten Referenzen in den Vorlesungen: ab dem 2. Jahr ihres akademischen Lehrprogramms lesen die Studenten Freuds Psychopathologie des Alltagslebens, Lacans Télévision, Freuds technische Schriften und seine Fallstudien über den Kleinen Hans, Dora, den Rattenmann, den Wolfsmann, Schreber, Lacans Seminar über die Psychosen usw. Charakteristisch für die Art des Unterrichts ist: 1. der kontinuierliche Bezug auf Freud und Lacan, d. h. die Tatsache, daß die Studenten angeregt werden, die ursprünglichen Texte zu studieren oder dies zumindest neben der Sekundärliteratur tun; 2. die erneute Einführung des Kartells als Instrument für die Subversion des akademischen Diskurses. Eine meiner Kolleginnen, Getrudis Van de Vijver, bezeichnet die Kartelle zu Recht als ›Bomben‹, die jede imaginäre Hierarchie hinsichtlich des Verhältnisses zum Wissen unterminieren. Die Präsenz der Psychoanalyse an der Universität hat selbstverständlich Auswirkungen auf sozialem und klinischem Gebiet: Etwa 15 Disputationen zu psychoanalytischen Themen fanden bis heute statt, was es ermöglichte, daß momentan fünf Dozenten Freud und Lacan an 75

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vier verschiedenen Universitäten und Hochschulen unterrichten. Die erwähnten Auswirkungen sind auf klinischem Gebiet noch wesentlich größer: Vor 25 Jahren war die Psychoanalyse in unseren Einrichtungen für Geisteskrankheiten und in psychiatrischen Kliniken fast überhaupt nicht vorhanden, heute hat sich diese Situation in Flandern dadurch stark verändert, daß es vielen unserer Studenten gelungen ist, den analytischen Diskurs auf die eine oder andere Art in verschiedenen Institutionen anzuwenden.

Evolution und Debatte Wie ich bereits andeutete, wurde dieser Unterricht anfangs stark durch die École de la Cause freudienne beeinflußt. Heute ist dies wesentlich weniger der Fall. Diese Entwicklung hat mit zwei Elementen zu tun: 1. mit dem, was ich eine bestimmte Wahl des akademischen Diskurses nenne; und 2. mit der Schaffung eines anderen Instrumentes, in diesem Falle der niederländischsprachigen Gezelschap voor Psychoanalyse en Psychotherapie. Die Ansiedlung einer Vakgroep voor Psychoanalyse und Raadplegingspsychologie konnte selbstverständlich nur auf die Weise stattfinden, wie derartige Dinge innerhalb einer großen Einrichtung wie einer Universität erfolgen: durch kontinuierlichen Kampf für den psychoanalytischen Diskurs. Das bedeutet jedoch nicht, daß der akademische Diskurs in Gent einfach über Bord geworfen wurde. Die Entscheidung, die getroffen wurde, wird vielleicht noch am deutlichsten in einem Ausspruch, den ich von Quackelbeen entlehne: »Die Psychoanalyse ist viel zu wichtig, als daß man sie den psychoanalytischen Schulen überlassen sollte« – und wir können dem hinzufügen: »[…] der Auseinandersetzung zwischen den psychoanalytischen Schulen überlassen sollte.« Um nur eine faßbare Auswirkung dieser Entscheidung anzuführen, verweise ich auf die relativ große Freiheit, die die Universität hinsichtlich der Konfrontation der Psychoanalyse mit anderen Disziplinen bietet bzw. hinsichtlich der Dialektik zwischen Vertretern verschiedener Orientierungen, im Gegensatz zu psychoanalytischen Schulen. So nahmen wir uns die Freiheit, anläßlich eines internationalen Kongresses über Freuds voranalytische Schriften (1995) ebensoviele Redner von der École de la Cause freudienne wie von der International Psycho-analytic Association einzuladen. Die Gründung einer psychoanalytischen Vereinigung war dann wieder etwas anderes. Aufgrund der Tatsache, daß nur wenige niederländischsprachige Mitglieder der informellen Gruppe um Quackelbeen den Weg zur französischsprachigen École de la Cause freudienne en Belgique fanden, wurde die Notwendigkeit der Schaffung eines eigenen Instrumentes deutlich. Dies geschah 1990, als die Gezelschap voor Psy76

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choanalyse en Psychotherapie gegründet wurde, und dies unabhängig von, aber in Loyalität und Abstimmung mit der École de la Cause freudienne, d. h. im Einverständnis mit Jacques-Alain Miller.3 Später, als 1991 die École Européenne de Psychoanalyse gegründet wurde, schloß sich die Gezelschap dieser als niederländischsprachige Studiengruppe an. Zur Zeit wird in unserer Vereinigung eine Debatte über die Statuten der Gezelschap geführt: während einige Mitglieder die Gezelschap fester in der École Européenne de Psychoanalyse verankern möchten, was das Aufgeben unserer relativen Unabhängigkeit bedeuten würde, protestieren andere gegen die Politik und den sozusagen militärischen Diskurs, der innerhalb der letzteren und innerhalb der – ebenfalls millerianischen Association Mondiale de Psychoanalyse geführt wird. Andere Diskussionsthemen sind das Verfahren der ›passe‹ und die kürzliche Erklärung von Miller bezüglich der sogenannten ›École-une‹. Es sieht in jedem Fall so aus, daß die Gezelschap vor der Wahl steht, sich entweder selbst aufzulösen oder sich von der École Européenne zu trennen. Es fällt mir schwer, das Ergebnis dieser Debatte vorauszusagen. Im Moment kann ich lediglich konstatieren, daß ich die Art, in der Lacan in der École Européenne und innerhalb der millerianischen Association Mondiale de Psychoanalyse gelesen und vermittelt wird, nicht verteidigen kann. So interessant das Seminar von Miller auch sein mag, bin ich doch nicht für diese Art, wie in seiner Schule nur eine mögliche Lesart von Lacan propagiert wird. In Gent gab es ein solches Propagieren – als Modalität der Übertragung – sowohl an der Universität als auch innerhalb der Gezelschap höchstens anfänglich, als der Einfluß der École de la Cause freudienne sehr groß war. Und wie wichtig Quackelbeen für uns in seiner Position als zentrale Übertragungsfigur auch ist, er zwingt niemals seine Lesart auf, und niemand gilt als Meister, obwohl es immer welche gibt, die diese zweifelhafte Ehre für sich beanspruchen.

Übersetzungen Zum Abschluß ein Wort über die Frage der Übertragung der Psychoanalyse durch Übersetzungen von Freud und Lacan. Was Freud betrifft, so gibt es eine solide niederländische Ausgabe, herausgegeben von der

3. Trotzdem wird dieser Akt von einigen Mitgliedern der ECF-B als Trennung gesehen, was keineswegs der Fall war. So störten sich manche auch daran, daß im Namen der Gesellschaft der Begriff ›Psychotherapie‹ auftaucht, etwas, mit dem sich echte Lacanianer nicht befassen, zumindest nicht bis zum Erscheinen von Millers Artikel dazu; vgl. Jacques-Alain Miller: »Psychothérapie et psychanalyse«, in: La Cause freudienne 22 (1992), S. 7–12. 77

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Uitgeverij Boom in den Niederlanden, die hinsichtlich der Auswahl und der Einteilung der Texte starke Ähnlichkeiten mit der deutschen Studienausgabe aufweist, mit Ausnahme dessen, daß kein Index vorhanden ist. In Gent werden von Zeit zu Zeit ergänzende Übersetzungen veröffentlicht – entweder als separate Bände oder in einer Rubrik der Zeitschrift Psychoanalytische Perspectieven, die von der Vakgroep voor Psychoanalyse en Raadplegingspsychologie herausgegeben wird.4 Was Lacan angeht, so wurden bis heute nur sehr wenige Texte ins Niederländische übersetzt. Soweit mir bekannt ist, sind das »Le mythe individuel du névrosé«, »Le stade du miroir« und Télévision, alle von Quakkelbeen übersetzt.5 Die Anstrengung, das Werk von Lacan systematisch zu erschließen, wurde in Gent nie unternommen – wegen Problemen bei der Herausgabe, die jeder kennt, der ein solches Vorhaben verfolgt, teilweise auch aufgrund der Tatsache, daß die meisten Flamen Französisch – als eine der drei Landessprachen – in ausreichendem Grad beherrschen, um das Studium seines Werkes beginnen zu können. Hierzu muß ich anmerken, daß wir bei der Übersetzung von Lacan vorläufig nicht auf die Unterstützung der Niederländer rechnen können, mit denen die Flamen doch ihre Muttersprache teilen. In den Niederlanden gibt es vorerst und gewiß unter den Psychoanalytikern und klinischen Psychologen nur ein eingeschränktes Interesse am Gedankengut Lacans.

4. Sigmund Freud: Ontwerp van een natuurwetenschappelijke psychologie (niederl. Übers.: Gertrudis Van de Vijver / Filip Geerardyn), Gent 1992; Sigmund Freud: »Afasie« (niederl. Übers.: Filip Geerardyn / Gertrudis Van de Vijver), in: Psychoanalytische Perspectieven 28 / 29 (1995), S. 178–184; Sigmund Freud: »Brief 52« (niederl. Übers.: Filip Geerardyn / Gertrudis Van de Vijver), in: Psychoanalytische Perspectieven 34 / 35 (1998), S. 173–184; Sigmund Freud: »Psychische behandeling« (niederl. Übers.: Filip Geerardyn / Gertrudis Van de Vijver), in: Psychoanalytische Perspectieven 39 (2000), S. 152–171; Sigmund Freud, »Bespreking van P.J. Möbius ›Die Migräne‹«, (niederl. Übers.: Huguette Raes / Filip Geerardyn), in: Psychoanalytische Perspectieven 40 (2000), S. 132–138. 5. Jacques Lacan: »De individuele mythe van de neuroticus of ›poëzie en waarheid‹ in de neurose« (niederl. Übers.: Julien Quackelbeen), in: Kultuurleven, maandblad voor kultuur en samenleving 1 (1982), S. 20–35; Jacques Lacan: »Het spiegelstadium als vormend voor de functie van het Ik zoals die ons gereveleerd wordt in de psychoanalytische ervaring« (niederl. Übers.: Julien Quackelbeen), in: Psychoanalytische Perspectieven 4 / 5 (1984), S. 8–15; Jacques Lacan: Televisie (niederl. Übers.: Julien Quackelbeen), Leuven / Amersfoort 1990. 78

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Post Scriptum Seit Juli 2000 ist viel geschehen. Einerseits fand am 1. Oktober die entscheidende Abstimmung innerhalb der Gezelschap voor Psychoanalyse en Psychotherapie statt, deren Ergebnis die psychoanalytische Landschaft verändert hat. Die Mehrheit der Mitglieder sprach sich für die Trennung von der École Européenne de Psychanalyse aus. Dies hatte zur Folge, daß einige Mitglieder austraten, um sich in eine niederländischsprachige Liste der erwähnten Schule einzuschreiben. Andererseits markiert dasselbe Datum die Emeritierung von Julien Quackelbeen, was auch an der Universität für Aufregung sorgte. Hiermit wiederhole ich meine Antwort auf die Frage, die Christoph Tholen mir nach Beendigung meiner Rede in Kassel stellte: Die Frage der Übertragung in Gent ist natürlich kein Märchen, aber sie umfaßt neben der Übertragungsliebe, die ein Subjekt antreibt, zugleich auch den Dämon des Todestriebes, der vernichtet.

Literatur Freud, Sigmund: »Afasie« (niederl. Übers.: Filip Geerardyn / Gertrudis Van de Vijver), in: Psychoanalytische Perspectieven 28 / 29 (1995), S. 178– 184. — »Psychische behandeling« (niederl. Übers.: Filip Geerardyn / Gertrudis de Vijver), in: Psychoanalytische Perspectieven 39 (2000), S. 152–171. — »Bespreking van P.J. Möbius ›Die Migräne‹« (niederl. Übers.: Huguette Raes / Filip Geerardyn), in: Psychoanalytische Perspectieven 40 (2000), S. 132–138. — Ontwerp van een natuurwetenschappelijke psychologie (niederl. Übers.: Gertrudis Van de Vijver / Filip Geerardyn), Gent 1992. — »Brief 52« (niederl. Übers.: Filip Geerardyn / Gertrudis Van de Vijver), in: Psychoanalytische Perspectieven 34 / 35 (1998), S. 173–184. Lacan, Jacques: Televisie, (niederl. Übers.: Julien Quackelbeen), Leuven / Amersfoort 1990. — »Het spiegelstadium als vormend voor de functie van het Ik zoals die ons gereveleerd wordt in de psychoanalytische ervaring« (niederl. Übers.: Julien Quackelbeen), in: Psychoanalytische Perspectieven 4 / 5 (1984), S. 8–15. — »De individuele mythe van de neuroticus of ›poëzie en waarheid‹ in de neurose« (niederl. Übers.: Julien Quackelbeen), in: Kultuurleven, maandblad voor kultuur en samenleving 1 (1982), S. 20–35. Miller, Jacques-Alain: »Psychothérapie et psychanalyse«, in: La Cause freudienne 22 (1992), S. 7–12.

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FILIP GEERARDYN

Quackelbeen, Julien: »Over de geschiedschrijving van de psychoanalyse in België, Naar aanleiding van een nummer over Prof. Dr. Jacques De Busscher«, in: Psychoanalytische Perspectieven 36 (1999), S. 91–99. Varendonck, Juliaan: The psychology of day-dreaming, London 1921.

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Lacan in Irland 2000 1 Helena Texier

In seinen Schriften zur Technik der Traumdeutung sagt Freud, daß er seine Patienten manchmal dazu auffordert, die Erzählung eines Traums zu wiederholen. Dieses Vorgehen zielt auf die Differenz zwischen der ersten und der zweiten Version. Vor einigen Jahren wurde mir durch das Lacan-Archiv in Bregenz eine ähnliche Gelegenheit geboten wie diese heute hier, etwas über die lacanianische Psychoanalyse in Irland zu sagen. Die zweite Einladung, diese Geschichte zu erzählen, gibt mir die Gelegenheit zu sehen, was in der Zwischenzeit zu dieser Geschichte hinzugekommen und was verschwunden ist. Die Deutung der Differenz überlasse ich Ihnen. Damals hatte ich begonnen, indem ich mich auf die Geschichte von Ödipus bezog, insbesondere auf die Lage, in der er sich befindet, als er an die Stelle kommt, an der drei Wege zusammentreffen, die gemeinsam den Buchstaben Lambda bilden, den ersten Buchstaben des Namens seines Vaters Laios Labdakos. Wir alle wissen, was dann geschah. In einer Sequenz der auf das Zusammentreffen an der Kreuzung folgenden Ereignisse, antwortet er auf seinen Vater, in dem er sich unbewußt auf eine symptomatische Weise selbst Sohn dieses Vaters nennt. Ich habe damals an diese Episode erinnert, weil sich die APPI (Assoziation für Psychoanalyse und Psychotherapie in Irland), zu der ich gehöre, zu jener Zeit an einem Scheideweg befand. Ich möchte Ihnen etwas darüber erzählen, wie wir an diesen Punkt gekommen waren. Vielleicht wird auch noch Zeit bleiben, etwas über den Weg zu sagen, der seither eingeschlagen wurde. Bis vor ungefähr 2 Jahren hatte die APPI eine mehr oder weniger lose strukturierte Organisation, deren Hauptziel es war, jene zu Diskussionen zusammen zu führen, die Interesse an der Freudschen / Lacanschen Psychoanalyse hatten. Dafür verwendeten wir den Begriff ›Gelehrte Gesellschaft‹, in die jedes Mitglied seine Arbeit einbrachte und, was

1. Aus dem Englischen übertragen von Michael Schmid. 81

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genauso wichtig war, einen bestimmten Geldbetrag, der es uns ermöglichte, ausländische Kliniker und Lehrer nach Dublin einzuladen, damit sie uns an ihrem Verständnis von Lacan teilhaben ließen. Die Mitglieder der APPI waren zum größten Teil Absolventen der School of Psychotherapy am St. Vincent-Krankenhaus, die ein Band aufrechterhalten wollten, das über die Jahre entstanden war. Die School of Psychotherapy selbst war entstanden, als Cormac Gallagher an Noël Walshe, den damaligen Professor für Psychiatrie am St.Vincent-Krankenhaus und am University College Dublin mit dem Vorschlag herantrat, eine Ausbildung einzuführen. Professor Walshe, der der Psychoanalyse zugeneigt war (eine Rarität übrigens bei führenden Köpfen der Psychiatrie, besonders in der englischsprachigen Welt), stimmte zu, die Schule mit Cormac Gallagher als Direktor zu führen. Dies war eine fruchtbare Union. Oscar Wilde hat einmal geschrieben, daß es zwei braucht, um eine gute Ehe zu führen – und manchmal auch drei. Zu dieser Vereinigung muß man als drittes Element den Namen Dr. Mary Darby hinzufügen, die die Kontinuität der Arbeit der Schule trotz eines Klimas aufrechterhalten hat, das für das Gedeihen einer psychoanalytischen Vereinigung nicht immer günstig war. Wenn ich für einen Moment die Details betrachte, die ich für Sie hervorgehoben habe, wird für mich etwas offensichtlich: Man muß davon ausgehen, daß jedem Schritt in der Entstehung der Psychoanalyse unter Lacanscher Perspektive in Irland viele kleine Schritte vorausgegangen sind, die ihrerseits verschiedene und manchmal unvereinbare Wege nachzeichnen, die ihren Weg gekreuzt haben, Wege, deren Überschneidung nachträglich betrachtet unvermeidbar erscheint. Zum Beispiel, daß Professor Walshe seine ersten Erfahrungen als Psychiater in Kanada gemacht hat, wo er erkannte, daß das psychologische Leiden, das durch den Vietnamkrieg hervorgerufen worden war, die Kriegsneurose bestätigt, wie Freud sie beschrieben hat; daß er einige Zeit am St. Anne-Hospital studiert hat, daß Cormac Gallagher sich entschlossen hatte, nach Paris zu gehen, um seine Studien in Psychologie fortzusetzen, und dort auf das kontroverse Phänomen Jacques Lacan gestoßen war und daß die beiden Iren sogar einander begegnet sein könnten – all das gehört eher zur tyché als zum automaton. Dieser Zug kommt in allen Geschichten entlang dieses Weges vor. Es hat niemals einen klaren und direkten Weg zu Lacan gegeben. Wir sind immer der Linie der Abweichungen von der Mitte gefolgt. Damit will ich sagen, daß das ›Abweichen von der Mitte‹ in allen Geschichten der verschiedenen Menschen, die Mitglieder der APPI sind, eine Rolle spielt, was bedeutet, daß das typische Mitglied a-typisch ist. Ein zweiter Zug in dieser Darstellung ist von Anfang an die Zentrierung auf das, was eigentlich ausländisch ist, was vermutlich eine andere Version des A-Typischen ist. 82

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LACAN IN IRLAND 2000

Was kann noch über den ›wirklichen Anfang‹ der lacanianischen Psychoanalyse in Irland gesagt werden? Immer, wenn man versucht, einen Anfang zu etablieren, taucht eine noch frühere Zeit auf: ›lang, lang, bevor du auf der Welt warst‹. Man ist gezwungen, sich auf ein Märchen oder einen Mythos einzulassen. Ich denke, es ist deshalb entschuldbar, wenn der Anfang, auf den ich mich beziehe, eine Art Individualmythos ist, der einen Text Lacans involviert: »Les complexes familiaux de la formation de l’individu.«2 Es ist sehr passend, daß die irische Geschichte mit einer Übertragung3 auf diesen Text begonnen hat. Wenn ich diesen Ausdruck verwende, dann, um zwei Bedeutungen des Begriffs hervorzurufen, von denen Freud in Die Traumdeutung Gebrauch macht: ›Übertragung‹ und ›Übersetzung‹. In diesem Falle handelt es sich um eine Übertragung, die die Übersetzung eines Textes betrifft. In jener Zeit, als ich am Trinity College mein Diplom in Philosophie machte, beschäftigte sich eine kleine Lektüregruppe, die von einem der Teilnehmer organisiert worden war, mit einer unveröffentlichten Übersetzung dieses frühen Textes. Der Effekt war, daß ich, als ich begriffen hatte, daß ich mich mehr für Psychoanalyse als für Philosophie interessierte, und schon einiges von Freuds Werk verstanden hatte, die ganze Zeit damit beschäftigt war, ihn nicht zu verstehen. Ich bringe diese Vignette vom Anfang meiner Verwicklung in Lacans Text nur deshalb, weil es die Art von Erfahrung mit Lacan ist, die etwas Typisches ist an dem a-typischen Weg, den in einer bestimmten Epoche der Geschichte viele aus der Gruppe, die heute Mitglieder der APPI sind, zur School of Psychotherapy am St.Vincent-Krankenhaus gegangen sind, um dort eine Postgraduate-Ausbildung zu machen. Von Anfang an hat die Schule Menschen aus ganz unterschiedlichen Disziplinen angezogen. Meine Kommilitonen waren damals Psychiater, Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter, Philosophen, Lehrer und Menschen, die schon auf die eine oder andere Art Psychotherapie praktiziert hatten. So wurde die Schule und die meisten Projekte, die aus ihr hervorgegangen sind, aus etwas geboren, d. h. ihr Wesen wurzelt in dem, was von Freud eingeführt und übermittelt wurde und das in Irland im Kontext von Lacans Rückkehr zu dem auftaucht, was die Essenz des Freudschen Werkes implizit einführt: Das Unbewußte ist strukturiert wie eine Sprache, d. h. die Vorrangstellung des Signifikanten. Die Vorrangstellung des Signifikanten war für uns in Irland nicht bloß eine abstrakte oder obskure Formulierung. Ich denke,

2. Jacques Lacan: Les Complexes familiaux dans la formation de l’individu, Paris 1984; dt.: »Die Familie«, übers. v. Friedrich A. Kittler nach dem unter dem Titel »La famille« zuerst in der Encyclopédie française 1938 erschienen Text, in: ders., Schriften III, Olten / Freiburg i.Br. 1980, S. 39–100. 3. Deutsch im Original. 83

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alle würden zustimmen wenn ich sage, daß die Verbreitung der lacanianischen Psychoanalyse in den Jahren, die auf die Gründung der Schule folgten, sich im wesentlichen der Inspiration verdankt, eine kontinuierliche und gründliche Lektüre der Freudschen und der Lacanschen Texte zu ermöglichen. Dieses Festhalten am Freudschen und Lacanschen Text bildet die Grundlage der Lehre der Schule. Lacan ist auf diese Weise, rigoros und systematisch, seinen Weg gegangen, getreu dem Werk Freuds. Das macht das Lacansche Projekt so bezwingend. Was immer über ihn gesagt werden mag, niemand kann leugnen, daß er dem Freudschen Korpus, das nicht zuletzt in der englischsprachigen Welt in Orthodoxie erstarrt war, wieder Leben eingehaucht hat. In Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse sagt Lacan: »[M]an ist allenfalls den guten Formen verbunden; denn über die Lehre selbst hat man nichts zu sagen«, um hinzuzufügen, daß die Technik nicht richtig verstanden, also auch nicht richtig angewandt werden kann, wenn man die Begriffe verkennt, die sie begründen. Was Lacan weiter dazu zu sagen hat, überträgt sich auf den Leser seines Textes wie eine Infektion, mit ähnlichem Eifer die Grundlagen der Praxis zu befragen, was diese nur beleben kann. Fügen wir noch sein Beharren hinzu, »daß, um irgendeinen Freudschen Begriff handzuhaben, die Lektüre Freuds nicht für überflüssig gehalten werden sollte«4, und daß wir uns an das Vermächtnis eines Mannes halten sollen, der, seit er das Unbewußte entdeckte, nicht gänzlich ohne Zeugnis geblieben ist, das seinen Platz bezeichnet, weshalb er uns auch nicht irreführen wird. Lesen wir ferner, daß man sich nur das Werk Freuds wieder vornehmen muß und daß man sich, wenn man mit der Traumdeutung beginnt, daran erinnert, »daß der Traum die Struktur eines Satzes oder, um dem Buchstaben des Textes zu folgen, eines Rebus, das heißt einer Schrift«5 hat, dann wird Lacans Rückkehr zu Freud zu einer Notwendigkeit. Das Jahr, in dem ich meinen Abschluß an der Schule gemacht habe, war ein besonders fruchtbares Jahr. In diesem Jahr wurde die APPI ins Leben gerufen, und im selben Jahr wählte die Fondation Europeénne pour la Psychanalyse Dublin zum Veranstaltungsort für ihren ersten Kongreß. Die Konferenz mit dem Titel Das Unbewusste und die Sprachen hatte bewirkt, daß in unserer Gruppe in Dublin der Wunsch nach einem eigenen Engagement für die Psychoanalyse wach wurde. Ein erstes Nebenprodukt des Kongresses war das Erscheinen unserer Zeitschrift THE LETTER, die Ihnen vielleicht bekannt ist. Mit der Herstellung der

4. Jacques Lacan: »Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse«, in: ders., Schriften I, Olten / Freiburg i.Br. 1973, S. 83. 5. Ebd., S. 107. 84

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LACAN IN IRLAND 2000

Zeitschrift verbanden wir die Aufgabe, ein Forum zur Darstellung der wissenschaftlichen, ethischen, praktischen und theoretischen Konsequenzen zu schaffen, die aus Lacans Lektüre der Freudschen Entdekkung gezogen werden können. Wir stellten einen Raum zur Verfügung, in den sich die Arbeit einschreiben konnte, die bis dahin über viele Jahre von Studenten, Absolventen und Lehrern der School of Psychotherapy geleistet worden war – Erfahrungen mit der Psychoanalyse, die in Gefahr waren, aus Mangel an Gelegenheit vergessen zu werden. Die erste Ausgabe der Zeitschrift wurde aus dieser Erfahrung geboren. Die Benennung unserer Zeitschrift hat uns keine Schwierigkeiten bereitet, denn sie ergab sich wie aus heiterem Himmel, und es bestand keinen Grund, sie zurückzuweisen. Wahrscheinlich trifft es viel eher zu, zu sagen, daß der Name selbst die Möglichkeit der Publikation hervorgebracht hat und ihr Feld definiert, als daß wir die Zeitschrift benannt haben. Im Rückblick betrachtet verweisen die Jahre rund um die Geburt der Zeitschrift auf etwas, das von außen gesehen so erscheint, als gäbe es eine exponentielle Zunahme psychoanalytischer Projekte, die, in Wirklichkeit, viel mehr das Ergebnis einer Arbeit waren, die über viele Jahre im stillen oder in der Isolation stattgefunden hat. Vor diesem Hintergrund konnte die Zeitschrift erscheinen, die ursprünglich als ein Mittel zur Einführung englischsprachiger Leser in eine Perspektive von Psychoanalyse gedacht war, die nicht schon fertig zu Verfügung stand, als Einladung an unsere europäischen und amerikanischen Kollegen, die sich schon länger mit Lacans Rückkehr zu Freud beschäftigten, zu unserer Ausbildung beizutragen, und um einen Raum für jene zu bewahren, die Psychoanalyse unter der Besonderheit des irischen Settings ausüben. Unter denjenigen, ohne deren besonderen Beistand all unsere Projekte nur Träume geblieben wären, waren Marcel Czermak, John Forrester, Guy Le Gaufey, Charles Melman, John Muller und William Richardson. Jeder von ihnen leistete seinen Beitrag, ohne Gegenleistung zu erwarten und ohne zu versuchen, die Unabhängigkeit, die die APPI sich erhalten möchte und auf der sie besteht, zu kompromittieren. Auch hat es sich glücklich gefügt, daß durch die Verbindung von Rik Loose zum Centre for Psychoanalytic Studies am LSB College, an dem viele Lehrer Mitglieder der APPI sind, freundschaftliche und fruchtbare Beziehungen zu Lacanianern seiner Alma Mater, der Universität von Gent, entstanden sind. Diesen Input von außen wissen wir sehr zu schätzen, weil er lebensnotwendig ist, um den Diskurs offenzuhalten. Darum ist die Mitgliedschaft bei der APPI eine fördernde Mitgliedschaft. Nicht alle Absolventen der School of Psychotherapy machen ihre Ausbildung, um Analytiker zu werden; es gibt auch solche, die sich nicht in den psychoanalytischen Diskurs einbringen wollen, indem sie 85

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konstant mit anderen Disziplinen in Dialog treten, was ein Markenzeichen des Lacanschen Werkes darstellt. Das Forum, das durch die Zeitschrift geschaffen wurde, verdankt seine Existenz im wesentlichen den Verbindungen, die zwischen der School of Psychotherapy, die in Irland eine zentrale Rolle in der Ausbildung von psychoanalytischen Psychotherapeuten spielt, der APPI und dem Centre of Psychoanalytic Studies am LSB College geschmiedet wurden. Die Schule ist und war der ›melting pot‹, von dem die Gruppe der Absolventen ausgeht, die dazu beitragen, daß das Lehren Lacans weitergeht. Unter der Direktion von Cormac Gallagher wurde am Centre 1991 eine zertifizierte Grundausbildung und ein Aufbaulehrgang in Psychoanalyse angeboten. Das kann, nachträglich betrachtet, als ein Pilotversuch für ein Grundstudium in Psychoanalyse angesehen werden, das für 1993 geplant war. Das Zertifikat war der erste Abschluß seiner Art in der englischsprachigen Welt, mit dem Ziel, ein Programm in Psychoanalyse zu instituieren, wie es Freud einst gefordert hatte. Es gibt Ihnen einen Eindruck vom Geist dieser Lehre, wenn ich Ihnen sage, daß die Studenten ein Jahr mit dem Studium des Textes Die Traumdeutung zubrachten. (Ich denke, es gibt viele praktizierende Analytiker, die nicht soviel Aufmerksamkeit darauf verwendet haben.) Der Lehrplan für den Abschluß wurde zum überwiegenden Teil von Mitgliedern der APPI geschrieben, und er repräsentierte deren Ideal einer theoretischen Vorbereitung für Psychoanalyse, das Anthropologie, Philosophie, Sprachen, die Geschichte der Geisteskrankheiten und das Aufkommen der dynamischen Psychotherapie enthielt, ebenso wie die Werke von Freud und Lacan und eine Vertrautheit mit den Hauptwerken der wichtigsten Schulen in der Geschichte der Psychoanalyse – Klein, Winnicott und die Objektbeziehungs-Theoretiker. Ich kann Ihnen weder das Ausmaß der kollektiven Energie, die sich angesichts dieser Aufgabe ausgebreitet hat, noch das wahrhaft monumentale Ergebnis ausreichend vermitteln – die Anerkennung des Abschlusses durch die staatlichen irischen Bildungsbehörden, den NCEA (National Council for Education Award). Dies ist eine seltene Trophäe, besonders dann, wenn es keinen Präzedenzfall gibt für die Zuerkennung eines Preises für ein Fach wie das der Psychoanalyse. Ohne diese Anerkennung wäre der Kurs wahrscheinlich von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. 1995 wurde ein Postgraduate-Diplom eingeführt, das es Studenten erlaubte, einen Abschluß in einem anderen Fach in einen Abschluß in Psychoanalyse umzuwandeln, wodurch es ihnen möglich wurde, eine Postgraduate-Ausbildung in Psychoanalyse zu machen. 1996 wurde ein Diplom in wissenschaftlicher Psychoanalyse eingeführt, und im selben Jahr begann unter der Leitung von Patricia McCarthy ein klinisches Diplom in Psychoanalyse für Studenten mit einem Vordiplom in diesem Fach. Ergänzend zur theoretischen Ausbildung müssen die Studenten 86

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hier eine Reihe von klinischen Praktika in verschiedenen ›mental health‹-Einrichtungen absolvieren. Wiederum war die Einbeziehung von Mitgliedern der APPI in die klinischen Elemente dieses Kurses sehr wichtig, denn es ist wesentlich dem Einfluß jener Mitglieder zu verdanken, die in sozialen, psychiatrischen und psychologischen Diensten arbeiten, daß Praktikumsplätze für Studenten in Einrichtungen eingerichtet wurden, die der Psychoanalyse traditionell fern standen oder ihr sogar feindlich gesinnt waren. 1997 bestand das Grundstudium in Psychologie zu 50 Prozent aus Psychoanalyse. (Dies ist einmalig in der englischsprachigen Welt.) Ergänzend dazu wurde in Zusammenarbeit mit der Abteilung für Psychologie ein Diplom in Suchtforschung eingeführt, das Lacansche Theorie, Kulturwissenschaft und Forschungsmethodologie umfaßt. Die Entwicklung von Projekten geht weiter.

… und nun? Wo befinden wir uns heute? Das Erreichte ist offensichtlich: Es gibt praktizierende lacanianische Analytiker in Irland; es gibt Strukturen für die Ausbildung von Therapeuten und für die Einführung in Lacansche Theorie im Diskurs der Universität; die Psychoanalyse ist in die ›mental health‹-Einrichtungen gedrungen, wenn auch auf einem ziemlich niedrigen Level; es gibt ein Forum zur Darstellung von Forschungsarbeiten, zum einen in Form der Seiten von THE LETTER, zum anderen in Form des Kongresses der APPI, der jedes Jahr im November stattfindet – und das Interesse an Lacans Werk wächst weiter. Jedoch, gerade weil offensichtlich ist, daß das, was erreicht wurde, weiterwächst, ist auch offensichtlich, daß die bisher gemachte Reise uns die Schwierigkeiten zeigt, die vor uns liegen. Ich möchte auf etwas zurückkommen, was ich eingangs erwähnt habe, und auf die Probleme, die an diesem Punkt auf uns warten. Ich erwähnte in diesem Zusammenhang Ödipus, insbesondere sein Zusammentreffen mit Laios an der Wegkreuzung. Sie erinnern sich, daß hier der Anspruch auf Anerkennung ausgespielt wurde, ein Resultat, mit dem das Schicksal beider besiegelt wurde. Es ging nicht um die Anerkennung des anderen im Streit um das Durchgangsrecht, sondern um jene symptomatischen Wiederholungen in der Geschichte ihrer Namensgebung, in der Institution des Namens selbst. Das Stadium, das die APPI vor einigen Jahren erreicht hat, ruft den Bezug zu diesem Anspruch auf Anerkennung wach. Wir waren an einen Punkt gekommen, wo manches institutionalisiert werden sollte, und unser Bemühen war, so wenig wie möglich zu institutionalisieren. Das ist noch immer unser Bestreben! Es ist uns klar geworden, daß wir nicht geschützt sind vor den alten Fragen und den immer wiederkehrenden Problemen, die die Praxis der Psychoanalyse unvermeidbar von Beginn an aufwirft. Insbeson87

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dere die uneingeschränkte Übernahme des Lacanschen Denkens, das heißt buchstabengetreu, führt zu Fragen, die auch schon in anderen Ländern gestellt wurden: zum Beispiel, wer sich als Analytiker betrachten kann; worin eine psychoanalytische Ausbildung besteht; wo die Grenzen für eine psychoanalytische Lehre im Diskurs der Universität sind; die Beziehung zwischen dem Psychoanalytiker und den Forderungen der Kultur, unter denen dieser versucht, so weit es geht, zu arbeiten; die Legitimität eines psychoanalytischen Berufes; die Möglichkeit / Unmöglichkeit einer psychoanalytischen Organisation. Alles in allem Fragen, die zu einer Ethik der Psychoanalyse führen, wie sie in Lacans Lehre enthalten ist. Niemand kann sich vor der Aufgabe drücken, sich dieser Aporie zu stellen. Die Debatte darüber geht weiter. In gewisser Hinsicht hat unser Inselstatus zu geführt, daß wir im großen und ganzen verhindern konnten, in die psychoanalytische Politik hineingezogen zu werden, die ein Vermächtnis ihrer Geschichte auf dem europäischen Festland ist. Aus der Ferne betrachtet könnte ein weitsichtiger Blick auf den unaufhaltsamen Vormarsch der Gruppenpsychologie helfen, die Wiederholungen der psychoanalytischen Vergangenheit zu vermeiden. Wenn die Geschichte hier wiederholt werden muß, haben wir Iren bereits gezeigt, daß wir durchaus in der Lage sind, unsere eigenen Probleme zu erfinden! Welche Probleme haben wir? Wir sind an einen Punkt gekommen, an dem wir feststellen konnten, daß unsere lose strukturierte Gruppierung nach Änderungen verlangt. Die Schwierigkeit, die jeder Veränderungsvorschlag verursacht, verdankt sich der Spannung zwischen dem Resultat einer Restrukturierung und unserem ursprünglichen Ziel, die Ethik der Psychoanalyse zu wahren und das Interesse an Freudscher / Lacanscher Psychoanalyse in Theorie und Praxis zu pflegen. Die Notwendigkeit zur Restrukturierung folgte aus der Tatsache, daß es vorhersehbar war, daß das Recht zur Ausübung der Psychotherapie in Zukunft staatlich reguliert werden wird. Solange eine solche Regulierung nicht existierte, war es verständlich, daß es in unserem Interesse lag, aktiv unser eigenes Schicksal zu gestalten. Außerdem gab es noch andere Faktoren, die zu diesem Drang nach Restrukturierung beigetragen haben. Abgesehen von der Anforderung, die vom Außen der Bürokratie im Dienste der universellen menschlichen Güter kam, gab es noch Forderungen im Innern, und diese haben einen ganz anderen Anstrich. Ich sagte es bereits und wiederhole es nun, daß im Feld der Psychoanalyse mehr als in jeder anderen Disziplin die Spannung zwischen ›die Psychoanalyse instituieren‹ und ›die Psychoanalyse institutionalisieren‹ greifbar ist, und zwar niemals mehr als dann, wenn die Ethik ihrer Praxis gegen eine Forderung streitet, die sich im Einklang mit einer Form sieht, die mit den vorherrschenden kulturellen Strukturen, 88

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innerhalb deren diese Praxis stattfindet, übereinstimmt. Einverstanden sein mit dieser Forderung danach, identitätsstiftende Bilder, Uniformität zu erzeugen wie jede andere Profession auch, auf daß es behaglich werde in der Gesellschaft, hieße, die Begegnung mit dem Unbehagen zu verfehlen, das der Gesellschaft innewohnt und das ein Effekt der Sozialisation ist. Das klingt wie die übliche (und nicht sonderlich einfallsreiche) Platitüde, auf die man sich immer zurückzieht, wenn die Psychoanalyse mit dem Rücken zur Wand von ›anderen‹ gezwungen wird, sich zu erklären. Die Debatte wird jedoch interessanter, wenn wir uns daran erinnern, daß das Unbehagen an ihrer Theorie und Praxis eine entrüstete Antwort provozierte – nicht von der Gesellschaft, sondern von der psychoanalytischen Gesellschaft –, als Lacan sich buchstabengetreu auf Freud bezog. Hier scheint es weniger die Frage zu sein, ob Psychoanalyse von der Gesellschaft toleriert werden kann als vielmehr, ob jene, die diese Disziplin praktizieren, ihre Beziehung zur Psychoanalyse selbst tolerieren können. Eine ausführlichere Antwort ist selbstverständlich dann notwendig, wenn die Gesellschafts-Forderung nicht von außen, sondern aus dem Inneren des Feldes selbst kommt. Was sind die möglichen Antworten, wenn die Forderung nach einer Gesellschaft aus dem Inneren einer mehr oder weniger losen Gruppierung kommt? Kurz, wenn man die Ethik der Psychoanalyse als gegeben annimmt, ist dann eine Gesellschaft von Analytikern möglich? Für uns in Irland ist das keine ganz neue Frage. Einige Jahre zuvor waren wir am Kongreß der Fondation Européenne pour la Psychanalyse in Dublin Zeugen einer hitzigen und wahrhaft leidenschaftlich geführten Debatte zwischen Analytikern aus der ganzen Welt über die Position des Analytikers in bezug zu den Normen des Staates geworden. Damals fanden wir die Debatte intellektuell stimulierend, waren aber etwas verwundert über die emotionale Haltung, die die Protagonisten einnahmen; heute sind wir weniger erstaunt darüber. Die Beteiligung der APPI an der Förderung der Lacanschen Psychoanalyse hat junge Leute angezogen, die, nachdem sie fünf Jahre mit dem Studium der Psychoanalyse verbracht hatten, nun von der APPI verlangten, ihre Herkunft anzuerkennen. Lassen wir sie allein in den Bergen, in einer feindlichen Umgebung mit durchstochenen und gefesselten Füßen? Das mag als eine überzogene, melodramatische Darstellung der Situation erscheinen, aber es steckt ein Körnchen Wahrheit darin. Denn es ist richtig zu sagen, daß Lacan in der englischsprachigen Welt auf dem Feld der episteme, das heißt im Diskurs der Universität, akzeptiert wird; es ist weitaus wahrscheinlicher, an den verschiedenen Universitätsinstituten, die mit Frauenstudien assoziiert sind, in den Abteilungen für englische oder französische Literatur, in den Sozial-, Politik- und Filmwissenschaften oder in der Philosophie von Lacan zu hören als in den Abtei89

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lungen für Psychiatrie und Psychologie. Den Anstrengungen zum Trotz, der Lacanschen Psychoanalyse in Irland einen Platz zu schaffen, ist es immer noch nicht einfach, ohne Hindernisse ein klinisches Setting mit einem sichtbar angebrachten psychoanalytischen Schild zu finden. Der Kontakt unserer Studenten mit den Texten führt manche ins Feld der Praxis. So soll es sein. Sie wollen arbeiten – und sie kommen zu uns mit der Bitte um Anerkennung, denn es gibt keine andere Körperschaft, die anerkennen könnte, woher sie stammen. Sie verlangen nach Akkreditierung. Wir könnten auch einfach entgegnen, daß man sich in seiner Beziehung zur Psychoanalyse als Analytiker selbst ernennen muß – daß man sich selbst einen Namen machen muß. Daß dies immer und bei jedem, der praktiziert, der Fall sein wird, ist unzweifelhaft wahr. Es kann aber genausogut sein, daß die Studenten, angesichts der möglichen Praxis, fälschlicherweise glauben, sich einer Gruppe anzuschließen, die sie akkreditiert und vor der Angst schützt, die die klinische Arbeit hervorruft. Da weder die Akkreditierung noch die Mitgliedschaft in einer Gruppe irgendetwas für den / die Analytiker / in in seiner / ihrer Praxis garantieren kann, können solche Dinge im gewöhnlichen, aber deshalb nicht weniger komplizierten Wechselverhältnis zwischen dem Feld der Psychoanalyse und der Kultur, in der sie operiert, von Nutzen sein – und einen notwendigen Schutz darstellen. Charles Melman kam einst nach Dublin, um zu uns über Paranoia und ihre imaginären, symbolischen und realen Koordinaten zu sprechen. Er ging bei den ersten beiden sehr langsam vor – aber als die Frage sich um das Reale der Paranoia drehte, machte er es ganz kurz: »Manchmal ist ihr Nachbar wirklich darauf aus, Sie zu verfolgen.« Deshalb schließen wir Versicherungen ab in der Hoffnung, sie könnten eventuell ein Schutz sein. Im Englischen sagen wir, wenn wir eine Versicherung abschließen, daß wir ›abgesichert‹ sind. Gerade weil das Unbewußte nur in Verkleidung zum Ausdruck kommt, arbeiten diejenigen, die in dem Feld tätig sind, das vom Unbewußten begrenzt wird, unter einem anderen Gewand als dem des Analytikers. Jemand erzählte mir, daß man in Rußland zu einer Zeit, als die Psychoanalyse verboten war, nach Analyse fragen konnte, indem man auf eine Annonce für Englisch- oder Japanischunterricht antwortete. In Irland gibt es zur Zeit eine Werbung, die mit einer einfachen Umkehrung des Ausdrucks ›ein Wolf im Schafspelz‹ operiert. Jeder weiß, was dieser Ausdruck bedeutet. In der Werbung sieht man zuerst schöne Bilder von blauäugigen Wölfen, die miteinander im Schnee spielen. Das Bild wird größer, und man bekommt eine seitlich stehende, fremd aussehende Kreatur zu sehen. Man erkennt sofort, daß es sich um ein Schaf handelt, das einen Mantel trägt, der aus einem Wolfsfell gemacht ist. Ein Schaf im Wolfspelz! Die Wölfe schauen leicht verwirrt. In diesem Sinne könnte man sagen, daß die Restrukturierung der 90

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APPI einer schützenden Haut für jene diene, die Psychoanalyse / Psychotherapie praktizieren oder praktizieren wollen. Es hat sich herausgestellt, daß es besser war, Strukturen einzuführen zum Schutz des Rechts derjenigen Mitglieder, die psychoanalytische Psychotherapie bzw. Psychoanalyse praktizieren, dies auch weiterhin tun zu können, als einzelnen Mitgliedern zu empfehlen, sich anderen Organisationen anzuschließen, die ihnen zwar eine Akkreditierung bieten, aber die Orientierung der klinischen Praxis der Mitglieder der APPI wahrscheinlich weder teilen noch verstehen würden. Ersteres scheint besser geeignet, die Psychoanalyse zu fördern, die den Geist der APPI repräsentiert. Zusammenzubleiben als eine unverkennbare Gruppe, in dem wir unsere eigenen ethischen Richtlinien und Kriterien für die Mitgliedschaft einführen, ermöglicht uns in Hinblick auf die künftigen Möglichkeiten unserer Praxis mehr Input. Gleichzeitig wurden wir uns schmerzlich bewußt, daß die Geschichten psychoanalytischer Gruppen anderswo nicht gänzlich glücklich verlaufen sind und so manche Gruppe, die neue Elemente eingeführt hat, zerbrochen ist. Auch die Arbeit an der Sicherstellung eines sanften Managements für die Gruppe, um Probleme zu minimieren und ihre ursprüngliche Absichten zu bewahren, lenkte von der raison d’être der Gruppe ab. Zum Beispiel kann ich Ihnen sagen, daß es acht Personen und zwei Jahre brauchte, um die Verfassung der APPI zu schreiben. Deshalb, als Gegengewicht zu der Tendenz, die von der Psychoanalyse weg ins Feld der Politik oder etwas für uns ähnlich Unnützem führt, haben wir dieses Jahr mit unserer ersten klinischen Vorlesungsreihe begonnen. Wie kann ich zusammenfassen, wo die APPI im Moment steht? Wir hinken munter weiter wie Labdakos, wie Laios, wie Ödipus.

Literatur Freud, Sigmund: »Die Traumdeutung«, in: ders., Gesammelte Werke, 2. u. 3. Bd., London 1942, S. 1–642. Lacan, Jacques: Les Complexes familiaux dans la formation de l’individue, Paris 1984; dt: »Die Familie«, übers. v. Friedrich A. Kittler nach dem unter dem Titel »La Famille« zuerst in der Encyclopédie française 1938 erschienen Text, in: ders., Schriften III, Olten / Freiburg i.Br. 1980, S. 39–100. — »Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse«, in: ders., Schriften I, Olten / Freiburg i.Br. 1973, S. 71–169.

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Fremdsprache Jutta Prasse

Das Thema dieser Tagung hat mich vor die mir ungewohnte Aufgabe gestellt, eine Jahre zurückliegende Arbeit von mir wieder aufzugreifen. 1992 fand in Dublin unter dem Titel Le sujet de l’inconscient et les langues ein Kongreß der Fondation Européenne pour la Psychanalyse statt. Ich hielt dort einen Vortrag, in dem es um das Erleben der Tatsache ging, daß es verschiedene Sprachen gibt, um die subjektive Begegnung mit der Fremdsprache und wie diese sich für den einzelnen zutragen kann. Beim Schreiben des Vortrags damals hat sich aus der Reflexion über diese Begegnung ein Stückchen persönlicher Analyse abgewickelt, das erst durch jenen Anlaß zur Sprache gekommen ist, und das Interessante daran ist, daß der Anlaß mit der Notwendigkeit einherging, auf Französisch oder Englisch vorzutragen, ich also diesen Text in Französisch geschrieben und in einem fremden Land zum besten gegeben habe. Mein Titel war Le désir des langues étrangères und beinhaltete damit bereits, daß ich nicht, wie angeboten, einen Text auf Deutsch verfassen und diesen vor der Tagung übersetzen lassen konnte bzw. wollte. Es ging mir ja darum, daß man begehren kann, die Muttersprache zu überschreiten, sich in ein fremdes Sprachgebiet hineinzubegeben. Das Schreiben in der Fremdsprache ist dann mit einer merkwürdigen, mich überraschenden Leichtigkeit vonstatten gegangen, fast als schriebe sich da etwas von selbst, solange ich nur darauf achtete, die richtigen Verbformen und Präpositionen zu verwenden. In der Fremdsprache konnte ich plötzlich fast hemmungslos sehr Persönliches behandeln. Die Tagung jetzt erschien mir als ein Anlaß, ja, fast als eine Verpflichtung, das damals Entwickelte ins Deutsche herüber- oder vielmehr zurückzuholen, also Übersetzungsarbeit am eigenen Text zu versuchen. Und das ist mir überhaupt nicht mehr leicht gefallen. Ich konnte nicht Satz für Satz übersetzen, wie ich es bei einem fremden Text getan hätte. Als wäre das von mir verfaßte Französisch zu vertraut und zu fremd zugleich. Einiges hat sich umschreiben lassen, einiges ist weggefallen, ein wenig hat sich auch ganz neu geschrieben. Es gibt eine Geschichte zur Begegnung mit der Fremdsprache, die in meiner süddeutschen Kindheit noch in allen Schullesebüchern 93

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stand. Es ist Johann Peter Hebels Kalendergeschichte1 vom armen Handwerksburschen, der von »Duttlingen« aus den Rhein hinauf wandert bis nach Amsterdam und dort, in dieser »großen und reichen Handelsstadt voll prächtiger Häuser, wogender Schiffe und geschäftiger Menschen« ein so herrlich schönes Haus sieht, daß er nicht umhin kann, einen Vorübergehenden zu fragen, ob er ihm sagen könne, wem diese Pracht gehöre. »Kannitverstan« lautet die kurze, schnauzige Antwort auf die in freundlich umständlichem Deutsch angestellte Erkundigung, also »Ich kann nicht verstehen«, aber unser Handwerksbursche meint, er habe gehört, was er wissen wollte: nämlich den Namen des Mannes, nach dem er gefragt hat. »Das muß ein grundreicher Mann sein, der Herr Kannitverstan«, denkt er und geht weiter. Dasselbe Frage-und-Antwort-Spiel wiederholt sich darauf am Hafen, wo er über ein besonders großes Schiff staunen muß, dessen kostbare Fracht, Luxusgüter aus aller Herren Ländern, eben entladen wird. Nun glaubt der Handwerksbursche zu verstehen, woher all dieser Reichtum des Amsterdamer Herrn kommt, und beim Weitergehen stellt er »die traurige Betrachtung bei sich selbst an, was er für ein armer Teufel sei unter so viel reichen Leuten in der Welt. Als er eben dachte: ›Wenn ich’s doch nur auch einmal so gut bekäme, wie dieser Herr Kannitverstan es hat!‹ kam er um eine Ecke und erblickte einen großen Leichenzug. Vier schwarz vermummte Pferde zogen einen ebenfalls schwarz überzogenen Leichenwagen langsam und traurig, als ob sie wüßten, daß sie einen Toten in seine Ruhe führten. Ein langer Zug von Freunden und Bekannten des Verstorbenen folgte nach, Paar und Paar, verhüllt in schwarze Mäntel und stumm. In der Ferne läutete ein einsames Glöcklein.« Und auf seine treuherzig teilnehmende Bemerkung zu einem der Letzten vom Leichenzug, er trage da wohl einen guten Freund zu Grabe, bekommt er nun zum drittenmal die Antwort »Kannitverstan«. »Da fielen unserem guten Duttlinger ein paar große Tränen aus den Augen, und es ward ihm auf einmal so schwer und wieder leicht um’s Herz. – ›Armer Kannitverstan!‹ rief er aus, ›was hast du von allem Deinem Reichtum? Was ich einst von meiner Armut auch bekomme: ein Totenkleid und ein Leintuch, und von all’ Deinen schönen Blumen vielleicht einen Rosmarin auf die kalte Brust oder eine Raute!‹.« Er schließt sich dem Zug an und hört »die holländische Leichenpredigt, von der er kein Wort verstand, mehr gerührt, als von mancher deutschen, auf die er nicht Acht gab.« Leichten Herzens geht er darauf sei-

1. Johann Peter Hebel: »Kannitverstan«, in: H. Schlaffer / H. Zils (Hg.), Die Kalendergeschichten. Sämtliche Erzählungen aus dem Rheinischen Hausfreund, München / Wien: Hanser 1999, S. 162–164. 94

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ner Wege, und fortan, »wenn es ihm wieder einmal schwer fallen wollte, daß so viele Leute in der Welt reich seien und er so arm, so dachte er nur an den Herrn Kannitverstan in Amsterdam, an sein reiches Schiff und an sein enges Grab.« Etwas Merkwürdiges spielt sich in diesem Aufeinandertreffen von zwei Fremdsprachen ab. Das Unverständnis schafft ein Mißverständnis, das zu einer unbedingten Wahrheit, der Erkenntnis der Begrenztheit unseres irdischen Lebens und des Genusses seiner Güter führt. Oder psychoanalytisch ausgedrückt: In aller Naivität stößt der Duttlinger in Amsterdam auf einen Begriff für die symbolische Ordnung – für ihn ist sie christlich religiös gesetzt –, in der sein Begehren einen befriedenden Rahmen finden kann. Was will nämlich unser Handwerksbursche in der Fremde damit, daß er sich nach dem Namen des Besitzers solcher nie gesehener Pracht erkundigt? Er will den fremden Reichtum mit einem menschlichen Namen belegen können, ihn sich damit wenigstens ein Stückchen weit in seine Welt – in Duttlingen kennt ja gewiß jeder jeden mit Namen – hereinholen. Er fragt nach einem Eigennamen, also – aber das weiß er freilich nicht – nach dem Signifikanten im Reinzustand, als den Lacan im Seminar über die Identifizierung den Eigennamen bezeichnet, dem Signifikanten, der, obwohl er durchaus auch etwas bedeuten kann, keinen anderen Sinn machen muß als den, wie ein Buchstabe in einem einzigen Zug die Funktion des Subjekts in der Sprache zu markieren. Der Handwerksbursche weiß nicht, daß er im Grunde damit nach etwas fragt, was ihn selbst betrifft, nach einem Signifikanten für sein Begehren, das sich – erst noch unerkannt und dunkel in seinem Staunen – in ihm regt. Daß er nämlich nach seinem eigenen Fehlen im Geschauten, nach seinem Ausgeschlossensein aus dieser Pracht fragt, die ja fremd ist, also nicht ihm gehört, sondern einem anderen gehören muß. Er weiß nicht, daß er nach dem Namen des unbekannten Besitzers fragt, um dessen Besitz zu begehren, ihn in der benannten Differenz zu sich selbst darum beneiden zu können. Daß dieser vermeintliche Name nun ausgerechnet die Worte »Ich kann nicht verstehen« zu einem einzigen Zug zusammenfaßt, ist ein hintersinniger, exquisit lacanianischer Joke in dieser Kalendergeschichte. Gerade als er sich an die Stelle des anderen, des fremden Herrn, wünscht, der unverbrüchlich mit dieser Pracht zu identifizieren wäre, ist unser Handwerksbursche ja in seinem Mißverständnis auf der Ebene, wo Signifikanten Sinn machen, wo sie etwas bedeuten, selbst der »Kannitverstan«, nämlich einer, der nicht versteht, daß dieser fremde Reichtum, der ihn so beeindruckt, zwar unermeßlich sein mag, aber daß ein menschlicher Inhaber solchen Reichtums in seinem Sein nicht an dieser Unermeßlichkeit oder Unendlichkeit partizipieren kann, weil er eben menschlich und sterblich ist, weil im menschlichen, d. h. sprachlichen Zugang zum Realen, selbst im menschlichen Besitz materieller Güter, immer etwas aufklafft und fehlt. Erst als der wahre fremde Herr, 95

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das tatsächlich Unverständliche, der Tod, ihm begegnet, der ihn und den Herrn Kannitverstan gleichermaßen betrifft, sie als Subjekte wieder gleichstellt, d. h. gleichermaßen derselben Ordnung unterworfen, versteht er, daß jeder Menschenname heißt: »Du wirst einmal sterben«, daß der Eigenname, der Signifikant der Subjektfunktion, eingeprägt auf das Dingliche, das Materielle, an sich der Zug eines Verlusts ist. Eines Verlusts, der unabdingbar ist, damit ein unerfüllbares Begehren sich etablieren und gelebt werden kann. Ich bin sozusagen mit Johann Peter Hebel aufgewachsen, mein »Duttlingen« heißt Schopfheim, sechs Kilometer von seinem Geburtsort Hausen im Wiesental entfernt. In Schopfheim hat der Dichter als Knabe die ehemalige Lateinschule besucht, und das große Ereignis für uns Kinder aus Schopfheim und den umliegenden Dörfern war das damals alle zwei Jahre stattfindende Hebelfest, das uns Kleinen gewidmet war. Und auch ich habe, geprägt durch die besonderen Umstände der Nachkriegszeit, meine mit dem Neid auf das Schauspiel fremden Wohlergehens verbundenen Kannitverstan-Erlebnisse gehabt. Zum einen genau wie bei Hebel, als die Schweizer Grenze wieder aufging und wir regelmäßig nach Basel fuhren, dieser Schlaraffenstadt ausländischen Wohlstands, in der wir uns etwas Kaffee und Schokolade kaufen konnten. Als ich lesen lernte, war ich in Basel baß erstaunt über den Reichtum einer gewissen Frau Tea Room (eine Tante von mir hieß ja auch Thea), die offenbar sämtliche Cafés der Stadt besaß. Zum andern, das war früher und anders als bei Hebel, hat mich neben dem Reichtum der Fremden gerade auch das Phänomen ihrer unverständlichen Sprache erstaunt. Die Franzosen waren in unser Städtchen gekommen, die Besatzungsmacht, wie sie genannt wurden. Die Offiziere hatten die besten Wohnungen beschlagnahmt und waren mit ihren Familien dort eingezogen, und sie redeten französisch. Wir Kinder hörten sie auf der Straße miteinander sprechen, die eleganten geschminkten Frauen und die kleinen Mädchen mit offenen Locken, während unsere Haare noch gnadenlos in deutsche Zöpfe geflochten waren. Sie kamen uns in unserer grauen, armseligen deutschen Nachkriegswirklichkeit wie Erscheinungen aus einer schöneren Welt vor. Wir Kinder folgten ihnen in gewissem Abstand, wenn sie mit ihren nackten, paradiesisch duftenden Weißbroten unter dem Arm daherschritten, und hörten sie miteinander sprechen. Aber das Merkwürdige war, daß diese Besatzer, in offener Widerlegung ihrer doch als eine sprachliche deklarierten Macht, uns nicht nur keine Sätze brachten, sondern überhaupt der Sprache als solcher gar nicht mächtig zu sein schienen. Wir Kinder spielten »Franzosen« und machten das nach: »Ouengouengoueng lala«. Es war eine Fremdsprache, es war Französisch, das hatte man uns gesagt, aber was sollte das heißen? Das waren ja weder Wörter noch Sätze, nur ein Brei aus Lauten. Wie wollten die sich mit so etwas verständigen? Das Problem, daß ausgerechnet die »Besatzer« keine richtige Sprache zu haben 96

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schienen, hat mich so beschäftigt, daß ich es schließlich den Eltern vorlegte. Und diese reagierten natürlich nach Erwachsenenart überlegen amüsiert, aber sie wiesen mich nicht, wie es nahegelegen hätte, auf den Referenzcharakter der Sprache hin, sie erklärten mir zum Beispiel nicht, daß die Franzosen pain zu dem sagten, was sie unter dem Arm spazieren trugen, usw., sondern – und wie entscheidend das für mich in Zukunft werden sollte, hat sich später gezeigt – um darzulegen, daß in der Fremdsprache durchaus lautlich unterscheidbare, bedeutungstragende Einheiten zu hören sind, gaben sie mir den bekannten Kinderreim, der von der Entsprechung, also der Übersetzungsmöglichkeit zwischen den beiden Sprachen handelt: »Le boeuf, der Ochs, la vache, die Kuh, Ferme la porte, die Türe zu.« Dieser Reim scheint meiner Verwunderung ein Ende gesetzt zu haben. Ich erinnere mich von da an keiner kindlichen Grübeleien über das Thema der Fremdsprache mehr. Als ich ins Gymnasium kam, stand als erste Fremdsprache im südlichen Baden-Württemberg Französisch auf dem Lehrplan, und ein paar Klassen später erschien dann ein junger Französischlehrer, der mich für sich und sein Fach zu begeistern wußte. Ich verbrachte sehr bald meine Ferien bei einer Brieffreundin in Frankreich, wo ich vor allem die fremden Tafelfreuden genoß und dabei vergnügt die Fremdsprache parlieren lernte, und habe mich nach dem Abitur scheinbar ganz einfallslos, wie mir später vorkam, für das Studium meiner Lieblingsschulfächer Deutsch und Französisch entschieden. Aber die Fremdsprache, in der ich mich wirklich heimisch fühle, ist dann das Italienische geworden, das ich erst nach dem Studium vor Ort gelernt habe, ohne Unterricht, fast wie ein Kind, allerdings mit Hilfe von Wörterbüchern und einer Grammatik, in dem Land, in dem ich fünfzehn Jahre geblieben bin. Erst nach Jahren dort, mit dem dort erst entstandenen Interesse für die Psychoanalyse und Lacan, habe ich wieder Kontakt mit Frankreich und dem gesprochenen Französisch aufgenommen und mußte zu meiner Betrübnis feststellen, daß ich es nicht mehr so flüssig sprach wie früher einmal und daß die Ähnlichkeit zwischen der italienischen und der französischen Sprache Anlaß zu vielen Fehlern geworden war, die mir nun ständig unterliefen. Immer wieder rutschten mir italienische Wortformen und Ausdrücke dazwischen, und ich bekam es mit den »faux amis« zu tun, den falschen Freunden, wie durch Wortgleichheit, aber Bedeutungsdifferenzen entstandene Irrtümer zwischen den Sprachen im Französischen heißen. Ich wunderte mich nicht darüber, ich war eben aus der Übung, die beiden romanischen Sprachen erschienen mir wie kommunizierende Gefäße, in denen es natürlicherweise zu Vermischungen und Verunreinigungen kommen konnte. Das Problem, das mich mit der Zeit zu beschäftigen begann, 97

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war ein anderes, es betraf die deutsche Sprache, meine Muttersprache und die Sprache Freuds. Ich war im romanischen Sprachraum auf die Psychoanalyse gekommen, hatte mich italienisch und französisch sprechend in ihr ausgebildet, meine ersten psychoanalytischen Aufsätze verfaßte ich in Italienisch. Das Symposion »Lacan lesen«, das nach dem Erscheinen der deutschen Übersetzung von Seminar XI 1978 in Berlin deutschsprachige an Lacan Interessierte zusammenbrachte und zur Gründung der Sigmund Freud-Schule führte, gab dann den entscheidenden Anstoß, mich mit diesem Problem auseinanderzusetzen. Auf Deutsch über Lacan sprechen zu hören, ihn in deutscher Übertragung zu lesen, bedeutete eine Erschütterung, das Aufbrechen eines Zweifels, der schon länger, halb bewußt, an mir nagte. Ich las zwar natürlicherweise Freud auf Deutsch, aber meine Aneignung der Psychoanalyse, meine Auseinandersetzung mit ihr waren durch Lacan und die romanischen Sprachen Französisch und Italienisch bestimmt, spielten sich darin ab. Konnte ich Lacans Theorie auf Deutsch erfassen, deutsch denken, galten die Begriffe und Denkweisen noch, waren sie noch für mich verbindlich, griffen und ergriffen sie mich noch, wenn sie mühsam ins Deutsche eingeführt, in Freuds Sprache übersetzt wurden, gab es da ein Zurück, konnte ich das Erlernte und Erfahrene heimholen in den Sprachraum der Kindheit? In Berlin zu erfahren, daß es einige andere gab, die sich auf Deutsch mit Lacan befaßten, hat mich bewogen, es zu versuchen. Ich bin mit meiner Arbeit an der Psychoanalyse nach Deutschland zurückgekommen und inzwischen länger hier, als ich in Italien war. Vor acht Jahren war ich wieder einmal besonders beschäftigt mit dem Thema der verschiedenen Sprachen, das zu dem Zeitpunkt durch den Kongreß »Lacan und das Deutsche« in Berlin, die nachfolgende Redaktionsarbeit an den Texten für den Kongreßband und den nächsten geplanten Kongreß der Fondation Européenne, eben den eingangs erwähnten in Dublin, der ursprünglich unter dem Titel »Lalangue et les langues« stand, auf der Tagesordnung stand. Als ich gerade mit der Vorbereitung meines Vortrags angefangen hatte, fuhr ich zu einer von der Gruppe Apertura veranstalteten Tagung nach Straßburg, und da passierte Folgendes. Ich stieg am Bahnhof in ein Taxi und gab dem Fahrer in, wie mir schien, flüssig mühelosem Französisch meine Anweisungen. Doch der antwortete mir bald: »Sie kenne do ruig deutsch spreche«. Ich war etwas betroffen. Natürlich hatte er mich als Deutsche erkannt, aber hatte ich so einen fürchterlichen Akzent, hatte ich mich so schlecht ausgedrückt, daß er mir unüberwindliche Schwierigkeiten im Französischen unterstellen mußte, daß er, der mich erst französisch angesprochen hatte, es nun für klüger hielt, mir gegenüber auf den Gebrauch dieser Sprache zu verzichten? Und dann wurde mir klar, was für einen Fehler ich gemacht hatte. Ich hatte gefragt: »Pouvez-vous vous fermer d’abord un moment au numéro 5 de rue Kageneck?« Fermer wie im 98

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italienischen Wort fermare für »halten«, statt arrêter; im Französischen heißt fermer bekanntlich »schließen«. Wieder einmal so ein verfluchter faux ami-Fehler und dazu noch einer, der mir schon so oft unterlaufen war! Doch diesmal blieb es nicht beim Ärger, das Unbehagen, ja die Scham, die mich wegen dieses Fehlers erfaßten, waren so intensiv, daß sie tiefere Wurzeln haben mußten. Zum erstenmal schob ich den Verdruß über mein verunreinigtes Französisch nicht beiseite und dachte, als ich daranging, meinen Vortragstext zu schreiben, über diese kleine Szene nach – und plötzlich hörte ich wieder den Reim: »Le boeuf, der Ochs. La vache, die Kuh. Ferme la porte, die Türe zu.« Und mit einem Schlag war sie da: meine Urszene nämlich, nichts Geringeres! Während des Kriegs hatte ich als Kleinkind mein eigenes Zimmer gehabt, neben dem Schlafzimmer meiner Eltern, getrennt durch eine Tür. Nach dem Krieg waren wir zu den Großeltern gezogen, wegen der Wohnungsnot durch die von den Besatzern beschlagnahmten Wohnungen und auch wegen der Krankheit meines Vaters, der seinen Widerstand gegen Hitlers Krieg mit Magengeschwüren geleistet hatte und inzwischen so geschwächt war, daß er sich dem Willen meines Großvaters, der ihn für sein Geschäft in Anspruch nahm, nicht mehr widersetzen konnte. Wir drei, Vater, Mutter, Kind schliefen nun zusammen über der eigentlichen Wohnung in einer Mansarde, wo mein Bett in einer Nische stand – »Eck« heißt das süddeutsch –, und ich fing an, pavor nocturnus und auch tagsüber Angst vor dem Schlafen dort zu entwikkeln, über die ich aber nicht sprechen konnte, weil ich mich ihrer schämte. Ich versuchte meine Angst, die mich im Dunkeln überfiel und tagsüber als Furcht davor quälte, geheimzuhalten. Das wurde mit der Zeit immer schlimmer, bis ich dann eines Nachts völlig überzeugt war, ein Gespenst habe im Schrank geklopft und geklopft und würde nun gleich herausfahren und erscheinen. Diesmal war meine Panik so groß und so ununterdrückbar, daß ich mein Bettzeug packte und nach unten in die großelterliche Wohnung floh. Und so schaffte ich es, daß ich aus der Spukmansarde ausquartiert und mein Bett ins Wohnzimmer meiner Eltern gestellt wurde, das neben dem Schlafzimmer meiner Großeltern lag. Und von da an war alles wieder in Ordnung, ich hatte meinen eigenen Schlafraum, fühlte mich wohlbehütet in der Nähe der Großeltern hinter der geschlossenen Tür und schlief sanft und ruhig. Ich erinnere mich nicht, nachts da oben in der Mansarde meine Eltern im Ehebett gehört zu haben, und mit keinem Wort wurde je in der Familie benannt, jedenfalls kam es mir nie zu Ohren, daß es vielleicht nicht in Ordnung war, daß ich bei den Eltern im Zimmer schlief und daß es um einen eigenen Raum für mich ging. Die von allen akzep99

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tierte Familienmeinung war einfach, ich hätte Angst vor dem Raum da oben, dieser verwinkelten alten Mansarde mit der dunklen Tapete in der Nähe des Dachbodens mit seinem faszinierend unheimlichen Gerümpel. Natürlich war diese Situation in meiner Analyse zur Sprache gekommen, aber es war dabei etwas offen oder vielleicht ja auch verschlossen, dem erinnernden Gefühl nicht zugänglich geblieben. Ein überpersönliches, allgemeines Wissen, die Konstruktion, daß es da um meine Urszene gegangen sein mußte, war ausgesprochen und akzeptiert worden, ohne mich wirklich zu erfassen. Erst mit dem Erlebnis im Taxi, das in der rue Kageneck (Eck!) halten sollte, als ich halten und schließen verwechselte und mich deswegen so unverhältnismäßig schämte, kam das Erlebnis wirklich in der Sprache an, wurde es mir in seiner sprachlichen Dimension bewußt. Ich erkannte, daß es der Kinderreim gewesen sein mußte, der es mir möglich machte, meiner Angst Abhilfe zu schaffen, die Tür als etwas Fehlendes wieder einzuführen, ohne daß ich damals davon ein bewußtes Wissen zu haben brauchte (als Ersatz für dieses unbewußte Wissen meldete sich wie eine richtige Wahnvorstellung die Phantasie der aufzuspringen drohenden Schranktür). Der Übersetzungsreim, der Reim, der eine Entsprechung zweier Sprachen darlegt, lautet ja: Ein männliches Wesen, ein weibliches Wesen, die Türe zu, so soll es sein. (Daß es sich beim Ochsen um ein kastriertes Männchen handelt und was ich mir damals darunter vorstellen konnte, diesen Faden zu verfolgen würde in diesem Zusammenhang zu weit führen.) Also Türe zu, wenn ein Paar zusammen ist, so sagte es das Französische, so übersetzte es das Deutsche, so war es bei den Franzosen, so konnte es bei den Deutschen auch sein, so hatte es seine Ordnung. Und diese Ordnung war mir durch Erfahrung ja bereits einmal gegeben gewesen. Aber da oben in meiner Ecke in der Mansarde war keine Tür mehr zu schließen, allenfalls hätte ich, wäre ich dazu in der Lage gewesen, im Schlaf aufgestört durch beunruhigende unverständliche Vorgänge drüben im Ehebett rufen können: »Halt!« Aber das war dem natürlich damals noch längst nicht »aufgeklärten« Kind unmöglich, wie sollte es einem Spuk »Halt!« zurufen! Es war in seiner Angst so ausgeliefert und ohnmächtig, wie es vorher auf einer anderen Ebene und aus anderen Gründen dem Vater in seiner politischen Ohnmacht nicht möglich gewesen war, den Vorgängen im Nazideutschland durch lauten Protest Einhalt zu gebieten. Aber wer nicht deutlich protestiert, wird kaum Gefühlen der Scham und Schuld wegen Komplizenschaft entgehen. Und so vermengen sich hier zwei Unordnungen, zwei gravierende Störungen in der großen Geschichte und in der kleinen subjektiven: Wegen Hitlers Krieg und dessen Folgen, der durch seinen passiven Widerstand der Krankheit abgebrochenen Karriere meines Vaters und der französischen Besatzung, die den Wohnraum so knapp machte, war ich um die häusliche Ordnung einer zwischen mir und dem Elternpaar zu schließenden Tür gebracht worden, aber dennoch hatte die Begeg100

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nung mit der fremden Sprache der Besatzungsmacht es ermöglicht, die Ordnung aufs neue zu setzen – sprachlich –, die zu schließende Tür, die jetzt fehlte, zu benennen und sie damit auch materiell in der Wirklichkeit wieder einzuführen, sie anderswo zu suchen. So hatte also meine kindliche Kannitverstan-Frage »Wie können die Franzosen mit diesen unverständlichen Lauten einander verstehen?« zu dem Ergebnis geführt, daß es mehr als eine Sprache braucht, mehr als die Muttersprache, daß manchmal ein Aufeinandertreffen mit einer fremden Sprachordnung nötig ist, um in der Muttersprache eine Unordnung, ein Fehlen, eine Lücke im Symbolischen deutlich zu machen, aussprechen zu können. Mir war diese Lücke nicht bewußt geworden, sie hatte dafür Angst ausgelöst. Ich war aus dem Raum, wo sie aufklaffte, ausgezogen, weil die Angst es mir unmöglich gemacht hatte, mich dort aufzu-halt-en. Ich war weggegangen aus der Mansarde, hatte mich selbst aus den Vorgängen zwischen meinen Eltern, die mich ja nichts angingen und angehen durften, ausgeschlossen. Ich war genau aus dem Grund weggegangen, daß ich und auch die Eltern nicht fähig gewesen waren, den Signifikanten »Halt!« auszusprechen, der mir so lange Zeit danach in meinem Französischen wieder seinen Dienst versagte. Die Scham, die mich damals daran hinderte und die mich mit alter Wucht im Straßburger Taxi wieder überfiel, hat gewiß damit zu tun, daß ich etwas verwechselte, hat mit einer tiefer liegenden Verwechslung zu tun als der, die mir zwischen fermer und arrêter passierte. Ich schämte mich in Straßburg eines sprachlichen Fehlers, der mir wider besseres Wissen unterlaufen war, ich wußte es ja, daß fermer etwas anderes bedeutet als arrêter. Ohne es wahrzuhaben, wußten aber damals auch wir ganz bestimmt alle, Eltern, Großeltern und Kind, den unbewußten und peinlichen Grund meiner Angst, wußten wir, daß diese Situation hätte unterbunden werden, hätte aufhören müssen. Und daß dieser Grund für mich ganz besonders genierlich war, lag sicher daran, daß ich dieses Genießen der Eltern, aus dem ich ausgeschlossen war, auf verwirrende Weise mitgenoß, ohne dafür einen mir explizit angewiesenen Platz einnehmen zu können. Daß ich mich in diesem Mitgenießen, in diesem räumlich erzwungenen Dabeisein, das ja keines sein sollte, also verschwiegen, geleugnet wurde, an die Stelle meiner Mutter phantasierte, mich mit ihr verwechselte. Und so erweist sich nachträglich mein erstes Weggehen aus der Eltern-Kind-Gemeinschaft als durch Fremdsprache bedingt, durch die Existenz einer fremden Sprache ermöglicht. Durch die Begegnung mit der fremden Sprache hatte sich mein Ausgeschlossensein aus der Geschlechtsbeziehung der Eltern symbolisiert – es war nicht als mein, sondern als ein mir fremdes, ja tierisches Genießen benannt worden. Und das hatte es mir möglich gemacht, mich zu rühren, mich fortzubewegen, dem angstvoll genußreichen Bann zu entrinnen, eigene Räume zu beziehen. Meine Kannitverstan-Frage nach dem mir unver101

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ständlichen sprachlichen Funktionieren des Französischen hatte sich durch die Antwort, die ich darauf erhielt, wie die meisten kindlichen Fragen als eine nach den Rätseln des Geschlechtlichen herausgestellt, und ich hatte durch den Übersetzungsreim gerade so viel Auskunft bekommen, wie ich brauchte, um diese Situation zu lösen und hinter mir zu lassen. Das Genießen der anderen war (in Gestalt eines Entzugs hinter verschlossener Tür) zur Sprache gekommen, gewiß als Entsprechung der verschiedenen Sprachen und derer, die sie sprechen, aber doch vom Französischen ausgehend, der Sprache der Besatzungsmacht, die in meinen kindlichen Augen sehr viel glanzvoller, sehr viel besser gestellt waren als wir und offenbar unbekannte, verlockende Genüsse genossen. Es ist also nicht verwunderlich, daß Frankreich das erste Ausland war, wo ich hin wollte und das ich mir früh vertraut machte (ich war erst dreizehn bei meiner ersten selbständigen Reise zu einer mir noch unbekannten Familie im Burgund). Aber die fremden Genüsse waren als ausländische auch weniger unheimlich (im Freudschen Verneinungssinn des Worts). Fremdes konnte man kennenlernen, sich vertraut machen, sich erobern, es hatte nicht das Unheimliche des elterlichen Genießens. Das ist freilich nichts Besonderes. Viele ödipale Verstrickungen werden durch Grenzüberschreitungen ins Fremde gelöst, Überschreitungen sprachlicher, nationaler, rassischer, religiöser, ständischer, weltanschaulicher Grenzen. Bei mir lief der notwendig das Fremde durchquerende Weg hin zum eigenen Genießen über fremde Sprachen. Und es ist natürlich ein Zufall – so wie es ein Zufall war, daß ich nach dem Studium in Italien landete –, daß der Signifikant fermare im Italienischen nicht schließen, sondern stillestehen, festmachen, aufhalten, anhalten bedeutet – und: bleiben. Fermati! kann heißen »Stillgestanden! Halt!« und »Bleib doch da!« Im Italienischen war keine zu schließende, mich auschließende Tür mehr vonnöten, ich hatte mir den fremden Raum (Sprachraum) erobert, in dem Platz für mein Genießen war und sein durfte. Ich blieb da, fünfzehn Jahre lang! Die Sprache ist ein Tresor von Zufällen. Alle diese Entdeckungen wurden ja schließlich ausgelöst durch den Anlaß in Straßburg, zu dem ausgerechnet »Apertura« geladen hatte, ein Eigenname für eine französischsprachige psychoanalytische Gruppe, der ein italienischer Signifikant ist und »Öffnung« oder auch »Eröffnung« bedeutet. Es gehört in diesen Zusammenhang, daß ich mich in Italien erst eine Zeitlang abgeschlossen, mich in den romanischen Sprachraum eingeschlossen habe, um zu dem zu finden, was mich interessierte, was ich mir zu eigen machen wollte. Und daß mit der Wiederbegegnung mit der Muttersprache im Kontext der Lacanrezeption eine Öffnung und Problematisierung dieses sprachlichen Abgeschlossenseins vor sich ging, die schließlich zu der Rückkehr ins Deutsche, in den deutschen Sprachraum führte, der inzwischen fremd genug geworden war, um mich reizen zu dürfen. Ich 102

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bin bei der Psychoanalyse geblieben, allerdings unter der Bedingung, daß ich mir ihre Praxis nicht anders vorstellen kann als mit der von Lacan eingeführten Zäsur der Sitzung, die ja jedesmal ein »Halt! Danke! Es ist genug für heute« bedeutet, ein »Halt!«, das im ambivalenten Wortsinn ein Aufhören (also auch ein Aufhorchen) ist, so daß ich in meiner Praxis nun immer genau das tue, zu was ich im Bett in der Mansarde nicht imstande war, weil der Signifikant dafür fehlte. Und in denselben Zusammenhang gehört, daß ich mir im Zuge dieser Rückkehr eine Nebentätigkeit, eine zusätzliche Praxis als Übersetzerin literarischer Texte geschaffen habe, die mir zur Erholung von der Psychoanalyse dient. Diese Übersetzungen veröffentliche ich unter einem Pseudonym, also gewissermaßen heimlich. Als ich dieses Pseudonym wählte, fand ich den Nachnamen einer Urgroßmutter besonders geeignet, weil er erstens ganz gewöhnlich ist, also nicht als Pseudonym erkennbar, und zweitens neben einer Berufsbezeichnung auch das Bewohnen einer Ecke bedeuten könnte. Die Ecke mit meinem Kinderbett in der Mansarde war mir freilich dabei nicht in den Sinn gekommen, aber deutlich hat auch hier immer noch die im Kinderreim beschworene Szene nachgewirkt. Sich übersetzend auf einen literarischen Text einzulassen, heißt mitgenießen müssen, gezwungen sein, an einem fremden Genuß teilnehmen, auch wenn man manchmal voller Verzweiflung am liebsten den jeweiligen Autor einen dummen Ochsen oder eine blöde Kuh schelten würde. Deswegen übersetze ich nicht gerne theoretische Texte, es sei denn wirklich zutiefst von mir bewunderte. Und höchstwahrscheinlich, aber das dämmert mir erst jetzt, hängt damit meine seit jeher bestehende, mit Selbstkritik rationalisierte Hemmung zusammen, die es mir verbietet, eigene literarische Texte zu schreiben, obwohl ich mir das als den höchsten Genuß vorstelle. Und immer wieder muß man beim Übersetzen anhalten, weggehen, die Sache auf dem Schreibtisch liegen lassen, bis man sich ihr wieder zuwenden kann. Wer sich hermetisch in einen Sprachraum einschließt, die Berührungen mit anderen Sprachen an den Grenzen vermeidet und diese Grenzen nie zu überschreiten sucht, riskiert Stillstand und gründliche Mißverständnisse. Er kann zum Beispiel glauben, er verstünde seine eigene Sprache, verstünde sie richtig und ganz, und er wisse, was er sage. Jeder Versuch, eine fremde Sprache zu sprechen, erschüttert diese falsche – Lacan würde sagen »idio-(ma)-tische« – Sicherheit. Daher wird auch die Muttersprache, die jemand in seiner Analyse spricht, erst einmal zur Fremdsprache werden müssen, und daher ist es möglich, seine Analyse in einer Fremdsprache zu machen, unter der Bedingung, daß diese nicht zur scheinbar einzigen Sprache wird, in die man sich einschließt, in der man sich seiner eigenen Geschichte verschließt, die ja eine subjektive Sprachgeschichte ist. Ein Spezialfall der Sprache, situiert zwischen Muttersprache und Fremdsprachen oder besser gesagt 103

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jenseits von ihnen, abgelegen, sind die Fachsprachen, die ganz auf kunstreich-künstlicher Einführung von Ordnung beruhen, ganz der Ordnung dienen und so weit es geht, Konsense festlegen, um die verwirrende Vieldeutigkeit und Ambivalenz der natürlichen Sprache einzudämmen. Sie sind unvermeidlich zur Verständigung über ein sagbares Wissen. Aber gerade wer sich in sie einschließt, wer vergißt oder nicht beachtet, daß ihre Gültigkeit und ihr Wert und ihre Brauchbarkeit sich nur kraft ihrer Grenzen herstellt, die ständig überschritten werden müssen, damit der Bezug zur eigentlichen Sprache nicht verlorengeht, wer also vergißt, daß er sich ständig selbst wieder zurückübersetzen muß, was er in der Fachsprache denkt, und daß die Fachsprache immer einer offenen Passage vom gewöhnlichen, alltäglichen Sprachlichen, eines Transferts, einer Übertragung bedarf, damit sie nicht verödet, der schließt sich ein in einen Jargon, den er um so besser zu verstehen glaubt, als er jeglichem Kannitverstan-Mißverständnis aus dem Weg geht, jede unvermutete Begegnung mit sich als Subjekt vermeidet. So gibt es ein ungestörtes Genießen des Wissens. Gerade in der Psychoanalyse ist ein solcher Jargon im Grunde aber unmöglich, da sie schließlich vom Unbewußten in der Sprache handelt. Die Psychoanalyse, wie ich sie kenne, trägt die Marke zweier Eigennamen: Freud und Lacan. Es ist eine bittere Ironie der Geschichte der Psychoanalyse, daß ausgerechnet »Lacanianer« – in einem Mißverständnis, an dem Lacan selbst gewiß nicht unschuldig ist – sehr zu Jargon neigen, in sämtlichen verschiedenen Sprachen, in denen es inzwischen Lacanianer gibt. Deswegen ist es mir so wichtig, daß in der Arbeit an der Psychoanalyse Sprachgrenzen überschritten werden, daß es Anlässe gibt wie zum Beispiel diese Tagung, an denen Sprachen und Diskurse aufeinandertreffen und den Zufällen und Einfällen und Einbrüchen des Übersetzens ausgesetzt werden.Wenn wir in der Praxis der Psychoanalyse auf das Nichtverstehen verzichteten, würden wir kaum mehr etwas uns Neues entdecken und auch vor lauter Klarheit das bereits Verstandene nicht mehr verstehen. Daher sollten wir uns ab und zu ruhig aufmachen und – ich entschuldige mich für den Kalauer – ein »Lacannitverstan«Erlebnis riskieren.

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Wie man einen Autor ver-setzt, indem man ihn über-setzt.1 Mißglückte Begegnungen mit Lacan Gerhard Schmitz

Unter den Fehlleistungen, die Freud in der Psychopathologie des Alltagslebens analysiert und deren Determiniertheit durch unbewußte Motive er in zuweilen verblüffender Weise aufzeigt, findet sich im Abschnitt »Das Vergessen von Vorsätzen«2 auch die, die wir alltagssprachlich ›jemanden versetzen‹ nennen. Freud illustriert sie – gewiß nicht zufällig – an einem Beispiel aus dem Bereich des Liebeslebens: »Ein Liebhaber, der das Rendezvous versäumt hat, wird sich vergeblich bei seiner Dame entschuldigen, er habe leider ganz vergessen. Sie wird nicht versäumen, ihm zu antworten: ›Vor einem Jahre hättest du es nicht vergessen. Es liegt dir eben nichts mehr an mir.‹ Selbst wenn er […] sein Vergessen durch gehäufte Geschäfte entschuldigen wollte, würde er nur erreichen, daß die Dame – so scharfsinnig geworden wie der Arzt in der Psychoanalyse – zur Antwort gäbe: ›Wie merkwürdig, daß sich solche geschäftliche Störungen früher nicht ereignet haben.‹ Gewiß will auch die Dame die Möglichkeit des Vergessens nicht in Abrede stellen; sie meint nur, und nicht mit Unrecht, aus dem unabsichtlichen Vergessen sei ungefähr der nämliche Schluß auf ein gewisses Nichtwollen zu ziehen wie aus der bewußten Ausflucht.«3 Die Szene, die Freud hier entwirft, auf das Verhältnis des Übersetzers zum Text zu übertragen, wird nicht unmittelbar einleuchten. Zwar ließe sich der Übersetzer als »Liebhaber« denken und der Text als seine jeweilige »Dame«, schließlich aber ist ein Text kein sprechendes Subjekt, er kann dem Übersetzer also weder Vorhaltungen machen noch Deu-

1. Überarbeitete Fassung des gleichnamigen Vortrags bei der internationalen Tagung »Übertragung – Übersetzung – Überlieferung« am Wissenschaftlichen Zentrum für Kulturforschung der Universität Gesamthochschule Kassel, 14.–16.7.2000. 2. Sigmund Freud: »Zur Psychopathologie des Alltagslebens«, in: ders., Gesammelte Werke, 4. Bd., London 1941, S. 168 ff. 3. Ebd., S. 169. 105

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tungen anbieten. Und vor allem: Wie hätten wir uns bei diesem Verhältnis das ›Versetzen‹ vorzustellen? Müßte, damit mein Vergleich sich nicht alsbald von selbst erledigt, der Übersetzer nicht in der Tat vergessen haben, den Text zu übersetzen? Immerhin – in der Praxis soll das gelegentlich schon vorgekommen sein und ließe sich also nach der Weise Freuds deuten. Die Analogisierbarkeit der beiden Situationen endet aber doch recht schnell – es sei denn, man entschließt sich dazu, den Vergleich auf eine andere, eher strukturelle Ebene zu überführen. Dann wird deutlich, daß es beim Übersetzen ungleich subtilere Möglichkeiten des ›Versetzens‹ gibt als das physische Nichterscheinen vor dem Text. Auch daß ein Text nicht protestieren kann wie Freuds »Dame«, muß die Analogie nicht zu Fall bringen – im Gegenteil: Gerade weil der Text dies nicht kann, läßt er sich, meist folgenschwerer für seine künftigen Leser als für den Übersetzer, in Permanenz ›versetzen‹. Damit nicht genug. Ebenso wie in Freuds Beispiel die Verabredung nicht der Adressat des Vergessens ist (dieser ist die »Dame«), sondern dessen performativer Ort, so ist der Text das Feld, der Schauplatz, auf dem das unbewußte Motiv hinter dem ›Versetzen‹ sich ausagiert. Seine eigentliche Verabredung hat der Übersetzer nämlich, ob ihm das bewußt ist oder nicht, mit dem Autor des Textes – dieser ist die »Dame«, ihm gilt die Fehlleistung, deren sich der Übersetzer als eines »Mittels zum Zweck« bedient. Eine Übertragungshandlung also innerhalb einer Situation, die, wie Freud uns versichert, eine »echte Liebe« ist. Ich werde mich an dieser Stelle nicht mit dem mittlerweile arg gezausten Begriff der »Arbeitsübertragung« befassen – ich überlasse das einem Berufeneren, den ich gleich ausführlich zu Wort kommen lasse. Was ich an dieser Stelle hervorheben will, ist, daß der Übersetzer einen Text viel effektiver dann ›versetzen‹ kann, wenn er die Verabredung einhält, also den Text übersetzt. Auch worin dieses ›Versetzen‹ besteht, wird jetzt benennbar: Es ist das Übersetzen als solches. Wohlgemerkt: Das ›Versetzen‹, von dem hier gesprochen werden soll, äußert sich auch, aber nicht nur in dem, was wir als Übersetzungsfehler zu bezeichnen gewohnt sind. Ein solcher Fehler ist sozusagen noch der harmloserer Fall. Das französische »bœuf« mit »Kuh« zu übersetzen wäre ein Übersetzungsfehler. Um zu verdeutlichen, daß das ›Versetzen‹ weit über die Produktion von Fehlern dieser Art hinausgeht – auch dann, wenn sie gehäuft auftreten –, stelle ich die Komposita des Wortes »Übersetzungsfehler« um. Aus dem Übersetzungsfehler wird dann die Fehlübersetzung. Sie nun betrifft eine andere Ebene als die rein lexikalische. Die Fehlübersetzung ver-fehlt den Text als ganzen, sie geht fehl gegenüber seiner metaphorisierenden Bewegung, der Bewegung der Sinnerzeugung, ohne – und das ist entscheidend – daß sie dabei auf der lexikalischen Ebene Fehler begehen müßte. Sie nimmt die Bewegung des Ausgangstextes scheinbar auf, subvertiert sie dabei 106

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WIE MAN EINEN AUTOR VER-SETZT, INDEM MAN IHN ÜBER-SETZT

aber, indem sie Sinn »springen läßt« – das durchaus, nur eben: einen unterschobenen, kuckuckseihaften Sinn. Oder um es in Anlehnung an Herman Rapaports Wortfindung vom aus seiner Theorie »herausgeschriebenen« Autor zu sagen: Sie übersetzt den Autor aus seinem Diskurs »hinaus«.4 Die Fehlübersetzung geschieht, das sei hier ausdrücklich betont, zumeist ohne bewußte Absicht. Deshalb bleibt sie von dem, der sie verursacht, meistens unbemerkt. Andernfalls würde sie unverzüglich die Korrektur nach sich ziehen. Insofern ist sie eine echte, eine gelungene Fehlleistung. Freud legt in seinem Beispiel der Dame eine ›wilde Deutung‹ in den Mund: ein »gewisses Nichtwollen« auf seiten des Liebhabers, das als unbewußtes Motiv für das ›Versetzen‹ lesbar wird. Damit rückt er die Fehlleistung in die Nähe eines anderen psychischen Mechanismus, des Widerstands, dessen Verflochtenheit mit der Übertragungssituation kaum eigens betont werden muß.5 Sehen wir nun, ob sich die behauptete Analogie auch unter diesem Aspekt halten läßt.

I Wer das Seminar Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse gelesen hat, wird sich an Lacans Ausführungen zum vel alienationis erinnern. Lacan zeigt dort, daß in der Disjunktion »Entweder oder« stets ein »Kein ›+‹ ohne ›-‹« steckt. So impliziert die aufgezwungene Wahl »Geld oder Leben« in jedem Fall einen Verlust: Wähle ich das Geld (+), verliere ich das Leben (-) (und im Gefolge dessen dann auch noch das Geld), wähle ich das Leben (+), verliere ich das Geld (-). Nun kann man sich auf diese Wahl auch nicht einlassen wollen, und dann wird man den Verlust, das Ins-Minus-Setzen des zweiten Terms ablehnen. Das wäre dann »Ich will das Geld, aber nicht ohne das Leben« bzw. »Ich will das Leben, aber nicht ohne das Geld«. Ebendies expliziert Lacan zunächst am bei Hegel entlehnten Beispiel des Knechts: »La dialectique de l’esclave, c’est évidemment pas de liberté sans la vie«6 [»Die Dialektik des Knechts, das ist ganz offen-

4. Vgl. Herman Rapaport: »Genehmigung erteilt, oder Jenseits des Phantasmas«, in: RISS, Zeitschrift für Psychoanalyse 35 (1996), S. 73. 5. Stichworte sind hier »Übertragungswiderstand« und »negative Übertragung«; vgl. dazu Sigmund Freud, »Zur Dynamik der Übertragung«, in: ders., Gesammelte Werke, 8. Bd., London 1943, bes. S. 371. 6. Le Séminaire de Jacques Lacan. Texte établi par Jacques-Alain Miller. Livre XI, Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse, 1964, Paris 1973, S. 197 (Hervorhebung im Original); dt.: Das Seminar von Jacques Lacan. Buch XI (1964), Die vier Grund107

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sichtlich Keine Freiheit ohne Leben«]. Was also will der Knecht? Er will sowohl die Freiheit als auch das Leben, er will beides, er will auf keines von beiden verzichten, er will auf keiner Seite eine Einbuße erleiden. Selbstredend ist das keine Wahl, die die Entfremdung auf sich zu nehmen bereit ist, es ist eine Maximalforderung – anders gesagt: eine demande, ein Anspruch, mittels dessen die Entfremdung umgangen werden soll. Lacans Kommentar zur Dialektik des Knechts fällt entsprechend eindeutig aus: »[…] mais il n’y aura pas pour lui de vie avec la liberté.«7 [»…, aber es wird für ihn kein Leben mit der Freiheit geben.«] Wenn der Knecht nicht Herr wird, dann genau deshalb, weil er das ›-‹, den Verlust, die Einbuße bzw. die Entfremdung nicht hinnehmen will, und zwar indem er das »ohne …« zum »nicht ohne …« positiviert.8 So glaubt er der Wirkung des vel entgehen zu können. Lacan gibt seinen Ausführungen dann eine überraschende Wendung, indem er die Formel »pas de … sans …« [»kein(e) … ohne …«] auf die Situation seines Unterrichts bzw. die Stellung seiner Schüler zu ihm anwendet: »Pas moyen de me suivre sans passer par mes signifiants«9 [»Kein Mittel, mir zu folgen, ohne durch meine Signifikanten zu gehen«]. Das entbehrt nicht einiger Subtilität. Aufgelöst heißt das: Wer mir folgen will (+), muß durch meine Signifikanten (-). Lacan ist sich also bewußt, daß das »Durch-seine-Signifikanten-Gehen« eine Entfremdung beinhaltet – und daß diese Entfremdung eine Einbuße im und des Imaginären ist, das läßt er im nächsten Satz erkennen: »[M]ais passer par mes signifiants comporte ce sentiment d’aliénation qui les incite à chercher, selon la formule de Freud, la petite différence.«10 [»Aber durch meine Signifikanten zu gehen bringt dieses Gefühl von Entfremdetheit mit sich, das sie, gemäß der Formel Freuds, dazu reizt, den kleinen Unterschied zu suchen.«] Daß Lacan hier verkürzt, scheint mir nicht zufällig – Freud spricht an der gemeinten Stelle vom »Narzißmus der kleinen Unterschiede«11. Wie erinnerlich, galt Lacans Diagnose einer terminologischen Absetzbewegung, einem »écart« seitens eines früheren Schülers und

7. 8. 9. 10. 11.

begriffe der Psychoanalyse. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. v. Norbert Haas, Olten / Freiburg i.Br. 1978. Ebd. (Hervorhebung durch mich, G.S.). Etwa in dem fiktiven Wortwechsel: »Du willst das Leben? – Gut, aber ohne die Freiheit« Replik: »Ich will das Leben – aber nicht ohne die Freiheit«. Ebd., S. 198 (Hervorhebung durch mich, G.S.). Ebd. Sigmund Freud: »Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens. III. Das Tabu der Virginität«, in: ders., Gesammelte Werke, 12. Bd., London 1940, S. 169 (Hervorhebung durch mich, G.S.). 108

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engen Vertrauten. Was war geschehen? Lacan selbst hatte Freuds »Vorstellungsrepräsentanz« durch »représentant de la représentation« übersetzt – und damit »wörtlich«, wie er hervorhebt. Nun war in einem Buch, das sich auf einen Text zweier Schüler berief, eine konkurrierende Übersetzung diskutiert und als »Verkennung« kritisiert worden – die Übersetzung von »Vorstellungsrepräsentanz« durch »représentant représentatif«, was ins Deutsche rückübersetzt etwa »Repräsentativrepräsentant« ergibt. Worum ging bei dieser Variante? Es ging, so deutet Lacan es, darum, ihn, den »maître«, zu korrigieren. Aber aus welchem Motiv heraus? Lesen wir Lacan selbst. Die Entfremdung, die als Bedrohung erlebt wird, ist ja nicht ohne Zusammenhang mit dem Idealich, dem narzißtisch aufgeladenen Bild des moi denkbar. Ihm gilt die Entfremdung, die Bedrohung durch die Einbuße, durch das Schwinden als Subjekt. Was denjenigen motivierte, der sich durch seine Korrektur in den »Narzißmus der kleinen Unterschiede« rettete, war, so Lacan, daß er »animé«, »beseelt« war »par le souci des privilèges de l’autorité universitaire, et infatué d’entrer en fonction«12 [»von der Sorge um die Privilegien der universitären Autorität und voll Einbildung darüber, ein Amt anzutreten«].

II In Berlin fand 1978 auf Initiative der dort lebenden Mitwirkenden an der deutschen Lacan-Ausgabe ein Symposium statt, und zwar kurz vor dem Erscheinen der deutschen Übersetzung des Seminars XI. Auf diesem Symposium, das u. a. auch zum Zwecke der Gründung einer Schule einberufen worden war, hielt Norbert Haas als damals maßgeblicher deutscher Übersetzer Lacans einen kurzen Vortrag, der sich mit der Frage des Übersetzens speziell Lacans beschäftigte.13 Schon in seinem ersten Satz kündigt der Vortragende an, davon sprechen zu wollen, »was es heißt, in der Transkription des geschriebenen und des gesprochenen Werks von Jacques Lacan unter den Signifikanten Lacans durchzumüssen.«14 Wir erkennen die Anleihe beim Seminar XI – was nicht weiter verwunderlich ist, steht der Vortragende doch noch ganz unter dem Eindruck seiner Übersetzungsarbeit –, und wir sähen uns schon zustimmungsbereit, wäre da nicht etwas, daß uns innehalten ließe im Sinne einer Irritation: eine kleine Abweichung, eine

12. J. Lacan: Les quatre concepts, S. 198. 13. Norbert Haas: »Was heißt Lacan übersetzen?«, in: Lacan lesen. Ein Symposion (= Der Wunderblock. Zeitschrift für Psychoanalyse, Sondernummer 1), Berlin 1978, S. 49–58. 14. Ebd., S. 49. 109

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minimale Differenz zum Wortlaut des Originals. Schauen wir also näher hin. Haas spricht davon, »unter den Signifikanten Lacans durchzumüssen«. Ins Französische übersetzt wäre das »devoir passer sous les signifiants de Lacan«. Lacan hatte aber von »passer par mes signifiants« gesprochen, also vom »durch … hindurch«. »Unter … durch«, das erweckt Bilder des kurzzeitigen Bückens, Duckens, Sich-klein-Machens, damit man nicht anstößt, nicht hängen- oder steckenbleibt – auch des Untendrunterdurchkriechens, beispielsweise unter einem Stacheldrahtzaun. Lacans Signifikanten als Weghindernis? Oder etwa – womit wir näher an Lacan blieben – als Barriere, unter der wir ja auch bisweilen durchschlüpfen im Bewußtsein, ein Zutrittsverbot zu über-treten? Noch andere Bilder werden wach. So läuft zum Beispiel der Italien-Kenner unter dem berühmten toskanischen Frühlingsregen »einfach durch«, was nichts anderes besagen will, als daß dieser Regen für ihn nicht dieselben Unbequemlichkeiten birgt wie unsere hyperboreischen Sintfluten, daß man also nicht wirklich durchnäßt wird. Es genügt, ein wenig seinen Schritt zu beschleunigen, und schon ist man »drunter durch« – und weg. Gleich was die Bilder evozieren: Das »drunter … durch«, das das Unterlaufen von etwas impliziert, das inkommodiert, geniert, in jedem Fall aber unwillkommen ist – es ist etwas anderes als das »durch … hindurch«, das Lacan dem zumutet, der ihm folgen will. Folgen wir aber zunächst dem Vortragenden weiter in seine Ausführungen zur Problematik des Übersetzens eines Seminars von Lacan. Der Transkriptor, so lesen wir, habe, wenn der Text die Bewegung hat, zu lehren – etwas, das bei den Seminaren Lacans zweifellos der Fall ist –, sich dieser Bewegung unterzuordnen.15 Das erinnert uns erneut an die Einbuße, die, sagen wir es: narzißtische Kränkung, die dieses Sichunterordnen-sollen notwendig mit sich bringt. Der Vortragende weiß, wovon er spricht, ja, er sagt ausdrücklich, er wolle »damit aus der Erfahrung sprechen«, und er kennt auch die Reaktion auf diese Zumutung: »Es gibt sofort die Versuchung […] der ›kleinen Differenz‹, die Versuchung, hier und da am Text zu drehen, und sei’s durch Philologie, durch den Apparat, durch den Kommentar.« Oder auch, so wäre jetzt zu ergänzen: durch das über-setzende Er-setzen eines »par« durch ein »sous«. Hören wir aber weiter: »Diese Versuchung zur kleinen Differenz ist, wenn sie bemerkt wird, zu begreifen als Widerstand des Übersetzers.«16 Ja, eben: »wenn sie bemerkt wird.« Es gibt Übersetzer, die spekulieren über die depressive Position des

15. Ebd., S. 50. 16. Ebd. 110

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Übersetzers. Über den Widerstand des Übersetzers nachzudenken erscheint mir bisweilen wichtiger. Denn man kann noch soviel über diesen Widerstand sprechen, man kann ihn benennen und problematisieren, ohne daß er dadurch an Virulenz einbüßt. Im Gegenteil: Je massiver die Entfremdung erlebt wird, desto manifester zeigt sich ein aggressives Potential, das sich im, viel mehr noch aber als Übersetzen buchstäblich »ins Werk setzt«. Wenn nun dieser Widerstand seine Wirkungen ausgerechnet beim Übersetzen Lacans zeitigt, so entbehrt das nicht eines tragikomischen Zugs. Greifen wir noch eine weitere Stelle aus Haas’ Vortrag heraus. Dort wird die Frage gestellt, »ob es der Transkription gelingt, ohne Rücksicht auf Vermittlung von Sinn das, was ihren Vorwurf bewegt, die Bewegung der Sprache […] in einer anderen Sprache wiederzugeben.«17 Der Vortragende macht daraus eine Gelingensfrage des Übersetzens, zumal von Lacans Seminaren. Übersetzen »ohne Rücksicht auf Vermittlung von Sinn«, um die »Bewegung der Sprache« – hier also der französischen – wiederzugeben, ist ein anspruchsvolles Unterfangen. Wieder scheint das Lacansche »vel alienationis« durch. Mir allerdings scheint nicht entschieden, daß eine Übersetzung der Wiedergabe der Bewegung der Ausgangssprache notwendig immer dann Eintrag tut, wenn sie Rücksicht auf Vermittlung von Sinn nimmt. Ich sehe nicht, warum nicht beides gelingen können soll. Lacan sagt unablässig, daß Sinn Effekt der Metaphernbildung sei, der Substitution eines Signifikanten durch einen andern. Was aber ist Übersetzen anderes als ein Substituieren? – das freilich nicht willkürlich geschehen darf. Lacans berühmtes Beispiel aus Hugos »Booz endormi« zeigt das deutlich. Jede Sprache hat ihre eigenen »Bewegungs-Gesetze«. Wenn ich die der einen in der anderen mimetisch abbilde, stoße ich bald an die Grenzen, die mir die Gesetze dieser anderen ziehen. Man kann diese Grenzen ausdehnen, man kann sie als solche sichtbar machen. Das wäre ein analytisches Übersetzen. Wenn ich aber »La casse se paie!« so übersetze, daß ich das für das Französische (und alle anderen romanischen Sprachen) charakteristische Reflexivum des »se paie« mimetisch im Deutschen durch »bezahlt sich« nachbilde – kann ich dann sagen, ich hätte die Bewegung des Französischen, die »volle Grammatizität des Originals« in meiner Sprache »freigesetzt«?18 Der Übersetzer ist kein Fährmann, dem es egal sein kann, was er da über-setzt, er muß stets von dem her auf sein Übersetzen schauen, was dessen Effekt ist. Wenn ich also »La casse se paie!« übersetze durch »Der Bruch bezahlt sich!«, dann eröffne ich damit eine Mehrdeutigkeit, die so nur im Deutschen

17. Ebd., S. 52 f. 18. Ebd., S. 53. 111

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möglich ist, nicht aber im Französischen. Was also habe ich dann »freigesetzt«, wenn nicht die Bewegungsgesetze meiner Sprache? Das mag zuweilen verblüffend sein, es mag auch interessant sein, verfehlt aber das, was ich mir vorgenommen hatte: die Gesetze der anderen Sprache wiederzugeben. »Ohne Rücksicht auf Vermittlung von Sinn« die »volle Grammatizität« der einen Sprache in der anderen »freisetzen« – man kann das versuchen, es führt zur Übersetzung von Lacans Encore oder zu der von Derridas Carte postale. Läßt sich das durchhalten? Die Übersetzungen selbst bestätigen es nicht. Beobachten läßt sich an ihnen vor allem, daß die Sprache keine Rücksicht nimmt auf die Rücksichts-losigkeit des Übersetzers gegenüber der Vermittlung von Sinn: Es erscheint in jedem Fall einer, wenn nicht »vermittelt«, dann vom Übersetzer selbst induziert. Denn der Übersetzer kann tun, was er will, er gibt dem, was er liest, einen Sinn, und zwar weil er interpretiert, bevor er übersetzt. Die Übersetzung zeugt dann von dieser Sinn-Gebung. Und wenn sich der Übersetzer dafür nicht interessiert, weil er ausdrücklich keine Rücksicht darauf nehmen will, dann liest sich das Produkt zuweilen nicht ohne einen Anstrich von unfreiwilliger Komik.

III Daß sich beim Übersetzen Fehler verschiedenster Art einschleichen können – und dies nach Murphys Gesetz auch tun –, ist jedem bekannt, der sich ernstlich auf dieses unmögliche Abenteuer eingelassen hat. Im folgenden möchte ich drei Arten von Fehlern vorstellen und an Beispielen illustrieren. Angemerkt sei noch, daß sie nicht typisch sind für das Übersetzen von Lacan: 1. Mangelnde sprachliche Kompetenz (Übersetzungsfehler) 2. Fehlentscheidungen angesichts grammatischer Äquivokationen in der Ausgangssprache (Mischform aus Übersetzungsfehler und Fehlübersetzung) 3. Abweichen vom Wortlaut des Ausgangstexts (Fehlübersetzung) Die beiden Beispiele für die erste Fehlerart führen uns in die Niederungen des Übersetzens, dorthin, wo die Trivialitäten der Übersetzungstheorie beginnen. Da geht es um das Handwerkszeug des Übersetzers, um seine Basiskompetenz sozusagen. Ich will hier sofort einem Mißverständnis vorbeugen: Um Lacan zu übersetzen, muß man nicht Pichon und Damourette verinnerlicht haben, ebensowenig wie es nötig wäre, den Sachs-Vilatte auswendig zu kennen. Allerdings gibt es Minimalanforderungen wie etwa das Erkennenkönnen grammatischer Formen und syntaktischer Eigenheiten der Ausgangssprache sowie der Bil112

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dungsgesetze ihrer Verbalkompositionen, und man sollte, nicht zu vergessen, die geläufigsten Redewendungen präsent haben. Daß ein Übersetzer dieser Aufgabe nicht immer gewachsen ist, hat Hans-Dieter Gondek am Beispiel der schlimm verunglückten Übersetzung von Julia Kristevas La révolution du langage poétique [Die Revolution der poetischen Sprache] herausgestellt. Was dabei herauskommt, ist, wie Gondek es drastisch nennt, »Stuß«.19 »Stuß« kann entstehen, wenn ein Übersetzer nur einen einzigen Text eines Autors kennt – den, den er gerade vor sich hat. »Stuß« ergibt sich auch dann, wenn der zu übersetzende Autor bei einem anderen Autor eine terminologische Anleihe macht, die der Übersetzer nicht als solche erkennt. Gondeks Beispiel für einen solchen Fall ist die deutsche Übersetzung von Derridas De la grammatologie, in der Lacans »parole pleine« als »erfülltes gesprochenes Wort« erscheint.20 Meiner eigenen Erfahrung nach droht »Stuß« immer dann, wenn man keine rechte Vorstellung von dem hat, wovon der zu übersetzende Autor spricht. Generell gilt: ›Schwimmt‹ der Übersetzer, dann ›schwimmt‹, und zwar merklich, auch die Übersetzung. Sie mag dann zwar formal korrekt sein, wird aber immer hölzern klingen und insbesondere eines repräsentieren: daß der Übersetzer als Leser, der er ja stets ist, nicht ›verstanden‹ hat, was er da liest und übersetzt. Allerdings gibt es auch die umgekehrte Möglichkeit: Man kann ein ›Zuviel‹ an Vorstellung von dem haben, wovon der zu übersetzende Autor spricht, und dann ergeht es einem wie Lichtenbergs HomerLeser. Gesellt sich dazu noch ein ›Zuwenig‹ an Basiskompetenz, dann ›springt‹ bei der Substitution des ›Zuwenig‹ durch das ›Zuviel‹ zwar auch ein Sinn – der aber wahlweise als »Stuß« oder als Stilblüte zu bezeichnen ist. Dazu mein erstes Beispiel. In der deutschen Übersetzung von Lacans Aufsatz D’une question préliminaire à tout traitement possible de la psychose erschallen »die Ausrufe der Liebe, wenn diese, um das Objekt ihres Epithalamiums anzurufen, mit dem Signifikanten kurz schließt und die Vermittlung des rohesten Imaginären ergreift: ›Ich fresse dich […] Chou!‹ ›Dir schwinden die Sinne […] Ratte!‹«21

19. Hans-Dieter Gondek: »Eine Nachbemerkung zu Gabrielle Hiltmanns Besprechung zweier Bücher von Julia Kristeva: ›Sprache als Medium der Veränderung von Subjekt und Gesellschaft‹ (RISS 32)«, in: RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse 33 / 34 (1996), S. 171. 20. Ebd., S. 175. 21. Jacques Lacan: »D’une question préliminaire à tout traitement possible de la psychose«, in: ders., Écrits, Paris 1966, S. 535; dt.: »Über eine Frage, die jeder möglichen Behandlung der Psychose vorausgeht«, übers. v. Chantal Creusot u. Norbert Haas, in: ders., Schriften II, Olten 1975, S. 67. 113

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Nun ist jeder, der sich schon einmal mit Lacan beschäftigt hat, zwangsläufig auch mit dessen Signifikantentheorie in Berührung gekommen, die in der Tat nicht zum Einfachsten gehört, was im Feld des psychoanalytischen Denkens diskutiert wird. Der Erwartungshorizont des Übersetzers ist also weit gespannt, was bewirkt, daß er vieles für möglich hält – unter anderem also auch, daß die Liebe bei Lacan sich den Gesetzen der Elektrizitätslehre unterstellt. Sinn ›macht‹ diese Übersetzung allemal. Wie viele Leser aber werden sich die Stirn an der Frage blutig gerieben haben, wie es wohl zugehe, wenn die Liebe mit dem Signifikanten kurz schließt? Nun – sie schließt nicht kurz mit ihm, sondern, viel banaler, sie ist »à court« – und zwar »de signifiant pour appeler l‘objet de son épithalame«, was schlicht heißt, daß ihr bei der Anrufung des Objekts ihres Hochzeitsliedes – auch das kann »épithalame« im Deutschen bedeuten – die Signifikanten ausgehen, daß sie knapp bei Signifikanten-Kasse ist – und ebendeshalb zur Vermittlung des rohesten Imaginären greift. »Etre à court de quelque chose« – »knapp sein an etwas«, das ist der Schlüssel zum Sinn von Lacans Vergleich. Der Kurzschluß verdankt sich also allein dem Nichterkennen dieser Verbalkomposition durch die Übersetzer, die in ihrer Verlegenheit wenigstens das »court«, »kurz«, retten wollten. Auch hier fällt es uns schwer, Hans-Dieter Gondek nicht Recht zu geben, wenn er feststellt, daß wir es »häufig mit Übersetzungen zu tun [haben], die nicht einmal primären Ansprüchen auf Verläßlichkeit genügen können.«22 Nicht viel besser steht es um die »Ratte«, die in der deutschen Version dem vorangegangenen »Dir schwinden die Sinne« das Gepräge einer Drohung verleiht. Es muß nicht unmöglich sein zu wissen, daß das »rat« im Original nicht nur das unappetitliche Nagetier meint, sondern auch als zärtlich hingehauchtes Kosewort fungieren kann, vergleichbar unseren »Mäuschen«, »Häschen« und sonstigen Diminutiven des verliebten Zwiegesprächs. Ein zweites Beispiel für die Produktion von übersetzerischem »Stuß«, nicht ganz so erheiternd, dafür aber die ganze Blödigkeit des übersetzenden Signifikanten enthüllend. Ich schicke voraus, daß ich es einem Hinweis von Samuel Weber verdanke. Im Seminar Encore ist vom Genießen die Rede, das sich der Zählbarkeit, dem Aufgehen in der Rechenoperation der Division entzieht. Lacan bringt hier das Beispiel von Achills Beziehung zu Briseis, der er die Zenonsche Schildkröte zur Seite stellt. Hier nun die Stelle in der Übersetzung: »Als Achilles seinen Schritt getan hat, seinen Zug gemacht bei Briseis, ist diese wie die Schildkröte ein wenig vorgerückt, denn sie ist nicht alle, nicht alle für ihn. Da bleibt er. Und Achilles muß

22. H.-D. Gondek, »Nachbemerkung«, S. 175. 114

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den zweiten Schritt tun, und so weiter.« – »Da bleibt er.«23 »Er«, soviel ist klar, das kann nur Achilles sein. Aber wo »bleibt er«? Man erinnert sich an den Wettlauf mit der Schildkröte, und man versteht: Er bleibt da, wo die Schildkröte war, als der Startschuß fiel. Briseis, in ihrem Genießen, wäre also ein Stück weitergerückt, während Achilles bleibt, wo er in dem seinen, dem phallischen, zum Stehen gekommen ist. Noch einmal Rekurs zu Lacan: Das Genießen des Anderen ist im phallischen Genießen nicht abbildbar, sie haben keinen gemeinsamen Nenner. Und wenn der Mann das Genießen der Frau noch so oft durch den Divisor seines eigenen teilt – stets stößt er auf ein Mehr, einen Rest, der freilich allererst durch die Arbeit des Dividierens zur Ex-sistenz kommt. Liest man den ganzen Absatz, wird man zugeben, Lacan kann deutlicher nicht werden. »Da bleibt er.« Die deutsche Lacan-Ausgabe hat, nicht zuletzt unterstützt durch das Gewicht ihrer Herausgeber, »fait foi«, sie hat »Glauben gemacht«. Deshalb braucht es eine Weile, bis man sich entschließt, im französischen Original nachzuschauen. Dort steht: »Il en reste.« Es bedarf schon einiger Kunstfertigkeit im Verbiegen der Grammatik, um aus dem französischen Teilungsartikel en das deutsche Lokaladverb da zu machen. »Il en reste« meint: »Es bleibt etwas übrig.« Nämlich an Genießen. Und Achilles tut den zweiten Schritt, und wieder bleibt etwas übrig, und so weiter. Was jetzt tatsächlich »da bleibt« – und zwar auf der Strecke –, das ist der Glaube an die Verläßlichkeit der Übersetzung. Angesichts von Übersetzungsfehlern dieser Art fällt es schwer, mit Gondek daran festzuhalten, es sei untunlich, von falschen Übersetzungen zu sprechen, da man sonst in die Verlegenheit gerate, sagen zu müssen, was dann die wahre sei. Und wenn er vorschlägt, statt dessen lieber ›schlecht‹ oder ›gut‹, ›gelungen‹ oder ›nicht gelungen‹ zu verwenden, dann scheint mir das doch ein wenig zu zahm. Die Formel à court de mittels einer Drehung am französischen Syntagma in einen »Kurzschluß« zu ver-setzen, läßt sich nicht mehr als ›nicht gelungene‹ oder ›schlechte‹ Übersetzung qualifizieren, das ist schlicht falsch. Und im übrigen muß uns nichts davon abhalten, das Gegenteil des Falschen im Richtigen zu sehen. Man beginnt sich zu fragen, ob der übersetzerische Vorsatz, Lacan auf deutsch Französisch sprechen zu lassen, nicht ein etwas mißverstandener Benjamin ist.

23. Le Séminaire de Jacques Lacan. Texte établi par Jacques-Alain Miller. Livre XX, Encore, 1972–1973, Paris 1975, S. 13; dt.: Das Seminar von Jacques Lacan. Buch XX (1972–1973), Encore. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. v. Norbert Haas, Vreni Haas u. Hans-Joachim Metzger, Weinheim / Berlin 1986, S. 12. 115

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IV Unbestreitbar ist, daß eine grammatische Figur, zumal im Französischen, bisweilen eine Äquivokation zeigt. Dazu ein Beispiel, das gerade deutschsprachigen Lesern gerne Schwierigkeiten bereitet. Im Französischen richtet sich das Possessivpronomen nach dem Geschlecht des Besitzobjekts, nicht des Besitzers: »Pierre vendait sa voiture« kann ich auf deutsch wiedergeben mit »Pierre verkaufte sein Auto«, und das wäre eine korrekte Übersetzung. Ich kann es aber auch mit »Pierre verkaufte ihr Auto« übersetzen, was impliziert, daß das Auto nicht Pierre, sondern (s)einer Frau gehört. Es muß also interpretiert werden – was, je nachdem, für welche mögliche Lesart man sich entscheidet, einen Sinneffekt produziert, der sich im Extremfall als dem oder den jeweils anderen polar entgegengesetzt erweisen kann. Im Fall einer Homophonie, die in der Zielsprache nicht mimetisch abbildbar ist, kann man sich in die Lage versetzt sehen, eine solche Äquivokation stehenlassen zu müssen. Man gibt sie dann an den Leser weiter, kenntlich gemacht etwa mit dem typographischen Mittel des Schrägstrichs oder der Fußnote. Im Fall einer grammatischen Äquivokation im Sinne unseres Beispiels wird man dies freilich nicht tun, und zwar aus dem gar nicht immanenten Grund, daß man sich sonst dem Verdacht der Inkompetenz aussetzen würde. Hat man mit dem Erkennen der grammatischen Äquivokation die erste Hürde genommen, muß es darum gehen zu prüfen, ob die Varianten, die sich daraus für die Übersetzung ergeben, gleichermaßen sinnhaft sind oder ob sich die eine letztlich doch als nicht stichhaltig erweist – beispielsweise deshalb, weil sie allem widerspricht, was der Autor zu dem Punkt, um den es geht, anderswo sagt. Heißt also: Je mehr man von einem Autor kennt, desto bessere Chancen hat man, eine tatsächliche Äquivokation von einer scheinbaren zu unterscheiden – und ›scheinbar‹ soll hier heißen, daß sie sich als vom Übersetzer-Leser selbst induziert herausstellt. Ich will dies am Beispiel für die 2. Fehlerart demonstrieren, wozu ich etwas weiter ausgreifen muß. Ich denke aber, die Ausführlichkeit und das gedrosselte Tempo meiner Rekonstruktion zahlen sich aus. Wer die deutsche Übersetzung von Lacans Séminaire III, Les Psychoses, mit der französischen Textvorlage vergleicht, wird für seine Mühe reich belohnt. Man kann der Hamburger Arbeitsgruppe um Hans Naumann nachträglich nur dankbar sein, daß sie, vor Jahren schon, eine deutsche Version des Seminars erarbeitet hat. Liest man sie jetzt, nach dem Erscheinen der ›offiziellen‹ Übersetzung bei Quadriga, mit dieser parallel, zeigt sich, um wieviel wortgetreuer und in ihrer Ungeglättetheit ehrlicher sie ist als das, was nun zwischen zwei Buchdeckeln seine Wirkung tut. 116

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Rekonstruiert werden soll im folgenden ein besonders subtiler Fall von Ab-Sinn – er zählt zu den wirklich kapitalen Böcken, die die Übersetzung schießt –, von dessen Erkennen bzw. Nichterkennen in der Tat (und hier bemühe ich noch einmal Hans-Dieter Gondek) »interpretatorisch Wesentliches abhängen kann.«24 Im französischen Text25 heißt es (auf S. 171): »De quoi s’agit-il quand je parle de Verwerfung? Il s’agit du rejet d’un signifiant primordial dans des ténèbres extérieures, signifiant qui manquera dès lors à ce niveau. Voilà le mécanisme fondamental que je suppose à la base de la paranoïa. Il s’agit d’un processus primordial d’exclusion d’un dedans primitif, qui n’est pas le dedans du corps, mais celui d’un premier corps de signifiant.« Die allein autorisierte deutsche Übersetzung gibt (auf S. 179) diese Stelle folgendermaßen wieder: »Worum handelt es sich, wenn ich von Verwerfung* spreche? Es handelt sich um die Verwerfung eines ursprünglichen Signifikanten in die äußere Finsternis, eines Signifikanten, der von da an auf dieser Ebene fehlen wird. Das ist also der Grundmechanismus, den ich am Fundament der Paranoia annehme. Es handelt sich um einen ursprünglichen Ausschlußprozeß eines primären Innens, das nicht das Innen des Körpers ist, sondern dasjenige eines ersten Signifikantenkörpers.« Zunächst wäre der Übersetzer darüber zu befragen, warum er »rejet« durch »Verwerfung« wiedergibt und damit eine Doppelung erzeugt, die in terminologischer Hinsicht unglücklich ist, da sie einen begriffsgeschichtlich wichtigen Unterschied bei Lacan einebnet, d. h. unsichtbar macht: Erst in der letzten Sitzung des Seminars benutzt Lacan, wenn er Freuds »Verwerfung« übersetzt, »forclusion«. An dieser Stelle jedoch verwendet er das termino-chrono-logisch »frühere« »rejet«, was adäquater durch »Zurückweisung« wiederzugeben wäre, um die vorschnelle Einebnung der Differenz zwischen »rejet« und »forclusion« zu vermeiden. Auch würde ich »exclusion« nicht mit »Ausschluß« übersetzen, sondern, um das Prozeßhafte des Schließens deutlich zu machen, mit »Ausschließung«. Kommen wir aber zum Kernpunkt, dem Satzteil »[…] un processus primordial d’exclusion d’un dedans primitif […].« Es geht also um eine Ausschließung (exclusion), und im Französischen ebenso wie im

24. H.-D. Gondek, »Nachbemerkung«, S. 173. 25. Le Séminaire de Jacques Lacan. Texte établi par Jacques-Alain Miller. Livre III, Les psychoses, 1955–1956, Paris 1981; dt.: Das Seminar von Jacques Lacan. Buch III (1955–1956), Die Psychosen. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. v. Michael Turnheim, Weinheim / Berlin 1997. 117

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Deutschen gilt es nun, diese Ausschließung näher zu bestimmen gemäß den Fragen »Was wird ausgeschlossen?« und »Woraus wird ausgeschlossen?« Der diesbezüglich erweiterte Infinitiv der Verbform von »exclusion« lautet im Französischen »exclure quelqu’un / quelque chose de quelque chose«, auf deutsch: »jemanden / etwas aus etwas ausschließen«. Was da ausgeschlossen wird, hat Lacan im ersten Satz bereits bestimmt: es ist ein »signifiant primordial«, ein »uranfänglicher«, besser ist vielleicht sogar, zu sagen: ein »allererster Signifikant«. Da Lacan an einer früheren Stelle desselben Seminars schon erwähnt hat, daß es mehrere solcher »uranfänglichen« Signifikanten gibt, und ihre Mindestanzahl diskutiert (im Seminar V wird er dies wiederholen und ihre Zahl auf 4 festlegen), dürfen wir davon ausgehen, daß er auch hier mehr als einen »signifiant primordial« annimmt. Dies wird an der hier betrachteten Textstelle sogleich deutlich. Ausgeschlossen wird also ein »uranfänglicher Signifikant«, so daß noch zu klären bliebe, woraus er ausgeschlossen wird. Hier läßt uns Lacan dem Anschein nach auf unserem Hunger sitzen. In der Übersetzung heißt es: »Es handelt sich um einen ursprünglichen Ausschlußprozeß eines primären Innens […].« Wie nun? Eben noch hat Lacan gesagt, ein Signifikant werde zurückgewiesen (= ausgeschlossen), jetzt soll es ein »primäres Innen« sein. Denkt Lacan die beiden etwa identisch – oder haben wir hier einen neuen, unvermittelten logischen Schritt vor uns? Aber lesen wir zunächst, wie Lacan dieses Innen näher bestimmt – zu unserem Glück fühlt er sich offenbar bemüßigt, seinen Hörern ausführlicher zu umschreiben, worum es ihm geht und welche Feindifferenzierungen im Hintergrund seines räumlichen Modells stehen. Lacan also bestimmt in der Fortsetzung des Satzes dieses »primäre Innen« näher: es ist »nicht das Innen des Körpers« – woraus wir schließen: nicht des organischen Körpers des Subjekts –, sondern »dasjenige eines ersten Signifikantenkörpers«. So die deutsche Übersetzung. Was ist ein »Signifikantenkörper«? Etwa der Körper eines Signifikanten? Kann man bei einem Signifikanten sinnvoll von einem Körper sprechen, womöglich im Sinne eines Behälters? Im französischen Text steht »corps de signifiant«. Was Lacan hier wohl eher meinen dürfte, ist »Signifikanten-Korpus« – im Deutschen als Neutrum gebraucht: »das Korpus«, also eine »Sammlung«, in der linguistischen Terminologie auch das einer Untersuchung zugrundeliegende »Material«. Verständlich wird jetzt, warum Lacan unmittelbar zuvor, offenbar in der Sorge darum, ein im Auditorium aufkommendes konkretistisches Verständnis möglichst rasch zu berichtigen, klarmacht, daß er zwar ein raumhaftes Modell einführt, daß es dabei aber nicht um das Innere des Körpers (des Subjekts) geht. Also ein Signifikanten-Korpus. Von einem Korpus zu sprechen macht freilich nur dann Sinn, wenn man mehr als einen Signifikanten annimmt – was wir stützen können mit Lacans schon erwähnter Be118

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stimmung im Seminar V, bei der er an mindestens vier denkt. Vier Signifikanten, u. U. auch schon drei – das macht durchaus ein Korpus. Damit könnten wir eine Hürde beseitigt haben, die uns die deutsche Übersetzung stellt – was sie mißlich macht –, und nehmen noch einmal die Ausgangsfrage auf: Was wird woraus ausgeschlossen? Der deutschen Übersetzung folgend müssen wir sagen: Ausgeschlossen wird ein primäres Innen – und wir wissen jetzt, es ist nicht das Innen eines Körpers im biologischen Sinne, sondern das Innen eines Signifikanten-Korpus. Lacan hatte aber doch zunächst von der Ausschließung eines uranfänglichen Signifikanten gesprochen! Versuchen wir die deutsche Übersetzung zu interpretieren: Ausgeschlossen wird das Innen eines Signifikanten-Korpus. Wie ist das vorzustellen? Wir arbeiten uns noch etwas näher heran, indem wir das französische »dedans« nicht durch »Innen«, sondern durch »Inneres« ersetzen. Nun heißt es: das Innere eines Signifikanten-Korpus. Geht es also um das, was dieses Korpus, ganz im Sinne des Behälter-Modells, enthält? Halten wir fest: Zuerst erklärt uns Lacan, ausgeschlossen werde ein »uranfänglicher Signifikant«, jetzt soll es ein »Inneres eines Signifikanten-Korpus« sein. Wir spüren, daß sich das nicht zur Deckung bringen läßt. Außerdem ist die Teilfrage, woraus ausgeschlossen wird, noch in keiner Weise beantwortet, sie ist uns gleichsam aus dem Blick geraten. Nochmals: Wie ist die Ausschließung eines »Inneren eines Signifikanten-Korpus« zu denken? Vergessen wir nicht, daß Lacans Ausführungen das präzisieren wollen, was bei Freud unter »Verwerfung« firmiert. Wenn das Innere eines Signifikanten-Korpus im Sinne der Verwerfung ausgeschlossen wird, dann hat dieses Korpus nach der Verwerfung kein Inneres mehr oder dieses Innere ist dann offenbar »draußen«. Meint Lacan etwa einen »inneren Ausschluß«? Das Innere des Signifikanten-Korpus wäre also innerlich ausgeschlossen, das Innere sein eigener Ausschluß. Aber wo war es vorher, dieses Innere, anders gesagt: das Innere von was war es bisher? Das hat Lacan überhaupt noch nicht bestimmt. Ein neuer Anlauf: Wie ist dieses Innere eines SignifikantenKorpus zu denken? Was mag es enthalten? Ein Signifikanten-Korpus sollte, wie seine Bezeichnung nahelegt, aus Signifikanten bestehen, und zwar aus mehreren Signifikanten – wie wir festgelegt haben: aus mindestens dreien. Diese drei würden also nun ausgeschlossen. Wäre es nur einer oder wären es vierundzwanzig oder gar vierundzwanzigtausend – es würde nichts daran ändern, daß ein Signifikanten-Korpus ebendie Anzahl von Signifikanten umfaßt, die es konstituieren. Dann wäre das Signifikantenkorpus vollständig entleert, die Signifikanten in der »äußeren Finsternis«, womöglich im Realen, was ja mit Lacans Lesart der Freudschen »Verwerfung« harmonieren würde. Nur – das Korpus wäre leer, es befände sich kein einziger Signifikant mehr in ihm. 119

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Die deutsche Übersetzung läßt diese Lesart zu. Mißlich ist dann nur, daß Lacan sagt, es handele sich um den »rejet« eines uranfänglichen / allerersten Signifikanten – und wir wissen aus der bisherigen Lektüre des Seminars bereits, welchen er meint: es ist der Name-desVaters. Seine Verwerfung allein ist es, die die Psychose initiiert. Nirgends bei Lacan ist im Zusammenhang mit den Psychosen von der Verwerfung anderer Signifikanten die Rede als allein des Namen-desVaters. Brechen wir unser propädeutisches Verwirrspiel hier ab. Ich denke, der Leser ahnt es bereits: Der Schlüssel liegt in der deutschen Wiedergabe des Satzteils »exclusion d’un dedans primitif«. Wir hatten darauf bestanden, erfahren zu wollen, woraus ausgeschlossen wird. In der Übersetzung war Lacan uns die Antwort darauf schuldig geblieben. Um erkennen zu können, daß nicht Lacan es ist, der uns die Antwort vorenthält, sondern die Übersetzung, dazu bedarf es des französischen Originals und nicht mehr als einiger Grundkenntnisse in französischer Grammatik. Um zu zeigen, daß ich damit nicht tiefstapele, noch einmal die französische Form des erweiterten Infinitivs: »Etwas aus etwas ausschließen« heißt im Französischen »exclure quelque chose de quelque chose«. Lacans Satzkonstruktion lautet, jetzt im ganzen wiederholt: »processus primordial d’exclusion d’un dedans primitif«. In dieser Konstruktion erscheint zweimal die Partikel »de« – einmal in der Funktion eines deutschen unbestimmten Artikels im Genitiv, »uranfänglicher Prozeß einer Ausschließung« oder verkürzt: »Ausschließungsprozeß«; das andere Mal fungiert sie als Präposition in der Verbindung mit »exclure«: »exclure de« = »ausschließen aus«. Beim Substantiv »exclusion de« = »Ausschließung aus«. Damit können wir die Übersetzung berichtigen: »Es handelt sich um einen uranfänglichen Ausschließungsvorgang aus einem allerersten Inneren, das nicht das Innere des Körpers ist, sondern dasjenige eines ersten Signifikanten-Korpus.« Was ist passiert? Der Übersetzer hat das zweite »de« als einen weiteren unbestimmten Artikel im Genitiv identifiziert und dementsprechend im Deutschen wiedergegeben. Wohlgemerkt: Der Wortlaut der Vorlage läßt diese interpretierende Übersetzung zu, sie bietet – aber ich will das einschränken: wahrscheinlich nur dem, der kein »native speaker« ist – das Bild einer grammatischen Äquivokation. Der Übersetzer hat sich für eine von zwei Varianten entschieden – wobei ich allerdings vermute, daß ihm nicht bewußt war, vor einer Variante zu stehen. Hätte er nämlich die alternative grammatische Auslegung bemerkt, hätte sie ihm sofort als die richtige erscheinen müssen. Denn die grammatische Äquivokation in »exclusion d’un dedans primitif« läßt sich auflösen über den Kontext. Und hier schlägt meine Verwunderung über 120

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einen Übersetzungsfehler um in ein Befremden vor einer Fehlübersetzung. Ich will das kurz erläutern. Einerseits geht aus allem, was Lacan im Seminar über die Psychosen bis dahin zum Mechanismus der Verwerfung ausgeführt hat, hervor, daß nicht »ein primäres Innen« ausgeschlossen wird, sondern »aus einem primären Inneren«. Andererseits hatte sich der Übersetzer des Seminars über die Psychosen schon lange vor dem Erscheinen seiner Übersetzung in vielen Aufsätzen als ein Spezialist auf dem Feld der Psychosen profiliert. Eine übersetzerische Absenz also? Das wäre verzeihlich. Ärgerlich ist jedoch, daß diese Absenz Effekte zeitigt in Form eines »Ab-sens«, der nun auf unabsehbare Zeit in der verbindlichen deutschen Ausgabe des Seminars über die Psychosen stehen wird und alle die deutschsprachigen Leser, die das französische Original nicht zu Rate ziehen können, buchstäblich in die Wüste schickt.

V Bleibt die dritte Fehlerart, die der Fehlübersetzung. Sie soll als Illustration dessen dienen, wozu die Versuchung, »hier und da am Text zu drehen«, führen kann. Ich wähle dazu eine, mitnichten spektakuläre, Stelle aus dem Seminar XI aus (S. 181 der Ausgabe bei Seuil, S. 209 der deutschen Ausgabe): »J’explique ainsi l’affinité essentielle de toute pulsion avec la zone de la mort, et concilie les deux faces de la pulsion – qui, à la fois, présentifie la sexualité dans l’inconscient et représente, dans son essence, la mort.« »Dies ist meine Erklärung für die wesenhafte Affinität jedes Triebs zum Bezirk des Todes, und nur so gelingt mir die Versöhnung der zwei Seiten des Triebs – der einerseits die Sexualität im Unbewußten präsent hält und andererseits wesentlich den Tod repräsentiert.« Diese Übersetzung ist »glatt« – »lisse«, wie Jacques-Alain Miller es von jeder Lacan-Übersetzung wünscht. Sie »liest sich« gut, und zwar wie ein stilistisch ausgearbeiteter philosophischer Text. Um der »Dreh-Bewegung« der Übersetzung gerecht zu werden, gehe ich die problematischen Elemente des deutschen Satzes im einzelnen durch. »Nur so gelingt mir […]« – die Entsprechung zu diesen Wörtern sucht man in der französischen Version vergebens. Was sich dort findet, ist »et concilie …«, auf deutsch: »und vermittle …«. Lacan gelingt nicht »nur so« die »Versöhnung«, wie die deutsche Übersetzung suggeriert, er »vermittelt« schlicht und einfach. Hier kann ich nicht mehr umhin, von einer tendenziösen Umschrift zu sprechen. Insbesondere die frei erfundene Einschränkung »nur so« läßt Lacan in Beweisnöten erscheinen, die vom französischen Text nicht im mindesten gedeckt 121

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werden. Ebenso tendenziös philosophisierend ist die Übersetzung von »essentiell« durch »wesenhaft«, und mit »Versöhnung« für eine aus dem Verb »concilier« extrapolierte »conciliation« begeht die Übersetzung dann noch einen lexikalischen Fehler: »Versöhnung« ist im Französischen »reconciliation«, während »conciliation« eben »Ausgleich, Vermittlung, Schlichtung« bedeutet. Die Übersetzung gerät hier deutlich in ein hegelianisches Fahrwasser. Jedoch geht es Lacan keineswegs um die »Versöhnung der Gegensätze«. Schließlich noch: Die Wiedergabe von »à la fois« durch die Alternanz des »einerseits … andererseits« unterschlägt die Temporalität des »zugleich«. Ein alternativer Übersetzungsvorschlag: »So erkläre ich die grundlegende Affinität eines jeden Triebs zur Zone des Todes und vermittle die zwei Seiten des Triebs – der die Sexualität im Unbewußten vergegenwärtigt und zugleich, seinem Wesen nach, den Tod repräsentiert.« Deutlich wird am letzten Beispiel, wie eine Übersetzung sich durch die Freiheiten der Formulierung und des Stils buchstäblich gegen den Wortlaut des Ausgangstextes ›durch-setzen‹ kann, wobei sie ihn in einem noch anderen Sinne ›ver-setzt‹ als dem, den wir eingangs evoziert hatten. Hier geht es nicht mehr um bloßen »Stuß« – weit entfernt davon –, hier ist nichts mehr von »Unterordnen«, hier wird die Übersetzung zur Entstellung, indem sie den Autor das sagen läßt, was der Übersetzer will. Auch so kann sich ein Widerstand äußern oder, mit Freuds »Dame« zu reden: ein »Nichtwollen«, das sich stellvertretend für den Autor an dessen Text »ins Werk setzt«. Lacan war sich darüber im klaren, was es bedeutet, durch seine Signifikanten hindurchzugehen. Es bedeutet, wenn man so sagen kann, »Reibungsverluste« auf beiden Seiten. Sie sollten jedoch nicht so weit gehen, daß dabei der Sinn dessen, was von Lacans Diskurs überliefert ist, über weite Strecken auf derselben bleibt – etwa wie in Die vier Grundbegriffe […], wo der deutschsprachige Leser – Gipfel der Subtilität, zu der eine Fehlleistung in der Lage ist – ein »Ausagieren« an der Stelle findet, an der in Les quatre concepts […] gerade nicht »acting-out« steht, sondern »passage à l’acte«.26 Ebendies meine ich, wenn ich sage, daß man einen Autor auf eine viel folgenschwerere Weise versetzen kann, wenn man die Verabredung einhält, als dann, wenn man nicht erscheint.

26. J. Lacan, Les quatre concepts, S. 38; Grundbegriffe, S. 44. 122

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Literatur Freud, Sigmund: »Zur Psychopathologie des Alltagslebens«, in: ders., Gesammelte Werke, 4. Bd., London 1941. — »Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens. III. Das Tabu der Virginität«, in: ders., Gesammelte Werke, 12. Bd., London 1947, S. 159– 180. — »Zur Dynamik der Übertragung«, in: ders., Gesammelte Werke, 8. Bd., London 1943, S. 364–374. Gondek, Hans-Dieter: »Eine Nachbemerkung zu Gabrielle Hiltmanns Besprechung zweier Bücher von Julia Kristeva: ›Sprache als Medium der Veränderung von Subjekt und Gesellschaft‹ (RISS 32)«, in: RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse 33 / 34 (1996), S. 169–178. Haas, Norbert: »Was heißt Lacan übersetzen?«, in: Lacan lesen. Ein Symposion (= Der Wunderblock. Zeitschrift für Psychoanalyse, Sondernummer 1), Berlin 1978, S. 49–58. Lacan, Jacques: Le Séminaire de Jacques Lacan. Texte établi par JacquesAlain Miller. Livre III, Les psychoses, 1955–1956, Paris 1981; dt.: Das Seminar von Jacques Lacan. Buch III (1955–1956), Die Psychosen. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. v. Michael Turnheim, Weinheim / Berlin 1997. — Le Séminaire de Jacques Lacan. Texte établi par Jacques-Alain Miller. Livre XI, Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse, 1964, Paris 1973; dt.: Das Seminar von Jacques Lacan. Buch XI (1964), Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. v. Norbert Haas, Olten / Freiburg i.Br. 1978. — Le Séminaire de Jacques Lacan. Texte établi par Jacques-Alain Miller. Livre XX, Encore, 1972–1973, Paris 1975; dt.: Das Seminar von Jacques Lacan. Buch XX (1972–1973), Encore. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. v. Norbert Haas, Vreni Haas und HansJoachim Metzger, Weinheim / Berlin 1986. — »D’une question préliminaire à tout traitement possible de la psychose«, in: ders., Écrits, Paris 1966, S. 531–583; dt.: »Über eine Frage, die jeder möglichen Behandlung der Psychose vorausgeht«, übers. v. Chantal Creusot u. Norbert Haas, in: ders., Schriften II, Olten / Freiburg i.Br. 1975, S. 61–117. Rapaport, Herman: »Genehmigung erteilt, oder Jenseits des Phantasmas«, in: RISS, Zeitschrift für Psychoanalyse 35 (1996), S. 69–89.

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Lost in Translation. Vom Verschwinden des Bilddenkens in Übersetzungen Benjaminscher Schriften Sigrid Weigel

Der Schauplatz der Übersetzung Als ich vor Jahren zum erstenmal nach Japan fuhr, war ich insofern unvorbereitet, als ich nicht wußte, daß man sich in der dortigen Gesellschaft ohne Visitenkarte nicht bewegen kann. Nach meiner Ankunft wurde der Mangel sehr bald bemerkt, und meine japanischen Freunde beschlossen, ihn umgehend zu beheben. So saßen wir wenig später in einem Restaurant in Tokyo, und zwischen der endlosen Folge aufgetragener Schälchen und Teller waren drei Japaner, zwei Germanisten und eine Schriftstellerin, mit der Aufgabe des Übersetzens beschäftigt. Denn man war darin übereingekommen, daß keine Karte perfekter sein könne als eine, die auf der einen Seite in europäischer und auf der anderen in japanischer Schrift bedruckt sei. Das Gespräch begann mich zu fesseln, als es um die Entscheidung ging, ob man die fremden Bezeichnungen und Namen in die aus dem Chinesischen übernommenen ideographischen Schriftzeichen oder aber in die jüngeren japanischen Lautsilbenzeichen übertragen solle, eine Frage, die insbesondere bei der Übersetzung des Eigennamens heftiger diskutiert wurde. Meine Auskünfte über Herkunft und Bedeutung meines Vornamens führten zu dem Versuch, ihn in Ideogramme zu übertragen, der aber wieder verworfen wurde, um sich schließlich für eine Übertragung in die Lautschrift zu entscheiden. Dabei erklärte man mir, daß im Japanischen gleichklingende Namen, die in der Hiragana-Schrift nicht zu unterscheiden seien, auf ganz unterschiedliche Bedeutungen verweisen könnten, die aber erst durch Aufzeichnung in den ideographischen Schriftzeichen erkennbar würden.1 Das bedeutet, daß in ein und der-

1. Yoko Tawada, der ich die immer wieder geduldigen Erläuterungen über das Japani125

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selben Sprache ständig Übertragungen – nicht Übersetzungen / translations, sondern Transliterationen – vorgenommen werden und daß die Differenz gleichklingender Benennungen in der supplementären Lautschrift erst sichtbar wird, wenn man in die vorausgegangene Schrift zurückgeht bzw. -überträgt. Die Übersetzung aus einer fremden Sprache schließt damit immer schon Übertragungen in der eigenen Sprache ein. Diese Tokyoter Szene, in der es um Übersetzungen und Übertragungen, um Synonyme, Homonyme und Äquivokationen ging, kam mir wieder in den Sinn, als ich mit der englischen Übersetzung der Zitate für mein Benjamin-Buch befaßt war.2 Nicht nur, daß man bekanntlich in den vorliegenden Übersetzungen Benjaminscher Schriften immer wieder echte Fehlübersetzungen antrifft, besonders dort, wo die komplexe syntaktische Struktur der Benjaminschen Sätze etwa zu einer Verdrehung von Negationen in positive Aussagen führt und umgekehrt. Interessanter sind jene Stellen, an denen man bei dem Versuch einer Korrektur verfehlter Übersetzungen auf Momente unmöglicher Übersetzung trifft, wo weder Wörtlichkeit noch Sinn das Wort oder die sprachliche Wendung treffen, so daß die Übersetzung notwendig in einen Kommentar übergehen bzw. in die Fußnoten über-setzen muß. Daß aber in vielen Fällen dieses Phänomen der Un / Übersetzbarkeit aufgrund eindeutiger Übersetzungsentscheidungen, aufgrund einer mit der Setzung verbundenen Verleugnung der Übertragung, verborgen bleibt, scheint mir das gravierendere Problem vieler vorliegender Übersetzungen zu sein. Damit geht es weniger um das Problem ›falscher‹ Übersetzungen als um die Verkennung der dem Übersetzungsvorgang innewohnenden Übertragung zwischen differenten Bedeutungssystemen, die im Schein einer rest-losen sprachlichen Konvertierung verschwindet, – womit die Sprache auf ihren Zeichenwert reduziert wird. Zur Versagung der Übersetzung aber heißt es bei Freud:

sche verdanke, erklärte mir, daß das Yo in ihrem Vornamen die Bedeutung ›Blätter des Baumes‹ habe, während der Vorname von Yoko Ono etwa Ozean bedeute. – Nach dem Prinzip der Übertragung zwischen den beiden Schriften funktioniert auch der Computer in Japan. Wegen der Begrenzung der Tastatur und der Fülle der Ideogramme gibt man den Text entweder mit japanischer Silbenschrift oder in der Umschrift des europäischen Alphabets ein; der Computer setzt diese Zeichen in Ideogramme um. Vgl. Yoko Tawada: »Ein Email für japanische Gespenster«, in: Corina Caduff / Johanna Pfaff-Czarnecka (Hg.), Ritual heute. Theorien, Kontroversen, Entwürfe, Berlin 1999, S. 219–225. 2. Sigrid Weigel: Body- and Image-Space. Re-reading Walter Benjamin, übers. v. Georgina Paul unter Mitarbeit von Rachel McNicholl / Jeremy Gaines, London 1996. Die nicht vollständig identische deutsche Ausgabe: Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise, Frankfurt a. M. 1997. 126

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»Die Versagung der Übersetzung, das ist das, was klinisch ›Verdrängung‹ heißt. Motiv derselben ist stets eine Unlustentbindung, die durch Übersetzung entstehen würde, als ob diese Unlust eine Denkstörung hervorriefe, die die Übersetzungsarbeit nicht gestattet.«3 Was Freud hier, im Zusammenhang seiner Erörterungen über die Umschrift bzw. Umordnung, die im Gedächtnis am Material der Erinnerungsspuren vorgenommen wird, Übersetzung nennt, ist die zwischen zwei Lebensepochen notwendige Übersetzung des psychischen Materials in den aufeinanderfolgenden und -geschichteten Niederschriften. Entwirft er hier für seine Konzeption des Gedächtnisses einen Schauplatz der Schrift, so ist der beschriebene Vorgang der Übersetzung wörtlich zu verstehen. Die Versagung dieser Übersetzung bezieht sich auf eine mögliche Störung, die von der zu übersetzenden Materie ausgehen würde. Richtet sich auch die Setzung in der Übersetzung eines Textes darauf, eine Störung der Übersetzung zu verhindern, so betrifft dieser Vorgang im Falle der Benjaminschen Schriften zuerst und vor allem sein Bilddenken: jene sprachlichen Konstellationen, mit denen sein Sprachgebrauch jenseits des Gegensatzes von Begriff und Metapher zu situieren ist. »Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation zum Stillstand kommt, da erscheint das dialektische Bild. Es ist die Zäsur in der Denkbewegung« (V.1, 595).4 Wo aber Benjamins Bilddenken, wo seine gelesenen und geschriebenen Bilder im übersetzten Text unkenntlich geworden sind, ist in der Übertragung das Spezifische seines Denkens verschwunden: jene Bewegung in der Sprache, mit der die Ablösung des Begriffs vom Wort umgekehrt und derart an das Entspringen des Wortes aus der Benennung erinnert wird, an die in den Worten verborgenen Namen. Operationen mit der Sprache als bloßem Zeichensystem tilgen damit jene Sprachmomente, die über das Codierbare oder die lexikalische Konvertierung hinausgehen bzw. in diese einbrechen. Und das sind bekanntlich jene Momente, die im Zentrum von Benjamins Sprachtheorie stehen.

3. Sigmund Freud: Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904. Ungekürzte Ausgabe, hg. v. Jeffrey Moussaieff Masson, Frankfurt a. M. 1986, S. 219 (Brief vom 6.12.1896). Den Hinweis auf das Zitat verdanke ich der Lektüre von Andrew Benjamin: »Ursprünge übersetzen. Psychoanalyse und Philosophie«, in: Alfred Hirsch (Hg.), Übersetzung und Dekonstruktion, Frankfurt a. M. 1997, S. 232. 4. Zitate nur mit Angabe von Band- und Seitenzahl beziehen sich auf: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Rolf Tiedemann / Hermann Schweppenhäuser (Hg.), Frankfurt a. M. 1980 ff. 127

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Übersetzung und Fremdwörter Der Effekt dieser Tilgung ist einer besonders in anglo-amerikanischen Publikationen anzutreffenden Übersetzungspraxis geschuldet, die sich am Ziel einer vollständigen Assimilation der fremden Sprache orientiert. Selbst in der gerade begonnenen Ausgabe der Selected Writings5 sind nur in Ausnahmefällen Klammereinfügungen anzutreffen, die über Formulierungen im Original Auskunft geben. Als müsse die Fremdheit des fremden Wortes unschädlich gemacht werden, sind selbst solche Worte übersetzt, die im deutschen Wörterbuch gar nicht auffindbar sind. Während eine Kritik an mangelhaften oder gar falschen Übersetzungen sich am Maßstab vollkommener Übersetzbarkeit orientiert, geht es mir dagegen darum, daß eine Übersetzungspolitik totaler Assimilation die Verkennung des Übersetzungsproblems signalisiert: sie bewirkt die Tilgung jener Spuren, die auf die Aufgabe des Übersetzers verweisen. Denn die Bedeutung von Benjamins gleichlautendem Essay besteht nicht vordringlich in der Diskussion von Kriterien für eine bessere oder schlechtere Übersetzung, sondern in der Erörterung der ›Übersetzbarkeit‹ als Form, die gewissen Werken wesentlich sei (IV.1, 10), vor allem aber in der Funktion des Übersetzungsproblems für eine Philosophie der Sprache. Benjamins Aufgabe des Übersetzers eröffnet den Raum einer Reflexion über die Gefangenheit der Sprache in den Kriterien von Mitteilung, Sinn, Intention und über die Differenz der Sprachen und ihren Abstand zur »reinen Sprache«, die, solange wir uns in der Geschichte befinden, stets virtuell bleiben wird. Die Übersetzung ist damit von sprachtheoretischer Bedeutung, und zwar vor allem, indem sie eine Probe auf das Wissen um die Entfernung von der Offenbarung darstellt: »Wenn aber diese [die Sprachen] derart bis ans messianische Ende ihrer Geschichte wachsen, so ist es die Übersetzung, welche am ewigen Fortleben der Werke und am unendlichen Aufleben der Sprachen sich entzündet, immer von neuem die Probe auf jenes heilige Wachstum der Sprachen zu machen: wie weit ihr Verborgenes von der Offenbarung entfernt sei, wie gegenwärtig es im Wissen um diese Entfernung werden mag« (IV.1, 14). Die Probe der Übersetzung bezieht sich also auf die Gegenwärtigkeit des Verborgenen im Wissen um die Entfernung der Sprachen von der Offenbarung, d. h. von der vollkommenen Erkenntnis oder Lesbarkeit. Wenn Benjamin für die Aufgabe des Übersetzers die Wörtlichkeit von Wort und Syntax und die Art des Meinens gegenüber dem Gemeinten

5. Walter Benjamin: Selected Writings. Volume I, 1913–1926, Marcus Bullock / Michael W. Jennings (Hg.), London 1996. Im weiteren Text zitiert als SW; Volume II, 1927– 1934, Michael W. Jennings / Howard Eiland / Gary Smith (Hg.), London 1999. 128

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betont, so wird hier das ›Gemeinte‹ zugleich als das in den Sprachen Verborgene benannt, während die Übersetzung gleichsam dessen Abstand zur Offenbarung markiert – und offenhält. Insofern heißt es auch im Anschluß, daß »alle Übersetzung nur eine irgendwie vorläufige Art ist, sich mit der Fremdheit der Sprachen auseinanderzusetzen«, wobei Benjamin nicht versäumt hinzuzufügen, daß eine andere als »vorläufige Lösung dieser Fremdheit den Menschen versagt« bleibe oder jedenfalls unmittelbar nicht anzustreben sei. Denn diese andere Lösung bleibt auf die »reine Sprache«, auf ein Jenseits der Historie also, verwiesen. Die Übersetzung als Probe und Bewußtsein des Abstands wäre damit gerade nicht am Ziel der Vollendung auszurichten, sondern an der Markierung des Unvollkommenen und der Vorläufigkeit, an der Erkennbarkeit der différance: an der Öffnung eines Sprachraums, in dem das Denken der Spur möglich wird. Die meisten vorliegenden englischen Übersetzungen Benjaminscher Schriften aber verschließen diesen Raum; sie praktizieren Übersetzung als clôture. Damit geht es um nichts weniger als um die Lesbarkeit der Nachträglichkeit von Übersetzung. Das betrifft auch die Lesbarkeit der Differenz zu einem in der eigenen Sprache (als Original) geschriebenen Text. Die Übersetzungspraxis der Assimilation orientiert sich gerade an dem Ziel, den übersetzten Text als muttersprachlichen erscheinen zu lassen, die Fremdheit des Fremden also unsichtbar zu machen und auszulöschen. Damit versagt sich diese Praxis einen bedeutsamen Effekt der Konfrontation mit fremder Sprache bzw. mit Wörtern einer fremden Sprache. Bleibt der Akt der Benennung in einem in der eigenen Sprache verfaßten Text weitgehend im Natürlichkeitsschein der Sprache verborgen, so sind es gerade die »Wörter aus der Fremde«6, die diesen Vorgang wieder sichtbar machen. Im Anschluß an ein Bild aus Benjamins Einbahnstraße, das von der silbernen Rippe des Fremdworts spricht, das der Autor als Operateur seiner Handschrift einschiebt (IV.1, 131), hat Adorno »Über den Gebrauch von Fremdwörtern« reflektiert: »Jedes neu gesetzte Fremdwort aber feiert im Augenblick seines Erscheinens profan nochmals die wahre urgeschichtliche Benennung. Und in jedem entringt aufs neue sich der Genius dem mythischen Verfallensein an den Zusammenhang bloß natürlichen Lebens. Darum sind historisch die Fremdwörter Einbruchstellen erkennenden Bewußtseins und erhellter Wahrheit im ungeschiedenen Wuchse dessen, was bloß Natur ist an der Sprache: Einbruch von Freiheit.«7

6. So der Titel eines Essays aus dem Jahr 1959 von Th. W. Adorno in: Noten zur Literatur, Rolf Tiedemann (Hg.), Frankfurt a. M. 1981, S. 216–232. 7. Aus einem Entwurf, vermutlich zu dem oben genannten Essay, ebd., S. 643. 129

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SIGRID WEIGEL

In seiner vergleichenden sprachgeschichtlichen Erklärung geht Adorno davon aus, daß die Integration verschiedener Sprachschichten – der gallischen und der römischen im Französischen, der sächsischen und der normannischen in England – in diesen beiden Kulturen sehr viel frühzeitiger und gründlicher gelang als im Deutschen, wo die Bestandteile des Lateinischen und der älteren Volkssprache sozial disparat blieben und insofern die Fremdwörter als unassimilierte stärker hervorstechen. Derart ist das Fremdwort Gedächtnis der sprachlichen Differenzen und besetzt in der eigenen Sprache den Zugang zur Spur der différance. Oder: »Fremdwörter sind Zitate«, wie Adorno im Anschluß formuliert.8 Deutlicher wird diese Bedeutung der Fremdwörter in dem Falle, da ein Wort aus der eigenen Sprache auf dem Um-Wege der Übertragung eines fremdsprachigen Textes, in den es als Wort aus der fremden Sprache aufgenommen wurde, gleichsam als Fremdwort oder als fremdes Eigenwort zurückkehrt. Als Markierung eines solchen Ereignisses dient der Asteriskus, jenes einem Wort nachgestellte Sternchen (oft in Verbindung mit Kursivschrift), dem man besonders häufig in deutschen Übersetzungen Derridascher Schriften begegnet und dessen Bedeutung in der Fußnote benannt wird: »im Original deutsch«, z. B. Bild*, Bildung*, Einbildung*, Übersetzung*, Setzen*.9 Fehlte dieses Kennzeichen aber, würde für diese Worte ihr Status als Fremdwort im Originaltext verschwinden und sie kämen durch den Vorgang einer doppelten Übertragung scheinbar unverändert, als proto-eigene zurück. Die Markierung jedoch, die ein Innehalten der Lektüre bewirkt, läßt die Wörter aus der eigenen Sprache als Wörter aus der Fremde zurückkehren. Das Kennzeichen ist somit die Markierung einer différance und einer Nachträglichkeit: es zeigt an, daß an den Worten aus Texten deutscher Autoren (der Philosophie und Psychoanalyse) in der doppelten Übertragung eine Umarbeitung sich vollzogen hat. Umgekehrt sind es die Kommentare und die Klammereinfügungen, mit denen Sprachspiele aus dem Original in den übersetzten Text eingefügt werden und diesen unterbrechen. Sie signalisieren die Vorläufigkeit des Übersetzens und machen zugleich den Einschluß von différance in ein und demselben Wort lesbar: das gleichlautende »l’à traduire« etwa, gelesen als Zu-Übersetzen, Ent-Übersetzen und sie (die Sprache) übersetzen.10

8. Ebd., S. 645. 9. Jacques Derrida: »Theologie der Übersetzung«, in: A. Hirsch (Hg.), Übersetzung und Dekonstruktion, S. 15–36. 10. Vgl. die Anmerkung des Übersetzers Alexander Garcia Düttmann zu Jacques Derrida: »Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege«, in: A. Hirsch (Hg.), Übersetzung und Dekonstruktion, S. 136. 130

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Un-Stimmigkeit und Zitat Diese Sprachspiele berühren eine Theorie sprachlicher Stimmigkeit, die nicht allein eine Sache der Vernunft und Logik, sondern auch des Klangs ist. Sie betreffen jene verborgene Verwandtschaft der Worte, die in ihrer Funktion als Zeichen unkenntlich ist, während sie in der Erinnerung und im Rückgriff auf das Name-Sein der Worte erkennbar wird. Für Benjamin aber ist Schreiben immer schon sowohl zitieren – und ein »Wort zitieren heißt es beim Namen rufen« (II.1, 362) – als auch übersetzen – und übersetzen heißt, in der anderen Sprache das Echo des Originals zu erwecken bzw. einen sprachlichen Ort zu finden, »wo jeweils das Echo der eigenen den Widerhall eines Werkes der fremden Sprache zu geben vermag« (IV.1, 16). Diese andere Stimmigkeit wird von Benjamin im Zusammenhang seiner kleinen Theorie des Zitats (im Kraus-Essay) nicht als Gereimtheit qualifiziert, sondern als Erscheinung zur Sprache gebracht, die er als »nicht ungereimt« und als klingend und stimmig benennt: »Nicht ungereimt erscheint es [das Zitat], klingend, stimmig, in dem Gefüge eines neuen Textes« (II.1, 363). Wenn das Wort »ungereimt« hier auf die übertragene Bedeutung von nicht-gereimt, also unstimmig im logischen Sinne, anspielt11, dann entspräche das im Englischen in etwa der Wendung »without rhyme and reason«, die soviel wie ohne Sinn und Verstand bedeutet. In der Form der Negation »nicht unstimmig« wird in Benjamins Text die übertragene Bedeutung verworfen, um in der Operation einer doppelten Negation wieder auf die wörtliche Bedeutung von Stimmigkeit – assoziiert mit Stimme / Klang, nicht mit Logos / Vernunft – zurückgeführt zu werden, um daraus eine andere als allein im Logos begründete Stimmigkeit zu gewinnen; durch die Ergänzung »klingend, stimmig« wird sie als eine kenntlich, die in oder mit dem Klang aufscheint. Diese Arbeit an der Bedeutung von unstimmig entspricht dem Benjaminschen Verfahren einer Transformation von Metaphern und übertragenen Bedeutungen in dialektische Bilder, bei dem er von der eingeschliffenen übertragenen Bedeutung ausgeht, um die darin verborgene und erstarrte Dialektik wieder hervorzutreiben.12 Auch in der Beschreibung des Zitats verfährt er also mit der Sprache als Zitat, denn: »Es [das Zitat] ruft das Wort beim Namen auf, bricht es zerstörend aus dem Zusammenhang, eben damit aber ruft es dasselbe auch

11. »Ungereimt mhd. ungerîmet, seit dem 15. Jh. übertr. ›nicht stimmig, absurd‹.« Zitiert aus: Hermann Paul: Deutsches Wörterbuch. 9. vollständig neu bearbeitete Ausgabe, Tübingen 1992, S. 941. 12. Zu diesem Verfahren ausführlicher vgl. die Kap. 4 und 6 in: S. Weigel: Body-and Image-Space, bzw. die Kap. III. und VI. in: dies., Entstellte Ähnlichkeit. 131

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zurück an seinen Ursprung.« Damit aber sind Original, d. h. der Text, aus dem zitiert wird, und Ursprung immer schon unter-schieden. In der Übersetzung der One-Way-Street-Sammlung heißt es für »nicht ungereimt erscheint es, klingend, stimmig«: »It [the quotation] appears, now with rhyme and reason, sonorously, congruously in the structure of a new text.«13 Hier fällt also, indem die Formel für unstimmig im logischen Sinne, »without rhyme and reason«, in eine positive Formulierung verwandelt wird, die Operation der doppelten Negation und damit die Arbeit am Vorgang der Übertragung in der einen Sprache aus. Mit der doppelten Negation geht aber das spezifische Verfahren – Zerstörung des übertragenen Sinns und Wiederaufrufen einer am Ursprung situierten Buchstäblichkeit – verloren, kommt im Übersetzungsvorgang die gleichzeitige Ungleichzeitigkeit von Ursprung und Zerstörung, die für Benjamin das Zitat ausmacht, abhanden. Der Klang ist ebenfalls im Spiel, wenn Benjamin die »Sprachlehre« von Karl Kraus als »Beitrag zu einer Sprachprozeßordnung« begriffen wissen möchte (IV.1, 349). Mit dieser Entstellung von Straf- in Sprachprozeßordnung bezeichnet Benjamin weder einen gerichtsähnlichen Gebrauch der Sprache noch sprachliche Normen für das Recht. Vielmehr geht es ihm darum, daß für Kraus die Sprache selbst – und zwar mit Bezug auf »das Bild der göttlichen Gerechtigkeit als Sprache« – eine Sphäre des Rechts und der Gerechtigkeit darstelle, während die Justiz von ihm wegen »Hochverrat des Rechtes an der Gerechtigkeit« angeklagt werde. D. h. die Sprache macht der Justiz den Prozeß und stellt sich gerade nicht in ihren Dienst. Genau diesen Charakter von Kraus’ ›Sprachlehre‹ verkenne man, wenn man »das Wort des anderen in seinem Munde nur als corpus delicti und sein eigenes nur als das richtende« begreife. Eine solche Verkennung geht für Benjamin also mit einer Deutung der Krausschen Sprache als quasi-juristischer Praxis einher, als Übertragung der juristischen Logik in und auf die Sprache, bei der die Sprache als Mittel der Anklage Verwendung findet, zum corpus delicti wird. Benjamin diskutiert Kraus’ Sprache hier also einmal mehr im Horizont jener Zäsur zwischen der Unmittelbarkeit der adamitischen Sprache und der Urteils- und Zeichensprache, zwischen der »Gerechtigkeit als Sprache« und der Mittelbarkeit der Sprache, die in seiner frühen Sprachtheorie erörtert wird. Das Kunstwort »Sprachprozeßordnung«, das über eine entstellte Ähnlichkeit im Klang gebildet wurde, ein Fremdkörper selbst im Original, wird in der englischen Übertragung nicht zitiert, sondern der sogenannt natürlichen Sprache assimiliert und übersetzt mit »linguistic rules of court«, also etwa Sprachregelung für das Gericht. Insofern ist es

13. Walter Benjamin: One-Way-Street, and Other Writings, translated by Edmund Jephcott / Kingsley Shorter, London / New York 1979, S. 286. Im weiteren Text zitiert als OWS. 132

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kein Zufall, daß im folgenden die Funktion von Wörtern als corpus delicti und als richtendes Wort gegenüber dem Original genau umgekehrt, nämlich positiv verwandelt erscheint: »It is to misunderstand his theory of language to see it as other than a contribution to the linguistic rules of court, the word of someone else in his mouth as other than a corpus delicti, and his own as other than a judging word« (OWS, 272). Aus der Verkennung des sprachlichen Bildes folgt in diesem Fall eine exakte Verkehrung der Aussage und ihrer sprachtheoretischen Implikationen. Im selben Kontext steht auch die Verkennung der sprachlichen Konstellation, in der die Ungleichzeitigkeit von Klage und Anklage beschrieben wird: der Klage, die sich an die Schöpfung adressiert, und der Anklage, die sich an das Weltgericht richtet. »Kraus ist kein historischer Genius. Er steht nicht an der Schwelle einer neuen Zeit«, so Benjamin, um im folgenden die Schwelle, an der Kraus steht, als eine andere darzustellen, als Schwelle zwischen Welt und Sprache der Schöpfung dort und der Geschichte als Weltgericht hier. »Kehrt er der Schöpfung je den Rücken, bricht er ab mit Klagen, so ist es nur, um vor dem Weltgericht anzuklagen« (IV.1, 349). Umgekehrt zur Figur der Erlösung, die mit dem Ende der Geschichte zusammenfällt, geht hier die Anklage vor dem Weltgericht mit dem Ende der Klagen einher, die nur vor dem Ohr göttlicher Gerechtigkeit von Bedeutung sind. Das Wort Weltgericht, mit dem seit Schillers geflügeltem Wort die Weltgeschichte bezeichnet wird, erinnert durch die Beziehung zur Schöpfung auch an die älteren, divergierenden Bedeutungen von weltlichem Gericht und göttlichem Gericht über die Welt, d. h. Jüngstem Gericht14; es verweist so auf den doppelten Bezug der Geschichte zum menschlichen Gesetz und zum göttlichen Urteil. Beiden nämlich ist das Urteil und die Unterscheidung zwischen gut und böse eigen, während die Welt der Schöpfung diese Unterscheidung nicht kennt. Die englische Übersetzung vereindeutigt dieses wiederum zum »Last Judgement«, wobei im gleichen Atemzug auch die Dialektik von Klage und Anklage verlorengeht: »if he breaks off in lamentation, it is only to file a complaint at the Last Judgement« (OWS, 272).15 Die Ungereimtheiten des hier sichtbar werdenden Übertragungsproblems, das im Versagen einer Übersetzung auf der Ebene des Laut- und Schriftbildes und in der Illusion universeller Übersetzbarkeit gründet, bezeichnet Derrida als Paradoxon:

14. Vgl. den Eintrag »Weltgericht« in: Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 28, München 1991, Sp. 1583 f. 15. Hervorhebung durch mich, S.W. 133

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»Ich hänge den Übersetzern keinen Prozeß an. Ich möchte nur ein Paradoxon betonen: der Begriff der grundsätzlichen Übersetzbarkeit ist poetisch an eine natürliche Sprache gebunden und widersteht der Übersetzung.«16 Und da es offensichtlich nicht oft genug betont werden kann: die Beispiele der englischen Übersetzungen in diesem Beitrag dienen ebensowenig einer Anklage bzw. einem Prozeß. Indem sie gerade Stellen unmöglicher Übersetzbarkeit betreffen, plädieren sie für eine andere Übersetzungspraxis und für eine Reflexion jener Übertragungsvorgänge, die der Übersetzung eingeschrieben sind. Die genannten Verkennungen, die vor allem Benjamins Schreibweise des Bilddenkens betreffen, begegnen zudem nicht nur in Übersetzungen seiner Schriften in eine andere Sprache, sondern mindestens ebenso gravierend in den üblichen Übertragungen seines Denkens in gängige Diskurse, etwa in der Übertragung seiner sprachlichen Bildarbeit in die Begrifflichkeit der Soziologie oder der Ideologiekritik. Auch viele deutsche Lektüren Benjaminscher Schriften tendieren dazu, seine sprachlichen Bilder entweder in Begriffe oder aber in Metaphern zu übertragen.

Zeugung und Zeugnis Das Verhältnis von Geschichte und Genealogie im Hinblick auf die Sprache wird von Benjamin immer wieder in dialektischen Bildern bearbeitet, die sich auf das Bildfeld der Zeugung beziehen. Ist mit Babel, wo das Projekt der Menschen mißlang, sich mit dem Bau einer Stadt und eines in den Himmel reichenden Turmes ›einen Namen zu machen‹, die Gleichursprünglichkeit einer Vermehrung der Sprachen und einer Zerstreuung der Völker benannt17, so bezeichnet diese Szene auch die Aufspaltung der Einheit von Genealogie und Sprachgeschichte, von leiblicher und intelligibler Fortzeugung, von soma und sema, und zwar als Wiederholung jener vorausgegangenen Zäsur des Sündenfalls, der von der Gleichursprünglichkeit von Wissen und Sexualität im Erkennen erzählt. Von hier aus entspringt eine Praxis vielfältiger Übertragungen zwischen dem Feld der Sprache / des Denkens und dem der leiblichen Zeugung. Auch in der griechischen Antike sind diese Übertragungen anzutreffen, und zwar sind sie nicht nur im Modell des sokratischen Eros tradiert, den Benjamin in seinem Anti-»Sokrates« (1916) wegen der Degradierung des Eros zum Mittel und der Vermischung der Sphären

16. J. Derrida: »Theologie der Übersetzung«, S. 20. 17. 1. Mose, 11. 134

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geistiger und leiblicher Zeugung als dämonisch bewertet hat.18 In einem Beitrag über »Sem«, in dem die Erzählungen über das Geschlecht des Sem im biblischen Umfeld der Babel-Mythe als Sem-Zerstreuung gedeutet wird, untersucht Thomas Schestag verschiedene Wortverbindungen von sema, u. a. zu semen und sem: Zeichen und Grabmal, Wort und Samen. Ähnliche Assoziationen evoziert auch das griechische Wort spermologos: der Same, das Wort, jemand oder auch ein Vogel, der Samen aufliest. Es bedeutet im übertragenen Sinne Schwätzer19, ist also eine Metapher, die offensichtlich über die Überfülle an Wörtern oder Samen funktioniert. Diese Verbindung von Wort und Same läßt sich, wie Schestag zeigt, ebenfalls durch etliche biblische Gleichnisse belegen: der Same z. B. als Wort Gottes.20 Auf einen solchen Zusammenhang zwischen Sprache und Fortpflanzung bezieht sich Benjamins obsessive und dekonstruktive Arbeit am Vergleich zwischen Zeugung und Zeugnis. Im Kraus-Essay, in einer Passage, in der er Kraus’ Bezugnahme auf die Kreatur und die darin implizite Thematisierung gesellschaftlicher Verhältnisse als Naturverhältnisse kritisch kommentiert, als Diskurs, der den idealen Anhänger als »ergebene Kreatur« geistig erst ins Leben rufe, verdichtet Benjamin seine Überlegungen in dem Satz: »Bestimmen kann sein Zeugnis nur die, denen es Zeugung nie werden kann« (II.1, 341). Steht hier eine doppelte Übertragung ins Natürliche zur Debatte, so erweist sich das Sprachspiel von Zeugnis und Zeugung21 als ein gelesenes Bild, insofern es auf die Tradition des genannten Vergleichs rekurriert und diesen in eine Figur der Ungleichzeitigkeit aufsprengt. Die Aufgabe des Übersetzers hätte es hier also mit der Übersetzung einer dekonstruierten Übertragung zu tun bzw. mit der Übersetzung eines dialektischen Bildes, das auf einen Vergleich referiert und diesen zerstört. Auch in diesem Fall wird in der englischen Übersetzung, anstatt zu zitieren, assimiliert: »His word can be decisive only for those whom it did not beget« (OWS, 265). Womit wiederum die Spuren einer Arbeit am Sprachbild, an der Übertragung der Metapher, getilgt sind.

18. Vgl. dazu ausführlicher das Kap. VII. in: S. Weigel, Entstellte Ähnlichkeit; zu »Sokrates« dort S. 154 ff. 19. Thomas Schestag: »Sem«, in: A. Hirsch (Hg.), Übersetzung und Dekonstruktion, S. 71 f.; vgl. auch Wilhelm Gemoll: Griechisch-Deutsches Schul- und Handwörterbuch, München 1991, S. 684. 20. T. Schestag, ebd., S. 72. 21. Vgl. Sigrid Weigel: »Zeugnis und Zeugenschaft, Klage und Anklage. Die Geste des Bezeugens in der Differenz von identity politics, juristischem und historiographischem Diskurs«, in: Zeugnis und Zeugenschaft. Einstein Forum Jahrbuch 1999, Berlin 2000, S. 111–135. 135

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Benjamins Kraus-Essay stellt z. T. die Ausarbeitung einer Idee dar, die in einer Notiz der Einbahnstraße vorweggenommen ist, und zwar in einem Satz, der vielleicht den extremsten Moment unmöglicher Übersetzbarkeit in Benjamins Schriften beschreibt. Unter dem Schlagwort »Für Männer« heißt es: »Überzeugen ist unfruchtbar« (IV.1, 87). Ein Denkbild par excellence, mit dem das Überzeugen, das zugleich als überzeugen gelesen werden kann, als eine Übertragung der Zeugungsökonomie in die Sprache erscheint. Dabei geht es um jene an Prokreation, an Nachkommen oder Ergebnissen ausgerichtete Ökonomie der Mittelbarkeit, die dem Vergleich zwischen Wort- und Samenfülle eingeschrieben ist und die im Effekt leerläuft. Das Überzeugen wird als überzeugen zugleich als Übererfüllung einer positivistischen Haltung, eines vom Bezeugten und vom Zeugnis abhängigen Denkens dargestellt, einer unmöglichen Haltung, die am Ende doch leer ausgeht, insofern sie auf das erhoffte Ergebnis nicht zählen, damit nicht rechnen kann. Anstatt nun der Übersetzung von überzeugen in convince eine Klammer mit dem Wortspiel des Originals einzufügen, verschiebt die englische Übersetzung das Spiel der Bedeutung auf den zweiten Teil des Satzes – »To convince is to conquer without conception« (OWS, 47, SW, 446) – und landet so bei der Form einer sexuellen Anspielung, während Benjamins Arbeit am Bildfeld von Zeugung und Schöpfung bloße Anspielungen gerade aufzusprengen sucht.

Das Eigentliche und das Un-Eigentliche Benjamins Bilddenken richtet sich vor allem gegen die Funktion von Metaphern, Vergleichen und Anspielungen in der Sprache, im Gedächtnis und im Diskurs. So grenzt er im Surrealismus-Essay den Begriff des Bildes ausdrücklich von Metapher und Vergleich ab, um daraufhin die Entdeckung des »hundertprozentigen Bildraums« zu postulieren (II.1, 309). Es sollte inzwischen deutlich geworden sein, daß dieser Bildraum keineswegs »a sphere reserved one hundred percent for images« (OWS, 239) bedeutet, sondern daß es sich um den Bildraum als Raum des Bildes handelt, um den Raum von Denkbildern, geschriebenen und gelesenen Bildern. Der spezifische Umgang mit Bildern in Benjamins Schreibweise betrifft aber nicht nur die Lektüre von Metaphern und ihre Umschrift in dialektische Bilder. Das Bild als »dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt« (V.1, 576), betrifft auch eine Sphäre des Bildraums, der sich dem Gegensatz von Metapher und Begriff, von sogenannter eigentlicher und un-eigentlicher Benennung entzieht. Und gerade hier trifft man wieder auf Stellen

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unmöglicher Übersetzbarkeit, die durch die Entscheidung für Begriff oder Metapher verborgen bleiben. Einer der meistzitierten Sätze aus Benjamins Schriften, ein Zitat im Zitat, das an diese Sphäre rührt, sperrt sich ebenfalls der Vorstellung vollständiger Übersetzbarkeit: »Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen, ›wie es denn eigentlich gewesen ist‹« (I.2, 695). Die Zitatformel wird im Englischen zu »the way it really was« und zudem um den Autornamen Ranke ergänzt,22 womit aus der umgangssprachlichen Wendung, aus einem on-dit ein Originalzitat wird. Das »eigentlich« in dieser zitierten Formel changiert aber nicht allein zwischen den möglichen englischen Äquivalenten wie really, actually und in fact. Es zitiert auch jenes ›Eigentliche‹, d. h. ruft jenes beim Namen auf, das einer philosophischen Sphäre des ›Unbegrifflichen‹ entstammt, die Hans Blumenberg u. a. mit Bezug auf Heidegger untersucht hat. Nach ihm entspringt die philosophische Negation des Eigentlichen einer Sphäre des Seins, die metaphorisch nicht zu fassen ist. Die »Uneigentlichkeit unserer Existenz«, die Heidegger im Konzept seiner Seinsgeschichte »als Episode der Seinsverborgenheit, besser: der Seinsverbergung des Seins« begriffen habe, wird von Blumenberg dabei als Antwort auf die metaphorische Verfehlung der Eigentlichkeit gedeutet: »Daß Dasein In-der-Welt-Sein ist, bedeutet gerade, daß die Welt dieses In-Seins nicht aus ›Gegenständen‹ besteht, aber auch nicht in Metaphern erfaßt werden kann.«23 Indem Benjamin mit seinem Zitat auch diese Bedeutung mit aufruft, entwirft er doch zugleich eine andere Antwort auf die notwendig verfehlte Eigentlichkeit. Aus seiner Verneinung des »eigentlich« folgt keine Bezugnahme auf das Uneigentliche, weder auf das der Metaphorik noch das einer ontologischen Umschrift des Uneigentlichen in Seinsverborgenheit. Statt dessen kehrt er zur Wörtlichkeit und zum Ursprung des Nicht-Eigentlichen zurück, indem er den in den Begriffen verborgenen Bildcharakter der Worte wieder hervortreibt, aufruft oder zitiert. Vergleichbar ist dieses Verfahren einer Rückwendung zu jenen Ursprungstropen, denen der philosophische Diskurs entsprungen ist und die erst im Zuge der Abgrenzung der Philosophie gegenüber dem Mythos und über die Verleugnung ihres Bildcharakters zu einer Sprache des Eigentlichen mutiert sind, zu Begriffen, von denen dann die Metaphern als »unrein« und uneigentlich abgespalten werden.24

22. Walter Benjamin: Illuminations, Hannah Arendt (Hg.), translated by Harry Zohn, Fontana 1973, S. 257. 23. Hans Blumenberg: »Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit«, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher, 2., ergänzte Ausgabe, Darmstadt 1996, S. 452. 24. Vgl. Jacques Derrida: »Die weiße Mythologie. Die Metapher im philosophischen 137

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An diese Bewegung erinnert Benjamins Sprachgebrauch und sein Begriff des Bildes, der hinter diese Aufspaltung in Begriff und Metapher zurückgeht. Er erinnert daran, daß in jedem Bild eine Heterogenität von Intelligiblem und Sinnlichem zu einer Konstellation zusammentritt. Mit dem Verfahren, das Wort beim Namen aufzurufen, nähern sich die Worte den Eigennamen und damit einer Schicht der Sprache, in der das Gesetz ihrer Übersetzung auf eine genuine Unübersetzbarkeit stößt, die der Gleichzeitigkeit von Buchstäblichkeit und Bedeutung geschuldet ist. So hat Stéphane Mosès in einer Untersuchung der biblischen Namen zeigen können, daß deren Namenslogik, die der Struktur der hebräischen Sprache eingeschrieben ist, »per definitionem unübersetzbar ist«. Trifft dieses für den göttlichen Namen ohnehin zu, so zeigt Mosès auch an solchen Namen wie z. B. jiZH’aK (Isaak) deren Gleichzeitigkeit von Buchstäblichkeit und Sinn, der in den lateinischen und deutschen Bibel-Übersetzungen dann regelmäßig in der Alternative zwischen semantischer oder onomatopoetischer Übertragung verschwindet.25 In der Schlußpassage des Übersetzer-Aufsatzes, an der Schwelle zwischen den Hölderlinschen Sophokles-Übersetzungen und dem Heiligen Text, steht bei Benjamin der Satz: »Aber es gibt ein Halten« (IV.1, 21). Wo im Begriff des Halts, der sowohl Stillstand als auch Stütze meint, die Differenz von ›innehalten, anhalten, festhalten‹ verschwunden wäre, eröffnet »ein Halten« eine andere Spur. Im Wort halten verbirgt sich nämlich auch eine vorausgegangene Bedeutung im Sinne von ›hüten, achten auf, beobachten‹, womit sich das Halten, das derart zwischen verschiedenen Sinnen changiert und auch als sorgendes Schauen gelesen werden kann, als Haltung einer spezifischen Wahrnehmungsmöglichkeit erweist. Da diese Erörterung des Benjaminschen Sprachgebrauchs als Bilddenken in einer unabschließbaren Serie fortgesetzt werden könnte, greife ich, um an dieser Stelle abbrechen zu können, zur Übersetzungs-Stütze, wo es für »aber es gibt ein Halten« heißt: »There is, however, a stop« (SW, 262).

Text«, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 205–258. Diese stehen in einer gewissen Verbindung zu den »absoluten Metaphern« bei Hans Blumenberg: »Paradigmen zu einer Metaphorologie«, in: A. Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher, S. 285–315. 25. Stéphane Mosès: »›Ich werde sein, der ich sein werde‹. Zur Unübersetzbarkeit der biblischen Gottesnamen«, in: Carola Hilfrich-Kunjappu / Stéphane Mosès (Hg.), Zwischen den Kulturen. Theorie und Praxis des interkulturellen Dialogs, Tübingen 1997. 138

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Literatur Adorno, Theodor W.: Noten zur Literatur, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1981. Benjamin, Andrew: »Ursprünge übersetzen. Psychoanalyse und Philosophie«, in: Hirsch (Hg.), Übersetzung und Dekonstruktion (1997), S. 231–262. Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung v. Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1974 ff. — Illuminations, hg. v. Hannah Arendt, übers. v. Harry Zohn, Fontana 1973. — One-Way Street, and Other Writings, übers. v. Edmund Jephcott und Kingsley Shorter, London / New York 1979. — Selected Writings. Volume I, 1913–1926, hg. v. Marcus Bullock u. Michael W. Jennings, London 1996; Volume II, 1927–1934, hg. v. Michael W. Jennings, Howard Eiland u. Gary Smith, London 1999. Blumenberg, Hans: »Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit«, in: A. Haverkamp (Hg.) (1996), Theorie der Metapher, S. 438–454. — Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a. M. 1998. Auszugsweise in: A. Haverkamp (Hg.) (1996), Theorie der Metapher, S. 285– 315. Derrida, Jacques: »Die weiße Mythologie. Die Metapher im philosophischen Text«, in: Peter Engelmann (Hg.), Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 205–258. — »Theologie der Übersetzung«, in: Hirsch (Hg.), Übersetzung und Dekonstruktion (1997), S. 15–36. — »Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege«, in: Hirsch (Hg.), Übersetzung und Dekonstruktion (1997), S. 119–165. Freud, Sigmund: Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904. Ungekürzte Ausgabe, hg. v. Jeffrey Moussaieff Masson, Frankfurt a. M. 1986. Gemoll, Wilhelm: Griechisch-Deutsches Schul- und Handwörterbuch, München 1991. Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 28, München 1991. Haverkamp, Anselm (Hg.): Theorie der Metapher, 2. ergänzte Ausgabe, Darmstadt 1996. Hirsch, Alfred (Hg.): Übersetzung und Dekonstruktion, Frankfurt a. M. 1997. Mosès, Stéphane: »›Ich werde sein, der ich sein werde‹. Zur Unübersetzbarkeit der biblischen Gottesnamen«, in: Carola Hilfrich-Kunjappu / St. Mosès (Hg.), Zwischen den Kulturen. Theorie und Praxis des interkulturellen Dialogs. Im Auftr. des Franz-Rosenzweig-Forschungszentrums für Deutsch-Jüdische Literatur und Kulturgeschichte der Hebräischen Universität Jerusalem, Tübingen 1997, S. 66–77. Paul, Hermann: Deutsches Wörterbuch. 9. vollständig neu bearbeitete Ausgabe, Tübingen 1992. 139

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SIGRID WEIGEL

Schestag, Thomas: »Sem«, in: Hirsch (Hg.), Übersetzung und Dekonstruktion (1997), S. 64–118. Tawada, Yoko: »Ein Email für japanische Gespenster«, in: Corina Caduff / Johanna Pfaff-Czarnecka (Hg.), Ritual heute. Theorien, Kontroversen, Entwürfe, Berlin 1999, S. 219–225. Weigel Sigrid: Body- and Image-Space. Re-reading Walter Benjamin, übers. v. Georgina Paul unter Mitarbeit von Rachel McNicholl / Jeremy Gaines, London 1996; dt. (nicht völlig identisch): Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise, Frankfurt a. M. 1997. — »Zeugnis und Zeugenschaft, Klage und Anklage. Die Geste des Bezeugens in der Differenz von identity politics, juristischem und historiographischem Diskurs«, in: Zeugnis und Zeugenschaft. Einstein Forum Jahrbuch 1999, Berlin 2000, S. 111–135.

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Schriftstörungen. Anmerkungen zur Ambivalenz der Legasthenie Roger Hofmann

Daß wir in einer Schriftkultur leben, wird trotz der Befürchtung einiger und der Hoffnung anderer, sie könnte durch die Neuen Medien entscheidend geschwächt werden, schon anhand weniger Beispiele offensichtlich: Die Grundlage unseres Gemeinwesens, die Verfassung, existiert ebenso in schriftlicher Form wie die Gesetzestexte, an denen sich die Rechtsprechung orientiert. Wissenschaften sind ohne schriftliche Notation ebensowenig denkbar wie die zur zweiten Natur gewordene und daher scheinbar selbstverständliche Organisation von Gemeinwesen, deren Komplexität diejenige von Stammesgesellschaften übersteigt. Um letzteres zu veranschaulichen, genügt ein Blick ins Telefonbuch oder auf einen beliebigen Stadtplan. Die gängige Vorstellung von Schrift sieht diese als eine bloß ›technische‹ Ausdehnung sprachlicher Verlautbarungen in Raum und Zeit. Mit einer Irritation, die weniger der Geringschätzung der Schrift als einer geringschätzigen Auffassung der Wirkmächtigkeit technischer Medien geschuldet war, las ich vor längerer Zeit in Derridas programmatischem Essay De la grammatologie einen Satz, den ich hier aus dem Gedächtnis zitiere: »Das Wesen des Graphems ist testamentarisch«. Dieser Satz stand für mich am Beginn einer anderen Auseinandersetzung mit Schrift, in deren Verlauf deutlich wurde, daß die Bestimmung von Schrift als einer Ausdehnung von Sprache in Raum und Zeit bestimmte Implikationen enthält, die in einen scheinbar homogenen Raum Diskontinuitäten, Trennungen und Unsicherheiten einführen. Ähnlich wie bei der gesprochenen Sprache geraten auch die Merkmale und die Funktionsprinzipien der schriftlichen Sprache erst unter der Bedingung einer gewissen Fremdheit in den Blick. Mit Derrida und in verkürzter Form möchte ich drei Prädikate des klassischen Begriffs von Schrift – auf den ich mich hier beschränken möchte – festhalten1:

1. Vgl. Jacques Derrida: »Signatur Ereignis Kontext«, in: ders., Randgänge der Philosophie, Frankfurt a. M. / Berlin / Wien 1976, S. 135 ff. 141

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ROGER HOFMANN

1. Ein schriftliches Zeichen (Derrida verwendet den Term marque / Marke) überdauert die Gegenwart seiner Einschreibung und seines Schreibers. In gleicher Weise muß Schrift auch in Abwesenheit eines bestimmten Empfängers funktionieren können. Hervorheben möchte ich an dieser Bestimmung das Moment der Trennung, einer strukturellen und nicht bloß kontingenten Abwesenheit, und das damit verbundene ›Eigenleben‹ der Schrift. (Ich denke übrigens, daß dies das Schreiben in bestimmter Hinsicht von Praktiken wie Piercing oder Tätowieren unterscheidet.) 2. Das schriftliche Zeichen enthält strukturell die Möglichkeit, mit dem Kontext, in dem es eingeschrieben wurde, zu brechen. Das heißt auch, daß es keine letztliche Sicherheit darüber gibt, ob eine schriftlich fixierte Äußerung gemäß der Intention ihres Schreibers gelesen wird. Anders als es der Satz vom Wesen des Graphems als einem testamentarischen also zunächst nahezulegen scheint, gibt es eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich dessen, wie etwas Geschriebenes gelesen worden sein wird. 3. Hinsichtlich der Raum und Zeit erweiternden und sie damit allererst schaffenden Überlieferung bedarf die Schrift einer Verräumlichung, »die sie von allen Formen eines gegenwärtigen […], subjektiven oder objektiven Referenten trennt.«2 Als Archiv oder Depot stellt Schrift ein externalisiertes Gedächtnis dar, dessen Relevanz sich daran ermessen läßt, daß – wie Vertragstexte zeigen – eine schriftlich fixierte Äußerung auch dann bindend bleibt, wenn sich der situative Kontext und damit die Intention des sie einschreibenden Subjekts verändert haben werden. Das Funktionieren einer literalen Gesellschaft setzt voraus, daß mindestens ein Teil ihrer Mitglieder dazu in der Lage ist, auf dieses Archiv zuzugreifen und es zu bedienen, Texte zu lesen und auch zu schreiben. Wenn auch nicht zur Gänze, mißt sich der Grad der Demokratisierung einer Gesellschaft nicht zuletzt an der Demokratisierung von Lesen und Schreiben und der Überlieferung dieser Fähigkeiten, der Überlieferung des Zugangs zur Überlieferung. In diesem Zusammenhang ist es kein Zufall, daß Platon, der mit seinen verschrifteten Dialogen grundlegende Texte zur Demokratie überliefert hat, einer der ersten abendländischen Theoretiker ist, die sehr differenziert und nicht ohne Ambivalenz (z. B. im Phaidros) die Eigenarten der Schrift reflektiert haben. Zusammen mit anderen europäischen Schriften lässt sich die deutsche in Relation zu anderen Schriftsystemen wie den Bilder- oder Begriffsschriften als Buchstaben- oder Lautschrift nach dem alphabetischen System bezeichnen. Anders gesagt: Sie funktioniert durch ein elementares Prinzip – dem Zuordnen von bedeutungsunterscheidenden

2. Ebd., S. 136 f. 142

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Lauten, Phonemen, von denen es im Deutschen ca. 40 gibt, zu bestimmten Buchstaben oder Buchstabenkombinationen, sogenannten Graphemen3. Der Vorteil einer solchen Schrift liegt auf der Hand: Anders als eine logogrammatische Schrift, in der jedem Begriff ein eigenes Symbol zugeordnet wird, kommt etwa die deutsche Alphabetschrift – ohne Umlaute – mit 26 Zeichen aus. Die Ausschöpfung der Kombinatorik dieser sehr begrenzten Anzahl von Zeichen ermöglicht die Bildung aller Wörter, die es in der deutschen Sprache gibt oder in ihr geben kann. Dieses offensichtlich sehr ökonomische System erfordert allerdings von den an ihm teilnehmenden Subjekten eine sehr hohe Abstraktionsleistung, das heißt einen Aufschub unmittelbaren Erlebens und unmittelbarer Befriedigung. Beim Lesen ist nämlich nicht primär die Vorstellung der gemeinten Objekte (Referenten) bestimmend, sondern die Übersetzung schriftlicher Zeichen in eine akustische Struktur. Zu lesen bedeutet also in technischer Hinsicht das Artikulieren von Lautkombinationen auf der Grundlage der optischen Wahrnehmung der Schriftzeichen und schließlich die durch die Rhythmisierung dieser Lautkombination gegebene Bedeutungsfindung. Die daraus entstehende Welt wird eine andere gewesen sein, als sie es vorher war. Und was man sich damit einhandelt – ich erinnere nochmals an die oben genannten Bestimmungen –, ist ungewiß. Sind Lesen und Schreiben, das heißt Schrift, einmal in ›Fleisch und Blut‹ übergegangen, geht dies meist einher mit dem Vergessen der Mühe, die der Prozeß des Lesen- und Schreibenlernens erfordert hat. Walter Benjamin hat dieses Vergessen in seiner Berliner Kindheit um Neunzehnhundert sehr treffend mit einem Gleichnis beschrieben. Anhand eines Geräts, das heute außer Mode gekommen ist, einem Lesekasten, beschreibt er seine Erinnerung an das mühevolle Zusammensuchen von Buchstaben, die im Zusammenspiel von paradigmatischer Selektion und syntagmatischer Reihung verfahrend schließlich ein Wort ergaben. »Die Hand«, schreibt Benjamin, könne diesen Griff »noch träumen, aber nie erwachen, um ihn wirklich zu vollziehn. So mag manch einer träumen, wie er das Gehn erlernt hat. Doch das hilft ihm nichts. Nun kann er gehen; gehen lernen nie mehr.«4 Dieses Gleichnis erinnert nicht nur an die handgreifliche Leistung, die der Erwerb der schriftlichen Sprache darstellt, sondern darüber hinaus daran, daß der Weg in die Schriftlichkeit eine Einbahnstraße ist. Auch wenn ein Subjekt bereits gut sprechen kann, bedeutet der Prozeß des Lesen- und Schreibenlernens eine enorme kulturelle Leistung, die ein einmal literalisiertes Subjekt nicht mehr als solche wahr-

3. Das Graphem ›sch‹ etwa entspricht einem Phonem. 4. Walter Benjamin: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, (Der Lesekasten), Frankfurt a. M. 1979, S. 86. 143

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nimmt; mit Benjamin: derjenige, der lesen gelernt hat, kann nicht mehr lesen lernen. Dies kann dazu führen – und das dürfte die Crux vieler Pädagogiken sein –, daß die mit diesem mühevollen Prozeß verbundenen Fragen unerhört, die damit einhergehenden Irrtümer und Fehler unbeachtet bleiben oder geringgeschätzt werden. (Bettina Noddings hat in diesem Zusammenhang vom »Lerngehorsam« gesprochen, der eine ›symbolisierende Tätigkeit‹ hemme.) Literalisierte Menschen tendieren dazu, zu vergessen, welche Mühen das Aufeinandertreffen eines sprechenden Körpers mit dem System oder der Struktur der jeweiligen Schrift bereiten und welche Irritationen dieses Aufeinandertreffen auslösen kann. Im Gegensatz zu entwicklungspsychologischen Annahmen stellt der Schriftspracherwerb keinen genetischen und kontinuierlichen Prozeß dar; vielmehr findet das Zusammentreffen von Schrift und Körper an einem Ort statt, der wortwörtlich als Schnittpunkt aufzufassen ist. Um die Relevanz dieses Ortes zu verdeutlichen, möchte ich das bereits Benannte unter einer etwas anderen Perspektive zusammenfassen: Die Schrift ist nichts Natürliches, das jedes Subjekt in die Wiege gelegt bekommen hätte, sondern sie ist ein durch und durch kulturelles und von Kultur zu Kultur verschiedenes Medium. An diesem System zu partizipieren und damit über die bloße Präsenz hinauszugehen bedeutet, einen Teil individueller Freiheit zu opfern, ein Prozeß, der einer Initiation gleichkommt und bei dem das Subjekt nicht weiß, was es sich einhandelt. Anschaulich gesagt: Um das geschriebene Zeichen, den Buchstaben, an Ihrer Stelle ›sprechen‹ zu lassen, dürfen Sie nicht schreiben, wie Sie wollen, und zwar in zweierlei Sinn: Die Besonderheit einer jeden Handschrift darf nicht so besonders sein, daß niemand sie mehr lesen kann. Und um eine lesbare Spur zu hinterlassen, müssen Sie sich bestimmten elementaren und für alle geltenden Regeln unterwerfen – der Rechtschreibung. Die Akzeptanz für dieses in der Überlieferung Gesetzte setzt eine gewisse autoritative Orientierung sowie die Zuversicht voraus, daß man bei diesem Schritt, der mit einem Mehr an Einsamkeit verbunden ist, nicht verlorengeht. Mag sein, daß sich das etwas mildern läßt – vermeiden läßt es sich nicht. Trotz der zunehmenden Konkurrenz durch audiovisuelle Medien einerseits, ›sanfter‹ Formen von Pädagogik, für die Schwierigkeiten beim Umgang mit Schrift nicht gleichbedeutend mit Debilität sind, andererseits gilt die Fertigkeit des Lesens und Schreibens bis auf weiteres als Indikator für das Lernvermögen eines Subjekts. Subjekte mit legasthenischen Störungen – und das sind beileibe nicht immer nur Kinder – bewegen sich innerhalb literalisierter Gesellschaften in Bereichen, die vor dem Gehen-Lernen im benjaminschen Sinne liegen. Anders (das heißt weniger entwicklungspsychologisch) gesagt: Sie bewegen sich in einem gewissen ›Außerhalb‹. Der damit verbundene Leidensdruck kann enorm sein. 144

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Bei dem, was die Mediziner Legasthenie5 oder dyslexia und die Pädagogen Lese- / Rechtschreibschwäche oder -störung nennen, handelt es sich um ein vielfältiges und privilegiertes Symptom, dem wie jedem Symptom eine gewisse Ambivalenz innewohnt. Daß es privilegiert ist, lehrt seine Häufigkeit; daß es vielfältig ist, seine sehr unterschiedlichen Erscheinungsweisen. Wenn Lesen und Schreiben ein Subjekt mit den schwarzen Buchstaben konfrontiert und das Lebendig-Werden dieser toten Lettern nur unter der Voraussetzung statthat, daß in einer Art symbolischen Stoffwechsels ein Besonderes preisgegeben wird, steht vor dieser Schwelle bisweilen die Angst. Lea, ein achtjähriges Mädchen, das gravierende Schwierigkeiten hat, die Buchstaben lesend zu Silben zusammenzufügen, kann nicht darauf vertrauen, daß sich beim Lesen von Worten ein Sinn einstellt. Sie erzählt mir von einem wiederkehrenden Angsttraum, in dem die Buchstaben lebendig werden und in chaotischer Weise durcheinanderpurzeln, sie derart verwirren, daß sie angsterfüllt erwacht. Im Umfeld dieser Traumerzählung kommt sie auf einen totgeborenen großen Bruder zu sprechen, von dem ihre Mutter und ihr Vater nicht sprechen möchten. Ein Fehl in der Geschwisterreihe. »Und dann kam ich.« Was von diesem Bruder geblieben ist, ist ein Name. Den sie mir aufschreibt. Einige Zeit später träumt sie, daß die Buchstaben zu tanzen beginnen – »so wie ein Walzer«. Im Zuge dieses Traums vom Paartanz der Lettern beginnt sie, Konsonanten und Vokale, wie Lichtenberg sagt, »Buchstabenmännchen und Buchstabenweibchen« zu kombinieren (man spricht bei dieser Synthese von »Lautverschmelzung«), und leiht ihre Stimme einem Anderen, dem sie im gleichen Zug auch den totgeborenen Bruder zurückerstattet hat. Das Zusammenspiel von Oralität und Literalität habe ich selten in kondensierterer Form wahrgenommen. Mit der außerfamilialen Institution Schule, und das heißt mit Lesen und Schreiben, ist die für viele Kinder, mit denen ich zu tun bekomme, schmerzliche Erfahrung verknüpft, daß es nicht ausreicht, dem anderen zu gefallen. Die imaginären Ränkespiele um bös- oder gutwillige Lehrer, Schüler und Eltern verstellen nicht selten etwas, das die Schule – man traut sich kaum, das zu sagen – auch sein könnte: der Ort eines symbolischen Tauschs. Der gegenwärtige Zustand dieser Institution, deren Aufgabe es nicht zuletzt ist, Überlieferung über die familiale Sphäre hinaus herzustellen und zu sichern, stimmt nicht gerade optimistisch. Ich kenne kaum eine Institution, die derartig von Aggressivität durchdrungen ist wie die Schule. Daß diese Aggressivität – und zwar

5. Der Begriff selbst setzt sich zusammen aus lat. »legere« (lesen) und griech.-neulat. »asthenes« (schwach), womit er ein Phänomen beschreibt, das in der Tat bei fast allen legasthenischen Personen vorhanden ist: die Unfähigkeit, flüssig zu lesen. 145

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nicht nur in den spektakulären shot-downs in den USA – sich zunehmend im Realen manifestiert, zeugt vom Unvermögen, die Öffnung auf ein Drittes zu bewerkstelligen. Das Wissen-Müssen und die damit einhergehende Funktionalisierung des Überlieferten verstellen ein Vermittelndes, das um so rätselhafter erfahren wird, je weniger das Kind von seinen primären Bezugspersonen darauf vorbereitet wurde. Fast immer gehört zum Szenario eines am Erwerb der schriftlichen Sprache scheiternden Kindes ein Familienmitglied, das bis zum Erbrechen mit ihm übt: in der Regel die Mutter. Solange das Kind nicht in das System der Schriftsprache, in dieses System von Abwesenheit eintritt, bleibt die Mutter – meistens ratlos, manchmal rührend und mitunter penetrant – anwesend, indem sie zu kompensieren versucht, was ein offensichtliches Defizit auf seiten des Kindes darstellt. Ihre Resonanz findet diese Zweieinigkeit noch in einem kindlichen Sprechen, dessen einzige Ausrichtung und Aufmerksamkeit – mal schmeichelnd, mal bösartig und meist ununterscheidbar – dahin geht, die Anwesenheit des anderen zu prolongieren. Es ist schon eine Zeitlang her, daß ich einen damals neunjährigen Jungen nach einiger Zeit gemeinsamer Arbeit etwas ratlos gefragt hatte, was denn eigentlich sein Problem beim Lesen und Schreiben sei. Die Antwort kam prompt und in ihrer Deutlichkeit überraschend: »Ich war schon immer etwas Besonderes.« An diese gesprochene und damit ein wenig preisgegebene Besonderheit ließ sich anknüpfen, und es kam etwas in Gang, was diesen Jungen von mir weg und zur Schrift führte. Daß etwas in Gang kommt mit der Schrift und nicht vom anderen festgeschrieben wird, davon ist die hierzulande gängige Legastheniediskussion oft weit entfernt. Statt dessen florieren eher fragwürdige Theorien und Therapieformen, die nicht selten auf medizinisches Halbwissen, etwa über Überleitungsstörungen im Zusammenspiel von rechter und linker Gehirnhälfte, rekurrieren und deren therapeutischer Formenkatalog sich darin erschöpft, große und kleine Menschen Achter in die Luft malen zu lassen, um eben dieses defizitäre Zusammenspiel von linker und rechter Gehirnhälfte zu kompensieren – mittlerweile gibt es ganze Schulklassen, in denen Kinder zu Beginn der Stunde fünf Minuten Achter in die Luft malen müssen, weil sie nicht schreiben und lesen lernen. Die Albernheit solcher gehirngymnastischer Übungen sollte nicht den Blick darauf verstellen, daß in deren Umfeld auch immer wieder von der besonderen Begabung legasthenischer Subjekte auf anderen Gebieten die Rede ist. Kaum zu relativieren ist, wie oft diesbezüglich der Name Einstein ins Spiel gebracht wird. Daß es bei denen, die aufgrund ihres mangelnden oder mangelhaften Zugangs zur Schrift permanent mit der Drohung des sozialen Ausschlusses konfrontiert sind, starke kompensatorische Bemühungen gibt, kann kaum überra146

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schen; trotzdem ist die Zahl derer, die am Schriftspracherwerb scheitern, gleichwohl aber nichts der Relativitätstheorie Vergleichbares ins Werk setzen, sondern an der Lektüre eines Behördenformulars verzweifeln, vergleichsweise groß. Außerordentlich groß übrigens ist der Anteil legasthenischer Subjekte an der juvenilen Delinquenz. Im Rekurs auf solche, näherer Betrachtung kaum standhaltende Theorien gibt sich ein Verlangen preis, das meist weniger von den betroffenen Subjekten als von deren Familienangehörigen getragen wird. Dieses Verlangen richtet sich nicht nur auf eine mögliche Heilung, sondern ebenso auf die Benennung einer »Ursache« für das Scheitern an der Schrift. Im Rahmen eines Universitätsseminars, das ich vor einiger Zeit veranstaltet hatte, sagte mir eine Teilnehmerin, nachdem ich einige Bedenken gegenüber der medizinisch-psychiatrischen Diagnostik von Legasthenie skizziert hatte, sie (und sie sprach da im Plural, womit sie ihren Sohn und sich bezeichnete), sie seien froh gewesen, daß ihnen in Person des Arztes jemand sagte, weshalb ihr Sohn nicht lesen und schreiben konnte: »Da hatten wir wenigstens einen Grund, bei dem wir anfangen konnten.« Die damit verbundene Entlastung war zweifellos enorm, bedeutete sie doch einerseits das Ende der Ungewißheit, andererseits den Dispens von der Auseinandersetzung mit der offenen Frage nach dem Scheitern der Überlieferung. Was allerdings bleibt, ist die Frage, wie sich von diesem Grund ausgehen läßt und wohin das führen kann. Der Weg des besagten Jungen führte von diesem Grund über die jahrelange Einnahme von Amphetaminen zum Malen von Achten. Gerade dann, wenn man kein Verfechter der Klippschule ist, sollte man auf die Ambivalenz achten, die dem Symptom der Legasthenie zu eigen ist. Zwangsläufig setzt sie sich fort bis in jene Institutionen und Verbände, die sich auf dieses Symptom gründen. Zusammen mit der ehemaligen Vorsitzenden und Gründerin des »Landesverbandes Legasthenie« in Hessen trat bis vor einiger Zeit auf jedem jährlichen Landeskongreß dieses Verbandes ihr Sohn, ein Jurist, auf, der von seinem Leidensweg als Legastheniker berichten konnte. Mutter und Sohn haben unter dem Titel der Legasthenie eine Selbsthilfeorganisation gegründet, der es gelungen ist, beim Hessischen Kultusministerium einen partiellen Notenschutz für Kinder mit Lese- / Rechtschreibschwäche zu erwirken. In einem weitverbreiteten Buch, das den Titel Legasthenie und andere Wahrnehmungsstörungen trägt und in dem die Autorin u. a. auf die organischen Ursachen – Gründe – der Legasthenie zu sprechen kommt, berichtet sie in der Einführung (»Die Leiden des jungen D. oder ein Drama in unzähligen Akten und unerwartet gutem Ausgang«) von einer verständnisvollen Direktorin, auf deren Schule ihr Sohn endlich seine Fähigkeiten entfalten konnte: »Und denken kann er

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ja, dazu bedarf es keiner Buchstaben«6 – schreibt seine Mutter, wie man hinzufügen kann. Das läßt sich Relation setzen zu dem, was Lacan in Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud zum Verhältnis des Geistes zum Buchstaben schreibt, welch letzterer »alle seine Wahrheitswirkungen im Menschen tätigt, ohne daß der Geist auch nur das geringste damit zu schaffen hat.«7 Lohnenswert wäre in diesem Zusammenhang auch, den Prozeß des Lesens und der damit einhergehenden Bedeutungsfindung auf Lacans Graph des Begehrens8 zu situieren. Der Vektor s(A)→A entspräche in diesem Fall einer Schrift, deren nachträgliche Bedeutsamkeit im Steppunkt s(A) erst unter der Voraussetzung realisiert werden kann, daß die Intention des Subjekts den schriftlichen Signifikanten in A, dem Ort des Anderen, verlautbaren kann. Gestützt wird diese Realisierung von Bedeutsamkeit durch einen Halt, der, grundlos gründend – und ich möchte hier noch einmal an die eingangs erwähnte strukturelle Abwesenheit erinnern –, bei Lacan Name-des-Vaters heißt. Das schützt nicht vor Ambivalenz, aber es hält sie aus.

Literatur Benjamin, Walter: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, Frankfurt a. M. 1979. Derrida, Jacques: »Signatur Ereignis Kontext«, in: ders., Randgänge der Philosophie, Frankfurt a. M. / Berlin / Wien 1976, S. 124–155. Firnhaber, Mechthild: Legasthenie und andere Wahrnehmungsstörungen. Wie Eltern und Lehrer helfen können, 2. überarb. Neuauflage, Frankfurt a. M. 1996. Lacan, Jacques: »Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud«, in: ders., Schriften II, Olten / Freiburg i.Br. 1975, S. 15–55. — »Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewußten«, in: ders., Schriften II, Olten / Freiburg i.Br. 1975, S. 165–204.

6. Mechthild Firnhaber: Legasthenie und andere Wahrnehmungsstörungen. Wie Eltern und Lehrer helfen können, 2. überarb. Neuauflage, Frankfurt a. M. 1996, S. 17. 7. Jacques Lacan: »Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud«, in: ders., Schriften II, Olten / Freiburg i.Br. 1975, S. 34. 8. Vgl. Jacques Lacan: »Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewußten«, in: ders., Schriften II, Olten / Freiburg i.Br. 1975, S. 183. 148

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Schrift-Störungen Bettina Noddings

»Schrift-Störungen« kann man einerseits als Störung in Beziehung zur Schrift, andererseits als Aufstörung durch die Schrift lesen. Etymologisch ist Schreiben mit Schneiden, Ritzen, Eingraben und Malen verbunden.1 Bei einem Schnitt ist nachher etwas anders als vorher. Die Zunahme klinisch bedeutsamer Phänomene wie Piercing, Tätowieren, Schnitte in den Körper als Selbstverletzung und Selbstschutz, Kratzen bei Hautkrankheiten, Eßstörungen sowie frühkindliche Sprachstörungen lassen nach einem Zusammenhang mit Schrift fragen. Wären diese Symptome unter anderem als Umwege zu Markierungen und Beschriftungen des Körpers zu sehen, die auf ihre Weise nach dem fragen, was Freud unter »Leibeserbe« und Lacan unter »Einschreibung« versteht?2 Wie kommt die Überlieferung zum Subjekt – wie wird ein Kind in seiner Hilflosigkeit ›schrift-gelehrt‹? Wie wird die Notwendigkeit, zu lernen und Zugang zur Schrift zu finden, zwischen den Generationen und im Feld zwischen Schule und Familie – dem Wissens- und dem familiärem Diskurs – übertragen, übersetzt und überliefert? Der Schriftkultur geht eine Kultur der mündlichen Überlieferung (Oralität) voraus. Innerhalb der Schriftkultur (Literalität)3 lassen sich drei Etappen im Lernen unterscheiden, die aufeinander aufbauen: 1. Eine vor-schriftliche (präliterale) Einführung, die schon in der

1. Zu lat. ›scribere‹ und griech. ›graphein‹; idg. ›sker‹ = ›schneiden‹, s. Gerhard Wahrig: Deutsches Wörterbuch, Gütersloh 1994. 2. »Das Über-Ich, das solcherart die Macht, die Leistung und selbst die Methoden der Elterninstanz übernimmt, ist aber nicht nur der Rechtsnachfolger, sondern wirklich der legitime Leibeserbe derselben« (Sigmund Freud, »Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse«, in: ders., Gesammelte Werke, 15. Bd., London 1940, S. 68). 3. Vgl. dazu Barry Sanders: Der Verlust der Sprachkultur, Frankfurt a. M. 1995. 149

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BETTINA NODDINGS

Schriftkultur steht und die für den Zugang zum Schreiben notwendigen Mittel entstehen läßt; 2. eine Etappe des Erlernens der Buchstaben, des Schreibens und Lesens (diese Etappe stellt die Wirksamkeit der ersten auf die Probe); 3. eine Etappe der Ausbildung der Abstraktionsfähigkeit mit Hilfe von Schrift und Textstudium – bis hin zur Übermittlung. Immer schärfer treten in der Generationenfolge, in der Lehre der Schule und in der Kultur Schwierigkeiten mit der ›Instituierung des Lebens‹ im Subjekt hervor. Bei der ›Instituierung des Lebens‹ geht es einerseits um die subjektive Konstituierung, das heißt die Herausbildung der Subjektivität eines Menschen – und andererseits um die Reproduktion der Subjektivität innerhalb der Generationenfolge. Dies geschieht durch den Imperativ der Differenzierung oder das Verbot. Bei diesem Verbot geht es »um die Fähigkeit eines jeden Menschen, in Bindungen einzutreten, in dem er das, was dem Leben entgegensteht, Inzest und Mord in jeglicher Form, umwandelt.«4 Diese Umwandlung ist sprachlich vermittelt. Die aktuellen Schrift-Störungen weisen – auf mehreren Ebenen – hin auf Schwierigkeiten mit der Bindung an die Schriftkultur sowie deren autoritativer Übermittlung. Damit Subjektivität – als einmalige Differenz – und Zugang zur Schrift entstehen, ist eine Verbindung von Rezeptivität (Empfänglichkeit) mit autoritativer Setzung nötig. Die Dimension der Rezeptivität – als Hören, Aufnehmen und ›Einverleiben‹ – bildet sich besonders in den Begegnungen mit der mündlichen Überlieferung, der Oralität, heraus. Geben und Empfangen von Nahrung, Worten und darüber hinaus von Sinn und Bedeutung bringen die Dimension des Anderen ins Spiel; in unserem Zusammenhang besonders die wechselseitige Aufmerksamkeit und Empfangsbereitschaft für Stimme und Blick des Anderen. Intensive und vielseitige Spracherfahrungen mit lebendigen – nicht virtuellen – Menschen sind notwendig für die spätere Literalität. Das Sprechen entsteht am Ort des Anderen, an dem ich gehört werde. Werde ich gehört, so bewirkt dies eine Ermächtigung oder Autorisierung der eigenen Stimme – eine der Voraussetzungen des Schreibenkönnens. Wie wird nun die erfahrene Oralität in Literalität übersetzt? Wie nimmt ein Kind noch im Vorfeld des Schreibenlernens etwas von der Schriftkultur auf, und wie wird es aktiv darauf vorbereitet? Zunächst in Ritualen und Rhythmen, in Weisungen und Vorschriften, später im Erlernen

4. Pierre Legendre: Filiation – Fondement généalogique de la psychanalyse. Leçons IV, suite 2, Paris 1990, S. 12 (Übersetzung durch mich, B.N.). 150

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der Buchstaben und der Deutung von Schrift und Texten – als Einladung und Anruf (Invokation)5, aus dem unmittelbaren Erleben und unmittelbarer Befriedigung herauszugehen und ›über sich hinauszugehen‹, ins Unbekannte. Dies geschieht über Erfahrungen der Trennung, Umwandlung des Anspruchs in etwas anderes und vorher nicht Gedachtes, Ent-Täuschung, z. B. bei der Eifersucht, Durchqueren der Angst, in der Erfahrung von Differenz (Leben und Tod, Differenz des Geschlechts, der Generation), im Nicht-Wissen, der Leere, Erfindung und Überraschung. Hierbei entstehen ein innerer, seelischer Raum und eine subjektive Zeitperspektive als Möglichkeit des Über-Setzens – vom Anderen in der »Not des Lebens« als benennende Hilfe und im Vertrauen auf diese Hilfe gegeben. So entsteht Lernvermögen – die Gesamtheit der erworbenen geistigen Mittel zum Leben, die einem Menschen zur Verfügung stehen – als Vermögen zu sprechen, soziale Beziehungen zu gestalten sowie das Vermögen, an sich selbst zu arbeiten und sich zu ändern. Dieses Lernvermögen entsteht nur in der Tat, d. h. aktualisiert und nicht virtuell, in konkreten Situationen, in denen ein Kind in seinem Dilemma gehört und gewiesen wird und innerlich weiterkommen kann. Ein Vater sagte zum Beispiel zu seinem Sohn, der in der dritten Grundschulklasse große Schwierigkeiten hatte und kurz vor einem Wechsel in die Förderschule stand: »Mein Sohn, ich sage dir: Nach einem Wort, das mit einem großen Buchstaben anfängt, kommt meistens eines, das mit einem kleinen Buchstaben anfängt.« Dieser Hinweis des Vaters, der von Beruf Fahrlehrer war, wurde zu einer ersten wirksamen Stütze für diesen Jungen, der sich von da an langsam wieder zurechtfinden konnte und diese Geschichte kurz vor seinem Abitur erzählte. In einem solchen Moment sind Eltern in einer Sprache und Gesetz weiter-gebenden Funktion und erste Übermittler und Deuter der Schrift6 – so kann später die Begegnung mit den Buchstaben und der Schrift einerseits als Wiederfinden von etwas Bekanntem wie hier zum Beispiel ›Groß und Klein‹ wie auch ›Weiterfahren‹, andererseits als ein neuer Anruf zum Weitergehen und Loslösen vom schon Bekannten erfahren werden.7

5. »Die erogenen Zonen sind mit dem Unbewußten verbunden, denn an ihnen haftet die Gegenwart des Lebendigen […]. Ich möchte hier noch den Schautrieb anfügen und jenen Trieb, den man beinahe ›Anrufungstrieb‹ / pulsion invocante nennen könnte. Wie ich bei anderer Gelegenheit sagte […] hat dieser Anrufungstrieb das Privileg, sich nicht verschließen zu können« (Das Seminar von Jacques Lacan. Buch XI [1964], Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. v. Norbert Haas, Olten / Freiburg i.Br., 21980, S. 209). 6. Schrift ist hier als Signifikant zu hören: im Sinne von ›Geschriebenes‹, Schreibkunst, ›Buchstabenart‹, Bibel als ›Heilige Schrift‹; vgl. G. Wahrig: Deutsches Wörterbuch. 7. Den Zusammenhang zwischen Schriftkenntnis und Abstraktionsfähigkeit belegen die 151

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BETTINA NODDINGS

Ist die Verknüpfung von Rezeptivität (Hören und Sprechen) mit autoritativer Orientierung notwendig für den Zugang zur Schriftkultur, so läßt sich feststellen, daß es um beide Bereiche heute nicht gut steht. Dies hat u. a. mit der in den letzten hundert bis hundertundfünfzig Jahren üblichen Form der Übermittlung der Schriftkultur zu tun. Diesem roten Faden möchte ich im folgenden Teil nachgehen. Schrift-Störungen – als fehlende Aufmerksamkeit gegenüber der Schrift8 – entstehen einerseits aus Veränderungen in der Generationenfolge und andererseits als langfristige Auswirkungen der Übermittlungsstruktur der Schule. Im Gegensatz zum oben skizzierten Lernvermögen verlangt die Schule vor allem Lerngehorsam. Gleichzeitig jedoch zeigt sich in der pädagogischen Praxis ein auffälliges Sträuben gegen die Ausübung von Autorität und die Forderung zu ›(ge-)horchen‹, und dies geschieht nicht zufällig. Dieses Sträuben läßt sich vielseitig deuten; u. a. enthält es einen aktiven oder passiven Widerstand gegen etwas, das als behindernd und lähmend erfahren wurde und fragen läßt, wie die Schule / Lehre den Imperativ der Differenzierung achtet und verwirklicht. In Lehre und Schule – den Übermittlungsorten von Wissen – führen die Polarisierung von Wissenden und Nicht-Wissenden, die Reduktion eines suchenden Sprechens auf ›Ergebnis in kürzester Zeit‹ oder ›die richtige Antwort geben‹, die Geringschätzung und NichtBeachtung des Fragens, Irrens und Fehlermachens zu einer verschärften Zensur des Sprechens und innerer Wahrnehmungen, d. h. des inneren Spürsinns, und damit zu einer Hemmung der symbolisierenden9 Tätigkeit – in ihren Vorformen schon bis ins Schweigen hinein. Autoritativ orientierend ist nur der Wissende, nicht der Fragende; Hören wird zum Abhören, Hören des Richtigen statt Hinhören (Aufmerksamkeit schenken); ›Vernehmen‹ und ›Durcharbeiten‹ wird zu Nachsprechen. Auf sich zu hören und den eigenen Lebensdrang achten, mit eigenen Einwänden und Irrtümern zu arbeiten, die einen Zugang zum Wissen je nach den eigenen Möglichkeiten und eigener Zeit schaffen können – dies ist schwer zu realisieren. Fehlt dieser subjektive Anteil, so beeinträchtigt dies wiederum die Suche nach Wahrheit. Schüler lernen ›Stoff‹, anstatt Wissen zu schaffen10, und werden Konsumenten statt Produ-

Untersuchungen von Aleksandr R. Luria: Die historische Bedingtheit individueller Erkenntnisprozesse, Weinheim 1986; beschrieben auch bei Barry Sanders: Der Verlust der Sprachkultur, Frankfurt a. M. 1995. 8. Im Sinne des Signifikanten ›Schrift‹: welche Beziehung besteht zwischen ›Schrift‹ und ›Vorschrift(en)‹? 9. Symbolisieren: sprachlich zusammenbringen, zusammenfügen. 10. Hier im Sinne von ›Verbindungen und Unterscheidungen zwischen Teilen herstellen‹ gebraucht. 152

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zenten von Wissen. Schreibenlernen erstarrt zu einem Stoffgebiet unter anderen. Viele Schüler verstehen unter Lernen von sich absehen, sich unterdrücken und zurückstellen. Dies führt zu einer Spaltung von Leben und Lernen, und nicht zuletzt zu der heute herrschenden Doktrin, Lernen müsse Spaß machen. Grammatik wird – beispielsweise – als etwas gelehrt, das keinen Spaß machen kann. Zu einer zum Teil für Schüler undurchschaubaren chaotischen Begrifflichkeit mit deutschen, lateinischen und anderen fremdsprachlichen Ausdrücken11 tritt bei manchen Lehrenden eine Einstellung hinzu, die darauf verzichtet, Lernenden in der Grammatik sprachliche wie soziale Ordnungsprinzipien erkennen zu lassen. Statt dessen heißt es: »Wir müssen jetzt leider etwas Unangenehmes und schwer Verständliches durchnehmen – ihr könnt das dann wieder vergessen.« Dieser Stil der Wissensvermittlung, eher Dekret (Dogma) als Ausbildung von Unterscheidungsvermögen und Urteilskraft, bedeutet Zensur: gegenüber dem Hören und dem inneren Spürsinn, letztlich Zensur der Aufmerksamkeit. Hat dieser, seit langer Zeit in der Lehre praktizierte, Stil des Lerngehorsams – langfristig gesehen – den Stil der sprachlichen Übermittlung in der Generationenfolge mit beeinflußt und in der Abfolge mehrerer Generationen zu einer Schwächung der symbolisierenden Tätigkeit beigetragen, indem er sich mehr und mehr in die mündliche Überlieferung einmischte? Zum Beispiel in der Reduktion des Redens und Erzählens auf die trockene, austauscharme Vermittlung von Wissen; in der Unfähigkeit, die Fragen eines Kindes zuzulassen und aufzunehmen; im Druck, es richtig machen zu müssen; in der Angst, etwas Dummes und Falsches zu sagen, ja ausgelacht zu werden. Manches davon liegt in der Angst der Eltern, die, anstatt den Platz der in ihrer Stimme Autorisierten, zu sagen, was gilt, vor ihren Kindern einzunehmen, die Sprachlosigkeit vorziehen.12 Immer weniger vermögen sie über ein geduldiges und den Kindern etwas unterstellendes Hören in das Vergnügen des Sprechens einzuführen, das, vielleicht, zu einem Wissen schaffenden Sprechen werden kann. Statt dessen geht es darum, »zu interpretieren, um nicht zuhören zu müssen«13 – in einem die Subjektivität überhörenden Dekretieren, wie sie es bisher gelernt haben. Diese erlernte Taubheit und Trägheit der Eltern in bezug auf

11. Z. B. ›Wen-Fall‹, ›Akkusativ‹, ›objet direct‹ etc. – ohne daß der Zusammenhang begriffen wird. 12. in-fans, lat.: »stumm; noch nicht sprechend, stammelnd, lallend; sehr jung, klein; Kind; kindlich; unberedt; kindisch«, nach: J.M. Stowasser u. a. (Hg.), Der kleine Stowasser. Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch, München 1979, S. 231. 13. Alain Finkielkraut: Die Weisheit der Liebe, München 1987, S. 99. 153

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symbolisierende Tätigkeiten, besonders gegenüber den rezeptiven Anforderungen, selbst zu hören und die Kinder hören zu lassen, gibt sich den Kindern weiter. ›Hören‹ und ›folgen‹ Kinder ihren Eltern nicht mehr, so kommen notwendige Bindungen wie auch eine innere Bindung an die Notwendigkeit des Lernens selbst nicht zustande, und das Lernen wird zum Feind erklärt. So bleibt ein Teil der nachkommenden Generation ungehalten und un-erhört. Anstatt den inneren Lebensdrang in eine geistige Beweglichkeit und geistigen Spiel-Raum umzusetzen, kann ein Teil der Kinder ihn lediglich über körperliche Unruhe und ungebremste Motorik ausdrücken – dies zeigt eine Ort- und Zeitlosigkeit an.14 Geistig-sprachliche Mittel des Über-Setzens und der Orientierung sowie lebenswichtige Unterscheidungen fehlen. Wenn Eltern oft sagen, wie ihre Eltern und Lehrer möchten sie nicht sein – was nicht heißen muß, daß sie Lehrer und Eltern nicht sein möchten –, so läßt sich fragen, ob die Eltern im Infantilen noch etwas ›aufheben‹ möchten, was nicht hervorkommen konnte. Hat dies mit dem »Unbehagen in der Kultur« und der Art und Weise zu tun, wie ihnen in der Lehre Kultur nahegebracht wurde? Was bewirkt die Lehre? Versuchen wir dies in einem dritten Schritt aus dem Blickwinkel der Überich-Bildung in der Kultur herauszuanalysieren. Welches Maß an symbolisierender Aktivität (Maß an Arbeitsanforderung) verlangt die Lehre und welche verhindert und zensiert sie, wobei Zensur auch Wertschätzung ausdrückt? In der Ausbildung des Lerngehorsams erhebt etwas in der Lehre selbst Einspruch gegen das Gesetz des Symbolisierens: »Geh nicht zu weit – bleib, wo du bist!« Diese ›gelehrte Trägheit‹ stellt still, bringt zum Verstummen und führt zu einem Mangel an zusammenfügenden Tätigkeiten, die subjektiv bedeutsam und im Sinne des Lebens sind. Die Frage ›Was hat das mit mir und meinem Leben zu tun?‹ bleibt ohne Antwort; Gehorchen ohne Deuten ist gefordert – als wäre nichts in Frage zu stellen. Wie können dabei Eigeninitiative und Verantwortung entstehen? In der Ausbildung des Lernvermögens hingegen geht es gerade darum, immer wieder von neuem zu deuten und Nicht-Gewußtes zusammenzufügen – und dies ohne die Garantie, daß es endgültig richtig ist. Der Akt des Deutens selbst wirkt subjektivierend. So stehen zwei Lernweisen nebeneinander, gibt es zwei Möglichkeiten, dem Gesetz des Symbolischen gegenüberzustehen: in einer unbewußten Wahl zu wählen zwischen einem endlosen Schuldgefühl, dem Symbolischen nicht wirklich entsprochen zu haben (»Du bist schul-

14. Vgl. die problematischen Diagnosen wie Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom, Hyperkinetisches Syndrom. 154

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dig«) oder einer ruhelosen Unsicherheit ohne Garantie (»Du bist nicht unschuldig«).15 Schrift-Störungen stoßen uns auf die Frage nach der Überlieferung der Überlieferung: in der Geschichte unserer Kultur, in der Zeitgeschichte und in der Generationengeschichte. In der Bibel, dem grundlegendem Buch unserer Kultur, geht es (in deren ältesten Büchern) auch um eine Übersetzungsgeschichte, u. a. des Grundbegriffs des ›Hörens‹16. ›Hören‹ wurde auch mit ›Gehorchen‹ übersetzt. Die Spanne zwischen Invokation und autoritärem Unterwerfungsbefehl wurde von André Chouraqui, der in den letzten fünfzig Jahren eine neue Übersetzung der Grundtexte der jüdischen und christlichen Überlieferung sowie des Koran hergestellt hat, als eine Voraussetzung des Lernens und Lebens immer wieder kommentiert. In der Zeitgeschichte ging es um den Versuch der völligen Auslöschung der jüdischen Kultur, deren zentraler Text das »Shema Jizrael!« ist. Hier und in anderen Texten wird die Pflicht der Überlieferung der Überlieferung an die nächsten Generationen betont. Pierre Legendre weist darauf hin, Ausschwitz habe auf die Vernichtung des Prinzips der Generationenabfolge gezielt. Dies sei in der westlichen Zivilisation noch lange nicht begriffen – sie sei davon wie betäubt. Er weist auf die Gefahr einer zunehmenden Bürokratisierung der Deutung hin. Taucht in den SchriftStörungen etwas von dieser Betäubung auf, wenn es statt Überliefern zu einem Abliefern, statt Transmission zu Demission von der Elternfunktion kommt und anstelle der Eltern nun Spezialisten – Ärzte und Psychologen – in einem diagnostizierenden, vor- und verschreibenden Diskurs gegenüber der neuen Generation auftreten?17 In der Generationenfolge geht es u. a. um die Invokation, zu der Lacan sagt: »Die Anrufung ist keine leblose Formel. Es ist das, womit ich in den anderen meinen Glauben übergehen lasse.«18

15. Vgl. dazu Alain Didier-Weill: Les trois temps de la Loi, Paris 1995, S. 193. 16. Hebr.: shema; vgl. 5. Buch Mose, Kap. 6. Vgl. auch: Paroles. La Bible (Deutéronome), traduite et commentée par André Chouraqui, Paris 1993. 17. P. Legendre: »L’attaque nazie contre le principe de filiation«, in: ders., Filiation – Fondement généalogique de la psychanalyse. Lecons IV, suite 2, Paris 1990, S. 205– 209. 18. »L’invocation n’est pas une formule inerte. C’est ce par quoi je fais passer en l’autre la foi qui est la mienne« (Le Séminaire de Jacques Lacan. Texte établi par JacquesAlain Miller. Livre III, Les psychoses, 1955–1956, Paris 1981, S. 343; Übersetzung durch mich, B.N.); dt.: Das Seminar von Jacques Lacan. Buch III (1955–1956), Die Psychosen. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. v. Michael Turnheim, Weinheim / Berlin 1997, S. 359, dort: »Es ist das, womit ich auf den anderen den mir eigenen Glauben übergehen lasse.« 155

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Literatur Didier-Weill, Alain: Les trois temps de la Loi, Paris 1995. Finkielkraut, Alain: Die Weisheit der Liebe, München 1987. Freud, Sigmund: »Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse«, in: ders., Gesammelte Werke, 15. Bd., London 1940. Lacan, Jacques: Le Séminaire de Jacques Lacan. Texte établi par JacquesAlain Miller. Livre III, Les psychoses. 1955–1956, Paris 1981; dt.: Das Seminar von Jacques Lacan. Buch III (1955–1956), Die Psychosen. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. v. Michael Turnheim, Weinheim / Berlin 1997. — Das Seminar von Jacques Lacan. Buch XI (1964), Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. v. Norbert Haas, Olten / Freiburg i.Br. 21980. Legendre, Pierre: »L’attaque nazie contre le principe de filiation«, in: ders., Filiation – Fondement généalogique de la psychanalyse. Leçons IV, suite 2, Paris 1990, S. 205–209. Luria, Aleksandr R.: Die historische Bedingtheit individueller Erkenntnisprozesse, Weinheim 1986. Paroles. La Bible (Deutéronome), traduite et commentée par André Chouraqui, Paris 1993. Sanders, Barry: Der Verlust der Sprachkultur, Frankfurt a. M. 1995. Stowasser, J.M. u. a. (Hg.): Der kleine Stowasser. Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch, München 1971. Wahrig, Gerhard: Deutsches Wörterbuch, Gütersloh 1994.

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Der andere Weg Samuel P. Weber

»Hätte ich Sie hier nichts anderes gelehrt als diese unerbittliche Methode des Kommentars von Signifikanten, so würde ich zumindest hoffen, daß das nicht umsonst gewesen ist. Ich hoffe sogar, es wird Ihnen nichts anderes übrigbleiben. Falls das, was ich lehre, den Wert einer Lehre hat, werde ich keinen jener Angriffspunkte hinterlassen, die Ihnen erlauben, das Suffix ismus dranzuhängen.«1 Es geht hier um das, was man vielleicht ein Vermächtnis nennen könnte: nicht das letzte Wort gewiß, aber eines, das sich unhörbar an die Nachkommenschaft richtet. Die Erklärung findet sich in Lacans Seminar »Die Ethik der Psychoanalyse« und wirft vielleicht ein anderes Licht auf die darin aufgestellte negative Maxime: Ne pas céder sur son désir. Das Begehren, wie man weiß, unterhält eine singuläre Beziehung zum Vorgang des Bedeutens, sofern nämlich dieses auf ein Bedeutetes nicht zu reduzieren ist. Bedeutendes »unerbittlich« zu »kommentieren« heißt daher, die Bewegung des Ver- und Hinweisens soweit wie möglich sich entfalten zu lassen, ohne voreilig sich mit einem Bedeuteten zufriedenzugeben. Genau ein derartiger Kurzschluß konstituiert die selbstentstellende Dimension der Übertragung nach Freud. Diese besteht bekanntlich in der Wiederholung früherer, zumeist verdrängter Einstellungen in einer aktuellen »realen« Situation, ohne die Differenzen zu berücksichtigen. Wie Freud schreibt: »Wir merken bald, die Übertragung ist selbst nur ein Stück Wiederholung und die Wiederholung ist die Übertragung der vergessenen Vergangenheit nicht nur auf den Arzt, sondern auch auf alle anderen Gebiete der gegenwärtigen Situation.« 2 Indem also ein verdrängtes Signifikat einem anderen sich aufdrängt,

1. Le Séminaire de Jacques Lacan. Texte établi par Jacques-Alain Miller. Livre VII, L’éthique de la psychanalyse, 1959–1960, Paris 1986, S. 294 (Übersetzung S. Weber). 2. Sigmund Freud: »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten«, in: ders., Gesammelte Werke, 10. Bd., London 1946, S. 130. 157

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wird gerade die dadurch verkannte Differenz zum möglichen Thema der Behandlung. Damit stellt die Übertragung nicht allein einen Widerstand gegen die Behandlung dar, sondern als Widerstand zugleich die Grundbedingung dessen, was Freud »Durcharbeiten« nannte. Das »Durcharbeiten« von solchen Übertragungswiderständen, die sich zunächst als unbewußter Wiederholungszwang präsentieren, hat sicher sehr viel zu tun mit einem »Kommentar von Bedeutenden«, wie es Lacan als Vermächtnis beschreibt: ohne die Stütze von Bedeutetem, erst recht nicht als »-ismus«, d. h. in Gestalt eines Systems. Die folgenden Bemerkungen verstehen sich als Beitrag und Beispiel eines derartigen Durcharbeitens: Durcharbeiten als Kommentar eines Textes, der vielleicht zugleich eine Übertragung darstellt. Der Text darf als wesentlicher Teil des Vermächtnisses Freuds gelesen werden, und dies nicht allein, weil er die letzte große Untersuchung ist, die er geschrieben hat. In ihm konvergieren alle die Themen oder vielleicht besser: die Topoi unserer Tagung: Übersetzung, Übertragung, Überlieferung. Es geht um den »Mann Moses und die monotheistische Religion«, einen Text, der bekanntlich über mehrere Jahre hinweg geschrieben und in Teilen veröffentlicht worden ist. Freud begann die Arbeit schon 1934, veröffentlichte die ersten zwei Teile 1937, das ganze Buch erst 1939. Die Abhandlung entstand also in den Jahren des rapiden Aufstiegs des Nationalsozialismus und des immer virulenter werdenden Antisemitismus in Österreich. Die Parallelen zwischen der Geschichte, die Freud von Mose erzählt, und dem Schicksal, das den Autor in diesen Jahren selbst ereilte, sind viel zu frappierend, um nicht eingehend interpretiert zu werden. Diese Deutungsrichtung, so verlockend sie auch sein mag, werde ich aber nicht einschlagen. Vielmehr werde ich zuerst, für diejenigen, die den Text nicht präsent haben, versuchen, seinen Inhalt zusammenzufassen – was bei dessen Komplexität keine leichte Aufgabe ist –, um mich dann sehr selektiv auf einige wenige Motive zu beschränken, die für unsere Fragestellung besonders bedeutsam sind. Schließlich, wenn die Zeit ausreicht, möchte ich einen Vergleich mit einer ganz anderen Figur und Legende andeuten, um gewisse Eigenschaften und Alternativen der Freudschen Vorgehensweise durch Kontrast hervorheben zu können.

I Was den Inhalt betrifft, so sind Freuds Hauptthesen oder, wie er sie selbst lieber nennt: seine Annahmen, bekannt. Der Unterschied sollte vielleicht gleich zu Anfang bemerkt werden. Eine »These« wird »gesetzt« oder »vorausgesetzt«, sie geht von einem Handelnden aus, entspringt gleichsam einem tätigen, bewußten Subjekt. Eine Annahme da158

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DER ANDERE WEG

gegen, zumindest dem Wortsinn nach, kommt von anderswo zu und wird demnach angenommen oder auch abgelehnt. Die Art, wie Freud die Entstehung seiner Arbeit beschreibt, läßt eine derartige Unterscheidung als durchaus treffend erscheinen: »In Wirklichkeit ist sie zweimal geschrieben worden. Zuerst vor einigen Jahren in Wien, wo ich nicht an die Möglichkeit glaubte, sie veröffentlichen zu können. Ich beschloß, sie liegen zu lassen, aber sie quälte mich wie ein unerlöster Geist, und ich fand den Ausweg, zwei Stücke von ihr selbstständig zu machen und in unserer Zeitschrift ›Imago‹ zu publizieren. […] Den Rest, der das eigentlich Anstößige und Gefährliche enthielt, die Anwendung auf die Genese des Monotheismus und die Auffassung der Religion überhaupt, hielt ich zurück, wie ich meinte, für immer. Da kam im März 1938 die unerwartete deutsche Invasion, zwang mich, die Heimat zu verlassen, befreite mich aber auch von der Sorge, durch meine Veröffentlichung ein Verbot der Psychoanalyse dort heraufzubeschwören, wo sie noch geduldet war. Kaum in England eingetroffen, fand ich die Versuchung unwiderstehlich, meine verhaltene Weisheit der Welt zugänglich zu machen, und begann, das dritte Stück der Studie […] umzuarbeiten […]. Nun gelang es mir nicht, den ganzen Stoff in dieser zweiten Bearbeitung unterzubringen; andererseits konnte ich mich nicht entschließen, auf die früheren ganz zu verzichten […] womit eben der Nachteil einer weitgehenden Wiederholung verbunden war. Nun könnte ich mich mit der Erwägung trösten [daß es] Dinge [gibt], die mehr als einmal gesagt werden sollen und die nicht oft genug gesagt werden können. Aber […] [e]s darf nicht in der Art erschlichen werden, daß man [dem Leser] in demselben Buch das Gleiche zweimal vorsetzt. Das bleibt eine Ungeschicklichkeit, für die man den Tadel auf sich nehmen muß. Die Schöpferkraft eines Autors folgt leider nicht immer seinem Willen; das Werk gerät, wie es kann, und stellt sich dem Verfassen oft wie unabhängig, ja wie fremd, gegenüber.«3 In einem Text, der dauernd von »Schöpfung« redet, um vor allem die Beziehung Moses gegenüber »seinem« Volk zu beschreiben, ist der Verlust der Kontrolle des Autors und die Entfremdung seines Werkes ein besonders häufig wiederkehrendes Motiv. Die Stärke und Bedeutung dieses Motivs wiederum liegen in der Bewegung der Wiederkehr selbst. Es kehrt alles wieder, doch anders: entstellt, verstellt, verändert, und zwar um so mehr gerade dort, wo es sich als das Gleiche präsentiert. Nichts anderes, so Freud, kennzeichnet die Geschichte: im allgemeinen wie im besonderen Fall, dem er sich hier widmet: »Die Geschichte liebt solche Wiederherstellungen, in denen spätere Verschmelzungen rückgängig gemacht werden und frühere Trennungen wieder hervortreten.«4

3. Sigmund Freud, »Der Mann Moses und die monotheistische Religion«, in: ders., Gesammelte Werke, 16. Bd., London 1950, S. 210 f. 4. Ebd., S. 137. 159

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Der besondere Anlaß dieser Bemerkung ist nicht weniger als die Art und Weise, auf die das hebräische Volk sich konstituiert hat: aus der Vereinigung zweier Stämme, die »nach kurzer Periode politischer Einheit in zwei Stücke, das Reich Israel und das Reich Juda auseinanderbrach.«5 Doch Freud führt auch die »Reformation« als neueres Beispiel derselben geschichtlichen Tendenz an, insofern als diese die »Grenzlinie« zwischen »dem einst römisch gewesenen und dem unabhängig gebliebenen Germanien nach dem Intervall von mehr als einem Jahrtausend wieder zum Vorschein brachte.« Allerdings – und hier vielleicht äußert sich etwas an der hebräischen Entwicklung, wofür sich Freud besonders interessiert hat – allerdings könne im Fall »des jüdischen Volkes […] eine so getreue Reproduktion des alten Tatbestandes nicht« erwiesen werden. Was also an der jüdischen Geschichte besonders hervortritt, ist eine Bewegung der Wiederholung, die gerade nicht eine »getreue Reproduktion« erzeugt, sondern eine ungetreue, veränderte, entstellte. Erst diese Tendenz vielleicht wirft Licht auf jene Eigenschaft, die Freud zufolge eine der eigentümlichen Qualitäten dieses Volkes ausmacht: seine »Hartnäckigkeit«6. Am Anfang steht weder das Wort noch die Tat, sondern eine Wiederholung, die bedeutend ist, ohne eindeutiges Bedeutetes. Und diese Wiederkehr des Bedeutenden läßt jegliche Identifizierung und jegliche Identität problematisch erscheinen. Die »Hartnäckigkeit« darf als eine Reaktion auf diese problematische Identifizierung – und Identität – verstanden werden. Aber wir eilen unserem Vorhaben voraus: Es geht doch darum, zunächst den Inhalt jener Annahmen zusammenzufassen, die Freud in dieser Schrift entfaltet. Sie lassen sich so aufführen: 1. Moses, wie sein Name andeutet, war ägyptischer Abstammung. Aber »ägyptisch« ist hier gerade nicht eine eindeutige Bezeichnung. Vielmehr benennt es eine Wendung und eine Spaltung, die sich zunächst an der Namensänderung jenes Pharaos, der 1375 v. Ch. als Amenhotep IV. auf den Thron kam, »später aber seinen Namen änderte, und nicht bloß seinen Namen«.7 Indem sich Amenhotep nunmehr Akhetaton oder Ikhnaton nannte, erhob er den alten Sonnengott Aton zum einzig wahrhaftigen Gott: »Es war ein strenger Monotheismus, der erste Versuch dieser Art in der Weltgeschichte, soweit unsere Kenntnis reicht, und mit dem Glauben an einen einzigen Gott wurde wie unvermeidlich die religiöse Intoleranz geboren, die dem Altertum vorher […] fremd geblieben.«8

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Ebd. Ebd., passim. Ebd., S. 118. Ebd. 160

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DER ANDERE WEG

Denn die Einrichtung einer neuen Staatsreligion mit Anspruch auf Ausschließlichkeit verlangte die gewaltsame Beseitigung der alten Religion. Damit entstanden die Bedingungen für den Konflikt und den Kampf, welche die gesamte weitere Entwicklung bestimmen sollten. Denn »die Regierung Amenhoteps dauerte nur 17 Jahre; sehr bald nach seinem 1358 erfolgten Tode war die neue Religion hinweggefegt, das Andenken des ketzerischen Königs geächtet worden.«9 2. Moses war also nicht bloß irgendein »Ägypter«, sondern ein ganz bestimmter, nämlich einer, der Ikhnaton und seiner monotheistischen Aton-Religion sehr nahestand. Als er sah, daß diese Religion nach dem Tode Ikhnatons »hinweggefegt« wurde, entschloß er sich, »ein neues Reich zu gründen, ein neues Volk zu finden, dem er die von Ägypten verschmähte Religion zur Verehrung schenken wollte.«10 Wieso seine Wahl gerade auf die Stämme Israels gefallen ist, bleibt im Text völlig offen. Statt dessen findet der Leser eine Begeisterung seitens Freuds, die das Bedürfnis nach Argumenten völlig überflüssig macht: »Diese wählte er aus, daß sie sein neues Volk sein sollten. Eine weltgeschichtliche Entscheidung! Er setzte sich mit ihnen ins Einvernehmen, stellte sich an ihre Spitze, besorgte ihre Abwanderung ›mit starker Hand‹. […] Die Autorität Moses’ ermöglichte [den friedlichen Auszug], und eine Zentralgewalt, die ihn hätte verhindern wollen, war damals nicht vorhanden.«11 Einer großen Idee ergeben, die ihm die Verachtung seiner Stammesverwandten einbringt, was ihn andererseits dazu befreit, sich selbstherrlich an eine andere geächtete Minderheit zu richten – die heroischen Züge des »großen Mannes« lassen seinen Autor – man möchte sagen, seinen Schöpfer – keineswegs gleichgültig. Jedenfalls wird die Bildung des »jüdischen Volkes« einzig und allein aus der Perspektive der Wünsche seines Führers gesehen: »Die Juden, mit denen er das Vaterland verließ, sollten ihm ein besserer Ersatz für die Ägypter sein, die er im Lande zurückließ. Auf keinen Fall dürften sie hinter diesen zurückstehen. Ein ›geheiligtes Volk‹ wollte er aus ihnen machen.«12 3. Diese Selbstherrlichkeit eines fast göttlichen Führers nimmt dann im Exil ein gewaltsames Ende, als – vierte große Annahme Freuds, von Edward Sellin übernommen – »der Religionsstifter Moses in einem Aufstand seines widerspenstigen und halsstarrigen Volkes ein gewaltsames

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Ebd. Ebd., S. 127. Ebd. Ebd., S. 128. 161

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Ende fand. Gleichzeitig wurde die von ihm eingesetzte Religion abgeworfen.«13 Diese Annahme, so gibt Freud offen zu, »gestattet uns, unsere Fäden weiter zu spinnen, ohne glaubwürdigen Ergebnissen der historischen Forschung zu widersprechen.«14 Der Mord und die Folgen, die er zeitigt, vor allem aber das Gefühl der Schuld, bestimmen die weitere Entwicklung des jüdischen Volkes. Denn auch wenn sich dieses Volk aus »recht verschiedene[n] Elemente[n]«15 zusammensetzt, erweisen sich »die einstigen Ägypter«, obwohl »in ihrer Volkszahl geringer als die anderen«, doch »als die kulturell Stärkeren […], weil sie eine Tradition mitbrachten, die den anderen fehlte. Vielleicht noch etwas anderes, was greifbarer war als eine Tradition.«16 Bevor wir dazu kommen, zu fragen, was das sein könnte, das »greifbarer […] als eine Tradition« wäre, vollenden wir unsere Nacherzählung mit dem letzten Kapitel in Freuds Beschreibung der Entstehung des mosaischen Volkes: der »Religionsstiftung in Qades«, die »vielleicht selbst ein Jahrhundert« nach dem Tode Moses stattfand und die Freud wiederholt als »Kompromiß« bezeichnet zwischen der scheinbaren Aufrichtung der »Lokalgottheit« Jahwe als einzigem Gott der Juden und dem unterschwelligen Fortbestehen und der Bedeutungszunahme des früheren Unversalgottes, des Aton Moses’. Diese Entwicklung faßt Freud so zusammen: »Der Schatten des Gottes, dessen Stelle er [= Jahve; S.W.] eingenommen, wurde stärker als er: am Ende der Entwicklung war hinter seinem Wesen das des vergessenen mosaischen Gottes zum Vorschein gekommen. Niemand zweifelt daran, daß nur die Idee dieses anderen Gottes das Volk Israel alle Schicksalsschläge überstehen ließ und es bis in unsere Zeiten am Leben erhielt.«17 »Die Idee dieses anderen Gottes«: was ist das überhaupt für eine Idee? Der Gott, Aton, ist zunächst den Juden fremd, wegen seiner ägyptischen Herkunft. Fast noch fremder aber ist er den Ägyptern, auch wenn es ein ägyptischer Pharao war, der ihn zum Gott des ersten Monotheismus erhoben hat. Der Gott ist anders, insofern als er von anderswoher kommt. Gewiß sieht Freud die geschichtliche Bedeutung dieser Andersheit vor allem im Fortschritt einer Vergeistigung, die er häufig relativ konventionell versteht: als Unterordnung der materiell-sinnlichen Erfahrung unter eine abstraktere, »geistigere«, wie in der Wendung von

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Ebd., S. 136. Ebd. Ebd., S. 137 Ebd., S. 138. Ebd., S. 152. 162

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DER ANDERE WEG

der matriarchalischen zur patriarchalischen Gesellschaftsform oder in der »Verwerfung des magisch wirkenden Zeremoniells« und der damit zusammenhängenden »Betonung der ethischen Forderung«.18 Aber um hier weiterzukommen, müssen wir den Boden der Zusammenfassung – wie interpretiert auch immer sie sein muß – verlassen und zum zweiten Teil des Kommentars kommen, der eigentlich mehr mit bedeutenden Signifikanten als mit Signifikanten zu tun hat.

II Denn eines, was dem Leser dieses Textes von Anfang an in die Augen springt – oder springen sollte –, ist gerade, daß Wörter, Sätze und Namen in diesem Text nie eindeutig sind: sie bedeuten immer mehr und anders, als man zunächst von ihnen erwartet. Dies betrifft sowohl den »Inhalt« des Textes als auch seine Schreibweise selbst. Wörter wie »Juden«, »Tradition«, »Moses«: alle bedeuten nicht nur anders, als man erwartet: was Benjamin nach der Scholastik ihre »Art des Meinens« nennt, unterscheidet sich von der uns vertrauten Art, auf Bedeutungen hinzuweisen. Alle wesentlichen Namen, Wörter, Sätze sind zumindest zweideutig, und man muß hinzufügen: von Hause aus. Freud gibt uns ein schönes Beispiel dafür am Schluß des zweiten Teils seiner Arbeit, die, wie er betont, »ja nur der einzigen Absicht dienen sollte, die Gestalt eines ägyptischen Moses in den Zusammenhang der jüdischen Geschichte einzufügen.«19 Freuds »Absicht« mag »einzig« sein: das, was er beschreibt, ist es nicht: »Um unser Ergebnis in der kürzesten Formel auszudrücken: Zu den bekannten Zweiheiten dieser Geschichte – zwei Volksmassen, die zur Bildung der Nation zusammentreten, zwei Reiche, in die diese Nation zerfällt, zwei Gottesnamen in den Quellschriften der Bibel – fügen wir zwei neue hinzu: Zwei Religionsstiftungen, die erste durch die andere verdrängt und später doch siegreich hinter ihr zum Vorschein gekommen, zwei Religionsstifter, die beide mit dem gleichen Namen Moses benannt werden und deren Persönlichkeiten wir von einander zu sondern haben. Und alle diese Zweiheiten sind notwendige Folgen der ersten, der Tatsache, daß der eine Bestandteil des Volkes ein traumatisch zu wertendes Erlebnis gehabt hatte, das dem anderen fern geblieben war.« 20 Überall wo man Einheit erwarten würde, findet man »Zweiheiten«, Verdoppelungen, Wiederholungen: des Namen »Moses« zum Beispiel,

18. Ebd., S. 170. 19. Ebd., S. 154. 20. Ebd. 163

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einmal in Ägypten, als Anhänger der Aton-Religion, dann in Qades, bei dem großen »Kompromiß«, durch den das jüdische Volk zuerst sich vereinigte. Wo man die Identität eines Volkes, einer Nation, einer Religion oder eines Namens zu finden erwartet, entdeckt man Spaltungen, die sich mehr oder weniger vorübergehend als Identitäten ausgeben, bis die Wiederholungen der Geschichte die ursprüngliche Spaltung wiederherstellen oder im Falle das Mannes Moses »die Verlötung der beiden Personen« wieder auflösen. Das trifft ganz besonders auf die Heilige Schrift zu: Für den, der das Prinzip der sich verstellenden Entstellung aus der Traumdeutung kennt, wird die Bibel gerade in ihrem Schweigen und ihren Lücken beredt: »Der Text aber, wie er uns heute vorliegt, erzählt uns genug über seine eigenen Schicksale. Zwei einander entgegengesetzte Behandlungen haben ihre Spuren an ihm zurückgelassen. Einerseits haben sich Bearbeitungen seiner bemächtigt, die ihn im Sinne ihrer geheimen Absichten verfälscht, verstümmelt und erweitert, bis in sein Gegenteil verkehrt haben, andererseits hat eine schonungsvolle Pietät über ihm gewaltet, die alles erhalten wollte, wie sie es vorfand, gleichgültig, ob es zusammenstimmte oder sich selbst aufhob. So sind fast in allen Teilen auffällige Lücken, störende Wiederholungen, greifbare Widersprüche zustandegekommen. Anzeichen, die uns Dinge verraten, deren Mitteilung nicht beabsichtigt war.«21 Freuds Beobachtung aber trifft nicht nur auf die Bibel zu, sondern vielleicht auf jeglichen Text, der eine eindeutige Autorität werden will – nicht zuletzt also auch auf den »Mann Moses«, auf dieses »Werk«, das seinen Autor zugleich fasziniert und ihm immer wieder fremd vorkommt. Oder vielleicht fremdgeht, indem es mehr und anders sagt und besagt, als die »einzige« Absicht seines Autors es wahrhaben wollte. Der berühmte Satz, der auf die gerade zitierte Stelle folgt, kann uns auf die Spur dieses anderen bringen: »Es ist bei der Entstellung eines Textes ähnlich wie bei einem Mord. Die Schwierigkeit liegt nicht in der Ausführung der Tat, sondern in der Beseitigung ihrer Spuren.«22 Im Zentrum von Freuds Rekonstruktion steht bekanntlich die Ausführung eines Mordes: der Mord am Urvater »Moses« durch »sein« Volk: das Volk, das er »ausgewählt« hat und das ihm dafür mit dem Tod heimzahlte. Alles, was der Entwicklung und der Tradition dieses Volkes angehört, was »greifbarer war als eine Tradition« – vorausgesetzt, wir wüßten, was »Tradition« hier überhaupt heißt. Freud wenigstens ist sich darüber nicht so sicher und kommt immer wieder auf die Frage zurück:

21. Ebd., S. 143 f. 22. Ebd., S. 144. 164

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DER ANDERE WEG

»Worin die eigentliche Natur einer Tradition besteht und worauf ihre besondere Macht beruht, wie unmöglich es ist, den persönlichen Einfluß einzelner großer Männer auf die Weltgeschichte zu leugnen, […] aus welchen Quellen manche, besonders die religiösen, Ideen die Kraft schöpfen, mit der sie Menschen wie Völker unterjochen – all dies am Spezialfall der jüdischen Geschichte zu studieren, wäre eine verlockende Aufgabe. […] Aber ich traue mir nicht mehr die Kraft zu, dies zu leisten.«23 Obwohl er nicht mehr in der Lage ist, die Macht der Tradition im allgemeinen zu analysieren, hat uns Freud in diesem Text immerhin deutlich die Richtung angezeigt, in die diese Analyse gehen müßte. Der Mord am Urvater, der in Totem und Tabu beschrieben worden war, kehrt im »Mann Moses« wieder, um die Eigenart der jüdischen »Tradition« nach Freud in ihren Grundlagen zu erklären. Denn es ist nicht allein das Geschenk des Monotheismus durch Moses, welches die Juden zu »seinem« Volk gemacht hat, sondern zugleich und zuvor die Beseitigung dessen, der dieses Geschenk gebracht hat. Seine Beseitigung allerdings ist nur ein Vorspiel seiner Rückkehr: nicht als Bild, sondern als Eigenname – und als messianisches Versprechen: »Es ist eine ansprechende Vermutung, daß die Reue um den Mord an Moses den Antrieb zur Wunschphantasie vom Messias gab, der wiederkommen und seinem Volk die Erlösung und die versprochene Weltherrschaft bringen sollte. Wenn Moses dieser erste Messias war, dann ist Christus sein Ersatzmann und Nachfolger geworden, dann konnte auch Paulus mit einer gewissen historischen Berechtigung den Völkern zurufen: Sehet, der Messias ist wirklich gekommen, er ist ja vor Euren Augen hingemordet worden.« 24 Von dieser Feststellung zum Vorwurf »Ihr [= die Juden] habt unseren Gott getötet« ist es natürlich nur ein kleiner Schritt, dem Freud sogar eine gewisse Legitimität einräumt, »wenn man ihn richtig übersetzt […]: Ihr wollt nicht zugeben, daß ihr Gott (das Urbild Gottes, den Urvater, und seine späteren Reinkarnationen) gemordet habt.«25 Im Mittelpunkt der Geschichte der westlichen Religionen steht der Mord – und damit auch der Tod. Doch »Mord« und »Tod« sind nicht einfach identisch. Die Frage, die sich damit stellt, ist: Wie verhält sich der Mord zum Tod, und zwar besonders dann, wenn der Ermordete der »Schöpfer« selbst ist: sei es der Vater, der Stifter oder Gott? Dieser Frage wollen wir versuchen, in einem letzten Abschnitt ein wenig nachzugehen.

23. Ebd., S. 154 f. 24. Ebd., S. 196. 25. Ebd. 165

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III Den Gedanken des Mordes am Hordenvater stellte Freud, aufgrund der Hypothese Sellins und trotz der Tatsache, daß letzterer diese später selbst aufgab, ins Zentrum seiner Konstruktion. Erst der Mord an Moses war in der Lage, die »Macht« der Tradition zu erklären, die gleichsam als Schuld den Zusammenhalt des jüdischen Volkes gewährleistete, ebenso wie sie zum Teil die Feindschaft anderer Völker erzeugte. Die kategorische Art, auf die Freud immer wieder die Beziehung Moses’ zu »seinem« Volk schildert, unterstreicht die Verwandtschaft zwischen dieser Figur und dem Darwinschen Urvater: »Es war der eine Mann Moses, der die Juden geschaffen hat. Ihm dankt diese Volk seine Zählebigkeit, aber auch viel von der Feindseligkeit, die es erfahren hat und noch erfährt.«26 Der Akzent bei dieser Behauptung, muß nicht allein auf »Mann« gesetzt werden, sondern vor allem auf »eine«. Es geht darum, zu betonen, daß der Ursprung der Geschichte, um den es Freud geht, trotz aller Komplikationen und Verzweigungen einzig und einheitlich sei: alles geht nicht auf einen Mann zurück, sondern auf einen. Erst gegen diesen Hintergrund gewinnen all jene »Wiederholungen«, die »die Geschichte so liebt«, ihre eigentliche Bedeutung. So verzwickt die Entstellungen auch sein mögen, Freud besteht darauf, daß sie sich auf einen einheitlichen Grund und Ursprung zurückführen lassen: auf »den großen Mann«, der »groß« gerade insofern ist, als er als Einzelner einheitlich agiert hat. Als »Einzelner« heißt, von den anderen wesentlich unabhängig. Genau diese Selbstständigkeit scheint paradoxerweise durch den Mord bestätigt zu werden. Denn obwohl die Person Moses sich beseitigen läßt, wird seine Wirkung durch die Beseitigung bzw. durch die von ihr ausgelösten Folgen erst recht unwiderstehlich. Dieser unwiderstehlichen Macht hat Freud einen Namen gegeben: sie heißt »Ambivalenz«: »Zum Wesen des Vaterverhältnisses gehört die Ambivalenz.«27 Was bedeutet hier »Ambivalenz«? Gewiß, zunächst die Mischung aus Bewunderung und Furcht, Liebe und Feindseligkeit, die sich als »Gefühl« auszeichnet. Doch »Ambivalenz« bei Freud ist nicht allein als »Gefühl« aufzufassen: sie beinhaltet vor allem eine Struktur. Ambivalent gegen jemanden oder gegen etwas zu sein bedeutet, sich an seine »Stelle« setzen zu wollen. Daher ist es keine zufällige Wortwahl, wenn Freud immer wieder von »Beseitigung« redet, um »Mord« zu bezeichnen. Denn das Wesen des Mordes in dieser Perspektive ist es, die ersehnte Stelle freizumachen, zu »räumen«, damit sie neu besetzt werden kann.28

26. Ebd., S. 213 f. 27. Ebd., S. 243. 28. Als Freud die Aufrichtung der neuen Jahve-Religion beschreibt, betont er ausdrück166

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DER ANDERE WEG

Jene Verdoppelungen, Entstellungen, Wiederholungen und »Wiederherstellungen«, welche »die Geschichte liebt«, versucht Freud als Folgen eines ursprünglichen Aktes oder Ereignisses zu denken, das in sich einzig und einheitlich gewesen ist, auch wenn es nur als »Annahme« aus Texten entnommen werden kann, deren »Autorität« gerade als Geschriebenes Freud immer wieder in Frage stellt. Demnach argumentiert er, daß die Verdoppelung der Figur und des Namens »Moses« bei dem »Kompromiß« in Qades, obwohl als Versuch gemeint, die Spuren des Ermordeten zu verwischen, zugleich und vor allem als Zeichen einer untilgbaren Macht des »großen Mannes« verstanden werden muß. Doch es gibt eine ganz andere Art, diese Spuren zu verwischen, die Freud zwar in seinen Text einschreibt, jedoch ohne darauf weiter einzugehen. Am Anfang seines Textes zitiert er den Ägyptologen Breasted, demzufolge »das ägyptische Wort ›mose‹ das ›Kind‹ bedeutet«.29 Obwohl Freud sofort betont, dass er in bezug auf diese Ableitung »keineswegs bereit« sei, »die Verantwortung für ihre Einzelheiten zu teilen«, sieht er darin ein Anzeichen für die Richtigkeit seiner ersten Annahme: »Nun sollte man erwarten, daß irgendeiner der Vielen, die den Namen Moses als ägyptisch erkannt haben, auch den Schluß gezogen oder wenigstens die Möglichkeit erwogen hätte, daß der Träger des ägyptischen Namens selbst ein Ägypter sei.« 30 Doch es gibt einen anderen Schluß, der aus diesem Namen – sowie aus der Legende, die ihn umgibt – gezogen werden könnte: der nämlich, daß Moses, der »große Mann« und »Schöpfer« des jüdischen Volkes, selbst ein Kind gewesen ist. Darüber wußte man zu Freuds Zeiten, und auch heute, fast gar nichts. Aber hier kommt es nicht auf das Detail an, sondern auf die Bedeutung der Tatsache, daß der Schöpfer und Vater des jüdischen Volkes selbst auch einmal ein Kind gewesen ist. Denn die Folgerungen, die man aus dieser anscheinend trivialen Tatsache ziehen kann, sind für Freuds Geschichte alles andere als trivial. Um so bedeutsamer ist daher, daß Freud auf diese Frage im dritten Teil seines Textes selber kurz zu sprechen kommt:

lich diesen neuen Aspekt: »Wir sagten, mit der Einsetzung des neuen Gottes Jahve in Qades ergab sich die Nötigung, etwas für seine Verherrlichung zu tun. Es ist richtiger zu sagen: man mußte ihn installieren, Raum für ihn schaffen, die Spuren früherer Religionen verwischen« (ebd., S. 144). Das Spurenverwischen, welches bekanntlich die Hauptaufgabe des »Mordes« ausmacht, bedeutet zugleich eine Räumung im Heideggerschen Sinne: Durch die Abschaffung von Spuren soll Raum für neue »Besetzungen« freigemacht werden. 29. Ebd., S. 105. 30. Ebd. 167

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»Ist uns so auf der einen Seite die Gestalt des großen Mannes ins Göttliche gewachsen, so ist es anderseits Zeit, sich zu besinnen, dass auch der Vater einmal ein Kind gewesen war. Die große religiöse Idee, die der Mann Moses vertrat, war nach unseren Ausführungen nicht sein Eigentum; er hatte sie von seinem König Ikhnaton übernommen. Und dieser, dessen Größe als Religionsstifter unzweideutig bezeugt ist, folgte vielleicht Anregungen, die durch Vermittlung seiner Mutter oder auf anderen Wegen – aus dem näheren oder ferneren Asien – zu ihm gelangt waren. Weiter können wir die Verkettung nicht verfolgen.«31 Gerade aber weil diese Verkettung nie bis zum Ende bzw. zum Anfang zu verfolgen ist, mußte die Vermutung jener »anderen Wege« oder daß »die Vermittlung seiner Mutter« eine Rolle gespielt haben mag, ausreichen, um die Verallgemeinerung zu wagen, daß die »Wendung von der Mutter zum Vater […] einen Sieg der Geistigkeit über die Sinnlichkeit [bezeichnet]«, insofern als »die Mutterschaft durch das Zeugnis der Sinne erwiesen [ist], während die Vaterschaft eine Annahme ist, auf einen Schluß und auf eine Voraussetzung aufgebaut« ist.32 Um also die Bedeutung von Allgemeinbegriffen wie »Mutter« und »Vater«, »Matriarchat« und »Patriarchat«, aber auch die von Namen überhaupt entziffern zu können, muß man die prinzipielle Unabschließbarkeit von Texten in Betracht ziehen. Wie aber zieht man etwas, das unüberblickbar ist, »in Betracht«? An einer Stelle, wo er gerade seine These des »großen Mannes« verteidigt, zeigt uns Freud, wie er diese Aufgabe auffaßt: »Wir wahren also dem ›großen Mann‹ seine Stelle in der Kette oder vielmehr im Netzwerk der Verursachungen.«33 Es geht Freud also darum, eine »Stelle« zu beschreiben, die sich »wahren« läßt, und zwar als die eigene Stelle des »großen Mannes«, des menschlichen, aber gewiß auch männlichen Schöpfers: der Gott als Mann. »Wahren« heißt hier, trotz aller Entstellungen und Vorstellungen der Zeit unbewegt und selbstgleich zu bleiben innerhalb des beweglichen »Netzwerks« der Geschichte. Deshalb die Bedeutung des Namens: um »gewahrt« werden zu können, muß diese »Stelle« eindeutig bestimmbar sein. Freud bestimmt sie einerseits als die des Vaters, sogar des Urvaters. Zugleich aber war dieser Urvater auch einmal ein Kind. Damit weist die Stelle zugleich über sich hinaus, auf andere Orte oder genauer: auf »andere Wege«. Hätte ich Zeit gehabt, hätte ich gerne ein paar Schritte auf einem dieser anderen Wege probiert, bis zu jener Stelle, an der sich ein anderer »großer Mann« niederläßt, für den sich Freud sehr interessiert hat.

31. Ebd., S. 218. 32. Ebd., S. 221. 33. Ebd., S. 215. 168

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DER ANDERE WEG

Allerdings, so sehr sich Freud für den König Ödipus interessiert hat, so wenig hat er sich mit jenem Ort beschäftigt, der »Kolonos« heißt – vielleicht, weil er sich am Rande der Großstadt befindet und auch, weil dort eigentlich nichts geschieht: nur, daß dort ein Vater abtritt, ohne beseitigt zu werden und ohne Familie zu hinterlassen. Was bleibt, ist bloß die Erzählung und Erinnerung an einen nie gesehenen, unzugänglichen Ort des Todes. Und die Mahnung, diesen Ort nicht zu vergessen. Ob diese Mahnung der Ausgang einer anderen Tradition sein könnte, ist eine Frage, der hier nicht mehr nachgegangen werden kann.

Literatur Freud, Sigmund: »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten«, in: ders., Gesammelte Werke, 10. Bd., London 1946, S. 125–136. — »Der Mann Moses und die monotheistische Religion«, in: ders., Gesammelte Werke, 16. Bd., London 1950, S. 103–246. Lacan, Jacques: Le Séminaire de Jacques Lacan. Texte établi par JacquesAlain Miller. Livre VII, L’éthique de la psychanalyse, 1959–1960, Paris 1986.

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DER ANDERE WEG

Die Botschaften des Boten. Kafka-Lektüren1 Marianne Schuller

Ein Vorspann: Am Beginn seiner Studie Zur Psychopathologie des Alltagslebens zitiert Freud eine Reihe von Selbstbeobachtungen, die das Vergessen von Eigennamen zum Gegenstand haben. Es geht um den Namen des Malers Signorelli, der, wie Freud sagt, »im Dom von Orvieto die großartigen Fresken von den ›letzten Dingen‹ geschaffen«2 hat. An die Stelle des Namens Signorelli treten die Namen zweier anderer Maler: Botticelli und Boltraffio. Welche Verbindungswege sind es, die zu der Verschiebung von Signorelli zu Botticelli und Boltraffio geführt haben? Und wie sind sie ausfindig zu machen? Nicht zuletzt auf dem Wege von Erzählungen. Das Vergessen des meisterlichen Namens passiert unterwegs. Auf einer Wagenfahrt von Ragusa in Dalmatien nach einer Station der Herzegowina unterhält sich Freud mit einem Fremden über das Reisen in Italien. Bei der Frage, ob der Fremde in Orvieto die berühmten Fresken des *** besichtigt habe, ereignet sich das Namenvergessen wie das Nachdrängen der beiden Ersatznamen. Nun beginnt die Rekonstruktionsarbeit Freuds. Sie wird, wie sich nachträglich herausstellt, in der Zerteilung und Zerlegung des Wortkörpers »Signorelli« bestanden haben. Zunächst kommt eine zeitliche Dimension ins Spiel: Kurz zuvor hatte Freud mit dem Fremden über die Sitten der in Bosnien und der Herzegowina lebenden Türken gesprochen. Dabei hat sich Freud an die Erzählungen eines Kollegen erinnert, die deren Schicksalsergebenheit dem Tod gegenüber auf anekdotische Weise zum Ausdruck brachten.

1. Es handelt sich um eine Vortragsfassung, die einen ersten Zugang zur Frage der Übertragung bei Kafka darstellt. Die Ausführungen sind wesentlich Wolf Kittler (»Turmbau zu Babel«) und Werner Hamacher (»Entferntes Verstehen«) verpflichtet. Die Arbeit wird fortgesetzt. 2. Sigmund Freud: »Zur Psychopathologie des Alltagslebens«, in: ders., Gesammelte Werke, 4. Bd., London 1941, S. 6. 171

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So pflegen sie auf die Auskunft, daß der Arzt mit seiner Kunst am Ende sei, mit den Worten zu reagieren: »Herr, was ist da zu sagen?« In diesem Satz finden sich, so Freud, »die Worte und Namen: Bosnien, Herzegowina, Herr vor, welche sich in eine Assoziationsreihe zwischen Signorelli und Botticelli – Boltraffio einschalten lassen.«3 Eine zweite, ebenfalls von jenem Kollegen stammende Anekdote hatte Freud, wie er sich erinnert, erzählen wollen, dann aber doch für sich behalten. Während die eine Anekdote von der Todesgelassenheit sprach, bezog sich die andere auf die höchst aufgeregte Sorge um den Sexualgenuß. Danach pflegt dieselbe Gruppe zu sagen: »Du weißt ja, Herr, wenn das nicht mehr geht, dann hat das Leben keinen Wert.«4 Ist damit das Thema »Tod und Sexualität« angeschlagen, so stellt sich eine Verknüpfung mit dem Namen des Ortes Trafoi her: An diesem Ort nämlich hatte Freud die Nachricht vom Tode eines Patienten erhalten, der seinem Leben aufgrund einer als unheilbar eingeschätzten sexuellen Störung ein Ende gemacht hatte. Im Namen Boltraffio also finden sich verschoben und entstellt die Namen Bosnien und Trafoi ein. Freud also führt vor, daß eine Zerlegung des einen Eigennamen darstellenden Wortkörpers »Signorelli« in einzelne Elemente stattgefunden hat, und zwar, wie es ausdrücklich heißt, »ohne Rücksicht auf den Sinn« und ohne daß dem Bewußtsein davon »Kunde gegeben worden« ist.5 Wenn aber die Einheit des Wortkörpers in disiecta membra – Buchstaben, Silben, Töne – zerstreut, dann ist das nicht nur die Ermöglichung neuer Verknüpfungen und Übertragungen, sondern darin wird zugleich eine Kombinatorik und Übertragbarkeit als Zug der Sprache freigelegt: Sprache stellt sich als ein offenes System von Differenzierungen dar, die, an sich ›selbst‹ bedeutungslose Markierung, Bedeutung als Effekt von Übertragbarkeit erzeugen. »Die Namen sind also bei diesem Vorgang ähnlich behandelt worden wie die Schriftbilder eines Satzes, der in ein Bilderrätsel (Rebus) umgewandelt werden soll.«6 Seit der Traumdeutung aber sind die Bilderrätsel nicht nach ihrem Bilderwert, sondern nach ihrer Zeichenbeziehung, kurz: als Signifikanten in ihrer Verkettung zu lesen. Denn der Signifikant ist das, was sich nur unterwegs, auf Reisen, nur in einer Verschiebung bzw. Verdichtung erhält. Wenn Freud nicht unerwähnt läßt, daß der auf einer Reise vergessene Name Signorelli der Name des Meisters ist, welcher die Fresken von den »letzten Dingen« geschaffen hat; wenn in den den Namen Signorelli vertretenden Ersatznamen die Thematik von Sexualität und

3. 4. 5. 6.

Ebd., S. 7. Ebd., S. 8 (Hervorhebungen im Original). Ebd., S. 10. Ebd. 172

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DIE BOTSCHAFTEN DES BOTEN

Tod, also von den »letzten Dingen«, verdeckt wiederkehrt, dann erweist sich das netzartige Signifikantengeflecht als eine Art Schirm, der sich vor die »letzten Dinge« schiebt: der sie verdrängt und dem sie als verdrängte zugleich anhaften wie der Staub an den Schuhen. Damit überträgt der analytische Diskurs Freuds gewissermaßen eine Botschaft: die der Relation zwischen Verdrängung und Signifikantengeflecht, welche das Subjekt bzw. welche alle Subjekte in ihrem Subjektstatus auszeichnet. Dem Zug der Übertragbarkeit als Vermögen der Sprache möchte ich nun im Hinblick auf literarische Texte nachgehen: im Hinblick auf Texte Franz Kafkas. Denn diese sind es, welche in der Verletzung der Festigkeit des Sprachkörpers Übertragbarkeit als Vermögen der Sprache freisetzen. Ist damit das Thema der Beziehbarkeit von Psychoanalyse und Literatur angeschlagen, so wird von hier aus die Frage nach der Modellierung des Boten und der Botschaft bei Kafka in den Blick geraten. Nicht nur durchlaufen Boten und Kuriere Kafkas Literatur, sondern sie reflektiert sich selbst als Botengang und Botendienst. So lautet ein Fragment aus dem Nachlaß: »Es wurde ihnen die Wahl gestellt, Könige oder der Könige Kurier zu werden. Nach Art der Kinder wollten alle Kuriere sein. Deshalb gibt es lauter Kuriere, sie jagen durch die Welt und rufen, da es keine Könige gibt, einander selbst die sinnlos gewordenen Meldungen zu. Gerne würden sie ihrem elenden Leben ein Ende machen, aber sie wagen es nicht wegen des Diensteides.«7 Bevor ich jedoch zur Botenfigur, also zur Figur des Überträgers komme, beschäftigt mich die Frage der Übertragbarkeit. Ich beginne daher mit einer kurzen Lektüre der Erzählung Ein altes Blatt. Diese Erzählung ist, wie auch die mit dem Titel Eine kaiserliche Botschaft, an unterschiedlichen Stellen der literarischen Textur Kafkas vorhanden. Einmal im handschriftlichen Nachlaß in räumlicher und thematischer Nähe zum Fragment Beim Bau der chinesischen Mauer. Ebenso wie die Erzählung Eine kaiserliche Botschaft hat Kafka auch Ein altes Blatt aus dem Textcorpus um das Motiv der chinesischen Mauer herausgeschnitten und dem zum Druck beförderten Erzählband Ein Landarzt einverleibt. So um- oder entstellt gehen die Text-Stücke über den von Beim Bau der chinesischen Mauer gebildeten Kontext hinaus neue Verbindungen ein. Unter der Frage der Übertragbarkeit treten Ein altes Blatt und Der neue Advokat in eine Konstellation, die ihrerseits zur Lektüre einlädt oder geradezu auffordert. In beiden Erzählungen nämlich tritt Sprache als

7. Franz Kafka: Nachgelassene Schriften und Fragmente, Bd. 1, Textband, hg. v. Malcolm Pasley, Frankfurt a. M. 1993. 173

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das auf, was die kategorische Opposition zwischen dem Animalischen und dem Anthropologisch-Menschlichen ver-rückt. Nun zur Erzählung Ein altes Blatt. Ort der Handlung ist die Stadt Peking, genauer: der ansonsten leere Platz vor dem kaiserlichen Palast, dem Zentrum der Macht. Die Nomaden, vor denen die chinesische Mauer schützen sollte, haben die Grenzen des Landes überschritten und sind in die Hauptstadt eingedrungen. Ein Schuhmacher berichtet darüber, der, wie so häufig bei Kafka, zugleich im Namen eines Kollektivs spricht: hier des Kollektivs aus Handwerkern und kleinen Geschäftsleuten. Eine Erklärung, ein Motiv, einen Grund gibt es für die Präsenz der Nomaden nicht. Die Nomaden unterscheiden sich von den Bewohnern der Hauptstadt, sie sind anders: Anders als die Bewohner der Hauptstadt als Zentrum einer Hochkultur lagern sie unter freiem Himmel, anders als üblich verwandeln sie den »stillen, immer ängstlich rein gehaltenen Platz« in einen »wahren Stall«8. Kurz: sie erscheinen als das Andere der kulturellen Ordnung, für die das alte, kaiserliche China einsteht. Das wahrhaft Irritierende an der Präsenz der Nomaden aber liegt darin, daß sie in ihrer Andersheit nicht in die Oppositionen, mit denen Kultur sich selber und ihr Anderes definiert, einzufügen sind. Das gilt auch und in besonderem Maße für die kategoriale Grundopposition von ›Mensch‹ und ›Tier‹. So gehen die Nomaden einerseits menschlichen Tätigkeiten nach wie etwa »dem Schärfen der Schwerter, dem Zuspitzen der Pfeile, mit Übungen zu Pferde.« Andererseits aber machen sie aus dem sonst leeren Platz, auf dem sie lagern, »einen wahren Stall«, der getrost Schweinestall genannt werden kann. Während sie, wie Tiere, einem lebenden Ochsen »Stücke aus seinem warmen Fleisch« reißen, fressen ihre Pferde, gewissermaßen wie Menschen, Fleisch. Vor allem aber sind sie anders im Hinblick auf die Sprache. Ich zitiere eine etwas längere Sequenz: »Sprechen kann man mit den Nomaden nicht. Unsere Sprache kennen sie nicht, ja sie haben eine eigene. Untereinander verständigen sie sich ähnlich wie Dohlen. Immer wieder hört man diesen Schrei der Dohlen. Unsere Lebensweise, unsere Einrichtungen sind ihnen ebenso unbegreiflich wie gleichgültig. Infolgedessen zeigen sie sich auch gegen jede Zeichensprache ablehnend. Du magst dir die Kiefer verrenken und die Hände aus den Gelenken winden, sie haben dich doch nicht verstanden und werden dich nie verstehen. Oft machen sie Grimassen; dann dreht sich das Weiß ihrer Augen und Schaum schwillt aus ihrem Munde, doch wollen sie damit weder etwas sagen noch auch erschrecken; sie tun es, weil es so ihre Art ist. Was sie brauchen, nehmen sie. Vor ihrem Zugriff tritt man beiseite und überläßt ihnen alles.«9

8. Franz Kafka: »Ein altes Blatt«, in: ders., Drucke zu Lebzeiten, hg. v. Wolf Kittler, Frankfurt a. M. 1994, S. 264. 9. Ebd., S. 264 f. 174

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DIE BOTSCHAFTEN DES BOTEN

Dem Bericht zufolge besteht die Sprachlosigkeit der Nomaden nicht nur darin, daß sie die ihnen fremde Sprache nicht, sondern darin, daß sie das Bezeichnen selber nicht verstehen: Sie verstehen die Zeichensprache nicht und nicht die Zeichenhaftigkeit der Sprache. Und ihre ungeheuerlichen, an den Stummfilm erinnernden Grimassen? Während die Grimasse noch im 18. Jahrhundert als Zeichen für das Nicht-Menschliche, während sie seit dem 19. Jahrhundert als Ausdruck einer Pathologie des Menschen fungierte, sind die Grimassen der Nomaden nichtssagend: der Schrecken liegt darin, daß sie nichts bedeuten. Stellt der Erzähler also Sprache bzw. Zeichenhaftigkeit und Sprachlosigkeit bzw. Animalität einander gegenüber, so wird diese Opposition zugleich unterschwellig verschoben: Unterschwellig insofern, als sie im Wort »Nomade« statthat. Das Wort »Nomade« nämlich wird nicht nur denotativ verwendet, sondern auf das Wort »Wort« selbst übertragen oder doch übertragbar. Dem etymologischen Wörterbuch zufolge bedeutet »Nomade« nicht nur »Angehöriger eines Hirten- und Wandervolkes«, nicht nur »wenig seßhafter, ruheloser Mensch«, sondern es hat, über das griechische némein, auch die Bedeutungen von »teilen, zuteilen, Weideland zuweisen, zerteilen, verwalten« usw. Némein wiederum gehört zur idg. Wortgruppe »nehmen« in der Bedeutung von »sich selbst zuteilen«. Diese Bedeutung, die Bedeutung ›nehmen‹ nun wird von Kafkas Erzähler zur Beschreibung der Nomaden herangezogen; sie wird geradezu zitiert: »Was sie brauchen, nehmen sie.« Über die denotative Funktion hinaus also wird in dem Bericht des Erzählers zugleich eine Bedeutung des Wortes »Nomade« in der Weise aufgeführt, die auf das Wort selbst übertragbar ist. Damit etabliert die Erzählung eine Dimension der Übertragbarkeit zwischen ihrem Gegenstand, den ›Nomaden‹, und dem Wort »Nomade«: Wie es Kafka auch für die jiddische Sprache anklingen läßt, ist das Wort selbst nomadenhaft. Auch wenn die Nomaden weder die Zeichensprache noch die Zeichenhaftigkeit der Sprache verstehen, so gibt es doch, wie der Erzähler berichtet, eine Verständigung untereinander: »Untereinander verständigen sie sich ähnlich wie Dohlen. Immer wieder hört man diesen Schrei der Dohlen.« Dohle ins Tschechische übersetzt heißt »kavka«. Stellt sich damit eine Verschränkung zwischen dem tschechischen Familiennamen des deutsch schreibenden Kafka her, so schmückte das Bild einer Dohle auch das Firmenzeichen von Kafkas Vater, des Galanteriewarenhändlers Hermann Kafka. Wenn der Name als Allegorie der symbolisch-sprachlichen Prägung des Menschen verstanden werden kann, die eine absolute Grenze zum Animalischen setzt, so öffnet sich in Kafkas Erzählung genau an dieser Grenze eine Passage: Der Name, der auch ein Nomen ist, wird zum Schauplatz einer kleinen Bruchstelle, an der innerhalb des Symbolischen, gleichsam im Wort, Übertragung zwischen dem, was kategorial geschieden ist, statthat. Der Name noma175

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MARIANNE SCHULLER

disiert zwischen dem sogenannten Animalischen und dem sogenannten Menschlichen. Wenn Dohle ins Tschechische übersetzt »kavka« heißt und dieses Nomen überdies als Name fungiert, dann wird dieser Zug von Übertragung und Übersetzung lesbar: im Wort steckt versteckt ein Schrei, auf den es im und außer dem Wort keine Antwort gibt. Schrei der Dohlen und Gebrüll des Ochsen. Das Wort ist Schauplatz eines Risses und einer Schwelle zu dem, was in der Erzählung Beim Bau der Chinesischen Mauer einmal das »grauenhafte Leben« genannt wird. Wenn »Nomade« nicht nur denotativ, sondern auch selbstbezüglich als Nomadenhaftigkeit des Wortes gelesen werden kann, dann wird auch das Motiv des Tötens und Fressens bei lebendigem Leibe auf das Wort bzw. auf die Sprache übertragbar. Wenn die Nomaden den Ochsen töten, indem sie mit den Zähnen Stücke aus dem warmen, lebendigen Fleisch reißen, dann ist das Wort auch das, was das Leben nimmt; ihm entnimmt. Auch wenn der Erzähler alles daransetzt, das Gebrüll des Ochsen nicht zu hören, hallt nicht einfach das genommene, weggenommene »grauenvolle Leben«, sondern hallt das Genommen- und Weggenommen-Worden-Sein in der Erzählung Kafkas wider. Denn der Erzähler weist sich selbst als hoch kultivierter Erzähler aus, wenn er Berge von Textilien und Texturen über sich häuft, um das Gebrüll der Ochsen nicht zu hören. Anders nämlich als der Kaiser, der sich von den Nomaden angezogen fühlt, sagt der Erzähler: »Ich lag wohl eine Stunde ganz hinten in meiner Werkstatt platt auf dem Boden und alle meine Kleider, Decken und Polster hatte ich über mir aufgehäuft, nur um das Gebrüll des Ochsen nicht zu hören, den von allen Seiten die Nomaden ansprangen, um mit den Zähnen Stücke aus seinem warmen Fleisch zu reißen.« Während sich der Erzähler unter Bergen von Kleidern, Decken und Polstern, also unter Schichten von Textilien verkriecht, wird im Erzählen Kafkas die Literalisierung den abwesenden Schrei der Dohlen und das abwesende Gebrüll des Ochsen, das entnommene, getötete grauenvollen Leben nicht los. Wie auch das fragmentarische Textkonvolut unter dem von Max Brod stammenden Titel Der Jäger Gracchus erzählt, ist das Wort ein Nomade zwischen Leben und Tod. Jedenfalls dann, wenn »Gracchus« als entstellter Anklang an das italienische gracchio gelesen wird, das auf deutsch Dohle heißt. Das Symbolische, so erzählt Kafkas Literatur, ist vom Realen, das es zerteilt und trennt, nicht zu trennen. Nicht mitten im Wort, nicht mitten im Zentrum der höchsten Macht und der höchsten Kultur, für die der kaiserliche Palast in Peking einsteht, nicht mitten in der symbolischen Ordnung der Familie, zum Beispiel der Familie Franz Kafkas. Während der Großvater väterlicherseits Fleischhauer war, so wird der Schriftsteller Franz Kafka entschiedener Vegetarier, der nicht nur seine Gier nach Büchern, sondern auch seine Gier nach Lust und Tod, dem grauenvollen Leben bekundet: 176

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DIE BOTSCHAFTEN DES BOTEN

»Sehe ich eine Wurst, die ein Zettel als alte Hartwurst anzeigt, beiße ich in meiner Einbildung mit ganzem Gebiß hinein und schlucke rasch, regelmäßig rücksichtslos, wie eine Maschine. […] Die langen Schwarten von Rippenfleisch stoße ich ungebissen in den Mund und ziehe dann von hinten, den Magen und die Därme durchreißend, wieder heraus.«10 Hat Giorgio Agamben nach Foucault und Hannah Arendt gezeigt, daß sich seit dem 19. Jahrhundert die Wissenschaften vom Menschen in Form von Biowissenschaften, Biomacht und Biopolitik des »bloßen Lebens« – zoë – im Sinne des Totalitären und Totalitarismus zu bemächtigen suchen, so hallt bei Kafka nicht nur motivisch, sondern in der literarischen Inszenierung des Literalen das Zerteilt- und GenommenSein-Werden des »bloßen grauenvollen Lebens« nach. Die Erzählung Ein altes Blatt ist dem »Schreibstrom« (Gerhard Neumann) der Handschriften entnommen und dem Erzählband Ein Landarzt zugeteilt worden. Dieses Nomadisieren gilt auch für das an den Kopf des Erzählbandes gestellte Text-Stück Der neue Advokat. Es spricht vom Dr. Bucephalus, zu deutsch Ochsenkopf, der ehemals das Streitroß Alexanders von Makedonien gewesen war. Wenn ein aufmerksamer Beobachter des Wettrennens der Advokaten bemerkt, daß Bucephalus »hoch die Schenkel hebend, mit dem auf Marmor aufklingenden Schritt« die Freitreppe »von Stufe zu Stufe« steigt, so hat sich doch unleugbar mit ihm eine große Verwandlung vollzogen: Aus dem Streitroß Alexanders des Großen ist der neue Advokat geworden, der fern des Schlachtengetümmels und Schlachtenlärms bei »stiller Lampe« in Gesetzesbüchern liest: »Vielleicht ist es deshalb wirklich das Beste, sich, wie es Bucephalus getan hat, in die Gesetzbücher zu versenken. Frei, unbedrückt die Seiten von den Lenden des Reiters, bei stiller Lampe, fern dem Getöse der Alexanderschlacht, liest und wendet er die Blätter unserer alten Bücher.«11 Bucephalus also hat sich in den neuen Advokaten verwandelt, der als Leser vorgestellt ist. Die Kopf-Stellung lässt Bucephalus vor allem als Leser dieses Buches erscheinen: als Leser und Anwalt des Erzählbandes Ein Landarzt, der – im übrigen auch im wörtlichen Sinne – aus »alten Blättern« besteht, zu denen Ein altes Blatt zählt. Herausgerissen aus dem alten Textkorpus der Handschriften, tritt es in eine neue Anordnung mit anderen Blättern, die das Buc oder Buch Ein Landarzt bilden. Im Lesen der Blätter, das die Blätter wendet, wendet sich das Blatt, das

10. Franz Kafka: Tagebücher 1909–1923, Fassung der Handschrift, Frankfurt a. M. 1997, S. 95. 11. F. Kafka: Drucke, S. 252. 177

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seinerseits organischer Gegenstand und Träger der Schrift ist: Nicht das Zerreißen der Körper, etwa der Ochsen in der Schlacht, findet statt, sondern die Lektüre dieser Zerreißung. Wenn es heißt, daß beim Lesen der bedruckten Seiten die Seiten seines Körpers nicht bedrückt sind von den Lenden des Reiters, so wird in der kleinen Bruchstelle zugleich das Lesen als Zerreißprobe lesbar: Lesend, bei stiller Lampe, wird der seinen Kopf anstrengende Bucephalus gleichwohl zerrissen; zerrissen in Buos: Ochse und sein Buch. Wenn nämlich Bucephalus die bedruckten Seiten liest, ist er zwar frei und unbedrückt von der Last des Körpers, aber diese Freiheit von der Bedrückung im Buch-Druck spricht ihrerseits von einer nomadenhaften Zerreißung und Zerrissenheit: in Buos: Ochse und sein Buch. Ein Hirnochse. Wie die auch den Titel des Bandes abgebende Erzählung Ein Landarzt zu lesen gibt, kann dieser Riß oder diese Wunde des Symbolischen nicht geheilt, aber als unheilbar gewahrt werden. In einer Tagebucheintragung schreibt Kafka, daß er selbst zerrissen war, daß er selbst zerrissen ist, als er in einer Nacht seine Erzählung Das Urteil schrieb: »Nur so kann geschrieben werden, […] mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele.«12 Und wenn Kafka sich als Leser seines Textes beschreibt, so stellt sich seine Lektüre als Herausreißen des Signifikanten aus dem symbolischen Textzusammenhang und seiner Neuverteilung dar. Als Leser seines Textes Das Urteil schreibt er an Felice Bauer im Juni 1913: »Sieh nur die Namen! […] Georg hat so viel Buchstaben wie Franz, ›Bendemann‹ besteht aus Bende und Mann, Bende hat so viel Buchstaben wie Kafka und auch die zwei Vokale stehn an gleicher Stelle, […] Frieda hat so viel Buchstaben wie Felice und auch den gleichen Anfangsbuchstaben, ›Friede‹ und ›Glück‹ liegt auch nah beisammen. ›Brandenfeld‹ hat durch ›feld‹ eine Beziehung zu Bauer und den gleichen Anfangsbuchstaben. […] das sind natürlich lauter Dinge, die ich erst später herausgefunden habe. Im übrigen ist das Ganze in einer Nacht geschrieben von 11h bis 6 Uhr früh. Als ich mich zum Schreiben niedersetzte, wollte ich nach einem zum Schreien unglücklichen Sonntag (ich hatte mich den ganzen Nachmittag stumm um die Verwandten meines Schwagers herumgedreht, die damals zum ersten Mal bei uns waren) einen Krieg beschreiben, […] dann aber drehte sich mir alles unter den Händen.«13 Das spätere Fragment Beim Bau der chinesischen Mauer kann als eine Ausstülpung der von Kafka aufgeführten Zerreißung und Verrückung von Signifikanten angesehen werden. In dem Maße, wie Kafka den Bau der chinesischen Mauer in ihrer unmeßbaren und unermeßlichen Größe und in ihrer Lückenhaftigkeit mit dem Turmbau zu Babel vergleicht,

12. F. Kafka: Tagebücher, S. 461. 13. Franz Kafka: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, hg. v. Erich Heller, Frankfurt a. M. 1995, S. 394. 178

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DIE BOTSCHAFTEN DES BOTEN

wird eine allegorische Übertragung zwischen der Struktur der chinesischen Mauer und der Sprachmauer forciert. Obwohl als Schutz gegen die Nomaden gedacht, ist die chinesische Mauer von Anfang an als ein brückstück- und lückenhaftes Gefüge geplant und errichtet worden. Stellt sich mit dem System von Teilbauten, dessen Unzweckmäßigkeit im Sinne der Schutzfunktion unbestritten ist, gleichsam die Signifikantenstruktur dar, so ist dieser aus Lücken und Bruchstellen gefügten Architextur die Sequenz eingelagert, die später und fast unverändert unter dem Titel Eine kaiserliche Botschaft in den Band Ein Landarzt versetzt worden ist. Ich gehe zunächst auf die fast unveränderte Druckfassung ein. Der sterbende Kaiser – so heißt es – hat Dir, groß geschrieben, »dem Einzelnen«, eine Botschaft gesendet. Wie die Botschaft des Kaisers von einem Einzelnen kommt und einem Einzelnen gilt, so wird sie auch von einem Einzelnen übertragen. Wenn die Botschaft auch in einer öffentlichen Zeremonie vom Kaiser an den Boten geht, so bleibt sie doch ein Geheimnis: Sie kehrt, wie die Zeremonie zeigt, in einer Schlaufe an den Aussendeort zurück: »Den Boten hat er beim Bett niederknien lassen und ihm die Botschaft ins Ohr zugeflüstert; so sehr war ihm an ihr gelegen, daß er sich sie noch ins Ohr wiedersagen ließ. Durch Kopfnicken hat er die Richtigkeit des Gesagten bestätigt. Und vor der ganzen Zuschauerschaft seines Todes – alle hindernden Wände werden niedergebrochen und auf den weit und hoch sich schwingenden Freitreppen stehen im Ring die Großen des Reichs – vor allen diesen hat er den Boten abgefertigt.« 14 Der Bote aber wird nicht ankommen. Und damit auch die geheime Botschaft nicht. »[W]ie nutzlos müht er sich ab; immer noch zwängt er sich durch die Gemächer des innersten Palastes; niemals wird er sie überwinden; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Treppen hinab müßte er sich kämpfen; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Höfe wären zu durchmessen; und nach den Höfen der zweite umschließende Palast; und wieder Treppen und Höfe; und wieder ein Palast; und so weiter durch Jahrtausende; und stürzte er endlich aus dem äußersten Tor – aber niemals, niemals kann es geschehen – liegt erst die Residenzstadt vor ihm, die Mitte der Welt, hochgeschüttet voll ihres Bodensatzes. Niemand dringt hier durch und gar mit der Botschaft eines Toten. – Du aber sitzt an Deinem Fenster und erträumst sie Dir, wenn der Abend kommt.« Der Bote, so hatte ich gesagt, kommt nicht an. Er bleibt durch Jahrtausende unterwegs. Und die Botschaft des Boten? Auch sie ist das, was nicht ankommt. Die damit aufgerufene einfache Opposition von An-

14. Franz Kafka: »Eine kaiserliche Botschaft«, in: ders., Drucke. 179

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kommen vs. Nicht-Ankommen aber wird vom Text Eine kaiserliche Botschaft gerade nicht aufrechterhalten. Vielmehr ist das Nicht-Ankommen des Boten Bedingung für ein Sprechen von der Botschaft. Hatte die Handschriften-Fassung noch den Vorsatz »Es gibt eine Sage«, so streicht Kafka den Hinweis auf das Genre ›Sage‹ weg und reduziert das kollektive und anonyme Sprechen auf die Wendung »so heißt es«: »Der Kaiser – so heißt es – hat Dir, dem Einzelnen, […] gerade Dir hat der Kaiser von seinem Sterbebett aus eine Botschaft gesendet.« Es heißt: das ist das anonyme Sprechen der Menge, die den kaiserlichen Boten behindert und gerade dadurch das Sprechen tradiert, das von ihm erzählt. Während das anonyme subjektlose Sagen die traurige Geschichte von der verfehlten, von der fehlenden Ankunft der kaiserlichen Botschaft erzählt, ist dieses Sagen und Sprechen an die Stelle der Botschaft getreten. Indem die Hindernisse beschrieben werden, die der Bote nicht überwinden kann, beschreibt sich der Weg, auf dem das Sprechen ›selber‹ kommt. Das Sprechen kommt und betreibt Überlieferung im Ausbleiben der Ankunft der Botschaft. Während das Ausbleiben der Ankunft der Botschaft das Sprechen in Bewegung setzt und hält, wird es durch den Tod des Kaisers nicht als Tausch, sondern als eine Gabe bestimmt, die nur weiter-, aber nicht zurückgegeben werden kann: endlos, durch Jahrtausende. Der Text jedoch spricht nicht nur vom anonymen »es heißt« der Überlieferung, sondern er spricht auch von einem Du, das, wie in einem Brief, groß geschrieben ist. Wenn es zu Anfang heißt, daß der Kaiser Dir, dem Einzelnen, gerade Dir eine Botschaft gesendet hat, so lautet die Schlußsequenz: »– Du aber sitzt an Deinem Fenster und erträumst sie Dir, wenn der Abend kommt.« Die fehlende Ankunft der Botschaft erscheint als Bedingung dafür, daß sich das Du als Einzelner und als Träumender konstituiert. Es stellt sich in dem Augenblick her, in dem es sich von dem Strom der Überlieferung des »es heißt« angesprochen fühlt: Das Du entsteht in dem Augenblick, in dem es sich als Adressat empfindet. Verweist das großgeschriebene Du auf das Genre Brief, so erweist sich der Text am Ende doch als Eine kaiserliche Botschaft, die ihren Bestimmungsort erreicht, sofern sich ein Adressat als der hervorbringt, den der Signifikant in seiner endlosen Verkettung und endlosen Weitergabe des »es heißt« trifft. Zum Beispiel den träumenden und schreibenden Kafka. Ein Nachspann: Hat die hier vorgeschlagene Lektüre eine gewisse Nähe zur Psychoanalyse ›nach‹ Freud, zumal anhand der Signorelli-Passage deutlich gemacht, so stellen sich gerade mit der Ähnlichkeit und Übertragbarkeit auch Fragen ein. Während der analytische Diskurs Freuds das Herausbrechen des Signifikanten nicht nur beschreibt, sondern auch reflektiert und das produktive Zerfallsgeschehen als Symptom einer alle sprechenden Subjekte konstituierenden Verdrängung auf180

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DIE BOTSCHAFTEN DES BOTEN

schlüsselt, ist bei Kafka, wie gerade seine Lektüre der Signifikanten in der Erzählung Das Urteil zeigt, von einer solchen analytischen Reflexion nicht die Rede. Anders als im analytischen Diskurs weiß man nicht, ob die literarische Signifikanten-Verrückung genossen, ob sie gesucht, ob sie erlitten wird. Während Freuds analytischer Diskurs die individuelle Erfahrung als Wirkung einer allgemeinen Regel darstellt, ist der Status der Rede Kafkas unsicher: Betrifft sie Schreib- und Leseverfahren in grundsätzlicher Weise oder in einer, die nur für Kafka, nur für seine Sprach-Verrücktheit gilt? Diese Fragen gehen den ›eigenen‹, den literaturwissenschaftlichen Diskurs an: Was geschieht, wenn der analytische Diskurs – und sei es der der Psychoanalyse – als ein mehr oder minder expliziter theoretischer Bezugsrahmen für die Lektüre fungiert? Bedeutet eine solche Bezugnahme, die für die Wissenschaft der Literatur möglicherweise sogar konstitutiv ist, nicht immer schon eine Verendlichung, eine Aneignung der literarischen Rede?

Literatur Freud, Sigmund: »Zur Psychopathologie des Alltagslebens«, in: ders., Gesammelte Werke, 4. Bd., London 1941. Kafka, Franz: Drucke zu Lebzeiten, hg. v. Wolf Kittler, Frankfurt a. M. 1994. — Nachgelassene Schriften und Fragmente, Bd.1, Textband, hg. v. Malcolm Pasley, Frankfurt a. M. 1993. — Tagebücher 1909–1923, Fassung der Handschrift, Frankfurt a. M. 1997. — Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, hg. v. Erich Heller, Frankfurt a. M. 1995.

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DIE BOTSCHAFTEN DES BOTEN

Überflüssiges? – Über den schwindenden Erkenntniswert einer Pirouette Susanne Gottlob

Die folgenden Überlegungen möchten Fragen nach der Überlieferung des Werkes aufnehmen, wie sie von Friedrich Hölderlins »Antigonä«Übersetzung aufgeworfen werden.1 Denn entlang der Exangolos-Passage in der »Antigonä«-Tragödie (V. Akt, I. Szene 2) entwerfen sich mit dem Botenbericht Fragen nach dem, von wo das Werk kommt, was überhaupt das Werk sein könnte und wie es übergeben / empfangen werden kann. Sie kommen auf und fordern Antworten heraus. Dem Zug eines Rufens nach etwas, das ein Name, ein Subjekt, eine Antwort sein könnte, möchte diese Lektüre nachgeben. Mit anderen Worten: ihre Aufmerksamkeit gilt noch vor jeder Antwort dem Ruf nach etwas – dem Ziehen einer Stimme, wie sie Kreon aus der Gruft Antigonäs angeht. Unter diesem Blickwinkel wird es – und all dies aus dem Mund des Boten, mit seinen Augen, in seinem Stil – um das Duell zwischen Kreon und Hämon gehen; es wird um die Begegnung zwischen Sophokles und Hölderlin und um Gespräche zwischen Sophokles, Hölderlin, Antigone / ä und anderer Stimmen gehen. Denn von ihnen, wie Antigonä es einmal formuliert, kann man sagen, daß sie, die Toten, »durchgängiger Weise«3 seien. Sie halten »Gespräche« »miteinander, drunten«. Ihre Stimmen ziehen sich an, konvergieren, divergieren. Sie drehen sich umeinander und verstreuen sich, verstreuen etwas und verklingen. Auch eine Vorstellung einer Pirouette.

1. Erstmals erschienen im Wilmans Verlag, Frankfurt a. M. 1804: Die Trauerspiele des Sophokles, übers. v. Friedrich Hölderlin. Die Schreibweise der Namen folgt der Hölderlin-Übersetzung. 2. Friedrich Hölderlin: »Antigonä«, in: Frankfurter Hölderlin Ausgabe, Bd. 16, Sophokles, Historisch-Kritische Ausgabe, hg. v. Michael Franz, Michael Knaupp, D.E. Sattler, Basel / Frankfurt a. M. 1988, V. Akt, S. 1203 ff. 3. Ebd., V. Akt, S. 563 ff. 183

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SUSANNE GOTTLOB

Auftritt des Boten. Die Exangolos-Passage Um die Stelle zu bezeichnen, an der die letzte Rede des Boten einsetzt, sei hier eine kurze Skizze des Tragödiengeschehens entworfen. Polynikes ist von Kreon dazu verurteilt, draußen, tot und unbegraben zu verwesen. Einmal kommt der anonyme »Meister«4, ein anderes Mal kommt Antigonä, den Toten zu verabschieden. Antigonä ist von Kreon dazu verurteilt, lebendig begraben zu werden. Sie wurde vom Todesgott, dem Acheron, in die Gruft geführt. Hämon ersucht vergeblich seinen Vater, die Todesurteile aufzuheben. Er trennt sich im Widerwort von seinem Vater, Tiresias kommt zu Kreon und prophezeit von den »allentzündeten / Altären«5 eτη, Unheil. Dieses ist im Gange: das Geschrei der Vögel, die von Menschenblut gefressen haben, und ihr Verstummen, wie auch das Nichtbrennen der Flammen auf dem Opferaltar zeugen davon. Und noch von mehr. Tiresias kündigt weiteres Unheil an. Er sagt: Denn eines Tages wirst auch du, Kreon, einen Toten aus deinen Eingeweiden in deinen Händen tragen.6 Kreon hört auf Tiresias und schickt Diener und Boten, Polynikes ein Grab zu bereiten. Das dritte Mal und in diesem Sinn im Überfluß wird Polynikes begraben, er wird gewaschen, erhält ein Grab mit »geradem Haupt«7 und »frische[n] Zweige[n]«. Dann gehen die Diener, Boten und Kreon zum Grab Antigonäs. Was sich dort, vor und in dem Grab, abspielt, berichtet der Bote. Er berichtet es Eurydice, der Frau Kreons. Denn sie, die auf dem Weg zum Altar Athenes von einer mysteriösen Stimme getroffen wird und daraufhin in Ohnmacht fällt, wendet sich, unheilahnend, an den Boten, damit er wiedergebe, ihr übersetze, was er erfahren hat. Der Chor hört zu. Während Eurydice die Sinne schwinden, bleibt der Bote scheinbar Herr seiner Sinne. Er sagt: »Ich, liebe Frau, sag’ es, als Augenzeuge, Kein Wort der Wahrheit laß ich ungesagt«8 Der Bote kommt »als Augenzeuge« von einem anderen Ort. Er kündigt ein zu Sprechendes an als etwas, das nachträglich von etwas Gesehenem berichtet. Der Bote gehorcht einem Verlangen nach Erzählung, das Eurydice äußert und an ihn richtet. Scheinbar tun die Worte des

4. Ebd., V. Akt, S. 263. 5. Ebd., V. Akt, S. 1043 f. 6. Ebd., V. Akt, S. 1108: »Denn bald aus deinem Eingewaide zahlst / Du selber einen Todten für die Todten.« 7. Ebd., V. Akt, S. 1253 f. 8. Ebd., V. Akt, S. 1242 f. 184

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ÜBERFLÜSSIGES? – ÜBER DEN SCHWINDENDEN ERKENNTNISWERT EINER PIROUETTE

Boten so, als seien das Gesprochene und das Gesehene gleich und differenzlos, und als ob sie ein Sprechen, das sich im Sprechen duplizierte, übergehen könnten. Damit erzählt der Bote nicht nur, wie es wahr und unwahr war, er spricht zugleich von der Zeugenschaft des Auges als Bedingung eines wahren Sprechens, indem er das Sprechen in der Verknüpfung mit dem Sehen als »transzendente Sehweise«9 markiert. Doch weit entfernt von einer nüchternen, objektiven Berichterstattung, die mit dem Begriff des »Augenzeugen« aufgerufen wird, dreht der Bote in der Übersetzung Hölderlins, noch bevor die Hiobsbotschaften zu Wort kommen, eine »Pirouette«10 mit dem scheinbaren Bekenntnis: »Ich, liebe Frau, sag’ es, als Augenzeuge, Kein Wort der Wahrheit laß ich ungesagt, Was sollt’ ich nemlich dich besänftigen, Wenn ich nachher als Lügner dir erschiene? Gerad ist immerhin die Wahrheit.«11 Erscheint die Wahrheit »immerhin gerad«, so wird die Sentenz des Boten im Gegenteil auf einem schiefen Boden stehen. Wie der Körper eines Tänzers sich in Windeseile auf einer Fußspitze um seine eigene Achse dreht und im Anblick dieser virtuosen Drehung seine ursprüngliche Gestalt verliert – denn er entwirft, wie die Figuren Grandvilles, eine geisterhafte Erscheinung, die zugleich zwischen einer konturlosen Gestalt, die sich in ihren Konturen nicht fixieren und abbilden läßt, und einer einfachen Spule tendiert –, so dreht sich die Rede des Boten. Wort für Wort ereignet sich ein Sprechen, das, kaum ist ein Wort ausgesprochen, sich in sein Gegenteil verkehrt. Es verdichtet sich; es verliert und erhält zugleich mit der ersten Negation »kein« die Konturen, die das Wort in einer Spanne von Konturierung und Verlust von Konturierung zu einem sinnhaften werden läßt. Denn »kein Wort der Wahrheit« läßt der Bote »ungesagt« und sagt so, daß er die ganze Wahrheit restlos spricht, wie er zugleich alle Worte der Wahrheit »ungesagt« läßt. So gesehen steht die Wahrheit aus. Sofern das Sprechen des Boten nach Maß des Augenzeugen voll von Wahrheit ist, transportiert es zugleich einen Entzug durch die doppelte Negation, eine Leere im Gesagten. Damit wird thematisch, daß die Nachricht, so unverrückbar wahr sie auch immer daherkommt, gleichzeitig ein Fehlen, eine Auslassung arti-

9. Maurice Blanchot: Das Unzerstörbare, hg. v. Michael Krüger, übers. v. Hans-Joachim Metzger, Bernd Wilczek, München / Wien 1991, S. 88. 10. Das Seminar von Jacques Lacan. Buch VII (1959–1960), Die Ethik der Psychoanalyse. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. v. Norbert Haas, Weinheim / Berlin 1996, S. 329. 11. F. Hölderlin: »Antigonä«, V. Akt, S. 1242 ff. 185

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kuliert. Je nach Blickwinkel streicht sich die Rede wechselseitig selbst durch; sie zirkuliert um sich selbst und berührt darüber einen Zug von Leere, der sich in der Konvergenz des Gegensinns in Form einer Unterbrechung einstellt. Durch den Boten kommt also das Thema der Unterbrechung und des Ausgelassenen, das sich als eine Wachsamkeit für den Mangel und in zugespitzter Form den Tod zu denken gibt, komisch und im Umschlag zum Tragischen zur Sprache. Wie ein flüchtiges Atemholen unterbricht der Bote das Tragische mit dem Zug des Komischen und schiebt es ein letztes Mal auf. Der Bote erscheint nicht in der Gestalt des Lügners und nicht in der Gestalt des »Wahrsager[s]« 12, wie sie Kreon zugeschrieben ist, er erscheint als ein treuer »Diener«13, der flüchtig in den ersten vier Versen seiner Rede an Eurydice eine Lücke aufreißt, die sich abrupt im fünften Vers mit dem Satz »Gerad ist immerhin die Wahrheit« zu schließen droht und noch ein letztes Mal in der Unmöglichkeit zur wahren Aussage aufblitzt. Bis dahin spricht der Bote mit einer gespaltenen Zunge, die einen Witz darüber erzeugt, daß er die Unmöglichkeit des Gesehenen und die Wahrheit darüber zu sagen als unmöglich und darüber wahrhaft mangelhaft ausspricht. Vor diesem Hintergrund, also auf dieser zerkritzelten und zerkratzten Folie ist die Rede des Boten zu hören, zu übersetzen, die nun anhebt, von der Heraufkunft einer Stimme aus dem Grab zu berichten.

Passage über den Aufschub: Zwischen Stimme und Blick Auch Kreon hört eine Stimme. Sie trifft ihn, wie der Bote berichtet, in dem Moment, in dem er sich der steinernen Gruft nähert, in der er Antigonä lebendig begraben eingeschlossen glaubt. Auf der Schwelle zum Grab umgibt Kreon eine »dunkle, mühseel’ge Stimme«, deren Ursprung ungewiß ist. Der Bote berichtet: »Es höret aber einer eine Stimme, Und laute Klage rufen in der Kammer, Und nahet sich und deutet Kreon sie Dem Herren an. Und wie der gieng, umgab Ihn merkbarer die dunkle, mühseel’ge Stimme, Dann schrie er auf, nah dran, und übel klagend Sprach er das Wort, das ärmlich klagende;«14

12. Ebd., V. Akt, S. 1265. 13. Ebd., V. Akt, S. 1267. 14. Ebd., V. Akt, S. 1258 ff. 186

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ÜBERFLÜSSIGES? – ÜBER DEN SCHWINDENDEN ERKENNTNISWERT EINER PIROUETTE

Die Heraufkunft der Stimme, die in der Rede des Boten auftaucht – Es höret aber einer eine Stimme – ist nicht unmittelbar. Die Rede des Boten schiebt sich nachträglich wie ein Schleier oder ein Riegel vor das, was die Stimme an dunkler und unaufhaltsamer Stimmung transportiert, wenn sie allein, wortlos und im ziehenden Ton eines Nahens einen Körper trifft und ihn umgibt. Die Unmittelbarkeit der Stimme wird über das Sprechen des Boten und im Akt der Wiedergabe in Distanz gehalten und zugleich noch einmal erinnert. In dem Maße, wie der Bote spricht, die Tragödie geschrieben steht und Hölderlin übersetzt, wird die an kein Subjekt gebunden vorgestellte und von einem ungewissen Ort kommende Stimme, die zur Gewißheit drängt, in der Erinnerung des Sprechens, Dichtens und Übersetzens berührbar – und zwar berührbar in dem Sinne, als Berühren einen Kontakt einer »höchst nahe[n] Distanz«15 herstellt. Denn wenn eine Stimme plötzlich einbricht, wie sie Eurydice unmittelbar ins Ohr trifft, sie ohnmächtig werden läßt, und wie sie Kreon umgibt, ist sie unmittelbar dahingehend, als sie das Moment der Distanz zwischen Stimme hier und Körper dort flüchtig aufzuheben scheint. Anders als die in vertrauter Weise sprechende Stimme, die von Leben zeugend gedacht ist, indem sie an ein sprechendes Subjekt geknüpft ist, bringt die dunkle Stimme ein Tödliches. Sie gibt die Spaltung von Subjekt und Stimme zu denken auf. Die Rede des Boten bekommt so eine strukturelle Funktion, indem sie den Abstand zwischen der Unmittelbarkeit der Stimme, die unentschieden halluziniert und wahr und verschieden im Sinne einer zeitlichen Passage gewesen sein wird, und der Rede über die Stimme bewahrt. Die Gewalt einer Stimme, die plötzlich hereinbricht, artikuliert, daß es das Dunkle der Stimme und das Dunkle von Sprache gibt. Stimme ist hier nicht das, was das Subjekt beherrscht, indem es spricht und nicht spricht, hört und nicht hört. Sie umgibt das Subjekt. Hölderlin akzentuiert die unendliche Ferne einer unberührbaren, unfaßlichen Stimme, die zugleich unaufhaltsam nahe kommt und Kreon auf den Leib rückt, in der Übersetzung des Boten: Es höret aber einer eine Stimme.16 Eine Stimme gibt sich ungebunden an ein Subjekt und ungebunden an ein Objekt herkunftslos zu hören. Niemand spricht, und doch gibt es allein die Stimme, die, indem sie erklingt, den Entzug ihres Ursprungs mitartikuliert. Eigenschaftslos ist sie. Ist sie ungeschrieben? Metrisch gelesen wird die Stimme in diesem Vers eingeführt mit einem Rhythmus, der aus einem dreifüßigen Jambus und einem dreifüßigen Trochäus besteht und von einer unmerklichen Cäsur in der Mitte des

15. Jean-Luc Nancy, Die Musen, übers. v. Gisela Febel u. Jutta Legueil, Stuttgart 1997, S. 32. 16. F. Hölderlin: »Antigonä«, V. Akt, S. 1258 ff. 187

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SUSANNE GOTTLOB

Verses (nach »aber«), welche die Umkehr der Hebungen und Senkungen hervorruft, strukturiert ist. Und doch, rezitiert man den Vers nur einmal mit der eigenen Stimme, so wird man bemerken, daß er eher leicht, mit schwebender Betonung zwischen den Versfüßen und Satzteilen, besonders zwischen dem Subjekt und dem Objekt »einer eine Stimme« in der Mitte, aber auch in der Spannung zwischen dem Anfang des Verses »Es« und seinem Ende »Stimme« auszusprechen ist. Eine zarte, lyrische Weise steht damit im Widerspruch zu dem, was die Stimme an Unheil ankündigt. Noch aber ist es nicht da, vielleicht sogar schiebt der Rhythmus einmal noch im Einklang mit der Unentschiedenheit der Stimme, die unbestimmt zwischen »es« »einer« und »eine« zu hören ist, das Unheil auf. Die unbestimmte Stimme wird allmählich konturierbarer. Sie verschiebt sich im Zuge ihres Herannahens in die Weise der Klage. Dann wechselt der Bote die Zeit der Erzählung vom Präsens abrupt in das Imperfekt. Die »dunkle, mühsee’lge Stimme« »umgab« Kreon im Gehen auf das Grab zu »merkbarer«. »Dann schrie er auf, nah dran.«17 Der Schrei unterbricht die Passage des Hörens der Stimme, Kreon beginnt zu klagen und zu sprechen. Der Bote gibt wieder, was Kreon rief: »Bin ich Wahrsager mir? geh’ ich den unglüklichsten Wirklich der Wege, welche kommen können? Mich rührt des Kindes Stimme. Doch ihr Diener Geht schnell hinzu, zum Grab’ und seht genau Den Riegel an, der aus der Mauer ist gerissen, Geht in die Thüre selbst hinein, und sehet Ob ich des Hämons Stimme höre, oder Göttlich getäuscht bin.«18 Mit der Frage »Bin ich Wahrsager mir?« scheint etwas auf ihn zuzurollen, das sich zwischen der Prophezeiung des Tiresias19 und einer dunklen Ahnung bewegt. Die Worte Mich rührt des Kindes Stimme stehen in der Stimmung einer Berührung durch eines Kindes Stimme im Nachklang zu dem Vers Es höret aber einer eine Stimme. Dann schlägt die Rührung in eine Hast und Ungeduld um. Kreon befiehlt den Dienerboten, damit sich die Ungewißheit der Stimme aufkläre, zu »sehen«, ob es Hämons Stimme oder eine Stimme göttlicher Täuschung ist. In der Grabszene kommt eine Stimme zum Zuge, die nicht spricht und zu hören gibt, indem sie einen Körper umschließt und auf

17. Ebd., V. Akt, S. 1263. 18. Ebd., V. Akt, S. 1265 ff. 19. Ebd., V. Akt, S. 1108 ff. 188

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ein Ereignis referiert, das eine Grenze von Unmittelbarkeit und einen Entzug der Sinne, in dem Sinn und Sinne kollabieren, hervorgerufen haben wird: das Ereignis des Todes. Die Stimme entspringt zwischen Ereignis und Wort aus diesem unsäglichen Nichtort einer Totenkammer. Wenn sie, die Stimme, von dort heraufkommend sich allmählich sprechend in Klage, Wort und Schrei zu erkennen gibt, wird sie immer schon das Mysteriöse und Unwiderrufliche ihres Ursprungs verdeckt haben, auf das sie zugleich die Aufmerksamkeit richtet. Das dichterische Wort wäre das, welches den »tragische[n] Transport«, der »nemlich eigentlich leer, und der ungebundenste«20 ist, zwischen Ereignis und Wort wachhält. Der Vers Es höret aber einer eine Stimme gibt dem statt. Es beruht auf einem leichten metrischen Wiegen und der syntaktisch metonymischen Beziehung von »einer eine Stimme«, in der der unbestimmte weibliche Artikel »eine« ein verlustreiches Echo im Nachhall von »einer« ist. Beide, Subjekt und Objekt, und unbestimmter männlicher und unbestimmter weiblicher Artikel, also beide Geschlechter, münden nebeneinander in die »Stimme« – wie Hämon / Polynikes und Antigonä, die im Leben geschieden und im Tod vereint nebeneinander zunächst tot und lebendig, dann tot und tot da liegen und Ursache der Heraufkunft der Stimme bilden.

Übersetzen – überliefern Die Szene vor dem Grab, von der der Bote berichtet, wechselt zwischen Stimme und Blick und verschiebt abwechselnd den Akzent zwischen Hören und Sehen. Die Dauer der Stimme, die aus einem Zug des Nahens in eine dunkle Stimme und in eine Klagestimme übergeht, die sich wiederum in eine unentscheidbar imaginäre Stimme oder wirkliche Kindesstimme spaltet, wird skandiert durch den Befehl Kreons an die Boten, der Stimme ins Grab nachzugehen, um die Stimme seinem Kind oder einem göttlichen Trug zuschreiben und deuten zu können. Wenn Kreon die Boten ins Grab schickt mit dem Auftrag, zu »sehen«, wessen Stimme er höre, scheint es, als gäbe es eine Beziehung zwischen der Weise und Not, die Stimme zu sehen, das heißt, sie an ein Subjekt zu binden, und dem Lesen. Nicht nur, daß man mit dem Auge liest, auch das Wort, indem es gesprochen, geschrieben ist, rückt in eine Subjektposition, wenn es sagt, etwas sagt und etwas aussagt. Gerade aber mit dem Thema der Stimme, die nicht spricht und naht, einfach nur herannaht, von dem einem losgelöst und noch nicht bei dem anderen ange-

20. Friedrich Hölderlin: »Anmerkungen zum Oedipus«, in: Frankfurter Hölderlin Ausgabe, Bd. 16, Sophokles, Historisch-Kritische Ausgabe, hg. v. Michael Franz, Michael Knaupp, D.E. Sattler, Basel / Frankfurt a. M. 1988, S. 250. 189

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kommen, öffnet sich die Vorstellung eines Lesens, das hört. Auch das heißt übersetzen. Hölderlin übersetzt Es höret aber einer eine Stimme. Indem Hölderlin sich in einen dichterischen Prozeß begibt, verleiht er Sophokles, dem Autor, und Antigone / ä, dem Werk, eine Stimme. Der Begriff Stimme rekurriert an dieser Stelle auf eine Vergegenwärtigung der Stimme als Metapher.21 Wenn Metapher hier bedeutet, das eine für das andere zu setzen, einem eine Stimme zu verleihen und dem einen die Stimme des anderen zu geben, dann kann man mit Hölderlin lesen, daß Dichten immer auch die Unmöglichkeit der Ersetzung und damit immer auch die Anmaßung, einem eine Stimme zu verleihen, aufscheinen läßt. Dies geschieht, indem Hölderlin den Akzent auf den Rhythmus und die metonymische Struktur von Sprechen als Einbruch der metaphorischen Struktur setzt und solcherart einen Kontakt zwischen metaphorischer und metonymischer Struktur herstellt. Mit dieser Haltung zum Unscheinbaren, zum Rhythmus, der nichts sagt und pulsiert wie der »lebendige Sinn«22, mal rapide, mal wiegend wie die Sentenz Es höret aber einer eine Stimme, schlägt etwas ein, das die Präsenz der Stimme aufbricht. Eine Stimme, leer an Sinn, ungebunden an einen Sprachkörper und ziehend zwischen Hebung und Senkung, öffnet die Frage nach dem, was vor dem Akzent, der Sinn macht, liegt. Ein Abgründiges der Stimme, wenn sie ungebunden zwischen dem einen und dem anderen Sprachkörper gewesen sein wird, erhält eine Stätte. An diesem Punkt springt eine Vorstellung auf, in der sich Hölderlin und Sophokles begegnen. Ort der Begegnung wäre das Werk, die Tragödie, anhand deren die Höhlung des Namens des Vaters – Kreon / Nekro – sich in ein Trauerspiel wendet. Ort der Begegnung wäre also auch, wie bei Kreon und Hämon, eine Grabeshöhle. Doch genauer: Hölderlin übersetzt die Antigone-Tragödie nach Sophokles in das Trauerspiel Antigonä. Im Zuge der Übersetzung setzt der Dichter Hölderlin den Ruf des Werkes – Antigone nach Sophokles und auch Antigone nach Polynikes, denn sie vernimmt den stummen Ruf des Toten – von einem undenklichen Ort der Totenstille in Szene. Nicht allein der Dichter Hölderlin wendet sich an den anderen Dichter Sophokles. Auch umgekehrt: Das in Vergessenheit versunkene Werk schickt einen Ruf aus der Verborgenheit. Es ist ein Ruf nach Übersetzung. Was transportiert der unhörbare Ruf, den einst Antigonä – nicht von Zeus und nicht von Dike23 – empfangen hat? Daß die Frage nach der Übersetzung des Toten, als eine Frage nach der Anerkennung, daß

21. Paul de Man: »Semiologie und Rhetorik«, in: ders., Allegorien des Lesens, übers. v. Werner Hamacher u. Peter Krumme, Frankfurt a. M. 1988, S. 49. 22. F. Hölderlin: »Anmerkungen zum Oedipus«, S. 250. 23. F. Hölderlin: »Antigonä«, V. Akt, S. 467 ff. 190

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es Totes gibt und den Toten zu verabschieden notwendig ist, nicht zu vergessen ist: daß es, wie es der tote Bruder einzig transportiert, ein Ende einer Genealogie gibt. Zugleich, und das darf man in der unheimlichen Vorstellung der Stimmen der Toten nicht vergessen, gibt es auch den Ruf von Außen an das Werk: Kreon, der Vater, ist angezogen von des Kindes Stimme und überschreitet, nachdem er die Boten vorgeschickt hat, die Schwelle des Grabes. Er ruft den Sohn flehend an, aus dem Grab zu kommen. »Darauf Zu hinterst in den Gräbern sehen wir Am Naken hängend, sie, am Gürtelbande Des Leinenkleids herab; und ihn, rundum Um sie bestrikt, dahingestrekt, und jammernd Ums Brautbett, und den Abgrund drunten, und Des Vaters Werk und unglükliche Lager. Er, wie er dieses sieht, schreit greulich auf, Und geht hinein, zu ihm, und weheklagt und rufet: O Armer, was hast du gethan? was hattest Im Sinne du? Durch welch Verhängniß starbst du? O komm heraus, mein Kind, fußfällig bitt’ ich.«24 Mit einer erstaunlichen Präzision trifft Hölderlin erneut an einen Rand von Artikulierbarkeit. Zum einen läßt er unentschieden, wer »er« ist »und wer ›schreit‹«. Der Vater? Der Sohn? Der Bote läßt es in dem Vers Er, wie er dieses sieht, schreit greulich auf offen und ruft genau darüber die Frage, wer und was spricht, hervor. Zum anderen setzt Hölderlin abermals das Tote als ein der Sprache Vorgängiges in Szene, wenn er Kreon richtungslos sagen läßt. »Durch welch Verhängniß starbst du?« Wendet Kreon sich damit an die tote Antigonä oder an Hämon, der, noch nicht tot, in den Augen Kreons bereits tot ist? Oder wendet sich Kreon gar an sich selbst, indem er spricht, was er zu sehen nicht vermag: daß auch er, wie sein Name in der anagrammatischen Umkehr es unermüdlich herauszuschreien scheint, ein Totes an sich trägt?25

24. Ebd., V. Akt, S. 1273. 25. Es gibt verschiedene Akzentuierungen des Namens ›Kreon‹: ein Blick auf das annagrammatische Vermögen, das dem Eigennamen Kreon / Nekro anhaftet, läßt in unterschiedlichen Textpassagen der Tragödie den Namen Kreon in einer Spannung von Differenz, Spiegelbild, Konvertierung und Deutbarkeit des Namens erscheinen – bis hin zur Berührung einer Grenze der Deutbarkeit des Eigennamens. Ausführlicher in Susanne Gottlob: »Stimme und Blick. Zwischen Aufschub des Todes und Zeichen der Hingabe – in einer Konfiguration von Hölderlin – Carpaccio – Heiner Müller – Fra Angelico« (unveröffentl. Ms). 191

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Die Begegnung zwischen Sohn und Vater innerhalb der Gruft durch die sich wechselseitig anziehenden Stimmen führt zu einem tödlichen Duell. Der Haß auf den Vater, da er fehlte, mündet in einen Tötungsakt, der in einem flüchtigen Moment dem weichenden Vater gilt. Der Sohn, der auch des Vaters Werk ist, tötet sich anstatt des fehlenden Vaters. Denn der reißt eine Lücke im Schritt zur Seite auf, die der Sohn mit seinem Tod füllt, indem er den Verlust, der die Leere entdeckt, selbst real werden läßt. Tot. Nicht so ist es, daß der Ruf Kreons, der Sohn möge aus dem Grab herauskommen, noch einmal den Tod aufhielte; im Gegenteil, die verspätete Sorge, der Kinder Tod, also Polynikes Tod, Antigonäs Tod und nun Hämons Tod vom Urteil des Aufschubs vom Tod in das Leben rückzuübersetzen, führt zu einer weiteren Zerstörung. Auch dies Werk ist tot. »Des Kindes Stimme«, also die doppelte Stimme von Hämon und Antigonä, die zwischenzeitlich durch den Status von Leben und Tod getrennt waren, ist nun vereint im Tod, wenn man das so sagen kann. Was aber bedeutet das für den Vater, den Hinterbliebenen? Wenn Kreon das tote Kind fassungslos in den Händen hält – der Bote sagt: »Ein großes Angedenken in Händen trägt er«26 –, widerfährt ihm das, was Antigonä einsam, verborgen und unverborgen, mit dem Bruder vollzogen hat. Sie wird den Toten mit der Hand getragen haben.27 Ihre Geste, das tote Kind, das Werk, zur Übergabe zu verabschieden, es losgelöst von dem Vater, der für das Gesetz steht, der Totengruft zu überlassen, heißt, dem Toten und dem Ungeschriebenen als das, was sich der Schrift entzieht, einen Ort zu geben. Indem Hölderlin übersetzt, hält er das Werk Antigone (nach Sophokles), dem er treu und untreu zum Gesetz des Vaters die Frage nach dem Toten entnimmt, das Verschiedene in den Händen – wie Antigone den Polynikes hält – und bereitet es zur Übergabe in die Totenkammer. Der Ort des Werkes Antigonä (nach Hölderlin) findet einen Aufenthaltsort in einer Verfaßtheit und im Modus eines Kontaktes, in der das Lebendige und Tote sich zu begegnen vermögen. Vor dem Grab. Antigone und Antigonä begegnen sich nicht in einer geschlossen Gruft und nicht in einem Draußen vor den Stadttoren, vielmehr in der Nähe »[b]ei denen, die durchgängiger Weise sind, / Und die Gespräche halten miteinander, drunten.«28 Was aber bedeutet das? Zunächst: Eine undenkbare Übersetzungsökonomie, mit der ein Ausfall aus der Ökonomie einer kontinuierlichen Fortsetzung, einer Genealogie notiert ist. Denn nicht geht es um die Frage nach dem Ewigkeitswert einer Dichtung, es geht um ein Hören von Stimmen, welche die im dichterischen Prozeß sich gegenseitig anziehenden Stimmen

26. F. Hölderlin, »Antigonä«, V. Akt, S. 1314. 27. Vgl. ebd., V. Akt, S. 45. 28. Ebd., V. Akt, S. 563 f. 192

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des Werkes gewesen sein werden. Antigone / ä scheint im Lesen auf. Antigone und Antigonä synchron. Das Werk Antigone und das Werk Antigonä sind einander »subordinirt[e] Kunstform[en]«29. Eine Spannung der Unentschiedenheit in der Frage nach dem, wer spricht, subvertiert eine Vater / Sohn- und Herr / Knecht-Unterworfenheit; sie stärkt die Vorstellung einer archäologischen Schichtung beider Werke, in der sich Schichten nicht einfach einmalig übereinander verschoben, sondern ineinander verschoben haben, so daß Wörter, Vorstellungen, Mythen, Rhythmen, Haltungen zu einer Art Sammelstätte, einem Klangraum werden. Vermögen von Literatur. Daß jedoch das Sprechen und Stimmenhören »drunten« mit denen, die »durchgängiger Weise«, die also ewig treu und präsent vorgestellt sind, einen Anziehungspunkt für eine widerständige und dichterische Haltung bildet, dessen Kehrseite der »schonungslos[e]« »Geist der ewig lebenden ungeschriebenen Wildniß und der Todtenwelt«30 ist, darf dabei nicht übersehen und nicht überhört werden. Denn das, was im Kontakt zum Toten als schön vorgestellt wird – Lieb werd’ ich bei ihm liegen, bei dem Lieben31 –, bedeutet einerseits, die Schweigsamkeit der Stimmen im Leben aufzuheben und ein Gespräch unter Toten zu führen. Andererseits zeigt sich in der Zuneigung zu dem Toten, welche die Abwesenheit der Stimme (im Leben) in Szene setzt, das Grauen einer Einsamkeit, wie es der Tenor der Klage Antigonäs zum Ende hin anschlägt. An diesem Punkt wird deutlich, daß sich an die Frage nach dem Ursprung der Stimme die Frage des Werkes knüpft. Nicht, wie bei Lazarus, erfolgt durch Christus ein Ruf Gottes von außen an das Werk, das im Grab tot liegt und auferstanden ein leeres Grab hinterläßt.32 Das Tote kann nicht aufstehen, der Ruf Gottes fehlt. Statt dessen geht vom Ort eines unwiderruflich verlorenen Werkes, Antigone nach Sophokles, das innerhalb einer Gruft als geschlossenes Werk liegt, ein Ruf aus. Das tote Werk, das so (nie) gesprochen haben wird, drängt an den Rand einer paradoxalen Struktur der Stimme. Im Aufbruch der Geschlossenheit des Werkes gelangt zur Vorstellbarkeit, daß eine Abwesenheit der Stimme Ursache des Werkes ist; daß Berühren, Übersetzen, Dichten heißt, die prinzipielle Nichtersetzbarkeit eines Werkes und von Dichtung ins Sprechen zu bringen. Übersetzen als ein Hören im Lesen heißt so vielleicht, sich dem geschriebenen Wort dichtend zu neigen und das

29. Friedrich Hölderlin: »Anmerkungen zur Antigonä«, in: Frankfurter Hölderlin Ausgabe, Bd. 16, Sophokles, Historisch-Kritische Ausgabe, hg. v. Michael Franz, Michael Knaupp, D.E. Sattler, Basel / Frankfurt a. M. 1988, S. 418. 30. Ebd., S. 413. 31. So Antigonä zu Ismene; F. Hölderlin: »Antigonä«, V. Akt, S. 75. 32. M. Blanchot: Das Unzerstörbare, S. 13 ff. 193

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andere von Schrift, das losgelöste Ungeschriebene auszulassen; es frei zu lassen und, da das Ungeschriebene sich einer Positivität und Versifizierbarkeit entzieht, es im Zuge seines Verschwindens zu berühren. Nachsehen. Dichten heißt so vielleicht auch, auf der Schwelle zwischen Sehen und Hören der Öffnung der Gruft nachgeben, dort wo das Tote und das Lebendige sich ein letztes Mal berühren. Dieser flüchtige Kontakt bezeichnet einen undenkbaren Ort von Überlieferung vor der »Nicht-Passage«.33

Literatur Blanchot, Maurice: Das Unzerstörbare, hg. v. Michael Krüger, übers. v. Hans-Joachim Metzger, Bernd Wilczek, München / Wien 1991. Derrida, Jacques: Aporien / Sterben – Auf die »Grenzen der Wahrheit«, übers. v. Michael Wetzel, München 1998. Gottlob, Susanne: »Stimme und Blick. Zwischen Aufschub des Todes und Zeichen der Hingabe in einer Konfiguration von Hölderlin – Carpaccio – Heiner Müller – Fra Angelico« (unveröffentl. Ms). Hölderlin, Friedrich: »Antigonä«, in: Frankfurter Hölderlin Ausgabe, Bd. 16, Sophokles, Historisch-Kritische Ausgabe, hg. v. Michael Franz, Michael Knaupp, D.E. Sattler, Basel / Frankfurt a. M. 1988. — »Anmerkungen zur Antigonä«, in: Frankfurter Hölderlin Ausgabe, Bd. 16, Sophokles, Historisch-Kritische Ausgabe, hg. von Michael Franz, Michael Knaupp, D.E. Sattler, Basel / Frankfurt a. M. 1988. — »Anmerkungen zum Oedipus«, in: Frankfurter Hölderlin Ausgabe, Bd. 16, Sophokles, Historisch-Kritische Ausgabe, hg. von Michael Franz, Michael Knaupp, D.E. Sattler, Basel / Frankfurt a. M. 1988. Lacan, Jacques: Das Seminar von Jacques Lacan. Buch VII (1959–1960), Die Ethik der Psychoanalyse. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. v. Norbert Haas, Weinheim / Berlin 1996. Man, Paul de: »Semiologie und Rhetorik«, in: ders., Allegorien des Lesens, übers. v. Werner Hamacher u. Peter Krumme, Frankfurt a. M. 1988, S. 31–51. Nancy, Jean-Luc: Die Musen, übers. v. Gisela Febel u. Jutta Legueil, Stuttgart 1997. Die Trauerspiele des Sophokles, übers. v. Friedrich Hölderlin, Frankfurt a. M. 1804.

33. Jacques Derrida: Aporien / Sterben – Auf die »Grenzen der Wahrheit«, übers. v. Michael Wetzel, München 1998, S. 28. 194

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Über Fehlübersetzen: Schrift – Hysterie – Institution Ulrike Oudée Dünkelsbühler

Sprechen über – die Überschrift dieses Beitrags, über diese drei übergroßen schlagwortartigen Brocken: »Schrift – Hysterie – Institution«. Zu fragen, was sprechen über heißt, heißt schon, die Frage nach dem zu stellen, was Theorie mutmaßlicherweise ist, sein möchte, aber auch, und das ist mein Anliegen, ob und wie sie anders zu verstehen sein könnte denn als Metadiskurs über ein Wissen, das auf eine Weise gebildet wird, der wir ein Stück weit nachspüren werden, um ein anderes Wissen zu Wort kommen zu lassen. Hier zunächst: wie über diese drei überdimensionierten Begriffe sprechen? Sie machen, zumal in dieser Konstellation, einen Hinweis fast überflüssig: den auf die Strenge und Enge der Vorschrift, die der Rede-, sprich der Schrift-Zeit ihre gehörigen Grenzen setzt und zur Kürze mahnt. Womit sich sofort und vorab begründen ließe, daß das Unterfangen, die Versuchung der Theorie, nämlich diese Brocken in den Griff zu bekommen, sie auch nur annähernd auf den Begriff zu bringen, das Maß und die Grenzen des vernünftig Möglichen und des möglichst Vernünftigen übersteigt, überfordert, überbordet, überspannt. Sie hören, was ich schreibe: Metaphern des Exzessiven, Übertragungen, die den Rahmen des Imperativs von seriöser Theorie zu sprengen scheinen und in eins den Bogen spannen, hin zur sogenannten Hysterie. Als wären wir nicht womöglich schon längst in diesen Bogen einbezogen. Sprechen worüber also? 1. Was man als Scharniere zwischen Schrift, Hysterie und Institution bezeichnen könnte, wird im folgenden nicht ausgelotet, geschweige denn durchbuchstabiert werden. Vielmehr wird es um Lücken und Brüche gehen. Womit sich der bruchstückhafte Charakter meiner Überlegungen als nicht ganz unschuldig erweisen wird. Zumal in Anspielung auf das Wort, oder besser: in Anspielung auf den Versuch einer Theorie der ›Hysterie‹. Einige wenige Aspekte dieser Bruchstücke werden in Zusammenhang mit dem zur Sprache kommen, was man einen institutionellen Rahmen nennt. Aber was heißt ›zur Sprache kommen oder bringen‹? Welche Effekte zeitigt die Differenz zwischen 195

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ULRIKE OUDÉE DÜNKELSBÜHLER

Sprechen und Sprechen über? Das wird, Sie hören, was ich schreibe – diesseits der vermeintlichen Opposition von Mündlichkeit und Schriftlichkeit – eine der zu übersetzenden Fragen sein. 2. ›Die Institution‹, ein lateinischer Terminus, abgeleitet aus einem Partizip Perfekt, dessen perfekte Abgeschlossenheit sich in wörtlicher Übersetzung auf ein ›Eingerichtetes‹, ein ›Eingestelltes‹ bezieht, auf ein Ge-setz(tes), dessen Legitimation und Autorität sich auf den Akt einer verbrieften Gründung beruft – und damit auf eine Schrift. Die Institution ist ein Phänomen der Schrift.1 In jüngster Zeit ist »Die Institution« zu einem topos en vogue geworden, und diese zunehmende Konjunktur läßt trotz oder gerade wegen der scheinbar perfekten Abgeschlossenheit des Instituiertseins auf die Wahrnehmung einer Erosion, wenn nicht auf die des Verlusts des Status der Stabilität und der Stabilisierungsfunktion von Institutionen schließen. Welche Institution, woher die Wahrnehmung dieses Prozesses des Zerbröselns? Gemeint ist im folgenden eine spezifisch abendländisch geprägte öffentliche Einrichtung, deren Funktion die Organisation von Wissen ist. Als Organ, Wissen zu organisieren, es zu formieren, zu ›bilden‹ – und d. h. zu konstituieren –, steht hier die Institution Universität zur Debatte. Genauer: deren Ränder, Fransen oder besser: ›Taschen‹, d. h. Ein- und Ausstülpungen, als Momente der Störung ihrer Funktion. Störungen jedoch, die sich meiner These zufolge als konstitutiv – und damit als und in Funktion der Institution stehend – entziffern lassen. Als Beispiele dafür, wie solche Störungen die Dynamik der Institution in Gang setzen und halten, stehen drei nicht ganz blindlings gewählte Adjektive zur Disposition: es sind, namentlich, und jeweils in Anführungszeichen, die Signifikanten ›hysterisch‹, ›jüdisch‹ und ›dekonstruktiv‹. Nur der erste von ihnen – ›hysterisch‹ – wird der Faden unserer heutigen Franse sein. 3. Was also fragmentarisch und hypothesenhaft ansteht, läßt sich anläßlich der Überschrift – Über Fehlübersetzen: Schrift – Hysterie – Institution im Sinne einer Vorsicht markieren: Denn wenn Sie die – nota bene von Leerzeichen umgebenen – Gedankenstriche zwischen diesen drei Termini gemäß der gängigen Verwechslung als Bindestriche lesen, dann erscheinen sie logischerweise wie eine Dreierverbindung, die prekär sein kann. Prekär wäre diese ménage à trois in diesem Fall insofern, als ein solches Zusammenrücken dieser Begriffe Gefahr läuft, die Brüche und Differenzen, um die es geht – und die das Zusammenrücken selbst und entscheidenderweise impliziert – zu übergehen. Brüche also nicht übergehen. Brüche in dem, was wir so bündig ›Wissen‹ zu nennen gelernt haben, als wüßten wir, worüber wir dabei sprechen. Sie – die

1. Vgl. Pierre Legendre: »Die verordnete Psychoanalyse. Anmerkungen zur Auflösung der École freudienne de Paris«, in: Fragmente. Schriftenreihe zur Psychoanalyse 39 / 40 (1992), S. 275–289. 196

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ÜBER FEHLÜBERSETZEN: SCHRIFT – HYSTERIE – INSTITUTION

Brüche selbst – einer Theoretisierbarkeit anzunähern, ist hier das Interesse. Denn: wie sprechen über – ein Wissen, hier ein Wissen über die Hysterie und über ein Wissen der Hysterie – stellt in eins die Frage nach der Theorie, als sogenannte Darstellung eines Wissens über ein sogenanntes Wissen. Ein Wissen, das schriftlich, bildlich, akustisch darzustellen ist, darstellbar gemacht werden können muß, um gemacht, d. h. produziert, vermittelt, archiviert, konserviert werden zu können, aber auch: um befragt und damit offengehalten werden und verschiebund veränderbar bleiben zu können. Mithin, um uns, im Rückgriff auf es, das Wissen, über es, genauer: über seine Brüche und Fehlstellen ins Sprechen zu bringen. Genau deshalb steht, was folgt, im Kontext einer weiteren Frage, der sie motiviert: sie könnte lauten: ›Was heißt, und das heißt: Was übersetzt Theorie?‹ Es geht um den Versuch – und meine Hypothese dazu möchte ich Ihnen nicht vorenthalten –, Theorie nicht als Wissen über ein Wissen, sondern als Supplement der Darstellbarkeit eines Wissens zu denken. Wir kommen darauf zurück. Ende des Vorspanns, als Bogen zum Anfang. Beginnen wir – scheinbar unvermittelt – mit einem Stück sogenannter Literatur, deren scharf gezogene Grenze zu dem, was man gemeinhin unter Theorie versteht, alles andere als ohne Tragweite ist. Nicht zuletzt deshalb, weil diese Grenzziehung strukturgebend ist für das Funktionieren der Institution. »Der schlimmste Fehler«, schreibt Sarah Kofman in Paroles suffoquées – deutsch: Erstickte Worte – ich setze das Zitat gleich fort. Es handelt sich hier um eine Hommage an den Auschwitz-Überlebenden Maurice Blanchot, in der Kofman einen der frühesten Texte Blanchots liest. Er ist von 1935, d. h. von vor dem Bruch, der Blanchots Leben zum Exzeß des Über-Lebens werden ließ. Zu dieser Zeit ordnet Blanchot den fraglichen Text noch dem literarischen Genre der Erzählung zu. Ich merke das an, weil er dieses Wort, französisch récit, nach 1947 aus allen seinen Texten gestrichen hat, inclusive rückwirkend bei Neuauflagen. Was nach dem Bruch das Wort Erzählung verbietet, nenne ich deshalb faute de mieux das Stück, das Kofman in Erstickte Worte kommentiert. Es oder er, dieser frühe Text von Blanchot, trägt, unheimlich genug, den Titel L’Idylle. Rezipiert, von Übersetzung zu schweigen, ist Die Idylle meines Wissens ansonsten nirgendwo. Dort, in einem gewissen Haus in Blanchots Idylle, besteht also, so Kofman, und ich erlaube mir hier zur Verdeutlichung eigenmächtiges Nachübersetzen: »der schlimmste Fehler, wenngleich der unschuldigste, darin, krank zu werden, denn die kleinste Unpäßlichkeit [indisposition] kann den Verdacht aufkommen lassen, daß vielleicht doch nicht alles ganz so bestens ist in diesem schönen Land, und daß, trotz der Verleugnungen des Gesetzes und seiner Versicherungen, das Glück dort fragil ist, immer schon vom Unglück angenagt [rongé]. Deshalb müssen Sie sich immer gut benehmen, 197

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sonst erhalten Sie Schläge, werden in den Schatten, in einen schwarzen Kerker gesteckt (wo Sie übrigens sehr gut gepflegt werden): selbst wenn die Krankheit Sie nachts schreien macht, wenn Sie voller Staub sind, das Gesicht ausgetrocknet, die Hände aufgerissen, müssen Sie immer noch versichern [affirmer], daß alles bestens ist, daß Ihr Leiden, ja, auch es, idyllisch ist. Sie müssen permanent darauf gefaßt sein, geschlagen zu werden – mit dem Lächeln –, schlicht deshalb, weil Sie, ein Mensch von Außen / des Draußen [homme du dehors], das Gesetz dieses Hauses, das kafkascher Art ist und das ein Hospiz für Bettler sein könnte, [Zitat Blanchot] ›eine gastfreundliche Bleibe eines einfachen und glücklichen Traums‹, nicht sehr gut verstehen.«2 Soweit das Zitat, in dem zitiert wird, was aufzugreifen sich lohnt: »weil Sie, ein Mensch von Außen, das Gesetz dieses Hauses […] nicht sehr gut verstehen.« Dieser Auftakt mag begründen helfen, warum »das Gesetz dieses Hauses« auf Nichtverstehen stoßen lassen und somit Fragen aufwerfen kann. Und auch, warum wir das Gesetz selbst dies- oder jenseits der Illusion, es möge sich bei diesem Haus um »eine gastfreundliche Bleibe eines einfachen und glücklichen Traums« handeln, nicht sehr gut verstehen. Ich möchte das Augenmerk an dieser Stelle nur auf zwei Punkte richten. Erstens: wo die Rede vom Gesetz eines Hauses ist, kann die Problematik der Institution angerissen sein. Zweitens verdient die Tatsache Aufmerksamkeit, dass »Sie, ein Mensch von Außen«, so unmittelbar mit dem Wort ›Krankheit‹ in Verbindung gebracht werden, als handelte es sich dabei um den allerselbstverständlichsten Zusammenhang. Beide Punkte zusammengenommen lassen sich so lesen: Aus dem Innen des Hauses ergeht das Gesetz, und zwar an den, der von Außen kommt, drinnen ist, insofern er Gast ist, d. h. draußen bleibt, ein Fremder bleibt, und das Gesetz lautet: Krankwerden verboten. Unschuldig oder nicht, es gilt, sich gemäß einem Gesetz zu verhalten, das der Gast nicht sehr gut versteht. Das heißt: seinem Verstehen haftet ein Mangel an, ein Bruch, ein Riß, eine Lücke, was nicht dasselbe ist wie eine Wissens- oder Bildungslücke, aber damit zu tun hat. Er muß sich also an eine Vorschrift halten, die er nicht richtig lesen und nur fehlerhaft übersetzen kann. Für »Sie, ein Mensch von Außen«, für den Fremden – für wen also nicht –, gibt sich die Vorschrift wie in einer Fremdsprache geschrieben. Da er sie entsprechend nicht sehr gut versteht, läuft er Gefahr, den schlimmsten, wenngleich den unschuldigsten Fehler zu begehen, d. h. sich schuldig zu machen. Aber nicht einer Krankheit macht er sich schuldig, sondern deren ›Äußerung‹: was nichts anderes heißt als der Übersetzung der Krankheit in ein Symptom oder in das, was man die (Fremd-)Sprache des Körpers nennt. Der schlimmste Fehler, der die Vorschrift bricht, besteht in der Übersetzung selbst. Dieser Fehlübersetzung anheimzufallen, heißt, ein Fehl zum

2. Sarah Kofman: Paroles suffoquées, Paris 1987, S. 28 f. 198

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Ausdruck zu bringen, das oder der einem Gesetzesbruch gleichkommt. Womit die Friktionen mit dem Gesetz des Hauses programmiert, um nicht zu sagen vorinstitutionalisiert wären. Dennoch werden Sie ›drinnen‹, unten im Kerker, sehr gut gepflegt. Krankheit steht hier für das Andere, für ein Außerhalb der Ordnung der Institution und die Äußerung der Krankheit impliziert einen Gesetzesverstoß. Nicht sehr gut verstanden, fehlübersetzt, unschuldig schuldig. Aber weit davon entfernt, dass dies den Ausschluß des Fremden, des mit einem Fehl Belasteten, aus dem ›Haus‹ nach sich ziehen würde, macht die sehr gute Pflege vielmehr deutlich, dass dieses Außen dem Innen ›innewohnt‹: als würde das Pflegen des Fremdkörpers zur Funktion des Innen gehören, als würde die Krankheit für das Funktionieren des Innen sorgen. Spätestens hier wird deutlich, daß die Grenze zwischen Innen und Außen so notwendig porös ist wie das Glück der Idylle fragil. Um so mehr muß das Glück zum Gebot erhoben werden, ist die Idylle zu bekräftigen: »müssen Sie immer noch versichern, daß alles bestens ist, daß Ihr Leiden, ja, auch es, idyllisch ist.« Vor dem Gesetz, das Sie »nicht sehr gut verstehen«. Von der Krankheit zur Hysterie, entlang der Richtung, die wiederum eine Vorschrift befolgt: es ist die Richtung, gemäß der nicht nur vom Allgemeinen zum Besonderen zu verfahren ist, sondern dies geschieht als Überordnung des Allgemeinen über das Besondere. Der Hysterie scheint der Zug des Besonderen besonders augenfällig anzuhaften. Mit dieser hierarchisch-klassifizierenden Zuordnung folge ich einer Tradition, die die Rede über beide im Verbund – Hysterie als Krankheit – ergehen ließ. Sprechen über, mithin, den »schlimmsten Fehler«: diesem Über ist eine wesentliche Distanz eingeschrieben, die es nicht zuletzt in die Nähe zum Sehen rückt. Und zum Wissen. Sehen und Wissen bilden im Abendland einen Strang, auf den ich hier nicht eingehen kann. Aber ohne Distanz läßt sich bekanntlich nichts erkennen, nichts verstehen, denn zuviel Nähe nimmt dem Blick den Überblick. Genau um den muß es dem Wissen und der Theorie aber getan sein. Geschichten von Wortfamilien gewähren mitunter Einblicke, die dem »nicht sehr guten« Verstehen ein wenig Abhilfe verschaffen: es genügt hier der Hinweis auf griechisch theoria, das Schauen, dessen Träger das theatron ist, der Schauplatz, der der theoria als Projektions- und Aktionsfläche, mithin, als Repräsentationsmedium die Plattform liefert. Woraus folgt, dass es nicht nur im vielleicht übertrieben spektakulären Schauspiel der Hysterie darum geht, Augen zu machen, sondern auch auf der anderen der Seite der Institution – dort, wo Wissen und Wahrheit als Repräsentiertes zu entstehen und bestehen hat, dort, wo das wissende Sprechen über sie, die Hysterie herrscht und sie bildet – ist Anschaulichkeit und Einsicht verordnet, mithin dem Diktat von Darstellung und Repräsentation Folge zu leisten. 199

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Sprechen über muß Überblick und Übersichtlichkeit im Auge behalten, damit ein Wissen sich darstellen läßt. ›Dar‹ – was, wo und wohin? Darstellendes Sprechen übersetzt nicht nur ein Wissen über sein Objekt, sondern das Objekt wird erst durch das vermeintliche Wissen über es zu einem Objekt, das man genau nicht sprechen, sondern über das man nur sprechen kann. Dieses Objekt trägt ebenso den Aufdruck des spezifischen Ortes seiner Produktion wie das Wissen, das sich im Sprechen über dar- und herstellt. Dort wird es er-zeugt: nicht ge-zeugt, nicht be-zeugt, sondern er-zeugt, und dieses Präfix ›er-‹ weist darauf hin, daß es um ein Zeugen von Wissen bis an eine maximale Grenze heran, gewissermaßen also um ein Zeugen in extremis geht. Das Wort ›erzeugen‹ zeugt also nicht zuletzt von der Gefahr, wie schnell man in bedrohliche Nähe zu Erfindung, Lüge und Fiktion gerät – zu dem, was zu zähmen u. a. der Institution Literatur und Literaturwissenschaft obliegt. Was jedoch den Ort der Erzeugung des hier zur Debatte stehenden Sprechens und Wissens in dem Sinn betrifft, der sich beim Wort ›Wissenschaftlichkeit‹ mit der Natur wohl leichter tut als mit dem Geist, so steht hier eine andere Institution auf dem Prüfstand. Denn in der Rede vom Wissen über die Hysterie als einem Beispiel oder Glied in der Reihe, die die Hysterie unter der Ordnungskategorie ›Krankheit‹ zu fassen sucht, birgt bekanntlich nicht das freie Spiel erdichteter Schönheit eine singuläre Wahrheit, sondern – wir sprechen über die Medizin – hier muß sich das Wissen um die Wahrheit am naturwissenschaftlichen Kriterium der Beweisbarkeit, d. h. genau und wiederholbar ›objektiv‹ messen lassen. Schon das Wort ›Medizin‹ selbst verrät, daß hier das Zählen zählt: abgeleitet aus lateinisch meteri, das nichts als messen heißt, hat sie, zumindest vom Anspruch des Gesetzes her, alles mit Maß und Regelmäßigkeit zu tun. Messbarkeit gilt, und sie gilt als ein institutionelles Instrument oder Mittel, um Wissen zu messen, zu ordnen, zu vergleichen, zu differenzieren, zu unterteilen: Grenzen zu setzen. Medizinisches Wissen wird gemäß einer Maßregel erzeugt, die wissenschaftliche Vorschrift ist. Die Lektüre dieser Vorschrift ist Pflichtlektüre und stellt, weil sie Interpretation ist, nicht nur den Schöngeistern die bekannten Fallen. Eine der maßgeblichen Fallen ist der Haken, daß die Hysterie maßlos scheint. Ein Exzeß, der auch als Mangel bestehen kann. Wie also in diesem Rahmen institutionsgebundenen Wissens über sie sprechen? Wenn Krankheit im Sinne des Gesetzes der Institution das ist, was sich, dem literarisch übersetzten Wissen von Kofman / Blanchot folgend, nicht offenbaren, nicht äußern darf und damit das ist, was letztlich weg muß – und aber gleichzeitig Effekt einer medizinischen Diagnose und damit Effekt einer Rede über ein Wissen ist –, dann kann man, und sei es, um sie zum Verschwinden zu bringen, nicht ganz auf die Krankheit verzichten. Und wird zur Not ein übriges dazutun, wozu auch immer, um sie – um sich an ihr – zu bilden. 200

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Muß verschwinden, darf nicht fehlen. ›Die Hysterie‹. So es sich um eine Krankheit handelt, wäre es eine, die scheint, erscheint, ein buchstäbliches phainomenon, dessen Paradoxie darin zu bestehen scheint, sich im Entziehen seiner Darstellbarkeit darzustellen. Immer woanders, Sie kennen die Geschichten vom wandernden Uterus, dieser Bestie ohne Sitz, dieser Krankheit, der der Ort fehlt. Im Maß des mangelnden Wissens mußten die Geschichten wuchern und wandern, und getreu dieser Rätsellogik hat die Hysterie Schule gemacht, Schlagzeilen tradiert, ein Sprechen losgetreten. Über sie, die – in der Zwischenzeit – verschwunden zu sein scheint. Verschwunden zumindest aus dem aktuellen Katalog des klinischen Krankheitswortschatzes. Womit sich die Zuschreibung – die ihrer berüchtigten ›Flüchtigkeit‹ – aufs Getreueste zu bewahrheiten scheint. Was nicht heißt, daß sie nicht ›woanders‹ und anders zum Zuge käme. Wie man hört, spricht man jetzt an ihrer statt über »Borderline Syndrom«. Wäre das als Ersatz zu verstehen, als Ablösung dieses rätselhaften Phänomens, oder als Ersatz für ein fehlendes Wissen, das eine Definition, diese notwendige begriffliche Abgrenzung, erfordert hätte, ohne die keine institutionelle Einordnung erfolgen kann, keine vernünftige Rede über die Hysterie. Wo die Definition fehlt, d. h. die Grenze, taucht ausgerechnet das Wort auf, das ›Grenze‹ übersetzt: borderline. Auffallen könnte zudem, daß das Verschwinden der Hysterie aus der institutionellen Registerordnung einhergeht mit dem gegenwärtig zunehmend beklagten Zustand des Zerfalls, dessen sich die westlichen Institutionen zu erfreuen scheinen. Was passiert? Brüche und Bruchstücke geben und gibt – Objekt- und SubjektFall – nicht nur die Hysterie zu lesen auf. Zu lesen als eine immer fremde Schrift, übersetzt und konvertiert in oder als eine Körperschrift auch, die als Symptom in dem Maß zu hören aufgegeben ist, wie sie sich der Sichtbarkeit und dem meßbaren Wissen – dem institutionellen Imperativ der Repräsentierbarkeit – entzieht. Eine Schrift hören – im gebrochenen Sprechen einer Fremdsprache. Warum? Wenn Freud eine Krankengeschichte ohne Lücken und ohne Brüche erzählt bekam, wußte er, eine Hysterie ist das nicht. Die Klugheit des Satzes besticht durch die Negation: Das Nicht von Brüchen und Lücken verweist auf ein Nicht von Hysterie, ohne damit ein positives Wissen darüber zu liefern, was die Hysterie denn nun wäre, geschweige denn ›ist‹. Sie ist nicht ohne Brüche. Nicht ohne ein Ohne. Lücken und Brüche gehören zur Hysterie, was nicht nichts über sie aussagt und ein Nichts über sie aussagt. In dem Maß, wie die Fehlstellen in den Erzählungen nicht fehlen, fehlt Freud – vorausgesetzt, das Fehlen kann gehört werden – strenggenommen die Möglichkeit der Rede über die Hysterie als Wissensobjekt. Wenn sie sich einer gesicherten, allgemeingültigen Erkenntnis, eines positiven Wissens, dessen Ziel die Definition und konzeptuelle Einord201

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nung sein muß, sperrt, dann wird die Möglichkeit ihrer Verwissenschaftlichung und die ihrer institutionellen Verordnung und Verortung zum Einsatz, der in der Frage der Institution, auch für Freud, auf dem Spiel steht. Es ist dieses aneckende Fehlen, das den Wißtrieb und die Herausforderung anstachelt. Die und als die sich die Hysterie der Institution stellt: »wo Sie übrigens sehr gut gepflegt werden« – gepflegt: kultiviert, kuriert. Zurück zur Vorgeschichte: das Wort Hysterie, bekanntlich dem griechichen hystéra – Gebärmutter – entlehnt, stammt weniger bekanntlich aus einem Zeitadverb: hysteros – später. Spätestens hier ließe sich die Frage der Nachträglichkeit in die Perspektive des von Derrida und Blanchot entwickelten Begriffs der Schrift rücken. Einer Schrift, die den Zug des immer schon Nachträglichen im Sinn der différance – nämlich Differenz und / als Verschub – trägt. Einer Schrift, die immer schon Umschrift ist, Übersetzung und Übergang in ein Anderswo, das Blanchot das Außen der Sprache nennt, durchzogen von einem Bruch: »So kommt man dazu, das Schreiben als ein Werden der Unterbrechung aufzufassen, als den beweglichen Zwischenraum, der sich vielleicht ausgehend vom Verbot benennt, aber indem er dieses öffnet, nicht um das Gesetz offenzulegen, sondern das Zwischen-Sagen oder die Leere der Diskontinuität.«3 Freud hat die Bewegung der Übersetzung anders beim Namen genannt, indem er den Begriff der Konversionshysterie prägte. Kon-Version, hier getrennt durch einen Bindestrich. Wo Version als Übersetzung, Drehung, Wendung oder eine andere Bewegung zum wesentlichen Zug wird, steht, das wäre meine Setzung, die Grenze des Wiß-, Bestimm-, Definier-, mithin des Theoretisierbaren auf dem Spiel. Es gibt keine Definition der Hysterie, das ist der Punkt, der sie zum Doppelpunkt einer hartnäckigen Herausforderung für das medizinische Wissen im Abendland gemacht zu haben scheint. Die Herausforderung wurde angenommen, offensichtlich genug. Kein Wunder. Wir haben es schließlich mit einer Übertragungsneurose zu tun. Vor Freud bringt Pierre Briquet 1859 in seinem Traité clinique et thérapeutique de l’hystérie dokumentiert auf den Punkt, was als Effekt des Problems der Darstellung von Wissen zum wunden Punkt der Institution gerät und entsprechend einen buchstäblich ›regelrechten‹ Widerstand genannt zu werden verdient – wogegen und wovon? »Krankheiten behandeln, von denen sich alle Fachleute einig waren, sie als Prototyp der Instabilität, der Unregelmäßigkeit, der Phantasie und des Unvorhersehbaren zu betrachten, als ob sie von keinem Gesetz, keiner Regel beherrscht seien und als ob sie durch kei-

3. Maurice Blanchot: Das Unzerstörbare, München / Wien 1991, S. 263. 202

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ne seriöse Theorie miteinander verbunden seien, war die Aufgabe, die mir am meisten zuwider war.«4 In nicht fünf Zeilen faßt hier ein Mediziner am Wort ›Krankheit‹ zusammen, was den ›Prototyp‹ des Dilemmas schlechthin benennt, und zwar des Dilemmas, das nicht nur den Naturwissenschaften anhängt, als deren ›Prototyp‹ wiederum die Medizin zumindest historisch gesehen zu gelten hat. Gejagt, allesamt, vom Begehren zu sehen und zu wissen, regelhaft zu ordnen und zu verorten, muß die Institution den Rahmen und den Raum für die erstrebte wissenschaftliche Theorie bilden, die Wissen gemäß einem Gesetz der Regel bindet und diese Verbindlichkeit möglichst bruchlos bilden und abbilden muß – und droht, bei der Hysterie zu scheitern. 1862, drei Jahre nach Briquets Traité, wird Freuds Lehrer Charcot seinem nachhaltig legendären Ruf der Institution an die Salpêtrière folgen und sich der großen Herausforderung verschreiben, die Hysterie in den Griff und auf den Begriff zu bekommen, um sie, ausgerechnet sie, die sich – in aller exzessiver Gefügigkeit – gegen nichts mehr zu sperren scheint als gegen das, ohne das keine Wissenschaft Bestand haben kann: »Charcots klinischer Ehrgeiz […] war darauf konzentriert, […] Briquets logisch widersprüchlichen Zirkel, die Hysterie durch ihre Undefinierbarkeit zu definieren, [zu] sprengen, um sie aus den schmutzigen, entstellenden und unentwirrbaren Ketten dieses Paradoxons zu befreien und in ein reines klinisches Erscheinungsbild zu überführen, das einer strikten formalen Gesetzmäßigkeit folgen sollte, die sich in einem Tableau durch eine hierarchische Klassifikation aller Symptome veranschaulichen ließ.«5 Charcots ›Befreiungsakt‹ bestand nicht nur darin, die Hysterie aus den Ketten der Undefinierbarkeit zu erlösen, sondern auch im Versuch der Überwindung der Zeitlichkeit der Geschichte. Diese Übertragung in die idealtypische Universalisierung eines zeitlosen kategorialen Wissensapparats hinein kann kein Ohr haben für die gleichzeitig dia- und synchrone Leidensgeschichte einzelner Subjekte, die sich nur in Lücken erzählt und entsprechend gebrochen und erstummt spricht. Aber abgesehen davon: Abgesehen vom Ohr bleibt auch dem Auge ein Dorn: Charcots skopischer Rasterwahn der 12 klassischen hysterischen Phasen läßt 70 weitere Variationen erkennen, »die, so sein Kollege Richer, ohne weiteres vervielfacht werden könnten.« Unter diesen Variationen

4. Pierre Briquet: Traité clinique et thérapeutique de l’hystérie, Paris 1859, zit. nach Georges Didi-Hubermann: Die Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot, München 1997, S. 79 f. 5. G. Didi-Hubermann: Erfindung der Hysterie, S. 365 (Nachwort). 203

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befindet sich die notorische ›unlogische Stellung‹ oder Verrenkung, der sogenannte hysterische Bogen, auf dessen Zug eingangs angespielt wurde. Nun gut. Aber: Was als wissenschaftlich aktenkundig gewordener Term Einzug in die Archive des Wissens fand, kann kaum anders gelesen werden denn als selbst saltoartige Überspannung oder Überdrehung dieser Bogenmetapher, namentlich zum sogenannten arc de cercle. Diese Bezeichnung wurde in ihrer ganzen logischen Verrenkung höchst wörtlich getreu ins Deutsche übersetzt, als Kompositum sogar. Man erkläre bitte, was also ein ›Kreisbogen‹ sein soll. Verrät diese paradoxe Wortschöpfung nicht beispielhaft, daß das, was die Experten der Wissenschaft als Wissen schaffen, d. h. als hysterische Phänomenologie hypostasieren, sich in eben demselben Zug herstellt, und zwar auch und gerade in Form dessen, was nachgerade wie eine Nachahmung seitens der Wissenschaftler scheint, und zwar einer Nachahmung dessen, was sie im Sinne der darzustellenden Gesetzmäßigkeit selbst forciert – produziert – hatten? Halten wir das Karussell an. Endlos viele Variationen hysterischer Positionen also, allem Einheitsdruck zum Trotz, immerhin. »Es ist nicht der Arzt«, schreibt Lucien Israël in seinem Buch mit dem erwähnenswerten Titel Die unerhörte Botschaft der Hysterie, »der die Hysterie nicht versteht, nein, sie benutzt die medizinischen Spielregeln, um ihn zu hintergehen, etwas, das in den Augen der Ärzte einem Spiel mit den ehernen Gesetzen der Wissenschaft gleichkommt.«6 Also einer Kränkung, störend genug. Und, sagt in einer glücklichen Formulierung Didi-Hubermann: »Jede Interpretation ist in eine Übertragungsgeschichte verwickelt, das heißt in eine Liebesgeschichte, die im Grund immer eine schlimme Wendung nimmt. Wäre die Übertragung etwa das Nicht-Theoretisierbare eines Verhältnisses des Wissens zum Wahnsinn? Ich weiß es nicht.«7 Diese Frage der Übertragung als »das Nicht-Theoretisierbare eines Verhältnisses des Wissens zum Wahnsinn« zu denken führt uns zurück zur eingangs aufgestellten Hypothese der Theorie als Supplement der Darstellbarkeit von Wissen. Was könnte das heißen? Kurz: Ein Supplement ist ein Ersatz, ja, aber ein Ersatz, der nichts ersetzt, weil er ein Nichts, ein Fehl ersetzt und gerade dadurch eine Ver-Setzung, Verschiebung oder Verrückung einer vorgesetzten und vorgestellten Ordnung zum Einsatz bringt. ›Theorie als Supplement der Darstellbarkeit von Wissen‹ könnte also heißen, sie gerade nicht als ein vermeintliches Metawissen zu postulieren – d. h. als Wissen nach, hinter (meta) und

6. Lucien Israël: Die unerhörte Botschaft der Hysterie, München 1993, S. 15. 7. G. Didi-Hubermann: Erfindung der Hysterie, S. 196. 204

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damit – unter allgemeingültiger Abstraktion vom Singulären – über ein Wissen. Sondern Theorie als Supplement wäre eine Art äußeres und inhärentes, weil notwendiges Anhängsel, eine Art Prothese, die als Ersatz für ein singuläres Fehl, eine Lücke oder einen Bruch im Wissen steht, ohne ihn jedoch zu beheben, eher, um ihn zu markieren und ihn somit als Differenz ins Feld der Sprache zu übersetzen versucht. Es wäre dies eine Theorie, der folglich der Bruch im, wenn nicht des, Wissens eingeschrieben wäre – Schrift als Bruchstrich. Es geht um den Versuch, einem Wissen Rechnung zu tragen, das sich der Darstellbarkeit im Sinne einer einheitlichen, in ein Bild zu bringenden Repräsentation entzieht. Wofür die medizinisch-institutionelle Geschichte der Hysterie ein Beispiel, wenngleich ein besonderes, liefert. Sich der Darstellbarkeit entziehen in dem Sinn, wie sie gemäß der institutionell geprägten Logik konzipiert ist. Denn um auf Dauerhaftigkeit und Zeitlosigkeit wie die Institution selbst angelegt zu sein, muß solches Wissen wiederholbar, d. h. reproduzierbar und nachprüfbar sein und bleiben, um tradierbar zu sein. Ein institutionell zu übermittelndes Wissen kann also nur als Repräsentiertes konstituiert sein, entstehen, bestehen, Bestand haben. Im Maße der institutionellen Kriterien, die getreu der abendländischen Identitätslogik im Namen des Prinzips der Vernunft gesetzt und mit ihm identifiziert sind, ist die Frage nach der Darstellung des anderen, nicht, nicht ganz oder anders darstellbaren Wissens gestellt. Wenn überhaupt, das ist die Behauptung, so stellt sich dieses andere Wissen über den Weg einer notwendigen Übersetzung dar. Die, indem sie den Bruch im Wissen mitübersetzt, fehlübersetzt. Die Stimmigkeit einer solchen Fehlübersetzung mag an einer Wahrheit teilhaben, beweisen aber läßt sie sich nicht. Was man als Trauerarbeit bezeichnen kann, die qua Übersetzung eine Nichtdarstellbarkeit bezeugt. Zeugnis geben heißt sprechen, im Wissen um den Mangel an beweiskräftiger Darstellbarkeit. Womit ich zum letzten Punkt komme: Was sich als Zeugnis eines Fehls oder Bruchs manifestiert, muß in dem Maß als Störung der institutionellen Ordnung gelten, als es sich dem Repräsentationsimperativ sperrt. Damit setzt das Zeugnis die Institution in Funktion und in Gang, insofern es notwendig ein Moment des Fiktiven und der Lüge birgt, das abzuwehren und aufzudecken im Namen der Wahrheit notwendig ist. Vergleichbar Blanchots Menschen von Außen, der das Gesetz nicht versteht, bleibt das Fremde, ein störender Fremdkörper immer das, was es noch zu institutionalisieren gilt. Indem er gepflegt wird, domestiziert und kolonisiert man den Fremden / Kranken. Die Differenz zwischen dieser Form der nie abschließbaren Domestizierung und dem Versuch, dem Bruch selbst Rechnung zu tragen, ist entscheidend. Diese Differenz ist es auch, die Schnittpunkte zwischen dekonstruktiven und psychoanalytischen Verfahren erkennen läßt. Nicht zufällig also scheinen sich 205

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beide in einem Verhältnis mindestens der Schräglage zur Institution zu befinden. Was wiederum im Verhältnis steht zu ihrer jeweiligen Beschäftigung mit der Frage, die Didi-Hubermann stellte: »Wäre die Übertragung etwa das Nicht-Theoretisierbare eines Verhältnisses des Wissens zum Wahnsinn?« Wäre diese Frage lesbar als das, wovon die Hysterie Zeugnis ablegt? In der Übersetzung von Peter Müller und Peter Posch schreibt Israël mit Bezug auf Freud: »Die neurotischen Symptome sind also eine Botschaft, deren Sinn aus dem Unbewußten hervorgeht. Das Symptom ist nicht mehr als ein Zeichen einer anatomischen Läsion oder einer biologischen Störung aufzufassen; es ist Ausdruck eines anderswo, auf einem anderen Schauplatz ablaufenden Geschehens, ein Ausdruck, der, je mehr man durch Einordnung des neurotischen Symptoms als Krankheitszeichen die Abwesenheit eines Zuhörers bezeugt, um so stärker auf seinen Äußerungsformen beharren und sie vervielfachen wird.«8 Hier steht allerhand. Langsam also. Daß Symptome als Zeichen einer Botschaft, was auch sonst, gelesen werden, ist nicht neu. Auch nicht neu, aber aus einem anderen Grund spannender scheint mir die Schaltstelle des Mediumwechsels, die im Zitat in der »Abwesenheit eines Zuhörers« anklingt. Mit diesem Mediumwechsel fing Freud bekanntlich an, hysterische Innervationen mit den Ohren zu lesen oder hörend zu sehen. Zurück zu Israëls Zitat: Ich möchte auf die Konfrontation des symptomhaften »Ausdrucks eines Anderswo« mit dem Begriff der »Einordnung« – hier die Einordnung »des neurotischen Symptoms als Krankheitszeichen« hinweisen. Israël setzt beide Orte – den des Anderswo und den der Institution, die die Einordnung betreibt, in eine Beziehung, die mir wichtig scheint: er sagt, je mehr das Symptom als Krankheitszeichen eingeordnet wird, desto hartnäckiger wird es sich nicht nur erhalten, sondern sich sogar vervielfachen. Als ob die Einordnung die Symptome selbst generierte. Warum? Israëls Antwort kann erstaunen: weil die Einordnung der Symptome etwas bezeugt. Und zwar »die Abwesenheit eines Zuhörers«. Damit benennt Israël wie im Vorübergehen, daß die Einordnung und Verortung, d. h. die Identifizierung und Klassifizierung von Symptomen ein Fehlen, sagen wir: ›zeitigt‹. Durch einen Mangel in Form der Abwesenheit eines Zuhörers vervielfachen sich die Symptome. Nein. Das klingt wie ein einfacher Mißstand, dem Abhilfe zu schaffen wäre durch ein schlichtes Schließen dieser Lücke. Jedoch ist der Mangel hier gerade nicht der eines Ohrs in der Klinik, sondern der, der darin besteht, nicht zum Zuge zu kommen. Das heißt, was fehlt, ist hier die Lücke selbst. Noch einmal die Formulie-

8. L. Israël: Die unerhörte Botschaft, S. 23 f. 206

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rung, verkürzt: »[J]e mehr man durch Einordnung des Symptoms die Abwesenheit eines Zuhörers bezeugt, um so stärker [wird das Symptom] auf seinen Äußerungsformen beharren und sie vervielfachen.« Mit anderen Worten: Die Abwesenheit des Zuhörers ist ersetzt: überlagert und überdeckt, getilgt durch die Arbeit der Einordnung und das heißt immer auch: durch die Arbeit der Vereindeutigung. Identifiziert als Krankheitszeichen, unterteilt in die und die Typen, Klassen, Phasen, bis ins Kleinste, wir haben es gesehen. Aber da ist mehr – ich komme zum Schluß – nicht zum Ende des Rätsels, das ich nicht lösen kann: Denn liest man genau, ist es das Verfahren der Repräsentation selbst – d. h. hier die Überführung in darstellbare Krankheitszeichen –, das den Mangel im Maß des Exzesses solcher Einordnung bezeugt! Es ging und geht um die, wie mir scheint, entscheidende Differenz zwischen Repräsentieren und Bezeugen. Denn ein Mangel, selbst wenn er zum Zuge käme, kann – qua Fehlen – nicht repräsentiert, sondern nur in Form eines Supplements bezeugt werden. Was damit immer auch bezeugt wird, ist die Unmöglichkeit der Repräsentation des Mangels. Dessen Ausdruck ist – als Effekt einer buchstäblichen Fehl-Übersetzung – das Symptom. Es scheint sich proportional zur Multiplizierung der Einordnung um so ›vielfacher‹ zu äußern. Was seine dechiffrierende Rückübersetzung nicht eben erleichtert. Und wenn (die Liebe zur) Theorie als Symptom zu hören wäre? Als übersetzter »Ausdruck eines anderswo«, der einem Bruch im Wissen, in dem, was Sie nicht sehr gut verstehen, Rechnung trägt? Als Ausdruck, der die Nichtrepräsentierbarkeit des Fehls – des Nichts als Begehren – supplementiert und so die Frage nach der Darstellbarkeit von Wissen überhaupt erst aufzuwerfen erlaubt – als Frage der Instititution. Denn in dem Maß, wie sich nicht nur nicht über dieses andere Wissen sprechen läßt, sondern es sich selbst auch nie spricht, wird der Bruch zur symptomalen Schrift, die eben diesen Sachverhalt bezeugt – nachträglich und von außen. Diese Schrift ist mit Blanchot aufzufassen »als ein Werden der Unterbrechung«, »als der bewegliche Zwischenraum«, der »das Zwischen-Sagen oder die Leere der Diskontinuität« offenlegt. Eine Offenlegung, die vom Leser zu bezeugen bleibt. Wäre dies ein Stück Theorie des Nicht-Theoretisierbaren der Übertragung, ›in die jede Interpretation verwickelt ist‹ – wie (in) eine Liebesgeschichte? Die Sie in ihrem je singulären Akzent der eigenen und anderen Fremdsprache beileibe nicht sehr gut verstehen.

Literatur Blanchot, Maurice: Das Unzerstörbare, übers. v. Hans-Joachim Metzger, Bernd Wilczek, Michael Krüger (Hg.), München / Wien 1991. 207

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Didi-Hubermann, Georges: Die Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot, übers. u. mit einem Nachwort versehen v. Silvia Henke / Martin Stingelin / Hubert Thüring, München 1997. Israël, Lucien: Die unerhörte Botschaft der Hysterie, übers. v. Peter Müller u. Peter Posch, München 1993. Kofman, Sarah: Paroles suffoquées, Paris 1987. Legendre, Pierre: »Die verordnete Psychoanalyse. Anmerkungen zur Auflösung der École freudienne de Paris«, in: Fragmente. Schriftenreihe zur Psychoanalyse 39 / 40 (1992), S. 275–289.

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Metapher – Übertragung. Überlegungen zur »Rhetorik des Unbewußten« Elisabeth Strowick

Das Kreuz (mit) der Übertragung In einem Brief vom 5. Juni 1910 schreibt Freud an Oskar Pfister: »Mit der Übertragung ist es ja überhaupt ein Kreuz.«1 Dieses Kreuz nun läßt sich nicht nur auf die Übertragung in der analytischen Kur beziehen, die Freud zufolge »der mächtigste Hebel des Erfolgs« wie auch »das stärkste Mittel des Widerstandes«2 ist, sondern darüber hinaus auch auf Freuds Schreiben über die Übertragung. Die Entstehungs- und Publikationsgeschichte der auf 1911 bis 1915 datierten behandlungstechnischen Schriften, in deren Zeitraum auch der Brief an Pfister fällt, gestaltet sich als Geschichte fortwährender Aufschübe, Unterbrechungen, Neuansätze, Neuabdrucke. 3 Anders gesagt: Die Übertragung scheint performativ in Freuds Schreiben wirksam, das Sujet hat sich in seine Feder übertragen, denn was wären die Stockungen, Aufschübe, Unterbrechungen anderes als Manifestationen des Widerstands4, d. h. Übertragungen? Daß sich das Kreuz (mit) der Übertragung an die Schrift bindet, ein Moment von Schrift markiert, zeigt sich noch auf einer anderen Ebene, nämlich im Schriftbild selbst. Das Kreuz begegnet

1. Sigmund Freud / Oskar Pfister, Briefe 1909–1939, Frankfurt a. M. 1963, S. 37. 2. Sigmund Freud: »Zur Dynamik der Übertragung«, in: ders., Gesammelte Werke, 8. Bd., London 1943, S. 367. Im folgenden werden Zitate aus den Gesammelten Werken unter der Sigle »GW«, gefolgt von der Nummer des entsprechenden Bandes nachgewiesen. 3. Vgl. die »Editorische Einleitung zu den behandlungstechnischen Schriften von 1911 bis 1915 [1914]«, in: Sigmund Freud: Studienausgabe, Ergänzungsband, Frankfurt a. M. 1975, S. 145–148; vgl. auch S. Freud: »Bruchstück einer Hysterie-Analyse«, in: GW V, S. 161–286; vgl darüber hinaus GW VIII, S. 364 f.: »Das ergibt sozusagen ein Klischee (oder auch mehrere), welches im Laufe des Lebens regelmäßig wiederholt, neu abgedruckt wird.« 4. S. Freud, GW VIII, S. 365; ders., GW X, S. 310. 209

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buchstäblich – als X – im Zusammenhang mit der Übertragung im Bruchstück einer Hysterie-Analyse, wo Freud schreibt: »So wurde ich denn von der Übertragung überrascht, und wegen des X, in dem ich sie an Herrn K. erinnerte, rächte sie sich an mir, wie sie sich an Herrn K. rächen wollte, und verließ mich, wie sie sich von ihm getäuscht und verlassen glaubte. Sie agierte so ein wesentliches Stück ihrer Erinnerungen und Phantasien, anstatt es in der Kur zu reproduzieren. Welches dieses X war, kann ich natürlich nicht wissen.«5 Freuds Bemerkungen zur Übertragung – 1. seine metaphorische Rede, daß es mit ihr »ein Kreuz« sei und, 2., daß er natürlich nicht wissen kann, welches »dieses X« ist – spannen einen theoretischen Rahmen auf, den meine nachfolgenden Überlegungen zu Metapher und Übertragung (was bekanntlich die deutsche Übersetzung des griechischen µεταφορα ist) in der Rhetorik des Unbewußten auszuloten versuchen. Es ist dies ein Entwurf von Übertragung / Metapher mit Blick auf einen bestimmten (›körperlichen‹) Zug von Schrift: ihre Buchstäblichkeit, welche von Wortwörtlichkeit – als metaphysisch-semantischer Begründung der Metapher (›übertragen-uneigentliche‹ vs. ›eigentliche‹ Bedeutung)6 – insofern deutlich zu unterscheiden wäre, als sie sich im Rahmen eines strukturell-signifikantentheoretischen Ersetzungskonzeptes bewegt. Freuds metaphorische Rede vom »Kreuz mit der Übertragung« situiert sich im Verhältnis zur Buchstäblichkeit der Schrift (»X«) und gibt darüber – so die These – die Übertragung / Metapher als Artikulation der Buchstäblichkeit des Sprechens / der geschlechtlichen Körperlichkeit der Letter im Sinne einer »genießenden Substanz«7, wie sie im Sprechakt zum (Ent-)Zug kommt, zu lesen. Methodischer Ansatzpunkt der nachfolgenden Lektüre von Metapher und Übertragung ist die diskursive Verschränkung von Psychoanalyse und Rhetorik, wie sie von Beginn an in Freuds Schriften virulent ist (sei es in der Aphasiestudie, im »Entwurf einer Psychologie«, in der Traumdeutung, in den Abhandlungen zum Witz, zur Verneinung, zum Wunderblock, zur Übertragung, zur Konversion, zu den Abwehrmechanismen und Triebschicksalen8) und von Lacan signifikantentheoretisch ak-

5. S. Freud, GW V, S. 283 (Hervorhebung durch mich, E.S.). 6. Vgl. Jacques Derrida: »Die weiße Mythologie«, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 205–258. 7. Das Seminar von Jacques Lacan. Buch XX (1972–1973), Encore. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. v. Norbert Haas, Vreni Haas u. Hans-Joachim Metzger, Weinheim / Berlin 1986, S. 28. 8. Vgl. Gérard Genette: »Die restringierte Rhetorik«, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher, Darmstadt 1996, S. 235; Anselm Haverkamp: »Einleitung in die 210

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zentuiert wird (z. B. Metapher, Metonymie).9 Handelt es sich bei dem Verhältnis von Rhetorik und Psychoanalyse um ein Übertragungsverhältnis, was hieße: um eine »Mesalliance – […] falsche Verknüpfung«10? Welche (metaphorischen) Effekte hat es, von der Psychoanalyse als einer »Rhetorik des Unbewußten«11 zu sprechen? Welche Verschiebungen erfährt im gleichen Zuge die Rhetorik? Der Frage nach dem Verhältnis von Psychoanalyse und Rhetorik12 wäre insbesondere auch hinsichtlich des wissenschaftsgeschichtlichen und epistemologischen Ortes der Psychoanalyse genauer nachzugehen, prägte doch die Rhetorik als das jahrhundertelang (5. Jh. v. Chr. – 19. Jh.) wirkmächtigste abendländische Bildungsparadigma nicht nur maßgeblich die Institutionen und theoretischen Formationen des Wissens (z. B. Topik, Inventio, Mnemotechnik), sondern wirkte über die Actio auch auf Körperkonzepte und Geschlechterpolitiken. Will man das nicht eben unpsychoanalytische »Darstellungsschema von ›Ende‹ und ›Wiederkehr‹«13 der

9.

10. 11.

12.

13.

Theorie der Metapher«, in: ders. (Hg.), Theorie der Metapher, Darmstadt 1996, bes. S. 13–20; ders.: »Auswendigkeit. Das Gedächtnis der Rhetorik«, in: Anselm Haverkamp / Renate Lachmann (Hg.), Gedächtniskunst. Raum – Bild – Schrift. Studien zur Mnemotechnik, Frankfurt a. M. 1991, S. 25–52. Vgl. Jacques Lacan: »Die Metapher des Subjekts«, in: Schriften II, Olten / Freiburg i. Br. 1975, S. 56; ders.: »Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud«, in: Schriften II, Olten / Freiburg i.Br. 1975, S. 47; Gilbert D. Chaitin: Rhetoric and culture in Lacan, Cambridge 1996. Sigmund Freud: »Zur Psychotherapie der Hysterie«, in: ders., Gesammelte Werke, 1. Bd., London 1952, S. 309. Vgl. A. Haverkamp: »Einleitung in die Theorie der Metapher«, S. 16 f.; Wolfram Groddeck: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens, Basel / Frankfurt a. M. 1995, S. 14. Vgl. hierzu auch Cynthia Chase: »What theory of rhetoric is implicit in the several related meanings of the term ›transference‹? And what relations can be established between psychoanalytic and rhetorical theory? These questions designate not only a barely broached theoretical issue but also a field of inquiry – the rhetorical theory of psychoanalysis – that already has an extensive history. […] If rhetoric has been in some sense the ›other‹ of philosophy, what are the relations among rhetoric, philosophy and psychoanalysis? […] psychoanalysis is not only a rhetoric and a range of implicit rhetorical theories, but also a ›philosophy‹ in the sense of a refusal to read itself as a rhetoric – a refusal made visible by the rhetorical reading of certain literary texts« (Cynthia Chase: »›Transference‹ as trope and persuasion«, in: Shlomith Rimmon-Kenan [Hg.], Discourse in Psychoanalysis and Literature, London / New York 1987, S. 211 f.). Elias Torra: »Rhetorik«, in: Miltos Pechlivanos u. a. (Hg.), Einführung in die Literaturwissenschaft, Stuttgart / Weimar 1995, S. 108; vgl. auch: Helmut Vetter / Richard Heinrich (Hg.), Die Wiederkehr der Rhetorik, Wien / Berlin 1999. 211

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Rhetorik übernehmen, ließe sich die Psychoanalyse als eine Wiederkehr der Rhetorik lesen. Am Ende desjenigen Jahrhunderts, dessen Beginn das Ende der Rhetorik besiegelte, kehrt diese mit der Psychoanalyse in Gestalt einer »Rhetorik des Unbewußten« wieder – neben Nietzsches Sprachphilosophie zweifellos die einflußreichste Wiederkehr der Rhetorik am Ende des 19. Jahrhunderts. Die Technik der Psychoanalyse – eine ρητορ¦κ­ τ χνη14? Ich beschränke mich hier auf die Frage nach dem Verhältnis von Metapher und (geschlechtlichem) Körper, wie es sich in einer konstellativen Lektüre von Übertragung und Metapher zeigt. Wie läßt sich der psychoanalytische Begriff der Übertragung, welcher Textarbeit und Liebesaffektion verklammert, metapherntheoretisch lesen? Wie wäre die Metapher als Trope von der Psychoanalyse her zu denken, d. h. konfrontiert mit Fragen nach Textarbeit, Liebesaffektion, Symptombildung und Geschlechterdifferenz?

Die paradoxe Metapher des Unbewußten Die Verschränkung von Metapher und Körper / einem körperlichen Moment von Schrift / Buchstäblichkeit, wie sie Freuds Rede vom »Kreuz mit der Übertragung«, die sich im Schriftbild niederschlägt (»X«), markiert, findet sich in der Körperrhetorik der Konversionshysterie wieder. Körper und Metapher verklammern sich dabei im Begriff des Symptoms. Mit der Konversion taucht der Körper am Ort des Symptoms auf, was heißt, am Ort der Metapher, denn nach Lacan ist das Symptom eine Metapher, und auch Freuds Begriff der Konversion läßt die Verschränkung von Symptom und Metapher deutlich werden. Die Symptombildung der Konversionshysterie verläuft nicht jenseits der Metapher, sondern auf metaphorischen Bahnen. Die Konversion vollzieht sich – so Freud – als Wörtlichnahme eines übertragenen Ausdrucks. Im gleichen Zuge läßt sich fragen, wie die Metapher in Freuds Text erscheint. Die Metapher erscheint im Kontext der Symptomatologie, der Hysterie, der Konversion, sprich: in einem spezifischen Bezug zum Körper. In den Studien über Hysterie heißt es: »Ich habe bei keiner anderen Patientin mehr eine so ausgiebige Verwendung der Symbolisierung auffinden können. Freilich war Frau Cäcilie M […] eine Person von ganz ungewöhnlicher, insbesondere künstlerischer Begabung, deren hochentwickelter Sinn für Form sich in vollendet schönen Gedichten kundgab. Ich behaupte aber, es liegt weniger Individuelles und Willkürliches als man meinen sollte, darin, wenn die Hysterika der affektbe-

14. Vgl. Platon: Gorgias, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. II (griech. / dt.), Karlheinz Hülser (Hg.), nach der Übersetzung Friedrich Schleiermachers, ergänzt durch Übersetzungen v. Franz Susemihl u. a., Frankfurt a. M. 1991, 449 c. 212

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tonten Vorstellung durch Symbolisierung einen sprachlichen Ausdruck schafft. Indem sie den sprachlichen Ausdruck wörtlich nimmt, den ›Stich ins Herz‹ oder den ›Schlag ins Gesicht‹ bei einer verletzenden Anrede wie eine reale Begebenheit empfindet, übt sie keinen witzigen Mißbrauch, sondern belebt nur die Empfindung von neuem, denen der sprachliche Ausdruck seine Berechtigung verdankt. Wie kämen wir denn dazu, von dem Gekränkten zu sagen: ›es hat ihm einen Stich ins Herz gegeben‹, wenn nicht tatsächlich die Kränkung von einer derartig zu deutenden Präkordialempfindung begleitet und an ihr kenntlich wäre? Wie wahrscheinlich ist es nicht, daß die Redensart ›etwas herunterschlucken‹, die man auf unerwiderte Beleidigung anwendet, tatsächlich von den Innervationsempfindungen herrührt, die im Schlunde auftreten, wenn man sich die Rede versagt, sich an der Reaktion auf Beleidigung hindert? All diese Sensationen und Innervationen gehören dem ›Ausdruck der Gemütsbewegungen‹ an, der, wie uns Darwin gelehrt hat, aus ursprünglich sinnvollen und zweckmäßigen Leistungen besteht; sie mögen gegenwärtig zumeist abgeschwächt sein, daß ihr sprachlicher Ausdruck uns als bildliche Übertragung erscheint, allein sehr wahrscheinlich war das alles einmal wörtlich gemeint, und die Hysterie tut recht daran, wenn sie für ihre stärkeren Innervationen den ursprünglichen Wortsinn wiederherstellt. Ja, vielleicht ist es unrecht zu sagen, sie schaffe sich solche Sensationen durch Symbolisierung; sie hat vielleicht den Sprachgebrauch gar nicht zum Vorbilde genommen, sondern schöpft mit ihm aus gemeinsamer Quelle.«15 Anhand der hysterischen Symptombildung / »Symbolisierung« entwirft Freud nicht weniger als eine Metapherntheorie, und zwar eine, die die Metapher für eine Sprachursprungstheorie in Anspruch nimmt. Dabei ist nicht explizit von ›Metapher‹, wohl aber von »bildlicher Übertragung« die Rede. Freuds Argumentation bedient sich der Unterscheidung von wörtlicher und übertragener Bedeutung, wie sie insbesondere im Zusammenhang mit der sogenannten Substitutionstheorie der Metapher geläufig ist, die die Metapher so in den Dienst der Metaphysik stellt. Definiert die Substitutionstheorie16 die Metapher als Ersetzung eines eigentlichen / wörtlichen Ausdruckes (verbum proprium) durch einen uneigentlichen / übertragenen, situiert sich die Unterscheidung ›übertragen‹ – ›wörtlich‹ bei Freud im Rahmen einer genealogischen Betrachtung der Metapher. Die Konversionshysterie »nimmt« die metaphorische Rede / »den sprachlichen Ausdruck wörtlich« und stellt so den »ursprünglichen Wortsinn« wieder her, anders gesagt: gibt mit der ›eigentlichen‹ / ›ursprünglichen‹ Bedeutung des metaphorischen Ausdrucks den Sprachursprung zu lesen. Entsprechend dieser Argumentation richtet Freud auch das in der Konversionshysterie artikulierte Verhältnis von Metapher und Körper an einer Rhetorik des Ursprungs aus.

15. S. Freud, GW I, S. 250 f. 16. Vgl. Max Black: »Die Metapher«, in: A. Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher (1996), S. 61; Heinrich Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik, Ismaning 1990, S. 78 (§ 228). 213

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Wo sich die hysterische Konversion, die Freud an anderer Stelle als »Sprung aus dem Seelischen in die somatische Innervation« bezeichnet, »den wir mit unserem Begreifen doch niemals mitmachen können«17, als Wörtlichnahme eines übertragenen Ausdrucks vollzieht, kommt der Körper im Zuge einer ›Entmetaphorisierung‹ ins Spiel. Die körperliche Empfindung, der »der sprachliche Ausdruck seine Berechtigung verdankt«, ist der »ursprüngliche Wortsinn«, der von der Hysterie wiederhergestellt / von neuem »belebt« wird. In diesem Sinne, d. h. in Rekurrenz auf die ›ursprünglich-körperliche Wortbedeutung‹, schöpfen Hysterie und Sprachgebrauch »aus gemeinsamer Quelle«. – Freud entwirft die Konversion als Ursprungsfigur, den Körper als Ursprung / Sprachursprung, d. h. als vorsymbolisch / vormetaphorisch. Ja, Freud scheut sich nicht, Darwins Lehre vom »Ausdruck der Gemütsbewegungen« als »ursprünglich sinnvolle und zweckmäßige Leistungen« zu zitieren und so die Metapher / Konversion mit allem evolutionstheoretischen Ballast zu überfrachten. Man wird diese metaphysische Anrufung des Ursprungs getrost und im strengsten Sinne des Wortes ›symptomatisch‹ nennen dürfen: Freud ist der Metapher bzw. Konversion aufgesessen, die zugleich ein anderes artikuliert / zu lesen gibt – gerade so wie Freuds Text. Die suggestive Ursprungsbewegung, die Freud anhand der Konversion beschreibt, ließe sich mühelos als Vorgang von Entsymbolisierung / Entmetaphorisierung lesen; gleichzeitig aber – und hier liegt die Paradoxie – spricht Freud von der Konversion als »Symbolisierung«. Die Wörtlichnahme ist ein Akt der Symbolisierung, d. h. alle ›wörtliche / eigentliche Bedeutung‹ ist immer schon ›übertragene / uneigentliche Bedeutung‹ / Metapher. Die hysterische Konversion / Symbolisierung beschreibt ein Paradox und gibt von daher die Metapher des Unbewußten als paradoxe Metapher18 zu denken: Insofern Wörtlichnahme Symbolisierung / Metapher / Übertragung ist, verkreuzen sich eigentliche und uneigentliche Bedeutung. Angesichts einer solchen paradoxen Verkreuzung aber erscheint die gesamte proprie-Ordnung in sich verdreht, der metaphysischen Rede von Eigentlichkeit der Boden entzogen. Die Konversion gibt die ›ursprünglich-wörtliche‹ Bedeutung in ihrer irreduziblen Metaphorizität zu denken. Hiervon bleibt auch ein Denken des Körpers nicht unberührt: Freud plaziert den Körper am Ort / als Ort des Sprachursprungs und markiert ihn damit als vorsymbolisch / vormetaphorisch. Eine solche vormetaphorische Konzeption des Körpers wird von der hysterischen Konversion durchkreuzt, ja, als diskursiver, imaginär-ideologischer Effekt der Metapher zu lesen gegeben. Wo die Kon-

17. S. Freud, GW VII, S. 382. 18. Vgl. Anselm Haverkamp (Hg.): Die paradoxe Metapher, Frankfurt a. M. 1998. 214

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versions-Metapher / die Körperrhetorik der Hysterie die paradoxe Verschränkung von proprie und metaphorischer Bedeutung vollzieht, läßt sich auch der Körper nicht jenseits der Metapher / Symbolisierung situieren. Die Konversion artikuliert die irreduzible Rhetorizität des Körpers, seine strukturelle Verschränkung mit der Metapher, kurz: die paradox-chiastische Doppelung ›Körpersprache / Sprachkörper‹.19 Wo die Konversions-Metapher die binäre Opposition ›eigentlich – uneigentlich‹ performativ unterläuft, verweist sie auf ein anderes Denken von Differenz, jene schwindelerregende Differenz der Signifikanten, die nicht semantisch zu repräsentieren ist, sondern die Frage nach Bedeutungskonstitution überhaupt erst aufwirft. Damit verbunden ist eine radikale Verschiebung des Denkens der Metapher, ihre Loslösung aus der Verhaftetheit in semantischen Ähnlichkeitskonzepten, kurz: eine struktural-signifikantentheoretische Reformulierung der Metapher, wie sie sich sowohl in Freuds Konzeption der Übertragung als auch bei Lacan findet. Die Bewegung der Substitution bleibt dabei grundlegend, sieht sich jedoch in keiner semantischen Ähnlichkeitsrelation begründet, sondern an die differentielle Struktur des Signifikanten verwiesen.20 In der bekannten Passage aus dem Bruchstück einer Hysterie-Analyse kennzeichnet Freud die Übertragung mit den Worten: »Was sind die Übertragungen? Es sind Neuauflagen, Nachbildungen von den Regungen und Phantasien […] mit einer für die Gattung charakteristischen Ersetzung einer früheren Person durch die Person des Arztes. […] Es gibt solche Übertragungen, die sich im Inhalt von ihrem Vorbilde in gar nichts bis auf die Ersetzung unterscheiden.« 21 Freud faßt die Übertragung als Vorgang von Ersetzung / Substitution, welcher rein strukturell, d. h. jenseits der Frage nach übertragenen Inhalten funktioniert. Das einzige, was den Unterschied zum Vorbild macht, ist die Ersetzung – mit anderen Worten: Freuds Übertragungskonzept ist kein semantisches, das sich auf (vorgängige) Inhalte und Ähnlichkeiten beruft, sondern artikuliert ein radikal strukturelles Substitutionsprinzip wie es auch Lacans Metaphernbegriff formuliert.22

19. Vgl. Doerte Bischoff: »›Mit derselben Geste‹. Körpergedächtnis und Repräsentation. Eine Freud-Lektüre«, in: DVjs 72 (1998), Sonderheft »Medien des Gedächtnisses«, S. 132–156. 20. Vgl. Roman Jakobson: »Der Doppelcharakter der Sprache«, in: A. Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher (1996), S. 163–174. 21. S. Freud, GW V, S. 279 f. 22. Vgl. Ulrike Jarnach: »Was ›nicht-da‹, ist NICHT-FORT! Glosse zur Schrift ›Die Frage der Laienanalyse‹« (unveröffentl. Ms). 215

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»Der schöpferische Funke der Metapher«, schreibt Lacan, »entspringt nicht der Vergegenwärtigung zweier Bilder, das heißt zweier gleicherweise aktualisierter Signifikanten. Er entspringt zwischen zwei Signifikanten, deren einer sich dem andern substituiert hat, indem er dessen Stelle in der signifikanten Kette einnahm, wobei der verdeckte Signifikant gegenwärtig bleibt durch seine metonymische Verknüpfung mit dem Rest der Kette.«23 Lacan bindet die poetische Kraft der Metapher an den Vorgang der Substitution – der bei ihm nicht semantisch, sondern als Bewegung des Signifikanten gedacht ist –, d. h. an das signifikante Spiel von An- und Abwesenheit (fort-da). Im Akt der Substitution wird der Balken / die Barre überschritten, ein Bedeutungseffekt erzeugt. Der substituierte / unter den Balken ge- bzw. verdrängte Signifikant bleibt – als Signifikant! – mit der Signifikantenkette metonymisch verbunden und somit abwesend-anwesend. – Obgleich Lacans signifikantentheoretische Reformulierung die Metapher jeder semantischen Begründbarkeit entzieht, ist sie dennoch nicht jenseits der Frage nach der Bedeutung zu denken, ja, läßt sie sich vielmehr als Frage nach der Konstitution von Bedeutung / »Heraufkunft der in Frage stehenden Bedeutung«24 entziffern. Die Metapher gibt Bedeutung, die sie produziert, in ihrer Nachträglichkeit / von jenem traumatischen »Sprung« / Überspringen der Barre her, als imaginären Effekt der Substitution des Signifikanten zu lesen, womit sie sie zugleich entzieht. Was aber könnte es heißen, den »Sprung« der Konversion (»aus dem Seelischen in die somatische Innervation«), den wir, wie es bei Freud heißt, »mit unserem Begreifen doch niemals mitmachen können«25, mit dem Über-Springen der Barre zu verschränken, wenn nicht, die Metapher in ihrer Performanz / als Artikulation der chiastischen Verschränkung von Sprache und Körper26 zu lesen? Womit ich an den Anfang meiner Ausführungen zurückkehre, zur Frage nach dem Verhältnis von Metapher und Körperlichkeit der Schrift, wie es mit der Rhetorik des Unbewußten zu denken ist, der Frage, inwiefern die Übertragung / Metapher als Artikulation der Buchstäblichkeit des Sprechens / geschlechtlichen Körperlichkeit der Letter zu lesen sei.

23. Jacques Lacan: »Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud«, in: ders., Schriften II, Olten / Freiburg i.Br. 1975, S. 32. 24. Ebd., S. 41. 25. S. Freud, GW VII, S. 382. 26. Zur Artikulation der strukturellen Verschränkung von Sprache und Körper im performativen Akt vgl. Shoshana Felman: The Literary Speech Act. Don Juan with J.L. Austin, or Seduction in Two Languages, Ithaca / NY: 1983; Judith Butler: Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998. 216

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Letter X Wo die Metapher Bedeutung produziert, produziert sie – als performativ-körperlicher Akt (Konversion) – zugleich einen unverfügbaren, realen Rest (»wie ein Schlag ins Gesicht« / Gesichtsneuralgie); artikuliert sie – dies ihre paradox-doppelte Bewegung – im Akt der Sinnkonstitution einen traumatischen (Sinn-)Entzug.27 Der unbegreifliche Sprung der Konversion / Metapher konstituiert den geschlechtlichen Körper als verwundeten Körper: »Fremdkörper«28 – dies die Metapher, die Freud im Zusammenhang mit dem psychischen Trauma gebraucht und die nicht nur den Körper in seiner irreduziblen Fremdheit / Metaphorisierung / Gebundenheit an das Trauma der Signifikation, sondern im gleichen Zug auch das Trauma der Signifikation in seiner Körperlichkeit zu lesen gibt: Die (Fremd-)Körperlichkeit des Traumas ist keine, die sich semantisch fassen ließe, sondern eine, die im traumatischen Entzug des Sinns persistiert, eine Körperlichkeit der Schrift, der wortwörtlich nicht beizukommen ist, hat sie doch ihre Statt in der Buchstäblichkeit. Qua ›Wörtlichnahme‹ des übertragenen Ausdrucks setzen die hysterischen sprechenden Körper eine Differenz in Szene, die die Unterscheidung ›wörtlich – übertragen‹ performativ unterläuft, wenden sie die Metapher zur Frage nach der Konstitution von Bedeutung im differentiellen Spiel der Signifikanten, die sich nicht jenseits des Körpers stellen läßt – einer Körperlichkeit des Entzugs / der Letter29 als »genießender Substanz« / jenes ›X‹, von dem Freud ›nicht wissen kann, was es ist‹ – wie auch, markiert diese Letter doch jene traumatische Körperlichkeit des Schriftzugs, der Sinn und Wissen durchkreuzt. Im Kontext der Konversionshysterie und ihrer Inszenierung der Metapher als Artikulation einer traumatischen Körperlichkeit, die Bedeutung im Akt ihrer Konstitution performativ durchkreuzt, läßt sich Freuds metaphorische Rede vom »Kreuz mit der Übertragung«, welche ihren

27. Vgl. Jacques Derrida: »Der Entzug der Metapher«, in: A. Haverkamp (Hg.), Die paradoxe Metapher (1998), S. 197–234; Anselm Haverkamp: »Die paradoxe Metapher. Einleitung«, in: ders. (Hg.), Die paradoxe Metapher (1998), S. 16–20; Rodolphe Gasché: »Metapher und Quasi-Metaphorizität«, in: A. Haverkamp (Hg.), Die paradoxe Metapher (1998), S. 235–267. 28. »Wir müssen vielmehr behaupten, daß das psychische Trauma, respektive die Erinnerung an dasselbe, nach Art eines Fremdkörpers wirkt, welcher noch lange Zeit nach seinem Eindringen als gegenwärtig wirkendes Agens gelten muß« (S. Freud, GW I, S. 85). 29. Zur »Letter« vgl. J. Lacan: »Das Seminar über E.A. Poes ›Der entwendete Brief‹«, in: ders., Schriften I, Olten / Freiburg i. Br. 1973; vgl. ders.: »Das Drängen des Buchstabens«, sowie ders.: Encore. 217

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›wörtlichen‹ bzw. – und nach den bisherigen Ausführungen präziser – ihren performativ-›buchstäblichen‹ Niederschlag in der Letter X findet, genau im Sinne der strukturellen Verschränkung von Metapher / Übertragung und einer traumatischen Körperlichkeit der Schrift lesen. In Freuds Worten: Freuds Schreiben nimmt den übertragenen Ausdruck ›wörtlich‹ (Kreuz / X) – es ließe sich hier von einem hysterischen (bzw. eben: metaphorischen) Zug der Schrift bei Freud sprechen – anders gesagt: Die Metapher affiziert Freuds Schreiben buchstäblich. Im Schreiben als Geschehen von Übertragung gerät Freud an das X, die Unbekannte schlechthin, die Letter als traumatische Körperlichkeit des »Sprungs« / Aktes, der sich dem Begreifen entzieht und der die strukturell-chiastische30 Verschränkung von Sprache und Körper artikuliert. Das X ist jedoch nicht nur dazu angetan, die Verkreuzung von Sprache und Körper zu bezeichnen, als Variable / Unbekannte markiert es den Ort der Ersetzung / Übertragung schlechthin (vgl. »So wurde ich denn von der Übertragung überrascht, und wegen des X, in dem ich sie an Herrn K. erinnerte, rächte sie sich an mir«31). Jeder Bedeutung bar, ist es Joker / Platzhalter des Sinns, der dessen Konstitution in der Bewegung der Übertragung überhaupt erst ermöglicht. Das Grimmsche Wörterbuch charakterisiert das Kreuz jenseits des christlichen Kontextes als Zeichen überhaupt, Grenz-Zeichen, Merkzeichen, Denkzeichen, kritisches Zeichen der Grammatiker.32 Das X, das im Zusammenhang mit der Übertragung im Schriftbild auftaucht, ist nicht das einzige Kreuz in Freuds Schriften. Ein anderes Kreuz, genauer gesagt: drei Kreuze ††† finden sich in Freuds Niederschrift seiner Assoziationen zum Traum von Irmas Injektion, und zwar nicht an x-beliebiger Stelle – oder eben gerade an ihr: am Ort des Namens. »Dysenterie klingt ferner an Diphtherie an, welcher Name ††† im Traum nicht auftaucht.«33 Das Kreuz / die Letter der Übertragung / Metapher kommt am Ort des Namens zum Zug; dies nicht nur in Freuds Text, sondern auch in der Signatur / dem »Handzeichen« eines des Schreibens Unkundigen – zugleich eine Geste der Durchstreichung [sujet barré]. Der Buchstabe / die Letter, welche / r mit Lacan ausschließlich vom Signifikanten her zu denken, d. h. nicht in einem metaphysisch-theo-

30. Zum Chiasmus vgl. Rodolphe Gasché: »Über chiastische Umkehrbarkeit«, in: A. Haverkamp (Hg.), Die paradoxe Metapher (1998), S. 437–455. 31. S. Freud, GW V, S. 283. 32. Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 8, München 1991, Sp. 2176 ff. (»Kreuz«). 33. S. Freud, GW II / III, S. 120. 218

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logischen Sinne zu substantialisieren ist, markiert jenen realen Überschuß der Schrift – »A letter, a litter«34 –, der sich mit Encore als »genießende Substanz« / Körper des Anderen lesen läßt.35 »[M]aterielle[s] Substrat, das der konkrete Diskurs aus der Sprache bezieht«36, versammelt die Letter den sich in der differentiellen Struktur des Signifikanten produzierenden traumatischen Rest an Genießen, der jedem Sprechen inhärent ist und den die Metapher bezeugt. Das Genießen der Letter als »Fremdkörper« – »ein Körper, das genießt sich. Das genießt sich nur, indem es es verkörpert in signifikanter Weise«37 – ist geschlechtliches Genießen. Das X wirft nicht zuletzt die Frage nach der Geschlechterdifferenz auf. Eine Kreuzung ist eben das, was nicht so recht in die Art bzw. Gattung paßt. Anders gefragt: Gibt die Letter X, das »Kreuz mit der Übertragung«, die Materialität der Sprache als geschlechtlichen Körper zu lesen? Und – so die Metapher als Artikulation des geschlechtlichen Körpers der Sprache gelten könnte – wie wäre ausgehend von ihr Geschlechterdifferenz zu denken? Wie gestaltet sich das Verhältnis von Metapher / Übertragung und Geschlecht?

Genre: Übertragung. Metapher und Genus / ß Die Frage nach dem Verhältnis von Metapher und Geschlecht stellt sich nicht nur angesichts des ›X‹ in der Schrift. Tatsächlich durchzieht der Signifikant des Geschlechts Aristoteles’ und Nietzsches Ausführungen zur Metapher wie auch diejenigen Freuds zur Übertragung, nämlich als ›Gattung‹ / ›Art‹, ›genus‹ (grammatisches Geschlecht) bzw. ›Genre‹. Die bekannte Definition der Metapher aus dem 21. Kapitel der Poetik des Aristoteles lautet: »Die Metapher ist die Übertragung eines Wortes (das somit in uneigentlicher Bedeutung verwendet wird), und zwar entweder von der Gattung [γ νοσ] auf die Art [εzδοσ] oder von der Art auf die Gattung, oder von einer Art auf die andere, oder nach den Regeln der Analogie.«38 Bei der Metapher / Übertragung handelt es sich schlicht gesagt um eine

34. J. Lacan,: »Das Seminar über E.A. Poes ›Der entwendete Brief‹«, in: ders., Schriften I, Olten / Freiburg i.Br. 1973, S. 24. 35. Zum Buchstaben als »materialisiertes Genießen« vgl. auch Slavoj Zˇiˇzek: Mehr-Genießen. Lacan in der Populärkultur (Wo Es War 1), Wien 1992, S. 62 f. 36. »Wir bezeichnen mit Buchstaben jenes materielle Substrat, das der konkrete Diskurs aus der Sprache bezieht« (J. Lacan: »Das Drängen des Buchstabens«, S. 19). 37. J. Lacan: Encore, S. 27. 38. Aristoteles: Poetik, übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1994, 1457b. 219

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Bewegung der Übertretung39, – und zwar nicht irgendeine, sondern eine des Genres40 / der Geschlechterkategorien der Sprache (Gattung / Art). Die Verschränkung von Metapher und Genre / Geschlecht, wie sie Aristoteles’ Metapherndefinition in der Bewegung der Übertretung beschreibt, findet sich in Freuds Rede über die Übertragung wieder. Im Bruchstück einer Hysterie-Analyse charakterisiert Freud die Übertragung als Gattung / Genre: »Was sind die Übertragungen? Es sind Neuauflagen, Nachbildungen von den Regungen und Phantasien, die während des Vordringens der Analyse erweckt und bewußt gemacht werden sollen, mit einer für die Gattung charakteristischen Ersetzung einer früheren Person durch die Person des Arztes.«41 »Man wird geneigt sein, es für einen schweren Nachteil des ohnehin unbequemen Verfahrens zu halten, daß dasselbe die Arbeit des Arztes durch Schöpfung einer neuen Gattung von krankhaften psychischen Produkten noch vermehrt.«42 Wenn Freud die Übertragung als Gattung charakterisiert, stellt sich die Frage, was für ein Genre mit der Übertragung begegnet, sprich: welche Verschiebungen ein repräsentationslogischer Begriff von Gattung / Genre / Geschlecht angesichts des Genres Übertragung / Metapher erfährt. In Nietzsches Abhandlung Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne heißt es, kurz vor der häufig zitierten Passage »Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen«: »Das Uebersehen des Individuellen und Wirklichen giebt uns den Begriff, wie es uns auch die Form giebt, wohingegen die Natur keine Formen und Begriffe, also auch keine Gattungen kennt, sondern nur ein für uns unzugängliches und undefinirbares X.«43 Der der Logik der Repräsentation unterliegende Begriff der Gattung (des Genres / Geschlechts) sieht sich angesichts der Gattung / des Genres Übertragung, mit der es – wie gesagt – »ein Kreuz ist« und in der die Letter zum Zug kommt, gerade an jenes »unzugängliche und undefinirbare X« verwiesen, über dessen Ausschließung er sich konstituiert. In

39. Vgl. Olaf Knellessen / Peter Passett / Peter Schneider (Hg.): Übertragung und Übertretung, Tübingen 1998. 40. Vgl. auch: Jacques Derrida: »Das Gesetz der Gattung«, in: ders., Gestade, Wien 1994, S. 245–283. 41. S. Freud, GW V, S. 279 f. 42. Ebd., S. 280 (Hervorhebung durch mich, E.S.). 43. Friedrich Nietzsche: »Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne«, in: ders., Werke, kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Bd. I, München / Berlin / New York 1988, S. 880 (Hervorhebung durch mich, E.S.). 220

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der Gattung Übertragung begegnet das Genre X – das paradoxe Genre der Übertretung, Artikulation der Buchstäblichkeit / geschlechtlichen Körperlichkeit der Schrift, wie sie im Entzug des Sinns persistiert. In der Bewegung der Übertretung bringt die Metapher / Übertragung das Genre / Geschlecht als Grenze / Differenz hervor.44 Entsprechend wäre ausgehend von der Metapher Genre / Geschlecht als Akt der Übertretung / Artikulation der Grenze / Differenz und damit als in sich verfehltes zu denken.45 Mit der Übertragung – nach Freud eine »Gattung von krankhaften psychischen Produkten« – gerät die Gattung / das Genre an das X der Geschlechterdifferenz, welches mit der Logik der Repräsentation zugleich eine binäre Geschlechterordnung unterläuft. Freuds metaphorische Rede vom Anfang meines Aufsatzes an das Ende desselben übertragen, könnte lauten: ›Mit der Übertragung [ergänze: Metapher] ist es ja überhaupt eine Kreuzung‹, ein Genre der besonderen Art, performativer Akt der Übertretung, der Grenzen nicht etwa nivelliert, sondern sie als Differenzen hervortreibt / vervielfältigt. Die Metapher / Übertragung – ein luxuriöses Unterfangen, in dem das Genre als Angelegenheit des Genießens46 (Genus / ß) zum Zug kommt, oder mit einem Wort aus Nietzsches Basler Rhetorikvorlesungen gesprochen: »Die Metapher zeigt sich in der Bezeichnung des Geschlechtes, das genus im grammatischen Sinn ist ein Luxus der Sprache u. reine Metapher.«47

44. Zur Metapher »als Grenze, Differenzphänomen« vgl. Anselm Haverkamp: »Nach der Metapher«, in: ders. (Hg.), Theorie der Metapher (1996), S. 500–502. 45. Vgl. Marianne Schuller: »Verpassen des Geschlechts: Kleists ›Die Verlobung in St. Domingo‹«, in: Susanne Gottlob / Claudia Jost / Elisabeth Strowick (Hg.), »Was ist Kritik?« Fragen an Literatur, Philosophie und digitales Schreiben, Münster / Hamburg / London 2000, S. 317–326. 46. Zum Verhältnis von Genre und Genießen vgl. Marianne Schuller: »Wunde und Körperbild. Zur Behandlung des Wundenmotivs bei Goethe und Kafka«, in: Marianne Schuller / Claudia Reiche / Gunnar Schmidt (Hg.), BildKörper. Verwandlungen des Menschen zwischen Medium und Medizin, Hamburg 1998, S. 21–45. 47. Friedrich Nietzsche: Vorlesungsaufzeichnungen (WS 1871 / 72-WS 1874 / 75), in: ders., Werke, kritische Gesamtausgabe, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, 2. Abtlg., 4. Bd., Berlin / New York 1995, S. 427. 221

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Literatur Aristoteles: Poetik, übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1994. Bischoff, Doerte: »›Mit derselben Geste‹. Körpergedächtnis und Repräsentation. Eine Freud-Lektüre«, in: DVjs 72 (1998), Sonderheft »Medien des Gedächtnisses«, S. 132–156. Black, Max: »Die Metapher«, in: Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher (1996), S. 55–79. Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998. Chaitin, Gilbert D.: Rhetoric and culture in Lacan, Cambridge 1996. Chase, Cynthia: »›Transference‹ as trope and persuasion«, in: Shlomith Rimmon-Kenan (Hg.), Discourse in Psychoanalysis and Literature, London / New York 1987. Derrida, Jacques: »Das Gesetz der Gattung«, in: ders., Gestade, Wien 1994, S. 245–283. — »Der Entzug der Metapher«, in: Haverkamp (Hg.), Die paradoxe Metapher (1998), S. 197–234. — »Die weiße Mythologie«, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 205–258. Felman, Shoshana: The Literary Speech Act. Don Juan with J.L. Austin, or Seduction in Two Languages, Ithaca, N. Y. 1983. Freud, Sigmund: »Die Traumdeutung«, in: ders., Gesammelte Werke, 2. u. 3. Bd., London 1942, S. 1–642. — »Bruchstück einer Hysterie-Analyse«, in: ders., Gesammelte Werke, 5. Bd., London 1942, S. 161–286. — »Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose«, in: ders., Gesammelte Werke, 7. Bd., London 1941, S. 381–463. — »Zur Dynamik der Übertragung«, in: ders., Gesammelte Werke, 8. Bd., London 1943, S. 364–374. — »Bemerkungen über die Übertragungsliebe«, in: ders., Gesammelte Werke, 10. Bd., London 1946, S. 305–321. — Studienausgabe, Ergänzungsband, Frankfurt a. M. 1975. Freud, Sigmund / Breuer, Josef: »Studien über Hysterie«, in: ders., Gesammelte Werke, 1. Bd., London 1952, S. 77–312. Freud, Sigmund / Pfister, Oskar: Briefe 1910–1939, Frankfurt a. M. 1963. Gasché, Rodolphe: »Metapher und Quasi-Metaphorizität«, in: Haverkamp (Hg.), Die paradoxe Metapher (1998), S. 235–267. — »Über chiastische Umkehrbarkeit«, in: Haverkamp (Hg.), Die paradoxe Metapher (1998), S. 437–455. Genette, Gérard: »Die restringierte Rhetorik«, in: Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher (1996), S. 229–252. Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, 5. Bd., Leipzig 1873. Groddeck, Wolfram: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens, Basel / Frankfurt a. M. 1995. Haverkamp, Anselm: »Auswendigkeit. Das Gedächtnis der Rhetorik«, in: 222

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Anselm Haverkamp / Renate Lachmann (Hg.), Gedächtniskunst. Raum – Bild – Schrift. Studien zur Mnemotechnik, Frankfurt a. M. 1991, S. 25–52. — (Hg.): Die paradoxe Metapher, Frankfurt a. M. 1998. — »Die paradoxe Metapher. Einleitung«, in: ders. (Hg.), Die paradoxe Metapher (1998), S. 7–25. — »Einleitung in die Theorie der Metapher«, in: ders. (Hg.), Theorie der Metapher (1996), S. 1–27. — »Nach der Metapher«, in: ders. (Hg.), Theorie der Metapher (1996), S. 499–505. — (Hg.): Theorie der Metapher, Darmstadt 1996. Jakobson, Roman: »Der Doppelcharakter der Sprache«, in: Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher (1996), S. 163–174. Jarnach, Ulrike: »Was ›nicht-da‹, ist NICHT-FORT! Glosse zur Schrift ›Die Frage der Laienanalyse‹« (unveröffentl. Ms). Knellessen, Olaf / Passett, Peter / Schneider, Peter (Hg.): Übertragung und Übertretung, Tübingen 1998. Lacan, Jacques: Das Seminar von Jacques Lacan. Buch XX (1972–1973), Encore. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. v. Norbert Haas, Vreni Haas und Hans-Joachim Metzger, Weinheim / Berlin 1986. — »Das Seminar über E.A. Poes ›Der entwendete Brief‹«, in: ders., Schriften I, Olten / Freiburg i.Br. 1973, S. 7–60. — »Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud«, in: ders., Schriften II, Olten / Freiburg i.Br. 1975, S. 15– 55. — »Die Metapher des Subjekts«, in: ders., Schriften II, Olten / Freiburg i.Br. 1975, S. 56–59. Lausberg, Heinrich: Elemente der literarischen Rhetorik, Ismaning 1990. Nietzsche, Friedrich: »Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne«, in: ders., Werke, kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Bd. I, München / Berlin / New York 1988, S. 873–890. — Vorlesungsaufzeichnungen (WS 1871 / 72 – WS 1874 / 75), in: ders., Werke, kritische Gesamtausgabe, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, 2. Abtlg., 4. Bd., Berlin / New York 1995. Platon: »Gorgias«, in: ders., Sämtliche Werke (griech. / dt.), Bd. II, hg. v. Karlheinz Hülser nach der Übersetzung Friedrich Schleiermachers, ergänzt durch Übersetzungen v. Franz Susemihl u. a., Frankfurt a. M. 1991, S. 175–417. Schuller, Marianne: »Verpassen des Geschlechts: Kleists ›Die Verlobung in St. Domingo‹«, in: Susanne Gottlob / Claudia Jost / Elisabeth Strowick (Hg.), »Was ist Kritik?« Fragen an Literatur, Philosophie und digitales Schreiben, Münster / Hamburg / London 2000, S. 317–326. — »Wunde und Körperbild. Zur Behandlung des Wundenmotivs bei 223

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Goethe und Kafka«, in: Marianne Schuller / Claudia Reiche / Gunnar Schmidt (Hg.), BildKörper. Verwandlungen des Menschen zwischen Medium und Medizin, Hamburg 1998, S. 21–45. Torra, Elias: »Rhetorik«, in: Miltos Pechlivanos u. a. (Hg.): Einführung in die Literaturwissenschaft, Stuttgart / Weimar 1995, S. 97–111. Vetter, Helmut / Heinrich, Richard (Hg.): Die Wiederkehr der Rhetorik, Wien / Berlin 1999. Zˇiˇzek, Slavoj: Mehr-Genießen. Lacan in der Populärkultur (Wo Es War 1), Wien 1992.

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Der Gesetzesdiskurs in Psychoanalyse, Medizin und Totenrecht. Ein Übersetzungsproblem Claudia Jost

In Jacques Lacans Ethik der Psychoanalyse findet man zahlreiche Bezüge auf rechtspolitische und bioethische Fragestellungen, die über den Charakter der Warnung weit hinausgehen. Daß diese Aussagen meist ignoriert werden, ist verwunderlich. Nicht, daß der politische Gehalt von Lacans Ethik überhaupt überlesen würde – vielleicht aber schien es bisher nicht der Mühe wert, seine politischen Äußerungen als mehr denn bloße Kommentare zum Weltgeschehen, nämlich als ausdrücklichen Bestandteil seines psychoanalytischen Denkens zu verstehen. Welcher Zusammenhang besteht, anders gefragt, zwischen der Ethik der Psychoanalyse und den politischen Stellungnahmen in der Ethik der Psychoanalyse? In der Konfrontation Kant / de Sade / Antigone befragt Lacan Schnittstellen zwischen Ethik und Vernichtung bzw. zwischen dem Guten und dem Absoluten. Er spricht von der Kehrseite der Lust ebenso wie von der Kehrseite des Guten: von einem Willen zur Destruktion, der sich bei de Sade als literarische Versuchsanordnung darstellt. Es geht um ein Spiel der Formen, das der Lust zur Befriedigung und der Natur zur Vernichtung verhilft. So entwirft de Sade in der Philosophie im Boudoir eine Welt der Gelüste, die sich weigert, den Leichnam der Natur zurückzuerstatten, und die den Versuch wagt, dem Menschen nicht nur das erste, sondern auch das zweite Leben zu nehmen. In seiner gänzlich ästhetischen Welt soll die Ausstoßung der Toten zur Neuschöpfung der Natur beitragen, weil nur das Verbrechen an den Toten die Reproduktion des Lebens konsequent unterbricht. Dieses literarische Experiment bezieht Lacan auf eine andere Versuchsanordnung, die nicht nur im Sinn hat, die Natur von den Leichen zu befreien wie de Sade, sondern »die Vertäuungen der Formen des Lebens«1 selbst durch-

1. Das Seminar von Jacques Lacan. Buch VII (1959–1960), Die Ethik der Psychoanalyse. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. v. Norbert Haas, Weinheim / Berlin 225

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zuschneiden. Das heißt, Jacques Lacan bringt de Sades literarisches Experiment mit einer Art Spiel in Verbindung, das andere Motive und Stoffe verarbeitet als de Sade. Lacan spricht von einer »zweiten Zerstörung«, von einer Katastrophe, nur daß sie »[…] von keinerlei Lustmotiv bewegt sein wird. Nicht Perverse werden sie auslösen, sondern Bürokraten, über die man nicht einmal wissen wird, ob sie gute oder schlechte Absichten haben.«2 Wenn man den Hinweis auf eine Vernichtungsanordnung ernst nimmt, die sich nicht als Perversion, sondern als Verwaltungsakt vollzieht, kommt hier eine Ordnung in den Blick, die wie automatisiert vernichtet, ohne aufzuhören zu spielen und zu verwalten. Aber es ist allein von der Perspektive des Signifikanten aus, daß Lacan sagt: »[…] denn wir wissen nicht […], daß es durch das Verbrechen in der Macht des Menschen steht, die Natur von den Fesseln ihrer eigenen Gesetze zu befreien. Denn die der Natur eigenen Gesetze sind Fesseln. Die Reproduktion der Formen, […] all das muß ausgeschaltet werden, um sie sozusagen zu einem Neubeginn zu zwingen.«3 Mit dieser Verschränkung von Ethik und Verbrechen öffnet Lacans Signifikantentheorie interessanterweise am Ort der ›Naturgesetze‹ die Frage nach der Gespaltenheit des Symbolischen, »[…] sofern alles in Frage gestellt werden kann von der Funktion des Signifikanten aus«.4 Diesen Dammbruch möchte ich mit der Frage der Gesetze zusammendenken, wie Lacan selbst es auch tut, wenn er sich darauf bezieht, daß sich das Gesetz immer dann, wenn es sich erneuern will, in die Anarchie stürzen muß. Aber gemäß der Psychoanalyse betrifft das erste Gesetz und die erste maßgebliche Übertretung in der Geschichte des Menschen das Inzestverbot. ›Inzest‹ hier weit gefaßt als Sprachge-

1996, S. 279: »Die Möglichkeit der zweiten Zerstörung ist für uns plötzlich greifbar geworden in der Bedrohung durch eine Anarchie der Chromosomen, in der die Vertäuungen der Formen des Lebens durchschnitten werden könnten. Monstren versetzten die in Angst und Schrecken, die, zuletzt im XVIII. Jahrhundert, dem Wort Natur noch einen Sinn gaben. Seit langer Zeit mißt man Kälbern mit sechs Füßen, Kindern mit zwei Köpfen kein Gewicht mehr bei, und doch werden wir diese jetzt zu Tausenden vielleicht wieder auftauchen sehen. Deshalb hat, wenn wir hier fragen, was jenseits der durch die Struktur der Welt des Guten bewachten Schranke ist, wo der Punkt ist, der die Welt des Guten um sich kreisen macht, um uns dann alle ins Verderben zu ziehen, unsere Frage einen Sinn und ist es nicht vergeblich, Sie an deren Aktualität zu erinnern.« 2. Ebd., S. 280. 3. Ebd., S. 313. 4. Ebd., S. 256 f. 226

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schehen, das direkt auf Genuß zielt: als Nichtanerkennung der verbietenden bzw. trennenden Instanz. Lacan hat das grundlegende Gesetz das Inzest-Verbot genannt, aber betont, es sei weniger das verbotene Gut als das Verbot, das so begehrt sei: »Das Begehren ist das Begehren nach dem Gesetz«5, denn nur das Gesetz hält die Illusion aufrecht, daß es ein letztes Ding gibt, das den Wunsch am Ende befriedigt. Das Inzestverbot errichtet im Menschendasein ein erstes Tabu, aus dem das Ding hervorgeht und an dem das Gesetz seine Wirkung zeigt; die Leere des Begehrens wird durch das Gesetz nur verstellt. Aber das Begehren ist auch voller Widersinn: Es will befriedigt sein, und es will nicht befriedigt sein, um weiter zu begehren. Dafür braucht es das Gesetz. Philippe Julien schreibt, um nicht die Nichtigkeit des Objekts zu erleiden, das überhaupt nie in der Lage ist, das Begehren zu sättigen, inszeniere das Subjekt ein Theater, in dem das dürftige Objekt als höchstes und letztes Gut auftritt.6 Der inzestuöse Anspruch muß ungestillt bleiben, weil die Befriedigung das Erlöschen dessen bedeutet, was das Subjekt des Begehrens und die ethische Dimension strukturiert. So bestimmt Lacan die Zehn Gebote als das, was uns vom Inzest abhält und die Ordnung des Begehrens aufrechterhält, aber mit der Verschiebbarkeit der Signifikanten ist nichts, auch kein ethischer Imperativ dagegen gefeit, an den Ort des Dings zu geraten. Sein Vollzug wäre vielmehr als Implosion der symbolischen Struktur zu verstehen: als Sprachgeschehen, vermittels dessen sich das Begehren in einem Zuge vollzieht, erfüllt und zerstört, d. h. als partikularer Zusammenbruch des symbolischen Feldes. Dieses Moment der Zerstörung könnte man auch als katastrophischen Siegeszug des Symbolischen über sich selbst verstehen. Damit aber avanciert die Möglichkeit des ›Inzest‹ zur politischen Kategorie – das ist es, was Lacan zeigt. Wenn nach Lacan das Symbolische andererseits genau da maßlos und übermächtig wird, wo seine trennende und störende Kraft gerade versagt, wie etwa im Verbrechen der inzestuösen Schwestern Papin, die ihrer Herrschaft nach einem Stromausfall buchstäblich die Augen auskratzen, auf daß die Wörter aus dem Symbolischen heraustreten und als Mord wiederkehren, wenn also gerade das Zerbrechen der sprachlichen Qualität dem Symbolischen eine gigantische Macht verleiht, muß man diesen ›Kurzschluß‹ auch auf die Gesetzesstruktur als solche beziehen: Denn den Zusammenbruch des symbolischen Feldes, sein Überhandnehmen, das alles Dagewesene in Frage stellt, bewirkt

5. Peter Widmer: Subversion des Begehrens. Jacques Lacan oder die zweite Revolution der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1990, S. 113. 6. Vgl. Philippe Julien: »Die drei Dimensionen der Vaterschaft in der Psychoanalyse«, in: Edith Seifert (Hg.), Perversion der Philosophie. Lacan und das unmögliche Erbe des Vaters, Berlin 1992, S. 163–178. 227

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nichts anderes als die Maßlosigkeit des Gesetzes selbst – dafür steht die Tragödie der Antigone. Tatsächlich hat Lacan die Monstrosität der Gesetzesstruktur auf Antigone bezogen, auf ihr Todesbegehren. Aber den ersten radikalen ›Akt‹ markiert im Theaterstück das politische Gesetz selbst, welches verfügt, daß Antigone lebend zu den Toten hinuntersteigt, während Polyneikes’ Leichnam oben liegenbleiben muß. »Daß keiner ihn begrabe, keiner traure, / Daß unbegraben er gelassen sey, zu schaun / Ein Mahl, zerfleischt von Vögeln und von Hunden.«7 Damit die Tragödie ihren Ausgang nimmt, muß die Wirkung der Gesetzeskraft erst ihren Lauf nehmen. In welchem Zusammenhang steht die ›zweite Zerstörung‹, von der Lacan spricht, mit dem ›zweiten Tod‹, den Lacan an Antigone vorführt? Worum geht es in dem Stück?

»Antigone«: Inzestverbot und Totenrecht Nachdem die Brüder Antigones im Zweikampf ums Leben gekommen sind, läßt Kreon nur Eteokles nach Recht und Sitte begraben, weil Polyneikes als Staatsfeind gilt. Es ist bei Todesstrafe untersagt, den Leichnam des Polyneikes, der gegen Theben gekämpft hat, zu bestatten. Weil Antigone dieses Verbot umgeht, wird sie lebendig eingemauert. Aber ihr Schicksal reißt in einem einzigen Taumel bald Hämon und Eurydice, Kreons Sohn und Frau, und schließlich auch Kreon selbst mit. Denn als Gesetzgeber provoziert Kreon die Kollision zweier Gesetze, der er zuletzt selbst erliegt; damit hat sich der Konflikt zur Staatstragödie gesteigert. Kreons eigenes Schicksal wird am Ende dem von Polyneikes, Antigone und Hämon gleich, darum kann man die merkwürdige Frage, die Kreon an seinen Sohn richtet, bevor Hämon sich erdolcht, auch auf Kreon selbst beziehen: »Durch welch Verhängnis starbst du?«8 Die Frage zeigt, was das Gesetz bewirkt, das anfangs ›nur‹ für Polyneikes galt: In dem Maße, wie Polyneikes’ Leichnam unbeerdigt unter den Lebenden liegen bleiben muß, Antigone lebend noch zu den Toten hinabgestoßen wird und ihr Bräutigam Hämon gestorben noch lebt, ist es am Ende Kreon, der nicht sterben darf, obwohl er den Tod erfleht für »Mich, der nun nichts mehr Anders ist, als Niemand.«9 Diese menschlichste Erscheinung Kreons spiegelt gewissermaßen die unmenschlichste Erscheinung des nassen Leichnams Polyneikes’ wider: symbolisch tot zu sein, ohne ›nach unten‹ zu dürfen, d. h. lebend zu verwesen.

7. Friedrich Hölderlin: »Antigonä«, in: ders., Sämtliche Werke, hg. v. Friedrich Beissner, Bd. 5, Stuttgart 1952, S. 213. 8. Ebd., S. 257. 9. Ebd., S. 261. 228

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Aber es ist auffällig, daß im Stück der Antigone, das verschiedene Todesgrade inszeniert, das ›Todesbegehren‹ und die Frage von Totenrecht und Inzestverbot zusammenfallen. Antigone, die ihr Leben für die Beerdigung ihren Bruders hingibt, erklärt, daß sie dies weder für Mann noch Kind getan hätte, weil Polyneikes’ Einzigartigkeit einzigartiger als die jedes anderen sei. Damit kommt hier noch eine andere Übertretung ins Spiel: der Inzest ihres Vaters Ödipus mit seiner und ihrer Mutter, dem die Geschwisterkonstellation entsprang. Antigone bindet ihren Widerstand an die Einzigartigkeit ihres Bruders, der wie sie eine Frucht des Inzests ist. Aber damit ist ein ›unbeschnittenes‹, sich aus-sich-selbst generierendes und inzestuöses Moment gekennzeichnet, das Antigones ethischen Akt ebenso motiviert wie Kreons autonomen, aus sich selbst gespeisten Gesetzesakt, der die Toten »Über des Lebens Gränze«10 hinaus verfolgt. Es geht um ein Verhältnis zur Creatio ›aus sich selbst‹. Diese Eckpfeiler der Tragödie möchte ich weiter auf eine ähnliche Koinzidenz am Ort der Naturgesetze beziehen. Wo Lacan den Zusammenbruch aller symbolischen Bindung, durch die das Subjekt in der Sprache ›gehalten‹ wird, bezogen auf Antigone als absoluten Zug deutet – als »Akt« –, versuche ich die Preisgabe des Symbolischen hier als Partialstruktur zu lesen. Damit schlage ich eine Lesart vor, die eine Übertretung, die sich als Sprache und Gesetz vollzieht, nicht als »Akt« deutet, sondern als Gewalt, die sich zur anderen Seite hin neutralisiert: als neutralisierte Form des Akts bzw. als Aktivität oder inzestuöse Methode. Anders als Lacan möchte ich die Frage des ›zweiten Todes‹ nicht von Antigone, sondern von der Leiche her stellen, derentwegen Antigone stirbt; es bedeutet, die Logik des Inzests mit der Macht, »Zu tödten Todte«11, zusammenzudenken. Was passiert, anders gefragt, wenn man Polyneikes nicht mitdenkt? Ich möchte eine Konstellation zwischen Recht und Medizin untersuchen, die in eines der weitreichendsten Gesetzesprobleme mündet. Es schafft die Grundlage für ein Verbrechen, das die Möglichkeit bereitstellt, zu töten, ohne zu töten. Ich beziehe mich genauer auf einen Verbrechenstyp, dessen Neuartigkeit gerade darin besteht, sich als Verbrechen unkenntlich zu machen, indem es nicht die Gewalttat am anderen bestreitet, sondern dessen Existenz.12

10. Ebd., S. 242. 11. Ebd., S. 248: »Weich du dem Todten und verfolge nicht / Den, der dahin ist. Welche Kraft ist das, / Zu tödten Todte?« 12. Zur Logik dieses Verbrechens, die ich hier nur sehr verkürzt wiedergeben kann, vgl. meine Arbeit Die Logik des Parasitären: Literarische Texte, Medizinische Diskurse, Schrifttheorien, Stuttgart 2000. Einzelne Teile sind dieser Arbeit entnommen. 229

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Das menschliche Ding und die Leiche Am Ausgangspunkt dieser Problematik steht die seit Jahrhunderten umstrittene Frage, was den Menschen der Leichnam wert ist. Ich versuche zu zeigen, welche Konsequenzen der Wertschätzung der Leiche entspringen, die sich im Jahre 1912 noch folgendermaßen darstellt: »Leichen, die sich im Eigentum von Anatomien befinden, stellen sogar ganz beträchtliche Vermögenswerte dar; der durchschnittliche Preis für ein menschliches Gerippe beträgt gegen 100 Mark.«13 Um die Jahrhundertwende entstehen zahlreiche juristische Dissertationen zum Rechtsstatus und zur Schutzwürdigkeit der menschlichen Leiche. Die Arbeiten reagieren vor allem auf zwei Entwicklungen: auf das Aufkommen der Feuerbestattung sowie die wachsende Nachfrage an Leichen bzw. entsprechende Auslieferung von Toten an die Anatomie. Es ist kein Geheimnis, daß die Anatomien über Jahrhunderte ihren Bedarf an Leichen notfalls auch auf dubiosen Wegen zu decken suchten. Was sich im Laufe des 19. Jahrhunderts jedoch ändert, ist das Ausmaß der verwaltungsrechtlichen Mithilfe an der Leichenbeschaffung, d. h. die Beteiligung der staatlichen Bürokratie, während das Gesetz zugleich den Schutz der Totenruhe garantiert.14 So erlauben sich die meisten Staaten seit dem 19. Jahrhundert auch ohne daß die Rechtsprechung dies legitimiert, die Leichen von Hingerichteten, Selbstmördern, Armenhäuslern oder Gefängnisinsassen an Anatomien auszuliefern, sofern die Angehörigen nicht widersprechen, »denn die medizinische Wissenschaft hat ein großes Interesse, Leichen für die Anatomien zu erhalten, und sie ist immer bereit, dafür auch Anwendungen zu machen, mag man nun Rechtsgeschäfte über Leichen für möglich halten oder nicht.« 15

13. Karl Johnson: Die Leiche im Privatrecht. Zugleich ein Kritischer Beitrag zur Lehre vom Recht am eigenen Körper, Diss., Glückstadt 1912, S. 20. 14. Vgl. z. B. das sächsische Anatomiegesetz vom 5. Oktober 1912 (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Sachsen 1912, S. 465), sowie Erlaß über die Ablieferung von Leichen aus öffentlichen Anstalten an die anatomischen Institute vom 9. Juni 1889 (Min. Bl. Inn., S. 133, zit. nach Carlo Heß: Friedhof und Grabstätte im Privatrecht, Gelnhausen 1935, S. 94). Heinrich Hegemann weist unter Bezug auf Schultheiß (1808) darauf hin, »daß Morde zwecks Verbringens von Leichen nach der Anatomie gegen staatliches Honorar vorkamen« (Heinrich Hegemann: Der Leichnam im Rechtssystem unter kurzer Berücksichtigung der geschichtlichen Entwicklung dieses Rechtsgebietes, Diss. Erlangen 1912, S. 55). 15. Richard Heimendahl: Das Recht am Leichnam, Bonn 1911, S. 24; vgl. auch Preußische Justizministerialverfügung von 1821, die ab nun auch die Leichen der in Untersuchungsgefängnissen Verstorbenen zur Überstellung an die anatomischen Institute 230

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De facto ist eine im Besitz der Anatomie befindliche Leiche strafrechtlich schutzlos geworden, obwohl die Verletzung der Totenruhe strafbar ist und als schwerwiegendes »Vergehen gegen die Religion« zählt.16 Diesen Widerspruch gilt es zu ›lösen‹. Die Häufung juristischer Texte zum Rechtsstatus der Leiche entspringt dem Versuch, eine von Staats wegen verordnete Gesetzesübertretung nachträglich zu legitimieren, die nach gültigem Recht gar nicht zu legitimieren ist. Zum wichtigsten Begriff in jener Rechtsdebatte ist der Begriff der ›Sache‹ avanciert. Der Streit, ob die Leiche, analog zu toten Körperteilen, abgetrennten Gliedmaßen, entfernten Gallensteinen etc., rechtlich zu den Sachen zählt, bezieht sich darauf, daß an manchen Leichen faktisch bereits Sacheigentum besteht, um weiter auszuloten, ob hier auch Eigentumsdelikte im Sinne des Strafrechts greifen. »Wird dies bejaht, so kann man die Möglichkeit eines Diebstahls an einer Leiche nicht ohne weiteres von der Hand weisen.«17 Die Gesetzesübertretung schafft Fakten, auf die man dann nicht mehr verzichten will. So erklärt die Mehrheit der Juristen die Leiche darum zur Sache, weil die Anatomie das Sachenrecht an der Leiche bereits vollzogen hat.18 Dagegen kommen Juristen, die die Kommerzialität der Leiche bestreiten, »über die Tatsache nicht hinweg, daß Leichen in der Tat in den Besitz von Anatomien gelangen und hier ganz wie Sachen behandelt werden.«19 Will man wissen, was dem Gesetz die Leiche ist, muß man also fragen, was dem Gesetz die Sache ist. In einem Lehrbuch des bürgerlichen Rechts von 1901 findet man folgende Definition: »Sache ist das begrenzte Stück Materie, das als raumfüllende, greifbare oder wägbare Masse der unmittelbaren tatsächlichen und ausschließlichen Herrschaft eines Menschen

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bestimmt; sowie Preußisches Ministerialreskript vom 9. Juli 1889 betreffend die Ablieferung von Leichen aus öffentlichen Anstalten an die Anatomie. Zum Leichenraub im Preußischen Strafgesetzbuch 10. Titel § 137 »Vergehen, welche sich auf die Religion beziehen«; dem ist das Reichsstrafgesetzbuch 1871 gefolgt. R. Heimendahl: Recht am Leichnam, S. 3. »Eine Leiche kann verkehrsfähig werden, sobald sie durch Verkauf an eine Anatomie Gegenstand des Handelsverkehrs geworden ist« (Liszt: Lehrbuch des deutschen Strafrechts, zit. nach R. Heimendahl: Recht am Leichnam, S. 34). Vgl. auch Hans Henne: Rechtsverhältnisse hinsichtlich des Leichnams und seiner Aschenreste, Diss., Bochum 1928, S. 12: »Keiner der Vertreter der Theorie von der Nichtsache des menschlichen Leichnams hat die Anatomieleiche […] mit seiner Theorie befriedigend vereinbaren können«, weil der Leichnam bereits ›entweiht‹ ist. K. Johnson: Leiche im Privatrecht, S. 16. 231

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unterworfen werden kann. Der Mond und die Sterne sind daher z. B. zwar körperliche Gegenstände, aber keine Sachen im Sinne der Privatrechtsordnung; denn ein privatrechtliches Machtverhältnis an ihnen ist unmöglich. Zweifelhafter ist dies schon z. B. bei einem Meteor, das auf die Erde fallen und dann Gegenstand menschlicher Herrschaft werden kann.«20 Das menschliche Ding lautet ein Untertitel in der Ethik der Psychoanalyse. Lacan folgt hier der Unterscheidung zwischen ›Ding‹ und ›Sache‹, die Freud aufmacht. Die Sache sei das Wort des Dings. Aber das Ding hat eine Funktion in der Genese der Sprache, deren Effekt die Sachen sind. Als Überbleibsel einer juristischen bzw. sprachlichen Operation bleibt das Ding von dem abgetrennt, was benannt, artikuliert und besessen wird. Freud spricht von einem unverstehbaren, unassimilierbaren Teil, der in die Welt nicht integrierbar ist: »Was wir Dinge nennen, sind Reste, die sich der Beurteilung entziehen.«21 In diesem Sinne zielt der explizite Wunsch, den Leichnam zu den »Sachen« zu zählen, unmittelbar auf »[d]as menschliche Ding«. »In diesem Punkt wäre das, was wir das Menschliche nennen, nicht anders definiert als in der Weise, wie ich gerade das Ding definiert habe, nämlich als das, was vom Realen am Signifikanten leidet.«22 Der Absicht, ein privatrechtliches Machtverhältnis über die menschliche Leiche zu etablieren, steht jedoch eine wichtige Einschränkung entgegen: Das Besitzrecht an der Leiche soll nicht für jeden, sondern nur für staatliche bzw. wissenschaftliche Zwecke gelten, etwa für Militärforschung, Medizin und Anatomie. Wie läßt sich dieses Dilemma lösen, die Übertretung nicht nur als Ausnahmerecht zu gewährleisten – denn die Auslieferung des Leichnams an die Anatomie wird ja bereits praktiziert –, sondern sie auch juristisch zu begründen, ohne daß die Praxis, den Leichnam zu Geld zu machen, zum bürgerlichen Privatinteresse verkommt?23 Der Weg dorthin führt offenbar über die Neubestimmung des Leichnams. Es ist auffällig, daß die Rechtsprechung, um ein Eigentumsrecht am Leichnam zu etablieren, nicht etwa den Zugriff legitimiert, sondern die Leiche selbst neu kategorisiert. Um Leichen sachenrechtlich verfügbar zu machen, wird festgelegt, unter welchen Umständen eine Leiche überhaupt eine Leiche ist, sprich

20. Friedrich Endemann: Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, zit. nach K. Johnson, Die Leiche im Privatrecht, S. 12. 21. Vgl. Sigmund Freud: [»Entwurf einer Psychologie«], in: ders., Gesammelte Werke, Nachtragsband, Frankfurt a. M. 1987, S. 429. 22. J. Lacan: Ethik, S. 154. 23. »Erwürben die Erben den Leichnam, so stände nichts im Wege, daß sie ihn – etwa bei überschuldeter Erbschaft – zu Geld machten« (R. Heimendahl: Recht am Leichnam, S. 39). 232

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»wann die Leichnamsqualität eines leblosen Menschen beginnt und wann sie endet.«24 Eine Antwort lautet: »Auch an Leichen und Leichenteilen ist heute ein Eigentum möglich, nämlich dann, wenn sie der Beisetzung oder der Verbrennung entzogen sind.«25 Damit werden Leichen prinzipiell doppelt kategorisiert: Alle Leichen sind Leichen, aber manche sind es ›wirklich‹, sofern sie der Bestattung entzogen sind. So zählt man den ›einsamen Toten‹ wie die Anatomieleiche nicht wirklich zu den Toten, sondern zum Warengut. Im Gegensatz zu jenen Leichen, die man auch heute noch ›Sachen‹ nennt, während sie noch den Schutz der Totenruhe genießen, versteht man unter Mumien-, Moorund Anatomieleichen ›fremde Sachen‹: sie gelten als vollgültige Waren und unterliegen dem freien Güterverkehr. Bis heute gilt die mehrheitliche Rechtsauffassung: »Der Leichnam ist eine Sache im Sinne des BGB.«26 Doch mit der Einschränkung, den Leichnam zwar prinzipiell zum ›körperlichen Gegenstand‹ und damit zur Sache zu erklären, aber nicht alle Leichen dem Eigentumsrecht zu unterstellen, wird der Leichnam zugleich als Sache und als Sonderfall unter den Sachen gefaßt – gewissermaßen als »Mittelding zwischen den profanen und sakralen Sachen (wie z. B. geweihte kirchliche Geräte).«27 Der Widersinn dieser Entscheidung, die faktisch bis heute Gültigkeit hat, ist offensichtlich. »Deshalb, nachdem er erst als Sache erklärt worden ist, werden Einschränkungen notwendig, die ihn rechtlich von den Sachen unterscheiden sollen, so weit es eben die guten Sitten verlangen. Man muß dabei so weit gehen, das Objekt zwar als Sache, das Sachenrecht aber als unanwendbar zu erklären.«28 So gibt es Ausnahmeleichen, die Sachen im Sinne des Strafrechts und vollgültige Waren sind, und ›normale‹ Leichen, die Sachen und ihr eigener Sonderfall sind. Die doppelte Logik reicht so weit, daß manche Juri-

24. H. Henne: Rechtsverhältnisse, S. 1. 25. Reinhard von Frank: Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, zit. nach R. Heimendahl, Recht am Leichnam, S. 34. 26. H. Hegemann: Leichnam, S. 29. Zu Rechtskommentaren jüngerer Zeit vgl. etwa Berthold Stentenbach: Der strafrechtliche Schutz der Leiche, Köln 1993, S. 33 f., hier S. 34: »Nach heute überwiegender Auffassung sind die menschliche Leiche und ihre Bestandteile als Sachen anzusehen.« 27. Kemmer, zit. nach Walter von Tobel: Das Recht am toten Körper unter besonderer Berücksichtigung der Leichensektion, Zürich 1946, S. 14. 28. Ebd., 25. Vgl. auch W. v. Tobel: Recht am toten Körper, S. 15: »Wenn man das Sachenrecht auf den Leichnam anwenden will, muß man es dermaßen einschränken, daß praktisch nicht mehr viel davon übrig bleibt.« So wurden Leichen fast ein Jahrhundert nach der alten deutschen Eisenbahnordnung von 1900 nicht mit Frachtbrief, sondern mit Begleitschein befördert. 233

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sten den Fakt, daß eine Leiche nicht Anatomieleiche werden wird, explizit zur ›Leichnamsqualität‹ hinzurechnen. »Die Leichen, welche wirklich beerdigt werden, haben den religiösen Frieden und sind wirkliche extra commercium; dagegen solche Leichen, die in den Verkehr gekommen sind, sind wirkliche Eigentumsobjekte.«29 Interessanterweise wird hier die Frage, wie mit der Leiche zu verfahren ist, rückwirkend zum Kriterium, das besagt, ob die Leiche überhaupt eine ›Leiche‹ oder nur ›Anatomieleiche‹ ist. Insofern kollidiert der Sachwert der Leiche nicht nur mit der Frage, was die Leiche ›wert‹ ist, sondern was die Leiche ist. Wer nicht zu Grabe getragen wird, weil er ›Anatomieleiche‹ sein soll, ist in diesem Denken keine »nach § 168 St.G.B. und nach Totenrecht schutzfähige«30 Leiche, denn »Wenn dieselben auf der Anatomie seziert werden, so sind sie wohl kaum mehr eines besonderen Friedens wert.«31 Die Frage, wer wirklich Leiche unter Leichen ist, hängt davon ab, was mit dem toten Körper tatsächlich geschieht, weil die Anatomie »die Tendenz hat, das Individuum völlig zu vernichten.«32 Daß die Rechtsrhetorik alle Register zieht, um diese Tendenz ins Recht zu setzen, bedeutet jedoch, daß man die Leiche, die man »völlig zu vernichten« wünscht, erst noch töten muß, weil die Leiche ihren Tod offenbar auf rätselhafte Weise überlebt. Um ihr Gewalt anzutun, muß man die Leiche auch als Leiche töten. Anders gesagt hat das Recht damit zu kämpfen, daß die Leiche lebt – hier würde Lévinas’ Frage greifen, die man merkwürdigerweise nie auf die Toten bezogen hat: ob man die, die man töten kann, überhaupt töten kann, d. h. die Frage, was der Verwandlung einer Leiche in ›die Sache‹ widersteht. Das Gesetz muß einen kleinen, aber vernichtenden Zusatz einführen, um die juristisch entscheidende Differenz zu erzeugen. Ohne die Anatomieleiche ›vollgültig‹ aus dem Status der Toten zu verweisen, katapultiert der Zusatz sie aus dem gesetzlichem Schutz heraus. Allein der Schwanzbegriff der Anatomieleiche, der sie halb zu den Leichen zählt, erhält die Illusion aufrecht, daß man diesen Toten noch in irgendeiner Form ethisch begegnet. Eine Leiche ist nur dann eine Leiche, wenn sie keine Anatomieleiche ist. Die Vorsilbe entscheidet darüber, ob die Leiche eine Leiche ist oder nicht. Ein ähnliches Spiel mit Vorsilben und Kategorien, die dafür sorgen, daß »alles in Frage gestellt werden kann von der Funktion des Signifikanten aus«33, wird nur wenige Jahrzehnte später bei der Etablierung des Hirntodes als Tod des Menschen und bei der Tot-

29. Kramer: Über das Recht in bezug auf den menschlichen Körper, zit. nach R. Heimendahl: Recht am Leichnam, S. 34. 30. H. Henne: Rechtsverhältnisse, S. 3 f. 31. R. Heimendahl: Recht am Leichnam, S. 50. 32. K. Johnson: Leiche im Privatrecht, S. 62. 33. J. Lacan: Ethik, S. 256 f. 234

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erklärung anenzephaler Säuglinge eine Rolle spielen. Um nach den Toten den Zugriff auf lebende Körper zu etablieren, vollzieht die Medizin jetzt die Neudefinition des Menschen. Das heißt, der gleiche Abersinn, der einst entschied, welche Leiche das Recht hat, wirklich Leiche zu sein, verteilt in der aktuellen Todesbehauptung jetzt das erste aller Menschenrechte neu: das Recht, überhaupt Mensch zu sein. Damit ist nicht nur der Mensch an die Stelle der Leiche, sondern der Tod an die Stelle der Sache getreten, weil der Mensch angeblich dort aufhört, wo der Tod beginnt.

Die Toten: Das obszöne Geschlecht Der Widersinn dieser juristischen Operationen zeigt, daß mit dem Tod das ethische Problem nicht erledigt ist. Wo Staat, Anatomie oder Militär sich menschlicher Leichen bedienen, muß der ›zweite Tod‹ die Körper vor der physischen Vernichtung ihres Menschseins entblößen. Damit möchte ich zugleich auf die politische Wirksamkeit dieses ›zweiten Todes‹ über die Toten hinaus aufmerksam machen. Denn mit dem Zugriff auf die Leichen hat sich die symbolische Tötung keineswegs erschöpft; vielmehr ist damit überhaupt erst die Möglichkeit entstanden, zu töten, ohne ein Verbrechen zu begehen, d. h. die Möglichkeit, Tote zu produzieren: Wenn allein die Existenz des Rechtssubjekts den Maßstab für ein mögliches Verbrechen abgibt, läßt sich das eine mit dem anderen fortschaffen: Wir haben es hier mit einem ganz neuen Verbrechenstypus zu tun, der – partiell – die Kategorie des Verbrechens selbst abschafft. Voraussetzung jenes ›zweiten Todes‹ am Ort der Gesetze selbst war die juristische Etablierung des toten Körpers als körperlicher Gegenstand bzw. vernunftlose Sache. Das Reichsgericht verhandelte 1930 nicht zum erstenmal darüber, »ob an einem menschlichen Leichnam durch unbefugte Leichenöffnung eine Sachbeschädigung begangen werden kann.«34 Mit der

34. B. Stentenbach: Schutz der Leiche, S. 33. Die Bezeichnung ›unbefugt‹, die selbstredend den Tatbestand einer möglichen Befugnis unterstellt, verweist auf eine Sonderregelung, die für den institutionellen Zugriff auf den Leichnam gilt. Vgl. Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom Jahre 1871, § 168: »Wer unbefugt eine Leiche aus dem Gewahrsam der dazu berechtigten Personen wegnimmt, in gleichen wer unbefugt ein Grab zerstört oder beschädigt oder wer an einem Grabe beschimpfenden Unfug verübt, wird mit Gefängnis bis zu 2 Jahren bestraft. Auch kann der Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden« (zit. nach H. Hegemann: Leichnam, S. 47). »Es ist der Fall denkbar, daß eine Leiche in Niemandes Gewahrsam steht, z. B. eine Leiche, die im Walde oder auf der Strasse liegt, oder die der Fluß mit sich führt. An einer solchen ist, weil sie in Niemandes Gewahrsam steht, das Verbrechen des 235

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heute gültigen Entscheidung, den Leichnam zu den Sachen zu zählen, wurde die prinzipielle Schutz- und Rechtlosigkeit – nicht des Toten (dessen nachwirkendem Persönlichkeitsrecht noch Relevanz zukommt), sondern des toten Körpers legitimiert. Diese Differenz ist entscheidend: Es geht um ein Verhältnis zum anderen, sofern er ›nur Körper‹ sei, um ihn vom Menschen ›selbst‹ abzukoppeln. Das Argument, daß keine Verletzung vorliegt, »wenn das Gut überhaupt nicht verletzt werden kann, mangels realer Existenz, wie das beim eigenen Leichnam der Fall ist«35, zeigt eine äußerst effiziente Strategie: Eine Verletzung des Körpers kann für nichtig erklärt werden, indem der Körper für nichtig erklärt wird. Wenn die Klassifizierung des Körpers als tot oder lebend das entscheidende Kriterium dafür ist, ob er gegen Verletzung in fremdem Interesse prinzipiell geschützt ist oder nicht, wird sich der öffentliche Kampf um den Körper des Anderen am Ort der Definitionen abspielen. »Für das bürgerliche Gesetz gibt es auf der Welt nur Personen und Sachen, und Person ist der Leichnam sicherlich nicht.«36 Über diese Zweiteilung des Menschen in die ›körperliche Sache‹ und die ›Persönlichkeit‹ hat das Recht Wege eröffnet, nach denen die Körperverletzung vom Tatbestand der Körperverletzung ausgenommen und erlaubt werden kann. In diesem Zusammenhang ist es zu verstehen, daß sich die Frage, ob man die Leiche medizinisch verwerten darf, heute dahin verschoben hat, ab wann und unter welchen Bedingungen man den Menschen als Toten ansehen und seinen Körper explantieren darf, sprich: wie der Zugriff auf Todkranke und Sterbende durch die Umdefinition von Todesgrenzen legitimiert werden kann. »Dem Empfänger nützt jedoch nur ein lebend übertragenes Organ. Deshalb soll der Tod

§ 168 StGB natürlich nicht möglich. Die Wegnahme einer solchen Leiche bleibt straflos« (ebd., S. 48). Interessant ist die Beurteilung von Schießversuchen an der Leiche durch das Militär oder in gerichtlichem Auftrag: »Solche Versuche sind notwendig im Interesse der Wissenschaft und im Interesse des Heeres, da aus ihnen sowohl die Chirurgie als auch die Wehrindustrie ihren Nutzen zieht, und die Wirkung kleinkalibriger Geschosse nicht anders zu studieren ist« (ebd., S. 51). Auch die »Wegnahme einer Leiche aus dem Gewahrsam einer nicht zum Gewahrsam berechtigten Person« (ebd., S. 49) sowie ihre »Zerstückelung«, Beleidigung oder Nekrophilie bleiben straflos, sofern die Delikte von jemandem begangen werden, der gewahrsamsberechtigt ist. Zusammengefaßt heißt dies: Wer das Verbrechen verübt, entscheidet darüber, ob es ein Verbrechen ist oder nicht. M.a.W.: »[E]ine im Besitz einer Autonomie befindliche Leiche wird strafrechtlich schutzlos« (K. Johnson: Leiche im Privatrecht, S. 17). 35. Gubert Griot: Das Recht am eigenen Körper, Sarnen 1921, S. 49. 36. v. Schwerim: »Das Recht am Leichnam«, zit. nach R. Heimendahl: Recht am Leichnam, S, 29. 236

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des Spenders möglichst früh festgestellt werden.«37 Hirntote Patienten, die als Organträger von Interesse sind, können – bei vorliegender Einwilligungserklärung oder Zustimmung der Angehörigen – über ein autonomes Subjektkonzept zur zerbrochenen leiblich-seelischen Einheit erklärt werden, weil mit der ›Personalität‹, die im Hirn lokalisiert wird, die Grundlage dafür fehlen soll, als Mensch zu gelten. Genau dazu dient die Kategorie des Geschlechts, genauer: die Kategorie des Menschengeschlechts. Ausgehend von einer quasi-naturgesetzlichen Setzung, was das Charakteristische des Menschen ausmacht und was umgekehrt ohne ethische Relevanz sei – als dies ›ethisch Irrelevante‹ gilt heute der reine ›Körper‹ –, kann die Zugehörigkeit zum Menschengeschlecht bestritten werden. Damit wurde unterderhand die Voraussetzung dafür geschaffen, das ›Recht, Rechte zu haben‹ immer mehr Menschen abzusprechen, indem sie außerhalb des Menschengeschlechts situiert werden. Die Todesdefinition trifft das Fundament aller übrigen Rechte: die Rechtsfähigkeit selbst. Aber in dem Sprachakt, der sich zwischen Gesetz und Medizin abspielt, wird nicht nur der Mensch als Bedingung seiner Rechte vorausgesetzt, sondern auch festgelegt, was überhaupt als Mensch gilt. Das Hirntod-Konzept postuliert, daß ohne meßbare Hirnfunktion nur übrigbleibt, was der lebende Körper des Menschen, aber nicht Mensch genug sei, weil es nur lebt. Der lebende Körper wird in einem Zuge zum Lebensrest und Nicht-Menschen erklärt, zu dem, was nur lebt und – hier verkehrt sich die Argumentation nochmals – darum nicht lebt: weil mit dem »Ende des Menschen das Ende des Lebens gekommen ist.«38 Der Satz ist gefährlich, denn zuvor ist der Mensch umdefiniert worden. Was nach dem Gedankenspiel ohne ›leiblich-geistige Einheit‹ sei, soll mehr als nichtswürdig: gar nicht existent sein. Was am Subjekt anderes als die Gehirnleistung ist, gerät auf das ›freie‹ Feld jenseits von Schrift, Verantwortung, Gesetz. Damit ist die Leiblichkeit vollends in der Verleugnung aufgegangen. Eine Leiblichkeit des Sub-

37. Heinz Angstwurm: »Sichere Feststellung des Todes vor der Organspende«, in: Elke Dietrich (Hg.), Organspende. Organtransplantation. Indikationen – Technik – Resultate. Ein Report des Machbaren Percha 1985, S. 15–29, hier S. 15. »Auch der Gesetzentwurf der Bundesregierung hat ja nie verhehlt, daß mit einem (Transplantations-) Gesetz nicht nur die nötige Rechtssicherheit geschaffen, sondern auch eine möglichst große Anzahl von Transplantaten verfügbar gemacht werden sollte« (Hans-Ludwig Schreiber / Gabriele Wolfslast: »Rechtsfragen der Transplantation«, in: Elke Dietrich (Hg.), Organspende. Organtransplantation. Indikationen – Technik – Resultate. Ein Report des Machbaren, Percha 1985, S. 33–63, hier S. 35). 38. SV Prof. Dr. Link, in: Bundestags-Ausschuß für Gesundheit, Bundestags-Drucksache 13 / 8017, S. 36. 237

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jekts, die man noch verleugnen könnte, hat es in dieser zerebralen Logik nie gegeben. Dies geht so weit, daß die Abspaltung selbst für unnötig erklärt wird: »Da mit Eintritt des Hirntodes das Gehirn nicht mehr gegeben ist, kann ich das Verbleibende dann auch nicht mehr teilen. Nach Eintritt des Hirntodes bleibt nur noch der Körper des Menschen übrig und nicht der Mensch selber. Deswegen läßt dies nach meiner Ansicht nur den Schluß zu, daß mit Eintritt des Gesamthirntodes – unabhängig davon, ob dieser Gesamthirntod überhaupt diagnostiziert wird – das Ende des Menschen, das Ende des Lebens gekommen ist.«39 Der Mensch ohne nachweisbare Gehirnfunktion ist durch eine sprachliche Operation zum Nichtmenschen geworden, er wird nicht mehr für ›lebensunwert‹ erklärt, sondern als ›tot‹ diagnostiziert: »Ein hirntoter Mensch braucht demgegenüber nicht für tot erklärt zu werden, denn er ist tot.«40 Dies ist ein unerhörter Satz.41 Juristisch gilt heute: »Der Gesetzgeber hat den Todeszeitpunkt als medizinisch naturwissenschaftlich feststehend angesehen und folglich als nicht regelungsbedürftig erachtet. Richtig ist, daß Definitionen bzw. Festlegungen bei der raschen Entwicklung der Medizin und ihrer diagnostischen Methoden möglicherweise schnell überholt wären. Die Festlegung des Todeszeitpunktes wird sich demnach nach dem jeweiligen Erkenntnisstand der Medizin zu richten haben.«42

39. Ebd. 40. H. Angstwurm: »Feststellung des Todes«, S. 25. 41. Zum Einfluß des angemeldeten Bedarfs an Organen auf die Begründung und Entwicklung der Hirntoddefinition vgl. Johannes Hoff und Jürgen in der Schmitten: »Kritik der ›Hirntod‹-Konzeption. Plädoyer für ein menschenwürdiges Todeskriterium«, in: dies. (Hg.), Wann ist der Mensch tot? Organverpflanzung und ›Hirntod‹-Kriterium, Reinbek 1995, S. 153–224, bes. S. 153 ff. 42. B. Stentenbach: Schutz der Leiche, S. 22. Kritiker haben darauf hingewiesen, daß jede Aussage über den Zeitpunkt des Todes abhängig ist vom Menschenbild und Todesverständnis, denn die Todesdefinition findet am Ort ihrer kulturellen Voraussetzungen statt, die explizit nichtmedizinisch und in keiner Hinsicht neutral sind. Die Todesdiagnose ist der Frage, was Tod überhaupt sei bzw. was stirbt, unweigerlich nachgeordnet. Diese Logik hat die Medizin umgekehrt, indem sie die Todeskriterien als diagnostischen Befund ausgibt. Das Paradigma, das nicht nur den Todeszeitpunkt, sondern auch die Todeskriterien bloß festzustellen behauptet, ist nicht ungefährlich. Es überläßt der Medizin neben der unbestrittenen Zuständigkeit für die Todesdiagnose die Bestimmung dessen, was den Menschen als Menschen ausmacht. Was sich nicht konsensfähig definieren läßt, sucht die Medizin biologisch zu determinieren. Die neue Todesbehauptung ›diagnostiziert‹ beim Ausfall meßbarer Hirnleistungen als angeblichem Äquivalent der ›Persönlichkeit‹ den Tod dessen, was am 238

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Damit enthält sich das Recht nur formal: Tatsächlich legt die neutrale Haltung schon eine Medizinsemiotik zugrunde, die obszön ist, weil ihr Gesetz angeblich ohne Gesetzgebung auftritt; sie projiziert ihren Grund ins Innere der Sache selbst: in die ›Natur‹ des Todes. Genau dies mündet in die Definition des Todes als Hirntod, verstanden als »der vollständige und irreversible Zusammenbruch der Gesamtfunktion des Gehirns bei noch aufrechterhaltener Kreislauffunktion im übrigen Körper.«43 Entscheidend ist die damit verbundene normative Setzung, die am lebenden Körper den Tod des Menschen erklärt: »Der Hirntod ist der Tod des Menschen.«44 Die Existenz des Anderen zu leugnen ist vielleicht das weitreichendste Wahrheitsproblem, das sich kreieren läßt. Jene Logik tritt mit dem Anspruch auf ein absolutes Wissen an, das jederzeit revidiert und neugefaßt werden kann. Es ist dies eine Strategie der doppelten Verleugnung. Nachdem das Menschenrecht erst aus dem politischen Feld in den Bereich der Medizin überführt worden ist, ist die Macht, die sich als Naturgesetz ausgibt, dem Raum des Politischen offiziell entzogen. Es geht mit anderen Worten um die Möglichkeit, zu töten, weil es nicht mehr töten heißt. Nach dem Zugriff auf Hirntote wird um die nächste Übertretung gerungen – um die Toterklärung anenzephaler Säuglinge »als von Anfang an

Menschen das Menscheneigentliche sei. Genau dies charakterisiert die Behauptung, »daß der Hirntod eigentlich das zuverlässigste Kriterium des Todes ist« (Prof. Dr. Link, in: Bundestags-Ausschuß für Gesundheit, Bundestags-Drucksache 13 / 8017, S. 38). Aber jene Setzung verbirgt äußerst wirksam, daß sie eine Neudefiniton des Menschenbildes vornimmt, die für eine bestimmte Patientengruppe erwünschtermaßen die Geltung der Menschenrechte suspendiert. Man kann dies auch so ausdrükken: »Sollte die Definition des Begriffs ›Leiche‹ einen Zustand betreffen, der eigentlich noch ein Zustand des Sterbens – und damit des Lebens ist, wäre der Schutz der Persönlichkeitsrechte, insbesondere aber der Schutz des Rechts auf Leben, zu Unrecht verkürzt« (R. Beckmann, S. 219). Dies ist eine vorsichtige Umschreibung der Tatsache, daß das Recht sich nicht sicher ist, ob es mit dem Transplantationsgesetz nicht gerade die zwangsweise Hinauszögerung des Todes bis hin zur aktiven Todesherbeiführung legitimiert hat. »Es ist schon ein eminenter Unterschied, ob Tötungsbzw. Körperverletzungsdelikte zur Debatte stehen oder lediglich eine Störung der Totenruhe. Die vornehmliche Frage für die Transplantationsmedizin ist demnach nicht, ob man den Patienten sterben lassen darf, sondern ob er bereits tot ist, ehe der Eingriff beginnt« (B. Stentenbach: Schutz der Leiche, S. 25). 43. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer: »Kriterien des Hirntodes. Entscheidungshilfen zur Feststellung des Hirntodes«, in: Deutsches Ärzteblatt 79 (1982), Nr. 14, Ausg. A / B, S. 45–55, hier S. 45. 44. Ebd. 239

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totem Wesen andererseits, als Mißmensch, als Un-Mensch.«45 »Anenzephal« heißt wörtlich »hirnlos«. Diese Bezeichnung ist nicht korrekt. »Nahezu bei allen anenzephalen Kindern finden sich Anteile von Gehirn, die allerdings in der Regel erheblich mißgebildet sind«46, mit der Konsequenz: »›they need not be accorded any special respect‹.«47 Das Krankheitsbild ist disparat: Die Gemeinsamkeit wird häufig so ausgedrückt, daß Anenzephale »nicht (über)lebensfähig«48 seien. »Der An-

45. »Die alte Terminologie nannte dies ein Monstrum, nach Luther eine ›massa carnis‹, der Zeithistoriker erinnert sich der entsprechenden Definitionen in der Nachfolge der Euthanasiediskussionen der Weimarer Republik (Hoche / Bindung) und nach dem Zweiten Weltkrieg (Werner Catel)« (Eduard Seidler: »Anenzephalus als Organspender: Ethische Frage«, in: Hans-Dieter Hiersche / Günter Hirsch / Toni Graf-Baumann [Hg.], Rechtliche Fragen der Organtransplantation [3. Einbecker Workshop der Deutschen Gesellschaft für Medizinrecht, 25. / 26.6.1988], Berlin 1990, S. 113–117, hier S. 114). 46. V. v. Loewenich: »Definition«, in: Hiersche / Hirsch / Graf-Baumann (Hg.), Rechtliche Fragen, S. 106–112, hier S. 106. »Man weiß, daß diese nie eine Hirnfunktion entwickeln werden. Hier gibt es überhaupt kein Risiko in der Prädikation, daß sich kein Hirngewebe entwickeln wird. Anenzephale können keine persönlichkeitsbezogene Funktion ausüben, auch nicht für einen kurzen Zeitraum. Natürlich ist das sozusagen der Zwischenraum auf einer Linie. Beim Hirntod des Erwachsenen nähert man sich von der einen Seite: man weiß, daß es ein funktionierendes Hirn gab, und man kann nicht voraussagen, inwieweit es sich wieder erholt. […] Auf der anderen Seite handelt es sich um einen Organismus, der nie denken und nie diese Funktion ausüben wird. Bei dem, was ich in bezug auf Erwachsene gesagt habe, nenne ich jenen ›Zwischenraum‹ [zwischen Leben und Tod] ›Leben‹, während ich ihn in letzterem Falle auch ›Tod‹ nennen könnte« (Redebeitrag Götze, in: Hiersche / Hirsch / Graf-Baumann [Hg.], Rechtliche Fragen, Diskussion 3, S. 123). 47. H.T. Engelhardt: The foundation of bioethics, zit. nach E. Seidler: »Anenzephalus«, S. 114. Seit den 1960er Jahren wird versucht, anenzephale Säuglinge als Organspender zu ›nutzen‹. In etlichen Fällen geschah dies ohne gesetzliche Basis, in der Bundesrepublik in drei Fällen 1985 in Münster. 1991 gab es einen erneuten Vorstoß der Transplantationsmedizin bei der Bundesärztekammer, das Todeskriterium für Anenzephale zu ›lockern‹, den der Wissenschaftliche Beirat zurückwies. Damit ist die Debatte keinesfalls beendet. International wird diskutiert, ob bzw. wie man die ›ethischen‹ Grundlagen dafür schaffen kann, Anenzephale legal als Organspender zu verwerten. In den USA entschied jüngst die American Medical Association, trotz Beschränkung durch das geltende Ganzhirntodkriterium auch Anenzephale als Organspender zuzulassen, mit einem Konglomerat an Begründungen: ihnen fehle die Lebensperspektive, die Organspende entlaste die Angehörigen und gebe dem Sterben einen Sinn. 48. Günter Hirsch: »Anenzephalus als Organspender«, in: Hiersche / Hirsch / Graf-Baumann (Hg.), Rechtliche Fragen, S. 118–121, hier S. 120. 240

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enzephalus ist kein Hirntoter, sondern ein Moriturus, ein demnächst Sterbender, mit einem schwer mißgebildeten Gehirn.«49 »Ein Überleben gibt es nie«50 – eine Prognose, die genaugenommen für jeden gilt. Anenzephale können Stunden, Wochen, Monaten und in Einzelfällen Jahre leben, die Kinder können schreien, mitunter wimmern, schlukken, saugen, mit Armen und Beinen zappeln. »Selbst die Kennzeichnung der Anenzephalie als eine Schädigung, die zur Folge hat, daß dieses Wesen unmittelbar nach der Geburt ›zugrunde geht‹, ist keinesfalls unbestritten.«51 Hier gilt es, die Logik zu bemerken, daß Mediziner anfangen, die prognostizierte Lebensunfähigkeit zum Merkmal des bereits eingetretenen Todes zu erheben.52 Mit dem Ziel eines einheitlichen Krankheitsbildes wird ein Todeskriterium hergeleitet, das beansprucht, vorausblickend zu wissen, ob ein Säugling lebensfähig sein wird oder nicht, um ihn rückwirkend für tot zu erklären und zu explantieren. Säuglinge mit der Diagnose Anenzephalie wurden bezeichnet als Sonderfall der Natur, der »im rechtlichen Sinne ›keine Leibesfrucht‹ sei, [so] daß die Schwangere nicht gezwungen sei, dieses ›Wesen‹ weiter

49. V. v. Loewenich: »Definition«, in: Hiersche / Hirsch / Graf-Baumann (Hg.), Rechtliche Fragen, S. 111. 50. Ebd. 51. Ebd., S. 119. 52. So relativiert der Jurist B. Jähnke seine Position als Befürworter der Explantation Anenzephaler mit folgendem Argument: »Aber es geht darum, was ein Anenzephalus ist, und hier sind die Verfasser der Meinung, anenzephal seien auch solche Kinder, die bis zu 3,5 Jahren außerhalb des Mutterleibes existieren können. Wenn man das darunter faßt, braucht man sich nicht weiter zu unterhalten. Selbstverständlich sind das lebende Menschen, und man kann sie nicht als Transplantatspender benutzen. Ich habe mich bei meiner damaligen Meinungsbildung, die in erster Linie auf die Probleme des Schwangerschaftsabbruchs zugeschnitten war, auch auf eine andere Definition gestützt, nämlich auf die, die Beller (1980) gegeben hat in Geburtshilfe und Frauenheilkunde (›Fragen zur Bioethik‹). Herr Prof. Seidler hat sie zitiert. Beller hat dort gesagt (für mich ganz entscheidend): ›Es ist bekannt, daß Feten mit Anenzephalien nur in sehr seltenen Fällen die ersten 2 Stunden nach der Geburt überleben. Dies ist medizinisch auch verständlich, da die für das Leben entscheidenden Teile des Cerebrums fehlen. Bei denjenigen Feten, die überlebt haben, kann unterstellt werden, daß es sich definitionsgemäß nicht um Anenzephale gehandelt hat, sondern um Defektanlagen unterschiedlichen Ausmaßes‹« (Redebeitrag Jähnke, in: Hiersche / Hirch / Graf-Baumann [Hg.], Rechtliche Fragen, Diskussion 3, S. 122 f.). In dieser Definition wird rückblickend die Überlebensdauer zum Kriterium dafür, ob der Säugling ein ›Anenzephalus‹ sei oder nicht: 3,5 Jahre ja, bis 2 Stunden nicht. Es geht um Fälle, wo die Todesdiagnose die Erfüllung der ›Lebenserwartung‹ nicht abwartet, sondern sie prognostiziert, um sie gegebenenfalls aktiv zu beeinflussen. 241

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auszutragen«, bis zu dem Schluß, »daß es sich um eine ›nur scheinbar bestehende Schwangerschaft‹ handele.«53 »Im Grunde sind wir da gefangen in einer Gesetzgebung, die etwas nicht abdeckt, was zur Zeit der Gesetzgebung noch nicht realisiert wurde, nämlich die Frage: Was ist Sinn und Zweck einer Schwangerschaft? Sinn und Zweck einer Schwangerschaft ist allemal das Entstehen oder das Geborenwerden eines gesunden Kindes. Das ist in diesem Falle nicht gegeben. Es wird kein gesundes, lebensfähiges Kind geboren werden. Damit ist aber im Grunde der ganze Sinn und Zweck der Schwangerschaft – wenn man das mal so nennen darf – dahin. Man muß sich dann fragen, ob hier diese Gesetzgebung überhaupt noch greift. Das ist vielleicht das chaotische Denken des Mediziners, das die Juristen erschrekken wird, aber mich würde interessieren, wie man das sieht.«54 Dies entspricht einem Postulat, das Anfang und Ende menschlichen Lebens als »endings und beginnings of persons« setzt: »[O]nly persons have moral problems and moral obligations.«55 Das Personenkonzept rekurriert generell auf die Fähigkeit, »Handlungen in normalem Zustand nach bewußter Willenstätigkeit einzurichten.«56 Die Persönlichkeit sei »gekoppelt an die Hirnleistungen Intelligibilität und Kommunikationsfähigkeit, die der Anenzephale nie wird erbringen können.«57 Nicht zufällig verbündet sich diese Logik mit dem Ausschluß des Unbewußten. Der Versuch, »den Zustand der Anenzephalie zum Zustand des

53. B. Jähnke: Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, zit. nach E. Seidler, »Anenzephalus«, S. 114; Redebeitrag v. Loewenich, in: Hiersche / Hirsch / Graf-Baumann (Hg.), Rechtliche Fragen, Diskussion 3, S. 126. 54. Redebeitrag v. Loewenich, in: Hiersche / Hirsch / Graf-Baumann (Hg.), Rechtliche Fragen, Diskussion 3, S. 126. 55. Engelhardt, zit. nach E. Seidler: »Anenzephalus«, S. 114. 56. K. Johnson: Leiche im Privatrecht, S. 13. 57. E. Seidler: »Anenzephalus«, S. 114. Seidler paraphrasiert Argumente aus der amerikanischen Diskussion. Zynischerweise mündet die Frage »Allowing anencephalis to die?«, die Frage nach dem Recht auf Behandlungsabbruch, in die Erlaubnis, Säuglinge vorerst nicht sterben zu lassen, sondern sie nach der Geburt zunächst ›ans Leben anzuschließen‹ »Für die Organentnahme müssen bei Anenzephalen sofort nach der Geburt funktionserhaltende Maßnahmen ergriffen und später abgebrochen werden. In den Fällen (rund 30 Prozent), in denen der Anenzephale Stammhirnfunktionen zeigt, wären dies ›lebenserhaltende‹ Maßnahmen, im anderen Fall würde er gewissermaßen maschinell ans Leben angeschlossen. Ohne Explantationsabsicht wären diese Maßnahmen kontraindiziert. Bei erhaltener Stammhirnfunktion hat man darüber hinaus Erwägungen angestellt, die ethisch höchst sensibel sind: ob und wie der totale Hirntod herbeizuführen ist bzw. ob diese durch aggressive Hydration oder Unterkühlung ethisch vertretbarer ist, als durch die Organentnahme selbst« (E. Seidler: »Anenzephalus«, S. 115 f.). 242

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Todes zu erklären, als von Anfang an totem Wesen andererseits, also als Mißmensch, als Un-Mensch«, argumentiert damit, daß man bei diesen hirngeschädigten Säuglingen »von einem unbewußten Lebewesen der Spezies Mensch« sprechen muß. Das unbewußte Lebewesen erhält den Status des Toten: »[…] ein Zustand ohne Hirnfunktion am Ende des Lebens bedeutet unserer Auffassung nach, daß der Mensch gelebt hat, am Beginn des Lebens [sic!] bedeutet sie dagegen, daß er nie gelebt hat.«58 Die Behauptung, daß sich am lebenden Körper die Nicht-Existenz des Menschen als Mensch verifizieren läßt, muß einem zu denken geben. Die Brisanz ersteht aus der Macht, die Medizinern überlassen ist, mit der Krankheit des Anderen den Anderen selbst zu definieren. Eine Logik, die ›Un-Menschen‹ kreiert, praktiziert eine Politik der Vernichtung, mit Lyotard gesprochen »eine ›Politik‹ des vergessenen, des absoluten Vergessens.«59 Aber vergessen werden kann nur, was sich ins Symbolische einschreiben konnte; dagegen ist ein Gesetz, das den Anderen ungeschehen macht, das minimalste und weitgehendste Verbrechen, das sich ereignen kann, weil es das Zeugnis selbst vernichtet. Das Verbrechen findet auf der Ebene des Diskurses gar nicht statt, weil Wissenschaftler seine Spur nicht nachträglich, sondern vorsorglich beiseite schaffen. »Man kann auch noch weitergehen und die gezielte Verhinderung der Neuralrohrfusion zum Zwecke der Erzeugung von Anenzephalen ins Auge fassen.«60

Die Produktion von Toten: Inzest als ästhetisches Prinzip Mit der gezielten Herstellung von Toten stellt sich weiter die Frage, wie sich jener Akt zwischen Recht und Medizin als Verhältnis zum Gesetz und ästhetisches Prinzip lesen läßt. Das Bündnis aus Gesetz und ›Naturgesetz‹ produziert eine Fiktion, deren Ziel es ist, sich zu bewahrheiten; es mündet in einen Akt, der zerstört, aber auf dem Wege der Kreation. Lacan sagt, die letzte Weise, das Reale zu vernichten, sei seine Produktion, aber die entscheidenden Produktionen finden heute am Totenbett statt. Indem als tot gilt, was ›nur‹ lebt, wird nicht der Tod ›selbst‹, aber der Tod des Menschen und das Leben ›als solches‹, im Überflüssigen, Üppigen und Unentscheidbaren gefunden: in der Produktivität lebend-toter Körperobjekte. Als Nebeneffekt der medizini-

58. E. Seidler: »Anenzephalus«, S. 113 f. Seidler paraphrasiert bzw. zitiert hier z. T. nicht namentlich ausgewiesene Texte aus der internationalen Embryonenforschung, aus Medizinphilosophie und Medizinrecht, so von Beller, Engelhardt u. Fletcher. 59. Jean-François Lyotard: Heidegger und »die Juden«, hg. v. Peter Engelmann, Wien 1988, S. 36 ff. 60. E. Seidler: »Anenzephalus«, S. 115. 243

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schen Operation wird hier m. E. nichts anderes geprobt als die Herstellung neuer Medien: Es geht um die Fabrikation quasi-menschlicher Produktionsquellen, deren Körper als Informationsträger gedeutet und wie Texte verarbeitet werden können, während ihre Schutzwürdigkeit genau dort enden soll, wo ihr Informations- und Materialwert ›nackt‹ in Erscheinung tritt. Was ist ein Körper, wenn wie im Fall pluripotenter Zellen aus Fötalgewebe das Ding zugleich als Körperteil eines werdenden Kindes, als ethisch bedeutungsloses Material, als pure Lebensinformation und als nackte Form bestimmt werden kann, die wie eine Graphik ausgeschnitten, verarbeitet, in andere ›Körpertexte‹ hineinmontiert und verschoben wird? Dabei sind diese nacktesten aller Körper vielleicht auch nur eine Übersetzung des Witzes von der Frau, die unter ihrem Kleid nackt ist. Allein die Qualität des ›Nackten‹, die frappierende Eigenschaft, buchstäblich von aller Bedeutsamkeit entblößt zu sein, erlaubt es, daß man jene Körper nach allen Mitteln der Kunst decodieren und anfassen, zerstören und neu zusammensetzen darf. Schließlich kann man den Leib noch des Kopfs entkleiden, weil mit der Produktion von kopflosen Tier-Embryonen in Aussicht steht, daß sich die gentechnische Herstellung von Organismen ohne Gehirn und Zentralnervensystem auch für den Menschen entwickeln läßt. »Mit der Produktion von kopflosen Embryos ließen sich aus eigenem Gewebe Organbanken schaffen, aus denen der Transplantationschirurg schöpfen könnte, ohne das Gesetz zu verletzen. So ließe sich das Verbot der Embryonenforschung umgehen. Denn wo kein Kopf, da auch kein Mensch und kein Embryo, der die Menschenwürde tragen kann. Da wäre vom Gesetz nichts Menschliches zu schützen.«61 Antonin Artaud würde sagen, es ist dem Menschen gelungen, »die Menschheit wie gegenwärtig zu tetanisieren und kopflos zu machen«62, indem Wissenschaftler nur »den Schalter umstellen«.63 Das Argument, daß es kein Ethik-Problem gibt, weil es sich bei den ›embryonalen Säkken‹ ohne Kopf und Großhirn nicht um Menschen handelt, produziert, was nicht ›wie ich‹ ist, nachdem man es erfolgreich außer Schutzwürdigkeit gestellt hat, um es zu mißbrauchen. Wie läßt sich dies auf die Struktur des Inzests rückbeziehen?

61. Claus Koch: »Das Individuum als Bio-Kapitalist«, in: Die Tageszeitung vom 25. / 26.10.1997, S. 12. So dient dem Hirntodkonzept der dekapitierte Frosch, der bei Rückenmarksreizung nur noch Bewegungen ausführt, zur besseren Anschaulichkeit. Man soll sich den Hirntod vorstellen als ›innere Enthauptung‹. 62. Antonin Artaud: Schluß mit dem Gottesgericht. Das Theater der Grausamkeit. Letzte Schriften zum Theater, München 1993, S. 27. 63. Renée Krebs-Rüb: »Warum Wissenschaft nicht alles darf«, in: Die Tageszeitung vom 31.10.1997, S. 12. 244

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In der Psychoanalyse Lacans erhält der Name-des-Vaters die Funktion, die dem Dritten im Begehren der Mutter zufällt. Er wird dem Kind zur Figur, in dessen Namen eine Mutter sich vom Einzigen ab- und einem Anderen zuwendet. Es ist diese Ersetzung eines Signifikanten durch andere, die das Wirken der Metapher ermöglicht: die Anerkennung dessen, daß nicht alles möglich ist, daß etwas – und dies kann man im Sinne der Struktur ›Inzest‹ nennen – unmöglich ist. Die ›symbolische Kastration‹ bedeutet, daß die Position des Nicht-Alles zugleich begehrt und verhaßt ist. Die väterliche Metapher wirkt als enttäuschende Instanz, welche die imaginäre Dimension begrenzt und unterhält. Das Inzestverbot verbürgt den Mangel im Symbolischen, weil es die Absicht auf das Ding als höchstes, verbotenes Gut aufrechterhält. Lacan schreibt: »So kommen wir zu der Formel, daß, um zu diesem Genuß zu gelangen, eine Übertretung notwendig ist und daß das Gesetz genau dazu dient. […] Die Übertretung auf den Genuß hin geschieht allein, indem sie sich auf das entgegengesetzte Prinzip stützt, auf die Formen des Gesetzes.«64 Tatsächlich aber geht es hier noch um etwas anderes, um eine Möglichkeit, an den Genuß zu kommen, die sich zwar auf das Gesetz stützt, aber um es von innen her unwirksam zu machen. Denn das ›Grundrecht‹ des Menschen hat sich mit der Erfindung des reinen Körpers, der tot ist, weil er ›nur‹ lebt, eine Logik implantiert, um sich von sich selbst zu befreien. Es sabotiert sich selbst, indem es nicht das Recht auf Schutz, sondern die Menschen, die es schützen soll, abschafft. Entsprechend tritt die Logik des Naturgesetzes mit dem Anspruch auf ein absolutes Wissen an, das jederzeit revidiert und neu gefaßt werden kann: Daß dem Gesetz seine eigene Gesetzlosigkeit innewohnt, schließt nicht aus, daß jene ›morsche Stelle‹ politisch instrumentalisiert wird. Wenn nur das wirklich lebt, was ›vollgültig‹ als Mensch gilt; wenn die Erfindung von wirklichen Leichen und Anatomieleichen, Toten und Hirntoten, Embryos und embryonalen Säcken, wirklichen Menschen und non-human-beings – wenn die ›Naturgesetze‹ im Realen wiederkehren, dann heißt das: die politischen Möglichkeiten des Gesetzes sind in Wirklichkeit unbegrenzt. Genau in diesem Sinne ließe sich Lacans Aussage verstehen, daß der Signifikant nicht nur erfinderisch, sondern kreationistisch ist bis »zur direkten Zerstörung«.65 Die Logik eines Programms, das »den Schalter umstellt«, um Lebewesen den Kopf, das Großhirn und das Recht zu nehmen, Rechte zu haben, besteht darin, Objekte der Rechtlosigkeit, die ökonomisch begehrt sind, aktiv zu erzeugen. Wo nichts unmöglich ist, ist alles mög-

64. J. Lacan: Ethik, S. 215. 65. Ebd., S. 256. 245

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lich – so lautet Lacans Formel für die Übertretung. Jede Übertretung, die weder legal noch illegal, aber möglich war, hat sich im rechtsfreien Raum erst nachhaltig etabliert. Die Praxis, Lebewesen in nichts als ›Körper‹ zu verwandeln, stützt sich auf ein Gebot, das nur das zu schützen in Betracht zieht, was als Dasselbe erkannt wird. Wie Lacan sagt, erweist sich im Humanismus ›Desselben‹ das Ungenügen einer Ethik, die nur zurückschreckt, »gegen das Bild des anderen zu freveln, weil es das Bild ist, nach dem wir uns als Ich geformt haben.«66 »Das ist ohne Zweifel der gemeinsame Nenner für die Achtung bestimmter Rechte, die, ich weiß nicht warum, Grundrechte genannt werden, zumal das ja auch die Form annehmen kann, daß aus ihnen alles ausgegrenzt und von ihrem Schutz ausgeschlossen werden kann, was sich nicht in ihre Register integrieren läßt.«67 Leben zu produzieren, das sich nicht repräsentieren läßt, heißt weiter, daß die Irrepräsentation der Aktivität bedarf, nämlich der Übersetzung eines Körpers in ›nichts als Text‹. Aber die Sprache, die diesen ›zweiten Tod‹ setzt, tut noch etwas mehr: sie produziert ein Objekt, das sich im Gesetzesdiskurs nicht finden läßt, einen Überschuß des Realen, ein objet petit a: das verbotene Ding als Zentrum des Genießens. Offenbar sind die ›reinen Körper‹ und ›Toten‹ an jenen Ort geraten, den die Symbolisierung als ›Leben in Reinform‹ wie ein letztes Geheimnis erschließt. So gilt der Embryo heute »als das verlockendste Objekt der Natur«.68 Das Fötalgewebe, das als eine Art Lebendzitat einem anderen das pure Leben implantiert, fungiert als »zelluläre Potenz«69, die sich frei verknüpfen läßt wie die sexualisierten Elemente einer Sprache. Weil in der Biologie aber jede Umkombination von Viren, Genen und Zellen, die zur Schöpfung neuer Individuen führt, explizit am Begriff der ›geschlechtlichen Zeugung‹ hängt und ›geschlechtlich‹ heißt, könnte man weiter sagen, die Produktion und Transplantation von ›Leben‹

66. Ebd., S. 236. 67. Ebd. 68. T. Murray, zit. nach Ingrid Schneider: Föten. Der neue medizinische Rohstoff, Frankfurt a. M. 1995, S. 45. 69. Steven Dickman: »Kinder in Kultur. Forscher züchten erstmals menschliche Embryozellen im Labor«, in: Die Zeit vom 25.7.1997, S. 44. 1997 gelang erstmals die Züchtung »pluripotenter menschlicher Zellen, die man acht Wochen alten Feten aus der Körperregion herausschnitt, aus der später die Geschlechtsorgane hervorgehen. Die embryonalen Stammzellen (ES-Zellen) sollen die Eigenschaft haben, daß fast jedes Gewebe aus ihnen gebildet werden kann. In der Kulturschale können so gentechnisch manipulierte Zellen zu Spermien und Eizellen heranreifen, aus denen Organismen entstehen, die die Produktion von gentechnisch veränderten Menschen weit effizienter vorantreiben kann als die Klonierung.« 246

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vollzieht den kontrollierten Geschlechtsakt.70 Jacques Lacan hat nicht nur behauptet, Wissenschaft habe unmittelbar mit Haß zu tun, er hat die menschliche Wunde Lebensneid genannt. Die Wissenschaft, die den Lebens-Stoff zum Agenten ihrer patentierbaren ›geschlechtlichen‹ Zeugung macht, ›schreibt‹ die ›Befreiung‹ vom Geschlecht: »[I]ch bin mein Sohn, / mein Vater, meine Mutter, / und ich selbst.«71 Mit der Verpflanzung eines besonderen Organs, mit der Verpflanzung fötaler Eierstöcke würde der bisher undenkbare Fall möglich, »daß ein nie geborener Fötus zur ›Mutter‹ eines Kindes werden könnte.«72 Rückbezogen auf die juristische Fiktion von der Bedeutungslosigkeit des ›nackten‹ Körpers, ohne welche die gesamte Produktion von Toten in sich zusammenstürzen würde, kann man jetzt sagen: das Beerdigungsproblem birgt vielmehr ein Schöpfungsproblem, das man auch lesen kann als Übersetzungsproblem.

Kreon / Antigone / Polyneikes Damit möchte ich nochmals auf das ›Beerdigungsproblem‹ in der Antigone-Tragödie zurückkommen: auf ein Gesetz für die Toten. Während das bürgerliche Gesetz ein Gesetz der Lebenden und der Vernunft sein will, sind der Traum und die Literatur Gesetzesschriften anderer Art, die mit dem Tod nicht enden – eher noch mit dem Ende unseres Träumens. Aber es ist auffällig, daß Lacan die Ethik nicht wie den Traum vom verbrannten Kind in den Grundbegriffen der Pychoanalyse vom Anspruch jenes Toten, von der verfehlten Begegnung und mißglückten Totenwache, sondern von der Schönheit Antigones aus strukturiert. Warum?

70. Wolfhard Weidel: Virus. Die Geschichte vom geborgten Leben, Göttingen 1957, S. 138: »Der Austausch vollzieht sich bei jeder Art von ›geschlechtlicher‹ Zeugung, die keineswegs stets an die Vereinigung von ›männlich‹ und ›weiblich‹ gebunden ist. Das ist nur als Spezialfall aufzufassen. Vielmehr pflegt man in der Biologie grundsätzlich jeden Vorgang, der eine Umkombination von Genen in neu entstehenden Individuen zur Folge hat, als geschlechtlich zu bezeichnen. Die Natur hat sich damit einen Weg geschaffen, neue Typen zu kreieren, ohne auf das seltene und anscheinend auf keine Weise willkürlich zu provozierende Ereignis einer Mutation warten zu müssen. Diesem nüchternen Zweck dient ihr die ›Liebe‹ in ihren vielfältigen biologischen Ausdrucksformen, und wir sehen mit Erstaunen, daß in diesem Sinne auch Virusteilchen – bloße Stoffe! – der Liebe pflegen.« 71. Antonin Artaud: Ci-gît, zit. nach J. Derrida, »Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation«, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a. M. 1989, S. 378. 72. I. Schneider: Föten, S. 10. 247

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Der Traum, der durch Freud überliefert ist, berichtet vom Unglück eines Vaters, der Tage und Nächte am Bett seines kranken Kindes gewacht hatte, bis schließlich das Leben des Kindes erlosch. Erst als das Kleine gestorben war, versuchte der Vater zu schlafen, aber ließ die Tür zum Zimmer offen, in dem die Leiche des Kindes aufgebahrt war. Dem Kind zur Seite war ein alter Mann zur Totenwache bestellt. Freud berichtet weiter: »Nach einigen Stunden Schlafs träumt der Vater, daß das Kind an seinem Bette steht, ihn am Arme faßt und ihm vorwurfsvoll zuraunt: Vater, siehst du denn nicht, daß ich verbrenne? Er erwacht, merkt einen hellen Lichtschein, der aus dem Leichenzimmer kommt, eilt hin, findet den greisen Wächter eingeschlummert, die Hüllen und einen Arm der teuren Leiche verbrannt durch eine Kerze, die brennend auf sie gefallen war.« 73 Während Freud hier deutet, daß der Vater trotz des Lichts, das er im Schlaf wahrgenommen haben muß, nicht aufwacht, sondern weiterschläft, damit er das Leben seines Kindes um diesen einen Traummoment verlängert weiß, wendet Lacan die Frage dahin, was den Vater erwachen läßt. Es ist eine sonderbare Frage aus dem Munde des Kindes, ein Anspruch, an dem der Vater erwacht. Das Kind kommt und mahnt ein Versäumnis an, das allerdings ungeheuer ist. »Vater, siehst du denn nicht, daß ich verbrenne?« Das Kind berührt den Vater an der Stelle, an der es brennt. Es steckt den Vater mit dem Fieber an, indem es nicht stirbt, ohne den Vater zu mahnen. Einen Kniefall vor der verfehlten Realität nennt Lacan diesen Traum. Aber was für eine Realität ist es, die Lacan hier veranschlagt? Ein klein wenig Realität, ein Geräusch bezeugt erst, daß dies allerdings kein Traum ist, sondern ein Unfall, der sich »vermittels der Realität wiederholt.«74 Lacan weist dem versengten Kinderarm allein eine vermittelnde Funktion zu, vermittels deren sich ein Angstgrund wiederholt, in dem der Vater sein Kind auf immer verfehlt haben wird. Geht es hier ums Nicht-Aufwachen-Wollen wie ums Erwachen-Müssen, hat der Auftritt des Kindes eine Funktion für das Erwachen wie zur Verantwortung. Lacan sagt, das Werden des Subjekts wird ein ›Angerufen-worden‹ sein. Erst indem sich der Vater durch die Frage seines Kindes als Adressat erkennt, wird er zu dem, der diesen Satz, »Vater, siehst Du denn nicht, daß ich verbrenne?« auf sich nimmt und sich als sein Adressat erkennt. »Und was sollte dies bedeu-

73. Sigmund Freud: »Die Traumdeutung«, in: ders., Gesammelte Werke, 2. u. 3. Bd., London 1942, S. 513 f. 74. Jacques Lacan: Das Seminar von Jacques Lacan. Buch XI (1964), Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. v. Norbert Haas, Olten / Freiburg i.Br. 1978, S. 64. 248

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ten, wenn nicht – daß wir es, auf der Seite des Subjekts, mit einem Erwachen zu tun haben.«75 Warum nun zieht Lacan anders als in dieser Traumanalyse den Toten in seiner Antigone-Lektüre gar nicht weiter in Betracht, an dem Antigone aber auch nicht ›erwacht‹, sondern zugrunde geht. Anders gefragt: Wie verhält sich Antigones ›Angerufen-WordenSein‹ durch Polyneikes, das Lacan nicht liest, zu dem, was Lacan als die Schönheit Antigones versteht? – Es gibt in der Tat eine deutliche Differenz zwischen dem Traum und der Antigone-Tragödie: Polyneikes spricht ja nicht. Das unterscheidet ihn von dem lebend-toten Kind, dessen Anklage für Lacan zum Erwachen führt. Dagegen ist es vielmehr Antigone, die nicht nur »mit scharfer Stimme« klagt, sondern auch anklagt: Antigone ist ja selbst »das Kind«. »So wird das Kind gesehn und weinet auf Mit scharfer Stimme, wie ein Vogel trauert Wenn in dem leeren Nest verwaist von Jungen er Das Lager sieht. So sie, da entblößt Erblikt den Todten, jammerte sie laut auf Und fluchte böse Flüche, wers gethan Und bringet Staub mit beiden Händen, schnell Und aus dem wohlgeschlagnen Eisenkruge kränzt Sie dreimal mit Ergießungen den Todten.«76 Antigone ›erwacht‹ auch nicht an Polyneikes, der ja auch gar nicht klagt, denn sie wacht tatsächlich bei ihm, während die bestellten Totenwächter, die sie »Des jezigen und schongesehnen an[klagten]«, beim Toten nur wachen, um seine Bestattung zu verhindern. So sind es gerade die anderen, die falschen Totenwächter, die nicht um Polyneikes wegen bei Polyneikes wachen, welche durch Antigones Klage buchstäblich erwachen. Denn Antigones Klage bleibt für niemand folgenlos: Erst schreckt sie die Totenwächter aus dem Schlaf, die kaum wagen, es Kreon zu berichten, dann zieht ihr Los Ismenes Angebot nach sich, mit ihr in die Gruft zu gehen, was Antigone eisig ablehnt. Bald folgt ihrem eigenen Tod der Selbstmord Hämons, ihres Bräutigams, der sich das Schwert in den Leib stößt, als Antigone schon am Strick in der Gruft hängt, daraufhin tötet sich seine Mutter Eurydice, und am Ende, als Kreon schon die Leiche seines Sohnes in den Armen hält und Eurydice tot weiß, ist er es, der zu sterben verlangt. Allein, Kreon darf noch nicht sterben, so verkündet es der Chor. »Schuldig sind, die leben.«77

75. Ebd., S. 74. 76. F. Hölderlin: Antigonä, S. 222. 77. Ebd., S. 255. 249

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Damit ist noch nichts über die Schönheit Antigones gesagt, außer, daß sie jeden in ihren ansteckenden Abgrund mitzieht: »Ein Schönes, darf nicht berührt werden«78, kann vielleicht auch als Warnung vor Antigone stehen. Aber Antigone geht auch ihrerseits unberührt, ohne Hochzeit, in die Gruft. Ihre Unberührtheit wird von Kreon verewigt. Trotzdem muß man diesen Satz nicht auf Antigones Jungfräulichkeit beziehen, sondern kann ihn auf die Klage hin lesen, die von Antigone ergeht. Denn der gewaltsame Akt, mit dem Antigone die ›Unberührtheit‹ des Leichnams einfordert, der nicht liegengelassen werden darf, ist ja bereits die Geste, mit der Antigone sich für Polyneikes zu ihrem eigenen Tod ins Verhältnis setzt: »[…] doch ihn / Begrab’ ich. Schön ist es hernach, zu sterben. / Lieb werd’ ich bei ihm liegen, bei dem Lieben.«79 Von hier aus, von jener Anrufung des Schönen, das selbst absolut und ›unantastbar‹ wird, läßt sich die Kategorie des Ethischen lesen, die Jacques Lacan mit der Schönheit Antigones assoziiert hat. Lacan bezieht sich hier nicht nur auf Antigones Ansteckungskraft, die das Maß ihrer ungeheuren Blendungsmacht ist, sondern auf den Zusammenbruch des ethischen Gesetzes, das Antigone an erster Stelle an sich selbst vollzieht. Denn Antigone behauptet ihr Gesetz gegen Kreons allein indem sie sich in äußerste Gefahr begibt. Antigone, die nichts aus der Bahn ihres Gesetzes wirft, bringt allein in dieser Maßlosigkeit das Maß auf, das Kreons Vermessenheit übersteigt, während beide Gesetze sich unvereinbar gegenüberstehen. In dem Moment, da Antigone dem politischen Drang zur Berührung des Unantastbaren widersteht, stellt sie den ethischen Akt in die Ordnung des Inzests, da ihr Tun von keinem Dritten, durch keine Liebe, keine Furcht, kein Mitleid, weder für Ismene noch für Hämon, unterbrochen wird. Lacan bezieht sich auf diesen ›zweiten Tod‹, den Antigone sich selbst gibt, aber als Todestrieb, der schon im ethischen Akt am Werk ist. Nicht im Sinne einer Todessehnsucht, für die es allerdings Hinweise gäbe, sondern im Sinne jenes Abgrunds, in den Antigone sich bereitwillig stürzt, während sie alle zurückstößt, alle außer Polyneikes. Denn in dem Moment, als sie auf der Bühne erscheint, schneidet sich Antigone tatsächlich von allen ab, nur von Polyneikes’ Leiche nicht. Das heißt, die Verantwortung Antigones für den Toten entspricht in ihrer Absolutheit und ihrem Exzeß geradezu spiegelbildlich Kreons Gesetz, mit dem entscheidenden Unterschied, daß Antigone sich für Polyneikes den Tod gibt, während Kreon erst durch diese tödliche Konsequenz, d. h. den Tod seiner Nächsten, auf seinen eigenen Todeswunsch geführt wird. Genau diese Differenz zwischen Kreon und Antigone, die Lacan übrigens auch

78. J. Lacan: Ethik, S. 288. 79. F. Hölderlin: Antigonä, S. 208. 250

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von Lévinas unterscheiden würde80, wenn Lévinas den Toten mitgedacht hätte, liest Lacan merkwürdigerweise nicht. Wie Lacan sagt, steht in dieser Tragödie nicht Recht gegen Recht – es geht um ein Unrecht, das weiß nicht nur Antigone. Aber Antigone ist die einzige, die sich um das verordnete Unrecht nicht schert, das sich ihr als Gesetz in den Weg stellt, angesichts dessen, was sie tun muß. Antigone muß Polyneikes bestatten, und wenn es sie das Leben kostet. Von dieser Unbedingtheit des ethischen Gesetzes aus, die Antigone in einen Zusammenhang mit de Sade, Kant und Kreon stellt, entwickelt Lacan die Ethik der Psychoanalyse – genauer: von der Maßlosigkeit und Zerstörungskraft her, die mit dem Ethischen selbst gegeben ist, weil das Begehren genau wie das juristische Gesetz schon seinen Todespunkt in sich birgt. Tatsächlich gleicht das Zwanghafte in Antigones Akt auf den ersten Blick Kreons Tötungszwang: Weil dem Vater die Frau des Sohnes als »böses Weib«81 gilt, deren Umarmung frostig, ja, untreu sei – nicht gegen Hämon, sondern gegen ihn, Kreon –, wird der Mord an Antigone zum Imperativ: Kreon »muß sie tödten.«82 Was motiviert diesen Imperativ, dem Kreon sich selbst nicht entziehen kann? Man hat noch Kreons Klage im Ohr, er werde sich von keinem Weib das Herrschen lehren lassen, werde nicht zum Lügner an seinem eigenen Gesetz, an seinem eigenen Geschlecht: Antigones Untreue zielt offenbar nicht nur auf das Gesetz, sondern auf ihre Untreue zum Geschlecht. Wenn Antigone zum Mann zu werden droht, welchen Geschlechts ist dann Kreon? Wenn diese Differenz wankt, nicht um sich aufzulösen, sondern um sich als differentielles Moment in Erinnerung zu bringen, dann blüht dem Weib, was der Herr für des Mannes hält. Bemerkenswerterweise weist Hämon genau diesen Ort der Macht, den Kreon als Herrscher und Mann beansprucht, als a-topischen Ort aus – als eine »Wildniß«83 der Zivilisation. »Vom wilden Weibe gestoßen«84, wird Kreon wider Willen entmannt, zum Mann-Weib. Auf seine Anklage gegen Hämon, jener sei schlechter als das Weib, untreuer gar noch, ein Schöntuer, eine Sirene, die ihn, Kreon, zu betören suche, ja, Hämon mache sich zum Waffenbruder des Weibes, antwortet Hämon: »Wenn du das Weib bist. Deinetwillen sorg

80. Ich bin mir nicht sicher, ob Lévinas einen Akt für den Toten überhaupt in Betracht zieht, weil seine Ethik erst von der Möglichkeit her, getötet zu werden, konzipiert ist: vom ›Anruf‹, nicht zu morden, der vom Antlitz ausgeht; strenggenommen müßte dies aber auch für den ›zweiten Tod‹ gelten. 81. F. Hölderlin: Antigonä, S. 232. 82. Ebd. 83. Ebd., S. 236. 84. Ebd., S. 246. 251

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ich.«85 Wenn Antigone das Gesetz behauptet – der Liebe, nicht des Hasses, wie sie sagt –, dann ist sie (so auch für Hämon) Herr, nicht Kreon. Aber diese Herrschaft, die Macht der Gesetzgebung steht ja selbst im Gesetz, im Zeichen des (Er-)Nennens: Kreon sagt, »Daß nimmer wir genannt sein hinter Weibern!«86 Wenn Antigone vor ihm ernannt wird, dann ist Kreon vor dem Gesetz entnannt und entmannt in einem, dann ist Kreon »kein Mann, / Sie ein Mann aber«.87 Dann droht Kreon namenlos, außer Geschlecht und außer Gesetz zu sein. Was Antigone in Gefahr bringt und zugleich einfordert, ist die Identifikation mit dem Gesetz, indem sie zeigt, wie sehr das ethische Begehren in Differenz zum politischen Gesetz steht. Aber das Motiv ihres Begehrens für den Anderen ist ein unauffindbares Daß des Gesetzes. »Auch dacht’ ich nicht, es sey dein Ausgebot so sehr viel, Daß eins, das sterben muß, die ungeschriebnen drüber, Die festen Sazungen im Himmel brechen sollte. Nicht heut’ und gestern nur, die leben immer, Und niemand weiß, woher sie sind gekommen.«88 Das universale Gesetz, auf dem Antigone insistiert, läßt sich nicht rechtfertigen, es ist gar nicht erst als öffentliches Recht konzipiert. Mehr noch, Antigone verwandelt dieses Gesetz zurück auf einen einzigen Fall, den ihres Bruders Polyneikes. Aber während ›ihr‹ Gesetz überhaupt nur als krimineller Akt und als Gesetzesbruch erscheinen kann, scheint andererseits jeder schon zu wissen, was hier auf dem Spiel steht. Diese Unverhältnismäßigkeit ist interessant, denn genau hier offenbart sich ein unerhörtes Übersetzungsproblem, von dem überraschenderweise alle Kenntnis haben: sie bezieht sich auf die Frage, wie man eine Legalität für jemanden einfordern kann, der gar nicht existiert?89 Antigone wendet sich genau an die Außenseite der Legalität, die sich im Recht folgendermaßen niederschlägt: »[…] weil eine solche Teilpersönlichkeit des Toten eine imaginäre Persönlichkeit ist, welcher in Konkurrenz mit lebenden Personen unmöglich Rechte zugestanden werden können, denn das Recht ist auf den Lebenden zugeschnitten, hat dem Lebenden zu dienen. Das Recht ist die Regelung nur des menschlichen Lebens und nicht Regelung überhaupt, nicht absolute Ordnung, sondern Ordnung für die lebenden Menschen. Das Recht hat

85. 86. 87. 88. 89.

Ebd., S. 236. Ebd., S. 233. Ebd., S. 224. Ebd., S. 223. Vgl. hierzu auch Judith Butler: Antigone’s Claim. Kinship between Life and Death, New York 2000, S. 33 ff. 252

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nicht Raum für mystische Konstruktionen, wie es die eines Rechtes des Toten ist: Deshalb ›scheitern solche Versuche‹ und ›erregen Bedenken‹. ›Alles, was ist, ist vernünftig‹. Der Tote ist nicht mehr, die Lebenden treten an seine Stelle.« 90 Der Körper, der als Toter nicht mehr sprechen kann, wird von Antigone in eine Anklage übersetzt, die weder vor Kreon noch vor einem Gericht Bestand hätte, denn: »Die Leiche selbst ist in erster Linie nicht Objekt des Verbrechens, sie ist es gewissermaßen mittelbar.«91 Im öffentlichen Recht existiert weder der Körper des Toten noch das Unbewußte eines Gesetzes, das andererseits jeder zu kennen scheint: Ein Nichts, das vom öffentlichen Gesetz nicht erfaßt, aber auch nicht gänzlich verbannt werden kann. Aber damit rückt Antigone die Unübersetzbarkeit des Gesetzes als solche in den Blick. Es geht genauer um ein Gesetz, das Antigone nicht übersetzen kann. Der Skandal, der mit dem »zweiten Tod« in die Welt kommt, ist ein Subjekt, das überhaupt erst bewiesen werden muß; doch wer möchte verifizieren, daß »nicht der Schimmer einer Persönlichkeit im Ofen des Krematoriums zurückbleibt«92?

Literatur Angstwurm, Heinz: »Sichere Feststellung des Todes vor der Organspende«, in: Dietrich (Hg.), Organspende (1985), S. 15–29. Artaud, Antonin: »Das Theater und die Pest«, in: ders., Das Theater und sein Double, Frankfurt a. M. 1979, S. 17–34. — Schluß mit dem Gottesgericht. Das Theater der Grausamkeit. Letzte Schriften zum Theater, München 1993. Bundestags-Ausschuß für Gesundheit: Bundestags-Drucksache 13 / 8017, 23.6. 1997. Butler, Judith: Antigone’s Claim. Kinship between Life and Death, New York 2000. Derrida, Jacques: »Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation«, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a. M. 1989, S. 351–379. Dickman, Steven: »Kinder in Kultur. Forscher züchten erstmals menschliche Embryozellen im Labor«, in: Die Zeit vom 25.7.1997, S. 44. Dietrich, Elke (Hg.): Organspende. Organtransplantation. Indikationen – Technik – Resultate. Ein Report des Machbaren, Percha 1985. Freud, Sigmund: »Die Traumdeutung«, in: ders., Gesammelte Werke, 2. u. 3. Bd., London 1942, S. 1–642.

90. Ebd., S. 28 f. 91. H. Hegemann: Leichnam, S. 47. 92. Merkel: Der Leichenraub, zit. nach H. Henne, Rechtsverhältnisse, S. 13. 253

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— [»Entwurf einer Psychologie«], in: ders., Gesammelte Werke, Nachtragsband, Frankfurt a. M. 1987, S. 375–486. Griot, Gubert: Das Recht am eigenen Körper, Diss., Sarnen 1921. Hegemann, Heinrich: Der Leichnam im Rechtssystem unter kurzer Berücksichtigung der geschichtlichen Entwicklung dieses Rechtsgebietes, Diss. Erlangen 1912. Heimendahl, Richard: Das Recht am Leichnam, Bonn 1911. Henne, Hans: Rechtsverhältnisse hinsichtlich des Leichnams und seiner Aschenreste, Diss., Bochum 1928. Heß, Carlo: Friedhof und Grabstätte im Privatrecht, Diss., Gelnhausen 1935. Hirsch, Günter: »Anenzephalus als Organspender: Rechtsfragen«, in: Hiersche / Hirsch / Graf-Baumann (Hg.), Rechtliche Fragen (1990), S. 118– 121. Hiersche, Hans-Dieter / Hirsch, Günter / Graf-Baumann, Toni (Hg.): Rechtliche Fragen der Organtransplantation (3. Einbecker Workshop der Deutschen Gesellschaft für Medizinrecht, 25. / 26.6.1988), Berlin 1990. Hölderlin, Friedrich: »Sämtliche Werke«, hg. v. Friedrich Beissner, Bd. 5, Stuttgart 1952. Hoff, Johannes / in der Schmitten, Jürgen: »Kritik der ›Hirntod‹-Konzeption. Plädoyer für ein menschenwürdiges Todeskriterium«, in: dies. (Hg.), Wann ist der Mensch tot? Organverpflanzung und ›Hirntod‹-Kriterium, Reinbek 1995, S. 153–224. Johnson, Karl: Die Leiche im Privatrecht. Zugleich ein Kritischer Beitrag zur Lehre vom Recht am eigenen Körper, Diss., Glückstadt 1912. Jost, Claudia: Die Logik des Parasitären: Literarische Texte, Medizinische Diskurse, Schrifttheorien, Stuttgart 2000. Julien, Philippe: »Die drei Dimensionen der Vaterschaft in der Psychoanalyse«, in: Seifert (Hg.), Perversion der Philosophie (1992), S. 163–178. Koch, Claus: »Das Individuum als Bio-Kapitalist«, in: Die Tageszeitung vom 25. / 26.10.1997, S. 12. Krebs-Rüb, Renée: »Warum Wissenschaft nicht alles darf«, in: Die Tageszeitung vom 31.10.1997, S. 12. Lacan, Jacques: Das Seminar von Jacques Lacan. Buch VII (1959–1960), Die Ethik der Psychoanalyse. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. v. Norbert Haas, Weinheim / Berlin 1996. — Das Seminar von Jacques Lacan. Buch XI (1964), Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. v. Norbert Haas, Olten / Freiburg i.Br. 1978. Loewenich, V. von: »Definition, Diagnose und Prognose bei Anenzephalus«, in: Hiersche / Hirsch / Baumann (Hg.), Rechtliche Fragen (1990), S. 106–112. Lyotard, Jean-François: Heidegger und die Juden, hg. v. Peter Engelmann, Wien 1988. Schneider, Ingrid: Föten. Der neue medizinische Rohstoff, Frankfurt a. M. 1995. 254

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Schreiber, Hans-Ludwig / Wolfslast, Gabriele: »Rechtsfragen der Transplantation«, in: Dietrich (Hg.), Organspende (1985), S. 33–63. Seidler, Eduard: »Anenzephalus als Organspender: Ethische Frage«, in: Hiersche / Hirsch / Baumann (Hg.), Rechtliche Fragen (1990), S. 113– 117. Seifert, Edith (Hg.): Perversion der Philosophie. Lacan und das unmögliche Erbe des Vaters, Berlin 1992. Stentenbach, Berthold: Der strafrechtliche Schutz der Leiche, Köln 1993. Tobel, Walter von: Das Recht am toten Körper unter besonderer Berücksichtigung der Leichensektion, Zürich 1946. Weidel, Wolfhard: Virus. Die Geschichte vom geborgten Leben, Göttingen 1957. Widmer, Peter: Subversion des Begehrens. Jacques Lacan oder die zweite Revolution der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1990. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer: »Kriterien des Hirntodes. Entscheidungshilfen zur Feststellung des Hirntodes«, in: Deutsches Ärzteblatt 79 (1982) Nr. 14, Ausg. A / B, S. 45–55.

255

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Rhetorik des Anfangs. Über die Anrufung als inaugurative Kraft Andrea Allerkamp

Das Gesetz der Anrufung Seit Austins berühmte Frage How to do things with words entscheidende Weichen für das Verhältnis von Sprechen und Handeln gestellt hat, haben sich ganze Debatten an der Frage nach der Performanz von Sprechakten entzündet. Sprache handelt, wenn sie spricht. Worte können heilen oder auch verletzen oder sogar tödlichen Ausgang haben – Haß spricht, so ein Buchtitel Judith Butlers. Gesprochene Sprache ist adressierende AnSprache. Sie kann flehentlich oder sehnend anrufen, höflich oder beleidigend anreden, politisch oder militärisch appellieren. Sprache handelt, weil sie in Beziehung setzt und Machtverhältnisse (re)produziert. Sie ist unterwegs zum Anderen: »Wenn wir dem Wesen der Sprache nachdenken sollen, muß sich die Sprache zuvor uns zusagen oder gar schon zugesagt haben.«1 Heideggers Wink auf ein schier unmöglich erscheinendes, weil hinterherhinkendes Vorhaben eines Nachdenkens über Sprache macht deren nicht immer ausgesprochene, aber ständig implizierte Forderung nach Zustellung geltend. Sprache produziert Bewegungen, sie setzt unermüdlich Apostrophierungen, Richtungswechsel, Anrufungen in Szene. Ihr ist nicht zuvorzukommen, denn sie muß sich »zuvor uns zusagen oder gar schon zugesagt haben«. Als bereits gewesene und andernorts zugestellte aktualisiert sie sich jedesmal neu in der individuellen parole. Aufgrund der überbordenden Bewegung der Sprache entzieht sich die parole noch im Sprechakt einer generell klassifizierbaren Performanz, die sie als Versprechen in Aussicht gestellt hat. Der Rest oder das, »was abgeschnitten wird«, das »Nicht-Performierbare der Performativität«2, ergibt sich aus einem An-

1. Martin Heidegger: »Das Wesen der Sprache«, in: ders., Unterwegs zur Sprache, Stuttgart 111997, S. 180. 2. Vgl. Judith Butler: Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998, S. 196. 257

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fang des Sprechens im Aufschub. Von Anfang an ansprechend und angesprochen (ver)spricht Sprache noch über das aktuell sprechende Subjekt hinaus. Die Rede-Figur des Anrufs charakterisiert insofern sowohl Markierung des singulären Ereignisses in der parole als auch Wiederholung durch die langue. Mit diesen sprachphilosophischen Überlegungen ist zugleich das komplexe Problem der Übertragung in der analytischen Situation umrissen, von der Freud nicht müde wird zu betonen: »Sie lehnt alle Hilfsmittel […] selbst das Niederschreiben ab.«3 Während die Aufgabe des Analytikers darin bestünde, das vom Patienten Vergessene und Verdrängte wieder in Erinnerung zu rufen, übertrage der Patient (im Fall von Dora und vieler anderer die Patientin) ambivalente Affekte auf die Person des Arztes und widerstehe auf diesem Umweg der Aufforderung, sich zu erinnern.4 Anstelle einer – schmerzhaften – Erinnerung des Verdrängten tritt seine zwanghafte Wiederholung in der Handlung: »Er reproduziert es nicht als Erinnerung, sondern als Tat, er wiederholt es, ohne natürlich zu wissen, daß er es wiederholt.«5 Der »kathartische Effekt« der Analyse ziele darauf ab, von der Wiederholung zur Erinnerungsleistung zurückzufinden. Bekanntlich hat Freud zur Darstellung des psychischen Apparates das Modell des Wunderblocks bemüht. Während das Deckblatt des Wunderblocks das Einritzen neuer Wahrnehmungen ermögliche, bewahre die untere Wachsschicht die »Dauerspuren der aufgenommenen Aufzeichnungen« auf. 6 Der Mündlichkeit in der analytischen Situation steht also die Verschriftlichung des psychischen Apparates gegenüber.7 Was die Metapher des Wunderblocks im einen Fall zu leisten vermag, verspricht das Telefon im anderen. Zur Erinnerung noch einmal das inzwischen berühmt gewordene Telefon-Gleichnis der Analyse: »Wie der Analysierte alles mitteilen soll, was er in seiner Selbstbeobachtung erhascht, mit Hintanhaltung aller logischen und affektiven Einwendungen, die ihn bewegen wollen, eine Auswahl zu treffen, so soll sich der Arzt in den Stand setzen, alles ihm Mitgeteilte für

3. Sigmund Freud: »Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung«, in: ders., Gesammelte Werke, 8. Bd., London 1943, S. 377. Im folgenden werden Zitate aus den »Gesammelten Werken« unter der Sigle »GW«, gefolgt von der Nummer des entsprechenden Bandes nachgewiesen. 4. Vgl. S. Freud: GW V, S. 284; GW X, S. 305. 5. S. Freud: GW X, S. 129. 6. S. Freud: GW XIV, S. 4. 7. Vgl. Rüdiger Campe: »›Pronto!‹ Telefone und Telefonstimmen«, in: Friedrich A. Kittler / Manfred Schneider / Samuel Weber (Hg.), Diskursanalysen. Bd. I, Opladen 1986, S. 68–93. 258

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RHETORIK DES ANFANGS. ÜBER DIE ANRUFUNG ALS INAUGURATIVE KRAFT

die Zwecke der Deutung, der Erkennung des verborgenen Unbewußten zu verwerten, ohne die vom Kranken aufgegebene Auswahl durch eine eigene Zensur zu ersetzen, in eine Formel gefaßt: er soll dem gebenden Unbewußten des Kranken sein eigenes Unbewußtes als empfangendes Organ zuwenden, sich auf den Analysierten einstellen wie der Receiver des Telephons zum Teller eingestellt ist.«8 »Zwei Wunderblöcke telephonieren miteinander«, so faßt Uwe Wirth den medialen Status des psychischen Apparats, zwischen ›Einschreibung‹ und ›fernmündlicher Übertragung‹ changierend, zusammen.9 Die Tatsache, daß das sprechende Unbewußte auf beiden Seiten erinnert und handelt, aufzeichnet und überträgt, macht seine analytische Entzifferung notwendig, aber auch problematisch. Am Anfang steht der »Ruf nach der Analysis«, der zugleich die Verbindung auflöst, die er schafft: »analysein bedeutet […] entbinden und folglich auch das Band lösen.«10 Dieses double bind aber gilt nach Jacques Derrida in allen Fällen des Geständnisses, für das generell, über das exklusive Privileg analytischer Erfahrung hinaus11, der Schriftcharakter zu berücksichtigen ist. Denn Geständnis wie Text, Geständnis als Text machen »den Leser zum Zeugen, so wie man sich an einen Beichtvater oder einen Adressaten in einer Übertragung, manche würden sagen, einen Analytiker wendet.«12 Damit ist, wie Derridas La carte postale im experimentierfreudigen Modus durchspielt, die psychoanalytische Übertragung mit der telekommunikativen Dynamik des Sendens und Schickens verbunden.13 Denn der sogenannte Widerstand ruft in der (nun nicht mehr nur auf die analytische Situation begrenzten) Übertragung zu einer sich selbst überbietenden Deutung auf, »ein unendliches Drama der Analyse«, was schließlich auch »jene unmöglichen Begriffe« erklärt »wie die Ur-Spur oder die Ur-Schrift, das Ursprüngliche, das ›älter‹ ist als der Ursprung – und vor allem eine gebende Bejahung, die die letzte Unbekannte bleibt für die Analyse, die sie dennoch in Bewegung setzt.«14 Mit der Schikkungs-Problematik des nicht verortbaren Anfangs der Analyse ist die

8. S. Freud: GW VIII, S. 381. 9. Uwe Wirth: »Piep. Die Frage nach dem Anrufbeantworter«, in: Stefan Münker / Alexander Roesler (Hg.), Telefonbuch. Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Telefons, Frankfurt a. M. 2000, S. 161–184, hier S. 174 f. 10. Jacques Derrida: »Widerstände«, in: J. Derrida: Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse! Frankfurt a. M. 1998, S. 128–178, hier S. 176 u. 131. 11. Vgl. Hans-Dieter Gondek: »›La séance continue‹. Jacques Derrida und die Psychoanalyse«, in: J. Derrida, Vergessen wir nicht, S. 187. 12. J. Derrida: »Widerstände«, S. 132. 13. Jacques Derrida: Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits, 2. Lieferung, übers. v. Hans-Joachim Metzger, Berlin 1987. 14. J. Derrida: »Widerstände«, S. 167. 259

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Frage nach ihrem (un)möglichen Ende gestellt, einen »Rest« lassend, der zum Schluß übrigbleibt und widersteht, nicht nur nicht ankommen kann, »sondern prinzipiell stets nicht ankommen können muß«15: »Im Französischen richtet man sich [s’adresser] an jemanden, man richtet [adresser] an jemanden das Wort oder einen Brief (adresser wird also auch transitiv gebraucht), ohne jemals sicher sein zu können, daß das Wort oder der Brief ihr Ziel – dem sie zugeschickt werden – erreicht.«16 Am nicht mehr festzustellenden Beginn und Ende der Übertragung, Metapher des Transports (metaphorikos), steht die Aufforderung zur Übersetzung des einen Wunderblocks in den anderen, was wiederum auf das »doppelte Problem der Archivierung« stößt, nämlich das der »Protokolle« und der Überlieferung: »einmal das der theoretischen Darstellung im Rahmen der Analyse, zum anderen das der Archivierung der Psychoanalyse selbst.«17 Das Nichtwissen darüber, in welchem Moment die Übertragung nun ›wirklich‹ eingesetzt bzw. aufgehört hat, erscheint plötzlich als Anzeichen dafür, daß es sie immer schon gegeben haben wird. In dieser komplizierten Zeitlichkeit eines von Jacques Lacan ins Feld geführten futur antérieur, einer vergangenen Zukunft bzw. eines ›fast‹ stattgefundenen, sich im Modus des Versprechens aufhaltenden Ereignisses bewegt sich auch die initiierende und übertragende RedeFigur des Anrufs. Sie gerät überall dort ins Blickfeld, wo mit der geforderten Performanz nach deren Gründungsakt gesucht wird und wo es diesem als einem mythischen nicht selten an den Kragen geht. Für Texte von Mystikern leuchtet das sofort ein, wiewohl diese vielleicht immerhin den Vorteil mit sich bringen, ihre eigene Zirkularität zu thematisieren. Derrida wagt sich aber noch weiter bis zur letzten Bastion performativer Akte vor, der Rechtsprechung. Sie impliziert mit dem »Moment der Stiftung, der (Be)gründung, der Rechtfertigung des Rechts […] eine performative Kraft (Gewalt).« Indem die Rechtsprechung ihre »Bedingungen, Regeln, Konventionen und deren Deutung« als Ursprung voraussetzt, verschweigt sie den letztendlich »mystischen Grund der Autorität«.18 Der inaugurative Moment der Anrufung stellt die wiederholte Setzung eines Gründungsaktes dar, weil er seinen Ursprung in sich selbst hat und in permanenter Übertragung effektiv wird. Das gilt für

15. H.-D. Gondek: »La séance continue«, S. 186. 16. Jacques Derrida: Force de loi. Le »fondement mystique de l’autorité«; dt.: Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, Frankfurt a. M. 1991, S. 31. 17. U. Wirth: »Piep«, S. 171; vgl. auch J. Derrida: »Aus Liebe zu Lacan«, in: ders., Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse! 18. J. Derrida: Gesetzeskraft, S. 27 f. 260

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RHETORIK DES ANFANGS. ÜBER DIE ANRUFUNG ALS INAUGURATIVE KRAFT

spirituelle Zeremonien der Geisterbeschwörung wie für streng formalisierte Gebetsriten oder einsame Solipsismen gottverlassener Poesie, letztendlich aber auch für eine Rechtsprechung, die ihren eigenen Anfang im dunkeln läßt und somit Gewalt ausübt. Da Anreden über Konventionen funktionieren, sind sie Effekt und Instrument eines gesellschaftlichen Rituals, das mit den Hierarchien zugleich deren Unterwerfungsmechanismen widerspiegelt. Es war die Rede davon, daß angesprochene Körper angegriffen, krank gemacht oder auch geheilt werden könnten. So bestätigen etwa Berichte von traditionellen Heilzeremonien, daß die Anrufung von Geistern und Patienten nicht allein angewendet wird, um ›übernatürliche‹ Verbindungen herzustellen – was an sich schon eine komplexe Aufgabe darstellt. Anrufungen sind ausdrücklich Mittel zum Zweck, sie erzielen in die eine oder andere Richtung zerstörende oder aufbauende Wirkung.19 Fällt jedoch der Glaube an kodierte religiöse, d. h. bindende (re-ligio) Zusammenhänge – in der SprechaktTheorie ist vom Kontext die Rede – weg, stellt sich die Frage, was eine Anrufung eigentlich performant macht, was sie innerhalb einer Rede Grundsätzliches zu ›leisten‹ vermag.

Annahme des Rufes Als vermittelnde und setzende Rede-Figur der ÜberTragung springt die Anrufung in die Lücke des Anfangs. Im vorausschauenden Übertrag einer AnRede verspricht sie, das von ihr Angesprochene zu erreichen. Wo aber fängt ein sich als ›intersubjektiv‹ begreifendes – anzusprechendes – Subjekt an, wo hört es auf – auf / hören im doppelten Sinne eines Beendens oder unterbrechenden Aufmerkens –, wo knüpft es an, worauf greift es zurück etc.? »Das Ziel der Anrufung ist nicht deskriptiver sondern inaugurativer Art.«20 Erst die Anrufung ruft ein Subjekt ins Leben, macht es zu dem, was es werden soll – im Moment der Abnahme eines Rufes oder Hörers. In Zeiten manischer Telefonie besitzt die alltägliche und vermeintlich harmlose Szene der ›intersubjektiven‹ Kommunikation längst ungefragtes Daseinsrecht. Magisches Ereignis oder öffentliches Ärgernis – hinter ihren performativen Akten verschwindende ›Medien‹21 zeigen, daß Übertragung permanent und ›im-

19. Vgl. Henry F. Ellenberger: Die Entdeckung des Unbewußten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung, Zürich 21996, S. 53 ff. 20. J. Butler: Haß spricht, S. 54. 21. Die distanzierenden Anführungszeichen weisen auf den mehrfach einsetzbaren Begriff der ›Medien‹ hin, zu dem sowohl technische als auch hypnotisierte – menschliche – Medien gehören. Vgl. dazu auch Heinz Schott: »Fluidum – Suggestion – Über261

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mer schon‹ am Werk ist. Solange das Telefon weiter klingelt und Stimmen verbindet, ungeachtet einer Unterbrechung durch parasitäre Störungen, wird dem ›Apparat‹, der hinter einer reibungslosen Übertragungstechnik verschwinden soll, begründende Performanz zugesprochen und überlassen. Ob Wunderblock, Mikroskop oder Fernrohr, Phonograph oder Telefon, Technik und Psyche rücken vermeintlich Greifbares in »ideelle Örtlichkeiten, Gegenden«. »Die psychische Lokalität entspricht dann einem Orte innerhalb eines Apparats, an dem eine der Vorstufen des Bildes zustande kommt. Beim Mikroskop und Fernrohr sind dies bekanntlich zum Teil ideelle Örtlichkeiten, Gegenden, in denen kein greifbarer Bestandteil des Apparats gelegen ist.«22 Mit zunehmender Schärfe der Bilder verschwinden deren mediale Bedingungen. Zwischen zwei Anrufen handelt es sich darum, eine Lücke zu schließen: im Warten auf den erlösenden Auftakt, das elektrifizierende Klingelzeichen, den ins Leben rufenden Anruf des Anderen. Daß das Telefon mit seiner unmittelbaren Aufforderung zur Bejahung des Anderen eine exzellente Metapher für die analytische Übertragungstechnik darstellt, hat Freud daher sogleich eingeleuchtet. Es steht für die »gleichschwebende Aufmerksamkeit« der Redekur ein, was für den Arzt die Empfehlung mit sich bringt, »sich auf den Analysierten ein[zu]stellen wie der Receiver des Telefons zum Teller eingestellt ist.«23 Die Telefon-Metapher läßt die Stimme des Empfängers (»Receiver«) im Echo des Absenders (»Teller«) anders wiederkehren. Sie schließt Herkunft wie Ziel des Rufes zu einer unabschließbaren Kreisbewegung zusammen und zielt auf diese Weise auf die Unterbrechung der Wiederholung, die Annahme des Rufes. Auf die Analyse übertragen bedeutet dies den Übergang von Mündlichem (Telefon) zu Schriftlichem (Wunderblock) und impliziert das Differieren einer ›direkten‹ Antwort. Zwar soll der Analytiker seine Empfangsbereitschaft gegenüber dem »Ruf nach der Analysis« signalisieren. Er nimmt jedoch – wie ein Anrufbeantworter – den Ruf zunächst nur entgegen, beantwortet ihn nicht sofort. Zum gegebenen Zeitpunkt kann die registrierte Nachricht dann abgerufen werden. Durch eine aufgehaltene bzw. nur in Aussicht gestellte Rückkoppelung könnte so die »gleichschwebende Aufmerksamkeit« im Moment der Analyse gewahrt werden. In der Übersetzungs-Arbeit des Schriftstellers Freud wiederum, der zur »Nie-

tragung. Zum Verhältnis von Mesmerismus, Hypnose und Psychoanalyse«, in: Jean Clair / Cathrin Pichler / Wolfgang Pircher (Hg.), Wunderblock. Eine Geschichte der modernen Seele, Wien 1989, S. 85–95. 22. S. Freud: GW II / III, S. 540. 23. S. Freud: GW VIII, S. 381. 262

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derschrift« seiner Fallgeschichten einräumt, sie sei »nicht absolut – phonographisch – getreu«, erhebe aber »auf einen hohen Grad von Verläßlichkeit Anspruch«24, hat die »Teleanalyse« erneut mit technischen Zwischenschaltungen und Speicherfunktionen zu rechnen, welche aufnehmen und archivieren, permanente »recordings« herstellen.25 Freud unterscheidet deshalb zwischen Telefonie und Telepathie, »zwischen der Übertragung von fernmündlichen Botschaften und der Gedankenübertragung.«26 »Telepathie nennen wir die angebliche Tatsache, daß ein Ereignis, welches zu einer bestimmten Zeit vorfällt, etwa gleichzeitig einer räumlich entfernten Person zum Bewußtsein kommt, […] so, als ob sie telefonisch verständigt worden wäre, was aber nicht der Fall gewesen ist, gewissermaßen ein psychisches Gegenstück zur drahtlosen Telegraphie.«27 Eine telefonische Übertragung verspricht im Gegensatz zur Gedankenübertragung das ›direkte‹ Hören einer Stimme. Die analytische Telefon-Szene schöpft aus »erotischen Quellen«, die im konzentrierten Hören auf das Partialobjekt Stimme halluziniert werden können. Ohr und Stimme geben sich so gegenseitig Gestalt und verweisen damit wie die ihr darin analogen Medien »Fernrohr« und »Mikroskop« an »ideelle Örtlichkeiten, Gegenden, in denen kein greifbarer Bestandteil des Apparats gelegen ist.« Visuelle und akustische Medien führen das Paradox eines anwesenden Abwesenden vor – einer fernen Nähe: »Nähe nähert das Ferne und zwar als das Ferne. Nähe wahrt die Ferne«, so Heidegger, der mit dem »Ding an sich« zwar die techne des Hervorbringens beschreibt, das präzise Ding Telefon jedoch in beredtem Schweigen übergeht.28 Heideggers Heraufbeschwörung eines unheimlichen Rück-

24. S. Freud: GW V, S. 167. 25. Vgl. J. Derrida: »Aus Liebe zu Lacan«, S. 43. Derrida geht hier näher auf das »Motiv des ›gegenwärtigen Sprechens‹ […] und die Abwertung des ›record‹, des ›recording‹, der Aufzeichnung und des mechanischen Archivs als eines ›entfremdeten‹« ein, die er »Phono-Logozentrismus« nennt. 26. U. Wirth: »Piep«, S. 174 f.: »Freuds Vergleich des psychischen Apparats mit dem Wunderblock und der analytischen Technik mit dem Telefonieren belegt, daß der mediale Status des psychischen Apparats zwischen ›Einschreibung‹ und ›fernmündlicher Übertragung‹ changiert. […] Bei dieser Übertragung ist der psychische Apparat des Patienten mit dem des Arztes verbunden: Zwei Wunderblöcke telefonieren miteinander. Der Notizblock des Arztes jedoch übernimmt nur eine Funktion des ›Wunderblocks‹.« 27. S. Freud: GW XV, S. 38. 28. Martin Heidegger: »Das Ding«, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 71994, S. 170. Zu Heideggers Umgehung des Telefons vgl. auch Alexander Roesler: »Das 263

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Rufes trifft als Figur der fernen Nähe in einem Moment, der unerwartet ist. »Das Dasein ruft im Gewissen sich selbst«, heißt es enigmatisch hervorgehoben in Sein und Zeit.29 Während jedoch der Philosoph malgré lui an bewährte Konstruktionen kategorischer Imperative appelliert30, setzt sich die Psychoanalyse gerade umgekehrt zum Ziel, das »ÜberIch« zu überlisten, ihm auf die Schliche zu kommen. Indem der ›inneren Stimme‹ des Gewissens im Sprechen Gestalt verliehen wird, rückt der Anruf unerwartet und dislozierend, die Plätze neu verteilend, ins Zentrum der Analyse. Auch Freud setzt Technik keinesfalls mit Performanz erreichter Nähe und Unmittelbarkeit gleich. Die psychoanalytische Übertragung stelle zwar aufgrund von Widerstand und Zensurmechanismen vor die »größten Schwierigkeiten«, erweise aber auch »den unschätzbaren Dienst, die verborgenen und vergessenen Liebesregungen der Kranken aktuell und manifest zu machen, denn schließlich kann niemand in absentia oder in effigie erschlagen werden.«31

Zurück an den Absender Welche Macht der analytischen Stimme dennoch zurückgesprochen wird, mag ein Hinweis auf die Freudsche Lichtmetaphorik verdeutlichen. Der oft falsch als ›Wenn jemand spricht, wird es hell [statt: heller]‹ zitierte Satz hat seine Popularität einer (religiösen) Metaphorik zu verdanken, die auf Erleuchtung und Aufklärung über das innere Ausland ›Ich‹ hoffen läßt. Daß dabei gern der Komparativ des Prädikats übersehen wird, dessen Vergleich doch das Ansprechen eines anderen, zweiten impliziert (heller als was oder wer?), relativiert allerdings rasch die detektivische Entdeckerfreude der Erkenntnis.32 Der Hinweis auf das Hören einer Licht versprechenden und daher schaffenden, schöpferisch-allmächtigen Stimme (»Gott sprach: Es werde Licht«, Genesis 1,3) taucht bei Freud im Gewand des verkleideten Zitats, aus dem Munde eines Kindes auf. Das sich in der Dunkelheit änstigende Kind verleiht hier seiner Sehnsucht Ausdruck, mit dem Hören auf die Stimme der Verwandten Strategien gegen die Angst vor dem Alleinsein entwickeln zu können:

29. 30. 31. 32.

Telefon in der Philosophie: Sokrates, Heidegger, Derrida«, in: Stefan Münker / Alexander Roesler (Hg.), Telefonbuch. Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Telefons, Frankfurt a. M. 2000, S. 142–160. Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 161993, S. 275. Vgl. Jean-Luc Nancy: L’Impératif catégorique, Paris 1983. S. Freud: GW VIII, S. 374. Vgl. Jutta Prasse: »Wenn jemand spricht, wird es heller«, in: Fragmente. Schriftenreihe zur Psychoanalyse 35 / 36 (1991), S. 23–30. 264

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»Ein Kind, das sich in der Dunkelheit ängstigte, hörte ich ins Nebenzimmer rufen: ›Tante, sprich doch zu mir, ich fürchte mich.‹ ›Aber was hast Du davon? Du siehst mich ja nicht‹; darauf das Kind: ›Wenn jemand spricht, wird es heller.‹«33 Nicht um den Inhalt des Sprechens ist es dem anrufenden Kind zu tun, sondern allein um die Tatsache, daß überhaupt geantwortet wird und der Ruf ein Feedback erfährt. Führt man dies mit den Überlegungen zum Gesetzesanruf und der Stimme des Gewissens in der Analyse zusammen, so ist hier (noch) nicht die Rede von der Bestätigung einer legalisierten Identität oder metaphysischen Daseinsberechtigung. Die andere Stimme, die vielleicht nicht umsonst mit der Anrede einer nahen Verwandten (»Tante, …«) bedacht wird, welche die Mutter zwar nicht ersetzen, aber doch vertreten mag, ermöglicht es, (visuell) Anwesenheit zu halluzinieren – für Freud ein Zeichen der Angstbewältigung. Da jedoch die Angst (»angustiae, Enge«) der Phobien »geradezu inappellabel« ist34, weist sie augenscheinlich auf etwas anderes als auf sich selbst hin. Als »Erwartungsangst« hält sie sich bereit, »sich an jeden irgendwie passenden Vorstellungsinhalt anzupassen.« Sie versteckt und verschleppt ihre eigentliche Ursache, und das heißt nicht nur den Anfang allen Sprechens, sondern den Anfang der Existenz selbst, Anfang des Anfangs, Anfang auch der Abhängigkeit vom abgetrennten Anderen, der fernen Nähe. Rhetorisch geschickt kündigt Freud die Rekonstruktion dieses gewesenen Anfangs als eines futurischen an. »Es wird Sie vielleicht interessieren zu hören, wie man auf eine solche Idee kommen kann, wie daß der Geburtsakt die Quelle und das Vorbild des Angstakffektes ist.«35 Die Durchtrennung der Nabelschnur gleicht der Drohung, den Hörer aufzulegen.36 Dagegen verspricht jeder Anruf den Rück-Ruf an die Quelle. Doch da diese als Anfang ebensowenig rekonstruierbar ist wie das wiederkehrende »Geburtstrauma«37, wird eine

33. 34. 35. 36.

S. Freud: GW XI, S. 422. Ebd., S. 414 (Hervorhebung durch mich, A.A.). Ebd., S. 412 (Hervorhebung durch mich, A.A.). Zur Alphabetisierung durch den Muttermund vgl. Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800 / 1900, München 1985, und Bernhard Siegert: »Gehörgänge ins Jenseits. Zur Geschichte der Einrichtung telefonischer Kommunikation in der Psychoanalyse«, in: Fragmente. Schriftenreihe zur Psychoanalyse 35 / 36 (1991), S. 51–70. Zur »maternal connection« vgl. auch Avital Ronell: The Telephone Book. Technology, Schizophrenia, Electric Speech, Lincoln, NE / London 1989. 37. Vgl. Jean Laplanche / Jean-Bertrand Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 121994, S. 518: »Auf der Suche nach einem Kern der Gefahr findet Freud ihn schließlich in einer Vermehrung der Spannung ins Unerträgliche, resultierend aus einem inneren Anfluten von Reizen, die eine Aufhebung fordern. Dies erklärt nach Freud letztlich das ›Geburtstrauma‹.« Zum Trauma, das nicht als rekon265

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Lücke entstanden sein, in die die »Erwartungsangst« springt. Sie ist Ausdruck dafür, daß der plötzlich eintreffende (Gesetzesan)Ruf gleichzeitig gefürchtet und begehrt wird. Über diese erstaunlich servile Bereitschaft, einer anrufenden Autorität willentlich und sogar physisch zu folgen – und das noch über das eigentliche Eintreffen einer Interpellation hinaus – hat sich auch Louis Althusser gewundert. Interpellation kann eine parlamentarische Anfrage meinen, eine (laute, brüske) Anrede, im juristischen Sinne auch Aufforderung oder Mahnung bedeuten und im polizeilichen Kontext der Überprüfung von Personalien mit einer vorübergehenden Festnahme enden. Für Althusser spielt sich die allegorische Szene der Anrufung auf der Straße ab, im entstehenden face to face eines aus der Menge herausgreifenden polizeilichen Anpfiffs: »He, Sie da!«. Merkwürdigerweise wird dieser Appell des Gesetzes zugleich gefürchtet und begehrt.38 Der allmächtige Gesetzesanruf kann jederzeit Passanten überfallen oder ›auserwählen‹, um sie in die Zwangsjacke vorgeschriebener Identität und Ideologie zu stecken. Zwänge strukturieren, in diesem Fall versprechen sie Anerkennung, stellen eine Bestätigung für Zugehörigkeit aus. ›Schlechten‹, ›papierlosen‹39, in die Illegalität verdrängten Subjekten droht dagegen die Ausweisung. In einem staatlich kontrollierten Kontext dient die Antwort des Angerufenen dazu, das assujettissement (Unterwerfung, Bindung, Abhängigkeit, Zwang) durch ein legalisierendes »Hier bin ich« zu bestätigen, weshalb der hebräische Gott denn auch prompt im tautologischen »Ich bin der Ich bin« (Exodus 3,14) die Frage nach einem Namen postwendend an seinen Absender zurückschickt. Mittel oder Mittler der Stimme eines Gesetzes (»im Namen des …«), ruft hier etwas zur Geste der Hin- oder Umwendung auf. Der Passant weiß plötzlich, daß er und nur er gemeint ist. Er wird sich unweigerlich in die Richtung umdrehen, aus der der Ruf gekommen ist. Indem er sich getroffen fühlt, antwortet er und gehorcht unwiderruflich einer staatlichen Zensur. Es würde hier zu weit führen, darauf einzugehen, inwiefern Althussers Theorie bei der Anwendung auf den eigenen ›Fall‹ offensichtlich zum Scheitern verurteilt ist. Deshalb nur der Hin-

struierbares Ereignis, sondern als Wiederholung ›selbst‹ erscheint, vgl. Birgit Erdle: »Traumatisierte Schrift. Nachträglichkeit bei Freud und Derrida«, in: Gerhard Neumann (Hg.), Poststrukturalismus: Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart / Weimar 1997, S. 78–93. 38. Vgl. Louis Althusser: »Über die Ideologie«, in: ders., Ideologie und ideologische Staatsapparate: Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg 1977, S. 130–151. 39. Im Französischen bezeichnet man mit sans papiers illegale Flüchtlinge, die keine gültige Aufenthaltserlaubnis und carte d’identité besitzen und denen die Abschiebung droht. 266

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weis auf diese Tatsache, die durchaus die Vorbehalte und Warnungen der Psychoanalyse gegenüber einer Selbstanalyse bestätigt. Was aber in diesem Zusammenhang interessiert, ist die inaugurative Kraft der Anrufung, die das Subjekt in der Übertragung zu dem macht, was es werden soll, es dem wiederholten Gründungsakt des Gesetzes unterwirft. Gleichzeitig aber birgt die Wiederholung einer Aussage auch die Chance in sich, mit einem Kontext zu brechen und somit der Aufforderung anders als erwartet nachzukommen, indem diese selbst wiederholt wird. In diesem Fall könnte die Anrufung zum »Instrument des Widerstands« werden und »die performative Äußerung« entoffizialisieren, sie »für neue Zwecke« aneignen: »Die performative Äußerung ist nicht nur eine rituelle Praxis; sie ist eines der einflußreichsten Rituale, mit denen Subjekte gebildet und reformuliert werden.«40 Die Frage stellt sich nun, inwiefern eine analytische Situation, die sich im Übergang zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, zwischen Telefonat, Wunderblock und Anrufbeantworter abspielt, das beschriebene Machtverhältnis reproduziert oder umkehrt. Das bei Althusser räumlich genau abgezirkelte Verhältnis zwischen Rufer und Angerufenem versucht die psychoanalytische Praxis durch Inversion zu umgehen. Ihr geht es ja gerade darum, der Topographie des verstellten Anfangs auf die Schliche zu kommen, die Zensur zu überlisten. Noch oder wieder im Dunkeln (des Mutterleibs) will Es (vom Namen des Vaters) gehört und angesprochen werden. Jenem offenen, dafür aber blinden Ohr des Anderen entspricht in der klinischen Praxis die räumliche Anordnung des Behandlungszimmers, in dem der Hörer dem Sprecher den Rücken kehrt. Die Geste der Umwendung zum Ruf, bei Althusser Zeichen und Bedingung des Gehorsams gegenüber der Stimme des Gesetzes, ist hier umgekehrt und somit auch aufgehoben, bis auf weiteres aufgeschoben. In der Wartestellung kann sich die Konzentration allein auf den virtuellen ›Körper‹ der sprachlich verfaßten Vorstellung richten. Sie scheint somit ohne Anrufung eines Dritten auskommen zu können: »weder ein pathologisch-anatomisches Substrat noch einen Geist.«41 Dem widerspricht allerdings Lacan vehement, wenn er »in der psychoanalytischen Darstellung des Subjekts« das »volle Sprechen« gegen das »leere« setzt. Über eine angebliche Zweierbeziehung hinaus ginge es in der analytischen Praxis um »Fälle der Resonanz in den Kommunikationsnetzen des Diskurses«.42

40. J. Butler: Haß spricht, S. 230 u. 226. 41. Vgl. Wolfgang Leuschner: »Einleitung«, in: Sigmund Freud, Zur Auffassung der Aphasien. Eine kritische Studie, hg. v. Paul Vogel, Frankfurt a. M. 1992, S. 26 f. 42. Jacques Lacan: »Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse«, in: ders., Schriften I, Olten / Freiburg i.Br. 1973, S. 71–169, hier S. 105. 267

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Fassen wir mit Derrida zusammen, so würden Lacans »Abwertung des ›record‹, des ›recording‹, der Aufzeichnung und des mechanischen Archivs als eines entfremdeten« als auch das »Motiv der eigenen kreisförmigen Bahn, der Wiederaneignungsbahn des Briefes«, wie sie im Seminar über den Entwendeten Brief entworfen wird,43 zusammen mit Althussers Polizeiruf Gefahr laufen, einem »damals militante[n] Phonozentrismus« uneingeschränkt recht zu geben.44 In Zeiten extremer Telefonie und erhöhter Abrufbarkeit ist dagegen deutlich geworden, daß das Problem der Übertragung sich nicht als ein isoliert phonologisches, allein auf die Stimme konzentriertes darstellen läßt. Solange der »Standby«-Modus durch die Empfangsbereitschaft des Analytikers als Anrufbeantworter gewährleistet ist, stimmen Telefon-Metapher und Anrufungs-Figur in ihrer Forderung nach ubiquitärer Erreichbarkeit überein. In dem Moment aber, in dem die Aufzeichnungen des Anrufbeantworters abgehört, zurückgespult und neu geordnet werden, wird der auffordernde Charakter der Anrufung, ihre inaugurative Kraft, in einen informativen umgemünzt. Für Lacans Anrufungs-Figur im »vollen Sprechen« stellt sich deshalb die Frage, ob sie nicht unter dem Paradigma einer nachgeahmten kybernetischen Epistemologie in Information übersetzt wird und so in einer Welt des Kalküls aufzugehen droht.45 Dieses funktionalisierte Konzept, das die inaugurative Kraft einer wiederholten und wiederholenden Anrufung revidiert bzw. leugnet, ließe dann am strengen »Appellcharakter« des Vorhabens keinen Zweifel mehr: »Was aber war nun jener Appell des Subjekts jenseits der Leere seiner Aussage? Im Anfang ein Appell an die Wahrheit.«46 Das allerdings verstehen schon die Worte des hebräischen Gottes geschickt von sich abzuwenden, indem sie die (polizeiliche) Identifizierung durch Name und Adresse postwendend an den Absender zurücksenden: »Ich bin der Ich bin.« In anderer Übersetzung radikalisiert sich diese Rücksendung im messianischen Versprechen einer Zukunft, der ein sprechendes ›Ich‹ in der Überlieferung zu gedenken verspricht. Übertragung in und an die Sprache, die nicht aufhört zu über / tragen: »Ich werde dasein, als der ich dasein werde.«47

43. Jacques Lacan: »Das Seminar über E.A. Poes Der entwendete Brief«, in: ders., Schriften I, Olten / Freiburg i.Br. 1973, S. 7–60. 44. J. Derrida: »Aus Liebe zu Lacan«, S. 42. 45. Diese Frage stellt Daniel Bougnoux: Le fantôme de la psychanalyse. Critique de l’archéologie freudienne, Toulouse 1991, bes. Kap. 3,4 »Au commencement, l’hypnose«. 46. J. Lacan: »Funktion und Feld«, S. 85. 47. Martin Buber / Franz Rosenzweig (Übersetzung ins Deutsche): Die Schrift. Bd. 1: Die fünf Bücher der Weisung, Stuttgart 1992, Exodus 3,14, S. 159: » Namen«. 268

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Literatur Althusser, Louis: »Über die Ideologie«, in: ders., Ideologie und ideologische Staatsapparate: Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg 1977, S. 130–151. Bougnoux, Daniel: Le fantôme de la psychanalyse. Critique de l’archéologie freudienne, Toulouse 1991. Buber, Martin / Rosenzweig, Franz: (Übersetzung ins Deutsche) Die Schrift. Bd. 1: Die fünf Bücher der Weisung, Stuttgart 1992. Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998. Campe, Rüdiger: »›Pronto!‹ Telefone und Telefonstimmen«, in: Friedrich A. Kittler / Manfred Schneider / Samuel Weber (Hg.), Diskursanalysen, Bd. I, Opladen 1986, S. 69–93. Derrida, Jacques: La carte postale de Socrate à Freud et au-delà, Paris 1980; dt.: Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits, 2. Lieferung, Berlin 1987. — Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, übers. v. Alexander Garcia Düttmann, Frankfurt a. M. 1991. — Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse! Hg., übers. u. mit einer Einleitung v. Hans-Dieter Gondek, Frankfurt a. M. 1998. — »Aus Liebe zu Lacan«, in: ders., Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse! (1998), S. 15–58. — »Widerstände«, in: ders., Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse! (1998), S. 128–178. Ellenberger, Henry F.: Die Entdeckung des Unbewußten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung, Zürich 21996. Erdle, Birgit: »Traumatisierte Schrift. Nachträglichkeit bei Freud und Derrida«, in: Gerhard Neumann (Hg.), Poststrukturalismus: Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart / Weimar 1997, S. 78– 93. Freud, Sigmund: »Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung«, in: ders., Gesammelte Werke, 8. Bd., London 1943, S. 376–387. Gondek, Hans-Dieter: »›La séance continue‹. Jacques Derrida und die Psychoanalyse«, in: Derrida, Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse! (1998), S. 179–232. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen 161993. — »Das Ding«, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 71994, S. 157– 179. — »Das Wesen der Sprache«, in: ders., Unterwegs zur Sprache, Stuttgart 111997, S. 239–268. Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800 / 1900, München 1985. Lacan, Jacques: »Das Seminar über E.A. Poes ›Der entwendete Brief‹«, in: ders., Schriften I, Olten / Freiburg i.Br. 1973, S. 7–60. 269

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— »Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse«, in: ders., Schriften I, Olten / Freiburg i.Br. 1973, S. 71–169. Laplanche, Jean / Pontalis, Jean-Bertrand: Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 121994. Leuschner, Wolfgang: »Einleitung«, in: Sigmund Freud, Zur Auffassung der Aphasien. Eine kritische Studie, hg. v. Paul Vogel, Frankfurt a. M. 1992, S. 7–31. Münker, Stefan / Roesler, Alexander (Hg.): Telefonbuch. Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Telefons, Frankfurt a. M. 2000. Nancy, Jean-Luc: L’Impératif catégorique, Paris 1983. Prasse, Jutta: »Wenn jemand spricht, wird es heller«, in: Fragmente. Schriftenreihe zur Psychoanalyse 35 / 36 (1991), S. 23–30. Roesler, Alexander: »Das Telefon in der Philosophie: Sokrates, Heidegger, Derrida«, in: Münker / Roesler (Hg.), Telefonbuch (2000), S. 142–160. Ronell, Avital: The Telephone Book. Technology, Schizophrenia, Electric Speech, Lincoln, NE / London 1989. Schott, Heinz: »Fluidum – Suggestion – Übertragung. Zum Verhältnis von Mesmerismus, Hypnose und Psychoanalyse«, in: Jean Clair / Cathrin Pichler / Wolfgang Pircher (Hg.), Wunderblock. Eine Geschichte der modernen Seele, Wien 1989, S. 85–95. Siegert, Bernhard: »Gehörgänge ins Jenseits. Zur Geschichte der Einrichtung telephonischer Kommunikation in der Psychoanalyse«, in: Fragmente. Schriftenreihe zur Psychoanalyse 35 / 36 (1991), S. 51–70. Wirth, Uwe: »Piep. Die Frage nach dem Anrufbeantworter«, in: Münker / Roesler (Hg.), Telefonbuch (2000), S. 161–184.

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Das Optisch-Unbewußte. Zur medientheoretischen Analyse der Reproduzierbarkeit Burkhardt Lindner

In den gegenwärtigen Debatten über die neuen (und alten) Medien hat der Begriff der Reproduzierbarkeit offensichtlich an Attraktivität verloren. Reproduzierbarkeit scheint zu sehr fixiert an eine Logik der Repräsentation, die auf eine Abbildfunktion beschränkt ist und die technische Autonomie der Medien leugnet. Aber – das wird zu leicht übersehen – Reproduktion und Reproduzierbarkeit sind nicht identisch. Reproduktion gehört zum Bereich der Kopie, betrifft ein gegebenes Objekt und seine erneute Herstellung. Reproduzierbarkeit ist hier nur in der Weise impliziert, als alles von Menschen Gemachte auch wieder von Menschen nachgemacht werden kann. Auf den Umkreis nachahmender Reproduktion blieb die Reproduzierbarkeit lange verwiesen. Technische Reproduzierbarkeit bezieht sich im Gegensatz dazu nicht auf ein vorgegebenes Objekt oder einen Bereich vorgegebener Objekte, sondern bezeichnet die Transformation eines Bereichs, dessen Objekte nur mehr als Reproduktionen produziert werden. Das Suffix »-barkeit« zeigt einen Einschnitt an, in dem ein Bereich der traditionellen, etablierten kulturellen Praktiken, eben der des Kopierens und Nachahmens, neuen Produktionsweisen unterworfen wird. Das Technische der neuen Produktionsweise ist an Apparate und Maschinen gebunden, deren Leistungen das traditionale Praxisfeld von Auge und Hand übersteigen (auch wenn sie dann als Geräte wieder handhabbar gemacht werden). Deshalb wäre es auch irreführend, von einer Verbesserung oder Effektivierung der Reproduzierbarkeit zu sprechen. Vielmehr wird ein neuer Standard und ein neuer Objektbereich des Reproduzierbaren etabliert. Der Buchdruck beispielsweise hat nicht die bisherigen Manuskripte maschinell reproduzierbar gemacht, sondern den bisherigen Status der Handschrift durch das technische Medium des Drucks ersetzt. Die mediale Funktion der Photographie erstreckte sich nicht auf die Reproduktion vorhandener Gemälde, son271

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dern konfrontierte die bisherigen Praktiken zeichnerisch-malerischer Abbildung mit einem neuen technischen Standard der Abbildung durch Lichtbildfixierung. Damit wird bereits deutlich, daß Reproduzierbarkeit den Begriff der Tradition oder der Überlieferung grundsätzlich betrifft. Es handelt sich also nicht allein um eine technische Steigerung bisheriger kultureller Praktiken, sondern zugleich um eine Infragestellung und Neubestimmung der in ihnen inkorporierten Auffassungen über die Autorität und Substanz des Kulturellen, insbesondere des Ästhetischen und der Kunst. Ich möchte im ersten Teil skizzieren, wie diese Problematik unter den Bedingungen der elektronisch-digitalen Computertechnologie sich neu und sehr dringlich geltend macht und damit insbesondere einige Überlegungen Benjamins neu zu diskutieren verlangt, der als erster und mit diagnostischer Schärfe den Begriff der Reproduzierbarkeit in die kunst- und medientheoretische Debatte eingeführt hat. Den Horizont seiner Überlegungen bildete die politisch und massen-therapeutisch zugespitzte und am Schicksal der Kunst abgelesene Konstruktion einer weltgeschichtlichen Traditionskrise. Während die erstaunliche rhetorische Kraft dieser Konstruktion die Rezeptionsgeschichte des Kunstwerkaufsatzes bestimmt hat (in affirmativen, ablehnenden oder eklektischen Lektüren), ist ein anderer, weniger prominenter Strang seiner Überlegungen fast unbeachtet geblieben: Benjamins Interesse am besonderen Medium Film und, damit verbunden, an der Analogie zwischen der technischen Reproduzierbarkeit und den psychischen Reproduktionsstörungen, die die Psychoanalyse entdeckt. Was aus dieser Analogie zu gewinnen wäre, wird im zweiten Teil erörtert.

Technische Reproduzierbarkeit, Traditionskrise und Kunst Mit der Allgegenwärtigkeit der sogenannten Massenmedien – der Presse, dem Rundfunk, dem Fernsehen, jetzt dem Computer und dem Internet – haben sich als eine unbezweifelbare gesellschaftliche Macht ›die Medien‹ etabliert, die ständig beredet, aber dadurch keineswegs faßbarer werden. Wir werden uns schnell einig sein, vermute ich, daß die Wissenschaft – und sei es die Medienwissenschaft – keine exakte Gegenstandsbestimmung der Medien bereitstellt. Ein wichtiges Indiz für diese Verlegenheit ist der Umstand, daß wir – anders als im Falle der Sprache, der Kunst, der Literatur usw. – von Medien im Singular nicht sprechen. Offenkundig weil ihr begrifflich-spekulatives Pendant – die Medialität – schwer zu bestimmen ist. (Ich könnte hier eine Reihe von Definitionsversuchen zitieren, die allesamt nur die behauptete Verlegenheit unter Beweis stellen.) Fast scheint es, als sei der Terminus für Medien im Singular – das Medium – reserviert für okkultisch-spiri272

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tistische Vorgänge, in denen eine somnambule Frau Botschaften aus dem Jenseits empfängt. Medium oder Medialität setzt eine Metaphorizität in Gang, die sich nicht fixieren läßt: Mittel, Milieu, Sphäre, Träger, Botschafter, Aufzeichnung, Spur, Sendung … Dennoch kommt man um eine Definition des Begriffs der Medialität nicht herum. Denn zum einen bleibt eine historische Taxonomie der Einzelmedien völlig unbefriedigend, weil deren Zahl schlechterdings nicht zu begrenzen wäre. Andererseits beginnt sich jetzt eine Medientechnologie und eine ihr korrespondierende Wissenschaft durchzusetzen, die in der vernetzten Computerisierung das absolute Medium, das Medium der Medien, realisiert findet. Die Digitalisierung, die die Transformation aller bisherigen medialen Leistungen in numerische Datencodes verheißt, werde alle bisherigen Medien ersetzen, verschlucken, außer Kraft setzen und übersteigen. (Auch das sind wieder unvermeidliche Metaphern.) Daß diese zweite Version der Mediengeschichte interessanter und produktiver ist als eine additive Geschichte der Einzelmedien, liegt auf der Hand. Denn sie geht von der richtigen Einsicht aus, daß technische Medien keineswegs einfache Hilfsmittel oder Werkzeuge sind. Wenn die Technisierung nur in der Verbesserung menschlicher Hilfsmittel und Werkzeuge bestünde, bräuchten wir über sie gar nicht nachzudenken und könnten darauf vertrauen, daß alles immer besser, effektiver, einfacher wird. Nur ist die zweite Version von diesem Optimismus – oder seiner apokalyptischen Kehrseite – gar nicht so unterschieden, wie es zunächst scheint. Sie rechnet mit einer Finalisierung des Technischen, die alles dem Menschen Mögliche übersteigt. Das Ereignis neuzeitlicher Technik läßt sich in Parametern des Fortschritts aber nicht fassen; und was wir Fortschritte der Menschengattung nennen könnten, läßt sich ins Technische nicht ersatzlos übersetzen. Die Medien sind, so lautet meine Hypothese, der Ort dieses Konflikts, und in dieser Hinsicht ist die Kunst und die Medialität der Künste ein besonderer, entscheidender Ort des Konflikts. Diese Einsicht war in früheren Mediendebatten präsenter, die, was die deutschen Debatten anlangt, durch zwei auffällig getrennte und zeitlich verschobene Diskurse bestimmt wurde, die ich abgekürzt den Kulturindustrie-Diskurs und den McLuhan-Flusser-Diskurs nennen möchte. Indem beide Diskurse zu alternativen medientheoretischen Paradigmen vereinfacht wurden, geriet rezeptionsgeschichtlich aus dem Blick, daß beide Diskurse auf eine, durchaus nicht nur implizite, Konzeption der Kunst und des Ästhetischen gegründet sind. Diese Ausblendung des Ästhetischen hatte wiederum zur Konsequenz, daß gegenwärtig die Impulse McLuhans – vor allem seine Konzepte von den Medien als ›extensions of man‹ und vom ›global village‹ als MedienWelt-Dorf – wesentlich informations- und nachrichtentheoretisch aufgenommen wurden. 273

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Der Computer als universelle diskrete Maschine, die alle technisch implementierbaren Operationen in einer numerischen Sprache kalkulieren und durchführen kann, erscheint in dieser Hinsicht als das anthropologische Ende und Ziel der Geschichte der Medien. Die Technologie der Computervernetzung ist dabei, die letzte Stufe der technologischen Ausweitung des Menschen (›extension of man‹) zu erreichen, die Heraussetzung des Zentralnervensystems oder des Hirns. Die Differenz zwischen der Innerlichkeit der Person und der äußeren Welt verschwindet, die psychischen und somatischen Sinne des Individuums hören auf, gegenüber elektronisch flottierenden Signalen eine Grenze zu bilden. Diese Medienutopie einer un-mittelbaren Gemeinschaft oder einer immateriellen Kommunion im Mentalen ist genau betrachtet gar nicht neu, sondern in pneumatologischen Konzepten der Religion längst formuliert. Ich möchte dazu nur lakonisch bemerken: In jeder Epoche technologischer Umwälzung erneuert sich die Metaphysik … Bleiben wir bei dem technologischen Aspekt des Computers, nämlich bei der Erwartung, daß die Digitalisierung die Leistungen aller bisherigen Medien übernimmt, transformiert und zu Ende führt. Technologisch, in der Logik der Technik, ist das nicht absurd, auch wenn man einschränkend sagen muß, daß die jüngere Technikgeschichte ein erstaunliches Nebeneinander alter und neuer Techniken zeigt. Doch wird, und darauf kommt es mir nun ganz entschieden an, die finalistische Logik der Technik konterkariert durch einen ›Gegner‹, den sie nicht in gleicher Weise subsumieren kann wie andere Bereiche des Effektiven: die Kunst. Es ist eine Besonderheit der Künste, eingeschlossen die Bewegungen der Avantgarden, der Anti-Kunst, daß sie gegenüber ihrer eigenen Geschichte und Geschichtlichkeit nicht indifferent sein können. Der Geschichte der Technik, ebenso wie der Geschichte der Medien als Medien-Technik-Geschichte, ist die Frage nach der Gegenwärtigkeit des Vergangenen gleichgültig. Sie konstruiert die Teleologie von Evolutionen und erklärt damit, daß der Computer nicht vom Himmel gefallen ist, sondern auf Vorläufer zurückreicht, und daß eigentlich schon Adam und Eva auf nichts anderes als den Computer hingearbeitet haben. Was die Geschichte der Künste anlangt, steht die Sache anders. Eine steinzeitliche Skulptur können wir nicht ästhetisch indifferent wie ein technisches Fossil betrachten, ebenso wie wir Hieroglyphen, auch wenn wir sie nicht lesen können, als einen Appell wahrnehmen, der an uns gerichtet ist. Mit allen oben gemachten Vorbehalten können wir die Medien als Reproduktionstechniken definieren, die – wie im einzelnen auch immer – die Funktionen des Aufzeichnens, des Speicherns, der internen / externen Verarbeitung, des Abrufens / Verbreitens / Übertragens und der möglichst zeitlosen Aufbewahrung erfüllen. Mit diesen Funktionen 274

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und dieser Definition ist der Computer ›unschlagbar‹, was insofern auch nicht erstaunen kann, als ja die Definition selbst eine teleologische Rückprojektion des Computers auf die Mediengeschichte darstellt. Im Bereich der Künste aber differieren diese Funktionen, obschon sie sich allesamt auf das Kunstwerk übertragen lassen, grundlegend. Diese Einsicht mit großer Entschiedenheit herausgearbeitet zu haben, ist das Verdienst Benjamins. »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« hat, und das sagt schon der Titel der Schrift, im Kunstwerk seinen zentralen Gegenstand. Es heißt eben nicht: Das Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit und die Kunst. Das Kunstwerk bildet den Ort oder den Schauplatz einer Umwälzung, einer Krise, einer Erschütterung, die im weltgeschichtlichen Maßstab konstruiert wird. Gegenwart und Urzeit sind die beiden Pole, die Benjamin miteinander konfrontiert. Diese Konstruktion, die durchaus Parallelen zu Heideggers »Ursprung des Kunstwerks« eröffnet, unterscheidet Benjamins Text von einer bloßen Sozialgeschichte der Reproduktionstechniken, auf die er oftmals reduziert wurde. Und ebensowenig – eine weitere häufig anzutreffende Fehllektüre – ist das Theorem der Zertrümmerung oder Liquidierung der Aura mit einer These vom Ende der Kunst gleichzusetzen. Der Text spricht nicht vom Verschwinden des Kunstwerks im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Er läßt vielmehr keinen Zweifel daran, daß der Film als das damals avancierteste Medium der Reproduzierbarkeit analysiert wird, weil er eine ›Kunstform‹ darstellt. Benjamin schreibt: »Um neunzehnhundert hatte die technische Reproduzierbarkeit einen Standard erreicht, auf dem sie nicht nur die Gesamtheit der überkommenen Kunstwerke zu ihrem Objekt zu machen und deren Wirkung den tiefsten Veränderungen zu unterwerfen begann, sondern sich einen eigenen Platz unter den künstlerischen Verfahrensweisen eroberte. Für das Studium dieses Standards ist nichts aufschlußreicher, als wie seine beiden Manifestationen – Reproduktion des Kunstwerks und Filmkunst – auf die Kunst in ihrer überkommenen Gestalt zurückwirken. […] Das reproduzierte Kunstwerk wird in immer steigendem Maße die Reproduktion eines auf Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerks.« 1 Der Film ist von vornherein ein auf Reproduzierbarkeit angelegtes Werk, so daß es widersinnig erscheint, von ihm nur eine einzige Kopie

1. Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: ders., Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung v. Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Bd. I.2, Frankfurt a. M. 1974, S. 475 u. 481. Ich zitiere nach dieser Fassung des Kunstwerkaufsatzes, da sie die auch als Einzelausgabe verbreitetste ist, erinnere aber ausdrücklich an die in Bd. VII.1 abgedruckte Fassung, die, aus hier nicht zu erörternden Gründen, als die maßgebliche angesehen werden muß. 275

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herzustellen. (Was sich weiter in dieser Bestimmung »auf Reproduzierbarkeit angelegt« verbirgt, wird noch zu diskutieren sein). Was zunächst als eine eher technisch ausgerichtete Charakterisierung erscheinen mag, erweist seine Tiefenschärfe darin, daß es mit der Problematik der Überlieferung verknüpft wird. »Die Echtheit einer Sache ist der Inbegriff alles vom Ursprung her an ihr Tradierbaren, von ihrer materiellen Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft. Da die letztere auf der ersteren fundiert ist, so gerät in der Reproduktion, wo die erstere sich dem Menschen entzogen hat, auch die letztere: die geschichtliche Zeugenschaft der Sache ins Wanken. […] Die Reproduktionstechnik, so ließe sich allgemein formulieren, löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab. Indem sie die Reproduktion vervielfältigt, setzt sie an die Stelle seines einmaligen Vorkommens sein massenweises.«2 Dies ist keineswegs sofort einsichtig. Wieso soll die durch Reproduzierbarkeit ermöglichte massenhafte Verbreitung destruktive Konsequenzen für die Überlieferung haben? Wieso kann Benjamin von einer dadurch hervorgerufenen »Liquidierung des Traditionswertes am Kulturerbe«3 sprechen? Die Schwierigkeiten und Mißverständnisse, zu denen der Text durchaus Anlaß gibt, entstehen dadurch, daß der Reproduzierbarkeit die Opposition einmaliges Vorkommen vs. massenweises Vorkommen des Kunstwerks unterlegt wird und das einmalige Vorkommen dann noch als eine überhistorisch-dingliche Entität, die sich von einer Generation auf die nächste vererbt, verstanden wird. Beide Mißverständnisse lassen sich mit Hilfe des Textes erzeugen – aber auch ausräumen. ›Traditionswert‹ meint nämlich nichts museal Fixiertes – das Museum ist vielmehr nur eine historische Form des Tradierens –, sondern bildet eine eigene Variable. »Die Einzigkeit des Kunstwerks ist identisch mit seinem Eingebettetsein in den Zusammenhang der Tradition. Diese Tradition selber ist freilich etwas durchaus Lebendiges, etwas außerordentlich Wandelbares.«4 Dieses ›Eingebettetsein‹ ist offenbar eine einzigartige Lage, aber keine statische. Denn die Strukturen und Institutionen der Tradition verändern sich. Das Kunstwerk wird sozusagen in epochalen Schüben umgebettet, bleibt aber in seiner Einzigkeit erhalten. Umgekehrt aber ist es gerade auch die Einzigkeit, die durch die Epochen hindurch eine ›Einbettung‹ hervorruft oder erzwingt. Eine antike Venusstatue, ebenfalls Benjamins Beispiel, die von den Griechen verehrt und von den mittelalterlichen Mönchen verabscheut und verteufelt wurde, produzierte den gleichen Effekt des Ein-

2. Ebd., S. 477. 3. Ebd., S. 478. 4. Ebd., S. 480. 276

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maligen und Besonderen. Und gewann, so wäre der Gedanke fortzusetzen, in der Neuzeit den Charakter eines vollendeten Kunstwerks, eines Optimums der schönen Gestalt. Was wir die ›geschichtliche Zeugenschaft‹ des Kunstwerks nennen können, besteht also nicht primär in einer mit sich identischen dinglichen Einmaligkeit, sondern im Überlieferungszusammenhang, in dem diese jeweils neu situiert wird. Mit dieser Situierung (›Einbettung‹) verändern sich jeweils auch die Kategorien, mit denen das Substrat des Singulären gedacht wird, z. B. der Begriff der Echtheit, der in der großartigen Fußnote über das Madonnenbild als historische und problematische Vorstellung charakterisiert wird. Es heißt: »Echt war ein mittelalterliches Madonnenbild ja zur Zeit seiner Anfertigung noch nicht; das wurde es im Laufe der nachfolgenden Jahrhunderte und am üppigsten vielleicht in dem vorigen.«5 Und ebenso ist das andere Beispiel – die antike Venusstatue – geeignet, diesen Traditionswandel zu verdeutlichen. Von ihr gab es kein einmaliges Exemplar, sondern vielmehr eine vermutlich sehr massenweise Verbreitung. Es ist also notwendig, den Begriff des Originals noch etwas näher zu bedenken. Original kommt von Origo, Ursprung. Zwar sehr anders als Heideggers »Ursprung des Kunstwerks«, geht es auch Benjamin um den Ursprung des Kunstwerks und sein heutiges Schicksal. Von diesem Ursprung sagt er nun zum einen, er beruhe auf einem Entzug. Die ersten kultischen Kunstobjekte waren verborgen, unzugänglich, dem profanen Zugriff verwehrt. Zugleich sagt er – und das ist der erste Satz nach der Vorbemerkung –: »Das Kunstwerk ist grundsätzlich immer reproduzierbar gewesen.« Das heißt aber: Es gab nie den archaischen Fixpunkt einer ursprünglichen und unhintergehbaren Einzigartigkeit. Das führt auf die interessante Frage, wieweit es in bestimmten Gesellschaften ein Tabu der Reproduktion gegeben hat (Bilderverbot; Mimesis-Kritik). Jedenfalls müßte man im Foucaultschen Sinne Diskurspraktiken der Verknappung und der Hierarchisierung genauer herausarbeiten, die die Reproduzierbarkeit einschränkten, herabstuften, verboten oder aber in bestimmten Bereichen für unbedenklich erklärten. Wenn man sich diese Wandelbarkeit der Tradition selbst vor Augen hält, die bis in die Extreme der Traditionsvernichtung, der Auslöschung von Überkommenem reicht, verliert die Formulierung vom ›Standort des Originals‹ ihren affirmativen Zug. Das Kunstwerk hat »sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet.«6 ›Sich befindet‹ heißt: es befindet sich immer schon ›dort‹. ›Dort‹ ist der imaginäre Ort, den das Kunstwerk aufrichtet, wo es als ›Selbes und Identisches‹ in seinen Umbettungen immer neu hervorgebracht wird. Die

5. Ebd., S. 476. 6. Ebd., S. 476 und S. 475. 277

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Origo des ›Hier und Jetzt‹, das ›Hic et Nunc‹, ist die entscheidende Bestimmung der Einzigkeit. (Sie läßt sich mit dem vergleichen, was Heidegger das »reine Insichstehen des Werkes«7 nennt.) Diese Einzigkeit ist nicht identisch mit der materiell-dinglichen Einmaligkeit. Wenn also die technische Reproduzierbarkeit eine Krisis und Erschütterung der Tradition bewirkte, nämlich eine umfassende ›Liquidierung des Traditionswertes am Kulturerbe‹, so ist dies nicht einfach als Resultat einer reproduktiven Vervielfältigung zu begreifen. Die Veränderung, die sich vollzog, betrifft vielmehr die ›materielle Dauer‹. Wie es in der bereits zitierten Passage heißt, hat sich durch die Reproduktionstechnik die materielle Dauer ›dem Menschen entzogen‹. Nichts anderes ist der Fall, wie die Digitalisierung heute deutlich erkennen läßt. Die materielle Dauer hat sich dem Menschen entzogen und ist Produkt der Technik geworden. Keine kulturelle Überlieferung bestimmt mehr vorab darüber. Sie ist, anders gesagt, aus dem Prozeß der Überlieferung herausgenommen, der sich in der Abfolge von Generationen vollzieht. Welche Konsequenzen dies für den Kunstbegriff hat, ist noch gar nicht abzusehen. So hat sich gegen eine derart verschleißlose und unendliche Speicherung in den Künsten die ästhetische Zeitform des Flüchtigen, Plötzlichen, Ereignishaften etabliert, die die Möglichkeiten der technischen Reproduktion und Archivierung zugleich voraussetzt wie ironisch unterläuft. Je weniger gegenstandshaft das Kunstwerk ist, desto aufwendiger müssen die Maßnahmen ausfallen, es als Spur zu bewahren. Vieles wiederum von dem, was Benjamin am Vorbild der Filmtechnik beschrieb, hat sich erst im Verlauf des Fernsehens und gegenwärtig der Computergeschichte durchgesetzt und als Sozialverhalten sedimentiert.8 Ich breche hier ab, um in einer Art Zwischenbilanz die bisherigen Überlegungen zu resümieren und im Anschluß daran die historische Kon-

7. Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerks (mit einer Einführung von Hans-Georg Gadamer), Stuttgart 1962, S. 38. Anschließend beschreibt Heidegger die Traditionskrise, die durch den Kunstbetrieb, die Museen, die akademische Erforschung bewirkt wird und das Werksein des Werks zerstört. Eine Parallellektüre von Heideggers mit Benjamins zeitgleichem Text, der zunächst in Vorträgen bekannt wurde, wäre aufschlußreich: nicht nur, weil Heidegger alles ausspart, was Benjamin thematisiert (Reproduzierbarkeit und Film, Massenrezeption, Faschismus), sondern vor allem im Blick auf die Konstruktion eines Ursprungs des Kunstwerks bei beiden. 8. Insbesondere die Begriffe der Zerstreuung und der Massenrezeption müssen ganz neu gefaßt werden. Vgl. dazu Burkhardt Lindner: »Les médias, l’art et la crise de la tradition«, in: Mémoire et Médias, hg. v. Louise Merzeau u. Thomas Weber, http:// www.avinus.de/inhalt.htm 278

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stellation von Reproduzierbarkeit und Film zu präzisieren, die dem Kunstwerkaufsatz zugrunde liegt. 1. Das Kunstwerk, das immer schon reproduzierbar war, verwandelt sich in ein Kunstwerk, das auf technische Reproduzierbarkeit angelegt ist. Das ›Original‹ wird aus Reproduktionen (Aufnahmen) hergestellt und besteht aus beliebig vielen ›Kopien‹, die wiederum beliebig oft aufführbar oder auszugsweise zitierbar sind. In dieser Hinsicht bildete der Buchdruck in der Tat einen (folgenreichen) Sonderfall, nicht nur, weil er bis ins 19. Jahrhundert, bis zur Rotationspresse, wesentlich ein Handwerk blieb, sondern weil er die technische Reproduzierbarkeit auf die der Schrift beschränkte. In der ersten Epoche der Großen Maschinerie (Marx) gelangte tatsächlich nur die Alphabetschrift, die digitale Aufzeichnung der Lautsprache, in den Status technischer Reproduzierbarkeit. Erst mit den neuen analogen Aufzeichnungsmedien des 19. und 20. Jahrhunderts wurde ersichtlich, daß dieser Sonderstatus der Literatur zum Normalfall werden könnte. Das hatte Konsequenzen für den Begriff der Geschichtlichkeit der Überlieferung, der Tradition. 2. Durch die technische Reproduzierbarkeit hat sich die materielle Dauer des Kunstwerks dem Menschen entzogen. Es ist nicht länger auf den Prozessen der generationsmäßigen Überlieferung und der handwerklichen Bewahrung fundiert. Die diagnostische Einsicht, daß das Kunstwerk ins Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit eingetreten sei und daß die technische Reproduzierbarkeit am Schicksal der Kunst ihre entscheidende politische Deutung finde, hatte Benjamin (für seine Gegenwart) als epochale Traditionskrise beschrieben. Mittlerweile müssen wir von sich erneuernden Schüben derartiger Traditionskrisen sprechen, die einer Logik gehorchen, die hier schon deutlich erkannt wurde: Traditionskrisen in der Moderne sind primär technologisch induziert und gehorchen nicht länger primär der Logik politischer Herrschaftsumbrüche und der Erosion durch von unten ›aufsteigende‹ Religions- und Kultursysteme. 3. Die Einmaligkeit des ›Standorts‹ des Kunstwerks eröffnet der ästhetischen Erfahrung ein Hier und Jetzt, das aus dem Alltagsleben heraustritt und eine Grenze aufrichtet. Dieser immaterielle und darin nicht reproduzierbare Standort kann errichtet werden durch den Rahmen der Malerei, durch den Titel und den Namen des Autors, durch das Museum, durch das Kino usw. Das ist der Grund, weshalb die Medien der informatorischen und elektronischen Zirkulation – Zeitung, Rundfunk, Fernsehen, Computer – für sich kaum in der Lage sind, Orte der Kunst herauszustellen und genuine Kunstformen auszubilden, während im Gegensatz dazu traditionale Orte, das Museum und das Theater, längst begonnen haben, zum Ort elektronischer Kunstformen, z. B. Installationen und Performances, zu werden. (Das Internet bedürfte hier einer eigenen Betrachtung.) Insofern verfuhr Benjamin sehr konsequent, indem er den Film der Theorie vom Kunstwerk im Zeitalter sei279

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ner technischen Reproduzierbarkeit zugrunde legte und nicht das ›technisch fortgeschrittenere‹ Radio oder das beginnende Fernsehen. Dieser dritte Aspekt nun, der im Text eher flüchtig berührt wird, ist aber ganz entscheidend. Er verweist auf den Einsatz der Konzeption, die der Titel formuliert: das »seiner«. Benjamins Kriterium lautet, liest man genau, das Kunstwerk in »seiner« technischen Reproduzierbarkeit, nicht in irgendeiner allgemeinen. Damit macht er unmißverständlich deutlich, daß der Begriff der technischen Reproduzierbarkeit einer Spezifizierung im Sinne dieses »seiner« bedarf. Keineswegs also bildet der Film nur einen entsprechend des technischen Fortschritts auswechselbaren Standard der Reproduzierbarkeit, sondern eine sozusagen ästhetisch vollgültige und historisch unverwechselbare Kunstform. Diese Spezifizierung ist um so notwendiger, als nur so der genuine Ort des Ästhetischen im übergreifenden Prozeß der Technisierung der Lebenswelt (Blumenberg) ausgemacht werden kann und damit das Spannungsverhältnis zwischen der Technisierung des Kunstwerks und der neuzeitlichen Technik. Nur so läßt sich der zunächst verwunderliche rezeptionstheoretische Zugang, den Benjamin eröffnet, besser begreifen und weiterdenken. Denn wenn er im Kunstwerkaufsatz einleitend von der Umwälzung kollektiver Wahrnehmungsformen spricht, so korrespondiert dieser Begriff der Wahrnehmungsformen mit einem anderen: der ›Rezeption der Technik‹.9 Warum ist es notwendig, von der Rezeption der Technik zu sprechen? Notwendig ist dies vor allem deshalb, weil das Technische aus dem Feld der Werkzeuge und einfachen Maschinen herausgetreten ist, die nach dem Modell des homo faber gedacht waren. Es teilt sich nur über den Umweg der Rezeption mit. Anders gesagt: Das Wesen des Technischen erschließt sich nicht länger durch philosophische Kontemplation, sondern durch Gewöhnung, die Gewohnheit erzeugt. Gewohnheit ist der Modus der Bewohnbarkeit der von niemandem beschlossenen und von niemandem beschließbaren technischen Umwälzungen. Die Rezeption durch Gewöhnung stellt einen zugleich überindividuellen wie körperlichen Vorgang dar. Die gewohnhaften, körperlichen, kollektiven Momente dieser Rezeption werden in dem Begriff des ›Taktilen‹ erfaßt und gegen einen dominierenden Technikdiskurs gerichtet, der ›den Menschen‹ und ›die Technik‹ in ein teleologisches Verhältnis setzt. Taktilität stellt, anders als die bloße Optik, ein Körperbild her, das sensomotorische und affektive Verläufe umschreibt. Wesentlich an dieser Konzeption ist der interessante und für die

9. Benjamins Begriff der Rezeption der Technik und ihres Verunglückens wird erstmals nachdrücklich im Schlußstück der Einbahnstraße formuliert. Was die Verknüpfung mit dem Kunstwerkaufsatz betrifft, so ist hier unbedingt die im Bd. VII.1 abgedruckte Fassung heranzuziehen, insbesondere S. 368 ff. 280

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heutigen Verhältnisse weiter ausbaufähige Gedanke, daß das Kunstwerk, indem es in das Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit eintritt, nicht nur an der Technisierung teilhat, sondern qua Reproduzierbarkeit eine einübend-bewältigende Rezeption der Technik ermöglicht. Diese Ermöglichung kann nur durch die Spezifik der Reproduzierbarkeit des Ästhetisch-Visuellen bewirkt werden und nicht durch den abstrakt-technischen Status des Reproduziertseins. Letzteres liefe auf die absurde Argumentation hinaus, daß Filmkopien einander technisch identisch sind wie die am Fließband produzierten Autos eines bestimmten Typs. Niemand aber betritt ein Kino, um die Feststellung zu machen, die hier gezeigte Kopie sei mit der anderswo gesehenen identisch. In diesem Sinne kann auch nicht in der massenhaften Verbreitung und der quasi-massenhaften Rezeption im Kinosaal die entscheidend neue Qualität und Funktion der Reproduzierbarkeit bestehen, sondern darin, daß Geschehensabläufe, die wir, im Alltag ebenso wie auf der Theaterbühne, als einzigartig hier und jetzt ablaufend erleben, nunmehr als wiederholbar, nämlich reproduzierbar erfahren werden. Die bewußte Wiederholung eines Wahrgenommenen, die Kierkegaard in ihrer Vergeblichkeit philosophisch demonstrierte, erscheint mit einem Mal technisch hergestellt.10 Und zwar jenseits unseres bewußten Erinnerns: die Filmkopie erinnert sich allemal besser. Bedenkt man nun, daß die Psychoanalyse, wäre sie durch einen einzigen Grundgedanken zu charakterisieren, in dem Versuch besteht, das Rätsel des Vergessens und der entstellten Erinnerung zu lösen, wird verständlicher, warum Benjamin im Kunstwerkaufsatz auf eine Analogie zwischen seiner Analyse und der Freuds stößt.

Das Optisch-Unbewußte in der filmischen Reproduzierbarkeit Wir müssen heute den Einschnitt, den Benjamin als Reproduzierbarkeit durch die analogen Reproduktionsverfahren der Fotografie, des Films und des Grammophons erstmals thematisierte, neu bedenken. Was er am Leitfaden des Mediums Film analysierte und als Krise der Tradition artikulierte, ist dabei nicht nur prospektiv auf die Reproduktionstechnologie des Computers und des Internets zu projizieren, sondern ebenso auf die mittlerweile gealtertete Bilderzeugung des Films rückzubeziehen. Der klassische Kino-Film ist zweifellos alt geworden. Er wurde durch das Fernsehen und die Videotechnik einer zweiten Reproduzier-

10. Søren Kierkegaard: »Die Wiederholung«, in: ders., Die Krankheit zum Tode (und andere Schriften), hg. v. Hermann Diem u. Walter Rest, Köln / Olten 1956. Im einleitenden Text wird die Wiederholung der Erinnerung gegenübergestellt. 281

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barkeit unterworfen. Das Fernsehen hat ihn aus dem Kino in die Privatwohnung verwiesen und auf einem kleinen, elektronisch gerasterten und unter ganz anderen Lichtverhältnissen stehenden Schirm neu eingerichtet; die Videoaufzeichnung und -abspielung hat ihn einer neuen Handhabbarkeit unterworfen. Doch wird gerade in dieser Verkleinerung und reproduktiven Verbreitung die in der Kinofilm-Wahrnehmung implizierte Struktur der Wiederholung offenkundig. Reproduzierbarkeit meint ja nicht allein das Prinzip einer massenhaften Verbreitung, d. h. einer Wiederholung an verschiedensten Orten und zu verschiedensten Zeiten, sondern das Prinzip der jederzeitigen Wiederholbarkeit. (Das Video ermöglichte dies als technischen Komfort; aber auch ein Kinofilm ließ sich mehrfach hintereinander besichtigen: beide Male nähert sich die Rezeption der Arbeit am Schneidetisch an, der Wiederholbarkeit zugrunde liegt.) Hier nun ist es erforderlich, die im Kunstwerkaufsatz sozusagen mit leichter Hand eingeführte – und deshalb unbeachtet gebliebene – Analogie von Film und Psychoanalyse genauer zu bedenken und damit auch den irritierenden Begriff des ›Optisch-Unbewußten‹ ganz ernstzunehmen. Der Psychoanalyse, sowenig sie die Argumentation insgesamt fundiert, ist immerhin ein ganzer Abschnitt des Kunstwerkaufsatzes gewidmet11, der hier Satz für Satz zitiert und kommentiert werden müßte. Ich begnüge mich damit, die beiden Hauptaspekte zu resümieren. Auf den ersten Blick scheint der Abschnitt auf eine populärwissenschaftliche Analogisierung von Psychoanalyse und Film hinauszulaufen. So heißt es: »Der Film hat unsere Merkwelt in der Tat mit Methoden bereichert, die an denen der Freudschen Theorie illustriert werden können. Eine Fehlleistung im Gespräch ging vor fünfzig Jahren mehr oder minder unbemerkt vorüber. […] Seit der ›Psychopathologie des Alltagslebens‹ hat sich das geändert. Sie hat Dinge isoliert und zugleich analysierbar gemacht, die vordem unbemerkt im breiten Strom des Wahrgenommenen mitschwammmen. Der Film hat in der ganzen Breite der optischen Merkwelt, und nun auch der akustischen, eine ähnliche Vertiefung der Apperzeption zur Folge gehabt.« 12 Anschließend wird näher ausgeführt, wie die Kamera »mit ihren Hilfsmitteln, ihrem Stürzen und Steigen, ihrem Unterbrechen und Isolieren, ihrem Dehnen und Raffen des Ablaufs, ihrem Vergrößern und ihrem Verkleinern« Anblicke hervorbringt, wie sie als Wiedergabe der Umwelt

11. W. Benjamin: »Das Kunstwerk«, Bd. I.2, S. 498–500, u. Bd. VII.1, S. 375–378. In der letzteren Fassung spricht Benjamin von einer »therapeutischen Sprengung des Unbewußten« durch die amerikanischen Grotesk- und Trickfilme. 12. Ebd. (Bd.I.2), S. 498. 282

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vorher nicht möglich waren. Dabei fällt die die erstaunliche Formulierung: »So wird handgreiflich, daß es eine andere Natur ist, die zu der Kamera als die zum Auge spricht. Anders vor allem dadurch, daß an die Stelle eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Raums ein unbewußt durchwirkter tritt.«13 Was aber wäre diese unbewußte Durchwirkung? Was also kann in diesem Begriff aufgewiesen werden? Zunächst lenkt er die Aufmerksamkeit darauf, daß der Film das Feld der alltäglichen Wahrnehmung nur sehr begrenzt filtern kann. Jede Kameraaufnahme, auch die Studioaufnahme, muß mehr aufnehmen, als die Aufnahmeregie verarbeiten und kontrollieren kann. Die Oberfläche des Filmisch-Abgebildeten ist notwendig immer schon komplett; sie wird erst post festum von ihrer Lückenhaftigkeit eingeholt. Man macht die Erfahrung, zumal bei älteren Filmen, daß Realien, Details, Blickweisen, Gesten als bedeutsam ins Auge fallen, die quer zur psychologischen Filmhandlung stehen. Der Film kippt sozusagen ins Gefilmte, und das Gefilmte zersetzt den Film. Eine weitere mediale Eigenart der Filmapparatur kommt hinzu. Bekanntlich kann die Kamera den Eingriff, den sie darstellt, nicht selbst noch einmal darstellen. Gleiches gilt für den Montage-Schnitt, der nicht in seinem Vollzug präsentierbar ist, sondern nur als vollzogener sich mitteilt. Beide Male handelt es sich um unsichtbare Lücken, die das Sichtbare ermöglichen. Anders gesagt: die Durchwirkung des Raums läßt sich nur als Lektüre einer Spur, die das Mediale hinterlassen hat, nachvollziehen. Eine Interpretation, die das ›Optisch-Unbewußte‹ mit dieser Bewußtlosigkeit der technischen Apparatur identifiziert, ergibt freilich noch keinen Sinn. Vom Unbewußten zu sprechen, heißt, vom Unbewußten als Diskonstituens des menschlichen Subjekts zu sprechen. Wenn also das von der Kamera sichtbar Gemachte in der Energetik von Bewußtsein und Unbewußtem begriffen werden soll, geht es nicht bloß um technische Wirklichkeitserschließung, sondern um Verdrängung, durch die sensomotorisch, sprachlich und mental Reproduzierbarkeit überhaupt erst ermöglicht wird. Daß Benjamin, um das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit zu analysieren, vom ›Optisch-Unbewußten‹ spricht, dessen Wirksamkeit hier erfahrbar werde, darf nicht bloß als Metapher gelesen werden. Vielmehr eröffnet der Text im sehr strikten Sinne eine Analogie. Ausdrücklich wird dabei auf Freuds zuerst 1904 erschienene, später erweiterte Abhandlung Zur Psychopathologie des Alltagslebens14 zurückgegriffen und damit die historische Parallele zwi-

13. Ebd., S. 500. 14. Sigmund Freud: »Zur Psychopathologie des Alltagslebens«, in: ders., Gesammelte 283

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schen dem Kinofilm und der Psychoanalyse als eine sachliche Affinität herausgestellt. Dabei verdient besondere Aufmerksamkeit, daß Freud in dieser Abhandlung ›Störungen der Reproduktion‹ thematisieren will. Es geht um vom Bewußtsein registrierte Phänomene des Vergessens, des Verkennens, des Verwechselns, Sich-versprechens, Sich-verlesens, Sichverschreibens, Sich-irrens: also des momentanen Ausfalls der Fähigkeit zu korrekter mentaler Reproduktion. Der Betroffene erlebt diese Störungen, sofern er sie nachträglich bemerkt, als völlig unmotiviert, erklärt sie als Unaufmerksamkeit und nimmt ihren unfreiwillig hervorgebrachten komischen Effekt hin. Die Psychoanalyse thematisiert hingegen die ›Fehlleistungen‹ als psychisch korrekte Leistungen, die vorbewußten oder unbewußten Impulsen gehorchen. Und Freud führt diesen alltäglichen Symptomkreis weiter: auf die ›Kindheits- und Deckerinnerungen‹, bei denen uns nicht die unrichtige Reproduktion verwundert, sondern der Umstand, daß wir sie überhaupt besitzen. So gelangt er am Ende auf die grundlegende Getrenntheit des (Wahrnehmungs-)Bewußtseins und des Vergessens bzw. Erinnerns überhaupt, das er später am Modell des ›Wunderblocks‹, wo die Registratur der Einschreibung (Zelluloidplatte) und die Aufzeichnung der Dauerspuren (Wachspapier) von einander ablösbar sind, eindringlich beschreibt. Wie hängen nun die Freudschen Fehlleistungen mit der Kamera-Optik zusammen? Hier müssen wir nochmals auf Benjamins Formulierung »Bereicherung unserer Merkwelt« zurückkommen. Das analytische Potential der Freudschen Theorie und das analytische Potential des Films haben unsere Merkwelt bereichert. Merkwelt heißt nicht, daß wir uns unsere Welt besser merken, sondern: wir (be)merken die Welt anders, als sie uns bisher vertraut war. Also nicht besser, aber auf andere Weise. Nur bleibt die Analogiebildung noch unerklärt, die einen Parallelismus aufstellt – das Triebhaft-Unbewußte vermittels der Psychoanalyse und das Optisch-Unbewußte vermittels des Films – und diesen Parallelismus zugleich durchkreuzt, in dem beide Male vom ›Unbewußten‹ die Rede ist. Meinte freilich das ›Optisch-Unbewußte‹ nichts anderes als dieses, so ergäbe sich daraus in psychoanalytischer Hinsicht wenig Aufschluß. Aber die Analogie zur Psychopathologie des Alltagslebens reicht weiter. Vorausgesetzt wird damit, daß Benjamins Begriff der Reproduzierbarkeit und Freuds Rede von den Reproduktionsstörungen eine sich wechselseitig erhellende Affinität aufweisen. Um dies plausibel zu machen, werde ich zwei Filmbeispiele behandeln. Zuerst Chaplins »The Gold Rush«. Die beiden Goldgräber, der

Werke, 4. Band, London 1941. Die lange Fußnote zum Vergessen findet sich im Schlußabschnitt (auf S. 304 f.). 284

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kleine Tramp Charlie und Big Jim, sind in ihrer Blockhütte eingeschneit und dem quälenden Hunger ausgesetzt. Zunächst kocht Charlie einen seiner beiden Schuhe; dann halluziniert Big Jim ihn als ein Huhn, das er töten und essen möchte. Jeder wird sich an diese Bilder erinnern; aber ich bin sicher, daß diese Erinnerung eher in einer Art nacherzählender Paraphrase präsent ist als in dem, was tatsächlich zu sehen war. Wir sehen: einen Kinofilm. »The Gold Rush« ist tatsächlich ein Film und kein (abgefilmtes) Theater; Chaplins gestisch-mimisches Spiel wird durch das Kamera-Auge hervorgebracht. Und dieses Auge wiederum erzeugt keine (stehenden) Bilder, weshalb die Rede von den technischen Bildern des Filmmediums höchst irreführend ist. Benjamin spricht vom raschen Bildablauf, der sich an die Stelle unserer Assoziationen setzt. Deleuze, der ebenfalls zwischen Wahrnehmen und Erinnern zu unterscheiden weiß, legt seinem zweibändigen Kino-Buch die Begriffe ›l’image-mouvement‹ und ›l’image-temps‹ zugrunde.15 Was also ist zu sehen? Das Huhn wird nicht bloß als subjektive Assoziation Big Jims gezeigt – etwa durch die eingefügte Montage eines gefilmten Huhns – sondern vor den Augen des Kinopublikums in einen gefilmten Mensch-im-Hühnerkleid verwandelt. Ebenso wird der Schuh auf offener Szene als gefilmter Schuh in eine frisch gekochte Mahlzeit verwandelt und aufgegessen. (Tatsächlich war er aus Lakritze.) Der Film stellt die Metamorphosen als Gefilmtes oder Filmbares aus. Nochmals: Was ist zu sehen? Als Symptomatik betrachtet stellen beide Szenen Fehlleistungen dar: Jemand verwechselt einen Schuh oder seinen Freund mit einem Braten. Im narrativen Kontext des Films handelt es sich freilich nicht um momentane Fehlleistungen, die auf unbewußte Impulse schließen lassen, sondern um pathologische Hungerphantasien, die damit ihrer Herkunft nach erklärt sind und keiner weiteren tiefenpsychologischen Deutung zu bedürfen scheinen. Aber ist das wirklich so weit von der Signorelli / Botticelli / Boltraffio-Verwechslung entfernt, mit der Freuds Psychopathologie des Alltagslebens einsetzt? Findet nicht eine der Silbenvertauschung analoge Zerstückelung statt? Der Schuh wird von seiner Funktion als Fußbekleidung abgetrennt – wir sehen etwas später, daß der Tramp nur noch eine Socke trägt – und rückt wie der Wortkörper Signorelli oder die Rebus-Logik des Traums in unvermutete Kontiguitäten. Es findet nicht nur die Zerlegung des gekochten Schuhs, sondern auch eine semantische Zerstükkelung statt: als Fleischbraten, der tranchiert wird; als Fisch-Schuh, bei

15. Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1; Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a. M. 1997. Leider finden sich in dieser phänomenologisch grundlegenden Untersuchung weder erwähnenswerte Bezüge zur Psychoanalyse noch zu Benjamin, was durch den Ausgangspunkt Bergson sehr nahegelegen hätte. 285

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dem die Sohlennägel als Gräten herausstehen; als Nudel-Schuh, dessen Schnürsenkel wie Spaghetti elegant um die Gabel gewickelt werden; als gefüllter Magen, der Schluckauf verursacht. Auch in der Huhn-Metamorphose gibt es derartige disparate Elemente. (Am schönsten, wenn das Huhn wie ein Hund das Gewehr mit den Hinterbeinen verscharrt.) Wenn man so dahinsagt, diese Szenen seien furchtbar komisch, so ist damit sehr viel mehr gesagt, als zunächst gemeint ist. Denn es muß mit Freud auf dem Ernst, der in der Lust am Komischen wirksam ist, bestanden werden: nämlich auf ihrer Funktion als unbewußte Erinnerung. Es geht nämlich keineswegs nur um zwei putzige Alaska-Goldgräber, sondern um zwei putzige Figuren als Repräsentanten der Kindheit. In den analysierten Szenen findet eine Rückübersetzung der Erwachsenenwelt in die Welt des Kindes statt und damit in dessen der instrumentellen Kontrolle unterworfene Körper- und Sprachwelt. Das dort Ängstigende und Lustvolle, die Ambivalenzen und die Katastrophen, alles, was als peinlich verdrängt werden mußte, wird wieder aufgerufen. Also nicht wirklich erinnert, aber aufgerufen. Im Lachen verbirgt sich, was von Anfang an verfehlt war. Auch der Tod, den es nur einer frommen Legende nach in der Kindheit nicht gegeben haben soll. Was, nochmals also, sehen wir wirklich, wenn nicht entstellte Archifiguren der Kindheit? Das körperliche Zusammentreffen zwischen dem schmächtigen Winzling Charlie und dem Fleischkloß Big Jim, der bald wie ein bedrohlicher Riese, der ihn jederzeit töten kann, bald wie ein gutmütiger Beschützer erscheint. Die körperliche Verwandlung des Schuhs in ein Essen, die in Chaplins Demonstration ebenso an das Glück des Kuchenbackens im Sandkasten erinnert wie, in Big Jims fassungslosem Zuschauen, das blanke Entsetzen inkorporiert, was einmal hieß, seinen Teller aufessen zu müssen. Die ahnungslose Verwandlung ins Freßobjekt – Huhn-Szene –, die die ganze Gefräßigkeit des Geliebtwerdens enthält, und zugleich, dank Chaplins Kunst, den mimetischen Gegenzauber des kindlichen Spiels. In der anschließenden Szene wird die Hütte vom Schneesturm an einen Abgrund gewirbelt und hängt an dem winzigen Punkt des Gleichgewichts. Die beiden Insassen vermögen kaum die Gefahr zu erahnen, als sie nach dem Erwachen den Fußboden betreten. Bis ins kleinste Moment wird die drohende Katastrophe des Absturzes körperlich inszeniert, und dennoch behält sie etwas Spielerisches, das an die längst vergangene Angstlust des Wippbretts erinnert. »The Gold Rush« stellt sich als eine Folge von Gesten und Situationen dar, die, indem wir vom Lachen geschüttelt werden, uns zugleich in den Abgrund des Lachens blicken läßt. Lachen hat immer einen Grund – und Schadenfreude ist der mindeste –, aber indem wir ihn benennen, haben wir schon eine Ersatzbildung vorgenommen und den Abgrund, den der Grund überdeckt, vergessen. Nur die ex-zentrische Körperlichkeit und das Konvulsivische des Lachens (Plessner) erinnert 286

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sich, wenn wir diese entstellende Wiederkehr des Verdrängten überhaupt Erinnern nennen können. Die Slapstick-Komik bildet nur einen, freilich höchst gewichtigen, Sonderfall für das, was mit dem Begriff des Optisch-Unbewußten am filmischen Medium zu erschließen ist. Um dies deutlich zu machen, möchte ich noch kurz auf ein zweites Beispiel, nämlich auf Hitchcock eingehen. Erinnern Sie sich an den Anfang von »Vertigo«. Zwei Männerhände packen, in Großaufnahme, ein Metallgestänge, um den Körper nach oben zu ziehen. Bald danach hängt der Held (Scottie) mit beiden Händen an einer Regentraufe; sein Körper ist dem Abgrund preisgegeben. Was sich zwischen diesen beiden Einstellungen abspielt, scheint narrativ völlig klar zu sein. Drei Polizisten verfolgen über die Dächer von Los Angeles einen Verbrecher; der dritte rutscht ab und zieht den zweiten, der ihm heraufhelfen will, in den tödlichen Absturz. Er behält davon ein Trauma zurück, das die Grundlage für die weitere Filmhandlung bildet. So setzt denn auch die zweite Sequenz (Scottie und Mitch) ein. Aber: Was sich ereignete, war nicht sehen. Zu sehen war ein horizontales, musikalisch aufgeladenes flächiges Studio-Panorama der Stadtdächer. Daß es sich um Hochhäuser handelt, ist nicht zu sehen. Wir sehen jemanden rasch fliehen und, dreifach rhythmisch gesteigert, das Zurückbleiben seiner Verfolger bei der Überwindung des Dachs: der erste gelangt leicht hinüber, der zweite stolpert, der dritte rutscht ab und bleibt an der Regenrinne hängen. Wir sehen, in ›subjektiver‹ Kamera dem Blick Scotties zugerechnet, in Großaufnahme den zweiten Polizisten die Hand zum abgerutschten Kameraden ausstrecken. Daß er in dieser Schrägposition nach allen Gesetzen der Schwerkraft so nicht stehen könnte, sehen wir nicht. Schnitt. Wir sehen den Absturz im legendären Vertigo-Zoom; Schrei, Absturz, eine winzige Polizistenfigur klatscht auf dem Grund der Häuserschlucht auf. Auch dieser Absturz wird von der ›subjektiven‹ Kamera dem Blick Scotties zugerechnet. Daß er überhaupt nicht die Möglichkeit hat, über seine Schultern hinweg derart steil nach unten blicken zu können, sehen wir nicht. Leute laufen herbei, die nicht nach oben blicken. Schnitt: Scottie bei Mitch. Wie er aus der aussichtslosen Lage überhaupt gerettet wurde, haben wir nicht gesehen; aber die Schnittfolge des Films suggeriert uns, es sei möglich gewesen. Wie bei Chaplin, wenngleich in ganz anderer Weise filmisch angelegt, meinen wir anderes gesehen zu haben, als wir sahen, nämlich als uns als Bilder gezeigt wurde. Wir meinen gesehen zu haben, was sich als Handlung nacherzählen läßt. Auch hier spaltet sich das Sichtbare auf in die narrative Kette einer Bildfolge und eine gerade in ihrer narrativen Unlogik äußerste Wirksamkeit der einzelnen Einstellungen. Mit Deleuze können wir diese Spaltung als Hervortreten des 287

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›Affektbildes‹ durch ›falsche Anschlüsse‹, d. h. unlogische Schnitte beschreiben, das die Sequenzfolge unterminiert. »Es gibt ein Dazwischen. Der Affekt ist das, was das Intervall in Beschlag nimmt, ohne es zu füllen oder gar auszufüllen.«16 Damit wird auch Benjamins Bestimmung der filmischen Rezeption als einer taktilen Schock-Rezeption präziser erschlossen. Denn diese beruht nicht allein auf dem Ungewohnten der Montage – das sich mediengeschichtlich bald abnutzt –, sondern in dem, was darin sich diesem Gewöhnungsprozeß widersetzt und unauflösbar bleibt. Denn was den Schwindel und die ›Gänsehaut‹, als Symptom des Unheimlichen, auslöst, ist der körperlich-bildliche Vollzug der Einstellungen, die unbewußte Erinnerungen aufrufen, ohne daß es sich etwa um Erinnerungen an reale Vorgänge handelt. Über dem Abgrund an einer Regentraufe zu hängen und von einer übergroßen Hand aufgefordert zu werden, den Griff loszulassen, ruft alte, notwendig verdrängte Erfahrungen der Hilflosigkeit und des Verlassenseins auf, die in den fremden imaginären Bildern des Films zugleich kaschiert bleiben. Auf diese Unlogik des Visuellen, auf die Spaltung zwischen dem Gesehenen und dem Sichtbaren, zwischen ›mise en scène‹ und ›mise en abîme‹, kommt es hier, wie in allen Filmen Hitchcocks, an. Seine Kunst des Thrills und des Suspense besteht in nichts anderem, als daß wir ›Voyeure‹ des Unbewußten werden, ohne es zu merken. Oder eben indem wir den Platz wechseln, aus dem Kino gehen und das Video hinund zurückspulen, um herauszufinden, was wir nicht gesehen haben. Ich möchte den Beitrag nicht abschließen, ohne nachzutragen, mit welch tödlichem Ernst Benjamin den Film als Ereignis des Medialen thematisiert hat. Ihm steht der neue Weltkrieg als technischer Krieg vor Augen, der eine finale Steigerung des ersten bedeuten wird. Als Kunstform, als Unterbrechung des Kunstwerks und als kollektives Übungsinstrument sollte dem Film in letzter Minute zugetraut werden, die revolutionäre Chance seines historischen Augenblicks zu inkorporieren, um die Massen vom Taumel in den Faschismus und von der Erstarrung im Stalinismus durchs innervierende Gegenkollektiv der Filmrezeption zu befreien. Worauf er noch hoffte, war keine Revolution, sondern eine »Impfung«.17 Das war das Risiko einer Theorie, die ihre politische Ver-

16. Ebd., Bd. 1, S. 96. Vgl. zu den ›falschen Anschlüssen‹ bes. Bd. II, S. 61 ff. Die Begrifflichkeit wird hier von mir psychoanalytisch entwendet und damit Deleuzes Tilgung der Zuschauerposition korrigiert. Siegfried Kracauer (Theorie des Films, Frankfurt a. M. 1985, S. 216) bemerkt, daß im filmischen Medium »die Darstellung von Bewegung Widerhall in körperlichen Tiefenschichten« auslöst. Seine Analogisierung von Kinowahrnehmung und Traumregression weicht allerdings jeder Auseinandersetzung mit Freuds Traumdeutung aus. 288

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geblichkeit vorauswußte, um sie um so nachdrücklicher einzuklagen. In einer Fußnote, die uns in ihrer Hellsichtigkeit außerordentlich erschrecken muß, stellt er seiner am Medium des Films gewonnenen kulturrevolutionären Forderung die Befürchtung gegenüber, daß von ihm eine ganz andere Tradition wiedererweckt werde: »[S]ie wird von den tanzenden Hooligans angeführt, die wir auf mittelalterlichen Pogrombildern finden.«18 – Und wer ist / sind ›wir‹?

Literatur Benjamin, Walter: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: ders., Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung v. Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Bd. I.2, Frankfurt a. M. 1974, S. 431– 508. Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerks (mit einer Einführung v. Hans-Georg Gadamer), Stuttgart 1962. Lindner, Burkhardt: »Les médias, l’art et la crise de la tradition«, in: Mémoire et Médias, hg. v. Louise Merzeau u. Thomas Weber, http:// www.avinus.de/inhalt.htm Kierkegaard, Søren: »Die Wiederholung«, in: ders., Die Krankheit zum Tode (und andere Schriften), hg. v. Hermann Diem u. Walter Rest, Köln / Olten 1956. Freud, Sigmund: »Zur Psychopathologie des Alltagslebens«, in: ders., Gesammelte Werke, 4. Bd., London 1941. Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1; Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a. M. 1997. Kracauer, Siegfried: Theorie des Films, Frankfurt a. M. 1985.

17. W. Benjamin: »Das Kunstwerk«, Bd. VII.1, S. 377. Der Begriff der »Impfung« steht in Verbindung zu der erwähnten Formulierung von der »therapeutischen Sprengung des Unbewußten.« Impfung ist für Benjamin die dosierte Freisetzung der »Gefahren, die der Menschheit aus den Verdrängungen drohen, die die Zivilisation mit sich bringt« (ebd.). 18. Ebd. 289

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Von der Häresie zum Heiligen Mann Max Kleiner

Das Paradigma Am 8. Juli 1953, unverzüglich nach dem Brief, in dem ihm der Verlust der Mitgliedschaft in der International Psycho-analytic Association (IPA) mitgeteilt wird (mit Datum vom 6. Juli 1953, Unterschrift: Eissler), hält Lacan in der ersten »wissenschaftlichen« Sitzung der neugegründeten Société Française de Psychanalyse (SFP) einen Vortrag mit dem Titel »Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale«1. In diesem Vortrag (der erst 1982 veröffentlicht werden wird) stellt Lacan zum erstenmal öffentlich eine Unterscheidung vor, die unter ihrem Namen »RSI« als das Lacansche Paradigma der Psychoanalyse bezeichnet werden kann. Nach Jean Allouch ist »RSI« das Paradigma der Psychoanalyse – denn es ist nicht Ergebnis eines Paradigmenwechsels; es löst kein früheres Paradigma ab, das die Psychoanalyse schon als wissenschaftliche Disziplin konstituiert hätte, sondern es ist das erste Paradigma der Psychoanalyse überhaupt.2 Ein Freudsches Paradigma der Psychoanalyse gibt es nach Allouch nicht, sondern nur die »Freudsche psychoanalytische Methode«. Mit der Einführung der Unterscheidung von R, S und I auf dem »Freudschen Feld« will Lacan der Psychoanalyse eine Basis schaffen, die ausreichend formalisiert ist, um daraus eine kohärente und umfassende Theorie abzuleiten. In groben Zügen besteht diese Unterscheidung zunächst in der Herausarbeitung des Symbolischen aus der ›Gemengelage‹ mit dem Imaginären, was sich in Gestalt einer Voranstellung der sprachlichen Strukturen und einer Denunziation imaginärer Verhaftetheiten voll-

1. Jacques Lacan: »Le symbolique, l’imaginaire et le réel«, in: Bulletin de l’Association freudienne 1 (1982), S. 4–13. Das Datum des Vortrags scheint nicht ganz eindeutig: Während die Herausgeber des Bulletin »Ende 1952 oder Anfang 1953« angeben, besteht Jean Allouch auf dem Datum des 8. Juli 1953; s. Jean Allouch: Freud, et puis Lacan, Paris 1993, S. 31, 90 f. 2. J. Allouch: Freud, S. 21–33. 291

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zieht. Dabei verläßt die Logik des Diskurses immer mehr den Freudschen Dualismus; über die Doppelung oder Aufspaltung der Seite des »Innerpsychischen« in Imaginäres und Symbolisches erlangt die Theorie eine triadische Struktur, sie folgt einer generellen triadischen Logik. Während also in dieser frühen Phase der Lacanschen Theoretisierungen, im Umkreis der ersten Seminare, das Reale noch in weiten Bereichen mit der äußeren Realität zusammenfällt, dem Außen des psychischen Apparates, teilt sich der psychische Apparat in zwei ›Wirkprinzipien‹ auf: auf der Seite des Imaginären das Ich, das vollständig nach den Prinzipien von Blick, Bild und Spiegel aufgebaut ist; auf der anderen Seite das Subjekt, das als Effekt der Bewegung der Signifikanten beschrieben wird.

Die Dreiheit Auf dem Wege der ›Verdreiheitlichung‹ des theoretischen Diskurses ist der borromäische Knoten für Lacan zunächst ein Konzept, das ihm bei der Suche nach einer Form für diese Dreiheit zupaß kommt »wie der Ring dem Finger«3. Abbildung 1: Der borromäische Knoten

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3. Jacques Lacan: »Le Séminaire, Livre XXII, ›RSI‹«, in: Ornicar? 2–5 (1975) (sowie als unveröffentl. Transkript), Sitzung v. 18.3.1975. 292

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VON DER HÄRESIE ZUM HEILIGEN MANN

Der borromäische Knoten besteht per definitionem aus mindestens drei Elementen oder auch ›Konsistenzen‹, die derart zusammenhängen, daß beim Öffnen oder ›Zerreißen‹ eines Elementes alle anderen freigesetzt werden. Ein Knoten, der aus drei Elementen besteht, ist also dadurch gekennzeichnet, daß je zwei beliebige dieser Elemente nicht untereinander, sondern durch das jeweils dritte verbunden sind. Der Knoten besteht also im Zusammenhalt von 3en4, die zueinander jeweils kein Verhältnis haben. Diese Art des Nicht-Verhältnisses entspricht dem prinzipiellen Erfordernis, daß R, S und I absolut unabhängig voneinander sein sollen: wie Koordinatenachsen der drei Di(t)mensionen des Diskurses der Psychoanalyse. Zugleich entspricht die borromäische Verknotung von R, S und I der Forderung nach dem Zusammenhalt der analytischen Theorie, nach der Konsistenz des analytischen Sprechens sowie der des Subjekts in der Psychoanalyse. Die borromäische Verknotung macht die Notwendigkeit eines Dritten deutlich und eröffnet die Möglichkeit einer nicht-dualen Logik, also eines Denkens, das sich nicht dem dualen Imaginären verdankt. Einerseits Ergebnis einer Notwendigkeit, ist der borromäische Knoten andererseits auch die Schreibung dessen, was nicht aufhört, sich nicht zu schreiben, also nach Lacanscher Lesart das Schreiben eines Unmöglichen: des Realen. Die Funktion des Knotens wird von Lacan auch als eine »Monstration«5 bezeichnet, was sich, abgesehen von den Verweisen auf die Monstrosität wie auch auf die Heiligkeit der Monstranz, der Funktion einer Demonstration entgegenstellt: Während diese sich als Beweis oder als Darlegung eines Zusammenhangs innerhalb der Grenzen des Symbolischen abspielt, überschreitet die »Monstration« des Knotens diese Grenzen. Der Knoten ist Schrift und zugleich mehr als Schrift. Auch das Imaginäre überschreitet der Knoten. Er ist kein Modell, keine bildhafte Darstellung von etwas – und wenn er sich auch auf Anhieb als ein Bild vorstellt, so gerät dieses alsbald ins Schwinden. Dabei erweist sich sehr schnell die Unmöglichkeit – oder vielmehr die Unfähigkeit des Mentalen –, den Knoten als ein Gesamtbild zu erfassen. Was den borromäischen Knoten darüber hinaus von der Schrift abhebt, ist der Umstand, daß er den Regeln und Erfordernissen der sukzessiven Schreibung entgeht. Er kann von jeder Seite her geschrieben werden und bietet sich auch dem lesenden Blick zunächst als simultane Gestalt, sodann, verfolgt man seine Binnenstrukturierung, als zirkulär.

4. Die Schreibung »3«, von »3en« etc. ist als ›Äquiliteration‹ zu lesen (entsprechend dem Äquivok): sie hält die beiden Möglichkeiten, Groß- und Kleinschreibung, offen: da es sich sowohl um ›drei von …‹ wie um ›die Drei‹ handelt. Dasselbe gilt für »das 4.«. 5. J. Lacan: »RSI«, Sitzungen v. 11.3.1975 u. 18.3.1975. 293

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Als zirkuläre Struktur verspricht der Knoten einen Ausweg aus dem circulus vitiosus von Sagen und dessen Vergessen im Gesagten, wie Lacan ihn auf den ersten Seiten von L’Etourdit eindrücklich dargestellt hat (dort auf die Zirkularität eines Möbiusbandes bezogen).6 Die in diesem Aufsatz herausgearbeitete Bewegung der Selbstrückbezüglichkeit des Sprechens, in der das Produkt – das Gesagte – den Effekt und die Funktion hat, den Ort des Produzenten wie auch den Akt des Hervorbringens – das Sagen – zu verstellen, diese Verstellungsbewegung unterläuft der Knoten durch seine eigene Zirkularität: das knotende Subjekt ist das verknotete Subjekt, und dieses ist an jeder Stelle des Knotens anzusiedeln. Der borromäische Knoten ermöglicht (oder verspricht dies zumindest) die konsistente Strukturierung der Theorie in der Form des analytischen Diskurses, d. h. des Sprechens in der analytischen Praxis. Versprochen wird damit eine Theorie der Psychoanalyse, die keine Metasprache wäre. Damit desavouiert der Knoten das Denken – vielmehr als den Blick fordert er seine Handhabung, seine Manipulation. Es geht darum, ihm in seinen Verschlingungen zu folgen, sich in seinem Verlauf mitnehmen zu lassen, sich auch überraschen zu lassen. Dann löst sich das Denken von seinem ›globalen‹ Ansatz (der ein Ansitz ist), es läßt sich an die Hand nehmen und ins Labyrinth führen. Es ahmt dann nicht die Form des Auges nach, vielmehr die des Gehörs.

Das Problematische der Dreiheit Der borromäische Knoten entgeht zwar den Fallen der Sukzessivität des Sprechens, er gerät damit jedoch in die Nähe des Unsagbaren. Denn im Verlauf des Diskurses um den Knoten macht sich sehr bald eine Tendenz zur Totalität bemerkbar. Die Dreiheit fängt an, Dreieinigkeit zu werden, womit die Rede einerseits eine religiös-verehrende Färbung annimmt, andererseits einen paranoid-fabulierenden Drall bekommt. Momenthaft deutlich wird dies in der ersten Hälfte des Seminars »RSI«, wenn Lacan versucht, die Simultaneität des Knotens in einer zirkulären Bewegung ins Sprechen zu bringen. So entfaltet er ›Felder‹ in Form von Schnitt- und Ausschlußmengen, die sich jeweils gegenseitig definieren. Dabei werden die Zuschreibungen in einer zentrifugalen Bewegung von innen nach außen geführt, von den inneren Feldern zu den äußeren. Sie werden dann allerdings immer unbestimmter und vermitteln zunehmend den Eindruck der allseitigen Zuschreibbarkeit eines jeden mit einem jeden – einer schwindelerregenden Beziehungswut. Zum anderen wird deutlich, daß die zentrierende, die zentrifuga-

6. Jacques Lacan: »L’Étourdit«, in: Scilicet 4 (1973), S. 5–52, hier: S. 5. 294

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VON DER HÄRESIE ZUM HEILIGEN MANN

le wie die zentripetale, Bewegung des Diskurses durchaus der Ausdruck des Lacanschen Wunsches ist, eine logisch strenge und konsistente Theorie zu schaffen. So stellt Lacan des öfteren einen Bezug des Knotendiskurses zu dem von Descartes her, dessen »mos geometricus« ein Lacanscher »mos topologicus« gegenübergestellt wird.7 Der archimedische Idealpunkt des cartesischen »cogito« wird in ein Lacansches »existo«8 transponiert, das in der Dreizahl des Knotens fixiert ist – es schafft mit seiner »Verzurrung« die Konsistenz des Knotens. Schließlich – letzte Parallele – erweist sich dieser Punkt der Gewißheit auch als Sackgasse; denn er stellt den Endpunkt eines Diskurses dar, vermag aber nicht, einen Ausgangspunkt zu bilden. Um von ihm aus wieder ins Sprechen zu gelangen, braucht es die Hilfe eines Gottes, eines jenseitigen Anderen. Denn: Der borromäische Knoten ist nicht sprechbar. Innerhalb der 3 ist ein jedes nur das andere der beiden anderen. Um sprechbar zu sein, fehlt den 3en etwas, das sie voneinander unterscheiden würde – etwas, das Lacan »ihre Differenz« nennt, aufgefaßt als »absolute Differenz«, als eine »den 3en gemeinsame Differenz«9. »Im Dreierknoten ist keine Spur von dieser Differenz zu finden.«10 Was ihm fehlt, ist – obwohl Lacan diese Referenz / Reverenz unterdrückt – genau die von Derrida 1968 artikulierte »différance«11. Es muß im borromäischen Dreierknoten etwas sein, das hinzukommt. Dieses 4. erst ermöglicht die grundsätzliche Differenzierung der 3 und macht sie sprechbar. Sobald, andererseits, ein Sprechen des Knotens, ein Knotendiskurs, stattfindet, bedeutet dies, daß ein 4. unterderhand, stillschweigend, schon vorhanden war. Auch wenn Lacan möglichst lange versucht, dieses 4. sozusagen ›innerhalb der 3‹ zu halten, so drängt es doch immer wieder hervor. Und zwar erscheint es stets auf der Seite des Symbolischen: sei es als einfache Benennung der 3 mittels Buchstaben (als R, S und I), als Index, sei es als Unterscheidung mittels einer Einfärbung der drei Schlingen, oder auch nur in dualisierter Form mittels Vektorisierung der Schlingen, als Unterscheidung in links- und rechtsdrehende Schlingen.

7. Jacques Lacan: »Le Séminaire, Livre XXIII, ›Le sinthome‹«, in: Ornicar? 6–11 (1976– 77), Sitzung v. 9.12.1975. 8. J. Lacan: »RSI«, Sitzungen v. 17.12.1974 u. 14.1.1975. 9. J. Lacan: »Le sinthome«, Sitzung v. 16.12.1975. 10. Ebd. 11. Jacques Dérrida: »La différance«, Vortrag vom 27.1.1968 in der Société française de philosophie, in: Bulletin de la société française de philosophie, Paris 1968, sowie in: Théorie d’ensemble, Paris 1968, wiederabgedruckt in: ders., Marges de la philosophie, Paris 1972; dt. erstmals in: ders., Randgänge der Philosophie [Auswahl], Frankfurt a. M. / Berlin / Wien 1976, S. 6–37. 295

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Ebenso ist das Drängen des 4. in Lacans Versuchen zu erkennen, den 3en Zuschreibungen beizugesellen, die er »Funktionen« oder »Korrespondenzen« nennt: dem Realen die Ex-sistenz, dem Imaginären die Konsistenz, dem Symbolischen das Loch12 – eine Doppelung der 3, die den Knoten zum Sprechen bringt. Letztlich ist schon das Schreiben des Knotens ein Akt der Differenzierung. Denn dafür ist es nötig, zusätzlich zu den drei Di(t)mensionen (des Sagens) als ein viertes Element die »mise-à-plat« einzuführen: die Plättung, die Flachlegung. Diese Plättung, die Darstellung des Knotens auf einem Blatt, überhaupt auf einer Fläche, erweist ihre differenzierende Wirkung darin, daß es unter der Voraussetzung der Plättung zwei ›Knotenarten‹ gibt: nämlich einen ›linksdrehenden‹ und einen ›rechtsdrehenden‹ Knoten. Sobald die Plättung vom Knoten wieder abgelöst wird, indem man z. B. das Blatt umdreht und von hinten betrachtet, fallen auch die beiden Knotenarten wieder in eins. Anders ausgedrückt: Mit dem Wegfall der Plättung verliert der Knoten seine ›innere Differenz‹. Eine jede Darstellung des Knotens bringt jedoch die Plättung und damit das 4. ins Spiel – und insofern wäre ein ›reiner‹ Dreierknoten nur möglich unter völligem Verzicht auf jeden Ansatz von Darstellung, also in einer schweigenden und gewissermaßen blinden Handhabung (von daher Lacans Forderung, den Knoten »blöde« – »bêtement« – zu handhaben13). Es zeigt sich hier eine gewisse Parallelität mit der Traumarbeit, insofern bei beiden die »Rücksicht auf Darstellbarkeit« unerläßlich ist. Ebenso wie der Traum hat der Knoten Rücksicht zu nehmen auf die Verfaßtheit des psychischen Apparats, auf das Mentale, wie Lacan sagt, das »Senti-Mentale«14, das ohne eine gewisse Plattheit nicht auszukommen scheint. »Je vous repasse ce machin«, sagt Lacan einmal15 wie nebenbei zu seinem Seminarpublikum, das hier vielleicht nur die Bedeutung hört: »Ich schiebe Ihnen dieses Zeugs hin« (den Knoten). Daneben wäre in dem ›repasser‹ auch das Bügeln zu vernehmen, oder norddeutsch: das Plätten. Denn Lacan bügelt seinem Publikum das Zeugs hin, damit dieses es überhaupt als einen Knoten auffassen kann. Sobald man sich mit dem Knoten an einen anderen wendet, ist es nötig, ihn aufzubügeln, ihn zu entfalten, ihn glattzulegen, ihn zu drapieren wie einen Stoff, ein Gewebe. Der Knoten muß richtig ausgelegt werden, damit seine Gestalt, seine ›Knotenhaftigkeit‹, seine Dreifaltigkeit, sichtbar wird.

12. 13. 14. 15.

J. Lacan: »RSI«, Sitzung v. 17.12.1974. Ebd. J. Lacan: »Le sinthome«, Sitzungen v. 16.12.1975 u. 13.1.1976. J. Lacan: »RSI«, Sitzung vom 14.1.1975. 296

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Die Art eines Knotens, seine Weise der Verknüpftheit, wird erst erkennbar, wenn er ein Mindestmaß an Klarheit bietet, das heißt, wenn er schön aussieht. Wie ein schön drapiertes Tuch soll ein Knoten glatte, fließende Linien sowie einen möglichst regelmäßigen, harmonischen ›Faltenwurf‹ aufweisen. Nun ist diese Schönheit der Plättung keine, die die Wahrheit des Knotens verhüllte – da ja ohne sie die ›wahre‹ Gestalt nicht erkennbar wäre. Die Plättung ist somit das Gewand, in dem die Gestalt, der es übergeworfen wird, erst sichtbar wird. In seiner ›Nacktheit‹ wäre der borromäische Dreierknoten die unsichtbare, unsagbare Struktur diesseits jeder Erfahrung. In der ›runden‹ Dreierstruktur ist ein 4. impliziert. Dieses 4. insistiert im Dreierknoten, und zwar auf einer Seite im Dreierknoten, in der symbolischen ›Ecke‹ – was dazu führt, daß dieser Knoten nicht mehr ›rund läuft‹. Er erhält eine ›Unwucht‹, und schon beginnt das 4. herauszustehen und zu ex-sistieren, der Knoten beginnt auf vier Beinen zu humpeln. Es geht ihm da wie dem Schemel, von dem Lacan in seinem Aufsatz »Joyce le Symptôme II«16 als »escabeau« erklärt, auf drei Beinen stehe er immer fest und beginne erst als vierbeiniger zu wackeln – abgesehen davon, daß der dreibeinige als unter-stellter nicht stehen kann, weil er nicht be-stehen kann, da ihm im Symbolischen etwas fehlt: die Differenz, die Darstellbarkeit, die Sprechbarkeit. Der borromäische Knoten, den Lacan bestrebt war als Monstranz der triadischen Strukturiertheit der Psychoanalyse hochzuhalten, erweist sich schließlich als Monstrosität, als symptomatisch für die Lacansche Theorie und ihre Übermittlung. Denn er stellt den Träger dieses Diskurses, Lacan, in eine Position, die deutlich wird, wenn Lacan den Knoten als »mon noeud bo« bezeichnet, als »meinen bo(rromäischen) Knoten«, mit der Äquivokation auf »meinen schönen Knoten« sowie auf den »mont Nebo«, den Berg Nebo, »wo uns«, wie Lacan in einer bezeichnenden Fehlleistung preisgibt, »das Gesetz gegeben ward«17, auf dem jedoch laut 5. Mose 34 der Herr Moses das gelobte Land zeigte, ihm aber verwehrte, es zu betreten, da Moses auf dem Berg Nebo sterben sollte.

Das 4. im Knoten In der Knotenschreibweise führt die fehlende innere Differenziertheit des borromäischen Dreierknotens dazu, daß die drei Elemente des Kno-

16. Jacques Lacan: »Joyce le symptôme II«, in: Jacques Aubert (Hg.), Joyce avec Lacan, Paris 1987, S. 31–36. 17. J. Lacan: »Le sinthome«, Sitzung v. 1.5.1976. 297

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tens in ihrem Verlauf ineinander übergehen. Der Knoten schnurrt zusammen zum sogenannten Kleeblattknoten, der aus nur noch einem Element besteht. (Im übrigen schnurrt auch die Lacansche Begrifflichkeit an dieser Stelle zusammen, da im Seminar »Le sinthome« der Ausdruck »noeud à trois« – ›Dreierknoten‹ –, der zuvor den borromäischen Dreierknoten bezeichnet hat, nun stets in der Bedeutung von ›Kleeblattknoten‹ verwendet wird.) Der borromäische Dreierknoten wird damit zum Einerknoten. Das ist die Figur des paranoischen Sprechens, das keine Unterschiede der drei Register mehr kennt18, da jedes Element jederzeit in einen anderen Modus springen kann. Abbildung 2: Übergang vom borromäischen Dreier- zum Kleeblattknoten

Aber auch die Aufnahme der Differenzierungsfunktion in den Knoten verändert diesen fundamental; der borromäische Dreierknoten wird zum borromäischen Viererknoten, und dieser ist eine Kette: d. h. die vier Elemente sind zwangsläufig sukzessiv angeordnet und nicht mehr, wie im Dreierknoten, symmetrisch bzw. konzentrisch aufeinander bezogen. Der Viererknoten gibt damit den Anschein der simultanen Erkennbarkeit auf – der hingegen bereits eine Wirkung des im Dreierknoten enthaltenen 4., der Plättung, war. Dem Umstand, daß der Dreierknoten immer schon das 4. enthält, daß er sich, will er nicht zum Einer- schrumpfen, zum 4er erweitern muß, trägt Lacan, wie eben erwähnt, mit einer veränderten Begrifflichkeit Rechnung. Er spricht nun nicht mehr vom borromäischen (3er-) Knoten, sondern entweder vom Dreierknoten, der den Kleeblattknoten mit einem Element bezeichnet, oder, wenn er sich auf den borromäischen Knoten bezieht, von der borromäischen Kette bzw. verdichtet von

18. Ebd., Sitzung v. 16.12.1975. 298

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der »chaînoeud«, der »Knokette«19. Der borromäische Dreierknoten ist in Wahrheit eine 4er-Kette, er ist nur die trügerische Darstellungsform der Kette. Abbildung 3: Die borromäische Viererkette

I 1

R 2

S 3

S 4

Als Folge der sukzessiven, kettenförmigen Strukturiertheit des Knotens wandelt sich dieser zu einem offenen Gebilde; denn an das 4. läßt sich ohne eine prinzipielle Strukturveränderung des Ganzen ein 5. anhängen, an dieses ein 6. usw. Schließlich erweist das 4. Element, das zunächst ja nur die explizit gemachte Differenz der 3 ist, seine differenzierende Kraft dadurch, daß es die Binnenstruktur des Knotens weiter ausdifferenziert: in der Viererkette ergibt sich automatisch eine Paarbildung; denn die vier Elemente lassen sich in ihrer Reihenfolge nicht beliebig vertauschen, sondern nur Element 1 mit Element 2, Element 3 mit Element 4 sowie das Paar Element 1+2 mit dem Paar Element 3+4. Wie ist nun der Übergang vom borromäischen Dreierknoten zur borromäischen Viererkette darstellbar? Es gibt eine Operation, mit der die Explikation, die Ent-faltung des in der Dreierstruktur immer schon enthaltenen 4. deutlich gemacht werden kann. Diese Operation besteht darin, eine Doppeltheit eines der drei Elemente zu unterstellen, wie einen doppelten Boden, eine innere Gespaltenheit. Da weiterhin das 4., das dazukommen soll, die inhärente Differenz, die différance ist, kann das von den 3en, zu dem sie die Doppelung bildet, nur das Symbolische

19. Ebd., Sitzungen v. 13.1.1976, 10.2.1976 u. 9.3.1976. 299

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sein. Somit wird die symbolische Schlinge des Knotens gedoppelt (auch in der Begrifflichkeit: ›das Symbolische‹ wird zum Paar ›Symbol – Symptom‹). Die Art und Weise der Doppelung des Symbolischen geschieht in Form zweier Schlingen, die ineinander liegen und in ihrer ›Mitte‹ ein Loch bilden. Da das Ganze als Viererknoten weiterhin borromäisch sein soll, muß das so entstandene Loch im Symbolischen ein sogenanntes ›falsches Loch‹ sein, das heißt, es muß etwas durch es hindurchgehen, das verhindert, daß sich das Loch im Symbolischen wieder schließt bzw. daß die beiden ›Teile‹ des Symbolischen einander entgleiten und sich die ganze Knotenstruktur auflöst. Was durch das falsche Loch im Symbolischen hindurchgeht und es damit konsistent macht, ist natürlich das Paar Reales – Imaginäres (das in einer solchen Darstellung übrigens ebenfalls in Form eines falschen Lochs verschlungen ist – was die hartnäckige Paarigkeit des Viererknotens unterstreicht). Abbildung 4: Das falsche Loch

I falsches Loch

R

Linke Abbildung: Seminar vom 9.3.1976 (unveröffentlicht)

Eine andere Möglichkeit, den Übergang vom 3er- zum 4er-Knoten darzustellen, geht von dem Akt der damit einhergehenden Öffnung aus. Wenn der borromäische Dreierknoten als unifizierter Kleeblattknoten dargestellt werden kann, in den – als in einen geplätteten – Felder eingeschrieben werden können (eine dreifache Kombination von Darstellung: unifiziert, geplättet, eingeschrieben), dann entläßt das Zerreißen der Schlinge, in deren ›Feld‹ »J A« (siehe in Abb. 5) geschrieben ist, dieses Genießen des Anderen aus der Umschlingung des Knotens in ein damit festgeschriebenes Außen. Diese Ausstoßung des Genießens des Anderen öffnet den Dreierknoten der Paranoia und hält die verbleibenden ›Felder‹ des phallischen Genießens und des Sinns in ›Balance‹ sowie das Objekt ›unterm Strich‹.

300

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Abbildung 5: Die Öffnung des Kleeblattknotens

R I

JA

J

Sinn

a

a

Linke Abbildung: Seminar vom 13.1.1976 (unveröffentlicht) Rechte Abbildung: Seminar vom 16.12.1975, auch in der Ornicar?-Fassung

Ein Problem taucht hier allerdings auf: was passiert mit den ›losen Enden‹ des geöffneten Kleeblattknotens? Da es in der Knotentheorie keine Reibung gibt, wäre der geöffnete Knoten inkonsistent. Das mit ihm Ausgesagte hält nur im Imaginären. (Diese Inkonsistenz taucht jedesmal auf, wenn Lacan versucht, Felder in einen Knoten einzuschreiben. Es scheint da eine Verführung durch die Plättung am Werk zu sein, die gewiß in Zusammenhang mit der durch die Plättung hergestellten Schönheit steht.) Während die Darstellung des Übergangs vom 3er- zum 4er-Knoten als eine Öffnung des Kleeblattknotens zwar inkonsistent ist, aber zumindest die Funktion des 4. als die der Öffnung des totalisierenden Dreierknotens hin zu einer sukzessiven, paarigen Struktur zur Geltung bringt, gibt es eine weitere Darstellungsform des Viererknotens, die eine ganz andere Funktion des 4. für die 3 aufzeigt: das 4. ist dort nicht ein Element der Öffnung, das ein Zusammenschnurren des Dreierknotens zu einem unsagbaren Kleeblattknoten verhindern würde, sondern hat im Gegenteil die Funktion einer Klammer, die das Auseinanderfallen der 3 anderen verhindert, welche also ohne das 4. gar nicht verknüpft wären. Das 4. Element hat somit die doppelte Funktion, sowohl die Struktur des Knotens, des Subjekts, des Diskurses etc. zusammenzuhalten als auch in dieser Struktur eine Öffnung auseinanderzuhalten, einen Hohlraum, ein Klaffen, eine Blase offenzuhalten. Wenn es eine Klammer ist, dann ist es eine Spreizklammer, oder auch die Klammer im Sinne einer Parenthese, die im Text einen Hohlraum offenhält, in dem sich Neben- und Untergedanken halten können.

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Abbildung 6: Das Vierte als Klammer

I

I

]

S R

[ S R

S

Linke Abbildung: Seminar vom 17.2.1976 (unveröffentlicht) Rechte Abbildung: Seminar vom 11.5.1976, auch in der Ornicar?-Fassung

Was ist nun, in diesem Spannungsfeld zwischen dem Zusammenhalten und dem Auseinanderhalten des Dreierknotens, die Funktion des 4.? Was sind seine Namen? Wohin öffnet es den Knoten? Woran knüpft es seine Maschen? Die Funktion des 4. ist zuerst, daß es die Funktion ist. Es ist das, was im Knoten funktioniert und wodurch sich der Knoten in Funktionen entfaltet. In ähnlicher Weise läßt sich die logische Position des 4. hinsichtlich seiner Namen bestimmen: es ist der Name des Knotens, ebenso wie es die Benennung ist, es entfaltet die Existenz des als real angenommenen Knotens aus dem Symbolischen heraus. Es ist jedoch nicht nur Name und Benennung des Knotens, es ist ebenso der benannte Knoten selbst, der Knoten unter der Voraussetzung seiner Benennung. Als Funktion und als Benennung ist das 4. zudem die Funktion der Benennung, und seine Position ist diejenige, die Lacan als Namedes-Vaters bezeichnet hat. Denn wie diese Funktion von Vater und Benennung ist das 4. etwas, das aus dem Symbolischen heraussteht, das dem Symbolischen ex-sistiert und das zugleich und mit derselben Bewegung ins Reale hineinsteht, was insistiert im Realen des Knotens. Vermöge seiner Herkunft aus dem Symbolischen trägt es dessen Funktion – das Loch – ins Reale hinein. Damit verschränkt sich in einer Position das Funktionieren des Realen im Symbolischen mit dem Funktionieren des Symbolischen im Realen. Deutlich wird diese Verschränkung in der Darstellung des 4. als offener, aufgerissener Kleeblattknoten, in dem ja die beiden ›Schnittmengen‹ des Symbolischen, der Sinn und das phallische, d. h. sagbare Genießen, in Balance gehalten sind, getragen von einem unterderhand gesagten Objekt (a). Diese (wie schon gesagt: recht inkonsistente) Balance von Sinn und Genießen im Sprechen ist, neben dem Witz, im Äquivok zu finden. 302

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Am Ort des Äquivoks ent-faltet sich die Doppeltheit des Symbolischen. Hier reißt die glatte Oberfläche des Sinns auf, und es zeigt sich für einen Moment, umgeben von einem Rand des Genießens, die Ex-sistenz eines Objekts bzw. jenseits des Randes des Unmöglichen das Ding. Im Äquivok ist, ebenso wie im ›Sinn-thom‹, das Andere des Sinns zu hören: j’ouïs sens de l’Autre. Damit ist dieser Ort zugleich der Ort des Lapsus, des Versprechers, wie des Symptoms; es ist der Ort, wo der Knoten holpert und hinkt, wo sich das Subjekt des Knotens vertut, wo eine Verknüpfung falsch geknüpft wurde. An diesem Ort der falschen Verknüpfung bildet sich, als zusätzliche Schlinge, als Klammer, das Symptom, das verhindert, daß sich das Knotengeflecht von dieser Stelle her auflöst. An eben dieser Stelle setzt schließlich im analytischen Diskurs die Deutung an. Die wirksame Deutung stellt die Weiche im Verlauf der diskursiven Umläufe im Knoten an der Stelle um, an der die Verknüpfung bislang danebengegangen ist. Sie weist dem Sprechfluß eine neue Bahn, auf der der Knoten des Sprechens konsistent ist und kein 4., kein Symptom, braucht. Diese Darstellung jedoch erweist ihre Inkonsistenz sogleich mit ihrer unmittelbaren Konsequenz, da sie die Möglichkeit einer Subjektstruktur auf der Basis des Dreierknotens bedeuten würde, also ein Subjekt ohne das 4., ohne den Anderen, ein Subjekt in der geschlossenen Dreieinigkeit des Kleeblattknotens. Immerhin wäre das ein Subjekt, das sich bei Auflösung seiner Symptome nicht selbst auflösen würde, und damit gäbe es Heilung: Erlösung statt Auflösung. Da andererseits die Auflösung von einzelnen Symptomen in der analytischen Erfahrung durchaus möglich ist, ohne das Subjekt in die psychotische Auflösung zu stürzen, liegt eine Unterscheidung zwischen den Symptomen und Dem Symptom nahe (ähnlich wie die zwischen den Frauen und Der Frau). Vermutlich ist hier der Grund für das Bemühen Lacans zu sehen, die Möglichkeit einer Verflechtung von vier Dreier-Kleeblattknoten zu suchen – die ihm Soury und Thomé dann auch liefern. Daraus ergibt sich dann ein notwendiger Viererknoten, bestehend aus möglichen Dreierknoten. An einer einzigen Stelle also befinden sich das Äquivok, der Lapsus, das Symptom und die Deutung. Sie alle zeichnen sich dadurch aus, eine implizite, unsagbare Unmöglichkeit der subjektiven Struktur ins Sprechen zu bringen. Mit der Aufnahme des 4. in den Knoten, die ja von einer Seite her geschieht, erhöht sich das Gewicht das Symbolischen. Zum einen entsteht damit in der Binnenstruktur des Knotens ein neuer Dualismus, ausgedrückt in der Paarigkeit der Viererkette; andererseits erfährt der Knoten die Wirkung einer Heterogenität, einer von ›außen‹, besser: von einer Seite, auf ihn wirkenden Gewalt. Die Wendung zum benennenden 303

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Vater hin, die Père-version dieses Knotens, zeugt von einer Gewalt, die von der Seite des Symbolischen her auf den Knoten einwirkt: was den Knoten hält, das packt ihn auch. Diese Gewalt, die mithin aus dem neu entstandenen Dualismus erwächst, taucht in Lacans Rede als »forçage symbolique« auf, ein Hetzen und Hervortreiben von etwas bis dahin Verborgenem. (Der Zusammenhang von Gewalt, Wahrheit und Bild in der Figur der »Monstration« wurde unlängst von Jean-Luc Nancy erläutert20 – in einem im übrigen stark ›triadisch‹ strukturierten Diskurs, in dem der Autor jedoch die Herkunft des Begriffes der Monstration wie überhaupt den Namen Lacan im dunkeln läßt.) Schließlich ist das Symptom in Lacans Knoten zugleich Lacans Symptom. Lacans Lapsus vom »Mont Nebo« weist hier in seiner symptomatischen Dichte den Weg: über die Identifikation mit Moses an dieser Stelle taucht am Rand des Kampfplatzes jener Andere auf, der sich bekanntlich mit Moses identifizierte: Freud. Der Wunsch, besser zu sein als dieser, trieb Lacan zur Formulierung seines Paradigmas RSI; mit der Hoffnung, der Psychoanalyse damit die diskursive Konsistenz zu geben, daß sie auf den Namen ihres Vaters als auf ein Symptom verzichten könnte. Doch Freud erweist sich mit seinem Namen letztlich für Lacan nicht nur als ein Symptom, sondern als Das Symptom – das Sinthom, le sinthôme, le saint homme, als der Heilige Mann.

Literatur Allouch, Jean: Freud, et puis Lacan, Paris 1993. Dérrida, Jacques: »La différance«, Vortrag vom 27.1.1968 in der Société française de philosophie, in: Bulletin de la société française de philosophie, Paris 1968, sowie in: Théorie d’ensemble, Paris 1968, wiederabgedruckt in: ders., Marges de la Philosophie, Paris 1972; dt. erstmals in: ders., Randgänge der Philosophie [Auswahl], Frankfurt a. M. / Berlin / Wien 1976, S. 6–37. Lacan, Jacques: »Le Séminaire, Livre XXII, ›RSI‹«, in: Ornicar? 2–5 (1975) (sowie als unveröffentl. Transkript). — »Le Séminaire, Livre XXIII, ›Le sinthome‹«, in: Ornicar? 6–11 (1976–77). — »L’Étourdit«, in: Scilicet 4 (1973), S. 5–52. — »Le symbolique, l’imaginaire et le réel«, in: Bulletin de l’Association freudienne 1 (1982), S. 4–13. — »Joyce le symptôme II«, in: Jacques Aubert (Hg.), Joyce avec Lacan, Paris 1987, S. 31–36. Nancy,Jean-Luc: »Bild und Gewalt«, in: Lettre International 49 (2000), S. 86–89.

20. Jean-Luc Nancy: »Bild und Gewalt«, in: Lettre International 49 (2000), S. 86–89. 304

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AEffekte. Signifikante Einschreibungen in »Soma«, »Nous« und »Psyche« Artur R. Boelderl

Das Geistige ist als Zeichensprache des Leibes festzuhalten! Nietzsche

Sett(l)ing Wie kann die vorgängige symbolische Ordnung Einfluß üben auf ein wie auch immer »noch« nicht in sie eingebettetes infans? Wie ist es zu denken, daß etwas per se Nicht-Symbolisches Aufnahme findet in die übermächtige symbolische Ordnung – ohne daß derjenige, der es denkt, zur Erklärung dieses Zusammenhangs in dialektische Denkmuster zurückfällt (etwa derart, zu sagen, daß Reales, Symbolisches und Imaginäres ›immer schon‹ miteinander vermittelt seien)? Wie übersetzt sich Nicht-Symbolisches in Symbolisches, VorSignifikantes in Signifikantes? Mögliche Antworten auf diese Fragen lassen sich vor dem Hintergrund folgender Feststellungen ausmachen, die den Rahmen für die nachstehenden Ausführungen liefern: 1. Lacan ist nie von seinem – bereits in der thèse einbekannten – Spinozismus abgerückt; ein Spinozismus, begriffen als monistischer Parallelismus zwischen dem Psychischen und dem Physischen, der die eigentliche und letzte Klammer zwischen der Freudschen Entdeckung und deren Interpretation durch Lacan bildet. 2. Das Spezifische dieses Spinozismus Lacans besteht in der Lektüre des von Spinoza im 2. Buch der Ethica (7. Lehrsatz) aufgestellten Parallelismus zwischen geistig-seelischen Vorgängen einerseits

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ARTUR R. BOELDERL

und somatischen Vorgängen andererseits als einer Übersetzungsbeziehung.1 3. Indem er diese Übersetzungsbeziehung etwa ab 1936 / 37, spätestens aber ab dem 1938 im Auftrag von Wallon verfaßten Encyclopédie-Aufsatz Les complexes familiaux von Husserl und Heidegger her denkt, also von einer philosophischen Phänomenologie her, die sich von der psychiatrischen Phänomenologie grundlegend abhebt, entgeht Lacan – bei aller nach wie vor bestehenden Nähe zum psychiatrischen Denken – der Gefahr der Reduktion dieses Verhältnisses von Soma, Nous und Psyche auf den traditionellen psychophysischen Dualismus und seine deterministischen Verirrungen. Die Frage »Wie übersetzt sich, bei Lacan, Nicht-Symbolisches in Symbolisches?« weicht also zunächst methodologisch, aber auch chronologisch der Feststellung »Nicht-Symbolisches übersetzt sich in Symbolisches«, und der damit aufgerufene Problemkreis insgesamt wird in der Folge, bei Lacan wie in unserem Versuch der Rekonstruktion seines Gedankengangs, gleichsam vom anderen Ende her angegangen. Die Frage lautet dann: Was heißt Übersetzung? Was ist die Bedingung der Möglichkeit von Übersetzung, einer Übersetzung, die, wenn sie denn – dies einmal erkannt und zugestanden – statthat, zwischen dem NichtSymbolischen und dem Symbolischen erfolgt sein wird? Die Antwort auf diese modifizierte Frage gibt Lacan zunächst mit Hilfe der frühen Konzeption des Imaginären. Er ortet sie genauerhin in der affektiven Identifikation des infans mit einem als ganz ›wahrgenommenen‹ anderen in der Spiegelsituation, auf der Grundlage einer Bestätigung dieser Identität durch einen Dritten, den Anderen. Ungeklärt bleibt jedoch der topologische Ort dieses anderen, vor allem, wenn man, wie es Lacans erklärtes Ziel ist, immer auch den ontologischen Status der spekulären Elemente mitzuerläutern gedenkt. Eintritt daraufhin das Reale als Lacans Übersetzung des Freudschen Terminus »psychische Realität« – jenes Register der Trias des Unbewußten, dessen mehr mathematisch-algebraische als ›psychische‹ oder ›reale‹ Funktion dazu dient, das als Übersetzung bestimmte Verhältnis von Nicht-Symbolischem und Symbolischem näherhin zu klären, so zwar, daß auch von dem, was sich nicht symbolisieren läßt (eine der Definitionen des Realen), nur das Symbolische Kenntnis verleiht: Es gibt zwar keinen Signifikanten des Anderen, sehr wohl aber einen Signifikanten des Signifikanten (erstmals eingeführt in der umstrittenen Stellungnahme zur Bedeutung des Phallus) – die Lücke zwischen

1. Zum Spinozismus Lacans vgl. Elisabeth Roudinesco: Jacques Lacan. Bericht über ein Leben, Geschichte eines Denksystems, übers. v. Hans-Dieter Gondek, Köln 1996, S. 93 ff. 306

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AEFFEKTE. SIGNIFIKANTE EINSCHREIBUNGEN IN »SOMA«, »NOUS« UND »PSYCHE«

zwei Signifikanten, -φ, das anders als ex negativo nicht näher bestimmbare urverlorene Objekt. Die Relation zwischen dem Nicht-Symbolischen und dem Symbolischen bemißt sich also nach dem Muster, daß von etwas NichtÜbersetzbarem eben auch nur die Übersetzung dieses Nicht-Übersetzbaren kündet, indem sie neben es tritt und es als unübersetzbar allererst konstituiert. Solcherart ist mithin das Verhältnis zwischen dem Nicht-Symbolischen, der Welt des infans, und dem Symbolischen, der Welt des parlêtre, beschaffen: Nichts zeugt vom Übergang aus der einen in die andere Welt außer der Tatsache des Erfolgs dieses Übergangs selbst. Rien ne s’est passé – nichts ist passiert, keiner ist durchgekommen, es gibt keine (nicht-symbolische) Vergangenheit, man könnte auch sagen: keine Vergangenheit, keine Geschichte diesseits der Überlieferung. Es gibt stets nur einen mathematischen Übertrag, einen Rest, der zum Übertragenen-Übersetzten-Überlieferten als dessen Supplement hinzutritt, eine Mehrlust, die Übersteigerung – im Sinne von Selbstüberschreitung – des somatisch-psychischen Parallelismus zum Geistigen hin, der allerdings seinerseits keiner symbolisierbaren Erfahrung entspricht, von der sich nichts wissen, nichts sagen läßt. Es handelt sich bei dieser Theorieentwicklung Lacans mit anderen Worten um eine recht konkrete ›Anwendung‹ und ›Umsetzung‹ dessen, was er, vermittelt durch Koyré und Kojève, von Husserl und Heidegger, natürlich auch von Hegel (worauf wir hier nicht näher eingehen können) gelernt hatte, auf eine bereits zuvor von ihm zurechtgelegte spinozistische Interpretation des Freudschen Werkes, die späterhin unter dem Einfluß a) der Lektüre de Saussures und Jakobsons linguistisch sowie b) der Lektüre Lévi-Strauss’ strukturalistisch gewendet wurde. Die Eckpfeiler des Lacanschen Gedankengebäudes blieben jedoch – und darauf dezidiert hinzuweisen scheint mir an dieser Stelle und angesichts der unterschiedlich motivierten Theorien über die diversen ›Phasen‹ des Lacanschen Denkens angebracht – im wesentlichen bis in die späten 1970er Jahre hinein dieselben.2

2. So ist einerseits der ›Bruch‹ zwischen der psychiatrischen thèse von 1932 und dem Marienbader Vortrag über das Spiegelstadium (1936) bzw. das, was sich davon in den Artikel über die Familie gerettet hat (1938), keineswegs als so radikal anzusetzen, daß es gerechtfertigt wäre, von einem nachmaligen ›anderen‹ Lacan zu sprechen, wie auch andererseits die späteren Entwicklungen seines Denkens keinen Anlaß dazu geben, jeweils von gravierenden Neuansätzen auszugehen. Das soll nicht heißen, daß diese Entwicklungen unbedingt kontinuierlich und gleichsam logisch-linear verlaufen seien, noch daß es nichts Sprunghaftes in Lacans Denken gebe. Es scheint jedoch sehr wohl tunlich und zum Verständnis von Lacans Werk insgesamt fruchtbar, die jeweiligen Ausführungen, so unterschiedlich sie sich dem Auge der Leserin und des Lesers auch darbieten mögen, methodologisch zurückzubinden an den anfänglichen 307

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Dies ist die gedankliche Folie der folgenden, weiterführenden Auseinandersetzung mit dem in den Grundzügen bereits skizzierten Übersetzungsverhältnis zwischen dem Nicht-Symbolischen und dem Symbolischen bei Lacan und den Herausforderungen, vor die dieses Verhältnis vor allem den philosophischen Blick auf Lacans Theorie stellt. Das Hauptproblem sei kurz vorweggenommen: Es taucht stets ein Element auf, das quasi – in einem nicht-zeitlichen, topologischen Sinn – ›vor‹ dem nämlichen Übersetzungsverhältnis, das ja immer auch eines zwischen dem Realen und dem Symbolischen ist, anzusetzen ist; das also noch dem Realen, als dem letzten Residuum des ›Natürlichen‹ bei Lacan, vorgeordnet scheint. Am Beispiel eines derartigen Elements, das ich herausgreifen möchte, nämlich des flux libidinal, wie er im Seminar über die Objektbeziehung weniger eingeführt als – man ist versucht zu sagen: stillschweigend beredt – vorausgesetzt wird, lassen sich die potentiellen Lösungen für dieses Problem demonstrieren: –



Man kann diesen libidinösen Fluß kurzerhand mit dem Realen identifizieren, womit man sich allerdings zum einen in Jungsches Fahrwasser begäbe und zum anderen den sofort zu erhebenden Vorwurf des Naturalismus und Biologismus kaum abwehren könnte; oder aber man kann diesen Fluß, wie es der späte Lacan zur Zeit der Ausformulierung der Theorie des Borromäischen Knotens getan hat, als denknotwendiges viertes Moment interpretieren, das die Formulierung der drei Register des Unbewußten allererst erlaubt3, gewissermaßen als die Dimension der Restmaterialität, die der Materialität des Signifikanten insofern vorausliegt, als sie Bedingung der Möglichkeit von dessen ›Darstellung‹ oder ›Einschreibung‹ ist. Hier wird dann auf die entsprechenden Fortführungen und Uminterpretationen Lacanscher Ansätze einzugehen sein, wie sie Julia Kristeva und Jacques Derrida vorgelegt haben.

Einsatz dieses Denkens im Zeichen einer Rückkehr zu Freud, ohne es von diesem Einsatz her deterministisch zu begreifen. 3. Die Instanz dieses Flusses, der sich keinem der drei Register des Unbewußten zuschlagen läßt, wiederholt sich beim späten Lacan, dem es um die mathematischtopologische Formulierung seiner These von den drei Registern als drei Ringen des Borromäischen Knotens zu tun ist, in der notwendig gewordenen Annahme eines vierten Ringes, welcher stets als eine Verdoppelung eines der drei Register zu denken ist und diesen somit zugleich vorausliegt wie ihnen sekundär ist. Vgl. Jacques Lacan: »Le Séminaire, Livre XXII, ›RSI‹«, in: Ornicar? 2–5 (1975). 308

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Übertragung: Soma Das, woran sich Signifikantes festmachen kann, ist nicht selbst wiederum Signifikantes. Es scheint jene unvordenkliche Ebene der frühkindlichen Entwicklung vom infans zum parlêtre abzudecken, welche sich mit Lacan als Ebene der primären Bejahung – als Voraussetzung der nachfolgenden primären Symbolisierung qua Verneinung – einführen läßt. Nach Lektüre der entsprechenden Ausführungen Lacans im Seminar über die Objektbeziehung muß präzisierend gesagt werden, daß das, woran sich die Signifikanten festmachen können (um bei dieser Wortwahl zu bleiben) gedacht werden muß als vor-symbolisches Signifikantes, mithin zwar (potentiell) Signifikantes, doch Signifikantes, das nicht dem Register des Symbolischen zugehörig sein kann, zumal die Herausbildung der drei Register des Unbewußten abhängt vom Erfolg der Urverdrängung, welche ihrerseits geradezu in der Verdrängung dieser Ebene des Vor-Symbolischen besteht: »Das Es [im Original deutsch; A.B.], um welches es sich in der Analyse handelt, ist Signifikantes, welches schon da ist im Realen, unverstandenes Signifikantes. Es ist schon da, doch es ist Signifikantes […]. Was ich hier an den Anfang der analytischen Erfahrung stelle, das ist der Begriff, daß es schon installiertes und schon strukturiertes Signifikantes gibt. Es gibt schon eine fertige Fabrik, und eine, die funktioniert. Nicht Sie sind es, die sie gemacht haben. Diese Fabrik, das ist die Sprache, die da funktioniert, solange Sie sich erinnern können. Sie können buchstäblich nichts darüber hinaus erinnern, ich spreche von der Geschichte der Menschheit in ihrer Gesamtheit. Seit es Signifikanten gibt, die funktionieren, sind die Subjekte in ihrem Psychismus organisiert durch das eigene Spiel dieser Signifikanten. […]. Umgekehrt […] benutzt auch der Signifikant eine ganze Reihe von Elementen, die an einen Term geknüpft sind, der tief im Signifikat verankert ist, nämlich der Körper. Ebenso wie es schon in der Natur bestimmte Reservoirs gibt, so gibt es im Signifikat eine bestimmte Anzahl von Elementen, die in der Erfahrung als Zufälle des Körpers gegeben sind, aber im Signifikanten wiederaufgenommen werden und ihm, wenn man das sagen kann, seine ersten Waffen an die Hand geben.« 4

4. Le Séminaire de Jacques Lacan. Texte établi par Jacques-Alain Miller. Livre IV, La relation d’objet, 1956–1957, Paris 1994, S. 49–51 (meine Übersetzung): »Le Es dont il s’agit dans l’analyse, c’est du signifiant qui est là déjà dans le réel, du signifiant incompris. Il est déjà là, mais c’est du signifiant […]. Ce que je mets ici au principe de l’expérience analytique, c’est la notion qu’il y a du signifiant déjà installé, et déjà structuré. Il y a déjà une usine faite, et qui fonctionne. Ce n’est pas vous qui l’avez faite. Cette usine, c’est le langage, qui fonctionne là depuis aussi longtemps que vous pouvez vous en souvenir. Littéralement, vous ne pouvez pas vous souvenir au-delà, je parle de l’histoire de l’humanité dans son ensemble. Depuis qu’il y a là des signifiants qui fonctionnent, les sujets sont organisés dans leur psychisme par le jeu propre de ces signifiants. […] Inversement […] le signifiant emprunte toute une série 309

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Es handelt sich hier um den Versuch eines Denkens der absoluten Immanenz, dessen Angelpunkt die Stelle bzw. Funktion des Körpers ist in seiner Beziehung zu dem, was Husserl die Evidenz genannt hat. Für den Begründer der Phänomenologie bedeutet Evidenz im wesentlichen die fraglose Präsenz eines dem Bewußtsein intentional gegebenen Gegenstandes, welche zeitlich in die Modi der Retention und Protention aufgespannt ist. Die deckungsgleiche Wiederholung einer Urimpression respektive deren bloße Möglichkeit garantiert dem intentionalen Bewußtsein seine Selbstpräsenz und damit Kohärenz. 5

Übersetzung: Psyche Aber: Die Evidenz eines Phänomens für ein intentionales Bewußtsein impliziert einen Anteil an Nicht-Evidenz, der sich als Mangel oder als Überschuß manifestiert, welcher sowohl die Vorstellung von der Homogenität des phänomenologischen Bewußtseins durchlöchert wie auch die der Evidenz als Selbstpräsenz. Sie impliziert, mit Freud und Lacan gesprochen, die Existenz oder vielmehr die Effektivität des Unbewußten. Was evident ist, entzieht sich dem Bewußtsein. Dennoch bedarf es dieses Begriffs von unbewußter Evidenz, um die Konstitution des Subjekts erklären zu können, derart nämlich, daß als unbewußt evident das bezeichnet werden kann, was sich auf der Ebene der primären Bejahung – der Ebene des vor-symbolischen, nicht-verstehbaren und gleichwohl ›signifikanten‹ Anderen als Schrift (Lacans flux libidinal, der in vielerlei Hinsicht Julia Kristevas Term des ›Semiotischen‹ korrespondiert) – ereignet bzw. immer schon ereignet hat. Diese primordiale Ebene ist zugleich die des Körpers, von dem Spinoza (vor dem eben

d’éléments qui sont liés à un terme profondément engagé dans le signifié, à savoir le corps. De même qu’il y a déjà dans la nature certains réservoirs, de même il y a dans le signifié un certain nombre d’éléments, qui sont donnés dans l’expérience comme des accidents du corps, mais qui sont repris dans le signifiant, et lui donnent, si l’on peut dire, ses armes premières« (Hervorhebungen durch mich, A.B.). 5. Das durch den Evidenzbegriff vermeintlich abgesicherte Spiel von Urimpression und Wiederholung hat Jacques Derrida – unter anderem in Die Stimme und das Phänomen – als phonozentrische Selbsttäuschung des phänomenologischen Bewußtseins entlarvt, indem er aufgezeigt hat, daß, um ein solcher sein zu können, der Ursprung: Evidenz als Urimpression, bereits wesentlich von der Möglichkeit seiner Wiederholung gezeichnet ist, von dieser regelrecht unterwandert und in sich – als dem vermeintlich selbstpräsenten – gespalten wird, so daß letztlich gesagt werden muß, daß der Ursprung Ursprung nur sein kann in exakt dem Maße, in welchem er nicht (noch nicht oder schon nicht mehr) Ursprung ist. 310

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skizzierten Hintergrund mit Recht) sagt, man wisse nicht und könne nicht wissen, was er alles vermag6 – ein sehr viel subversiverer Gedanke, als es zunächst, so unscheinbar, wie er daherkommt, den Anschein haben mag. Denn daran, an diesem Unwissen hinsichtlich der Fähigkeiten des Körpers, hängt letzten Endes das Gesamt dessen, was die Affektenlehre Spinozas und ihre erratische Position in der Geschichte der Stellungnahmen zum Verhältnis von Soma, Nous und Psyche ausmacht. Die Möglichkeit des Affekts – verstanden als Möglichkeit des AffiziertWerdens, als die passive Fähigkeit des Von-einer-Sache-angerührtWerdens, als Übertragung eines Impulses auch7 – beruht auf der vorgängigen Tatsache eines Fehlens, auf etwas, das sich dem Bewußtsein radikal entzieht und in diesem Entzug allererst die Unterscheidung von Bewußt und Unbewußt als Möglichkeit aus sich entläßt. Das primordiale Nicht-Verstehen der von seiten des (oder der) Anderen, etwa der Mutter, durchaus kontingent, wenngleich von der symbolischen Ordnung strukturiert vorgenommenen Bedürfnisbefriedigung des infans lenkt den Fluß der Emotionen in Bahnen, an deren Knotungen sich sodann, in einem nachträglichen Schritt / Schnitt, der die Gleichursprünglichkeit dieser Ereignisse als chronologisch aufeinander folgend konstituiert, Symbolisches festmachen kann – an denen sich, mit anderen Worten, Nicht-Symbolisches in Symbolisches übersetzt. Die symbolische Ordnung, die die Ordnung des Anderen ist, kann das Subjekt als ihren Effekt, wie Lacan sagt, nur zeitigen im Modus der Nachträglichkeit gegenüber einem körperlichen Affekt im obigen Sinne, insofern erst aus der Perspektive des als solches bereits konstituierten Subjekts das primäre Affiziert-werden-Können des Körpers vom Anderen erscheint – nicht als das, was es gewesen sein wird: primärer Affekt, sondern als sekundär: Effekt des Signifikanten.8 Die Übertragung: der gleichsam

6. Vgl. Baruch de Spinoza: »Die Ethik. III. Teil, 2. Lehrsatz: Erläuterung«, in: ders., Die Ethik. Schriften. Briefe, Stuttgart 81982, S. 115–120, bes. S. 117. 7. Ich denke an den »Entwurf einer Psychologie«, jenen ›spinozistisch‹ anmutenden Text des frühen, ›vor-analytischen‹ Trieb-›Elektrikers‹ Freud, der für Lacan stets von großer inspirativer Kraft gewesen ist. 8. Vgl. dazu Jean-François Lyotards durchaus in unserem Sinne ›spinozistisch‹ zu nennende Ausführungen zum Affekt-Begriff des frühen Freud: »[E]s gibt bei Freud, in seiner Verfahrungsweise und in seinem Ton, Elemente, die gestatten, diese Paradoxe des Unvordenklichen zu artikulieren. […] [E]s genügt die Vorstellung, daß ein Reiz das System [des Psychischen] affiziert und dieses nicht über die Mittel verfügt, sie zu bearbeiten, sei es am Eingang, im Innern oder am Ausgang. […] Ein Reiz, der nicht ›eingegeben‹ wird, in dem Sinne, daß er einen Affekt auslöste, und der nicht in das System eingeht, in dem Sinne, daß er darin ›vergegenwärtigt‹ (introduced) würde, der also undargestellt bleibt (Verdrängung, S. 109). Es handelt sich um einen Schock, 311

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rechnerische Übertrag einer somatischen Bewegung, eines physischen Bedürfnisses etwa, und deren Beantwortung im Sinne einer ›Befriedigung‹ konstituieren auf dem Wege einer affektiven Übersetzung, einer Über-be-setzung mithin, das Psychische, verstanden als subjektkonstitutive, signifikante Unterscheidung – ›Differänz‹ – zwischen Signifikant und Signifikant, auf Kosten der bedeutungstragenden resp. -erzeugenden Verdrängung des ›ursprünglichen‹ Affekts, der das so generierte Bewußtsein gleichwohl in Folge unablässig einholt und es ›äfft‹. In einer (inhaltlich sowohl von Lacan als auch von Spinoza her fundierten) Überblendung beider korrelativer Thesen, die im unentscheidbaren Changieren zwischen a und e zugleich auch Derridas différance in Szene setzt, läßt sich also sagen: Das Subjekt ist ein Äffekt des Signifikanten.

Überlieferung: »Nous« Kommen wir zur philosophischen Tradition, in die sich eine solche Konzeption des Subjekts einschreibt, nicht ohne sie zugleich zu unterlaufen. Gälte es nicht, Bonmots um der Bonmots willen zu vermeiden, ließe sich auch sagen: nicht ohne sie zum Zwecke der Distanznahme maximal nachzuäffen – und damit, als Psychoanalytiker, die Philoso-

denn der Reiz ›affiziert‹ ein System, aber um einen Schock, von dem der Schockierte nichts weiß, von dem der Apparat (der Geist) aufgrund seiner Physis, seines inneren Kräftespiels nicht Rechenschaft ablegen kann. Von dem er folglich nicht affiziert ist. Der Schock, der Reiz brauchen also nicht erst ›vergessen‹ oder verdrängt zu werden […]. Allein, seine Wirkung, sein ›Effekt‹ ist gleichwohl da. Freud bezeichnet sie als ›unbewußten Affekt‹. Doch er ist der erste, der sagt: reiner Unsinn, ein Affekt, der kein Bewußtsein affiziert. Wie kann man sagen, daß er affiziert? […] Ist nicht der Affizierte der einzig denkbare Zeuge für die Existenz des Affekts? […] [D]as Schweigen, das den ›unbewußten Affekt‹ umgibt, betrifft nicht die Pragmatik (die Mitteilung einer Bedeutung an einen Hörer), sondern die Physik des Sprechers. Nicht darum, daß dieser sich nicht Gehör verschaffen kann, handelt es sich, sondern darum, daß er selber nichts hört. Um ein Schweigen also, das sich nicht als Schweigen vernehmen läßt. Gleichviel, etwas wird sich vernehmen lassen, wenn auch ›später‹. Was nicht eingegeben worden sein wird, wird nachträglich ›ausagiert‹, ›abreagiert‹, enacted, ausgespielt werden, oder besser: worden sein. Also repräsentiert, dargestellt. Doch ohne daß es vom Subjekt [das sich ihm allererst verdankt] wiedererkannt würde. Repräsentiert und dargestellt als etwas, das nie präsentiert worden ist. Ein neuerlicher Unsinn« (JeanFrançois Lyotard: »Die Juden«, in: ders., Heidegger und »die Juden«, Wien 1988, S. 11–62, hier S. 22 f.). Zum Verhältnis Freud-Spinoza vgl. auch Yirmiyahu Yovel: Spinoza. Das Abenteuer der Immanenz, Göttingen 1994, S. 421–457. 312

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phen insgesamt zu äffen. Sich, als Philosoph, nicht länger so äffen zu lassen, würde etwa bedeuten zu erkennen, daß Spinozas Philosophie der Immanenz nicht, wie die kantische Philosophie der Immanenz, eine humanistische und (auf den Menschen) zentrierte und auch nicht, wie Yirmiyahu Yovel meint, eine kausale ist.9 Immanenz trifft in bezug auf Spinozas Denken nur dann den Punkt, wenn man sie als antihumanistische, dezentrale und nicht-kausale faßt, als umfassende Streuung, Dissemination, Drift, wenn man so will, der seienden Dinge. Die Ausgerichtetheit auf den Körper bedeutet in dieser Hinsicht nichts anderes als den Ausweg aus dem cartesianischen Dualismus; für Spinoza ist, anders gesagt, der Körper jener Andere, um dessen Vermögen man nicht weiß noch wissen kann, und insofern ist darin, insbesondere in der Affektenlehre, das Freud-Lacansche Psychische bereits impliziert. Es gibt für Spinoza keine Veränderung im Sinne eines auf das Ursache-Wirkung-Schema reduziblen Vorgangs. Was sich ereignet, sind Veränderungen der Verhältnisse, Anstöße, Übertragungen von Impulsen, und am Ursprung dieser so verstandenen Veränderungen steht, als deren Möglichkeit, die Veränderung selbst als Veranderung: der primordial unverstandene Andere, wie er sich mir zuwendet in seinem Entzug: der spinozistische Körper.10 Die ganze Philosophie der Immanenz Spinozas beruht auf der Einsicht in die fundamentale Uneinsehbarkeit des Anderen, seines Seins, seiner Freude wie seines Leides. Dieses ist grundsätzlich nicht teilbar und nicht mitteilbar, nicht anzunehmen und auch nicht aufzuheben, nicht ad hoc, im Moment, und nicht in der Geschichte; es ist nicht übersetzbar, entzieht sich der Übertragbarkeit (etwa in Form der Husserlschen Appräsentation) wie auch der Überlieferung (es konstituiert keinen Horizont). Dennoch ist diese Unübersetzbarkeit unauslotbarer, und zwar insofern ›mystischer‹, doch keineswegs metaphysischer »Grund« von Übersetzung, Übertragung und Überlieferung. Denn gerade aus dieser irreduziblen Alterität des Anderen erwächst die Verant-wortung (die sich auch Verand-wortung schreiben könnte) des Selben gegenüber dem Anderen. Wenn Lacan, um ihn hier erneut ins Spiel zu bringen, vom Freudschen »Trieb« als dérive spricht, als »Abdrift«11, dann können wir nicht umhin, darin den Versuch zu sehen, diesen seinen ungemein komplexen Überlegungen (die Freuds latenten Spinozismus herauszustreichen vielleicht in höherem Maße noch angetan sind als dazu, Freud als unzeitigen strukturalen Linguisten hinzustellen) mit einem Wort Ausdruck zu verleihen. Eingeschrieben in den Konstitutionsprozeß der

9. Vgl. Y. Yovel: Spinoza, S. 270. 10. … als ursprüngliche Möglichkeit der Inschrift; Einschreibung; Inskription. 11. Vgl. Jacques Lacan: »Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewußten«, in: ders., Schriften II, Olten 1975, S. 177 Anm. 4. 313

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Dialektik von Soma, Nous und Psyche, wie der Andere hier erscheint, sprengt sein unverstehbares Antlitz trotz alledem nicht die Grenzen der Immanenz (und würde so zum transzendenten Angesicht Gottes), sondern läßt die Exteriorität der Grenze zum unvordenklichen Prinzip der Immanenz werden. Der Geist, weit davon entfernt, transzendent zu sein (gegenüber dem Materiellen z. B.), ist der Unverstand des Körpers. Er ist die Verdrängung, das reflexive Ver-kennen / Ver-gessen / Ver-stehen dieser Evidenz. Nicht von ungefähr merkt Lacan im Psychosen-Seminar anläßlich seiner Interpretation der Schreberschen Paranoia an einer bestimmten Stelle, gleichsam nebenbei, an, der Psychotiker wie auch der Psychoanalytiker befänden sich hier nicht weit vom »spinozistischen Universum«12. Lacans bekannt hohe Wertschätzung für Spinoza erklärt sich unseres Erachtens von genau daher: »Dieser philosophischen Tradition entgegengesetzt ist einer, den ich trotzdem hier nennen möchte, nennen als in meinen Augen den Vorläufer dieses Etwas, das ich für neu halte, das wir für neu halten müssen in, sagen wir: dem Fortschritt, der Richtung (sens) bestimmter Bezüge des Menschen zu sich selbst, die jene der Analyse ist, welche Freud konstituiert. Es ist Spinoza, denn letztlich ist es, glaube ich, bei ihm, jedenfalls mit einem ziemlich außerordentlichen Akzent, daß man eine Formel lesen kann wie diese: ›daß das Begehren das Wesen selbst des Menschen ist‹. Um den Anfang der Formel nicht von ihrer Folge zu trennen, fügen wir hinzu: ›insofern es begriffen wird ausgehend von einigen seiner Affektionen, begriffen als begrenzt und beherrscht durch irgendeine beliebige seiner Affektionen, etwas zu tun.‹13 Man könnte von hier ausgehend schon viel machen, um zu artikulieren, was in dieser Formel noch, wenn ich so sagen darf, verborgen (irrévélé) bleibt; ich sage verborgen, weil man wohlgemerkt Spinoza nicht auf Freud umlegen / in Freud überführen kann (traduire Spinoza parmi Freud), er ist dennoch einzigartig, ich gebe ihn Ihnen

12. »Nous ne sommes pas loin de l’univers spinozien, pour autant qu’il est fondé sur la coexistence de l’attribut de la pensée et de l’attribut de l’étendue. Dimension fort intéressante pour situer la qualité imaginaire de certaines étapes de la pensée philosophique.« – »Wir sind nicht weit entfernt vom spinozistischen Universum, soweit es auf der Koexistenz von Eigenschaft des Denkens und Eigenschaft der Ausdehnung / des Raumes gründet. Eine höchst interessante Dimension, um die imaginäre Qualität bestimmter Etappen des philosophischen Denkens zu situieren« (Le Séminaire de Jacques Lacan. Texte établi par Jacques-Alain Miller. Livre III, Les psychoses, 1955–1956, Paris 1981, S. 79, meine Übersetzung). 13. Die von Lacan zitierte Stelle lautet in der von Carl Vogl übersetzten und von Friedrich Bülow herausgegebenen Ausgabe der Ethik so: »1. Begierde ist des Menschen Wesen selbst, sofern dieses durch irgendeine gegebene innere Erregung als zu einer Tätigkeit bestimmt gedacht wird« (Hervorhebung im Original). In: Spinoza, Ethik, III. Teil, Begriffsbestimmungen der Affekte, S. 173–188, hier S. 173; vgl. auch Teil IV, 18. Lehrsatz. 314

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als ein einzigartiges Zeugnis, zweifellos habe ich persönlich vielleicht mehr Hang für ihn als ein anderer, und in weit zurückliegenden Zeiten habe ich viel Umgang mit Spinoza gehabt / Spinoza geübt (pratiqué Spinoza). Es ist, glaube ich, nicht insofern, als das dafür wäre, ihn ausgehend von meiner Erfahrung wiederzulesen, daß mir scheint, jemand, der an der Freudschen Erfahrung teilhat, kann sich durchaus auch in Texten dessen wohlfühlen, der ›De servitute humana‹ geschrieben hat, und für den die ganze menschliche Wirklichkeit sich strukturiert, sich organisiert als Funktion / in Ausübung (en fonction) der Attribute der göttlichen Substanz.«14

Die psychoanalytische Erfahrung Daß Lacan hier von Übersetzung spricht – »traduire Spinoza parmi Freud« –, ist kein Zufall. Mit diesem Setting wird jenes Feld des Daseins eröffnet, von dem wir hier zu handeln haben; unter Rückgriff auf Spinoza konstruiert Lacan vor dem Hintergrund des Freudschen Exposés oder besser, der freudianischen Erfahrung, wie er selbst es ausdrückt, eine »Lösung« des alten philosophischen Leib-Seele-Problems, die der Erfahrung, in philosophische Diktion rückübersetzt, auf die Philosophie übertragen, von ihr überliefert zu werden, noch harrt. Am ehesten geleistet wird dies von Julia Kristeva. Die Frage, unsere Ausgangsfrage, nimmt nochmals eine andere Form an. Sie lau-

14. Jacques Lacan: Seminar Le désir et ses interprétations (1958–1959), unveröffentl. Transkript, Bd. 1, S. 5 f. (meine Übersetzung): »A l’opposé de cette tradition philosophique, il est quelqu’un que je voudrais tout de même ici nommer, nommer comme à mes yeux le précurseur de ce quelque chose que je crois être nouveau, qu’il nous faut considérer comme nouveau dans, disons, le progrès, le sens de certains rapports de l’homme à lui-même, qui est celui de l’analyse que Freud constitue. C’est Spinoza, car après tout je crois que c’est chez lui, en tout cas avec un accent assez exceptionnel, que l’on peut lire une formule comme celle-ci: ›Que le désir est l’essence même de l’homme‹. Pour ne pas isoler le commencement de la formule de sa suite, nous ajouterons: ›Pour autant qu’elle est conçue à partir de quelqu’unes de ses affections, conçue comme déterminé [sic!] et dominée par l’une quelconque de ses affections à faire quelque chose‹. On pourrait déjà beaucoup faire à partir de là pour articuler ce qui dans cette formule reste encore, si je puis dire, irrévélé; je dis irrévélé parce que bien entendu on ne peut pas traduire Spinoza parmi Freud, il est quand même très singulier, je vous le donne comme un témoignage très singulier, sans doute personnellement j’ai peut-être plus de propension qu’un autre, et dans des temps très anciens j’ai beaucoup pratiqué Spinoza. Je ne crois pas pour autant que ce soit pour cela qu’à le relire à partir de mon expérience, il me semble que quelqu’un qui participe à l’expérience freudienne peut se trouver aussi à l’aise dans des textes de celui qui a écrit le ›Desservitute [sic!] humana‹, et pour qui toute la réalité humaine se structure s’organise en fonction des attributs de la substance divine.« 315

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tet: ›Was wird übersetzt?‹ Von welchem ›Fluß‹ spricht Lacan im Seminar über die Objektbeziehung? Und woher kommt die Bewegung, die im Bild vom Fluß impliziert ist? Was ist am Grund der Existenz des Signifikanten? Nun, präzise das: eine Erfahrung.15 Sie begründet die Evidenz, von der oben bereits die Rede war und die ein wenig genauer zu bestimmen wir versuchen wollen. In ihr sind die drei Register des Psychischen auf unvordenkliche Weise miteinander verknüpft, ineinander verstrickt, bilden eine Intrige, und zwar unter den Titeln des Semiotischen und des Symbolischen bzw. in Form einer Unterscheidung beider, die sich bereits bei Lacan (im nämlichen Seminar über die Objektbeziehung)16 angekündigt hat.17 Das Semiotische nimmt dabei den Rang von etwas ein, das der Lacanschen Trias des Realen, des Symbolischen und des Imaginären vorausliegt, insofern es jeglicher solchen Ein- bzw. Aufteilung erst die Grundlage bietet. Gleichwohl kann es nicht unter Verzicht auf diese nachträgliche Begrifflichkeit gedacht werden. Von Kristeva auch als Modalität eines Kontinuums bezeichnet 18, vorsymbolisch, doch auch nicht imaginär, unterhält es, wie angedeutet, Beziehungen zu dem, was für den Lacan des Seminars IV der Fluß (le flux) ist19, auf den das Symbolische einwirkt, in dem es Bahnungen und Dämme (Kristevas »Stasen«)20 einrichtet, an welchen sich nachmals Signifikanten festmachen können, aus welchen letztere gleichsam hervorgehen. So werden Triebe, verstanden als »energetische Ladungen« und »psychische Markierungen«21, in eine Verbindung gebracht mit dem Symbolischen, dergestalt, daß es die vorgeordnete symbolische Ordnung ist, welche – vermittelt über den Anderen – auf das infans, das noch vorsymbolische

15. Eine Erfahrung, wie sie etwa von Michel Serres beschrieben wird; vgl. Michel Serres: »Geburt«, in: ders., Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, Frankfurt a. M. 1993, S. 11–15. 16. Vgl. J. Lacan: La relation d’objet, bes. S. 46–51. 17. Vgl. Julia Kristeva: »Das Semiotische und das Symbolische«, in: dies., Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt a. M. 1978 (Übersetzung des ersten von drei Teilen des als La révolution du langage poétique 1974 in Paris erschienenen Originals), S. 32–113. 18. Vgl. J. Kristeva: Die Revolution, S. 40: »[D]as Semiotische [könnte] genauer bestimmt werden als die psychosomatische Modalität des Prozesses der Sinngebung, das heißt als noch nicht symbolische, aber ein Kontinuum arikulierende Modalität (artikulieren im weitesten Sinne verstanden).« 19. Eingeführt im Rahmen eines Vergleichs des Es mit einer Fabrik (usine), einem Wasserkraftwerk, um genau zu sein; vgl. J. Lacan: La relation d’objet, S. 43–51. 20. J. Kristeva: Die Revolution, S. 36 f. 21. Ebd. 316

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Wesen, einwirkt, in die »ausdruckslose Totalität«22 seiner von den Trieben artikulierten »chora«23 Verwerfungen, Stauungen etc. einschreibt, welche sodann das »Material«24 abgeben für die Übernahme des Symbolischen.

Über- : Die »chora« Ist es zuviel, in diesem Prozeß einen somatischen Vorgang zu erblicken, im Sinne des eingangs erwähnten Nietzsche-Zitats, wonach »das Geistige die Zeichensprache des Leibes« sei, oder auch dergestalt, daß diese psychoanalytische Konzeption die Fichtesche Einsicht, daß der Leib »Ausdruck, Sichtbarmachung, Mitteilung wird«, realisiert? Das Symbolische übersetzt das Semiotische (als etwas im beschriebenen Sinne ›Somatisches‹) auf dem Hintergrund der Übertragung, sprich: Aussendung und Weiterleitung von Impulsen (Kristevas »energetische Ladungen«). Diese ›Übersetzung‹, die im Register des Realen sich abspielt, abgespielt haben wird, und es ex negativo, insofern es ja eine Leerstelle, den Mangel, impliziert, ans Symbolische anknüpft, konstituiert die Möglichkeit von ›Übertragung‹ auf den Anderen, ›Über(be)setzung‹ auf / in den anderen (beides in der Spiegelsituation sowie, reproduzierbar, in der Situation der analytischen talking cure). »Unsere Auffassung vom Semiotischen ist, wie man sieht, nicht von einer Subjekttheorie zu trennen, die Freuds Verständnis des Unbewußten Rechnung trägt. Das Subjekt in der Sprache stellt sich demnach so dar: Dezentrierung des transzendentalen ego, das es spaltet und dem es damit eine Dialektik eröffnet, in der sein syntaktischer und kategorialer Verstand nur ein Moment des Prozesses darstellt, der seinerseits von der Beziehung zum Anderen gelenkt wird – einer Beziehung, die vom Todestrieb und dessen ›Signifikanten‹ erzeugender Rückkehr beherrscht wird.«25 Als somatisch, wenngleich unleugbar imaginär, gibt sich dieser Prozeß insofern zu erkennen, als er an einem körperlich gefaßten Nicht-Ort angesiedelt ist, gleichsam pränatal, in der chora (was ja unter anderem auch ›Gebärmutter‹ bedeutet): »Ohne schon Stellung zu sein, die für jemanden etwas vor-stellt, das heißt ohne Zeichen zu sein, ist die chora ebensowenig eine Stellung, die jemanden an seiner Stelle vorstellt, das heißt, sie ist noch kein Signifikant: doch erzeugt sie sich in Hinblick auf eine solche

22. 23. 24. 25.

Ebd. Ebd. Zum Begriff der chora vgl. auch Jacques Derrida: Chora, Wien 1990. J. Kristeva: Die Revolution, S. 39. Ebd., S. 41 f. (Hervorhebungen im Original). 317

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Signifikantensetzung. Weder Modell noch Abbild geht sie der Gestaltgebung und insofern auch der Spiegelung voraus, denen sie später zugrunde liegt.«26 Das aber kann sie nur, weil sie, so Kristeva, vom Rhythmus der Stimme oder der Geste affiziert wird, vom Rhythmus einer Stimme oder einer Geste freilich, die vom Anderen herkommt, von dem, was Levinas das Gesicht nennt, das ›Antlitz‹27, als welches der Andere uns begegnet. Es ist das Antlitz des Anderen, dessen, der sich über die Wiege beugt, der das infans füttert und zu ihm spricht, ohne von ihm ›verstanden‹ zu werden, das ja – als infans – noch ›außerhalb‹ des Symbolischen ist (wenngleich dieses Außen sich nur retrospektiv, aus der Perspektive des bereits im Symbolischen befindlichen Subjekts herstellt); das Antlitz des Anderen, dessen ›Wesen‹ in der grundsätzlichen Möglichkeit seines Abwesend-sein-Könnens besteht, in der Möglichkeit seines Todes. Es ist dieser Andere, der in Form der symbolischen Ordnung sich in uns einschreibt, unverständlich, jenseits / diesseits des Sagbaren und des Unsagbaren, dessen Diskurs uns spaltet (daher Levinas’ Rede vom traumatischen Ereignis der Begegnung mit dem Anderen) und dessen – metaphysikkonstitutive, fundamentalontologische, hermeneutische – Verdrängung im Spiegelstadium qua Identifikation mit dem anderen, der nunmehr, wie der Wechsel von der Groß- zur Kleinschreibung anzeigt, bereits nur noch als reduzierter erscheint, die Heraufkunft des narzißtischen Subjekts beschwört. Der Andere, der mich affiziert und effiziert, indem er (sich) traumatisch auf mich übersetzt, überträgt zugleich die symbolische Ordnung, infiziert mich gleichsam mit ihr, Erbe und Resultat einer Überlieferung, die ich nur durch Verdrängung des Anderen in der Spiegelerfahrung qua affektiver Über(be)setzung des anderen, wieder ›loswerden‹, als ›meine‹ Geschichte übernehmen kann – was mich zugleich dazu zwingt, sie unaufhörlich, unwillkürlich zu wiederholen, fortzuschreiben: meinerseits zu übertragen und zu überliefern. In diesem Sinne ist es, daß Lacan, seinerseits Spinoza fortschreibend, über das Begehren sagt, es sei das Begehren des Anderen: In seiner unauflöslichen Verknüpfung mit dem Tod, dem Fehlen des Anderen, mit dem

26. Ebd., S. 37 (Hervorhebungen im Original). 27. Z. B. in Emmanuel Levinas: »Ist die Ontologie fundamental?«, in: ders., Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg i. Br./ München 31992, S. 103–119, hier S. 116–118. Zur sich eingebürgert habenden Übersetzung von frz. ›visage‹ als dt. ›Antlitz‹, mit der erst Thomas Wiemer in seiner Übersetzung von Autrement qu’être … bricht und es als ›Gesicht‹ wiedergibt, vgl. dessen Anmerkung (1) in Emmanuel Levinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg i. Br. / München 1992, S. 43. 318

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Mangel und dem Todestrieb ist es, als ›Quelle‹ des vor-symbolischen Flusses, der ›Grund‹, auf und an dem das Subjekt als SignifikantenFabrik gebaut ist. Und hier, wo ständig die Gefahr des biologischen Reduktionismus droht (in der Form einer Rückführung psychischer Verfaßtheiten auf eine Erfahrung, die sich uns zunächst nur lebensweltlich-biologisch gibt, nämlich die Tatsache der Geburt, des frühen Eingelassenseins des menschlichen Subjekts in statu nascendi in das prä- und perinatale Feld), hier läßt sich – und damit komme ich zum Schluß meiner Ausführungen – gleichzeitig doch wieder an den frühen Lacan anschließen, der eine mir unhintergehbar scheinende Tatsache formuliert, an die er sich stets gehalten hat und die insofern ihrerseits am Grund seines Verständnisses der menschlichen Psyche steht: Die frühe und früheste Erfahrung »hinterläßt im menschlichen Psychismus die bleibende Spur des biologischen Bezuges, den sie abbricht.«28 Hierin liegt die gesamte Dialektik des menschlichen Daseins, aufgespannt im Feld zwischen Soma, Psyche und Nous, begründet, zwischen primordialer Bejahung und ursprünglicher Verneinung,29 Dialektik, innerhalb deren sich die Signifikantentheorie als spezifische Lesart der Freudschen Psychoanalyse situieren wird. Und mit wenig Aufwand ließe sich sogar zeigen, daß der von Lacan nachmals eingeführte Signifikant präzise an der Stelle im Psychismus, am Grund der Existenz, wie es heißt, erscheint, wo zuvor der narzißtische Knoten in Gestalt beispielsweise der Mutterschoßimago zu stehen gekommen war. Die strukturale Lesart der Freudschen Theorie geht somit auf eine Weise aus dieser selbst hervor, die auf dem

28. Jacques Lacan: »Die Familie«, in: ders., Schriften III, Olten / Freiburg i. Br. 1980, S. 39–100, hier S. 48. Lacan spricht an dieser Stelle explizit von der »Entwöhnung als Krise des Psychismus«, was wir glauben, mit Recht – angesichts der Fortschritte in der Pädiatrie und insbesondere in der Prä- und Perinatalpsychologie – als gleichsam zeitbedingten Statthalter für jede Form von ›früher‹ bzw. ›frühester Erfahrung‹ übersetzen zu dürfen. Siehe auch die folgende Fußnote. 29. Ebd., S. 49: »Die Verweigerung der Entwöhnung ist es, die das Positive [!] am Komplex begründet: die Imago des Säugungsbezugs, den die Verweigerung wiederaufzunehmen sucht. […] Da dieses Stadium dem Aufkommen der Form des Objekts vorausgeht, scheint es nicht, als könnten sich diese Inhalte im Bewußtsein repräsentieren. Sie reproduzieren sich gleichwohl in ihm: in mentalen Strukturen, die […] die späteren psychischen Erfahrungen modellieren.« Auf der folgenden Seite (50) spricht Lacan sogar dezidiert selbst von der »pränatalen Imago«. Vgl. außerdem ebd., S. 53: »Auch sublimiert, spielt die Imago des Mutterschoßes weiterhin eine wesentliche Rolle. Ihre dem Bewußtsein entzogenste Form, die der pränatalen Behausung, findet in der Wohnung und deren Schwelle, zumal in ihren primitiven Formen Hütte und Höhle, ein angemessenes Symbol.« 319

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Wege direkter Bezugnahme auf deren biologistisch-reduktionistische Anteile den Hang der frühen Psychoanalyse zum biologischen Reduktionismus überwindet.30 Wenn wir in dem von Lacan selbst gewählten Bild von der Signifikantenfabrik bleiben wollen und einmal annehmen, daß eine Fabrik, erst recht eine, die sich umweltfreundlich der Flußkraft bedient, nicht ohne Räder auskommt, in Form von Zahnrädern zur Generation von Strom oder Signifikanten etwa, dann bleibt eine Frage, die auf einen weiteren Sinn von ›Übersetzung‹, der zu klären wäre, abhebt: Wie sind diese Räder unserer Subjekt-Fabrik übersetzt? Wovon hängt es ab, wie sie übersetzt sind? Was macht es aus, daß manche Subjekte, wie es die Umgangssprache will, ›schlecht übersetzt‹ sind, andere nicht?31 Wie bin ich übersetzt? Wie seid Ihr übersetzt? »Wollt Ihr die totale Übersetzung?«

30. Ein solches Korrektiv haben wir in der psychoanalytischen Theoriebildung heute ebenso nötig wie zu Freuds und Lacans Zeiten, nötiger sogar, wenn man mir den unmöglichen Komparativ erlauben will, angesichts der immensen Fortschritte und damit scheinbar notwendig einhergehenden biologischen Reduktionismen auf dem Gebiet der Neurophysiologie und der Genforschung. 31. Diese Frage ist es, die Lacan bis zuletzt umtreibt und die seine unaufhörlichen Bemühungen um eine mathematisch-mechanische Topologie des Unbewußten motiviert, in denen es ja genau darum geht: zu erkennen, wie die drei Register des Unbewußten ineinander spielen (oder nicht), eben: wie sie ›übersetzt‹ sind. 320

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Literatur Derrida, Jacques: Chora, Wien 1990. Kristeva, Julia: Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt a. M. 1978. Lacan, Jacques: Le Séminaire de Jacques Lacan. Texte établi par JacquesAlain Miller. Livre III, Les psychoses, 1955–1956, Paris 1981. — Le Séminaire de Jacques Lacan. Texte établi par Jacques-Alain Miller. Livre IV, La relation d’objet (1956–1957), Paris 1994. — Seminar Le désir et ses interprétations (1958–1959), unveröffentl. Transkript. — »Le Séminaire, Livre XXII, ›RSI‹«, in: Ornicar? 2–5 (1975). — »Die Familie«, in: ders., Schriften III, Olten / Freiburg i. Br. 1980, S. 39–100. — »Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewußten«, in: ders., Schriften II, Olten / Freiburg i. Br. 1975, S. 165–204. Levinas, Emmanuel: »Ist die Ontologie fundamental?«, in: ders., Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg i. Br. / München 31992, S. 103–119. — Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg i. Br. / München 1992. Lyotard, Jean-François: »Die Juden«, in: ders., Heidegger und »die Juden«, Wien 1988, S. 11–62. Roudinesco, Elisabeth: Jacques Lacan. Bericht über ein Leben, Geschichte eines Denksystems, übers. v. Hans-Dieter Gondek, Köln 1996. Serres, Michel: Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, Frankfurt a. M. 1993. Spinoza, Baruch de: Die Ethik. Schriften. Briefe, Stuttgart 81982. Yovel, Yirmiyahu: Spinoza. Das Abenteuer der Immanenz, Göttingen 1994.

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Vom Fluidum zur Libido. Der halluzinatorische Charakter der Übertragung1 Edith Seifert

Mesmer 1784 beruft König Ludwig XVI. eine Untersuchungskommission ein, die sich aus Mitgliedern der Königlichen Akademie der Wissenschaften und der medizinischen Fakultät zusammensetzt – darunter der Astronom Bailly, der Chemiker Lavoisier, der Arzt Guillotin und der amerikanische Gesandte Benjamin Franklin. Sie soll über die wissenschaftliche Haltbarkeit der kosmischen Fluidumtheorie von Franz Anton Mesmer befinden. Die Naturwissenschaften sind auf dem Vormarsch, und ihre Standards, wie z. B. das Empirie- und das Kausalitätsprinzip, gewinnen als Legitimitätsbeweise zunehmend an Bedeutung. Eines der ersten Opfer der Verwissenschaftlichung ist Mesmer, denn einen Beweis für die physikalische Existenz seines »magnetischen Fluidums« kann die königliche Kommission nicht finden, weshalb sie Mesmer die Ausübung des »tierischen Magnetismus« untersagt. Dabei leugnete die königliche Kommission gar nicht die therapeutische Wirkung des Fluidums – nur schrieb sie diese der ›Einbildung‹ und einem unbekannten, nicht beweisbaren wirksamen Agens zu, das für die Theoriebildung allerdings nicht in Betracht kommen könne.2 Mesmers therapeutische Erfolge blieben von der wissenschaftlichen Sanktion denn auch unberührt, und sie sorgten weiterhin für Aufsehen. Schon 1773–74 hatte Mesmer das junge Frl. Österlin magnetisiert und von nicht weniger als 15 schweren

1. Der nachstehende Aufsatz geht in seinen ersten Teilen zurück auf den Beitrag der Verf.: »Das Lebendige in der Psychoanalyse. Von der ›Quantität‹ zur sexuellen Funktion. Eine Entwicklungsskizze des psychischen Energiebegriffs«, in: Maria Wolf (Hg.), Optimierung und Zerstörung, Innsbruck 2000. 2. Henry F. Ellenberger: Die Entdeckung des Unbewußten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung, Bd. I, Bern 1973, S. 107. 323

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Symptomen befreit. Durch Verabreichung eines eisenhaltigen Präparats sowie mittels an Bauch und Beinen befestigten Magneten bekam Frl. Österlin das Strömen des Fluidums in ihrem Körper zu spüren und fand ihre Beschwerden zeitweilig hinwegspült. Die Teilnahme an den magnetischen Kuren war groß, daran vermochten einzelne Mißerfolge nichts zu ändern. So war zwar der Fall der 18 Jahre alten Pianistin Maria-Theresia Paradis, die seit dem Kindesalter blind war, nach zwischenzeitlichen Erfolgen desaströs gescheitert – die Patientin hatte ihre Sehkraft zum Schluß endgültig verloren –, das Vertrauen in die Heilkraft des Fluidums ließ sich dadurch jedoch nicht erschüttern, zumal Mesmer mit seiner Vermutung, daß die Heilung der blinden Pianistin wohl weder in ihrem Interesse noch in dem ihrer Familie lag, tiefe Einsicht in das Wesen psychotherapeutischer Schwierigkeiten bewiesen hatte. Und auch der Umstand, daß der Meister wahrscheinlich eine Zuneigung zu der jungen Dame und diese zu ihm gefaßt hatte, kehrt als verkomplizierender Faktor in späteren Geschichten (siehe die von Anna O. und Josef Breuer) wieder. Mesmer jedenfalls hatte aus dem Mißerfolg gelernt, nämlich daß nicht die Magneten allein für die heilsame Wirkung verantwortlich sein konnten, sondern daß er selbst wesentlichen Anteil an der Wirkung haben mußte. Vielleicht, daß die Magneten sogar nur Hilfsmittel zur Verstärkung der Ströme, des sogenannten »Fluidums« waren, denen er selber die Richtung gab. Das Phänomen jedenfalls nannte Mesmer den »tierischen oder animalischen Magnetismus«, wobei die Bezeichnung »tierisch oder animalisch« die Abgrenzung vom physikalischen Magnetismus markierte bzw. nichts weiter als das Lebendige bedeutete, das im Jahrhundert Mesmers, dem 18. Jahrhundert, an den verschiedensten Fronten gesucht wurde. Die Entdekkung der Elektrizität stellte darunter den spektakulärsten Fund dar und wurde lange Zeit als Entdeckung des Lebensprinzips schlechthin betrachtet. Mesmer schließt sich der allgemeinen Suche nach dem Lebensprinzip an und vermeint mit dem Fluidum die Wechselwirkungen des Lebendigen zwischen den Himmelskörpern, der Erde sowie den Lebewesen gefunden zu haben. Wobei er das Fluidum selbst als den Träger einer universal verbreiteten, subtilen Art von Energie, einen »allgemeinen Agens« verstand3, den er nach der Art physikalischer Konzepte als universelle Schwerkraft oder Elektrizität dachte und sich in unterschiedlichen Formen und Verteilungen vorstellte – in Magneten, Elektrizität und eben dem tierischen Magnetismus –, durch die die Eigenschaften aller belebten wie unbelebten Körper bestimmt wurden. So versetzte das Fluidum den menschlichen Körper im gesunden Zustand in eine Wechselwirkung mit allen anderen Körpern des Weltalls und

3. Ebd., S. 103. 324

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VOM FLUIDUM ZUR LIBIDO

ließ ihn an der wie das Sonnenlicht im Planetensystem unendlich feinen Substanz, der Allflut bzw. dem Fluidum teilhaben. Kam es aber zu Verfestigungen oder Stockungen des Fluidums, so waren Krankheiten die unvermeidliche Folge.4 So weit die Theorie der »Wechselwirkungen«, die mit Recht bescheiden genannt werden darf. Spektakulärer und folgenreicher hingegen ist ihre therapeutische Seite. In der Praxis versuchte sich Mesmer in der Handhabung des Fluidums, wobei er davon ausging, daß sich das »Lebensfeuer« aktivieren und kanalisieren läßt. Erhitzen und das Erzeugen von die Natur nachahmenden heilsamen Krisen sollten die krankhaften Verfestigungen des Fluidums auflösen können, argumentierte er humoralpathologisch und nahm dabei spätere psychodynamische Therapien vorweg. Therapeutisch boten sich verschiedene Mittel und Maßnahmen zur Potenzierung des Fluidums an: Berührungen des Körpers, die sogenannten »Passes« oder Luftstriche, In-die-Augen-Sehen oder der Kontakt mit Wasser. Als spezielles Fluidumreservoir diente aber das »Baquet«, der Gesundheitszuber, in dem nach dem Vorbild der Elektrisiermaschine und Kleistschen Flasche Glasscherben, Eisenstücke und Wasser die Kraft speichern und über abgebogene Eisenstäbe und nasse Seile an die Patienten verteilen sollten. In seinen Wirkungen muß das Baquet beeindruckend gewesen sein – Krisen, Ohnmachtsanfälle, magnetischer Schlaf und somnambule Zustände stellten sich reihenweise ein.5 Doch die fluidumverstärkenden Mittel wären ohne die Beziehung zwischen Magnetiseur und Patient unvollständig benannt. Mesmer verfügte über eine tiefe Einsicht in das Wesen der Behandlung, er erkannte, wie gesagt, daß nicht die Magneten allein die Wirkungen verursachen konnten, sondern daß er selbst wesentlichen Anteil daran haben mußte. Um eine Heilung einzuleiten, sollten deshalb Patient und Magnetiseur eine Einheit bilden in dem Wunsch, das Leiden zu beseitigen und Harmonie herzustellen. Erst dieser »Rapport« oder die »Nervenvermählung« zweier Willen vermochte den materiellen Träger, das Fluidum, zu aktivieren. Die Parallele zum psychoanalytischen Übertragungskonzept drängt sich geradezu auf. Ellenberger faßt diese Einsicht wie folgt zusammen: Der »Magnetiseur ist der therapeutische Agens seiner Heilungen«, und die Kraft liegt in ihm selbst. Gleichzeitig verfügt er aber auch über Mittel, den Rapport einzuleiten und zu verstärken: Der Brustspiegel des Magnetiseurs, überhaupt Spiegel (eine Metapher,

4. Vgl. hierzu den Beitrag von Gereon Wolters in: Heinz Schott (Hg.), Franz Anton Mesmer und die Geschichte des Mesmerismus, Wiesbaden / Stuttgart 1985, S. 57. 5. Ernst Florey: »F.A. Mesmers magische Wissenschaft«, in: Gereon Wolters (Hg.), F.A. Mesmer und der Mesmerismus, Konstanz 1988, S. 11–40. 325

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die im psychoanalytischen Übertragungskonzept wiederkehrt) und zauberische Musik auf der Glasharmonika sollten eine magisch-suggestive Atmosphäre schaffen und den Rapport begünstigen. Zu einer Zeit, in der Ärzte noch Strafen als Behandlungsmethoden einsetzten und ihre Patienten inquisitorisch befragten, war solcherlei Spuk sicher nicht dazu angetan, den Magnetismus der traditionellen Ärzteschaft zu empfehlen. Im Gegenteil – der Berliner Mesmer-Schüler Karl Christian Wolfart mußte sich Anfang des 19. Jahrhunderts die Verunglimpfung seiner Methode als ›sittliche Gefahr‹ gefallen lassen. »Der ganze tierische Magnetismus scheint eine geistige Zeugung durch geistige Begattung zu sein«, hieß es.6 War es das, was die große Zahl weiblicher Personen suchte, die in die magnetischen Kuren drängte?

Freud 1895 und damit 80 Jahre nach Mesmers Tod treibt Freud die Erforschung der subtilen Energie, des Lebensprinzips weiter. Wie seinerzeit Mesmer von der Entdeckung der Elektrizität mitgerissen, geht Freud wie viele seiner Zeitgenossen und anfänglichen Mitstreiter zunächst von ihr aus.7 Mittlerweile war jedoch die Forschung vorangeschritten und die elektrische Leitfähigkeit des Nervensystems entdeckt worden. Zwar hatte auch schon Mesmer Luigi Galvanis Ideen von einer möglichen Lebenskraft implizit aufgegriffen und hätte im Prinzip auch schon davon ausgehen können, daß das Nervensystem als Organ feinste Lebenskräfte assimiliert und als galvanisches Prinzip beschreibbar ist.8 Vielleicht war ihm auch die Entdeckung des Abbé Haller (1708–1778) bekannt, der gezeigt hatte, daß das menschliche Gewebe Elektrizität leitet und sich ein elektrischer Schlag über eine Kette von Personen überträgt. Doch die Forschung hatte in den 80 Jahren rapide Fortschritte gemacht, von denen Freud auf seiner Suche nach dem psychischen Prinzip ausgehen mußte. Die Isolierung des Nerven-Muskelpräparats an einem ruhenden Frosch von Leopold Nobili und schließlich ab 1848 die neuen Experimentalmethoden insbesondere von Emil Du BoisReymond, an denen auch Freud mit der Entwicklung von Färbemethoden zur Isolierung von Nervengewebe teilhatte, hatten ungeahnte Einblicke in die Mechanik der tierischen Elektrizität und schließlich der

6. Ingrid Kollak: Literatur und Hypnose. Der Mesmerismus und sein Einfluß auf die Literatur des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. / New York 1977. 7. Olaf Breidbach: Die Materialisierung des Ich. Zur Geschichte der Hirnforschung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1977, S. 26–31. 8. Ebd., S. 51. 326

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VOM FLUIDUM ZUR LIBIDO

Hirnvorgänge gewährt. Freud konnte also von den revolutionären Erkenntnissen der jungen Neurophysiologie ausgehen, daß das Nervensystem eine Bioelektrizität besitzt.9 Die Differenz zwischen Mesmer und Freud ist darum gewaltig. Zwar hatte sich auch Mesmer als Aufklärer verstanden und das Fluidum im Sinne der Naturwissenschaft materialisiert und als Kraftbegriff gedacht – wenn auch nicht als Energie –, es gleichwohl aber noch magisch-mystisch in das umfassende Naturganze eingebettet. Freud dagegen sieht sich mit einem Lebensprinzip konfrontiert, das in einem isolierten, nur dem lebenden Organismus eigenen Milieu abläuft.10 In den Anfängen der Psychoanalyse bedient sich Freud jedenfalls erklärtermaßen Hypothesen, die er der elektrischen Forschung entnimmt und die für ihn, wie er einräumt, denselben Stellenwert einnehmen, »wie es die Physiker mit der Annahme des strömenden elektrischen Fluidums tun.«11 Die Erklärung der Affekte mittels Analogien zur Elektrizitätslehre, die Josef Breuer 1895 gibt, könnte also durchaus auch von Freud stammen: »Wir hätten uns eine zerebrale Leitungsbahn nicht wie einen Telephondraht vorzustellen«, schreibt Breuer, »der nur dann elektrisch erregt ist, wenn er fungieren, d. h. hier: ein Zeichen übertragen soll; sondern wie eine jener Telephonleitungen, durch welche konstant ein galvanischer Strom fließt und welche unerregbar werden, wenn dieser schwindet. – Oder, besser vielleicht, denken wir an eine viel verzweigte elektrische Anlage für Beleuchtung und motorische Kraftübertragung; es wird von dieser gefordert, daß jede Lampe und jede Kraftmaschine durch einfaches Herstellen eines Kontaktes in Funktion gesetzt werden könne. Um dies zu ermöglichen, zum Zwecke der Arbeitsbereitschaft, muß auch während funktioneller Ruhe in dem ganzen Leitungsnetze eine bestimmte Spannung bestehen, und zu diesem Behufe muß die Dynamomaschine eine bestimmte Menge von Energie aufwenden. – Ebenso besteht ein gewisses Maß von Erregung in den Leitungsbahnen des ruhenden, wachen, aber arbeitsbereiten Gehirnes.«12 Die Entwicklung des psychoanalytischen Theoriegebäudes findet zunächst also vor dem Hintergrund der Elektrizität statt. Sie geht dabei von der Vorstellung aus, daß an der gesuchten psychischen Funktion »etwas zu unterscheiden ist (Affektbetrag, Erregungssumme), das alle Eigenschaften einer Quantität hat – wenngleich wir kein Mittel besitzen, dieselbe zu messen – etwas, das der Vergrößerung, Verminderung, der

9. Ebd., S. 55 ff. 10. Ebd., S. 42–44. 11. Sigmund Freud: »Die Abwehr-Neuropsychosen«, in: ders., Gesammelte Werke, 1. Bd., London 1952, S. 74. 12. Josef Breuer: »Theoretisches«, in: Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Nachtragsband, Frankfurt a. M. 1987, S. 252 f. 327

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Verschiebung und der Abfuhr fähig ist und sich über die Gedächtnisspuren der Vorstellungen verbreitet, etwa wie eine elektrische Ladung über die Oberflächen der Körper.«13 Nähere Einblicke in die Beschaffenheit dieser Ladung nimmt Freud bei den Hysterikerinnen der frühen Jahre, bei Frau Emmy von N., Miß Lucy, Katharina, Frl. Elisabeth. In diesem Sinne findet Freud in den Krankengeschichten scharfsichtig Hinweise auf die Beschaffenheit der Nervenenergie, die er hypothesenhalber elektrisch nennt. Er trifft sie an in den Schreckerlebnissen seiner Kranken, verfolgt sie auf den Wegen ihrer Erinnerungen und registriert sie in der Funktion ihrer Abwehr, im Vorkommen von Gedächtnisspuren, von Bahnungen, der sog. »falschen Verknüpfung« oder den verschlungenen Wegen der Symptomnetze und der überall imponierenden Tendenz zur Trägheit bzw. Erregungsabfuhr. Aus alldem gewinnt Freud die erste Theorie einer naturwissenschaftlichen Psychologie, die erlauben soll, »psychische Vorgänge als quantitativ bestimmte Zustände aufzeigbarer materieller Teile« – der Neuronen – »anschaulich und widerspruchsfrei«14 darzustellen. Er geht dabei (s. o.) von der Annahme einer Quantität aus, die, wenngleich an sich unbekannt und nicht meßbar, dem allgemeinen physikalischen Bewegungsgesetz unterstellt ist, über unsichtbare materielle Teilchen, die Neurone, transportiert wird und sich, wenn überstark geworden, in den Pathologien manifestiert. Man sieht, daß die Entdeckung des Elektronenmikroskops noch auf sich warten läßt. In der Zwischenzeit beeindruckt diese Quantität durch eine gewisse Übertragungsfähigkeit, d. h. durch ihre Fähigkeit zur Vergrößerung, Verminderung, Verschiebung oder Abfuhr. Im Anschluß an Breuers Formulierung von der freien und der gebundenen Energie geht Freud schließlich von der Existenz zweier unterschiedlicher, aber gleichgebauter Neuronentypen aus, den besetzten und den durchlässigen, leeren Neuronen, und formuliert als die primäre Tendenz dieser Materie, sich reizlos zu erhalten, d. h. die Tendenz zur Abfuhr oder das berühmte Konstanzprinzip.

Umgang mit der neuen Materie und Wiederfinden der alten Dämonen Parallel zur Übertragung der Quantität von einem Neuron auf ein anderes lernt Freud bei Frau Emmy von N., Miß Lucy, Katharina und Frl. Elisabeth den Umgang mit der neuen Materie und entwickelt daraus

13. S. Freud: »Die Abwehr-Neuropsychosen«, S. 74. 14. Sigmund Freud: [»Entwurf einer Psychologie«], in: ders., Gesammelte Werke, Nachtragsband, Frankfurt a. M. 1987, S. 387. 328

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Schritt für Schritt die Methode der »talking cure«. Zunächst nimmt er Abstand von der bisher in den Psychotherapien angewandten Hypnose, distanziert sich von der direkten Suggestion, dem Beschwichtigen durch fromme Lügen sowie dem Somnambulismus und beginnt an der Allgemeingültigkeit der Bernheimschen Auffassung von der Suggestibilität zu zweifeln. Er arbeitet mit unterschiedlichen Graden leichter Beeinflussung, in Zuständen, die sich, wie bei Miß Lucy, von normalen nur noch wenig unterscheiden. Freud lernt auch, daß er es sich nicht ersparen kann, Frau Emmy »in jedem Punkte bis zu Ende anzuhören«15, lernt, mit dem Nachfragen aufzuhören und die Patientin erzählen zu lassen, was sie zu sagen hat.16 Konzentration, Rückenlage, Schließen der Augen und Druck der Hand und schließlich nach Aufgabe auch dieses letzten direkten Suggestionsmittels die erste Formulierung der Grundregel, daß nichts verheimlicht werden soll17, sind die Restspuren der bis dahin nur durch Hypnose erreichten Bewußtseinserweiterung. Das Verfahren, das später zur Methode erhoben wird18, das Verfahren der schichtweisen Ausräumung des pathogenen Materials, ist fast komplett. Doch Freud bemerkt schnell dessen Grenzen. Er wird auf den Widerstand aufmerksam, gibt der unzufriedenen Miene der Somnambulen, ihrer Gefügigkeit in belanglosen Dingen und ihrer Auflehnung in den ernsten Dingen Bedeutung19 und schließt daraus, daß auf seiten des Patienten affektive Momente wirken und daß die persönliche Geltung des Arztes dabei eine wichtige Rolle spielt.20 Zunächst glaubt er jedoch, dem durch vollständiges Überzeugen von der Verläßlichkeit seiner Methode bzw. durch die Unerschütterlichkeit seines Glaubens an eine »vollkommen zureichende Determinierung«21 des Symptoms begegnen zu können. Der weitere Verlauf der kathartischen Arbeit macht jedoch die Bedeutung der Person des Arztes unübersehbar.22 Das vermehrt die psychische Arbeit auf ärgerliche Weise, doch Freud erkennt schon bald das Gesetzmäßige des Vorgangs und merkt, daß die Übertragung im Grunde keine Mehrarbeit schafft, sondern für den Patienten dieselbe bleibt: Der peinliche Affekt muß so oder so überwunden werden, und

15. Sigmund Freud: »Studien über Hysterie«, in: ders., Gesammelte Werke, 1. Bd., London 1952, S. 114. 16. Vgl. ebd., S. 116. 17. Vgl. ebd., S. 219. 18. Vgl. ebd., S. 201. 19. Vgl. ebd., S. 218. 20. Vgl. ebd., S. 285. 21. Ebd., S. 201. 22. Vgl. ebd., S. 307. 329

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Übertragung ist eben Zwang und Täuschung, am Ende der Analyse wird sie schon zerfließen.23 Eine Eigentümlichkeit des pathogenen psychischen Materials tritt aber hier schon zutage: es ist wie der Nervenapparat mit seinen verschieb- und abführbaren Elementarteilchen, den Neuronen, dynamisch angeordnet und durch einen bis zum pathogenen Kern reichenden »logischen Faden« verknüpft, der »einem unregelmäßigen und vielfach abgeknickten Weg entsprechen mag.«24 Man könnte geradezu »dem Gange der logischen Verkettung mit einem Stäbchen nachfahren, welches auf den verschlungensten Wegen aus oberflächlichen in tiefe Schichten und zurück […] vordringt und dabei alle Stationen berühren muß, also ähnlich wie das Zickzack der Lösung einer Rösselsprungaufgabe über die Felderzeichnung hinweggeht«25 [oder besser noch] »nicht nur einer zickzackförmig geknickten Linie [entspricht], sondern vielmehr einer verzweigten, und ganz besonders einem konvergierenden Liniensysteme« mit vielerlei »Knotenpunkten«.26 Diese Verknotungen wirken sich nun auch auf das Verhältnis zum Arzt aus, sie schaffen die sog. »falschen Verknüpfungen.« 27 Deren Prinzip sieht, kurz formuliert, so aus, daß der Inhalt eines im Bewußtseins aufgetauchten Wunsches, z. B. des Wunsches, geküßt zu werden, aus dem ursprünglichen Kontext herausgelöst und durch den herrschenden Assoziationszwang mit der Person des Arztes verknüpft wird, was in der Folge den ursprünglichen Affekt, der seinerzeit den unerlaubten Wunsch zurückgewiesen hatte, wiedererweckt. Eine »Mesalliance« nennt Freud die von späteren Kritikern hart attackierte Übertragungsbeziehung28, die sich allerdings, wenn aufgefunden, mitgeteilt und durchgearbeitet, problemlos auflöst, bis dahin jedoch erhebliche Beschwerden und Hindernisse beschert und die therapeutische Tätigkeit einer großen Belastungsprobe aussetzt. Die böse Zeit der Kur dämmert herauf, und Freud mißt ihr schnell solche Bedeutung bei, daß er die Möglichkeit, die Therapie in Formeln zu fassen, hier enden sieht – man wirke eben, wie man könne, als Lehrer, Beichthörer oder durch die eigene Persönlichkeit, am besten noch ratend und tastend.29 Soweit die Übertragung in den Anfängen.

23. 24. 25. 26. 27. 28.

Vgl. ebd., S. 310. Ebd., S. 293. Ebd. Ebd., S. 293 f. Ebd., S. 309. Manfred Pohlen / Margarethe Bautz-Holzherr: Psychoanalyse – Das Ende einer Deutungsmacht, Hamburg 1995. 29. Vgl. S. Freud: »Hysterie«, S. 285. 330

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Veränderungen der energetischen Theorie durch Einführung der Libido Am Gerüst wird weiter gebaut, und die Einführung der Libidotheorie erweitert den psychischen Apparat sichtbar. 1905 findet Freud das Maß der bisher als nicht meßbar aufgefaßten Quantität und legt es als veränderliche Kraft auch dem Übertragungsgeschehen zugrunde. Das Maß heißt »Libido«.30 Die Libido mißt Vorgänge und Umsetzungen der Sexualerregungen und ist nicht zu verwechseln mit der allgemeinen seelischen Energie, der Quantität Q. Die Erinnerung an Freuds Kontroverse mit Jung drängt sich auf, schließlich gibt es viele Ähnlichkeiten mit der allgemeinen seelischen Kraft im Sinne der Quantität von 1895. So zeigen die Produktionen der Libido, z. B. der Ichlibido, dieselbe Beschaffenheit wie Q: auch die Libido kann vergrößert oder vermindert auftreten, sich verteilen und verschieben, und äußert sich qualitativ in den Lust-Unlustempfindungen. Doch das ist auch schon alles, hier endet die Ähnlichkeit von Q und Libido, denn der körperliche Ursprung der Libidoproduktion ist, anders als bei der Produktion von Q, nicht zu übersehen. Eine weitere Etappe auf dem Weg zu einem Verständnis der psychischen Vorgänge stellt die zeitgleich erschienene »Dora«-Analyse dar. Mit jedem einzelnen Symptom veranschaulicht Freuds Patientin das Wirken der neuentdeckten sexuellen Triebkraft und führt mit ihren Konversionssymptomen vor Augen, was sich 1895 bereits angedeutet hatte, aber noch nicht begrifflich zu fassen gewesen war: daß der Sexualfunktion, der Libido, ein organischer Faktor nicht abzusprechen ist.31 Die Libido hat deutlich körperliche, materielle Aspekte. Und obwohl »Dora« für Freud ein therapeutischer Fehlschlag war, exemplifiziert sie doch paradigmatisch das Übertragungskonzept: Übertragungen »sind Neuauflagen, Nachbildungen von den Regungen und Phantasien, die während des Vordringens der Analyse erweckt und bewußt gemacht werden sollen, mit einer für die Gattung charakteristischen Ersetzung einer früheren Person durch die Person des Arztes.« Sie sind »einfache Neudrucke, unveränderte Neuauflagen.«32 Bei »Dora« findet Freud auch den Hinweis auf den sexuellen Aspekt der Übertragung; er besagt, daß sich die Übertragung auf irgendein sexuel-

30. Sigmund Freud: »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«, in: ders., Gesammelte Werke, 5. Bd., London 1942, S. 118. 31. Vgl. Sigmund Freud: »Bruchstück einer Hysterieanalyse«, in: ders., Gesammelte Werke, 5. Bd., London 1942, S. 276. 32. Ebd., S. 279 f. 331

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les Detail der Person richtet, hinter dem sich etwas Analoges, aber ungleich Wichtigeres verborgen hält oder sich auf irgendein X richtet, das, wenn es der Analytiker erraten hat, Zugang zum tatsächlichen Erinnerungsmaterial eröffnet.33 Und in späterer Formulierung: »[…] daß wir die ganze der Herrschaft des Ichs entzogene Libido auffangen, indem wir durch die Übertragung ein Stück von ihr auf uns ziehen.«34 Der Ausbau der Libidotheorie wird auf mehreren Ebenen betrieben, neben der Ebene der organischen Körper auch auf der der Textkörper. Außer den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie und dem Bruchstück einer Hysterie-Analyse hat die fünfjährige Schaffenspause nach 1900 auch das Buch über den Witz ermöglicht. Unter derselben Prämisse der Libido bzw. sexuellen Energie wie in den ersten Schriften veranschaulicht diese Studie die Bedingungen und Möglichkeiten der Lustentwicklung, sie trifft sie allerdings auf einer neuen Ebene an – der der Sprache: Der Witz ist »ein Spiel, um Lust aus der freien Verwendung von Worten und Gedanken zu ziehen«35 , er arbeitet mit Verschiebungen, Auslassungen und Zusammenziehungen in den Worten und kennt die Abfuhr als Ersparung des psychischen Aufwands.36 Ob Lustenergie oder Sprachwitz, die Mechanismen sind immer dieselben: Bahnung und Besetzung, Abfuhr und Verdrängung, Verschiebung und Verdichtung, Übersetzung, Fortsetzung, Ersetzung. Das Wesen der zugrundeliegenden Energie müßte deshalb inzwischen klarer geworden sein. Doch Freud schränkt ein: »Die Begriffe ›psychische Energie‹, ›Abfuhr‹ und die Behandlung der psychischen Energie als einer Quantität sind mir zur Denkgewohnheit geworden […]. Die Erfahrungen über die Verschiebbarkeit der psychischen Energie längs gewisser Assoziationsbahnen […] haben es mir in der Tat nahegelegt, eine solche Verbildlichung für das Unbekannte zu versuchen. Um dem Mißverständnis auszuweichen, muß ich hinzufügen, daß ich keinen Versuch mache, Zellen und Fasern oder die heute ihre Stelle einnehmenden Neuronsysteme als diese psychischen Wege zu proklamieren, wenngleich solche Wege in noch nicht angebbarer Weise durch organische Elemente des Nervensystems darstellbar sein müßten.«37 Sehen wir also weiter nach in der Hoffnung, vielleicht in Triebe und

33. Vgl. ebd., S. 283. 34. Sigmund Freud: »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse«, in: ders., Gesammelte Werke, 11. Bd., London 1940, S. 474. 35. Sigmund Freud: »Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten«, in: ders., Gesammelte Werke, 6. Bd., London 1940, S. 154. 36. Vgl. ebd., S. 133. 37. Ebd., S. 165. 332

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Triebschicksale den Unterschied zwischen der neuen sexuellen Triebkraft und den alten Neuronenreizen klarer formuliert zu finden. Doch man wundert sich, denn auf der Triebebene zeigt sich auch nichts anderes als die altbekannte Verwandtschaft mit den endogenen Reizen des »Entwurfs«: dieselbe biologische Herkunft aus dem Inneren der Organe, dasselbe Auftreten als konstante Kraft (Merkmal der Unbezwingbarkeit), der nur durch Veränderung der Außenwelt und innere Umgestaltung zu entrinnen ist. Was Wunder, daß bei dieser Wiederkehr des Immergleichen schließlich auch die Definition des psychischen Apparats zwanzig Jahre später noch die Unbestimmtheit der alten Energie Q an sich trägt. Über die Annahme, daß auch der höchstentwickelte Seelenapparat durch die Lust-Unlust-Reihe reguliert wird, kommt man auch jetzt nicht hinaus. Nur daß es jetzt das Wesen der Lust-Unlust-Empfindung und deren Verhältnis zum steigernden oder herabsetzenden Reiz und nicht Q ist, die als Unbekannte erscheinen: »Die weitgehende Unbestimmtheit dieser Annahme wollen wir aber sorgfältig festhalten, bis es uns etwa gelingt, die Art der Beziehung zwischen Lust-Unlust und den Schwankungen der auf das Seelenleben wirkenden Reizgrößen zu erraten. Es sind gewiß sehr mannigfache und nicht sehr einfache solcher Beziehungen möglich.« 38 Und wenn auch die Einführung des Todestriebs, speziell des Masochismus (1924), die Aufmerksamkeit auf den Unterschied zwischen der lustvollen und der tödlichen Spannung sowie auf den zeitlichen Faktor lenkt39, so räumt bekanntlich Jenseits des Lustprinzips gerade nicht mit den Unbestimmtheiten auf, sondern erklärt sie nach erneuten energetischen Ausführungen über die Arbeitsweise des psychischen Apparats für unvermeidlich: »[W]ir [wissen] nichts über die Natur der Erregungsvorgänge in den Elementen der psychischen Systeme […] und [fühlen] uns zu keiner Annahme darüber berechtigt.«40 1920 war die Nanotechnologie noch reine Zukunftsmusik, aber man darf wohl annehmen, daß seine immer gehegte Hoffnung auf den Fortschritt der Naturwissenschaft Freud nicht abgehalten hätte zuzuschauen, wie man Nanoroboter durchs Hirn schickt, um die Hirnvorgänge von innen heraus zu kartographieren und genauere Kenntnisse über die psychischen Vorgänge zu gewinnen. Grundsatzfrage dann

38. Sigmund Freud: »Triebe und Triebschicksale«, in: ders., Gesammelte Werke, 10. Bd., London 1946, S. 214. 39. Vgl. Sigmund Freud: »Das ökonomische Problem des Masochismus«, in: ders., Gesammelte Werke, 13. Bd., London 1940, S. 369–383. 40. Sigmund Freud: »Jenseits des Lustprinzips«, in: ders., Gesammelte Werke, 13. Bd., London 1940, S. 30 f. 333

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trotzdem, ob damit die psychoanalytische Algebra bzw. das psychische Maß eine andere Definition bekommen hätte. Wie dem auch sei, 1920 hat Freud die psychoanalytische Algebra fertig und kalkuliert in seiner, psychoanalytischen, Definition der Psyche von nun an gültig mit einem großen X, weil das in jede neue Formel gehört.

Übertragung – theoretisch Fragen wir nun nach dem Stellenwert, den die vorgetragene energetisch-dynamische Auffassung des Seelenlebens in der Übertragung hat, die Freud ab 1912 nicht mehr in Neuronenbegriffen formuliert, sondern zu einer Form der Zweierbeziehung zwischen Arzt und Patient umerklärt. Welches Fluidum, welche bioelektrische Ladung handhabt jetzt der Arzt, was aktiviert, potenziert er, bringt er zum Verschwinden, und womit beschert er seinen Patienten die heilsamen Krisen? Ein materielles Ding, ein Körper im physiologischen Sinne kann dies nicht mehr sein. Zunächst müssen wir erneut feststellen, daß selbst die neue Perspektive auf die zwei Personen, diese ›two-body-relation‹ nicht das ganze energetische Konzept umgeworfen hat. Denn immer noch setzt sich die Therapie zum Ziel, frei strömende Energie in gebundene zu überführen, indem sie zum Erinnern statt zum Wiederholen nötigt41, und versucht sie die in der Verdrängung isolierten Energien zum Abströmen zu bewegen und neue Bahnungen zu schaffen. Anders gesagt, die Kur will Unbewußtes durch Bewußtes ersetzen, will es übersetzen und ins Bewußtsein fortsetzen.42 Die ›two-body‹-Perspektive hat also mitnichten alles verändert, und auch die dem Arzt anempfohlene Technik unterscheidet sich im Grunde nur nominell von der alten energetischen Perspektive. Nur daß aus der konstruktiven Rolle der »Not des Lebens« des »Entwurfs«, die auf die Bahn der inneren Veränderung und Verständigung drängte, in der Kur nun die Abstinenzregel geworden ist: Bedürfnis und Sehnsucht sind die Kräfte, die zur Veränderung treiben sollen. Unerfüllte Wünsche müssen darum offenbleiben. Und war es in den Anfängen das mythische Befriedigungserlebnis, das das Wünschen auf ein Halluzinieren hinauslaufen ließ – »Ich zweifle nicht, daß diese Wunschbelebung zunächst dasselbe ergibt wie die Wahrnehmung, nämlich eine Halluzination«43 –, so wird das Halluzinieren nun mit der Person des Arztes

41. Vgl. Sigmund Freud: »Zur Dynamik der Übertragung«, in: ders., Gesammelte Werke, 8. Bd., London 1943, S. 374. 42. Vgl. S. Freud: »Vorlesungen«, S. 451. 43. S. Freud: [»Entwurf einer Psychologie«], S. 412. 334

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angestoßen. Der Arzt oder Psychoanalytiker bietet sich als »phantastisches Objekt« an, lädt zum Halluzinieren ein und ermöglicht nach genügend sich verströmendem Probehandeln schließlich eine ich- und realitätsgebundene, d. h. gehemmte Wahrnehmung. Der fehlgelaufene, weil ungebremst frei abgeströmte Wunsch ist umgeleitet und das vielleicht beschädigte halluzinatorische Befriedigungserlebnis auf die Realitätswahrnehmung zurückgebunden. Was auch in der späteren Rezeption immer wieder für Aufruhr sorgt, daß nämlich die Übertragung eine Gabe von Nichts ist und die daran anschließende (halluzinatorische) Wunschbesetzung des Analytikers die Symptome kurieren soll, stellt tatsächlich einen der wesentlichen Unterschiede der psychoanalytischen Behandlung im Verhältnis zur medizinischen dar. Freud hatte von Anfang an diese Wendung genommen. Die Bedeutung der alten energetischen Formel ist mithin genau zu studieren: »Nehmen Sie nun an, es wäre uns etwa auf chemischem Wege möglich, in dies Getriebe einzugreifen, die Quantität der jeweils vorhandenen Libido zu erhöhen oder herabzusetzen oder […] einen Trieb […] zu verstärken […]. Von solcher Beeinflussung der Libidovorgänge ist derzeit, wie Sie wissen, keine Rede; mit unserer psychischen Therapie greifen wir an einer anderen Stelle des Zusammenhanges an, nicht gerade an den uns ersichtlichen Wurzeln der Phänomene, aber doch weit genug weg von den Symptomen, an einer Stelle, die uns durch sehr merkwürdige Verhältnisse zugänglich geworden ist.«44 Etwas Unerwartetes und vielgestaltig Neues ist in die energetische, triebökonomische Berechnung eingebrochen und hat sie gesprengt. Ein Etwas, das auf den zweiten Blick allerdings so neu gar nicht ist, bis 1917 allerdings noch nicht auf den Begriff gebracht worden war: »Wir glaubten ja, uns von allen bei der Kur in Betracht kommenden Triebkräften Rechenschaft gegeben zu haben, die Situation zwischen uns und dem Patienten voll rationalisiert zu haben, so daß sie sich übersehen läßt wie ein Rechenexempel, und dann scheint sich doch etwas einzuschleichen, was in dieser Rechnung nicht in Anschlag gebracht worden ist.«45 Erst 1917 entdeckt Freud es als den wichtigsten Posten in der Libidoformel: die Tatsache der Übertragung! Das wirft tatsächlich alle Berechnungen über den Haufen, sprengt die Mathematik des Seelenlebens und macht eine für »unsere Wissenschaftlichkeit« beschämende Korrektur der dynamischen Auffassung des Heilungsvorgangs und des Aufbaus des Seelenlebens nötig. Längst überholt geglaubte Positionen

44. S. Freud: »Vorlesungen«, S. 452 f. 45. Ebd., S. 456. 335

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werden damit wieder aktuell: Liebe, Glaube, Hörigkeit, magnetischer Einfluß, Gefügigkeit, »Durst nach Unterwerfung«, Suggestibilität. »[W]ir müssen gewahr werden, daß wir in unserer Technik die Hypnose nur aufgegeben haben, um die Suggestion in der Gestalt der Übertragung wiederzuentdecken.«46 Und doch sind wir nicht wieder am Anfang der Geschichte, sind wir nach langem Umweg nicht wieder bei F.A. Mesmer gelandet, obwohl er dem Wesen der in der Kur wirkenden Energie mit dem Begriff des Fluidums schon auf der Spur gewesen war. Doch das Wegblasen der Beschwerden mittels Luftstrichen oder kosmetisch-hypnotischen Operationen ist nicht Sache des psychoanalytisch-energetischen Denkens, denn den Glauben, daß man durch eine winzige Kraftanstrengung eine große Last bewegen könne, bringt der neue Diskurs nicht mehr auf. Und trotzdem hat auch das neue Denken die alten priesterlichen Dämonen nicht restlos vertrieben, es hat sie nur gezähmt und auf eine psychologische Formel gebracht. In der Spaltung der Subjekte kehren die alten Dämonen dann wieder. Diese Dämonen von Liebe und Wahn sind es, die auch das energetische Denken der Psychoanalyse über den Haufen werfen und einen Analytiker wie Lacan erklären lassen, daß beim Subjekt etwas »magnetisiert wird bis in tiefe Grade der Dissoziation, der Spaltung hinein.«47

Ein dämonisches Beispiel von Übertragung: Der Fall Schreber Nehmen wir als Beispiel den Fall des Senatspräsidenten Daniel Paul Schreber. Der Fall Schreber ist kein typischer Fall für eine Übertragung. Zum einen, weil er kein Fall aus der Praxis ist, sondern auf den Bericht des Patienten selbst zurückgeht; zum anderen, weil er der Bericht über eine Psychose ist, die als solche bis vor kurzem als psychoanalyseunverträglich, weil nicht übertragungsfähig galt.48 Desungeachtet demonstriert Schreber, daß ein Wahn Übertragung nicht ausschließt, sondern im Gegenteil ein »kunstvolles« Übertragungssystem aufweisen kann.49 Schreber macht deutlich, daß er den Einwirkungen

46. Ebd., S. 464. 47. Das Seminar von Jacques Lacan. Buch XI (1964), Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. v. Norbert Haas, Olten / Freiburg i.Br. 1978, S. 141. 48. Vgl. Andrew Crowcroft: Der Psychotiker. Zum Verständnis des Wahnsinns, Frankfurt a. M. 1972. 49. Vgl. Sigmund Freud: »Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia«, in: ders., Gesammelte Werke, 8. Bd., London 1943, S. 246. 336

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der Flechsigschen Seele unterliegt, unter dem Einfluß der Flechsigschen Nervenstrahlen steht. Der Inhalt seines Wahns ist schnell wiedergegeben: Es sind weltordnungswidrige Verhältnisse eingetreten und haben sich Schreber manifestiert. Gott und die Seligkeit sind verloren, und Schreber ist berufen, die Welt zu erlösen. Bedingung dafür ist, daß Schreber in erotische Verbindung mit Gott tritt, wozu er sich in ein Weib verwandeln muß, das in fortwährendem Genießen, in Seelenwollust schwelgt. Auf diese Weise wird Schreber zum Gegenstand zahlreicher göttlicher Wunder. Er erfährt die Wunder der zu ihm sprechenden Vögel, der sprechenden Sonne, und erlebt Wunder am eigenen Leibe, an den einzelnen Organen seines Körpers. So hat er lange Zeit ohne Magen und Darm gelebt, mit zerissener Speiseröhre usw.50 Gott reagiert direkt auf das Maß von Schrebers Seelenwollust, denn fehlt etwas daran oder erlöschen Schrebers geistige Kräfte, zieht Gott sich zurück, und die Weltordnung ist wieder bedroht. Die Gottesnerven brauchen die Seelenwollust im Körper des Schreber-Menschen. Die Verbindung zwischen Gott und Schreber ist störungsanfällig, hauptsächlich wird sie durch Geheimrat Prof. Flechsig, Schrebers ersten Psychiater gestört. So berichtet Schreber, daß Flechsig Verfügungsgewalt über seine Nerven besitze51, seine Nerven zu »schwärzen« d. h. unrein zu machen versuche, um dadurch die Entstehung von Seelenwollust zu verhindern, und daß er nicht davor zurückschrecke, dem Körper eines Wärters Nerven zu entnehmen, um sich dadurch größeren Einfluß auf Schreber zu verschaffen. Flechsig hat Macht über Schrebers Körper und wird sogar Anführer der »geprüften Seelen« genannt, die die üble Absicht verfolgen, sich zwischen Schreber und das heilsame Wirken der reinen Seelen zu stellen. Die Flechsigsche Seele ist vielgegenwärtig. So hat sie sich in 40 bis 60 Teile gespalten und besetzt damit das ganze Himmelsgewölbe, um in Schrebers Körper die Seelenwollust zu verhindern.52 Hier liegt zweifelsohne eine Übertragungsbeziehung vor, eine negative Übertragungsbeziehung, und Schreber drückt darin, wie Lacan meint, die Introjektion der Person seines Psychiaters deutlich aus.53 Insbesonders übt aber die Flechsigsche Seele durch ihre Verbindung mit dem noch als Mensch vorhandenen Professor Flechsig ihre Verfügungsgewalt aus.54 Und in diesem Zusammenhang kommt dem Ge-

50. Vgl. ebd., S. 249. 51. Vgl. Daniel Paul Schreber: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, Wiesbaden 1972, S. 69. 52. Vgl. ebd., S. 79. 53. Vgl. Das Seminar von Jacques Lacan. Buch III (1955–1956), Die Psychosen. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. v. Michael Turnheim, Weinheim / Berlin 1997, S. 257. 54. Vgl. D.P. Schreber: Denkwürdigkeiten, S. 80. 337

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heimrat auch die Urheberschaft an den »Seelenmorden« zu55, wozu sich seine Person besonders eignet, weil Flechsig ja Experte auf dem Gebiet des menschlichen Nervenlebens ist. Für Schreber in seinem Wahn ist das alles ganz gewiß, und er weiß im Prinzip, daß seine Ideen Übertragungseffekte sind – es ist »völlig ausgeschlossen, daß ich von selbst auf derartige Gedanken gekommen sein sollte«56 – und daß bestimmte Ausdrücke und Redensarten »von außen her in [meinen Kopf] hineingesprochen worden sind.«57 Offensichtlich halluziniert Schreber in seiner Übertragungsbeziehung zu Flechsig und vermittelt damit ein extremes Beispiel für unsere These. Bevor wir den Zusammenhang weiterverfolgen, betrachten wir kurz die psychoanalytischen Deutungen Freuds und Lacans der Schreberschen Psychose. Freud interessiert sich für den Fall Schreber aus mehreren Gründen: Einerseits ist er 1911 durch seine Beziehung zu C.G. Jung auf den Geschmack an der Paranoia gekommen, zum anderen führen ihm die Denkwürdigkeiten eine Kombination von Wissenschaft und NichtWissenschaft vor Augen, die erkenntnistheoretisch auf der Linie der Psychoanalyse liegt, auch wenn diese nicht, wie Schrebers System, auf das »Übersinnliche« abzielt, sondern auf die Dimension des Unbewußten. Und schließlich entdeckt Freud in Schrebers Wahnsystem eine verblüffende Ähnlichkeit mit der psychoanalytischen Libidotheorie. Schrebers Wahn nun deutet Freud im Rahmen der narzißtischen Ökonomie und stellt ihn triebdynamisch auf den Boden des Vaterkomplexes: In Schrebers Paranoia spielt sich ein Abwehrkampf gegen den homosexuellen Wunsch ab, in Flechsig den Vater der Kindheit zu lieben – so deutet Freud. Wobei die homosexuelle Liebe abgewehrt, verdrängt und mit der Libidoablösung von der geliebten Person auch die Libidobesetzung von Dingen eingezogen worden ist, dann nach außen projiziert wurde und von außen her wiederkehrt.58 So in aller Kürze die Quintessenz der Freudschen Deutung. Lacan weist nun darauf hin, daß schon Freud tendenziell in seinem Sinne deutete, insofern der Begriff der »Abwehr«, den Freud zur Erklärung der triebdynamischen Vorgänge des Senatspräsidenten verwendet, 1911 in das verbale Register gehörte, nämlich in das Register der Wiedererinnerung und ihrer Störungen. Und erst in diesem Register der Sprache, so akzentuiert Lacan, ist dem imaginären Mechanis-

55. 56. 57. 58.

Ebd., S. 25. Ebd., S. 78. Ebd., S. 141. Vgl. S. Freud: »Paranoia«, S. 283, 303, 307 ff. 338

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mus die Form der Psychose verliehen und realisiert sich auch bei Schreber auf die einzig mögliche Art und Weise sein sexuelles Begehren, nämlich in der Gestalt seiner Verwandlung zur Frau bzw. »ein Weib, das dem Beischlaf unterliegt.« Unabhängig von den unterschiedlichen Deutungen der Schreberschen Psychose interessiert hier der halluzinatorische Charakter der Übertragung. Gemäß der Lacanschen Sentenz, daß in der Psychose »ein imaginäres Gewimmel von Wesenheiten entsteht […], das von einem bestimmten Modus der Sprache und des Sprechens getragen wird«, aber eben auch von der Beziehung zum kleinen anderen59, d. h. zum Menschen Flechsig, nimmt Schreber Aspekte der Person seines Psychiaters Flechsig in sein Wahnsystem auf. In diesem Sinne finden wir Flechsig in Schrebers Übertragung nicht nur triebdynamisch zum Vaterersatz umgestaltet, sondern finden ihn auch unter dem Aspekt seines Interesses für die Nervenheilkunde wieder. Denn Schrebers Wahn kreist zwar um die Grundphantasie seiner Geschlechtsumwandlung zur Rettung der Weltordnung, er artikuliert sich dabei aber auch in Begriffen einer phantasmatischen Nerventheorie. Diese Darstellung hat Freud beunruhigt und zu der sorgenvollen Frage veranlaßt, ob nicht vielleicht im Wahn mehr Wahrheit enthalten sei, als manchen glaublich ist, oder nicht vielleicht in seiner, Freuds eigener Theorie mehr Wahn, als er selber möchte. Freuds Sorge hat etwas Merkwürdiges an sich, und zwar aus mehreren Gründen. Zum einen muß Freud, worauf Friedrich Kittler hinweist, in Schrebers Wahn die »Nervenforschersprache« seines Arztes Flechsig wiedererkennen. Freud kann sehen, wie die Absicht der »Denkwürdigkeiten« der Nerventheorie von Flechsig entgegenkommt.60 Denn Schrebers Ziel ist es, »meine Person der fachmännischen Beurteilung als ein wissenschaftliches Beobachtungsobjekt anzubieten« und Beobachtungen von berufener Seite an seinem Körper zu ermöglichen bzw. noch zu Lebzeiten seinen Textkörper zu Sektionszwecken bereitzustellen. Schreber kommt damit den Diagnosemethoden seines Psychiaters entgegen.61 Diese Nähe zwischen Schrebers Wahnsystem und dem Theoriesystem seines Arztes erwähnt Freud laut Kittler mit keinem Wort.

59. J. Lacan, Die Psychosen, S. 338. 60. Vgl. Friedrich Kittler: »Flechsig / Schreber / Freud. Ein Nachrichtennetz der Jahrhundertwende«, in: Der Wunderblock. Zeitschrift für Psychoanalyse 11 / 12 (1984), S. 56– 68. 61. Vgl. F. Kittler: »Flechsig / Schreber / Freud«, S. 61, 63. Die Erhebung des Leichenbefundes sei Flechsigs diagnostisches Credo gewesen, notiert Kittler und stellt in denselben Zusammenhang die Selbstdeklaration des Senatspräsidenten: »Ich bin die erste Lepraleiche.« 339

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Die Merkwürdigkeit von Freuds Sorge reicht aber weiter. Denn Schrebers System der Nervenstrahlen müßte Freud im Grunde an eigene Anfangszeiten erinnern: so Schrebers Rede von einer »Nervensprache«, von Nervenstrahlen, in deren Natur das Sprechen liegt, die, wenn sie nicht zum Sprechen durchdringen, mechanisch von einem »Aufschreibesystem« aufgenommen werden62 und die insgesamt den Zweck verfolgen, die Seelenwollust zu erhöhen bzw. das in der weltordnungsgemäßen Daseinsbedingung der Seelen liegende Genießen zu befriedigen.63 Das alles müßte Freud bekannt vorkommen. Auch daß die Nervenstrahlen Seelencharakter haben, wenngleich dies nicht »mit dem leiblichen Auge« zu sehen ist, da es sich um einen Vorgang handelt, der »im Innern des eigenen Körpers vorgeht« und deshalb nur mit dem geistigen Auge zu sehen ist, »sofern die hierzu erforderliche Beleuchtung des inneren Nervensystems durch Strahlen geliefert wird« bzw. durch Übertragung.64 Freuds Verwunderung über die Nähe von Schrebers Nervensprachen-Wahn zu psychoanalytischen Modellen ist also tatsächlich merkwürdig. Denn Freud muß doch wissen, daß er einst eine ähnliche Sprache benutzt hat: 1874, als er von der Poesie des Nervenfasernalphabets, »einer Art Semantik der Nervenbahnen« sprach; 1879, als er sich mit Färbemethoden zur anatomischen Präparation des Nervensystems befaßte65, und vor allem, als er dann 1895 mit der Entdeckung der zwei verschiedenen Neuronensysteme, des freien, durchlässigen und des assoziationsbindenden, selbst auf ein »Aufschreibesystem« gestoßen war, das grundlegende Bedeutung für den psychischen Apparat annehmen sollte.66 Freuds Verwunderung über die Ähnlichkeit von Wahn und Libidotheorie macht also stutzig – und erst recht, wenn man findet, wie Freud 1895 im »Entwurf« den halluzinatorischen, phantasmatisch-mythischen Charakter der Wahrnehmung beschreibt, d. h. den Umstand, daß jede Wahrnehmung eine Halluzination ergibt. Freuds Sorge, daß in unserer Libidotheorie womöglich mehr Wahn enthalten ist, als uns lieb sein kann, trifft also ins Schwarze. Und vielleicht, daß Freud nicht einfach aus narzißtisch-rivalisierender Sorge um sein geistiges Eigentum, wie F. Kittler mutmaßt, die Nerventheorie von Flechsig verleugnet67, sondern weil ihm die eigene neurologische

62. 63. 64. 65.

D.P. Schreber: Denkwürdigkeiten, S. 84. Vgl. ebd., S. 163. Ebd., S. 111, Anm. 73. Sigmund Freud: »Notiz über eine Methode zur anatomischen Präparation des Nervensystems«, in: Zentralblatt für die medizinischen Wissenschaften 17 (1879), S. 468. 66. Vgl. S. Freud: [»Entwurf einer Psychologie«], S. 391 f. 67. Vgl. F. Kittler: »Flechsig / Schreber / Freud«, S. 65. 340

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Herkunft inzwischen nicht mehr lieb ist, ja, wahnhaft vorkommt. Merkwürdig nur, daß Freud, der sich häufig in der Verneinungsform darauf bezieht, an der Stelle der eigenen Dämonen, des eigenen Wahns, wo Schrebers halluzinatorische Nerventheorie und die eigene Libidotheorie sich berühren, die Beziehung mit Schweigen übergeht. Den (neurologischen) Wahn, über den er selbst zur Entdeckung der Psychoanalyse kam, Freud schiebt ihn an den Rand der Theorie. Das unerkannte Reale am Theorierand der Psychoanalyse ist Wahn, und in der Übertragung kehrt es wieder.

Literatur Breidbach, Olaf: Die Materialisierung des Ich. Zur Geschichte der Hirnforschung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1977. Breuer, Josef: »Theoretisches«, in: Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Nachtragsband, Frankfurt a. M. 1987, S. 244–310. Crowcroft, Andrew: Der Psychotiker. Zum Verständnis des Wahnsinns, Frankfurt a. M. 1972. Ellenberger, Henry F.: Die Entdeckung des Unbewußten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung, Bd. I, Bern 1973. Florey, Ernst: »F.A. Mesmers magische Wissenschaft«, in: Gereon Wolters (Hg.), F.A. Mesmer und der Mesmerismus, Konstanz 1988, S. 11–40. Freud, Sigmund: »Notiz über eine Methode zur anatomischen Präparation des Nervensystems«, in: Zentralblatt für die medizinischen Wissenschaften 17 (1879), S. 468 f. — [»Entwurf einer Psychologie«], in: ders., Gesammelte Werke, Nachtragsband, Frankfurt a. M. 1987, S. 375–486. — »Die Abwehr-Neuropsychosen«, in: ders., Gesammelte Werke, 1. Bd., London 1952, S. 57–74. — »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«, in: ders., Gesammelte Werke, 5. Bd., London 1942, S. 27–145. — »Bruchstück einer Hysterie-Analyse«, in: ders., Gesammelte Werke, 5. Bd., London 1942, S. 161–286. — »Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten«, in: ders., Gesammelte Werke, 6. Bd., London 1940. — »Zur Dynamik der Übertragung«, in: ders., Gesammelte Werke, 8. Bd., London 1943, S. 364–374. — »Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia«, in: ders., Gesammelte Werke, 8. Bd., London 1943, S. 240–320. — »Triebe und Triebschicksale«, in: ders., Gesammelte Werke, 10. Bd., London 1946, S. 209–232. — »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse«, in: ders., Gesammelte Werke, 11. Bd., London 1940. 341

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— »Jenseits des Lustprinzips«, in: ders., Gesammelte Werke, 13. Bd., London 1940, S. 1–69. — »Das ökonomische Problem des Masochismus«, in: ders., Gesammelte Werke, 13. Bd., London 1940, S. 369–383. Freud, Sigmund / Breuer, Josef: »Studien über Hysterie«, in: ders., Gesammelte Werke, 1. Bd., London 1952, S. 75–312. Kittler, Friedrich: »Flechsig / Schreber / Freud. Ein Nachrichtennetz der Jahrhundertwende«, in: Der Wunderblock, Zeitschrift für Psychoanalyse 11 / 12 (1984), S. 56–68. Kollak, Ingrid: Literatur und Hypnose. Der Mesmerismus und sein Einfluß auf die Literatur des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. / New York 1977. Lacan, Jacques: Das Seminar von Jacques Lacan. Buch III (1955–56), Die Psychosen. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. v. Michael Turnheim, Weinheim / Berlin 1997. — Das Seminar von Jacques Lacan. Buch XI (1964), Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. v. Norbert Haas, Olten / Freiburg i.Br. 1978. Pohlen, Manfred / Bautz-Holzherr, Margarethe: Psychoanalyse – Das Ende einer Deutungsmacht, Hamburg 1995. Schott, Heinz (Hg.): Franz Anton Mesmer und die Geschichte des Mesmerismus, Wiesbaden / Stuttgart 1985. Schreber, Daniel Paul: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, Wiesbaden 1972.

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Freud und Fechner. Zur Rekonstruktion eines Paradigmenwechsels1 Manfred Riepe

Über einen Zeitraum von fünfzig Jahren hat Freud sich immer wieder auf Gustav Theodor Fechner bezogen.2 Zum erstenmal erwähnt er den Namen jenes Mannes, den er in der Traumdeutung einmal den »großen G.Th. Fechner«3 nennt, als 18jähriger in einem Brief an seinen Freund Eduard Silberstein. Vermutlich angeregt durch die Lektüre von Fechners Entwicklungsgeschichte der Organismen, die im Jahr zuvor erschienen war (und aus der Freud später eine Passage über das Lustprinzip zitieren wird), schreibt Freud am 30. Oktober 1874 an Silberstein, der zu diesem Zeitpunkt in Leipzig, also an der Wirkungsstätte Fechners, studiert: »Bei Brentano erinnere ich mich, daß Du die Absicht hattest, den Fechner zu hören, und ersuche Dich, mir zu schreiben, was und wie er vorträgt.«4 Noch zwei weitere Male kommt der junge Freud gegenüber Silberstein auf den Leipziger Philosophen zu sprechen: »Wenn Du den Fechner hörst und von ihm interessante Argumente erfährst, will ich sie mit Vergnügen erfahren und weiteren Kreisen zuleiten«5, heißt es am 8. November 1874, und noch fünf Jahre später berichtet er, mittlerweile selber Student in stark fortgeschrittenem Semester, dem Freund, er

1. Überarbeitete Fassung eines Vortrags, gehalten beim internationalen Kongreß »Übertragung – Übersetzung – Überlieferung« am Wissenschaftlichen Zentrum für Kulturforschung der Universität Gesamthochschule Kassel, 14.–16.7. 2000. 2. Zuletzt 1925 in der »Selbstdarstellung« (in: Sigmund Freud, Gesammelte Werke, 14. Bd., London 1948, S. 86), wo es heißt: »Ich war immer für die Ideen G.Th. Fechners zugänglich und habe mich auch in wichtigen Punkten an diesen Denker angelehnt.« Im folgenden werden Zitate aus den Gesammelten Werken unter der Sigle »GW«, gefolgt von der Nummer des entsprechenden Bandes nachgewiesen. 3. GW II / III, S. 541. 4. Sigmund Freud: Jugendbriefe an Eduard Silberstein 1871–1881, Frankfurt a. M. 1989, S. 78. 5. Ebd., S. 83. 343

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lese »einige kleine Werke von Fechner, einem großen Philosophen und witzigen Manne.«6 Danach scheint Freuds Interesse am Denken des Leipzigers für längere Zeit in den Hintergrund getreten zu sein – zumindest sind außer einem Verweis im »Entwurf einer Psychologie« keine weiteren Erwähnungen bekannt –, bis es, zu einem für die Psychoanalyse entscheidenden Datum, wieder aktuell wird, nämlich 1898, als Freud sich mit dem Forschungsüberblick zur Traumdeutung herumplagt. Insgesamt spricht Freud in seinem psychoanalytischen Œuvre etwa ein dutzendmal von Fechner, wobei er ihm in Jenseits des Lustprinzips sogar das Privileg einräumt, der einzige »Forscher« zu sein, dessen Konzepte für die psychoanalytische Theoriebildung einige Relevanz gehabt hätten. Faktisch beschränkt sich diese Relevanz auf die beiden Begriffe »Lustprinzip« und »anderer Schauplatz«. Daß diese Begriffe für die psychoanalytische Theoriebildung eine fundamentale Rolle spielen, ist zwar formal unbestreitbar, berührt aber nicht die jeder Übernahme von Begriffen stets innewohnende Problematik ihrer Bedeutung. Wie gezeigt werden soll, hat der Gebrauch, den Freud von diesen Begriffen macht, mit Fechners Konzepten intensional nicht nur nichts gemein – er impliziert ihre glatte Widerlegung. Mehr noch: Wer sich der Mühe unterzieht, Fechners Werk nicht nur punktuell7, sondern in seinen Zusammenhängen zu lesen, wird bemerken, daß das an eine paranoide Hermetik erinnernde System des Leipziger PhysikProfessors zur Psychoanalyse in einem, noch genauer zu bestimmenden, Ausschließungsverhältnis steht. Freud selbst blieb dies offenbar verborgen, was möglicherweise dieselben Gründe hat wie die Einseitigkeit der neueren FechnerForschung, in der die Psychoanalyse zwar oft als Referenzterm bemüht wird, eine konsequent psychoanalytische Sicht auf Fechners Denken aber fast gänzlich durch Abwesenheit glänzt. Noch merkwürdiger freilich ist das Desinteresse, das Fechner von seiten der Psychoanalyse selbst entgegengebracht wird. Dies muß um so mehr verwundern, als sie bisher jede noch so marginale Bezug-

6. Ebd., S. 202 (Brief v. 10.8.1879). 7. Wie etwa Bernd Nitzschke: »Freud und Fechner. Einige Anmerkungen zu den psychoanalytischen Konzepten ›Lustprinzip‹ und ›Todestrieb‹«, in: ders. (Hg.), Freud und die akademische Psychologie, München 1989, S. 80–96, hier S. 83: »Ich schicke voraus, daß ich […] die von Fechner entwickelten Argumentationszusammenhänge, die stets auf eine übergreifende Weltordnung abzielen, unberücksichtigt lasse.« Auch die Ausführungen Jean Laplanches fußen auf keiner differenzierten Lektüre Fechners, vgl. Jean Laplanche / Jean-Bertrand Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 71986, S. 131 f.; vgl. auch Jean Laplanche: Leben und Tod in der Psychoanalyse, Olten 1974, S. 170 f. 344

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FREUD UND FECHNER. ZUR REKONSTRUKTION EINES PARADIGMENWECHSELS

nahme Freuds auf geistesgeschichtliche Strömungen oder einzelne Philosophen kommentierend aufgegriffen hat. Bis heute gibt es keine ernstzunehmende psychoanalytische Untersuchung zum Einfluß des Leipziger Philosophen und Naturwissenschaftlers auf Freud.8 Dieser Mangel verdiente geradezu als Symptom in den Blick genommen zu werden. Seit dem 100. Todestag Fechners im Jahr 1987 sind vermehrt nicht-psychoanalytische Monographien, Aufsätze und Untersuchungen zu Fechners Werk und Person erschienen9, die über einen standardisierten Zitatenpool miteinander vernetzt sind und in der Tendenz übereinstimmen, den Leipziger als verkannten und vergessenen Universalgelehrten zu rehabilitieren. Im Rahmen dieser erneuerten Rezeption wird nun zwar, unter Berufung auf die einschlägigen Freud-Zitate, immer wieder gerne die von Freud selbst behauptete (und u. a. von Jones10 und Ellenberger11 kolportierte) Bedeutung Fechners für die Psychoanalyse erwähnt; für eine psychoanalytisch orientierte Relektüre Fechners leisten diese Arbeiten jedoch wenig – nicht einmal in biographischer Hinsicht, was bedauerlich ist, denn im Fechnerschen Œuvre findet sich eine autobiographische »Krankheitsgeschichte«, die auffällige Parallelen zu Daniel Paul Schrebers berühmten Denkwürdigkeiten eines

8. Die häufig zitierte Studie von Buggle und Wirtgen (Franz Buggle / Paul Wirtgen: »Gustav Theodor Fechner und die psychoanalytischen Modellvorstellungen Sigmund Freuds. Einflüsse und Parallelen«, in: Archiv für die gesamte Psychologie 121 [1969], S. 148–201) hält einer sachlichen Überprüfung in kaum einem Detailpunkt stand. 9. Gert Mattenklott: »Nachwort« zu: Gustav Theodor Fechner, Das unendliche Leben, München 1984, S. 169–190; Berthold Oelze: Gustav Theodor Fechner. Seele und Beseelung, Münster und New York 1988; Lothar Sprung: »Gustav Theodor Fechner«, in: Vera Hauschild (Hg.), Die großen Leipziger, Frankfurt a. M. 1996, S. 207–228; Josef Broˇzek / Horst Gundlach (Hg.): G.T. Fechner und die Psychologie, Passau 1988; Michael Heidelberger: Die innere Seite der Natur. Gustav Theodor Fechners wissenschaftlich-philosophische Weltanschauung, Frankfurt a. M. 1993; Klaus Sachs-Hombach: Philosophische Psychologie im 19. Jahrhundert, Freiburg i.Br. / München 1993; Eckhart Scheerer: »Gustav Theodor Fechner und die Neurobiologie: ›Innere Psychophysik‹«, in: Ernst Florey / Olaf Breidbach (Hg.), Das Gehirn – Organ der Seele? Zur Ideengeschichte der Neurobiologie, Berlin 1993, S. 259–288; Petra Lennig: Von der Metaphysik zur Psychophysik. Gustav Theodor Fechner (1801–1887). Eine ergobiographische Studie, Frankfurt a. M. 1994; Hans-Jürgen Arendt: Gustav Theodor Fechner. Ein deutscher Naturwissenschaftler und Philosoph im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1999; Günter Gödde: Traditionslinien des »Unbewußten«: Schopenhauer, Nietzsche, Freud, Tübingen 1999. 10. Ernest Jones: Sigmund Freud. Leben und Werk, Bd. 3, Bern 1962, S. 318. 11. Henry F. Ellenberger: Die Entdeckung des Unbewußten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung, Zürich 21996, S. 309. 345

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Nervenkranken aufweist. Sie gälte es psychoanalytisch erst noch zu entdecken.12 Die im folgenden versuchte Rekonstruktion der theoretischen Hauptlinien im Œuvre des Leipzigers legt Fechner nicht ›auf die Couch‹, um das Pathologische an ihnen zu denunzieren – im Gegenteil: die Eigenheiten seines Denkens bleiben der Psychoanalyse nicht äußerlich. Das liegt daran, daß wir in Fechners Theorien auf einen Leitgedanken stoßen, der auch in der Psychoanalyse eine zentrale Rolle spielt. Wenn Freud in der Traumdeutung und in der Psychopathologie des Alltagslebens zahlreiche Belege dafür anbringt, daß die Psyche einem durchgängigen Determinismus gehorcht, daß es also »nichts Willkürliches, Undeterminiertes im Psychischen«13 gibt, so würde Fechner formal nicht widersprechen, versucht er doch eine Psychologie zu begründen, die auf denselben exakten Methoden basiert wie Newtons Himmelsmechanik. Die sich der vergleichenden Lektüre nichtsdestoweniger eröffnende grundsätzliche Inkompatibilität zwischen Fechners naturwissenschaftlich gegründetem Determinismusverständnis und dem von Freud sollte der Psychoanalyse nicht gleichgültig sein, und zwar deshalb, weil sie das Theorem von der Determiniertheit aller psychischen Phänomene seit Freud eher unkritisch fortschreibt. Hinreichende Klarheit über die Struktur dieser Gesetzmäßigkeit wäre aber nur über eine historische und kritische Rekonstruktion dieses Begriffs zu gewinnen. Gerade weil Freud über einen langen Zeitraum immer wieder auf Fechner als einen Vorläufer auf dem Gebiet grundlegender Einsichten in die Funktionsweise des Psychischen verweist, ist Fechners Werk geeignet, die Frage nach dieser Struktur neu zu stellen – und zwar um so mehr, als es den Determinismusgedanken in eine hoch spekulative, esoterisch-religiöse Züge aufweisende Naturphilosophie eingebunden zeigt, die bislang selbst von der Fechner-Forschung nur verkürzt rezipiert wurde. Wie dringlich eine vergleichende Rekonstruktion des Determinismus-Gedankens bei Fechner und Freud ist, zeigt sich vollends daran, daß Fechner im Rahmen eben dieser Philosophie auch den Begriff des Lustprinzips prägt, der ein basales Element in Freuds Ausarbeitung der psychoanalytischen Theorie ist. Auch hier erhebt sich angesichts von Freuds wiederholter Reverenz gegenüber dem Leipziger die Frage, ob beide darunter wirklich das gleiche oder im weitesten Sinne Vergleichbares verstehen.

12. Imre Hermanns Arbeit, auf die hier nicht eingegangen werden kann, stellt in dieser Hinsicht nur einen Anfang dar (Imre Hermann: »Gustav Theodor Fechner. Vortrag in der Ungarischen Psychoanalytischen Vereinigung«, in: Imago 11 [1925], S. 371– 420). 13. GW IV, S. 270 f. 346

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I In einem Brief vom 15.2.1925 fragt der mit dem Werk Fechners vertraute Ludwig Binswanger Freud: »Kennen Sie die Schrift vom höchsten Gut, in der das Lust-Unlust-Problem eine so große Rolle spielt?« Freud antwortet, er habe von Fechner »manche andere Schriften gelesen, aber gerade die ›Über das höchste Gut‹ […] nicht.« Und er stellt die indirekte Frage: »Es sollte mich sehr interessieren, wenn ich ihm [= Fechner] auch ohne direkte Beeinflussung nahegekommen wäre.«14 Wie wenig er ihm nahe gekommen ist, soll im folgenden gezeigt werden. Tatsächlich erscheint Fechners Lustbegriff erstmals in der von Freud – auffälligerweise korrekter als von Binswanger – genannten Schrift aus dem Jahr 1846. In ihr wird eine Ethik der Lust entworfen, deren zentrale Maxime eigentlich »Über die höchste Glut« lauten müßte, denn sie klingt wie eine kombinierte Antwort Marquis de Sades und Isaac Newtons auf Kants kategorischen Imperativ: »Der Mensch soll, so viel an ihm ist, die größte Lust, das größte Glück in die Welt überhaupt zu bringen versuchen; ins Ganze der Zeit und des Raumes zu bringen suchen.«15 Nach der Schrift Über das Lustprinzip des Handelns, mit der Fechner 1848 auf die Kritik der Schulphilosophie an Über das höchste Gut antwortet, sowie nach einigen Schriften über die Beseeltheit der Pflanzen und der Gestirne kommt Fechner 1873 erneut auf das Lustprinzip zu sprechen, und zwar in Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungsgeschichte der Organismen16 – jenem Buch, aus dem Freud in der Einleitung zu Jenseits des Lustprinzips zitiert. Zum Kontext: 1920 hat Freud die auf ›seinem‹ »Lustprinzip« basierende psychoanalytische Theorie bis zu dem Punkt vorangetrieben, an dem er sich genötigt sieht, ein »Jenseits« des Lustprinzips anzunehmen. An diesem Punkt nun, so scheint es, steht der Name Fechner für einen wichtigen Moment der analytischen Begriffsbildung. Freud zitiert eine Reihe von Beispielen – traumatische Kriegsneurosen, Übertragungsneurosen, ein Kinderspiel und Weckträume –, bei denen das bislang so imperativische Lustprinzip durch einen rätselhaften »Wiederholungszwang« ernsthaft in Frage gestellt ist, da hier Erlebnisse repetiert werden, die eindeutig unlustvoll, also auch nicht, etwa im Sinne des Realitätsprinzips, mit aufgeschobenem Lustgewinn verbunden sind.

14. Sigmund Freud / Ludwig Binswanger: Briefwechsel 1908–1938, Frankfurt a. M. 1992, S. 202. 15. Gustav Theodor Fechner: Über das höchste Gut, Leipzig 1846, S. 10. 16. Gustav Theodor Fechner: Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungsgeschichte der Organismen, Leipzig 1873 (fotomech. Nachdr. Tübingen 1985). 347

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In seiner Bearbeitung dieses Problems kommt auch Freud auf naturphilosophische Spekulationen, die jedoch, wie sich zeigen wird, denen Fechners diametral entgegengesetzt sind. Aus verschiedenen Perspektiven heraus entwickelt Freud, daß die grundsätzlich lebenserhaltende Funktion des Lustprinzips letztlich nur unter der paradoxen Voraussetzung denkbar ist, daß sie den individuellen Todesweg des Lebendigen »sichert«. Denn die »Lebenswächter sind ursprünglich Trabanten des Todes«17. Dieser Gedanke ist im Prinzip nicht neu; schon im »Entwurf einer Psychologie« beruht das Freudsche Lustprinzip auf diesem Paradox, das in Jenseits nur konsequent ausformuliert wird. Neu ist jetzt die Verklammerung der Perspektiven: Der dem Trieb innewohnende »konservative Charakter«, der Drang zur Wiederherstellung eines früheren Zustandes, des Todes, und sein lebenserhaltender Charakter widersprechen einander nicht. Dies ist in aller Kürze die Konsequenz des Aufsatzes, von der aus wir nun zurückblicken auf das erste Kapitel von Jenseits, in dem Freud Fechner heranzieht. Zu Beginn seiner Ausführungen betont Freud, daß er hinsichtlich der beabsichtigten Revision des Lustprinzip-Konzeptes von keiner der für benachbart gehaltenen Disziplinen Unterstützung erwartet: »[Wir würden] uns gerne zur Dankbarkeit gegen eine philosophische oder psychologische Theorie bekennen, die uns zu sagen wüßte, was die Bedeutungen der für uns so imperativen Lust- und Unlustempfindungen sind. Leider wird uns hier nichts Brauchbares geboten.« 18 Um so überraschender ist daher, daß Freud sein Urteil schon im nächsten Absatz einschränkt: »Es kann uns aber nicht gleichgültig lassen, wenn wir finden, daß ein so tiefblickender Forscher wie G.Th. Fechner eine Auffassung von Lust und Unlust vertreten hat, welche im wesentlichen mit der zusammenfällt, die uns von der psychoanalytischen Theorie aufgedrängt wird.«19 Ilse Grubrich-Simitis dokumentiert, daß dieser und die auf ihn unmittelbar folgenden Sätze handschriftlich einer bereits maschinengeschriebenen und gebundenen Fassung hinzugefügt wurden.20 Wenn 1920 der Tod und die Endlichkeit des Lebens maßgeblich in die psychoanalytische Theorie einfließen – warum bemüht Freud, um diesen neuen Gedankengang zu untermauern, dann buchstäblich »in letzter Minute« ausgerechnet einen Denker, der die unausweichliche Konsequenz

17. 18. 19. 20.

GW XIII, S. 41. GW XIII, S. 3 f. Ebd. Ilse Grubrich-Simitis: Zurück zu Freuds Texten, Frankfurt a. M. 1993, S. 239 f. 348

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FREUD UND FECHNER. ZUR REKONSTRUKTION EINES PARADIGMENWECHSELS

dieser Endlichkeit in seiner Theorie systematisch leugnet? Eine Antwort, die sich auf Freuds Unkenntnis dieses Sachverhalts stützte, griffe wohl zu kurz. Denn mehr noch als durch die Elemente der Psychophysik war Fechner als Exponent einer Philosophie der Unsterblichkeit in Erscheinung getreten: Das Büchlein vom Leben nach dem Tode (1836) ist seine bekannteste Schrift – bekannt ganz sicherlich auch dem jungen Freud, der sich, wie aus den eingangs erwähnten Briefen an Silberstein hervorgeht, vor allem mit Fechners Werken aus der Zeit vor den Elementen der Psychophysik (sie erschienen erstmals 1860) beschäftigt hatte. Der auffällige Widerspruch zwischen der Todestrieb-Hypothese und dem das gesamte Œuvre des Leipzigers durchziehenden Leitgedanken der Unsterblichkeit des Lebendigen kann also ein wichtiger Anhaltspunkt sein, wenn es darum geht, Freuds Fechner-Bezug einer Revision zu unterziehen, bei der nicht wie bisher üblich nach Übereinstimmungen und Gemeinsamkeiten gesucht werden soll, sondern nach einer systematischen Unvereinbarkeit zwischen beider Denken. In Jenseits des Lustprinzips fährt Freud fort: »Die Äußerung Fechners ist in seiner kleinen Schrift: Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungsgeschichte der Organismen, 1873 (Abschnitt XI, Zusatz, p. 94), enthalten und lautet wie folgt: ›Insofern bewußte Antriebe immer mit Lust oder Unlust in Beziehung stehen, kann auch Lust oder Unlust mit Stabilitäts- und Instabilitätsverhältnissen in psychophysischer Beziehung gedacht werden, und es läßt sich hierauf die anderwärts von mir näher zu entwickelnde Hypothese begründen, daß jede die Schwelle des Bewußtseins übersteigende psychophysische Bewegung nach Maßgabe mit Lust behaftet sei, als sie sich der vollen Stabilität über eine gewisse Grenze hinaus nähert, mit Unlust nach Maßgabe, als sie über eine gewisse Grenze davon abweicht, indes zwischen beiden, als qualitative Schwelle der Lust und Unlust zu bezeichnenden Grenzen eine gewisse Breite ästhetischer Indifferenz besteht […]‹.« Auf den ersten Blick spricht einiges dafür, daß Fechners »volle Stabilität« Freuds Konzept des Strebens nach dem Tod vorwegnimmt. Ja, der Leipziger führt sogar aus, daß »das Prinzip der Tendenz zur Stabilität den Übergang der organischen Stabilität in unorganische durch den endlichen Tod des Organismus […] zum endlichen Ziele hat.«21 Dem Anschein nach zu Recht also sieht Grubrich-Simitis hier »verblüffend[e] metapsychologische Fechner-Zitate« und spricht von einer »intellektuellen Verwandtschaft«. 22 Schlagen wir jedoch Fechner auf und lesen dort, wo Freud sein Zitat beendet, weiter: »[…] wobei zu erinnern, dass möglicherweise jede Art von Bewegung in der Welt, mit Ausnahme

21. G.Th. Fechner: Ideen, S. 91. 22. I. Grubrich-Simitis: Zurück zu Freuds Texten, S. 240. 349

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etwa der gleichförmigen, als psychophysisch zu fassen, das heißt, fähig ist, bewusst zu werden« – so finden wir uns unversehens in einer Philosophie wieder, die nicht nur menschliches Sein als bewußtseinsfähig erachtet, sondern auch ein »Seelenleben der Pflanzen«, der Gestirne und sogar der Atome als denknotwendig voraussetzt und mit der exakten mathematischen Naturwissenschaft für vereinbar hält. Mit der »intellektuellen Verwandtschaft« zwischen Freud und Fechner ist es dann nicht mehr allzu weit her. Es wird sich zeigen, daß der Gedanke des Todes und damit auch des Lustprinzips im Rahmen von Fechners Allbeseelungshypothese nicht nur quer zu Freuds Konzepten steht, sondern geradewegs auf eine theorieimmanente Antinomie hinausläuft – eine Antinomie, die Fechner nicht einfach übersehen hat, sondern auf die er implizit immer zusteuert. Die weitere Lektüre sowohl Freuds als auch Fechners zeigt, daß beide nicht zufällig zu naturphilosophischen Spekulationen über Leben und Tod geführt werden. Freuds Todestriebhypothese und Fechners panpsychistische Vorstellungen sind die jeweilige Konsequenz eines logischen, in sich stimmigen Denkzusammenhangs. Wenn also Freud in den Begriffen »Lust« und »anderer Schauplatz« dem Fechnerschen Diskurs wichtige terminologische Anregungen verdankt, dann gewinnt eine kritische Fechner-Lektüre ihren besonderen Wert dadurch, daß sie zeigt, wie die Psychoanalyse ihre konzeptuelle Grundlegung dem Umstand verdankt, daß Freud nicht Fechners Weg gefolgt ist, sondern daß ihn gerade die Vermeidung dieses Wegs zur Formulierung seiner grundlegenden Theoreme führte. Die Inkompatibilität von Freuds und Fechners Lust-Konzept wird auch von einem Autor betont, der (ohne spezielleres Interesse an Freud) die Rehabilitierung der Philosophie des Leipzigers bislang am ambitioniertesten vorangetrieben hat. So erklärt Michael Heidelberger, man dürfe »einen Unterschied zwischen Fechners und Freuds Ansichten nicht übersehen: Für Fechner führt nicht der Abbau der Erregung zur Lust wie bei Freud, sondern die höhere Stabilität der Erregungsbewegungen«23. Vor dem Hintergrund der Lektüre von Jenseits des Lustprinzips ist dies, wie wir jetzt kurz umreißen wollen, richtig und falsch zugleich. In seiner frühen Konzeption betrachtet Freud die Sexualität unter dem Leitgedanken der »Abfuhr« und psychopathologische Prozesse schlechthin unter dem des »eingeklemmten Affektes«. Die Grundaussage von Jenseits des Lustprinzips ist dagegen, daß das Prinzip der Entbindung psychischer Quantität unter dem Namen »Eros« mit dem kohäsiven Prinzip der Bindung verknüpft wird. Aus dieser Perspektive scheint es,

23. M. Heidelberger: Die innere Seite der Natur, S. 312. 350

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als wäre der späte Freud Fechners Gedanken der Annäherung an die »Stabilität der Erregungsbewegungen« nahe gekommen. Aber das ist unrichtig (und zwar nicht nur, weil sich bei Fechner kein Ansatz zur Theoretisierung der Sexualität findet). Denn der Widerspruch zwischen der Auffassung der Sexualität als einer Entbindung und der als einer Bindung psychischer Energie wird von der Todestrieb-Hypothese auf höherer Ebene aufgehoben. Diese Aufhebung wird von einem Gedanken vorbereitet, der alle metapsychologischen Schriften Freuds durchzieht: »Das Individuum führt wirklich eine Doppelexistenz als sein Selbstzweck und als Glied in einer Kette, der es gegen, jedenfalls ohne seinen Willen dienstbar ist. Es hält selbst die Sexualität für eine seiner Absichten, während eine andere Betrachtung zeigt, daß es nur ein Anhängsel an sein Keimplasma ist, dem es seine Kräfte gegen eine Lustprämie zur Verfügung stellt, der sterbliche Träger einer – vielleicht – unsterblichen Substanz, wie ein Majoratsherr nur der jeweilige Inhaber einer ihn überdauernden Institution.« 24 Diese Darwinsche Denkfigur macht Freud für die Psychoanalyse nutzbar: Situieren sich die entbindenden Kräfte auf der Seite des Individuums, so finden sich die bindenden Anteile des Eros auf jener Seite der »Doppelexistenz«, die strukturell der Gattung zugehört. Die Strebungen des Subjekts sind bei Freud also einer Dialektik zwischen Individuum und Gattung ausgesetzt. Diesen Unterschied nun gibt es für Fechner nicht, insbesondere nicht in der Schöpfungsgeschichte der Organismen. In diesem Spätwerk reformuliert Fechner seinen Kerngedanken der Allbeseeltheit der Naturprozesse im Rahmen einer hypothetischen Erklärung der Lebensprozesse durch eine spekulative Mechanik kleinster Molekularteilchen.25 Er nennt diese Mechanik das »Prinzip der Tendenz zur Stabilität«. Dieses Prinzip determiniert Fechners Lustprinzip, das aus zwei Gründen mit dem Freudschen Gebrauch dieses Terminus inkompatibel ist. Der erste Grund bezieht sich auf die Mathematik und die Empfindungsmessung (worauf wir später noch ausführlich eingehen werden); der zweite, hier entscheidende Grund bezieht sich auf die strukturellen Positionen von Tod und Sexualität. Im Rahmen seines Lustprinzips, das ein Stabilitätsprinzip ist, versteht Fechner Individuum und Gattung als abhängige Variablen ein und derselben mathematischen Funktion. Im Hinblick auf das »Prinzip der Tendenz zur Stabilität« unterliegt die Erhaltung und die Fortpflanzung des Lebens einem asexuellen mechanischen Vorgang.

24. GW X, S. 143. 25. Fechner erweist sich hier als Epigone sowohl zu Lukrez’ De rerum natura, als auch zu Kant und dessen Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes nach Newtonschen Grundsätzen. 351

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Hier zweigt bei Freud ein Gedanke ab, der sich bei Fechner nicht findet. Freud verlegt die Triebkraft der Sexualität strukturell in den endlichen Tod des Individuums, der allein auf diese Weise den Fortbestand der Gattung sichert. Die Strebungen des Individuums sind »nach nüchterner Darwinscher Denkungsart«26 nicht ohne diesen heterogenen Bezug zur Gattung denkbar. Es ist die große Leistung Darwins, in dieser Differenz zwischen Individuum und Gattung einen strukturellen Bruch zu sehen. Wenn daher Fechner sein »Prinzip der Tendenz zur Stabilität« allein als Kommentar und Korrektur zu Darwins kurz zuvor erschienener Entstehung der Arten konzipiert, so stellt sich die Frage, wie er den Bezug zwischen Individuum und Gattung denkt. Eine Antwort auf diese Frage wird möglich durch einen Seitenblick auf Jenseits des Lustprinzips. Das Darwinsche Prinzip des survival of the fittest findet bei Freud seinen Ausdruck darin, daß das Individuum auf seinem Todesweg eine Kulturleistung zu erbringen hat, um den Fortbestand der Gattung zu sichern. Die in Jenseits ausgearbeitete dialektische Umkehr der Sexualtriebe von der Entbindung zur Bindung kann so als der kulturelle, sublimatorische Aspekt der Darwinschen Umweltanpassung gelesen werden. Es ist nun verblüffend zu sehen, mit welcher Zielsicherheit Fechner in seiner Kritik an Darwin genau diesen neuralgischen Punkt aufgreift und durch Einschreibung in seine mechanische Theorie neutralisiert, ja, im Freudschen Sinne ›verwirft‹. Denn an die Stelle des ›Kampfes ums Dasein‹ rückt Fechner die »bezugsweise Differenzierung«, die letztlich eine totale Prädeterminiertheit des Lebens impliziert. Denn in der erfolgreichen Umweltanpassung einer Spezies kann Fechner weder Zufälligkeit noch evolutionäre Unbestimmtheit sehen, sondern nur das Obwalten des zweckmäßigen »Prinzips der Tendenz zur Stabilität«. Das Prinzip des »Kampfes ums Dasein wird durch das Prinzip der bezugsweisen Differenzierung […] zu einer mehr secundären und untergeordneten Rolle herabgedrückt.«27 Daher gibt es für Fechner in der Forterhaltung der Gattung weder Kampf noch Zufall, noch in irgendeiner Weise Unabsehbarkeit. Er geht von dem Grundgedanken aus, daß die »Hauptbedingungen zum zweckmäßigen Zusammenbestande nicht erst zu schaffen, sondern eben nur zu ergänzen« sind, weil die »bezugsweise Differenzierung« bereits »in der Uranlage des kosmorganischen Systems gelegen«28 ist. Die logische Konsequenz dieses Gedankens, daß nichts auf der Welt im Wortsinn geschöpft wird, sondern nur das Ergebnis einer mechanischen Auseinanderfaltung des uranfänglich be-

26. GW XIII, S. 61. 27. G.Th. Fechner: Ideen, S. 63 f. 28. Ebd., S. 65. 352

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reits vorhandenen Lebens darstellt, ist eine folgenreiche Abweichung von Freud. Freud führt aus, dem »konservativen Charakter« des Triebs entspreche »ein dem belebten Organischen innewohnender Drang zur Wiederherstellung eines früheren Zustandes.«29 Folgerichtig ist er zur Hypothese gezwungen: »Das Leblose war früher da als das Lebende«30, um daran den mythischen Gedanken zu knüpfen, daß »in unbelebter Materie durch eine noch ganz unvorstellbare Krafteinwirkung die Eigenschaft des Lebendigen erweckt«31 wurde. Diese Hypothese mutet recht gewagt an – jedoch nur, wenn man sie konkretistisch liest. Es geht Freud nämlich nicht um eine ›wissenschaftliche‹ Erklärung der Herkunft des Lebens, sondern um die Charakterisierung der Struktureigenschaft des Lebendigen. Diese Struktureigenschaft ruht einem uranfänglichen Defizit auf, insofern als das Lebendige den Keim des Todes als inneren Ausschluß immer schon in sich enthält. Die dynamische Abhängigkeit des Lebens vom Tod nennt Freud seine »dualistische Auffassung«.32 Fechner dagegen besteht vor dem Hintergrund seiner monistischen, zuweilen auf C.G. Jung vorausweisenden Auffassung darauf, daß Organisches gerade nicht aus Anorganischem entstanden sein kann, »weil der unorganische Zustand keine Organismen aus sich heraus gebären kann«, ohne daß sich »ein Widerspruch mit dem Prinzip der Tendenz zur Stabilität«33 ergibt. Aus der Logik seines Stabilitätskonzepts heraus sieht Fechner sich zur Aufstellung der, Freuds Denken diametral entgegengesetzten, Hypothese gezwungen, »dass man […] anstatt einer Entstehung […] der Organismen […] aus dem unorganischen Reiche umgekehrt eine Entstehung […] der unorganischen Massen aus einem ursprünglich organischen Zustande der Erde […] anzunehmen habe.« 34 Fechner unterstellt daher, daß die Erde ein »kosmorganisches Urgeschöpf« war bzw. noch immer ist. Der Begriff des Universums fällt hier mit dem des Lebens zusammen. Ist in Jenseits des Lustprinzips die Wiederholung ein konstitutiver Störfall, aus dem das Leben seine Vitalität schöpft, so ist sie bei Fechner eine ewige Wiederkunft – nicht des Gleichen, sondern des Identischen, das von Fechner das »Passende« ge-

29. 30. 31. 32. 33. 34.

GW XIII, S. 38 (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 40 (Hervorhebung im Original). Ebd. Ebd., S. 57. G.Th. Fechner: Ideen, S. 36, 41. Ebd., S. 43. 353

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nannt wird: »Warum sollte sich das Passendste nicht in Ewigkeit wiederholen, wenn die ewige Wiederholung selbst das Passendste wäre?«35 Wenn Freud in Das Ich und das Es unterstellt, daß »das Konstanzprinzip im Sinne Fechners das Leben beherrscht«36, und in Das ökonomische Problem des Masochismus glaubt, sein Lustprinzip ordne sich »als Spezialfall der Fechnerschen Tendenz zur Stabilität«37 unter, so zeigt unser Lektürebefund, daß dies offensichtlich nicht zutrifft: Freuds Gebrauch dieses Gedankens würde für Fechner zu einem »Widerspruch mit dem Prinzip der Tendenz zur Stabilität« führen und folglich von ihm abgelehnt werden. Und nicht nur dies. Wenn im Universum Fechners (das der Idee eines Inertialsystems, einer hermetisch in sich abgeschlossenen Sphäre nachgebildet ist) nichts wirklich geschöpft, sondern nur der Bestand umgebucht wird, so kann aus ihm auch nichts wirklich verschwinden: »Es ist nicht nur nichts, was im Jetztleben uns das einstige Aufhören unseres Geistes drohte, sondern nichts, was es uns überhaupt möglich erscheinen ließe. Wir müßten [andernfalls] annehmen, daß Ursachen Folgen zu zeugen aufhören.« 38 Fechner begibt sich hier in eine eigentümliche Form von Tautologie, die seit Ernst Mach kaum mehr bemerkt worden zu sein scheint. Ohne Fechner direkt beim Namen zu nennen, kritisiert dieser die Umwertung des survival of the fittest zum survival of the survivor treffend als »biologisches Seitenstück des berüchtigten physikalischen ›perpetuum mobile‹.«39 Sogar Fechners Neffe und Biograph J.E. Kuntze flicht in seinen ansonsten hagiographischen Tonfall das Monitum ein, sein Onkel nehme »dem Darwinismus die Seele aus dem Leibe«.40 Mit dem Gedanken, das »kosmorganische Urgeschöpf« spule das für alle Zeiten vollendete Programm der Fortentwicklung der Arten nur mechanisch ab, transformiert Fechner die regulative Funktion des Todes, des möglichen Aussterbens einer Art, in eine virtuelle Größe. Damit wird das Leben in gewissem Sinne geradezu mortifiziert. Lebendiges ist für Fechner eine metaphysische Präsenz, zu der keine Absenz denkbar ist. Folgerichtig geht er unter anderem in seiner »Atomenleh-

35. 36. 37. 38. 39.

Ebd., S. 90. GW XIII, S. 275. Ebd., S. 371 f. Gustav Theodor Fechner: Zend Avesta, 3 Bde, Leipzig 1851, hier: Bd. III, S. 272. Ernst Mach: Die Analyse der Empfindungen, Jena 1892 (fotomech. Nachdr. Darmstadt 1991), S. 67 f. 40. Johannes Emil Kuntze: G.Th. Fechner (Dr. Mises). Ein deutsches Gelehrtenleben, Leipzig 1892, S. 281. 354

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re« so weit, in der Einfachheit des Atoms das Paradigma für die Seele zu entdecken. »[Wir] rechnen […] die Selbsterscheinung, die das Ding in uns anregt, nicht als das Ding selbst, sondern suchen noch etwas […] hinter der Erscheinung, was solche eben in uns anregt, und was dann auch […] einer Selbsterscheinung anderer Art unterliegen kann […] Diese eigene Selbsterscheinung des Dings setzen wir dann als seine Seele derjenigen Selbsterscheinung, die es in uns anregt […] gegenüber.«41 Eine solche Annahme erscheint Freud abwegig. »Unsere heutige Kritik«, so argumentiert er 1915 in Das Unbewußte implizit gegen Fechners zentrale Grundannahmen, »verweigert sich dem Bewußtsein der Pflanzen und weist die Annahme eines Bewußtseins des Unbelebten der Mystik zu.«42 Der Leitgedanke in Fechners Werk dagegen besteht darin, daß Leben und Tod vor dem Hintergrund der Omnipräsenz des Beseelten keine Gegensätze mehr bilden und damit das Prinzip des Gegensatzes ›Leben – Tod‹ hinfällig wird. Unter diesem Aspekt betrachtet rückt seine Unsterblichkeitslehre unversehens in die Nähe jenes Wahnsystems, das der Senatspräsident Daniel Paul Schreber in seinen Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken ausarbeitet. Tatsächlich läßt sich zeigen, daß Fechners eigenwillige Philosophie in einem nicht zu übersehenden Zusammenhang mit der schweren psychischen Krise steht, die den Leipziger in seiner Lebensmitte heimsuchte (auf die hier jedoch aus Platzgründen nicht eingegangen werden kann). Der grundlegendste methodische Widerspruch zur Psychoanalyse findet sich allerdings in Fechners 1860 erschienenen Elementen der Psychophysik. Diesem Buch gilt die zweite (von insgesamt drei43) Bezugnahmen Freuds auf den Leipziger Naturphilosophen, dessen Name dadurch, im Gegensatz zu seinem Werk, weltberühmt geworden ist. Am 9. 2.1898 klagt der von der (pseudo-)wissenschaftlichen Literatur über den Traum gelangweilte Freud seinem Intimus Wilhelm Fließ: »Das einzig vernünftige Wort [zum Thema Traum; M.R.] ist dem alten Fechner in seiner erhabenen Einfalt in den Sinn gekommen.«44 Und in der Traumdeutung gibt Freud die Stelle an, wo Fechner tatsächlich schreibt:

41. G.Th. Fechner: Zend Avesta, Bd. II, S. 323. 42. GW X, S. 268. 43. Im Witz-Buch zieht Freud Fechners Lustarithmetik heran, um zu verdeutlichen: »Am Witz haben wir etwas anderes gelernt« als bei Fechner, der die Lust des Witzes durch das »Zusammenwirken mehrerer lusterzeugender Faktoren« und damit nach Freuds Ansicht falsch erklärt; vgl. GW VI, S. 151 f. 44. Sigmund Freud: Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904. Ungekürzte Ausgabe, hg. v. Jeffrey Moussaieff Masson, Frankfurt a. M. 1986, S. 325 f. 355

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»Ich vermute, dass […] der Schauplatz der Träume ein anderer ist als der des wachen Vorstellungslebens.«45 Daß Freud sich, trotz dieses sprechenden Ausdrucks, von dem Kontext, in dem er bei Fechner steht, indes unmittelbar distanziert – »Was Fechner mit einer solchen Umsiedelung der Seelentätigkeit meint, ist wohl nicht klar geworden«46 –, hat bislang nicht die rechte Beachtung gefunden. Die von Freud konstatierte Unklarheit geht nun prinzipiell darauf zurück, daß sich bei Fechner nicht einmal ein Ansatz zur methodischen Auseinandersetzung mit dem Traum bzw. mit psychischen Phänomenen überhaupt findet. Eben dies merkt, bei aller freundschaftlicher Zurückhaltung, schon der Fechner kollegial verbundene Wilhelm Wundt in seiner Gedächtnisrede auf den Leipziger an: »Das ganze Interesse Fechners gehört eben nicht der Psychologie als solcher an […]. Er will nicht wissen, wie das psychische Leben selbst sich verhält. [Schriften über Psychologie] ließ er [allesamt] ungelesen. Von den […] Beobachtungen über Assoziation, Gedächtnisvorgänge u.s.w. Kenntnis zu nehmen, konnte er niemals bewogen werden.« 47 Es stellt sich also noch immer die Frage, was Fechner unter der »Andersheit« des Schauplatzes der Träume versteht.48 Einen ersten Anhaltspunkt bietet hier der Kontext, in dem dieser Satz fällt: die voluminöse Grundlegung der sogenannten Psychophysik. Ausgehend von Newtons Himmelsmechanik und der ihr zugrundeliegenden exakten mathematischen Methode, die in der Folge zur Entdeckung der Wärmelehre, der Elektrophysik und aller weiteren wissenschaftlichen Erschließung der Natur führte, will Fechner den letzten weißen Flecken auf der Landkarte der Wissenschaft erobern: das Seelenleben. Dabei macht er im Gegensatz zu Herbarth, der dieses Gebiet als erster betreten hatte, eine methodisch radikale Voraussetzung. Zwischen physikalischen Phänomenen und psychischen Prozessen besteht nach Fechner eine strenge »funktionelle Wechselwirkung«, etwa so wie beim Abrollen einer Billardkugel ein Punkt der einen Seite einem bestimmten Punkt der anderen Seite immer korreliert:

45. Gustav Theodor Fechner: Elemente der Psychophysik, Bd. II, Leipzig 1860, S. 520. 46. GW II / III, S. 51; auch in der fünften Vorlesung (über den Traum) heißt es zum »anderen Schauplatz«: »Das verstehen wir […] nicht, wissen nicht, was wir uns dabei denken sollen« (GW XI, S. 86). 47. Wilhelm Wundt: Gustav Theodor Fechner. Rede zur Feier seines hundertjährigen Geburtstages, Leipzig 1901, S. 84. 48. Christfried Tögels Vergleich zwischen der Traumdeutung und Fechners marginalen Anmerkungen zum Traum ist nicht überzeugend. Vgl. Christfried Tögel: »Fechner und Freuds Traumtheorie«, in: Josef Broˇzek / Horst Gundlach (Hg.), G.T. Fechner und die Psychologie, Passau 1988, S. 134. 356

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»Allgemein nennen wir das Psychische Function des Physischen, davon abhängig und umgekehrt, insofern eine derartige constante oder gesetzliche Beziehung zwischen beiden besteht, dass von dem Dasein und den Veränderungen des Einen auf die des Anderen geschlossen werden kann.«49 Bezogen auf das Projekt der Messung der Empfindung heißt dies, daß »der Reiz […] nur funktionell (d. h. nicht kausal) mit der Empfindung verknüpft« ist.50 In diesem Punkt ist Fechner radikaler als der vom ›Kreuzzuggeist‹ beseelte Freud-Lehrer Ernst Brücke und sein Freund Emil Du Bois-Reymond, die sich verschworen hatten, »die Wahrheit geltend zu machen, daß im Organismus keine anderen Kräfte wirksam sind, als die gemeinen physikalisch-chemischen.«51 Denn die erkenntnistheoretische Frage: Ist das Psychische eine Eigenschaft, die bereits in der »physikalisch-chemischen« Substanz liegt, oder ist sie etwas, das der Substanz erst qua Funktion hinzukommt? stellt sich für Fechner gar nicht erst. Substanz und Funktion, Seelisches und Naturprozeß bilden für ihn immer schon eine strukturelle Einheit, über die Fritz Mauthner nicht ohne Ironie anmerkt: »Seit Fechner ist die Phantasie uns geläufig, daß jedes Atom und unser Erdenplanet und das Weltall die Qual des Innenlebens habe.«52 Die von Fechner so genannte »Tagesansicht« (von Freud in den Bereich der Mystik verwiesen) bildet für den Leipziger die methodische Grundvoraussetzung, ohne die Psychophysik als exakte wissenschaftliche Disziplin gar nicht möglich ist (was in der Geschichtsschreibung der Psychologie gerne übersehen wird). Selbst der Fechner-Apologet M. Heidelberger, der vor allem die Wissenschaftlichkeit Fechners rehabilitieren will, betont mehrfach, die Psychophysik stehe und falle mit der philosophischen Grundidee »universeller Lebendigkeit«.53 Der erste methodische Schritt dieser Psychophysik zielt auf die empirische Messung der menschlichen Empfindung. (Im Hinblick auf diese Messung der Empfindung, die notwendig eine Messung von Lust

49. G.Th. Fechner: Psychophysik, Bd. I, S. 8 (Hervorhebung im Original). 50. M. Heidelberger: Die innere Seite der Natur, S. 225. 51. Emil Du Bois-Reymond, zit. nach Siegfried Bernfeld / Suzanne Cassirer Bernfeld: Bausteine der Freud-Biographik, Frankfurt a. M. 1981, S. 62 f. 52. Fritz Mauthner: Wörterbuch der Philosophie, Zürich 1980, Bd. II, S. 106. 53. M. Heidelberger: Die innere Seite der Natur, S. 383, wo es heißt, Fechners »Identitätsansicht des Physischen und Psychischen«, derzufolge »kein prinzipieller Unterschied zwischen den Gesetzen lebender und toter Materie besteht«, lade dem Leipziger »die Bürde auf, für die Allbeseelung der Welt argumentieren zu müssen«; »Wer den Funktionalismus als Möglichkeit zur Lösung des Leib-Seele-Problems zuläßt, muß auch den Panpsychismus als logisch möglich akzeptieren« (ebd.; Hervorhebung im Original). 357

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ist, wird sich erneut zeigen, inwiefern das Freudsche und das Fechnersche Lustprinzip inkompatibel sind.) Die Messung der Empfindung basiert auf einer scheinbar unproblematischen Grundidee. Physikalische Phänomene wie Licht, Wärme und Schwere lassen sich vermittels eines Maßstabes in ihrer Intensität exakt bestimmen. Faßt man diese Phänomene als Reize auf, so sind sie grundsätzlich in der Lage, sinnliche Empfindungen im Nervensystem hervorzurufen. Diese Empfindungen variieren dann je nach Reizstärke. Aber kann man auch sagen, daß die Empfindungen in einem meßtheoretisch exakt formulierbaren Verhältnis zum Reiz stehen? Kann man sagen, daß die durch Sonnenlicht ausgelöste Empfindung gleich der Summe aus soundsoviel Sinnesempfindungen ist, die durch den Anblick einer brennenden Kerze ausgelöst werden? Ist die von einem Kilogramm ausgelöste Gewichtsempfindung tatsächlich eine aufsummierte Zusammensetzung aus 10 Gewichtsempfindungen, die bei einem Gewicht von 100 Gramm entstehen? Dieses Problem sieht Fechner auf empirische Weise gelöst. Der Grundgedanke der Psychophysik besteht darin, etwas genuin Subjektives, die Sinnesempfindung, zu objektivieren, indem sie die Variation von deren Intensität als mathematisch beschreibbare abhängige Variable des Reizes definiert, dessen Intensität jederzeit experimentell überprüfbar ist. Um diese wissenschaftliche Objektivität zu erreichen, bezieht Fechner sich auf drei Grundüberlegungen, deren erste auf der von dem Leipziger Physiker Ernst Heinrich Weber (1795– 1848) durch Versuche entdeckten sogenannten »Unterschiedsschwelle« basiert. Es handelt sich dabei um die kleinstmögliche Differenz, die feststellbar ist, wenn etwa durch sukzessives Zulegen gleicher Gewichte erstmals die Empfindung eines Unterschieds spürbar wird. In seinem berühmt gewordenen Aufsatz Tastsinn und Gemeingefühl von 1846 beschreibt Weber, daß ein Unterschied zwischen zwei Reizen immer als gleich groß empfunden wird, wenn das Verhältnis der die Empfindung auslösenden Reize zueinander auch gleich groß ist. Das heißt, die minimale Unterschiedsempfindung, die eintritt, wenn wir bei einem Ausgangsgewicht von 100 Gramm so lange Gewichte zulegen, bis die eindeutige Empfindung 100 plus x entsteht, ist gleich der Unterschiedsempfindung, die eintritt, wenn bei einem Ausgangsgewicht von 1 Kilogramm so lange Gewichte zugelegt werden, bis erstmals eine Empfindung eintritt, die besagt, daß das Gewicht mehr als ein Kilogramm beträgt. Aus diesem »Weberschen Gesetz« gewinnt Fechner die Idee einer operationalisierbaren »Empfindungseinheit« – die aber noch nichts über die absolute Intensität der Empfindung im Sinne einer objektiv bestimmbaren Quantität aussagt. Erst durch Hinzuziehung der zweiten Idee, der »absoluten Schwelle«, unterhalb deren keine Empfindung mehr spürbar ist, kann Fechner zwei objektive, empirisch gesicherte Punkte angeben, zwischen denen er eine kontinuierliche Skala von Empfindungsstärken annimmt. Diese dritte Überlegung, derzufolge 358

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kontinuierliche Veränderungen der Reizgröße kontinuierliche Veränderungen der Empfindungsgröße ergeben, die sich als monotone Funktion abbilden lassen, birgt die eigentliche Problematik der Psychophysik. Unter monotoner Funktion ist der einfache Sachverhalt zu verstehen, daß jedem x- bzw. Reizwert nur genau ein y- bzw. Empfindungswert zugeordnet wird. Die grundsätzliche Problematik dieses sogenannten »Weber / Fechnerschen Gesetzes« resultiert nicht aus der mathematischen Feinheit, daß einem additiven Anwachsen der Empfindung ein multiplikatives Anwachsen der Reizgröße entsprechen soll (was Fechner durch die Formel ausdrückt, daß die Empfindung dem Logarithmus des Reizes entspricht). Aus psychoanalytischer Sicht richtet sich der Einwand auch nicht gegen den oft und zu Recht kritisierten methodischen Zirkelschluß der Psychophysik, der sich in dem Moment zeigt, wo Fechner einräumen muß, daß Empfindungen objektiv unfaßbar und somit auch nicht meßbar sind, weil er seine »Elle« eben nicht an die Empfindung anlegen könne54: Wir »lesen die Zahl nicht an der Empfindung, sondern am Reize ab, der die Empfindung mitführt und sie leichter ablesen läßt.«55 Immerhin hat Fechner versucht, diesen Zirkel zu durchbrechen, indem er seine Maßformel als Versuch der Approximation ansah. Fechner ist sich bewußt, daß die gewonnenen Daten der Empfindungsstärke nur auf subjektiven Urteilen, auf Schätzungen basieren. Doch diesen subjektiven Faktor versucht er mit fehlertheoretischen Methoden zu reduzieren zugunsten einer sukzessiven Annäherung an die Objektivität. Diese Methode gilt als Fechners große Leistung und weist ihn nach dem Selbstverständnis der akademischen Psychologie als einen ihrer Gründerväter aus. Das methodologische Eingeständnis, daß Objektivität in der Psychophysik nur ein näherungsweise erreichbares Ideal ist, kann freilich den grundsätzlichen Einwand nicht entkräften, daß auch dieses reduzierte Ideal in keiner Weise geeignet ist, subjektive Phänomene wie Empfindungen »angemessen« zu erfassen, geschweige denn aufbauend auf diesem atomistischen Modell einer »inneren Psychophysik« seelische Vorgänge adäquat zu erfassen – und zwar aus dem Grund, daß die hypostasierte Empfindungsskala dem tatsächlichen Empfinden insofern Gewalt antut, als sie Empfindungen einem Diskurs anpaßt, mit dessen Struktur sie nichts gemein haben. Dies jedoch sagt Freud in Jenseits des Lustprinzips, und zwar unmittelbar bevor er Fechners Schöpfungsgeschichte der Organismen zitiert.

54. Zu den zahlreichen Kritikern der Psychophysik zählen der französische Mathematiker Jules Tannery, der Philosoph Henri Bergson und vor allem Sigmund Freuds Universitätslehrer Franz Brentano. 55. G.Th. Fechner: Psychophysik, Bd. I, S. 60. 359

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»Wir haben uns entschlossen, Lust und Unlust mit der Quantität der im Seelenleben vorhandenen […] Erregung in Beziehung zu bringen.« Aber: »Wir denken dabei nicht an ein einfaches Verhältnis zwischen der Stärke der Empfindungen und den Veränderungen, auf die sie bezogen werden; am wenigsten – nach allen Erfahrungen der Psychophysiologie – an direkte Proportionalität« 56, wie sie das Weber / Fechnersche Gesetz postuliert. Freud schreibt dies 1920 – doch schon 26 Jahre früher hatte er an der Berechtigtheit, ja, gar der Notwendigkeit des Verzichts auf psychophysische Methoden keinen Zweifel aufkommen lassen. In seinem Aufsatz Die Abwehr-Neuropsychosen von 1894 stützt er sich bei seinem Erklärungsversuch psychopathologischer Symptome auf folgende »Hilfshypothese«: »Es ist dies die Vorstellung, daß an den psychischen Funktionen etwas zu unterscheiden ist (Affektbetrag, Erregungssumme), das alle Eigenschaften einer Quantität hat […] etwas, das der Vergrößerung, Verminderung, der Verschiebung und der Abfuhr fähig ist und sich über die Gedächtnisspuren der Vorstellungen verbreitet, etwa wie eine elektrische Ladung über die Oberflächen der Körper […] wenngleich wir kein Mittel besitzen, dieselbe zu messen.«57

II Mit Blick auf Freuds deutliche Absage an die Vorstellung von der Meßbarkeit psychischer Quantitäten kommen wir nun auf die oben offengelassene Frage der Kompatibilität zwischen Fechners und Freuds Lustprinzip zurück. Fechners »Prinzip der Tendenz zur Stabilität«, auf das Freud sich in Jenseits des Lustprinzips zu stützen glaubt, ist unmöglich aus dem meßtheoretischen Kontext zu isolieren, in dem Fechner es allein begreift und nicht daran zweifelt, daß »es seiner Natur nach einer allgemeinen mathematischen Begründung und Ausführung zugänglich sein dürfte und eine solche unstreitig noch finden wird.«58 Freuds Psychoanalyse ist jedoch nicht nur deshalb etwas anderes als Psychophysik, weil sie in der Nicht-Meßbarkeit des psychischen Geschehens keinen Nachteil sieht. Viel entscheidender noch ist sie

56. GW XIII, S. 4. Daß Fechner keine »direkte Proportionalität«, sondern ein logarithmisches Verhältnis zwischen Reiz und Empfindung unterstellt, ändert nichts an dem grundsätzlichen Einwand, daß es keine Arithmetik der Empfindungen gibt. 57. GW I, S. 59, 74 (Hervorhebung durch mich, M.R.); ähnlich in der Krankengeschichte »Frau Emmy v. N.«, wo es heißt: »Man kann es hier nicht länger abweisen, Quantitäten (wenn auch nicht meßbare) in Betracht zu ziehen« (GW I, S. 141). 58. G.Th. Fechner: Ideen, S. 23. 360

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einem Paradigma verpflichtet, das sich als implizite Kritik an der Grundidee der Psychophysik erweist, gewissermaßen die Form unseres Empfindens so vorgeben zu können, wie nach Kant Raum und Zeit Formen unserer Anschauung sein sollen. Es gehört daher zu den vielen Ungereimtheiten von Freuds Verhältnis zu Fechners Denken, daß er, sich auf die Einsicht in die Zeitlosigkeit unbewußter Prozesse berufend, in Jenseits des Lustprinzips einen gewichtigen Einwand gegen Kants Formen der Anschauung vorbringt59, zugleich aber nicht zu bemerken scheint, daß der Psychophysik gerade die Phänomene des Seelenlebens, die Freud unter dem Titel des Unbewußten entdeckt hatte, gar nicht erst in den Blick geraten, und zwar insbesondere dann nicht, wenn Fechner seine »äußere Psychophysik« auf die »innere Psychophysik« der »psychophysischen Repräsentation von Bewusstsein und Unbewusstsein« ausweitet und dabei auch noch den Begriff des Unbewußten verwendet: »Ohne noch die psychophysischen Thätigkeiten zu kennen, die unseren Bewusstseinsphänomenen unterliegen […] genügt die Verallgemeinerung der Thatsache, dass dieselben psychophysischen Bewegungen oder Veränderungen, die über einem gewissen Grade der Stärke Bewusstsein mitführen, unter einem gewissen Grade unbewusst werden.«60 Hier nun stößt Fechner auf das Problem der grundsätzlichen Inkompatibilität zwischen dem Paradigma der Naturwissenschaft und dem Gedanken des Unbewußten. Denn: »Empfindungen, Vorstellungen haben freilich im Zustande des Unbewusstseins aufgehört, als wirkliche zu existieren.«61 Im Rahmen des naturwissenschaftlichen Paradigmas, demzufolge nichts im physikalischen Sinn wirken kann, was nicht wirklich ist, fragt Fechner folglich: »Aber wie kann etwas wirken, was nicht ist?«62 Die Lösung sucht Fechner im Rahmen seiner Schwellenmechanik: »Denken wir uns die gesamte psychophysische Thätigkeit des Menschen wie eine Welle, und die Größe dieser Thätigkeit durch die Höhe dieser Welle über einer horizontalen Grundlinie oder Fläche dargestellt, wozu jeder psychophysische Punct eine Ordinate beiträgt […]. So wird […] der ganze Gang der Bewusstseinsthätigkeit von der gegenwärtigen und folgends sich entwickelnden Form, dem Steigen und Fallen, dieser Welle, die Intensität des Bewußtseins zu jeder Zeit von der jeweiligen Höhe derselben abhängen, und die Höhe dieser Welle irgendwo und irgendwie eine Gränze, die wir Schwelle nennen, übersteigen müssen, damit überhaupt Bewusstsein, Wachen stattfinde.«63

59. 60. 61. 62. 63.

GW XIII, S. 27 f. G.Th. Fechner: Psychophysik, Bd. II, S. 437. Ebd., S. 439. Ebd., S. 438 (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 454 f. 361

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»Wenn wir nun […] die Schwelle des Bewusstseins, wo das Erwachen und das Einschlafen erfolgt, mit einem Nullwerthe der psychischen Intensität zu bezeichnen haben, so werden wir eben so natürlicherweise […] das Aufsteigen der Bewusstseinshelligkeit darüber mit positiven Werthen zu bezeichnen haben, die vom Erwachen an erst zunehmen, dann nach dem Einschlafen wieder abnehmen, und werden dann auch nicht umhin können, die zunehmende Vertiefung des Schlafs unter die Schwelle eben so mit wachsenden negativen Werthen zu bezeichnen, womit sich unsere frühere Auffassung negativer Bewusstseinswerthe als unbewusste Werthe von der Empfindung auf das Gesamtbewusstsein überträgt, und einer Verallgemeinerung und Verstärkung der früheren Auffassung zugleich erwächst.«64 Deutlich wird, daß Fechner im Rahmen dieser Schwellenmechanik zwar hypothetisch erklären kann, daß etwas, das er in seinem Modell als unbewußt bezeichnet, zyklisch wieder bewußt werden kann, wenn es sich über die Schwelle erhebt. Grundsätzlich gibt es aber für Fechner keine Möglichkeit, zu erklären, wie etwas im Zustand des Unbewußtseins auf etwas Bewußtes einwirken kann.65 In der Konsequenz dieser mechanistischen Auffassung gibt es bei Fechner kein Unbewußtes, das sich auf einen anderen als den Schlafzustand bezöge.

III Wenn wir jetzt die Relektüre der Fechnerschen Schriften beenden, so verlassen wir damit nicht etwa auch das Denken Fechners, denn die

64. Ebd., S. 441 (Hervorhebung durch mich, M.R.). 65. In den Elementen der Psychophysik findet sich eine Passage, in der Fechner dieses Problem scheinbar in den Blick bekommt: Im Rahmen seiner Versuche mit Gewichten und der Unterschiedsschwelle fragt er: »[W]ie kann eine unser Bewusstsein nicht afficirende Differenz [von Gewichtsempfindungen] unser Urtheil [dennoch] bestimmen?« (Bd. I, S. 247) Unter der Voraussetzung, daß der Versuch hinreichend oft wiederholt wird, gibt Fechner folgende Antwort: »Trotzdem, dass ein Unterschied für sich unmerklich ist, wird er doch bei einer hinreichenden Anzahl [von] Vergleichen ein Uebergewicht richtiger Fälle zu Gunsten des schwereren Gewichts, allgemein des größeren Reizes finden lassen« (ebd.). Der Einfluß eines unterhalb der Schwelle liegenden Reizes auf das Bewußtsein erfolgt nach Fechner also über die Einbeziehung des Zufalls und die fehlertheoretische Abweichung. Wenn Fechner im folgenden eingesteht, daß auch oberhalb der Unterschiedsschwelle liegende Reize von dieser zufälligen Abweichung in derselben Weise betroffen sind, so wird klar, daß er ein und denselben physikalischen Mechanismus zur Erklärung von in seinem Sinne ›bewußten‹ und ›unbewußten‹ Phänomenen heranzieht. Der Begriff des Unbewußten fällt bei Fechner mit dem des Bewußten zusammen; die Rede vom »Unbewußten« macht also im Rahmen der Psychophysik keinen Sinn. 362

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wissenschaftstheoretischen Konsequenzen aus der psychophysischen Schwellenmechanik finden sich im Vor- und Umfeld von Freuds Theoriebildung wieder: beispielsweise bei Sigmund Exner, Freuds direktem ›Vorgesetzten‹ in Brückes Institut, vor allem aber – was uns hier besonders interessieren muß – in den theoretischen Ausführungen des Fechner-Verehrers und Koautors der Studien über Hysterie, Josef Breuer. In der Spur jener Aporie, derzufolge für Fechner unbewußte seelische Zustände eigentlich ein Unding sind, zeigt sich nämlich, daß für Breuer derartige, nicht auf den Schlafzustand reduzierbare unbewußte Phänomene schlichtweg pathologisch sind. Im Unterschied zu Freud bleibt der um seinen guten Ruf innerhalb der scientific community besorgte Breuer in dem von ihm verantworteten »theoretischen« Abschnitt der Studien einem Modell des psychischen Apparates verpflichtet, das den verwendeten Begriffen nach und in deren Konsequenz ein getreues Abbild der Fechnerschen Psychophysik ist. In Breuers Schwellenmodell entspricht das Unbewußte einem in pathologischer Weise dem Verstehen entzogenen Sektor: »Die Existenz bewußtseinsunfähiger Vorstellungen ist pathologisch. Beim Gesunden treten alle Vorstellungen ins Bewußtsein.«66 Gemäß dem Fechnerschen Modell der »Bewußtseinsschwelle« glaubt Breuer: »Wenn die Intensität unbewußter Vorstellungen anwächst, treten sie eo ipso ins Bewußtsein. Sie bleiben unbewußt nur bei geringer Intensität.«67 »Die abgespaltene Psyche ist jener Dämon, von dem die naiven Beobachter alter, abergläubischer Zeiten die Kranken besessen glaubten.«68 Kaum verwundern kann von daher, daß Breuer für eben das, was bei Fechner im Zustand des »Unbewußtseins« war, den Ausdruck »hypnoid« – »schlafartig« – prägt. Die damit unterstellte Unterbrechung der Kontinuität des Seelenlebens ist für Freud jedoch inakzeptabel, und zwar in einem solchen Maße, daß er, in der Gewißheit, daß mit der Annahme oder Zurückweisung des Breuerschen Erklärungsmodells seine eigene Theorie steht und fällt, den Bruch mit dem väterlichen Freund und Mentor in Kauf nimmt. Wie zentral die Differenz für Freuds Verständnis der psychischen Phänomene ist, zeigt sich daran, daß er noch zehn Jahre nach den Studien, in seiner Analyse des Falls Dora, auf die »hypnoiden Zustände« zurückkommt, um festzuhalten, sie seien »der ausschließlichen Initiative Breuers entsprungen.« Freud hält es »für überflüssig und irreleitend, die Kontinuität des Problems, worin der psychische Vorgang bei der hysterischen Symptombildung bestehe, durch diese Na-

66. GW, Nachtragsband, S. 282. 67. Ebd., S. 284. 68. Ebd., S. 309. 363

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mengebung zu unterbrechen.«69 Und noch 1914, in Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung, sagt er unvermißständlich: »Die erste Differenz zwischen Breuer und mir trat in einer Frage des intimeren psychischen Mechanismus der Hysterie zutage. Er bevorzugte eine sozusagen noch physiologische Theorie, wollte die seelische Spaltung der Hysterischen durch das Nicht-Kommunizieren verschiedener seelischer Zustände (oder wie wir damals sagten: Bewußtseinszustände) erklären und schuf so die Theorie der ›hypnoiden Zustände‹, deren Ergebnisse wie unassimilierte Fremdkörper in das ›Wachbewußtsein‹ hineinragen sollten.«70 Wenn Freud scheinbar beiläufig dazu anmerkt: »Ich hatte mir die Sache weniger wissenschaftlich zurecht gelegt«71, so sehen wir in dieser Bemerkung nicht sosehr eine grundsätzliche Wissenschaftskritik als vielmehr eine Absage an jeglichen Versuch, das Seelenleben mittels psychophysischer Methoden zu beschreiben. Freuds Bemerkung ist ein Hinweis darauf, daß er die Kontinuität zwischen bewußten und nichtbewußten Zuständen in einem anderen Paradigma sucht als Breuer, der hier unübersehbar in Fechners Geleise bleibt. Freuds ›anderer‹ Weg war bereits in seinem Buch Zur Auffassung der Aphasien von 1891 vorgezeichnet (und es drängt sich an dieser Stelle auf zu vermuten, daß Breuer es wohl nicht zufällig ablehnte72). In ihm weist der 35jährige Freud der Elite der Fachwissenschaft den immer gleichen methodischen Fehler nach. Worum es dabei ging, sei hier kurz skizziert. Die zeitgenössischen Physiologen (Meynert, Wernicke, Broca, Lichtheim) hatten versucht, die Struktur der Sprache mit derselben naturwissenschaftlich-subsumtionslogischen Methode zu klassifizieren wie Fechner mit seiner »Fundamentalformel« die Empfindungen. Gemäß diesem eindeutigen Zuordnungsverhältnis wäre im Idealfall pro Hirnzelle des Sprachzentrums ein Wort gespeichert. Mit so einfachen wie triftigen Argumenten zeigt Freud auf, daß eine derartige neurologische Sprachtheorie grundsätzlich unmöglich ist, weil der der Sprache eigene Determinismus, von den Fachkollegen unbemerkt, durch die Maschen des Wissenschaftsdiskurses fällt. Freilich setzt Freud keine eigene, verbesserte neurologische Theorie dagegen, mit der die Lokalisierung der Sprachfunktionen im Gehirn widerspruchsfreier erklärt würde.

69. 70. 71. 72.

GW V, S. 185. GW X, S. 48 (Hervorhebung durch mich, M.R.). Ebd. (Hervorhebung durch mich, M.R.). Vgl. Sigmund Freud: Briefe 1873–1939, Frankfurt a. M. 1960, S. 222 f. (Brief v. 13.7.1891 an Minna Bernays). 364

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An diesem Punkt muß die oben aufgeworfene Frage nach der nicht meßbaren psychischen Quantität wieder aufgegriffen werden. Wenn Freud davon ausgeht, daß es grundsätzlich nichts Undeterminiertes im Psychischen gibt, daß also Träume keine Schäume sind – welcher Determinismus bietet dann hier eine Alternative zur Messung? Die Antwort liefert Freud in zwei Schritten. In Zur Auffassung der Aphasien macht er diesbezüglich eine zentrale Bemerkung: »Läßt sich nun am physiologischen Korrelat der Empfindung der Anteil der ›Empfindung‹ von dem der ›Assoziation‹ unterscheiden? Offenbar nicht. […] Wir können keine Empfindungen haben, ohne sie sofort zu assoziieren.«73 Damit erteilt Freud dem Leitgedanken der Psychophysik, Empfindungen unter Laborbedingungen zu objektivieren, eine Absage. Er knüpft Empfindungen an Assoziationen. Aber: Er verwendet diesen Begriff im Gegensatz zu Herbarth (der ihn im Kontext der allgemeinen Bewegungsgesetze definiert hatte), um das im engeren Sinne Psychische als sprachlich strukturierten Vorgang zu erfassen. In der Sprache entdeckt Freud so eine Struktur, die durchaus von einem Determinismus geprägt ist, wenngleich sich dieser Determinismus einer wissenschaftlichen Klassifizierung sperrt. Freud prägt hierfür den Ausdruck »Determinierung durch Symbolik«. In seinem theoretischen Beitrag zu den Studien über Hysterie erweist sich diese Determinierung als Schlüsselbegriff, der die eigentlich psychoanalytisch-klinische Sicht im Zuge einer Absetzbewegung gegenüber Breuer / Fechner begründet. Was aber versteht Freud unter »Überdeterminierung«? Interessanterweise taucht der Begriff in den Studien erstmals in Breuers theoretischem Beitrag auf (allerdings unter Verweis auf Freud als dessen Urheber). Mit Freud ist Breuer der Ansicht, ein hysterisches Symptom sei »immer ›überdeterminiert‹«.74 Bei Breuer jedoch geht es hier um mehrere Krankheitsursachen, die sich gemäß dem psychophysischen Paradigma zur Intensität eines Symptoms aufsummieren. Am Fall der Cäcilie M. erklärt Freud die Überdeterminierung dagegen vollkommen anders: »Zu einer gewissen Zeit plagte Frau Cäcilie ein heftiger Schmerz in der rechten Ferse, Stiche bei jedem Schritte, die das Gehen unmöglich machten. Die Analyse führte uns dabei auf eine Zeit, in welcher sich die Patientin in einer ausländischen Heilanstalt befunden hatte. Sie war acht Tage lang in ihrem Zimmer gelegen, sollte dann vom Hausarzte das

73. Sigmund Freud: Zur Auffassung der Aphasien, Leipzig / Wien 1891, S. 58 (Neudruck Frankfurt a. M. 1992). 74. GW, Nachtragsband, S. 271. 365

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erstemal zur gemeinsamen Tafel abgeholt werden. Der Schmerz war in dem Moment entstanden, als die Kranke seinen Arm nahm, um das Zimmer zu verlassen; er schwand während der Reproduktion dieser Szene, als die Kranke den Satz aussprach: Damals habe sie die Furcht beherrscht, ob sie auch das ›rechte Auftreten‹ in der fremden Gesellschaft treffen werde!«75 Freud betont, daß der reale Schmerz sich einer Verknüpfung des Somatischen mit der Sprache verdankt, ermöglicht durch die Doppelbedeutung von »Auftreten«, und »keinen witzigen Mißbrauch« darstellt. Um zu sehen, daß Freud in derlei Verknüpfungen nicht bloß eine Zutat zum Unbewußten, sondern dessen genuine Arbeitsweise entdeckt, muß der Kontrast zur Fechner / Breuerschen Vorgehensweise pointiert werden. Drückt sich in Fechners Empfindungsmessung in nuce das Paradigma einer jeglichen wissenschaftlich exakten Methode zur Erforschung des Seelenlebens aus, so wird deutlich, daß das von Freud gefundene Paradigma der sprachlichen Überdeterminiertheit den Rahmen einer jeden exakten Wissenschaft grundsätzlich sprengt – ohne dabei in Beliebigkeit zu münden. Denn an die Stelle einer psychophysischen Gleichung bzw. einer mathematischen Funktion, bei der jedem x-Wert nur genau ein y-Wert zugeordnet werden kann, tritt bei Freud ein – im weitesten Sinne poetisches – Zuordnungsverhältnis. Die Bahnung, die zwischen den zwei Bedeutungen des Wortes »Auftreten« entsteht, ist kontextabhängig; sie läßt sich daher nicht auf die Formel eines Naturgesetzes bringen wie etwa das (vermeintliche) Fechnersche Gesetz. Wenn Cäcilie M. real einen »Stich ins Herz« oder einen »Schlag ins Gesicht« empfindet, so ist die Bahn, auf der der Affekt verläuft, eine sprachliche. Es handelt sich gewissermaßen um grammatische Leitungsbahnen einer nicht-physikalischen Energie, für die Freud den Ausdruck »Quantität« bevorzugt.76 So wie die psychische Quantität nicht meßbar ist, so ist auch die ›grammatische Bahnung‹ nicht im Sinne einer physikalischen Substanz oder jener »elektrischen Leitungen« isolierbar, über die Breuer in seinem Abschnitt der Studien so ausführlich spricht. Dieser Paradigmenwechsel von der mathematischen Determiniertheit zur sprachlichen Überdeterminiertheit ist es, den Breuer nicht mitmacht. Obwohl er die Redekur entdeckt hat, betrachtet er das verbal herbeigeführte Abfließen des Affektes, den »Ablauf durch die Rede«, vor dem Hintergrund eines mechanischen Schleusenmodells und be-

75. GW I, S. 248 (Hervorhebung im Original). 76. In ihrer Aufsatzsammlung Energie und Trieb, Leipzig 1930, bes. S. 25 f., sind Siegfried Bernfeld und Sergei Feitelberg mit ihrem Versuch, das Weber / Fechnersche Gesetz ernsthaft auf die Psychoanalyse anzuwenden, auf eine konsequente Weise gescheitert. Denn die methodische Unterscheidung zwischen einer physikalischen Energie und der psychischen Quantität stand ihnen nicht offen. 366

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wertet nicht zufällig die Äußerungen seiner Patientin als »lächerliche Wortspiele«. 77 Implizit bemerkt Breuer dabei, daß Freuds sprachbezogenes Erklärungsmodell psychischer Phänomene nicht einfach eine Ergänzung zur wissenschaftlich seriösen Schwellenmechanik Fechners darstellt, sondern deren grundlegende Einschränkung. Nach außen hin übt er Loyalität mit seinem jüngeren Kollegen, privat jedoch erklärt er im Hinblick auf Freuds Theorem von der sprachlichen Determiniertheit hysterischer Symptome: »Ich glaub’ es ja doch nicht«.78 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Freud im Rahmen seines – vermeintlichen – ›Szientismus‹ und seiner ›Metapsychologie‹ zwar auf naturwissenschaftlich konnotierte Begriffe zurückgreift, ihnen jedoch eine mit dem Wissenschaftsdiskurs inkompatible Bedeutung verleiht. Redet Freud vom Affektbetrag und der Erregungssumme, so findet sich keine Belegstelle dafür, daß er diesen Betrag mißt oder diese Summe berechnet. Auch der ›psychische Apparat‹ ist trotz Freuds höchsteigener Wortwahl keine Maschine im Sinne des ingenieurischen Denkens; so gesehen ist Bernfelds und Feitelbergs ›Libidometrie‹ der Versuch einer Anwendung von Fechners »Fundamentalformel« auf Freuds Metapsychologie – was ihn das psychoanalytische Denken radikal verfehlen lassen muß. Der Unterschied zwischen Psychophysik und Psychoanalyse ist nicht einfach nur ein Methodenstreit, der auf dem Boden eines von beiden anerkannten Basisparadigmas stattfände. Je tiefer und konsequenter Freud ab 1895 seine Einsichten in Struktur, Dynamik und Funktionsweise des Psychischen formuliert, desto unübersehbarer wird, daß Fechners psychophysische Schwellenmechanik, die den Kern von Breuers Überlegungen ausmacht, die Strukturierung des Psychischen durch die Sprache aus paradigmatischen Notwendigkeiten heraus als unwissenschaftlich zurückweisen muß. Auf dem Boden Fechners stehend kann Breuer die Sprache nur als ein attributives Element jenes neurophysiologischen Reflexbogens ansehen, dessen Funktionsweise er in enger Anlehnung an den, im Abschnitt »Theoretisches« mehrfach zitierten, Physiologen Sigmund Exner beschreibt. Konsequenter noch als Breuer freilich verkennt Freuds ehemaliger Laborkollege und späterer Nachfolger Brückes die grundlegende Determiniertheit des Psychischen durch die Sprache. So heißt es in seinem Entwurf zu einer Physiologischen Erklärung der Psychischen Erscheinungen von 189479: »Im Allge-

77. GW, Nachtragsband, S. 267. 78. S. Freud: Briefe an Wilhelm Fließ, S. 154 f. 79. In dieser Arbeit prägt Exner Begriffe wie »Bahnung« »Summation« und »Hemmung«, die Freud im »Entwurf einer Psychologie« sprachtheoretisch wendet (wor367

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meinen scheint mir in der Psychologie der Werth der Sprache für das Denken überschätzt zu werden.«80 Sprache und Denken sind für den Physiologen voneinander »unabhängig«; Sprache spielt nur eine »Rolle bei der Mittheilung eines Individuums an ein anderes«, denn »das Urtheil ›der Mensch A ist schön‹ wird nicht erst in Worte gekleidet werden müssen, soll der Urtheilende die Tatsache in Erinnerung behalten oder sie sich klar machen.«81 Wir können also in Freuds Kritik an Breuers Methode82 eine doppelte Bewegung erkennen: Gegen Freuds Wortlaut, er habe Fechner einiges zu verdanken und sei für dessen Ideen immer offen gewesen, formiert sich die psychoanalytische Klinik im Wege der Zurückweisung von Breuers Theorie. Und diese Zurückweisung gilt implizit auch der psychophysischen Schwellenmechanik Fechners und dessen »Lustprinzip«. Freuds Methode besteht nicht im Verziffern, sondern im Entziffern psychischer Vorgänge.

Literatur Arendt, Hans-Jürgen: Gustav Theodor Fechner. Ein deutscher Naturwissenschaftler und Philosoph im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1999. Bernfeld, Siegfried / Cassirer Bernfeld, Suzanne: Bausteine der Freud-Biographik, Frankfurt a. M. 1981. Bernfeld, Siegfried / Feitelberg, Sergei: Energie und Trieb, Leipzig / Wien 1930. Broˇzek, Josef / Gundlach, Horst (Hg.): G.T. Fechner und die Psychologie, Passau 1988. Buggle, Franz / Wirtgen, Paul: »Gustav Theodor Fechner und die psychoanalytischen Modellvorstellungen Sigmund Freuds. Einflüsse und Parallelen«, in: Archiv für die gesamte Psychologie 121 (1969), S. 148–201. Ellenberger, Henry F.: Die Entdeckung des Unbewußten. Geschichte und Ent-

auf hier aus Platzgründen nicht eingegangen werden kann). Die ersten Herausgeber dieses Textes schätzten Freuds Unterfangen freilich anders ein: »Der Gedanke, physiologische Veränderungen und das Physikalisch-Meßbare zur Grundlage aller psychologischen Erscheinungen zu machen, also die strenge Anwendung jener Anschauungen, die dem Helmholtz-Brückeschen Ansatz zugrunde lagen, beherrschten Freuds Denken in diesen Jahren« (Sigmund Freud: Aus den Anfängen der Psychoanalyse. 1887–1902. Briefe an Wilhelm Fließ, Frankfurt 1962, S. 28). 80. Sigmund Exner: Entwurf zu einer Physiologischen Erklärung der Psychischen Erscheinungen, Leipzig / Wien 1894, S. 319. 81. Ebd. 82. Diese Unterscheidung der Methoden Freuds und Breuers nimmt Albrecht Hirschmüller in seiner Monographie Physiologie und Psychoanalyse in Leben und Werk Josef Breuers, Stuttgart 1978, nicht in den Blick, da er in diesem Punkt nur Laplanche folgt. 368

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FREUD UND FECHNER. ZUR REKONSTRUKTION EINES PARADIGMENWECHSELS

wicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung, Zürich 21996. Exner, Sigmund: Entwurf zu einer Physiologischen Erklärung der Psychischen Erscheinungen, Leipzig / Wien 1894. Fechner, Gustav Theodor: Über das höchste Gut, Leipzig 1846. — Zend Avesta, 3 Bde, Leipzig 1851. — Elemente der Psychophysik, 2 Bde, Leipzig 1860. — Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungsgeschichte der Organismen, Leipzig 1873 (fotomech. Nachdr. Tübingen 1985). Freud, Sigmund: »Die Abwehr-Neuropsychosen«, in: ders., Gesammelte Werke, 1. Bd., London 1952, S. 57–74. — »Die Traumdeutung«, in: ders., Gesammelte Werke, 2. u. 3. Bd., London 1942, S. 1–642. — »Zur Psychopathologie des Alltagslebens«, in: ders., Gesammelte Werke, 4. Bd., London 1941. — »Bruchstück einer Hysterie-Analyse«, in: ders., Gesammelte Werke, 5. Bd., London 1942, S. 161–286. — »Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten«, in: ders., Gesammelte Werke, 6. Bd., London 1940. — »Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung«, in: ders., Gesammelte Werke, 10. Bd., London 1946, S. 43–113. — »Zur Einführung des Narzißmus«, in: ders., Gesammelte Werke, 10. Bd., London 1946, S. 137–170. — »Das Unbewußte«, in: ders., Gesammelte Werke, 10. Bd., London 1946, S. 263–303. — »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse«, in: ders., Gesammelte Werke, 11. Bd., London 1940. — »Jenseits des Lustprinzips«, in: ders., Gesammelte Werke, 13. Bd., London 1940, S. 1–69. — »Das Ich und das Es«, in: ders., Gesammelte Werke, 13. Bd., London 1940, S. 235–289. — »Das ökonomische Problem des Masochismus«, in: ders., Gesammelte Werke, 13. Bd., London 1940, S. 369–383. — »Selbstdarstellung«, in: ders., Gesammelte Werke, 14. Bd., London 1948, S. 31–96. — Gesammelte Werke, Nachtragsband, Frankfurt a. M. 1987. — Zur Auffassung der Aphasien, Leipzig und Wien 1891 (Neudruck Frankfurt a. M. 1992). — Jugendbriefe an Eduard Silberstein 1871–1881, Frankfurt a. M. 1989. — Aus den Anfängen der Psychoanalyse. 1887–1902. Briefe an Wilhelm Fließ, Frankfurt a. M. 1962. — Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904. Ungekürzte Ausgabe, hg. v. Jeffrey Moussaieff Masson, Frankfurt a. M. 1986. Freud, Sigmund / Binswanger, Ludwig: Briefwechsel 1908–1938, Frankfurt a. M. 1992. 369

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MANFRED RIEPE

Freud, Sigmund / Breuer, Josef: »Studien über Hysterie«, in: ders., Gesammelte Werke, 1. Bd., London 1952, S. 75–312. Gödde, Günter: Traditionslinien des »Unbewußten«: Schopenhauer, Nietzsche, Freud, Tübingen 1999. Grubrich-Simitis, Ilse: Zurück zu Freuds Texten, Frankfurt a. M. 1993. Heidelberger, Michael: Die innere Seite der Natur. Gustav Theodor Fechners wissenschaftlich-philosophische Weltanschauung, Frankfurt a. M. 1993. Hermann, Imre: »Gustav Theodor Fechner. Vortrag in der Ungarischen Psychoanalytischen Vereinigung«, in: Imago 11 (1925), S. 371–420. Hirschmüller, Albrecht: Physiologie und Psychoanalyse in Leben und Werk Josef Breuers, Stuttgart 1978. Jones, Ernest: Sigmund Freud. Leben und Werk, 3 Bde, Bern 1962. Kuntze, Johannes Emil: G.Th. Fechner (Dr. Mises). Ein deutsches Gelehrtenleben, Leipzig 1892. Laplanche, Jean: Leben und Tod in der Psychoanalyse, Olten 1974. Laplanche, Jean / Pontalis, Jean-Bertrand: Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 71986. Lennig, Petra: Von der Metaphysik zur Psychophysik. Gustav Theodor Fechner (1801–1887). Eine ergobiographische Studie, Frankfurt a. M. 1994. Mach, Ernst: Die Analyse der Empfindungen, Jena 1892 (fotomech. Nachdr. Darmstadt 1991). Mattenklott, Gert: »Nachwort« zu: Gustav Theodor Fechner, Das unendliche Leben, München 1984, S. 169–190. Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie, Zürich 1980, Bd. 2. Nitzschke, Bernd: »Freud und Fechner. Einige Anmerkungen zu den psychoanalytischen Konzepten ›Lustprinzip‹ und ›Todestrieb‹«, in: ders. (Hg.), Freud und die akademische Psychologie, München 1989, S. 80– 96. Oelze, Berthold: Gustav Theodor Fechner. Seele und Beseelung, Münster / New York 1988. Sachs-Hombach, Klaus: Philosophische Psychologie im 19. Jahrhundert, Freiburg i.Br. / München 1993. Scheerer, Eckhart: »Gustav Theodor Fechner und die Neurobiologie: ›Innere Psychophysik‹«, in: Ernst Florey / Olaf Breidbach (Hg.), Das Gehirn – Organ der Seele? Zur Ideengeschichte der Neurobiologie, Berlin 1993, S. 259–288. Sprung, Lothar: »Gustav Theodor Fechner«, in: Vera Hauschild (Hg.), Die großen Leipziger, Frankfurt a. M. 1996, S. 207–228. Tögel, Christfried: »Fechner und Freuds Traumtheorie«, in: Josef Brozˇek / Horst Gundlach (Hg.), G.T. Fechner und die Psychologie, Passau 1988, S. 131–136. Wundt, Wilhelm: Gustav Theodor Fechner. Rede zur Feier seines hundertjährigen Geburtstages, Leipzig 1901.

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FREUD UND FECHNER. ZUR REKONSTRUKTION EINES PARADIGMENWECHSELS

Wissen, Übertragung, Genießen. Zum Verhältnis zwischen Ludwig Binswanger und Sigmund Freud Regula Schindler

»Man überholt Descartes, Kant, Marx, Hegel und einige andere nicht, denn sie stecken die Richtung einer Suche aus, eine wirkliche Orientierung. Man überholt auch Freud nicht. Man zieht aus ihm nicht – zu welchem Zweck auch? – die Kubikwurzel, die Bilanz. Man bedient sich seiner. Man verschiebt sich im Feld. Man läßt sich von dem, was er uns an Richtungen angezeigt hat, leiten.« Le Séminaire de Jacques Lacan, Paris 19861

Jacques Lacan steckt in diesen wenigen Sätzen eine kleine Topographie des Verhältnisses der Schüler zu einem Meister-Wissen aus. Es ergeben sich zwei mögliche Positionen: die, die das vom Meister-Wissen eröffnete Feld von außen betrachtet, vermißt, bilanziert, überholt (dépasse), und die, die sich innerhalb des Feldes orientiert, leiten, bewegen läßt (se déplace). Der erste Typ, der Überholer, rühmt sich ex- oder implizit eines freieren, unabhängigeren, kritischeren Umgangs mit dem Meister-Wissen. Der zweite Typ, der, der dem Meister-Wissen bis in seine Sackgassen folgt, der, statt mit dem Wissen ›umzugehen‹, sich von ihm bewegen, verschieben läßt, ist rarer: kein Wunder, denn er hat dabei etwas zu verlieren. Beide Positionen verraten etwas über die Art und Weise des Genießens, also über das, worauf ein Subjekt zuallerletzt verzichtet. Nennen wir es, etwas holzschnittartig, »autonom« im einen, »heteronom« im andern Fall. Ludwig Binswanger hat mit der Entwicklung seiner »Daseinsanalyse« die Freudsche Psychoanalyse bekanntlich überholt oder zu überholen geglaubt. Doch noch zu einem Zeitpunkt (21.2.1928), als er

1. Le Séminaire de Jacques Lacan. Texte établi par Jacques-Alain Miller. Livre VII, L’ éthique de la psychanalyse, 1959–1960, Paris 1986, S. 244 f. (Übersetzung R.S.). 371

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REGULA SCHINDLER

seine Distanz schon längst kundgetan hatte, schrieb er: »Trotzdem oder vielleicht auch gerade deswegen fühle ich mich immer als Ihr Schüler.«2 Er sah sich zeitlebens »auf dem Weg zu Freud« – eine nicht unelegante Art, sich im Draußen zu plazieren, gleichzeitig ein Bekenntnis – und hat auf diese Weise zwar die Freudsche Sache, nicht aber den Mann Freud verraten: das Drama, so die im folgenden zu artikulierende These, einer störrischen Übertragungsliebe, in der sich autonome und heteronome Tendenzen bekämpften. Das Verhältnis begann im März 1907 mit dem ersten Besuch des jungen Psychiaters Ludwig Binswanger als Begleiter seines damaligen Oberarztes Jung bei Freud in Wien. Die Korrespondenz Freud / Binswanger sowie Binswangers Aufzeichnungen über die gegenseitigen Besuche – sieben Besuche Binswangers bei Freud in Wien, ein Besuch Freuds bei Binswanger in Kreuzlingen – dokumentieren einen persönlich wie professionell stets lebendigen Austausch: ein Bruch war nie in Sicht. Angesichts der bekannten Schwierigkeiten der Beziehungen zwischen Freud und seinen Schülern stellt sich die Frage nach dem Wie und Weshalb: Welches X hielt diese Beziehung aufrecht? Siegte hier, wie der Klappentext des Briefwechsels es nahelegt, Menschlichkeit, Toleranz, Liebe über die sachlichen Differenzen? Der alte Freud schreibt denn auch am 11.1.1929 in diesem Sinne: »Ganz abweichend von so vielen anderen haben Sie nicht zugelassen, daß Ihre intellektuelle Entwicklung, die Sie meinem Einfluß immer mehr entrückte, auch unsere persönlichen Beziehungen zerstöre, und Sie wissen nicht, wie sehr eine solche Feinheit dem Menschen wohltut.« Und Binswanger exemplarisch am 30.3.1936: »Ich habe vor kurzem unsere ganze Korrespondenz wieder einmal durchgelesen und dabei wieder konstatiert, wieviel Leid und Freud – es war mehr Leid als Freud – wir miteinander geteilt haben. Jedenfalls haben Sie gerade an den drei schwersten Ereignissen meines Lebens, meiner damaligen Krankheit und dem Tode meiner beiden Söhne, so Anteil genommen und so zu mir gehalten wie nur wenige meiner Freunde. Das sind Dinge, die man im Leben nie vergelten kann.« Das rührt den Leser, zumal hier nichts bloß behauptet wird: Die Briefe und Dokumente belegen noch und noch eine rare Kunst der Freundschaft. Man begegnet hier einem Freud, den man so kaum kennt. Schon

2. Sigmund Freud / Ludwig Binswanger: Briefwechsel 1908–1938, hg. v. Gerhard Fichtner, Frankfurt a. M. 1992; hier und im folgenden dient das Datum des Briefes zum Auffinden des jeweiligen Zitats. 372

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WISSEN, ÜBERTRAGUNG, GENIESSEN

beim ersten Besuch bemerkte er Binswanger gegenüber bezüglich der Mittwochsgesellschaft: »So, haben Sie jetzt diese Bande gesehen?« Und auf Besuch in Kreuzlingen beantwortete Freud Binswangers Frage, wie er zu seinen Patienten stehe, folgendermaßen: »Den Hals umdrehen könnte ich ihnen allen.«3 Offenbar ermöglichte dieser so taktvolle und feinsinnige junge Verehrer dem großen Mann einen Ton, den dieser sich anderswo nicht leisten konnte. So birgt dieser persönliche Briefwechsel denn einen Schatz an para-analytischen Bemerkungen Freuds, die als Supplemente zu offiziellen Theorien unverzichtbar sind – insbesondere zur Trauer, zum Trauern. Freud ließ sich von Binswanger zu einem Teilen und Mitteilen, zu einer Verschriftung von realem Leid bewegen, die den konventionell-persönlichen und den wissenschaftlichen Stil gleichermaßen sprengt. Wir werden am Schluß darauf zurückkommen. Der alte Freud baut auf die Spaltung: intellektuelle Entwicklung einerseits, persönliche Beziehung andererseits. So nützlich und verständlich diese Figur ist, sie erscheint uns doch etwas zu kommod, denn sie verdeckt den wunden Punkt der Übertragung auf seiten Freuds, die berühmte Sache betreffend. Freud, wie man sehen wird, glaubte über Jahre und Jahrzehnte, bis in die Mitte der 1920er Jahre, in Binswanger einen Kämpfer für die Sache gefunden zu haben, prädestiniert dazu, zwischen Psychoanalyse und Schulpsychiatrie zu vermitteln. Dem alten Mann scheint es dann in der Tat gelungen zu sein, die Enttäuschung zu verschmerzen und Binswanger weiterhin persönlich hochzuschätzen. Anders Binswanger. Aussagen der Art, er habe trotz einer anderen geistigen Entwicklung Freud stets für den größten Menschen gehalten, der ihm begegnet sei, lassen sich allenfalls nach einem analogen Schema lesen, sind aber, was das Persönliche angeht, paradox: Der lebenslängliche »Schüler« hat sich zunehmend deutlicher von der Freudschen Psychoanalyse abgewandt. Der Zwiespalt zwischen dem Begehren Binswangers, dem großen Mann Freud zu folgen, und dem Widerstand dagegen ist von Anfang bis Ende virulent geblieben, es sei denn, man erachtet die spätere Flucht Binswangers in den Seinsjargon und darüber hinaus als eine valable Lösung. Binswanger – dies unsere These – rettete sich in eine andere Art der Spaltung: in die Spaltung zwischen dem Vater des Begehrens, repräsentiert von Freud, und einem Anderen reinen Wissens, dessen Repräsentanten, von Bleuler über Husserl bis zu Heidegger, es dann allerdings doch nicht ganz schafften: das Autonomie-Streben Binswangers äußerte sich in diesen Fällen eher gehässig. Dem Meister Freud hingegen blieb der abtrünnige Schüler in »unglücklicher Liebe«4 verhaftet.

3. Briefwechsel, S. 264. 4. Briefwechsel, S. 268. 373

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Diese Übertragungsliebe hat Binswanger dazu gezwungen, sich über lange Jahre, bis ca. 1923, dem manifesten Anspruch Freuds zu beugen – eine nicht uneffiziente Art und Weise, das Begehren in Schach zu halten –, um Freud dann schließlich, wenn auch stets respektvoll, noch Jahrzehnte nach dessen Tod die Einseitigkeit und Beschränktheit seines Wissens bzw., binswangerisch, des »Verstehenshorizonts der Psychoanalyse« nachzuweisen. Im späten Aufsatz »Mein Weg zu Freud« hat Binswanger verschiedene Etappen dieses Wegs resümiert. Als der vierten Etappe zugehörig bezeichnet er seine Festrede zum 80. Geburtstag Freuds im Mai 1936, »Freuds Auffassung des Menschen im Lichte der Anthropologie«: »Schon der Titel […] zeigt, daß jetzt an Stelle der methodologischen Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse und ihrer Grundbegrifflichkeit die Auseinandersetzung mit dem dieser Methode und dieser Begrifflichkeit zugrundeliegenden Verstehenshorizont des Menschen im Sinne des homo natura, des Menschen als reinem Naturwesen, trat, aus welchem Verstehenshorizont die naturwissenschaftliche Konstruktion des psychischen Apparats in seiner ebenso imponierenden methodologischen Vielseitigkeit und Geschlossenheit wie anthropologischen Einseitigkeit verständlich wird.«5 Und weiter im Klartext: »Damit war Freuds Naturalismus ins rechte Licht gestellt, seine Herleitung also auch des geistigen Lebens aus der Triebhaftigkeit. Der Anstoß, den ich von Anfang an am menschlichen Verstehensentwurf der Psychoanalyse genommen hatte, fand jetzt seine philosophisch-anthropologische Begründung und Formulierung.« Noch 1924 hatte Binswanger Freud gegenüber beteuert, er habe nicht »die Absicht, die Psychoanalyse ›philosophisch zu neutralisieren‹« (3.1. 1924). 1936 schickte er ihm den besagten Festvortrag, dessen gewunden-professoraler Stil Bände spricht und der – kein Wunder – »das Gros des Publikums ungerührt gelassen hatte.« Freud reagiert vorerst altersmilde: »Eine liebe Überraschung Ihr Vortrag! […] Im Lesen freute ich mich Ihrer schönen Diktion, Ihrer Gelehrsamkeit, des Umfangs Ihres Horizonts, des Taktes im Widersprechen. An Lob verträgt man bekanntlich ungemessene Mengen« (8.10.1936). Und fährt fort mit der berühmten Replik: »Natürlich glaube ich Ihnen doch nicht. Ich habe mich immer nur im Parterre und Souterrain des Gebäudes aufgehalten – Sie behaupten, wenn man den Gesichtspunkt wechselt,

5. Ludwig Binswanger: Ausgewählte Werke, Bd. 3, Heidelberg 1994, S. 26. 374

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WISSEN, ÜBERTRAGUNG, GENIESSEN

sieht man auch ein oberes Stockwerk, in dem so distinguierte Gäste wie Religion, Kunst und andere hausen. Sie sind nicht der einzige darin, die meisten Kulturexemplare des homo natura denken so. Sie sind darin konservativ, ich revolutionär. Hätte ich noch ein Arbeitsleben vor mir, so getraute ich mich auch jenen Hochgeborenen eine Wohnstatt in meinem niedrigen Häuschen anzuweisen. […] Aber wahrscheinlich reden wir doch aneinander vorbei, und unser Zwist wird erst nach Jahrhunderten zum Ausgleich kommen.« 6 Freud hebt den »Zwist« Natur – Kultur oder Trieb – Geist aus den Angeln, indem er die Vorstellung zweier Etagen bzw. eines höheren und eines niedrigeren Gesichtspunktes ironisch subvertiert und damit die ihm von Binswanger unterstellte Ableitung des einen aus dem andern, des Geists aus dem Trieb, unterwandert. Was für die »Kulturexemplare des homo natura« nach wie vor skandalös bleibt, ist nicht bloß die Triebhaftigkeit des Geistes – etwas bescheidener gesagt: des Intellekts –, sondern die Intellektualität oder Geistigkeit des Triebs: seine Fixierung an gewisse Signifikanten. Der »Zwist« bildet deutlich die Binswangersche Spaltung ab: autonomer Geist, heteronomer / heterosexueller Trieb. In unserer Lektüre des Briefwechsels wird sich das geistige Autonomiestreben als durchaus triebhaft, der Trieb zu Freud als sehr vergeistigt erweisen. Vorweggenommen sei, daß sich der Trieb zum Überbegrifflichen, »Überweltlichen« immer fordernder bemerkbar machen wird: er wird über das »transzendentale Selbst« des In-der-Welt-Seins hinaus zum »Überdie-Welt-hinaus-sein als Liebe« und zu einer »Metaphysik des Geistes« führen, womit auch noch Heidegger übertrumpft wird und Gott bzw. der Geist allein übrigbleibt. Wir müssen eingestehen, daß eine derartige Entwicklung einer Psychoanalytikerin Freud-Lacanscher Prägung wenig mundet und daß daher die Anläufe, das Werk zu lesen, bald einmal scheiterten. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit ihm liegt aber ohnehin außerhalb des hier gegebenen Rahmens. Vieles spricht dafür, daß Binswanger ein einfühlsamer und kreativer Praktiker gewesen ist. Im Briefwechsel erweist er sich als jemand, der Liebe geben und annehmen konnte. Zwischen dem Freudschen und dem Binswangerschen Werk klafft ein Abgrund. Und doch hatte alles ganz anders angefangen. Auch wir werden nun nochmals anfangen, um die zeitliche Entwicklung dieses Dramas in den Worten der Akteure zu rekapitulieren. Binswanger war nach dem Tod des Vaters 1910 zum Chef des renommierten Sanatoriums Bellevue in Kreuzlingen aufgerückt. Freud schreibt am 10.9.1911:

6. Ebd. 375

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»Wir sehen alle in Ihnen ein Verbindungsglied gegen die Schulpsychiatrie hin, die wir ja nicht in ihrer Verstocktheit bestärken wollen. Vergangenheit, Familienbeziehungen und Neigung weisen Sie darauf hin, eine solche Vermittlerrolle zu versuchen. Es gibt unter den Schulgebildeten sehr wenige, die Ihre Gelegenheit zum Urteilen und Vergleichen haben könnten. Ihre Besonnenheit, die Ehrlichkeit Ihrer Absichten befähigen Sie zur Ausführung Ihres Vorsatzes. Eine gewisse Neigung zum leisen Auftreten – wie in Ihrem Prospekt – wollen wir Ihnen als vermeidenswert gerne vorhalten.« Das zu Kommende wirft seinen Schatten voraus: In besagtem Prospekt hatte Binswanger, im Sinne seiner Vorgänger, sein Sanatorium vorgestellt als Ort einer »individualisierenden Psychotherapie, als deren wesentliche Stütze wir die Förderung der Kranken durch körperliche und geistige Beschäftigung erblicken.« Die Psychoanalyse wird, mit einem fatalen »auch«, zuletzt erwähnt: »Auf Grund eigener Forschung und Erfahrung halte ich auch die Psychoanalyse für eine bei gewissen Formen von Hysterie, Zwangsvorstellungen, Phobien etc. indizierte und aussichtsvolle psychotherapeutische Methode. Ich mache hierbei jedoch eine moralische und intellektuelle Intaktheit des Patienten, sowie die Zustimmung des überweisenden Arztes zur Voraussetzung.«7 Dies also der leisetreterische Satz, der Freuds Unmut erregt hatte. Man kann einwenden, daß er den pragmatischen Zwängen dieser Klinik und ihrer Klientel durchaus entsprach und daß nicht zuletzt Freud das zu nutzen wußte: er schickte Binswanger immer wieder eigene Patienten, die er nicht mehr ertragen konnte, zum Aufpäppeln in die Klinik. Und wie, wenn nicht durch diplomatisches Auftreten, hätte Binswanger seine Rolle des tätigen Vermittlers zwischen Schulpsychiatrie und Psychoanalyse wahrnehmen können? In den Spannungen rund um Bleuler und die Zürcher psychoanalytische Gruppe 1911 / 12 tat Binswanger sein Bestes, fand aber wiederum wenig Gnade bei Freud und Jung: Die Entscheidung Binswangers, Bleuler und einige andere Nicht-Mitglieder zu Sitzungen der Gruppe zuzulassen, nannte Freud Jung gegenüber »die Dummheit von Binswanger« – eine Dummheit, die sich wenig später als rettend erweisen sollte: Es kam zum Bruch mit Jung, die Zürcher Gruppe löste sich auf, und der getreue Binswanger bat um Aufnahme in die Wiener Gruppe. Inzwischen hatte er durch seine Leisetreterei Freud den Abfall des ambivalenten Bleuler erspart. Die eklektische Distanz zur Psychoanalyse entwickelt sich unter den Vorzeichen eines Freud seit 1911 versprochenen Werks, dessen zweiter Band, nach einem ersten über »allgemeine Grundlagen der Psycholo-

7. Briefwechsel, S. 73 Anm.; Hervorhebung im Original. 376

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gie«, die Brücke zur Psychoanalyse zu schlagen verspricht. Dieser zweite Band – nennen wir ihn den ›Brücken-Band‹ – wird bis in die 1920er Jahre von Freud ungeduldig erwartet und von Binswanger stets wieder neu versprochen. Er wird nie erscheinen. Für ein gutes Jahrzehnt rankt sich die Korrespondenz, neben Familiärem und anderem, um diesen Phantomband als Köder der Übertragung: ein durchaus beidseitig wirksamer Köder, denn Binswanger bemüht sich ehrlich, den Anspruch Freuds zu befriedigen, er schuftet und schuftet und kriegt es nicht hin – bis auf ein erstes, später vernichtetes Kapitel, auf dessen Zusendung 1917 Freud antwortet: »Sehr lehrreich für mich, sehr verdienstvoll, aber in einem Punkt wird mir bange. Was werden Sie mit dem Unbewußten anfangen oder vielmehr, wie werden Sie ohne das Unbewußte auskommen? Hat Sie am Ende der philosophische Teufel doch in den Krallen? Beruhigen Sie mich« (20.8.1917). Zu Freuds Beruhigung bleibt der ominöse ›Brücken-Band‹ weiterhin versprochen, die Abneigung Binswangers der Sache gegenüber wird aber immer deutlicher: »Meine Arbeit schreitet nach Wunsch fort. Ich begreife, daß Sie von einer zu langen Vorbereitung sprechen [inzwischen 9 Jahre! R.S.]. Das Gebiet hat sich aber unter der Hand erweitert; ich habe immer mehr eingesehen, daß ich die Psychanalyse nicht aus der Psychanalyse selbst heraus, sondern nur aus der Perspektive der Hauptprobleme der Psychologie so darstellen kann, wie ich es für richtig und nötig halte. […] [S]o habe ich mich in die Geschichte der Psychologie, namentlich der neueren Zeit vertieft, um die psychanalytischen Grundgedanken auch historisch würdigen zu können« (7.1.1920). So schreibt kein ›afficionado‹, sondern ein professoraler, »unter der Hand« besserwisserischer Überhol-Schüler, der sich dem Meister zu entziehen sucht. Aus dem sich zuspitzenden Zwiespalt heraus landet Binswanger am 20.6.1921 einen Coup: »Ich habe seit Holland [6. Kongreß der IPV in Den Haag 1920; R.S.] nichts mehr von mir hören lassen, da ich Ihnen nicht ›vor Augen treten‹ wollte, bis mein Buch einigermaßen fertig wäre. Dies ist nun der Fall.« Kleiner Schönheitsfehler: Es handelt sich um den ersten Band, Einführung in die Probleme der allgemeinen Psychologie …. Dennoch bittet Binswanger Freud um Erlaubnis, diesen Band »meinen Lehrern Eugen Bleuler und Siegmund [!] Freud« widmen zu dürfen, fügt aber noch hinzu, daß »dieses Buch […] mit der Psychoanalyse noch gar nichts zu tun hat und Ihren Namen nur 377

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selten erwähnt. Sein ganzes Bestreben geht aber darauf aus, die Grundlagen der Psychologie bis zu dem Punkte zu erläutern und in der Weise darzustellen, daß dann in einem nächsten Buch die Darstellung der Psychoanalyse sich direkt anschließen kann.« Die Unglaubwürdigkeit der Beteuerung wird nun aber geschickt gewendet: »Ich wäre froh, mein Buch mit Ihren beiden Namen versehen zu dürfen, und ich würde es im Vorwort auch irgendwie ausdrücken, gerade um zu zeigen, daß der wissenschaftliche Impuls, der vom Lehrer auf den Schüler ausgeht, keineswegs nur auf das bestimmte Forschungsgebiet des Lehrers beschränkt bleibt, sondern darüber hinaus einen Impuls zur wissenschaftlichen Arbeit überhaupt darstellt.«8 Mit diesem Satz ist Binswanger die auf den ersten Blick überzeugende Beschreibung einer geglückten Schüler-Meister-Arbeitsübertragung gelungen: Wer würde nicht zustimmen, daß nicht ein sklavisches Festhalten an den Forschungen des Meisters, vielmehr ein Aufnehmen und Weitertragen des Forschungsimpulses wünschbar wäre? Aber: Wie aufnehmen, und wohin tragen? Dépasser oder se déplacer – überholen oder sich bewegen (lassen)? Und: Was wäre die »wissenschaftliche Arbeit überhaupt«? Ist »wissenschaftliche Arbeit« denn nicht stets mit der Liebe zu einer bestimmten Sache, anders gesagt: mit einer bestimmten Diskurs-Hörigkeit verknüpft? Was Binswanger auch bestätigt, indem er schreibt: »[…] da meine ganze Liebe doch der Psychiatrie gehört und ich immer wieder, gerade auch auf dem Umweg über dieses Buch, dahin zurückkehren werde.«9 Weiterhin: Ist die Psychoanalyse Freuds »ein bestimmtes Forschungsgebiet«, das unter oder neben anderen Forschungsgebieten wie »Psychiatrie« stände? In diesen Sätzen spricht neben dem, der stets aus Freud schöpft – wir werden darauf zurückkommen –, auch der, der von höherer Warte aus – der der »wissenschaftlichen Arbeit überhaupt« – das Feld des Wissens vermißt, einteilt, wertet, die Bilanz zieht, um unabhängig zu bleiben. Binswanger wird schließlich die Psychoanalyse »einen Zweig der Psychiatrie« nennen. Man wird diese Taktik später voll ausgereift finden, beispielsweise im wohl bekanntesten klinischen Werk Binswangers, der Schizophrenie10. Es enthält die »Daseinsanalyse« von fünf Fällen – die sich, auf Begrifflichkeit verzichtend, klar für das non plus ultra »wissenschaftlicher Arbeit überhaupt« hält –, widmet ihnen jeweils eine »psy-

8. Ebd. 9. Ebd. 10. Ebd. 378

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chopathologische Analyse« und liefert dort, und nur dort, wo es ihm möglich scheint, eine »Psychoanalyse« des Falls nach. Binswanger hat so das Kunststück fertiggebracht, weder die Bleulersche Psychopathologie noch die Freudsche Psychoanalyse argumentativ zurückweisen zu müssen; er hat sie als allenfalls effiziente, aber vom höheren Standpunkt der Daseinsanalyse aus beschränkte Perspektiven und Methoden sogar weiter genutzt. Die pragmatisch-eklektischen Bedürfnisse des Psychiaters verschränken sich hier innig mit dem Blick von der höheren Warte des transzendentalen Subjekts, das sich dann gezwungen sieht, sich selbst bzw. die jeweilige höhere Warte stets wieder zu überholen – von den »Hauptproblemen der Psychologie« über die »wissenschaftliche Arbeit überhaupt« des Psychiaters zur »Anthropologie«, dann zur »Ontologie« der Daseinsanalyse und schließlich zum »Überweltlichen«. Freud nahm die Widmungs-Anfrage wohlwollend auf: »Lieber Herr Doktor! Ich beeile mich Ihnen zu antworten, daß ich Ihre Widmung dankend annehme. Ich werde stolz darauf sein, daß Sie sich öffentlich als meinen Schüler bekennen«, und, nach einigen Bosheiten Bleuler betreffend: »Auf Ihr Buch bin ich natürlich sehr gespannt […]. Um wieviel mehr aber freue ich mich auf – dessen zweiten Band!« (23.6.1921) Die Freude wird sich mit Erscheinen des ersten Bandes verflüchtigen: »Ihr Buch hat mir sehr imponiert – mich allerdings auch enttäuscht, denn es ist nicht das, worauf Sie mich durch mehrfache Mitteilungen vorbereitet hatten. Ich erwartete, daß Sie die Brücke [Hervorhebung R.S.] zwischen der klinischen Psychiatrie und der Psychoanalyse bauen und in einem zweiten Band auch selbst über sie gehen würden. Als Rest Ihrer früheren Absicht steht wohl die Widmung da, die in jedem Fall sehr ehrenvoll ist. Mir zum Trost denke ich, daß Bleuler keine bessere Beziehung zum Inhalt hat als ich« (7.2.1923). Mit dieser bösen Schlußbemerkung traf Freud ins Schwarze. Binswanger hatte 1922 im Tagebuch notiert: »Gedrückt über Unvermögen Bleulers, mein Buch anzuerkennen«. Ganz anders die Antwort an Freud: »Was Sie über mein Buch schreiben, entspricht dem, was ich erwartet habe. Ich hoffe, daß ich Ihnen wenigstens noch Bruchstücke desjenigen Teiles meiner Arbeit zeigen kann, der sich mehr auf das Empirische und auch auf die Brücke zwischen Psychiatrie und Psychoanalyse bezieht« (23.2.1923). Das Einsteckenkönnen der Kränkung ehrt den Liebenden und ist eine Gabe, die er noch brauchen wird. Der inzwischen krebskranke Freud hat die Hoffnung auf den Brückenbauer und -bezwinger aufgegeben und schickt sich in die Spaltung zwischen intellektueller Entwicklung und Person. Nach einer letzten, indirekten Klage darüber, daß Bins379

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wanger sich nicht »ausschließlicher in den Dienst der Analyse« habe stellen können (24.11.1923), wird er schreiben: »Aber unsere Beziehungen beruhen ja auf festen Motiven anderer Art und sind von solchen Einwendungen unabhängig. Ich würde mich also sehr freuen, Sie wieder bei mir zu sehen.« Doch sein Spott, Zugesandtes von Binswanger betreffend, wird in den nächsten Jahren schärfer: »Ich habe Ihr Traumbüchel erhalten und es in einem Zug durchgelesen. Es ist schön und für Sie sehr charakteristisch. Ich habe alle Ihre Eigenschaften darin bezeugt gefunden, die respektabeln und die mir minder schmackhaften. […] Ihr letztes Wort hat mich doch mehr amüsiert als geärgert. Also auch Sie haben einen Gott« (2.4.1928). Binswanger hatte in besagtem Traumbuch geschrieben: »[…] wenn irgendwo, so treibt es uns hier, eine Metaphysik des Geistes zu postulieren und zu ahnen, und wohin muß uns das anders führen als zur Idee von Gott.«11 Freud fährt fort: »Gewiß einen philosophisch destillierten. Nun, ich war immer sehr mäßig, fast abstinent, doch habe ich für einen ordentlichen Trinker (z. B. G. Keller, Böcklin) recht viel Respekt gehabt. Nur die Leute, die es fertigbringen, sich an einem alkoholfreien Getränk einen Rausch zu holen, sind mir immer etwas komisch erschienen. Mit herzlichem Gruß, Ihr alter Freud.«12 Binswanger schluckt auch das. »Lieber Herr Professor! […] Ihre Kritik ist mir immer willkommen, auch wenn sie nicht schmeichelhaft ist, so habe ich mich auch über Ihren letzten Brief nur gefreut; ein Tadel, eine Ablehnung oder ein Spott Ihrerseits ist mir viel lieber als das Lob von irgendjemand anderem.« Und faßt sich dann wieder: »Daß ich daneben soviel Selbstbehauptung habe zu glauben, daß Sie mich vielleicht doch nicht in allem richtig sehen, werden Sie mir nicht ankreiden! […] Mit herzlichem Gruß immer Ihr [L. Binswanger]« (23.4.1928). In dem Maße, wie der phantasmatische Köder, der ›Brücken-Band‹, sich aufgelöst hatte, seine Distanz zur Psychoanalyse offensichtlich geworden war und er sich über Husserl und Heidegger in höhere und

11. Ludwig Binswanger: Schizophrenie, Pfullingen 1957. 12. Ludwig Binswanger: Wandlungen in der Auffassung und Deutung des Traums von den Griechen bis zur Gegenwart, Berlin 1928, S. 110. 380

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höchste Etagen schwang, bekannte Binswanger sich immer klarer zu Freud als Grund und Quelle seines Begehrens. So schrieb er am 21. 2.1928 zu angekündigten Aufsätzen: »Aus den Arbeiten werden Sie ja ersehen, dass ich immer wieder von Ihnen ausgehe.« Statt Freud zu folgen, wird er nun immer wieder von ihm ausgehen, aus ihm, wie aus einem Quell, schöpfen. Am 3.5.1929 wird er sein Verhältnis zu Freud folgendermaßen auf den Punkt bringen: »In meinem jetzigen Dasein gibt mir der bloße Gedanke Ihres Daseins Halt und Ansporn zum Aushalten und zu weiterer Arbeit. Sie finden das vielleicht egoistisch.« Binswanger sträubte sich nicht gegen das, was Lacan als »Objekt klein a« bezeichnet hat, Ursache, Grund des Begehrens; er verortete dieses »a« sehr klar bei Freud. Seine Besserwisserei hingegen schöpfte er aus gelehrteren Quellen. Im erwähnten Traumbuch schreibt er: »Michaelis […] hat aber ganz richtig gesehen, wenn er auf tiefe Diskrepanzen zwischen dem Manne und dem Werk hinweist, ein Zeichen, daß es auch Freud nicht vergönnt war, ›sich seines transzendentalen Selbst völlig zu bemächtigen‹.«13 Und hatte die Frechheit, das Freud zu schicken! Mord, würde eine schnelle Analyse wohl sagen, am geliebt-gehaßten Vater – und / oder das Begehren, ihn zu retten? Daß es sich bei Binswanger um eine klassisch zwangsneurotische Struktur handelte, dafür spricht vieles: die Spaltung zwischen dem Anderen des Geschlechts, Freud, und dem reinen Anderen des Wissens, von Bleuler über Husserl und Heidegger bis zum »philosophisch destillierten« Gott; im weiteren die Mixtur aus Pragmatismus und Liebesmystik; der Zwang, aus transzendentaler Sicht Wissensgebiete einzuteilen, zu isolieren, zu werten; das Pochen auf das autonome Selbst; der Wahn der Freiheit; aber auch die Intelligenz, die Feinheit, die Liebenswürdigkeit im Umgang mit den andern; und schließlich die verblüffende, blitzartige Öffnung des Unbewußten, das Wahrnehmen der Hörigkeit des Subjekts, der Fesselung durch das Begehren des Anderen. »Wen die Psychoanalyse einmal gepackt hat, den läßt sie nicht mehr los« – auch das wußte Binswanger (27.8.1924). Die Liebe zu Freud hatte diesen feinsinnigen Zwangsneurotiker gehörig hysterisiert; das macht den Briefwechsel so sympathisch und menschlich. Es war, Binswanger sagt es, eine unglückliche Liebe. Binswanger wußte nur allzugut, daß Freud nicht der Mann war, den er hätte retten können. Er suchte und fand den unkastrierten Anderen anderswo, schließlich im Jenseits; hier, im Diesseits, fand er den kastrierten Vater, den er lieben und aus dem er schöpfen konnte.

13. Ebd., S. 66 Anm. 1. 381

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Die Übertragungsfinte des Hysterikers, der die Lücke im Anderen mit dem Schleier der Liebe deckt, überkreuzt sich hier mit der Übertragungsfinte des Zwanghaften, der dem Anderen ungenügendes Wissen nachweist, um sich eines reinen Anderen zu versichern; beide Finten zielen schließlich darauf, die Konsistenz des Symbolischen zu retten und jenen Verlust zu umgehen, dem, so Lacan, »das Symbol nicht beikommt«: »Sobald etwas sich weiß, sobald etwas vom Realen zum Wissen kommt, gibt es etwas, das verloren ist. Und die sicherste Art und Weise, diesem Verlorenen näher zu kommen, ist, es als ein Stück vom Körper zu denken.«14 Binswanger wollte und konnte das »Stück vom Körper« nicht verlorengeben; als einer, der nach dem »transzendentalen Selbst« suchte, hat er das psychoanalytische Wissen Freuds nicht direkt befördern können. Doch wenn wir Lacan folgen, geht das Wissen ohnehin krumme Wege. In dieser Übertragung ist sehr wohl »etwas vom Realen zum Wissen« gekommen und hat sich im Briefwechsel niedergeschlagen. Im gleichen Zug gab es »etwas, das verloren ist.« Inwiefern läßt dieses Verlorene sich als ein Stück vom Körper denken? Wir kommen zurück auf die unschätzbaren para-analytischen Bemerkungen Freuds, die er so nur Binswanger gegenüber machen konnte: Binswanger, dem störrischen Schüler, verknüpft mit dem Freund, der jung, 1912, an einem schweren Hodentumor erkrankt war, und mit dem Vater, der zwei Söhne verlieren sollte – wobei der Tod des Ältesten, Robert, im Jahr 1929, ihm den »bisher schmerzensreichste[n] Tag meines bisherigen Lebens«15 brachte. Binswanger war derjenige, dem Freud das Leid mitteilen konnte; insbesondere das Leid, die Trauer des Großvaters Freud um den Enkel Heinele, eine Trauer, die nach den Maßstäben des vom Wissenschaftler Freud 1917 verfaßten, berühmten »Trauer und Melancholie«-Artikels als strikt pathologisch gelten müßte. Freud schreibt am 15.10.1926: »Es ist richtig, ich habe eine geliebte Tochter im Alter von 27 Jahren verloren, aber dies vertrug ich merkwürdig gut. […] 2 Jahre später brachte ich das jüngere Kind dieser Tochter, ein Kerlchen von 3–4 Jahren, nach Wien […], und dieses Kind ist uns an […] rapid verlaufender Miliartuberkulose gestorben. […] Mir stand es für alle Kinder und anderen Enkel, und seither, seit Heineles Tod mag ich die Enkel nicht mehr, aber freue mich auch

14. Jacques Lacan: Seminar L’angoisse (1962–1963), Sitzung vom 30.1.1963 (unveröff. Transkript). 15. Briefwechsel, S. 222 Anm. 382

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nicht am Leben. Es ist das auch das Geheimnis der Indifferenz – Tapferkeit hat man es genannt – bei meiner eigenen Lebensgefahr. Mein Schicksal hat ja eine Ähnlichkeit mit dem Ihren, auch bei mir ist das Neugebilde nicht wiedergekommen. In dem anderen Punkt, hoffe ich, werden Sie sich der Ähnlichkeit entziehen. Sie sind jung genug, um den Verlust zu überwinden; ich muß ja nicht mehr.« Das Neugebilde, das nicht wiedergekommen ist, bezieht sich auf den Tumor, der dann bei Freud bekanntlich doch wiederkam: »Neugebilde« erhält aber in diesem Zusammenhang eine seltsame Zweideutigkeit, insbesondere wenn man die folgende Bemerkung Freuds anläßlich des Todes des ältesten Sohnes von Binswanger drei Jahre später (11.4.1929) hinzunimmt: »Man weiß, daß die akute Trauer nach einem solchen Verlust ablaufen wird, aber man wird ungetröstet bleiben, nie einen Ersatz finden. Alles, was an die Stelle rückt, und wenn es sie auch ganz ausfüllen sollte, bleibt doch etwas anderes.« Ein Neugebilde / ein Ersatz wird nicht / wird doch wiederkommen. Da es, auch wenn es die Stelle ganz ausfüllen sollte, etwas anderes bleibt, tritt die Stelle als solche hervor: die Stelle, wo das Symbol nicht hinreicht, denkbar als Ort des verlorenen »Stücks vom Körper«. Das X, das Freud und Binswanger so eng verbunden hat, erscheint in unserer Perspektive als ein »Objekt klein a«, als ein Begehrensgrund, der sich über mehr als ein Jahrzehnt in ein Symbol kleidete: das der gemeinsamen Sache, repräsentiert durch den ›Brücken-Band‹. Immer mehr, aber schon von allem Anfang an – denn es war der Tumor Binswangers 1912 gewesen, der Freuds Besuch in Kreuzlingen verursacht und die Freundschaft besiegelt hatte –, von allem Anfang an und immer mehr entpuppte sich dieses die beiden verbindende X als das paradoxe ›Objekt‹ der »privation réelle«16, übersetzbar allenfalls als »realer Entzug«: ein X, dem »das Symbol nicht beikommt« und das, gerade insofern, als es nicht existiert, nicht negativierbar ist – etwas von allem Anfang an und nie Verlorenes, annäherungsweise denkbar als »ein Stück vom Körper«. Wenige der Lacanschen Begriffe haben dermaßen Karriere gemacht wie der des »Mangels« und der »symbolischen Kastration« – mit dem ärgerlichen Effekt, daß Lacan vielerorts als eine Art Priester »des Symbolischen« und »der Symbolisierung« gilt. Daß der damit untrenn-

16. Von Lacan erstmals entwickelt im Zusammenhang mit dem Knoten ›symbolische Kastration / imaginäre Frustration / reale Privation‹, vgl. Le Séminaire de Jacques Lacan. Texte établi par Jacques-Alain Miller. Livre IV, La relation d’objet, 1956–1957, Paris 1994. 383

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bar verknüpfte Begriff der »realen Privation« dabei unter den Tisch gefallen ist, scheint folgerichtig insofern, als der kulturelle common sense sich gegen derartige Paradoxien sträuben muß. Es ist hier nicht der Ort, dies als konsequente Ausarbeitung der Freudschen »Urverdrängung« auszuweisen – eines Freudschen Grundbegriffs, gegen den das Bewußtsein sich gleichermaßen sträubt. Was als theoretische Spitzfindigkeit der Psychoanalyse imponieren mag, ist aber nicht nur unabdingbar für ein nicht allzu schiefes Verständnis beliebter Sekundärbegriffe wie »Verdrängung« und »Symbolisierung«; vielmehr geht es um die Artikulation bekannter, den Alltag durchkreuzender Phänomene wie Verliebtheit und Trauer. Im deutschen Sprachraum mag zum Mißverständnis noch beigetragen haben, daß der Übersetzung von »manque« mit »Mangel« die alltägliche, transitive Dimension fehlt: die Dimension des »manquer«, des Verpassens und Verfehlens des anderen, der gescheiterten Begegnung zwischen Signifikant und Genieß-Ding. Das Mißverständnis ist nichtsdestoweniger ein strukturelles. Lassen wir Lacan nochmals zu Wort komen: »Wir trauern nur um jemanden, von dem wir sagen können: ich war sein Mangel, sein Verfehlen. Wir trauern um Personen, die wir gut oder schlecht behandelt haben und denen gegenüber wir nicht wußten, daß wir diese Funktion ausfüllten, am Platz ihres Mangels zu sein.« Doch »aufgrund der irreduziblen Verkennung des Mangels / des Verfehlens [in Richtung eines potentiell aufhebbaren, symbolisierbaren Mangels; R.S.] glauben wir, die Funktion jetzt dadurch übersetzen zu können, daß wir ihm gemangelt / ihn verfehlt haben, während wir für ihn doch gerade dadurch kostbar und unverzichtbar waren.« 17 Jeder der beiden, Freud und Binswanger, scheint für den anderen den Platz dieses Mangels eingenommen zu haben. Das Sich-Verfehlen im Symbolischen setzte die Stelle frei, wo von unmöglicher Trauer um das »Stück vom Körper«, den Tumor, den einen Enkel, den einen Sohn, die Rede sein konnte. Dies in eindrücklicher Weise auf seiten des alten Freud, während Binswanger, konventioneller und ängstlicher, den Weg tapferer Formeln und symbolischer Substitute wählte. Möglich, daß er sich so gegen ein Wiederkommen des »Neugebildes« feite; man weiß nur, daß er bei guter Gesundheit alt geworden ist. Hätte eine Analyse bei Freud ihn das Verlieren gelehrt? Und wäre das wünschbar gewesen? Die Frage ist, was diesen Fall betrifft, müßig. Was die generelle Frage nach dem Wie der Wechselwirkungen zwischen sema und soma, Signifikant und Genießen angeht, wollen wir uns nicht weiter vorwagen. Daß diese Wechselwirkungen in die Übertragung eingreifen, die Vermittlung von Wissen lenken und ablenken, fördern und hemmen, ist befremdlich genug.

17. J. Lacan: L’angoisse, Sitzung vom 30.1.1963. 384

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Literatur Binswanger, Ludwig: Ausgewählte Werke, Bd. 3, Heidelberg 1994. — Wandlungen in der Auffassung und Deutung des Traums von den Griechen bis zur Gegenwart, Berlin 1928. — Schizophrenie, Pfullingen 1957. Freud, Sigmund / Binswanger, Ludwig: Briefwechsel 1908–1938, hg. v. Gerhard Fichtner, Frankfurt a. M. 1992. Lacan, Jacques: Le Séminaire de Jacques Lacan. Texte établi par JacquesAlain Miller. Livre IV, La relation d’objet, 1956–1957, Paris 1994. — Le Séminaire de Jacques Lacan. Texte établi par Jacques-Alain Miller. Livre VII, L’éthique de la psychanalyse, 1959–1960, Paris 1986. — Seminar L’angoisse (1962–1963) (unveröff. Transkript).

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Die Zukunft der Psychoanalyse, oder: Von der Psychoanalyse der Zukunft1 René Major

In seiner sehr freundlichen Einladung schlug Georg Christoph Tholen mir vor, zu Ihnen über die Zukunft der Psychoanalyse zu sprechen, und zwar in Rücksicht auf die Lehren, die gezogen werden könnten aus den États Généraux de la Psychanalyse, die vom 8. bis 11. Juli 2000 im Großen Hörsaal der Pariser Sorbonne stattgefunden und aus 34 Ländern rund tausend Teilnehmer unterschiedlicher theoretischer Richtungen oder institutioneller Anbindung zusammengeführt haben. Bei diesen États Généraux, deren Name an die Revolution erinnert, die vor zweihundert Jahren den Übergang der Macht vom Souverän auf die Demokratie mit sich brachte und der, vor einhundert Jahren, die Entthronung des Bewußtseins als souveräner Bezugsinstanz der psychischen Aktivität folgte, ging es darum zu prüfen, was an dieser sogenannten psychoanalytischen Revolution noch unvollendet ist. Es ging darum, die Herausforderung einer nochmaligen Erfindung anzunehmen, die im Grunde ja immer wieder ansteht und stets aktuell ist – und dies durch die vielfältigen Sprachen und die Vielzahl der Idiome innerhalb einer jeden Sprache hindurch, in denen die Psychoanalyse heute gesprochen wird. Diese Transversalität ruft selbst nach allen Übertragungen und Übersetzungen, die möglich sind. Sie beinhaltet auch die Weiterentwicklung der psychoanalytischen Sprache, ihre unaufhörliche und notwendige Erneuerung. Freud hat sich gefragt, ob die Psychoanalyse ihn überleben würde. Seine Vermutung, ja, seine Gewißheit war, daß sie in der einen oder anderen Form überleben würde, daß aber sein eigener Name schnell vergessen sein würde: »Ich bin sicher«, schreibt er am 12. Januar 1920 an Ernest Jones, »daß mein Name in einigen Jahrzehnten vergessen sein wird, daß aber unsere Entdeckungen bestehen bleiben werden.« Ohne hier darauf einzugehen, was Freud dazu gebracht haben könnten,

1. Aus dem Französischen übersetzt von Gerhard Schmitz. 387

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zu denken – zu wünschen oder zu bezweifeln –, daß die Psychoanalyse seinen Namen überleben würde, möchte ich diese erstaunliche Besorgnis herausgreifen, um auf die Frage zu kommen, ob die Psychoanalyse an den Eigennamen gebunden ist, an einen oder mehrere Eigennamen; ob die Begriffe, die sie ausarbeitet, ihre Konsistenz aus dem Eigennamen beziehen oder ob sie sich davon abkoppeln und unabhängig von ihnen bestehen können. Diese Frage führt uns zu dem, was für die Zukunft der Psychoanalyse grundlegend auf dem Spiel steht. Mehr denn je kommt es darauf an, daß die Psychoanalyse all dem, was nicht aufhört, als Widerstand zu wirken – vorausgesetzt, dieser Begriff »Widerstand« ist der am besten geeignete –, ohne Alibi gegenübertritt, und zwar sowohl weil er der Welt entstammt, der sie widersteht und die ihr widersteht, als auch, weil er beständig aus ihrem eigenen Inneren heraus erscheint: in ihrer Praxis, ihrer Theorie und ihren Institutionen, in denen sich so viele Verkrampfungen und selbstimmunisierende Reflexe entwickeln. Zwischen ihrem Innen und ihrem Außen und damit an der Grenze, die die ganze Last der Geschichte, der Ethik, der Juristik und der Politik in den Beziehungen des Subjekts zum Kollektiv trägt, muß die Psychoanalyse mehr denn je ihre weltliche Präsenz behaupten, um zu analysieren und zu formulieren, was nicht funktioniert in der Welt; um die Krise (die crisis) der Globalisierung als Symptom eines Unbehagens des zeitgenössischen Subjekts zu analysieren, und um sowohl das zu analysieren, was durch die psychoanalytische Revolution in die Krise, als auch das, wodurch sie heute selbst in die Krise gebracht wird, zur Stunde, da die weltweite Ausdehnung der marktwirtschaftlichen Implikationen dessen, was man zynisch »human resources« nennt, der Subjektivität ein positivistisches, kognitivistisches, physikalistisches, genetistisches, psycho-pharmakologisches Modell entgegensetzt – ja, wenn nicht gar das einer spiritualistischen, pädagogisch indoktrinierenden und zwangsartigen Hermeneutik, der bestimmte Psychotherapien erliegen. Eine der Grundgegebenheiten der inneren Krise der Psychoanalyse liegt in ihrer Sprache und in der Vielzahl der Idiome, die innerhalb dieser Sprache gesprochen werden. Dabei geht es nicht nur um die Übersetzung und die Übertragungen von Sinn, die sich von einer Sprache zur anderen vollziehen, sondern auch um die unterschiedlichen Bedeutungen der Begriffe entsprechend dem theoretischen Korpus, auf das sie sich beziehen, wobei ich hier außer acht lasse, daß die psychoanalytische Sprache [langue], indem sie eine semantische Subversion in die Sprache [langage] einführt, das, was sie als ihre eigene Begrifflichkeit einfordern könnte, zu einer tiefgreifenden Instabilität verurteilt. Berücksichtigt man die Spaltung, die das Unbewußte in der Sprache [langage] bewirkt, dann kann sie den Begriff selbst nur für gespalten halten. Unterschiedliche Kontexte ändern jedesmal den Sinn des Begriffs, und seine Wiederholung erfordert die Möglichkeit eines unmögli388

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chen, also notwendigen Begriffs, der eine Zugehörigkeit ohne Zugehörigkeit zur Klasse der Begriffe bezeichnet, von denen er Rechenschaft ablegen soll. Deshalb müßte die psychoanalytische Sprache als in ständiger Weiterentwicklung befindlich betrachtet werden, so wie es auch die Alltagssprache ist, und zwar in einer Weiterentwicklung, die die Transformation derjenigen Felder des Wissens ermißt, denen sie ihre Begriffe entlehnt, indem sie sie subvertiert. Man vergißt zu sehr, daß die psychoanalytische Sprache Freuds im Ausgang von der Alltagssprache erarbeitet worden ist, wobei sie der Metaphysik und der Wissenschaft ihrer Zeit Begriffe entlehnte, deren Sinn durch die neue Theorie des Unbewußten radikal verändert worden ist. Indem Freud übrigens niemals den Beitrag außer acht ließ, den die physikalischen, biologischen, neuronalen oder genetischen Wissenschaften zum Verständnis der Psyche leisten könnten, ist er der erste gewesen, der die psychoanalytische Sprache keineswegs erstarren lassen oder fixieren wollte – unter der Bedingung, daß man an der spezifischen Eigenart seiner Methode, an ihren Erfordernissen und an den Erkennungszeichen für das festhält, was ihre Originalität ausmacht. Zu viele Nachfolger Freuds haben die Neigung, dem analytischen Korpus einen definitiven Sinn vorschreiben zu wollen, und zwar in einer zweifelhaften und ambigen Treue zu seinen Ursprüngen – wenn sie dabei seine Tragweite nicht sogar auf ihre eigene Lektüre oder Interpretation begrenzen wollen. Wenn es stimmt, daß die Psychoanalyse als Wissenschaft die einzige ist, die den Eigennamen ihres Begründers und die Namen derer, die die Erweiterung des Wissens betreiben, das sie entwickelt, auf so wahrhaftige Weise in Dienst nimmt, dann kann sie auch den Anspruch erheben, die Logik der übertragungshaften Filiationen analysieren zu können, aus denen sie eine Institution macht, sowie auch die Logik der Kräfte, die letztere bereitstellt. Wenn sich die Konsistenz der analytischen Begriffe mit den Eigennamen ihrer Schöpfer verbunden zeigt – etwas, das ihre Verankerung in der Subjektivität richtig zum Ausdruck bringt und der analytischen Methode auch nicht aus dem Blick gerät –, dann muß sie sich auch davon lösen, sich davon emanzipieren können, und zwar so weit, daß sie diese Singularität in ein Gesetz umschreibt, das so notwendig wie kontingent ist. Da aber die Zustimmung zur Theorie sich oftmals auf eine Übertragung auf den Namen stützt, an den sich diese Theorie heftet, muß man erkennen, daß hinsichtlich der Revolution, die die Psychoanalyse unternommen hat, die Analytiker im allgemeinen selber ein gewisses Zögern vor dem Akt verspüren, der ihnen als Königsmord erscheint, und an der Schwelle zur Trauer, die sie, in der Theorie, in der Praxis und in ihren Institutionen um ihre Väter leisten müssen, belauert sie der Schrecken. Zu oft wiederholen sie ihre Klagen unter dem Deckmantel der Anrufung des Namens des Vaters, und zwar 389

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mit einer Doppeldeutigkeit aus Drohung und Treueversprechen. Gewiß, man überholt die großen Namen der Psychoanalyse nicht, ebensowenig wie man Platon, Descartes und viele andere überholt, aber man überholt sich selbst, indem man sich innerhalb ihres Werks verschiebt und indem man es fortschreibt. Die Ethik einer wirklich kritischen, ebenso aufmerksamen wie strengen Lektüre der Werke könnte den Schließungseffekten gewisser gefestigter Diskurse ein Ende machen, deren Anspruch auf Systematisierung kaum analytisch ist in dem Sinne, in dem wir sie verstehen würden: daß sie stets Platz läßt für eine zusätzliche Analyse. Seit einigen Jahrzehnten haben sich die psychoanalytischen Praktiken – ich gebrauche diesen Plural absichtlich – beträchtlich verändert, und zwar aufgrund mehrerer Faktoren. Dazu gehören, um nur die hauptsächlichsten zu nennen, das exponentielle Anwachsen der Analytiker in mehreren Ländern, die Diversifizierung der Schulen und die Ausdehnung der Anwendungsgebiete und der Orte der Ausübung, die Infragestellung der Legitimation und des Monopols der zeitgenössischen Institutionen oder, in einem Ursache-Wirkungs-Verhältnis, der tiefgreifenden Transformation des gesellschaftlichen Feldes von Angebot und Nachfrage in der Psychoanalyse. Den neuen Menschenrechten hat sich das Recht auf die Psychoanalyse hinzugesellt. Diese Neuverteilung hat gezeigt, daß das ursprüngliche analytische Protokoll nicht unantastbar sein und sich zu zahlreichen Varianten eignen konnte oder durfte. So daß das, was die psychoanalytische Praxis heute authentifizieren kann, nicht oder nicht mehr dieses Protokoll ist – vorausgesetzt, daß das je der Fall war –, sondern viel eher ein bestimmtes Verhältnis des Subjekts zum Sprechen, zum anderen, zum Unbewußten, zur Wahrheit, das seine Bezugspunkte in dem hat, wovon die psychoanalytische Vernunft Rechenschaft geben kann und soll. Hinzufügen muß man, als korrelative und grundlegende Gegebenheit, daß dieses Verhältnis zum anderen, so wie es das psychoanalytische Verhältnis spezifiziert – gleich ob man es psychotherapeutisch nennt oder nicht –, Platz nimmt in dem Raum, der dadurch analytisch wird, daß er »die Übertragungsneurose und -psychose« zur Entfaltung kommen läßt als durch das Dispositiv künstlich erzeugte Bildungen. Sie sind die einzigen, zu denen die Deutungsarbeit direkten Zugang hat, allein ihre Analyse determiniert so viele Wirkungen im Realen. Daß die Deutungsarbeit des Analytikers auf seiner eigenen unbewußten psychischen Aktivität beruht, würde ihre Anerkennung fraglich machen, müßte nicht von der analytischen Vernunft erwiesen werden, daß sich diese unbewußte Aktivität streng am unbewußten Phantasma des Analysanten anknüpft, indem sie den Platz, den jeder der Protagonisten des Phantasmas besetzt, durchquert, um sodann, ohne ihn stillzustellen oder sich an ihm festzusetzen, in einer dritten Position 390

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DIE ZUKUNFT DER PSYCHOANALYSE

wiederzukehren. Diese dritte Funktion, die ausschließt, daß man das analytische Verhältnis gemäß dem konkretistischen Schema einer Interaktion zwischen zwei Personen denkt, ist die einzige, die den analytischen Akt außerhalb des Registers der Suggestion oder der Beeinflussung situieren kann, außerhalb der Ausübung irgendeiner souveränen Macht, und wäre es die des Wissens. Ebendies unterscheidet in erster Linie die Ausübung der Psychoanalyse von allen Formen nicht-analytischer Psychotherapien. Diese Unterscheidung beinhaltet keinerlei apriorisches Werturteil, sondern sie begrenzt das Feld einer Autonomie in bezug zu ihrer Heteronomie, so wie sie ihr zugleich zukommen und in ihr überleben kann. Diese Begrenzung eines Verhältnisses zum anderen, das völlig neu ist und aufschiebenden Charakter hat – und dies sogar innerhalb der sich verschiebenden Grenzen –, ist ebendieselbe, die die Institutionalisierung der Psychoanalyse stets problematisch macht, nicht weniger problematisch auch als ihr Verhältnis zur Ärzteschaft oder zu den öffentlichen Einrichtungen, zu jedweder Gesundheitspolitik wie zu jeder Gesetzgebung oder Anerkennung durch den Staat. Die Aufrechterhaltung dieses Verhältnisses eines Nicht-Verhältnisses zu diesen heterogenen Mächten oder Instanzen ist eine Wette auf die Zukunft der Psychoanalyse, und zwar dann, wenn diese jeglicher Ausrichtung entgehen will, die normativ, adaptativ, utilitär ist oder irgendein sozialpolitisch konformes Ziel hat. In einigen Ländern ist sie bereits daran gescheitert, sich in diesem so instabilen wie problematischen Verhältnis zu behaupten – was unabänderlich zum Nachteil ihrer Praxis war. Dies wäre, bestünde Bedarf daran, ein zusätzlicher Grund, die Verbindungen zu prüfen, die die Psychoanalyse augenscheinlich mit der Psychiatrie unterhalten hat, die sich, in ihren ablehnenden oder zustimmenden Vertretern, besser für eine Gesundheitspolitik oder für die eine oder andere Form der Überprüfung durch den Staat eignet, egal welche Strategien des Ungehorsams sie auch praktizieren mag. Ebenso wie in ihren Anleihen bei der Sprache der Metaphysik hat die psychoanalytische Sprache von der klassischen psychiatrischen Nosographie ein bestimmtes Vokabular übernommen und dessen Verständnis erneuert, woraus wiederum die dynamische Psychiatrie hat Nutzen ziehen können. Indes hat die verfeinerte phänomenologische Klassifizierung, die noch zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Gebrauch war, zunehmend den Klassifizierungen der aufeinander folgenden DSMs Platz gemacht, die, egal, wie bereitwillig die Psychoanalyse ihnen die Hand gereicht hat oder nicht, mehr von den kommerziellen Imperativen der Psychopharmakologie beherrscht werden als von der Sorge um das Verhältnis zum anderen. Diese Klassifizierungen führen Begriffe ein wie den der »Persönlichkeit«, der »Unordnung« und viele andere, die mit dem, was das psychoanalytische Denken entwickelt, nichts zu tun haben. 391

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Was aber die Hauptsache betrifft, so liegt die Frage nicht da. Die Psychoanalyse hat in die Klinik einen Paradigmawechsel eingeführt: Ebenso wie die Repräsentation des Analytikers ist auch die reale und unterstellte Implikation seines Begehrens Teil des Feldes der Übertragung. Die Psychoanalyse müßte also eine Semiologie begründen, und zwar auf den verschiedenen Modalitäten der Übertragung, auf den Variationen im Verlauf der Analyse, auf dem insistenten Phantasma, das im Verhältnis zum anderen unbewußt am Werk ist, auf dem Verhältnis des Subjekts des Unbewußten zu seiner Geschichte sowie auf den Widerständen des Analytikers gegen die Analyse. Anders gesagt, der Platz des Analytikers ist in der Geschichte des Subjekts bereits als Höhlung vorgezeichnet, und indem der Analytiker sich auf den Weg der Repräsentationen oder des Signifikantennetzes stützt, die sich ans Unbewußte anheften – woraus das Symptom gebildet ist –, übernimmt er es, einen Teil des Symptoms zu repräsentieren – wenn er nicht gar zum Symptom der Analyse wird. Genau darüber geben die nosographischen Kategorien wie Hysterie, Zwangsneurose, Phobie, Perversion, Psychose keine Auskunft. Sie haben die Tendenz, Strukturen zum Erstarren zu bringen, sie zu objektivieren, während das Phantasma vom Begehren des Subjekts sich, simultan oder sukzessiv, in Abhängigkeit vom unterstellten Begehren des Anderen organisieren kann, sich bedingt sehen kann durch das Phantasma des Todes des anderen oder sich stützen kann durch die Wiedergutmachung des Anderen für das Trauma oder den Verlust, die es erlitten oder imaginiert hat. Der Andere meint hier die aus Vergangenheit und Gegenwart, aus der noch immer gegenwärtigen Vergangenheit und der bereits vergangenen Gegenwart zusammengesetzte Figur. Insofern als die Entknotung, die Entknüpfung, die Freimachung aus allen diesen Übertragungen als aus ebensovielen verwickelten Rätseln Gegenstand der Analyse sind, sollten sie die wahren Richtmarken der psychoanalytischen Klinik bilden. Indem ich für eine zukünftige Autonomie dieser Klinik plädiere, mit all ihrer Originalität und Spezifizität, vernachlässige ich mitnichten die Bezüge, die sie zu jedweder Heteronomie unterhalten kann. Diese Bezüge sind wie die zwischen verschiedenen Sprachen. Jede Sprache gewinnt dadurch, daß sie sich gemäß der Gesetze des ihr eigenen Geistes entwickelt, und gerade dadurch bewahren Übersetzungen und Übertragungen einer Sprache in eine andere am besten die Kraft der Herausforderung, die sie darstellen, und zwar ohne jeden Versuch einer Hegemonie der einen in bezug auf die andere oder der Vermischung beider – dem nachzugeben der Geist unserer Zeit nur allzusehr die Neigung hat. Ich halte es auch für dringend geboten, sich für das einzusetzen, was noch nie verwirklicht worden ist und was Freud in seinem Text über »Die Frage der Laienanalyse« als einen seiner Wünsche benannte:

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DIE ZUKUNFT DER PSYCHOANALYSE

die Schaffung dessen, was er Psychoanalytische Hochschulen2 nannte, mit Forschungs- und Ausbildungsprogrammen, die Philosophie, Linguistik, Literatur, Kunst, Biologie, Soziologie, Anthropologie, Mythologie, Geschichte der Religionen und Zivilisationen umfassen. Eine derartige akademische Ausbildung für die Analytiker – die so breitgefächert, so vertieft ist, daß sie die Entfaltung von zwischen ihnen implizierten Disziplinen erlaubt – erweist sich als immer unverzichtbarer dann, wenn man möchte, daß die Psychoanalyse mehr, als sie es bisher getan hat, das naturwissenschaftliche Wissen und dasjenige Wissen vom Menschen in Rechnung zieht, das sich am Rand des Psychischen hält – wobei das unbewußte Psychische selber am Rande dieses Wissens steht. Das biologische und das genetische Wissen zum Beispiel mit ihrer theoretischen und therapeutischen Macht, mit den sie begleitenden wissenschaftstechnischen Mutationen, konfrontieren uns mit allen möglichen Fragen, die von der medizinisch unterstützten Befruchtung bis zur pränatalen Implantations-Diagnostik und vielen anderen Problemen reichen, die erst noch kommen werden. Wichtig ist, für jede neuro-geneto-biologische Reduktion der psychischen Realität ebenso aufmerksam wie für eine verbesserte Analyse der physikalisch-chemischen Substrate offen zu sein, die die Information eines logos transportieren, der ins Lebewesen eingeschrieben ist und den das Subjekt des Sprechens erneut einschreibt. An anderen Grenzen wären die impliziten Philosophien zu prüfen, die unsere Theorien und Praktiken lenken, und ebenso muß man bestimmten Lesarten des analytischen Korpus seitens einer zeitgenössischen Philosophie genaue Rechnung tragen, die wohlinformiert ist über die Vorstöße der Psychoanalyse und aufmerksam für das, was sie noch immer als Denkversprechen bewahrt bezüglich so schwerwiegender Fragen wie der der Grausamkeit zwischen Personen oder Nationalstaaten und der Beschränkung der Macht der einen wie der anderen. Ganz ebenso steht es mit der Verantwortung des Analytikers sowohl in der Gesellschaft als auch in seiner täglichen Praxis, mit seinem Platz als ›Intellektueller‹, der zur Weiterentwicklung des zeitgenössischen Denkens und der aktuellen Aufgaben beiträgt, wozu die psychoanalytische Vernunft in der zukünftigen Welt verpflichtet ist und verpflichtet sein wird. Man muß – und damit komme ich zum Ende – das Wagnis eingehen zu sagen, daß es uns Analytikern aufgegeben bleibt, ein psychoanalytisches und soziales Band zu erfinden, das die Übersetzung dessen sein wird, was die analytische Praxis verspricht, ein Band, dessen Unbedingtheit dem Machtprinzip entgeht, ein Band jenseits der Nötigung des

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RENÉ MAJOR

Feldes des Triebs durch den Bemächtigungstrieb3, der schon im Zentrum des Gedankenaustauschs zwischen Freud und Einstein über so schwerwiegende und noch immer aktuelle Probleme stand wie das der inviduellen, der kollektiven oder der staatlichen Grausamkeit, der physischen oder psychischen Folter, die bis in die allerneuesten und ausgeklügelsten Formen des Krieges und der Gewaltherrschaft hineinreicht, bis ins Böse, ins Unrecht, in die dem anderen zugefügte Kränkung hinein – und bisweilen sogar bis in die Grausamkeit, den Tod nicht zu geben. Das alles sind Fragen, zu denen die Psychoanalyse Unverzichtbares zu sagen und zu tun hätte und zu denen sie sich bis zum heutigen Tag noch kaum einmal geäußert hat, vor allem nicht in ihren autorisiertesten Diskursen. Solange es unwahrscheinlich, ja, gar unmöglich erscheint, daß ein solcher Diskurs entsteht – die Erfahrung unserer intellektuellen und affektiven Bezüge harrt noch immer ebensosehr ihrer wirklichen ›Gemeinschaft‹ wie die Fortführung des engagierten Nachdenkens über diese entscheidenden Themen jenseits jeder Metaphysik von Gut und Böse –, bleibt ein doppelter Widerstand gegen die Psychoanalyse manifest: Widerstand der Welt gegen die Psychoanalyse und Widerstand der Psychoanalyse gegen sich selbst. Skizziert werden soll damit ein (soll man sagen: noch immer unmöglicher?) Horizont für die Zukunft der Psychoanalyse, eine Psychoanalyse, die noch immer und immer noch eine zukünftige ist. Daß sie so unmöglich wie möglich ist, in allen Bedeutungen, die dieser Ausdruck annehmen kann – möglich und unmöglich zugleich, so unmöglich, wie es möglich ist, ihn zu denken –, zeigt ja die Aporie, die in der analytischen Arbeit am Werk ist. Ist das Unmögliche nicht gerade das Objekt der Psychoanalyse?

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DIE ZUKUNFT DER PSYCHOANALYSE

Übertragungsgefahr. Herausforderungen psychoanalytischer Kulturtheorie heute Claus-Dieter Rath

»Im Seelenleben des Einzelnen kommt ganz regelmäßig der Andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner in Betracht.« Sigmund Freund, Massenpsychologie und Ich-Analyse1

Zehn Jahre nach Erscheinen seiner »Selbstdarstellung« verfaßt der nahezu 80jährige Sigmund Freud eine kurze »Nachschrift 1935«. Er möchte klarstellen, daß in seinem Schaffen mittlerweile eine »Wandlung« stattgefunden habe, ein »Stück regressiver Entwicklung«: »Fäden, die sich in meiner Entwicklung miteinander verschlungen hatten, begannen sich voneinander zu lösen, später erworbene Interessen sind zurückgetreten und ältere, ursprünglichere, haben sich wieder durchgesetzt. […] Nach dem lebenslangen Umweg über die Naturwissenschaften, Medizin und Psychotherapie war mein Interesse zu jenen kulturellen Problemen zurückgekehrt, die dereinst den kaum zum Denken erwachten Jüngling gefesselt hatten.«2 Aus der »Selbstdarstellung« haben wir schon erfahren, daß die Wißbegierde dieses Jünglings »sich mehr auf menschliche Verhältnisse als auf natürliche Objekte bezog« und sich eher an der »Kunst des Lesens« als an der »Beobachtung« befriedigte.3 Als alter Mann teilt er uns in der

1. In: ders., Gesammelte Werke,13. Bd., London 1940, S. 73. 2. Sigmund Freud: »Nachschrift 1935 [zur Selbstdarstellung]«, in: ders., Gesammelte Werke, 16. Bd., London 1950, S. 32. Zur Editionsgeschichte vgl. die »Editorische Vorbemerkung« in: ders., Gesammelte Werke, Ergänzungsband, Frankfurt a. M. 1987, S. 762. 3. Sigmund Freud: »Selbstdarstellung«, in: ders., Gesammelte Werke, 14. Bd., London 1948, S. 34. 395

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CLAUS-DIETER RATH

»Nachschrift« mit, daß er inzwischen einem ursprünglichen Drang nachgegeben habe, um die »neu gewonnenen analytischen Einsichten zur Erforschung der Ursprünge von Religion und Sittlichkeit auszunützen.«4 Er nennt drei Texte, die für diese Arbeitsrichtung stünden: Totem und Tabu (1912), Die Zukunft einer Illusion (1927) und Das Unbehagen in der Kultur (1930). Daß zu »jenen kulturellen Problemen«, die einst den Jüngling gefesselt hatten, konkret die Frage gehörte, was es bedeutet, Jude zu sein, kann man der »Selbstdarstellung« entnehmen, denn dort erwähnt er, daß vor einem halben Jahrtausend seine Familie väterlicherseits vor einer Judenverfolgung in Deutschland geflohen war5 und welche Enttäuschung er fühlte, als er 17jährig die Wiener Universität bezog: »Vor allem traf mich die Zumutung, daß ich mich als minderwertig und nicht volkszugehörig fühlen sollte, weil ich Jude war. Das erstere lehnte ich mit aller Entschiedenheit ab. Ich habe nie begriffen, warum ich mich meiner Abkunft, oder wie man zu sagen begann: Rasse, schämen sollte. Auf die mir verweigerte Volksgemeinschaft verzichtete ich ohne viel Bedauern.«6 Frühzeitig sei er also mit dem Los vertraut geworden, »in der Opposition zu stehen und von der ›kompakten Majorität‹ in Bann getan zu werden. Eine gewisse Unabhängigkeit des Urteils wurde so vorbereitet.«7 Wenn Georges-Arthur Goldschmidt im Hinblick auf den damals immer stärker werdenden Antisemitismus meint, daß Freud »die drohende Gefahr ahnte und sie zu entschärfen suchte«8, kann man dies als einen Bezugspunkt von Jacques Lacans Formulierung nehmen, die Psychoanalyse sei ein Symptom des Unbehagens in der Kultur.9 Freud lebt in einer Hochzeit wissenschaftlicher und künstlerischer Produktion, die zugleich eine Zeit der Anfeindung intellektuellen Schaffens, der massiven Kulturfeindschaft, ja, der Fesselung kultureller Praktiken und der Zerstörung von Kulturgütern ist. Manchen gilt jene Epoche als ein Laboratorium der Moderne, anderen als der Beginn der Postmoderne, also der Auflösung verbindlicher Werte und Formen und der Abkehr vom Hoffen auf eine bessere Welt. Zwei Jahre vor Freuds »Nachschrift« diagnostiziert 1933 Walter

4. 5. 6. 7. 8. 9.

S. Freud: »Nachschrift 1935«, S. 32. S. Freud: »Selbstdarstellung«, S. 34. Ebd., S. 35. Ebd. Georges-Arthur Goldschmidt: Als Freud das Meer sah, Zürich 1999, S. 173. Jacques Lacan: »Conférence de presse du Dr. Lacan« (Rom, 29.10.1974), in: Lettres de l’École freudienne 16 (1975), S. 14; ders.: »La Troisième«, in: Lettres de l’École freudienne 16 (1975), S. 185 ff. 396

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ÜBERTRAGUNGSGEFAHR

Benjamin im Rückblick auf die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ein spezifisches Kulturversagen: »Eine ganz neue Armseligkeit« sei »über die Menschen gekommen«. Er nennt sie »Erfahrungsarmut«, eine »Armut nicht nur an privaten sondern an Menschheitserfahrungen überhaupt«10: »die Erfahrung ist im Kurse gefallen und das in einer Generation, die 1914–1918 eine der ungeheuersten Erfahrungen der Weltgeschichte gemacht hat. Vielleicht ist das nicht so merkwürdig, wie es scheint. Konnte man damals nicht die Feststellung machen: die Leute kamen verstummt aus dem Felde? Nicht reicher, ärmer an mitteilbarer Erfahrung. Was sich dann zehn Jahre danach in der Flut der Kriegsbücher ergossen hat, war alles andere als Erfahrung, die vom Mund zum Ohr strömt. Nein, merkwürdig war das nicht. Denn nie sind Erfahrungen gründlicher Lügen gestraft worden als die strategischen durch den Stellungskrieg, die wirtschaftlichen durch die Inflation, die körperlichen durch den Hunger, die sittlichen durch die Machthaber.«11 Benjamin weint jenem alten Typ von Erfahrung nicht etwa nach – »denn was ist das ganze Bildungsgut wert, wenn uns nicht eben Erfahrung mit ihm verbindet?«12 Vielmehr ergibt sich für ihn aus dieser besonderen Art von Armut die Notwendigkeit einer neuen Verbindung von Bildungsgut und dem, was einem persönlich begegnet oder zugestoßen ist, also von überlieferter und unmittelbarer Erfahrung. Zu den Verfahren, die eine solche neue Verbindung herstellen und den einzelnen dazu bringen, »von vorn zu beginnen; […] aus Wenigem heraus zu konstruieren und dabei weder rechts noch links zu blicken«13, muß man die Psychoanalyse zählen, die Benjamin als Theorie nicht fremd ist.14 Totem und Tabu, mit dem Freud 1912 den ersten Band seiner IMAGO. Zeitschrift für die Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften15 eröffnet hat, nennt er in der »Nachschrift 1935« als einen Beleg dafür, daß sein Interesse »nach dem lebenslangen Umweg über die Naturwissenschaften, Medizin und Psychotherapie« zu bestimmten »kulturellen Problemen zurückgekehrt« war; er sagt dort aber

10. Walter Benjamin: »Erfahrung und Armut«, in: Gesammelte Schriften, Bd. II.1, Frankfurt a. M. 1977, S. 215. 11. Ebd., S. 214. 12. Ebd. 13. Ebd. 14. Beispielsweise bezieht sich seine Idee der Schock-Apperzeption als eines neuen Erfahrungs-Modus auf Freuds »Jenseits des Lustprinzips«. 15. Es handelt sich um die erste Fassung des ersten Teils von Totem und Tabu: Über einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker. 397

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auch, zu jener Zeit – also in der Mitte seines fünften Lebensjahrzehnts – habe er sich »mitten auf der Höhe der psychoanalytischen Arbeit«16 befunden. Dies wirft die Frage auf: Wie verhalten sich der »Umweg« und die »Höhe« zueinander? Wie verknüpfen sich bei Freud psychoanalytische, therapeutische und kulturelle Interessen, oder auch: cura und cultura? Man könnte glauben, daß er die drei »von der Psychoanalyse ausgehenden, aber weit über sie hinausgreifenden Studien«17 gar nicht zur Psychoanalyse zählt, wenn man in der »Nachschrift« liest: »Zwar habe ich in diesem letzten Dezennium noch manch wichtiges Stück analytischer Arbeit unternommen, wie die Revision des Angstproblems in der Schrift ›Hemmung, Symptom und Angst‹ 1926, oder es gelang mir 1927 die glatte Aufklärung des sexuellen ›Fetischismus‹, aber es ist doch richtig zu sagen, daß ich seit der Aufstellung der zwei Triebarten (Eros und Todestrieb) und der Zerlegung der psychischen Persönlichkeit in Ich, Über-Ich und Es (1923) keine entscheidenden Beiträge mehr zur Psychoanalyse geliefert, und was ich später geschrieben habe, hätte schadlos wegbleiben können oder wäre bald von anderer Seite beigebracht worden.«18 Auch sein Hinweis auf die nunmehr erfreuliche Vielfalt der psychoanalytischen Forschung bei den Mitgliedern seiner Gesellschaft19 könnte die Annahme stützen, daß er sein wiedererwachtes Interesse für »jene kulturellen Probleme« als rein persönliche Angelegenheit betrachtet. Und doch verknüpft Freud hier unübersehbar ein subjektives Interesse – ein Begehren, das einem Anspruch innewohnt, auf den er sich regrediert sieht – mit der Sache der Psychoanalyse. Aber wie? Daß »der Gebrauch der Analyse zur Therapie der Neurosen nur eine ihrer Anwendungen« sei, betont ihr Erfinder schon Mitte der zwanziger Jahre in Die Frage der Laienanalyse; vielleicht werde »die Zukunft zeigen, daß sie nicht die wichtigste ist. Jedenfalls wäre es unbillig, der einen Anwendung alle anderen zu opfern, bloß weil dies Anwendungsgebiet sich mit dem Kreis ärztlicher Interessen berührt.«20 (Hier sieht man, wie sich Freuds Distanzierung von »Medizin und Therapie« als Stationen eines »lebenslangen Umwegs« nicht auf die therapeutischen Wirkungen der Psychoanalyse, sondern auf das ärztliche

16. S. Freud: »Nachschrift 1935«, S. 32. 17. Ebd., S. 33. 18. Ebd.; dies schreibt er 1935, später folgen noch direkt auf die Kur bezogene Arbeiten wie »Die endliche und die unendliche Analyse«, »Konstruktionen in der Analyse«, »Die Ichspaltung im Abwehrvorgang«. 19. Vgl. ebd., S. 34. 20. Sigmund Freud: »Die Frage der Laienanalyse«, in: ders., Gesammelte Werke, 14. Bd., London 1948, S. 283 f. 398

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ÜBERTRAGUNGSGEFAHR

Interesse bezieht, also auf ein Heilen-Wollen, das ihm persönlich fremd sei.) Seinem Freund Pfister schreibt er in jener Zeit: »Außerdem habe ich oft gesagt, daß ich die wissenschaftliche Bedeutung der Psychoanalyse für wichtiger halte als ihre medizinische und in der Therapie ihre Massenwirkung durch Aufklärung und Bloßstellung von Irrtümern für wirksamer als die Herstellung einzelner Personen.«21 So erinnert sich Theodor Reik, Freud habe bei einem der Mittwochabend-Treffen seiner Prognose zugestimmt, »daß die Zukunft der Psychoanalyse im Studium der Geschichte, der Anthropologie und der Sozialwissenschaften liege und daß die analytische Therapie neurotischer und psychotischer Störungen im Jahr 2000 als überholt gelten würde.«22 Sind diese Äußerungen so aufzufassen, als sei es heute, im 21. Jahrhundert, höchste Zeit, daß die Psychoanalyse sich vom Partikulären des Subjekts ab- und dem Allgemeinen von Kultur und Gesellschaft zuwende? Zunächst einmal sollten diese bekannten Zitate nicht lediglich wiedergekäut, sondern befragt werden. Wenn Freud meint, daß die Neurosentherapie »nicht die wichtigste« Anwendung der Psychoanalyse sein werde – bezieht sich dann »wichtig« auf den Anklang beim Publikum oder auf die Sache der Psychoanalyse? Haben die einzelnen Anwendungen und Anwendungsgebiete etwas miteinander zu tun?23 Wie stellt Freud angesichts der menschlichen Leidenschaft des Nichtwissen-Wollens sich eine spezifisch psychoanalytische »Aufklärung und Bloßstellung von Irrtümern« vor? Und im Hinblick worauf sollte diese »wirksamer als die Herstellung einzelner Personen« sein? Die Bemerkung, er habe in dem Jahrzehnt vor 1935 »keine entscheidenden Beiträge mehr zur Psychoanalyse« geliefert, kann zwar so verstanden werden, als grenzte er Psychisches vom Kulturellen wie etwas Inneres gegen etwas Äußeres ab. Tatsächlich aber sind für ihn beide vermittelt. Zunächst einmal geht die »Arbeitsrichtung« bei seinen Kulturforschungen von den »neu gewonnenen analytischen Einsichten« aus. Von daher kann er »immer klarer« erkennen, »daß die Geschehnisse der Menschheitsgeschichte, die Wechselwirkungen zwischen Menschennatur, Kulturentwicklung und jenen Niederschlägen urzeitlicher Erlebnisse, als deren Vertretung sich die Religion vordrängt, nur die Spiegelung der dynamischen Konflikte

21. Sigmund Freud / Oskar Pfister: Briefe 1909–1939, hg. v. Ernst L. Freud u. Heinrich Meng, Frankfurt a. M. 1963, S. 129. 22. Theodor Reik: Dreißig Jahre mit Sigmund Freud, München 1976, S. 41. 23. Vgl. dazu Claus-Dieter Rath: »Zu den ›Anwendungen der Psychoanalyse‹«, in: BRIEF der Psychoanalytischen Assoziation »Die Zeit zum Begreifen« 19 / 20 (1997), S. 56–72. 399

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zwischen Ich, Es und Über-Ich sind, welche die Psychoanalyse beim Einzelmenschen studiert, die gleichen Vorgänge, auf einer weiteren Bühne wiederholt.« 24 Es geht also um die Relation zweier Schauplätze. Freud vermag an den Manifestationen der einen Bühne etwas wahrzunehmen, das bei der anderen latent bleibt. So seien »manche Äußerungen und Eigenschaften des Über-Ichs […] leichter bei seinem Verhalten in der Kulturgemeinschaft als beim Einzelnen« zu erkennen; aufgrund der zumeist unbewußten Natur der »Aggressionen des Über-Ichs« seien die zur ›Gewissensangst‹ »gehörigen seelischen Vorgänge uns von der Seite der Masse vertrauter, dem Bewußtsein zugänglicher […] als sie es beim Einzelmenschen werden können.«25 Dieser Strategie folgt auch sein Versuch, »einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker« (so der Untertitel von Totem und Tabu) herauszuarbeiten. Wenn die intensive Beschäftigung mit der einen Bühne zeitweilig die Erforschung des anderen Schauplatzes beeinträchtigt, heißt dies keinesfalls, daß eine Ausdehnung der kulturellen Anwendungen der Psychoanalyse die ›talking cure‹ verschwinden ließe.26 Wäre dem so, dann dürfte dem 80jährigen, der ja »in den mehr als zehn Jahren seither […] nicht aufgehört [hat], analytisch zu arbeiten«27, 1935 kaum daran gelegen sein, festzustellen: »Noch einige Worte über die Schicksale der Psychoanalyse in diesem letzten Jahrzehnt! Es ist kein Zweifel mehr, daß sie fortbestehen wird, sie hat ihre Lebens- und Entwicklungsfähigkeit erwiesen als Wissenszweig wie als Therapie.«28 Und er wiese auch nicht darauf hin, daß die Anzahl ihrer Anhänger, der Ortsgruppen, Lehrinstitute und Ambulatorien sich vermehrt hat. Auf den letzten Seiten von Das Unbehagen in der Kultur zeigt Freud deutlich, daß für ihn Psychoanalyse, Psychotherapie und die Beschäftigung mit kulturellen Problemen nicht lediglich Gegensätze sind, sondern daß seine psychoanalytische Beschäftigung mit Kultur auch therapeutische Interessen enthält (daß er sich aber auch hier nicht vom furor sanandi erfassen läßt). Er schreibt dort: »Auch stößt die Diagnose der Gemeinschaftsneurosen auf eine besondere Schwierigkeit.

24. S. Freud: »Nachschrift 1935«, S. 32 f. 25. Sigmund Freud: »Das Unbehagen in der Kultur«, in: ders., Gesammelte Werke, 14. Bd., London 1948, S. 502. 26. Dies beträfe auch das, was das deutsche Psychotherapeutengesetz (in Art. 1, § 1 [3]) von der Psychotherapie abgrenzt: »psychologische Tätigkeiten, die die Aufarbeitung und Überwindung sozialer Konflikte oder sonstige Zwecke außerhalb der Heilkunde zum Gegenstand haben.« 27. S. Freud: »Nachschrift 1935«, S. 32. 28. Ebd., S. 33 f. 400

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Bei der Einzelneurose dient uns als nächster Anhalt der Kontrast, in dem sich der Kranke von seiner als ›normal‹ angenommenen Umgebung abhebt. Ein solcher Hintergrund entfällt bei einer gleichartig affizierten Masse, er müßte anderswoher geholt werden. Und was die therapeutische Verwendung der Einsicht betrifft, was hülfe die zutreffendste Analyse der sozialen Neurose, da niemand die Autorität besitzt, der Masse die Therapie aufzudrängen? Trotz aller dieser Erschwerungen darf man erwarten, daß jemand eines Tages das Wagnis einer solchen Pathologie der kulturellen Gemeinschaften unternehmen wird.«29 Freud interessiert die »bereits organisierte Kultureignung der heute lebenden Menschen«; ihm liegt an der Frage, wie »wirklich kulturelle Menschen« entstehen. Bei aller Skepsis äußert er, daß »die Aufrechterhaltung der Kultur auch auf so bedenklicher Grundlage [nämlich der ›Kulturheuchelei‹; C.-D.R.] die Aussicht [bietet], bei jeder neuen Generation eine weitergehende Triebumbildung als Trägerin einer besseren Kultur anzubahnen.«30 Und auf den Vorwurf, die Psychoanalyse sei kulturfeindlich, antwortet er deshalb, sein Unbehagen richte sich keinesfalls gegen Kultur überhaupt, sondern gegen bestimmte ihrer Züge, Bedingungen und Forderungen. Er verkündet sogar: »Die psychoanalytische Arbeit stellt sich […] als ein besserer Ersatz für die erfolglose Verdrängung geradezu in den Dienst der höchsten und wertvollsten kulturellen Strebungen.«31 Wenn cura und cultura bei Freud einander nicht äußerlich bleiben, sondern vermittelt sind, manifestieren sich dann die kulturellen Fragestellungen, die ihn als Jüngling fesselten, nicht auch schon bei dem jungen Psychoanalytiker vor 1912, also vor Totem und Tabu? Und zwar grundlegender als in seinen Äußerungen über Kulturelles – also über Kunst und Literatur, den Witz oder über Die ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne Nervosität (kulturelle setzt er in diesem Titel von 1908 kritisch in Anführungszeichen): nämlich als Verortung der Kultur im Psychischen? Kultur – oder genauer gesagt: eine Verbindung von überliefertem Kulturgut und unmittelbarer Erfahrung – steckt beim jungen Psychoanalytiker Sigmund Freud in einer Lücke: in dem Spalt zwischen der »Wunschbesetzung des Erinnerungsbilds« und der »Wahrnehmungsbesetzung«32, also zwischen etwas Wiederzufindendem und dem momentan Vorgefundenen. Zur spezifischen Aktion, also zur Erregungsabfuhr nach außen, kommt es nämlich erst, wenn Erinnerung und Wahr-

29. S. Freud: »Unbehagen«, S. 505. 30. Sigmund Freud: »Zeitgemäßes über Krieg und Tod«, in: ders., Gesammelte Werke, 10. Bd., London 1946, S. 336. 31. Sigmund Freud: »Über Psychoanalyse. Fünf Vorlesungen«, in: ders., Gesammelte Werke, 8. Bd., London 1943, S. 57. 32. Sigmund Freud: [»Entwurf einer Psychologie«], in: ders., Gesammelte Werke, Nachtragsband, Frankfurt a. M. 1987, S. 423 f. 401

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nehmung ganz oder teilweise übereinstimmen. Im zweiten Fall kann Kultur die nötigen Vermittlungen herstellen, d. h. – in der Ausdrucksweise des »Entwurfs einer Psychologie« (1895) – zwischen den Neuronen a–b und a–c. Das in beiden Neuronen vertretene Neuron a ist das »Ding«, das selbst nicht erreichbar ist; es kommt auf die Relation der beiden Attribute oder Eigenschaften b und c an. In dieser Lücke zwischen b und c wirkt die Sprache wie eine intelligente Zwischenschicht; sie lenkt das Denken auf geordnete bzw. verordnete Bahnen oder Bahnungen. Zum einen durch ihre internen Mechanismen (langage), das Spiel der Signifikanten, zum anderen durch die in jeder einzelnen langue erhaltenen Erfahrungsschätze, Savoir-faire; dazu gehört ein Zu-Genießen-Wissen, das Lacan lalangue nennt, und ein Wissen um Möglichkeiten des Verdrängens und die Wege der Symptombildung. Auch in einer weiteren Hinsicht findet in der besagten Lücke Kulturarbeit statt: Sobald nämlich zwischen dem Erinnerten und dem Vorhandenen keine Vermittlung möglich ist, also weder Identisches gegeben noch etwas mit dem überlieferten Wissen und den gedanklichen Sprachoperationen anzufangen ist, erfolgt anstelle der »Veränderung in der Außenwelt« eine »innere Veränderung«; das heißt konkret: »Ausdruck der Gemütsbewegung, Schreien, Gefäßinnervation.«33 Auch hierbei ist Sprache von Bedeutung, denn sie ermöglicht den Appell an den großen Anderen: »Der menschliche Organismus ist zunächst unfähig, die spezifische Aktion herbeizuführen. Sie erfolgt durch fremde Hilfe, indem durch die Abfuhr auf dem Wege der inneren Veränderung ein erfahrenes Individuum auf den Zustand des Kindes aufmerksam gemacht [wird]. Diese Abfuhrbahn gewinnt so die höchst wichtige Sekundärfunktion der Verständigung, und die anfängliche Hilflosigkeit des Menschen ist die Urquelle aller moralischen Motive.«34 Diese Darlegung zeigt, daß Freud bereits vor 1900 in einem spezifischen Sinne die »Ursprünge von Religion und Sittlichkeit« erforscht! Aufgrund der Besonderheiten der menschlichen Psyche sind Sprache und Kultur nicht sekundäre Umweltfaktoren, sondern Lebensmittel, und zwar schon für das Kleinkind. Sprache und Kultur eröffnen also Wege jenseits einer unmittelbaren Befriedigung und bewahren das Subjekt, wenn es sich auf sie, als lebenslange Umwege, einläßt, vor einem bloßen ›trial and error‹ und vor der Alternative ›alles oder nichts‹; sie ermöglichen ihm ein Jenseits des Terrors, des Anspruchs, des Kriegens und des Krieges. Daß dies überlebensnotwendig sein kann, besagt das Sprichwort: »Was der Bauer nicht kennt, das frißt

33. S. Freud: [»Entwurf einer Psychologie«], S. 410. 34. Ebd., S. 410 f. (Hervorhebungen im Original). 402

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ÜBERTRAGUNGSGEFAHR

er nicht«, das einen Mangel an Erfahrungsmöglichkeiten auf ein Festhaltenmüssen an einem nicht weiter vermittelbaren »Ich will das oder gar nichts!« zurückführt, also auf einen Kulturmangel. Erst Kultur, als der unpersönliche große Andere, macht den einzelnen zum Subjekt (assujetti), das begehren kann – und zwar auch dann, wenn er nicht »kulturinteressiert« ist. Erst durch sie und mit ihr können die Menschen ihre kollektive und individuelle »Lebenstechnik«35 und »Glücksökonomie«36 entwickeln. Dem jungen Psychoanalytiker Freud stellen sich also die erwähnten Vermittlungsfragen in mehrfacher Hinsicht: erstens als Vermittelbarkeit einer früheren mit einer aktuellen Wahrnehmung (»Wunschbesetzung des Erinnerungsbilds« und »Wahrnehmungsbesetzung«), zweitens als Möglichkeit, dem Anderen etwas zu vermitteln, also mit Hilfe der rhetorischen Funktionen Verständigung zu erzielen. In bezug auf beide Vorgänge muß Freud als Praktiker der ›talking cure‹ das Verhältnis von Symbol, Symbolisierung und symbolischer Ordnung interessieren.37 Dazu gehören auch die Funktionsweise der sprachlichen Mittel, die Verbindlichkeit des Vermittelten sowie ein eventuelles Versagen kultureller Regulative. Die Leistungen und Einrichtungen der Kultur dienen Freud zufolge zwei prinzipiellen Zwecken: »dem Schutz des Menschen gegen die Natur und der Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander.«38 Von dieser allgemeinen Bestimmung aus untersucht er die besonderen Verhältnisse in den verschiedensten Bereichen. Er zieht als ›Kultur‹ nicht bloß das Schöne und das Gute in Betracht, sondern befaßt sich selbstverständlich auch mit dem Niederen und Alltäglichen, also mit Fragen des antiken Mythos ebenso wie mit den Rätseln aktueller Moden. Freud sagt ausdrücklich, er »verschmähe es, Kultur und Zivilisation zu trennen.«39 Doch nicht alle Phänomene, die den zivilisierten und kultivierten Menschen Freud interessieren konnten, sind auch für den Psychoanalytiker Freud von Interesse. Im Zusammenhang der psychoanalytischen Kur geht es in erster Linie um das Feld der symbolischen Ordnungen, des nomos – als Name und Gesetz –, der Ethiken oder Verkehrsregeln. Es geht dabei vor allem um die Bedeutung kultureller Phänomene – beispielsweise der elementaren Strukturen der Verwandtschaft – als Regulierungsmöglichkeiten des Genießens bzw. der Forderungen des

35. 36. 37. 38. 39.

S. Freud: »Unbehagen«, S. 441. Ebd., S. 446. Vgl. dazu die Studien über Hysterie und die Traumdeutung. S. Freud: »Unbehagen«, S. 448 f. Sigmund Freud: »Die Zukunft einer Illusion«, in: ders., Gesammelte Werke, 14. Bd., London 1948, S. 326; vgl. auch ders., »Unbehagen«, S. 448 f. 403

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Eros und des Aggressionstriebs. Freud interessiert hauptsächlich, wie die Einzelnen mit den auferlegten Vorschriften, also den Idealforderungen, Grenzziehungen und Verboten umgehen, wie sie sich über sie hinwegsetzen und auch sich selbst Gesetze setzen (etwa im Fall der Perversionen). Das soziale Moment der »Individualpsychologie«, nämlich daß »im Seelenleben des Einzelnen […] ganz regelmäßig der Andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner in Betracht« kommt40, kann man insofern auf beide Dimensionen des Anderen beziehen, das heißt: nicht nur auf den persönlichen Anderen, also nicht nur auf das »Verhältnis des einzelnen zu seinen Eltern und Geschwistern, zu seinem Liebesobjekt, zu seinem Lehrer und zu seinem Arzt«41, sondern zugleich auch auf den unpersönlichen Anderen, also auf Sprache und Kultur. Im einzelnen bedeutet das: Der persönliche Vater kann dem Knaben Vorbild sein, aber auch Objekt; im ersten Fall, der primären Identifizierung, will der Kleine so sein wie der Vater, im zweiten Fall will er den Vater haben, woraus eine regressive Identifizierung folgen kann. Der Vater kann Helfer sein, als derjenige, der einen Appell erhört und das Kind begehren lehrt, und er kann Gegner sein, weil er dem Knaben bei der Mutter im Wege steht: dessen »Identifizierung mit dem Vater nimmt jetzt eine feindselige Tönung an und wird mit dem Wunsch identisch, den Vater auch bei der Mutter zu ersetzen«42 (Ödipuskomplex). Diese Ambivalenz der Identifizierung – »sie kann sich ebenso zum Ausdruck der Zärtlichkeit wie zum Wunsch der Beseitigung wenden« – veranschaulicht Freud an der oralen Phase, »in welcher man sich das begehrte und geschätzte Objekt durch Essen einverleibte und es dabei als solches vernichtete. Der Kannibale bleibt bekanntlich auf diesem Standpunkt stehen; er hat seine Feinde zum Fressen lieb, und er frißt die nicht, die er nicht irgendwie liebhaben kann«43 (dieser Bezug auf etwas Bekanntes illustriert Freuds Arbeit mit »zwei Bühnen«). Als Vorbild, Objekt, Helfer und Gegner kann auch die »einverleibte« Kultur – und damit auch die Sprache – fungieren. Dieser unpersönliche Andere setzt zum einen Ideale, mit denen man sich identifizieren kann (Aneignung ihrer Werte: kultiviert sein wollen; stolz sein auf »Deutsche Wertarbeit«; zum »Volk der Dichter und Denker« sowie zu einer kulturell geachteten Gruppe gehören wollen); man kann ihn haben wollen, also Kultur vermissen und herbeiwünschen, da sie bei Befriedigungsversuchen hilfreich sein oder eine Entschädigung für bestimmte Entbehrungen bieten kann. Dieser unpersönliche Andere kann

40. 41. 42. 43.

S. Freud: »Massenpsychologie«, S. 73. Ebd. Ebd., S. 115 f. Ebd., S. 116. 404

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aber auch wegen bestimmter strenger Kulturforderungen oder Untersagungen (z. B. des Inzests) abgelehnt, ja, gehaßt werden. Wenn man mit Freud davon ausgeht, daß »das Schuldgefühl […] das wichtigste Problem der Kulturentwicklung« ist und »daß der Preis für den Kulturfortschritt in der Glückseinbuße durch die Erhöhung des Schuldgefühls bezahlt wird«44, dann leuchtet ein, wie stark die Überzeugung ist, »einen großen Teil der Schuld an unserem Elend trage unsere sogenannte Kultur«; allein schon die Tatsache, daß sie gegenüber der unmittelbaren Befriedigung einen Umweg darstellt, läßt sie als Abhaltung von einem einfachen, bedürfnisarmen, glücklichen Leben erscheinen.45 Kultur schafft Bindungen. Sie wird von den Angehörigen einer Kulturgesellschaft hochgehalten und zugleich befeindet. Ihre Bindekraft beruht auf der Identifizierung mit einem gemeinsamen Ideal. Das Bestehen einer Identifizierung »hat unter anderem die Folge, daß man die Aggression gegen die Person, mit der man sich identifiziert, einschränkt, sie verschont und ihr Hilfe leistet.« Freud kommt hier auf das Paradigma der Oralität zurück: Da solche Identifizierungen »auf der Anerkennung einer gemeinsamen Substanz« beruhen, können sie »auch durch eine gemeinsam genommene Mahlzeit geschaffen werden.«46 Die Aufteilung der Speisen in ›rein‹ und ›unrein‹ ist insofern ein wichtiges Mittel zur Bindung interner Aggressivität. Beispielsweise erfolgt beim christlichen Abendmahl, der Kommunion, sowohl eine vertikale Identifizierung (mit dem symbolischen Jesus) als auch eine horizontale Identifizierung (Gemeindebildung derer, die sich eine idealisierte Speise teilen). Es ist eines der Rituale, die der Bekräftigung der symbolischen Identifizierung von Leuten dienen, die etwas Drittes miteinander teilen. Derjenige, mit dem ich das Brot teile, wird mein Kumpan (cum-panis, compagno, copain …).47 Im Alltagsleben moderner Gesellschaften werden solche Zusammenhänge nur in Krisenfällen ausdrücklich geäußert; normalerweise sind sie in den fein verästelten nationalen Verbrauchergewohnheiten, modernen Diätlehren usw. nur schwer erkennbar. Eine Art Relikt ist die augenzwinkernde Begründung, mit der man in Frankreich bei einer Tischgesellschaft eine Speise, die einem nicht schmeckt, zurückweisen darf: »Non merci, ma religion me l’interdit.« Eine besondere Determinante der Kulturfeindschaft erkennt Freud im Konflikt zwischen Eros und Todestrieb. Einerseits wolle die Kultur, die »ein Prozeß im Dienste des Eros [ist], […] vereinzelte

44. 45. 46. 47.

S. Freud, »Unbehagen«, S. 494. Ebd., S. 445. S. Freud: »Massenpsychologie«, S. 121 Anm. 2. Claus-Dieter Rath: »Nahrung«, in: Christoph Wulf (Hg.), Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim / Basel 1997, S. 243–256. 405

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menschliche Individuen, später Familien, dann Stämme, Völker, Nationen zu einer großen Einheit, der Menschheit, zusammenfassen«48, doch andererseits widersetze sich »diesem Programm der Kultur […] der natürliche Aggressionstrieb der Menschen, die Feindseligkeit eines gegen alle und aller gegen einen.«49 Der Ausdehnungsprozeß einer Kulturgemeinschaft beengt paradoxerweise den Spielraum des Einzelnen und steigert dessen Abwehr gegen Triebeinschränkung, mithin seine kulturfeindlichen Neigungen. Je größer – ja, globaler – diese Einheit wird, desto schwerer fällt der Zusammenhalt der Gemeinschaft, denn sie impliziert die unrealistische Forderung nach allgemeiner Menschenliebe, woraus folgt, daß man immer mehr schuldig bleibt, weil man über seine Mittel lebt. Von daher hält Freud es für einen »Vorteil des kleinen Kulturkreises, daß er dem Trieb einen Ausweg an der Befeindung der Außenstehenden gestattet.« Es sei nämlich »immer möglich, eine größere Menge von Menschen in Liebe aneinander zu binden, wenn nur andere für die Äußerung der Aggression übrigbleiben.« Im »Narzißmus der kleinen Differenzen«, der zwischen einander befehdenden oder verspottenden Nachbarn zum Zuge kommt, sieht er »eine bequeme und relativ harmlose Befriedigung der Aggressionsneigung, durch die den Mitgliedern der Gemeinschaft das Zusammenhalten erleichtert wird.«50 So habe fast überall das versprengte Volk der Juden diese Funktion der Außenstehenden, die einen Zusammenhalt des jeweiligen Wirtsvolks bewirken. Ordnungsverändernde Einwirkungen der Fremden bzw. äußerer Mächte werden als – ärgerliche oder manchmal auch willkommene – Schmähung der bisherigen kollektiven Ideale erlebt. Neue Kulturforderungen schmälern manche Freiräume, etwa regionale Formen des ZuGenießen-Wissens (neurotischer oder perverser Art). Beispielsweise erleben deutsche Autofahrer im Zuge der europäischen Einigung durch die einheitliche Geschwindigkeitsbegrenzung eine Beschneidung ihres Ideals ›Freie Fahrt für freie Bürger‹. Andererseits können neue Ordnungen eine Befreiung vom Druck lokaler Konventionen oder Standesordnungen darstellen. So trugen die amerikanischen Blue Jeans zu einer Revolutionierung der bürgerlichen Kleiderordnung europäischer Gesellschaften bei. Die Entwertung bestimmter Leitwerte erstreckt sich auch auf die Leitfiguren und Idole, die sie verkörpern. Als ein Resultat dieser ödipalen, gegen die herrschende Ordnung gerichteten Momente beklagt fast jede Generation einen Sittenverfall und einen Verlust der Kulturwerte:

48. S. Freud: »Unbehagen«, S. 481 u. 500. 49. Ebd., S. 481. 50. Ebd., S. 474. 406

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›Ja, ja, die Jugend von heute‹, oder im Italienischen: ›Non c’è più religione‹. Bisweilen bewirkt die Ausdehnung einer Gemeinschaft nicht nur eine relative Lockerung der Bindungen oder eine punktuelle Erleichterung der Triebbefriedigung, sondern die allgemeine Aufhebung zentraler Werte, mit denen ihre Mitglieder sich bislang gemeinsam identifiziert haben (oder sich identifiziert sahen): ein Schwinden des großen Anderen, der Halt bietet und Einhalt gebietet und der ein wichtiger Bezugspunkt der Triebregulierung ist. Das drohende oder tatsächliche Einreißen von Grenzen wird schnell mit neuen ›Identitätspolitiken‹ beantwortet, also mit einer Bekräftigung oder Modifizierung des Eigenen. Dies bringt meist neue Grenzziehungen mit sich, etwa durch die Betonung einer Bedrohung von außen, beispielsweise in Gestalt einer weltweiten ›islamistischen Bewegung‹. Den weltumfassenden Ruf nach Vereinigung und Verständigung (›come together‹, ›One World‹) begleitet die Forderung, eine Botschaft zugleich universell und eindeutig zu kodieren und zu dekodieren. Solch eine Tendenz zum ›Totalitarismus des Kodes‹, mit dem das Bild eines geschlossenen Gesellschaftskörpers aufrechterhalten werden soll, äußert sich als teils scharfer, teils milder Zwang, ›richtig‹ zu kommunizieren. Er zielt auf die Einschränkung der Vieldeutigkeit, der Metaphorisierung und der Poesie zugunsten einer Einheitlichkeit des Verständnisses. Dieser Zwang bestimmt auch jene kleinen, begrenzten Gemeinschaften, deren Mitglieder behaupten, aufgrund irgendwelcher biologischer Faktoren sich unmittelbar miteinander zu verstehen, also »das gleiche Zeichen auf dieselbe Weise« zu lesen (so Lasswells Kommunikationsformel). Mitsprechen können soll nur, wer dazugehört. Andersartig Erscheinenden wird also jegliche Zugangsmöglichkeit abgesprochen. Als Gefährdung des Gesellschaftskörpers werden auch diejenigen empfunden, deren Tun und Sprechen dem Kode zuwiderläuft oder sich ihm überlegen zeigt, und die Botschaften nicht einfach »dekodieren«, sondern befragen. Die Suche nach einem deutlich erkennbaren ›Guten‹ und ›Schlechten‹, die zu dieser Dialektik von Einschluß und Ausschließung gehört, begleiten bestimmte Phallisierungen, nämlich die Überhöhung des Fremden, des Brandneuen oder Uralten in Gestalt von Folklorismus, Exotismus und Traditionsfiktionen. 51 Es scheint, daß je stärker

51. Schon in seinem Rückblick auf die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts sprach Walter Benjamin von so etwas: »Eine ganz neue Armseligkeit ist mit dieser ungeheuren Entfaltung der Technik über die Menschen gekommen. Und von dieser Armseligkeit ist der beklemmende Ideenreichtum, der mit der Wiederbelebung von Astrologie 407

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der weltweite Zug zur Einheit und zur Einheitlichkeit, desto ausgeprägter der »Narzißmus der kleinen Differenzen« in Gestalt von harmlosen Schrullen bis zu militanten Regionalchauvinismen und Rassismen. Ein historisches Beispiel solcher Entgrenzung ist der Fall der Grenzen zwischen Ost und West im Jahr 1989: die Aufhebung des eisernen Vorhangs zwischen dem Reich des Guten und dem Reich des Bösen bewirkte zugleich eine Aufhebung wichtiger symbolischer Bindungen. Als ein weiteres Angstsignal erschien etwa zur gleichen Zeit die angekündigte Ablösung der Deutschen Mark durch eine europäische Einheitswährung. Die eigene Währung – als die ›Gewährleistung‹ eines gemeinsamen Maßes – sollte verschwinden und einem mit der europäischen Völkergemeinschaft zu teilenden Wertmaßstab Platz machen. Die Ungewißheit dieses zusätzlichen Werte-Wandels wurde als unerträgliche Schwächung erlebt. Man bangte dem Verlust der »starken Mark« entgegen. Diese mit so viel Macht, Glanz und Bindevermögen ausgestattete phallische Institution wird auch mit dem Mark assoziiert – weshalb der Spruch ›Es geht mir durch Mark und Bein‹ scherzhaft verdreht wird zu: ›Es geht mir durch Mark und Pfennig‹. Das Sprachbild ›Jemandem das Mark aus den Knochen saugen‹ konnte in jenen Jahren auf die Ankunft der ›Brüder und Schwestern von drüben‹ zutreffen, die ›unser Geld‹ wollten, in erster Linie aber auf die Phantasie einer über die Bundesrepublik hereinbrechenden ›Flut‹ ausländischer Flüchtlinge, die zu Lasten der Einheimischen auf Staatskosten lebten. Solche Schwächungsphantasien tragen zu einer Phallisierung der Fremden bei, die ihrerseits eine Xenophobie nährt: sie erscheinen als allmächtige Wesen, die einem alles wegnehmen können: Sozialhilfe, Arbeitsplätze, Wohnungen, Frauen … Moustapha Safouan hat auf die Wichtigkeit der fiducia im Bereich des Geldumlaufs hingewiesen, »weil immer die Gottheit, an die ein Volk glaubt, den Wert seines Geldes garantiert.«52 »Die unlösbare Verbindung zwischen dem Geldwert und der der Gottheit zugebilligten Glaubwürdigkeit« habe mit einem Zwang zu tun, der auf jeder menschlichen Einrichtung lastet und aus dem Verhältnis des Menschen zur Sprache hervorgeht. Nicht im Tausch, also in Gabe und Gegengabe, sei die Seele des gesellschaftlichen Daseins zu finden, sondern im Glauben. Das Geld repräsentiert eine Autorität, ein Wesen, »das per allgemeiner Übereinkunft vertrauenswürdig ist, das heißt, das kein reales Wesen

und Yogaweisheit, Christian Science und Chiromantie, Vegetarianismus und Gnosis, Scholastik und Spiritismus unter – oder vielmehr über – die Leute kam, die Kehrseite. Denn nicht echte Wiederbelebung findet hier statt, sondern eine Galvanisierung« (W. Benjamin: »Erfahrung und Armut«, S. 214 f.). 52. Moustapha Safouan: »Gesellschaft und Glauben«, in: Jutta Prasse / Claus-Dieter Rath (Hg.), Lacan und das Deutsche, Freiburg i.Br. 1994, S. 133. 408

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sein kann und wenn’s ein König wäre.«53 Solch ein Wesen, von dem man annimmt, es sei im Besitz der Wahrheit, ist buchstäblich kreditwürdig. Das Übertragungspotential einer Währung veranschaulicht eine kleine Notiz des gerade von seiner Amerikareise zurückgekehrten Freud an Jung: »Ich habe die Dollars heute in Geld der hiesigen Religion umgewechselt.«54 »[Wenn für Walter Benjamin] die Erfahrung […] im Kurse gefallen« ist, dann bezieht sich diese Diagnose auch darauf, daß die wirtschaftlichen ›Erfahrungen‹ der Menschen gründlich Lügen gestraft worden seien, etwa infolge der Inflation. Er faßt die Erfahrungsarmut sogar in ein Bild aus der Geldwirtschaft: »Arm sind wir geworden. Ein Stück des Menschheitserbes nach dem anderen haben wir dahingegeben, oft um ein Hundertstel des Wertes im Leihhaus hinterlegen müssen, um die kleine Münze des ›Aktuellen‹ dafür vorgestreckt zu bekommen. In der Tür steht die Wirtschaftskrise, hinter ihr ein Schatten, der kommende Krieg.« 55 Heute ist das ›Aktuelle‹ eine permanente Initiations-Instanz der Subjekte. Es besteht aus einer Abfolge von kleinen und großen Schocks, von Umstürzen und Umwertungen, deren Präsentation zu verstehen gibt, was neuerdings für ›angesagt‹ gilt, was ›in‹ sei und was ›out‹, was ›oben‹ und was ›unten‹, eben: »wie die Aktien stehen«. Eines der wichtigsten Felder der Aktualität ist nämlich das Börsengeschehen mit den allerneuesten Nachrichten vom Steigen und Fallen der Kurse. Im Moment der Auflösung mancher Währungsgrenzen – und der allgemeinen Suche nach einer mächtigeren Instanz – präsentiert sich das Geld heute in einem neuen spektakulären phallischen Gewand. Seine Bühne ist die Wertpapierbörse. Das Anlegerverhalten an der Börse, sagen Kenner, beruhe auf bestimmten Erwartungen56, es sei eine Sache des Glaubens, der ›Psychologie‹. Auch die vom Gewinnfieber angeheizten Spekulationen der ›global player‹ beruhen auf Glauben. Ihr Credo gilt nicht einem Sein, sondern einem Werden, nicht einer Währung, sondern einem Markt, der sich – analog zum Trieb und den erogenen Zonen – aus vielen Märkten zusammensetzt. Seit Mitte der neunziger Jahre hat sich nicht nur dieser Glaube vermehrt, sondern auch die Zahl der praktizierenden Gläubigen. Viele, die einst beim Zeitunglesen als erstes den Wirtschaftsteil aussortierten, nehmen sich heute erwar-

53. Ebd., S. 135 f. In seiner 1900 erschienenen Philosophie des Geldes spricht Georg Simmel von einer Sakralisierung des Geldes zu einer Art absoluten Heilsgutes. 54. Sigmund Freud / Carl Gustav Jung, Briefwechsel, Frankfurt a. M. 1974, S. 275 (Freud an Jung, 4.10.1909). 55. W. Benjamin: »Erfahrung und Armut«, S. 219. 56. Karl-Heinz Bilitza: Stichwort Börse, München 1992, S. 79 ff. 409

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tungsfreudig die neu entstandenen Beilagen mit Investoren-Tips »für den privaten Anleger« vor, arbeiten Geldmagazine durch und verfolgen das Börsenfernsehen. Woran orientiert sich solch eine Investition? Es ist eine Frage des Glücks, des Gespürs, der eigenen Nase, der Tips von Experten, der Insider-Informationen oder der Börsen-Gerüchte. Wer Wertpapiere kauft und verkauft, muß nämlich erste Anzeichen eines »Trends« erfassen, minimale »Stimmungsänderungen« oder Schwankungen des »Börsenklimas« rechtzeitig registrieren, bevor »die Stimmung sich dreht« und es zu einer »Trendwende« oder gar zu einer »Talfahrt« kommt. Oft werden schon beim leisesten Verdacht, der ›gute Name‹ eines Wertpapiers könne ins Wanken geraten, die Papiere schlagartig »abgestoßen«. So verwischen sich bisweilen die Grenzen zwischen Finanzgeschäft und Glücksspiel. In diesem Fall hat das Geldanlage-Busineß gar nichts mehr mit »Wertarbeit« gemein, sondern wird ein Punktesammeln, das von dem mehr oder weniger zufälligen Tun der anderen abhängt. Ein »Vermögensmanager« äußert in einem Interview: »An der Börse wechseln Gier und Angst einander ab. Es gibt diesen spekulativen Typen, der muß da immer mitmachen. Und es gibt den klassischen Altersvorsorger, der über einen Sparplan jeden Monat einen festen Betrag investiert.« Ob Risikokapitalgeber oder braver Anleger, ob einer nun die schnelle Mark machen, zocken, seine Papiere »halten« oder bedächtig sein Vermögen anhäufen will – daß an den Vorgängen des Aktienverkehrs anale Lust beteiligt ist, also der Lustnebengewinn aus der Defäkation bzw. der Zurückhaltung des Kots, äußert Sándor Ferenczi schon 1914 in seinem Aufsatz Zur Ontogenie des Geldinteresses: »[D]as symbolische Interesse am Geld beim Erwachsenen [wird] nicht nur auf Gegenstände mit ähnlichen physikalischen Eigenschaften, sondern auf allerlei Dinge ausgedehnt, die irgendwie Wert oder Besitz bedeuten (Papiergeld, Aktien, Sparkassebuch usw.). Mag aber das Geld was immer für Formen annehmen: die Freude an seinem Besitz hat ihre tiefste und ergiebigste Quelle in der Koprophilie. Mit diesem irrationalen Elemente wird jede Soziologie und Nationalökonomie, die die Tatsachen ohne Voreingenommenheit prüft, rechnen müssen.«57 Die Untersuchung des heutigen Börsengeschehens sollte neben dem Genuß an diesem Begehrensobjekt (der analen Version des Objekts klein a) und neben möglicherweise neuartigen analen Charakterzügen einen Wandel der Subjektbindungen würdigen, der die Ausrichtung am großen Anderen und an den Nebenmenschen, also die vertikalen als auch die horizontalen Bindungen umfaßt. Erstere betreffen den Glau-

57. Sándor Ferenczi: »Zur Ontogenie des Geldinteresses«, in: ders., Bausteine zur Psychoanalyse, Bd. 1, Frankfurt a. M. / Berlin / Wien 1984, S. 116. 410

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ben an die wahren (Börsen-)Werte, das Savoir-faire mit den Kursen, Gewinnstrategien und ethischen Prinzipien, letztere betreffen die Einschätzung der Mit-Bieter, denn das Handeln der einzelnen im Börsengeschehen hängt nicht ausschließlich davon ab, wie sie die allgemeine Liquidität und den guten Namen eines Wertpapiers beurteilen, sondern wesentlich auch davon, wie sie das Verhalten der anderen, der Mit-Anleger, einschätzen. Daher können Gerüchte über Verkäufe oder Ankäufe zur plötzlichen Umwertung aller Börsen-Werte führen; der einzelne Anleger zieht also mit oder tut das gerade Gegenteil. So äußert ein Börsenberater über den für viele traumatischen »Crash« im Jahr 2000: »Mangelndes kritisches Bewußtsein könnte die New Economy zum Einsturz gebracht haben. Eine ungehemmte Massenhysterie, die in einer Kettenreaktion bis zum Kleinanleger durchdrang. Alle machten mit, keiner wollte zurückbleiben. Ein Jahr später waren 180 Milliarden Mark verbrannt.« Derartige Vorgänge tragen zu einer beschleunigten Entwertung des verbindlichen Wissens, ja, zur Verflüssigung des Kulturerbes bei, denn sie bedeuten mehr als lediglich eine weitere Verdichtung im Interdependenzgeflecht der Individuen; sie betreffen die Relation zwischen dem Kurs und dem Diskurs, einem sozialen Band, das man spaßeshalber »Diskurs des Analysten« nennen könnte, das aber dem hysterischen Diskurs entspricht.58 Die kollektive Hysterie besteht in der massenhaften Identifizierung mit dem Symptom der anderen, das wiederum auf deren Glauben oder Wissen beruht. Ein solcher Bindungswandel schlägt sich auch in der Sprache nieder. So verbreitet sich seit Mitte der neunziger Jahre im Journalismus und im Alltag die Wendung »setzen auf« (›Der Bundeskanzler setzt auf die Vernunft der Gewerkschaften‹, ›Die Wirtschaft setzt auf neue Konzepte‹, ›Die Sportveranstalter setzen auf günstigere Witterungsbedingungen‹). Der Ausdruck stammt aus dem Glücksspiel: Beim Pferderennen oder beim Roulette setzt man den Geldbetrag, den man wettet, auf den Namen oder das Spielfeld, an dessen Gewinn man glaubt. Das Vorrücken des »Setzens« indiziert ein Abrücken von einer soliden Institution, auf die man langfristig »bauen« konnte: jetzt »baut« man nicht mehr auf …, sondern man »setzt« auf … Das heißt auch: Man kann nicht mehr »abbauen« oder »umbauen«, denn das Setzen ist ein irreversibler Akt (»rien ne va plus«). Man riskiert einen nicht unbeträchtlichen Teil des eigenen (oder eines anvertrauten) Vermögens: man setzt etwas aufs Spiel. Wer nicht schon alles verloren hat, kann auf eine neue Runde hoffen und erneut setzen – wieder auf denselben oder auf einen neuen

58. »Analysten« sind die Deuter des Börsengeschehens. (Im Englischen und im Französischen bezeichnet das Wort »analyst« zugleich den »Analytiker«.) 411

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Titel. Mit jedem Einsatz verschiebt man eine Investition – den anfänglich investierten Betrag, sofern er erhalten geblieben ist, oder auch das Hinzugewonnene. Übrigens steht »Investition« in einigen Sprachen für den psychoanalytischen Begriff der Libido-»Besetzung« (französisch: investissement, italienisch: investimento). Man kann deshalb den Vorgang in libido-ökonomische Termini so übersetzen: Der Akteur muß – seinem aktuellen Glauben folgend – kurzfristig ein Objekt besetzen, diese Besetzung dann rapide wieder abziehen und sie auf ein neues gewinnversprechendes Objekt transferieren, übertragen. Diese Art von Energieverteilung, also schnell wachgerufenes und ebensoschnell wieder erlöschendes Interesse, materialisiert sich im Geldverkehr auf den Finanzmärkten. Obwohl der Anleger ständig vom allgemeinen Trend abhängt, erlebt er nur einsame Triumphe und einsame Niederlagen oder Abstürze. Kollektiven Jubel oder gemeinsamen Jammer gibt es so gut wie nie (es sei denn, das Börsenfieber bricht aus oder das gesamte System »spielt verrückt«). Aus dem Mangel des »Setzens auf« entwickelt er einen Habitus, den man »Suche Anschluß« nennen könnte. Man sagt, jemand habe Anschluß gefunden oder den Anschluß verpaßt – ersteres bezieht sich auf soziale Bindungen, letzteres auf eine Verkehrsverbindung, auf eine Karriere oder auf den richtigen Zeitpunkt für die Verbindung mit einem Lebensgefährten. Auch vom Anschluß eines Landes ist die Rede, also vom historischen »Anschluß« Österreichs 1938, der sich ja direkt auf Freuds Leben ausgewirkt hat; manche nennen auch die deutsche Wiedervereinigung 1990 einen »Anschluß« der DDR. In der Wirtschaft begegnen uns Anschlüsse etwa als »feindliche« oder »freundliche« Übernahmen. In jedem dieser Fälle wirkt das Bestreben, sich anzudocken, sich zu vereinigen, gemäß der von Freud angeführten Tendenz des Eros, »vereinzelte menschliche Individuen, später Familien, dann Stämme, Völker, Nationen zu einer großen Einheit, der Menschheit, zusammen[zu]fassen.« Das in den Globalisierungsbewegungen vereinzelte Individuum sucht nach einer Vernetzung. Mobiltelefon und Internet sind ihm Verbindungsinstrumente und zugleich Investitionsobjekte; sie gehören folglich zu den hoch notierten Kommunikationstiteln des »Neuen Marktes«. Das System des Internet fungiert zugleich als Repräsentant des großen Anderen und als Netz von Gleichgestellten ohne gemeinsamen Bezugspunkt. Organisation an und für sich wird dabei zu einem Fetisch gemacht. Die Verständigung, von der Freud im »Entwurf einer Psychologie« spricht, wird zu ihrem eigenen Hauptgegenstand – und zwar als abstrakte Idee eines »Kommunizierens« an sich, eines »Irgendwie-InVerbindung-Bleibens« und »Kontakthabens« ohne Bezug auf etwas Drittes. Die Internet-Nutzung gleicht der Anrufung einer unerschöpflich scheinenden Wissensinstanz, die geben soll, was einem fehlt. Übrigens ist in mehreren Ländern das Abschließen von Wetten ein wichti412

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ger Sektor des Internet. Die Subjekte appellieren, rufen den großen Anderen an, erheischen Hilfe; sie wollen vom Anderen erhört werden und mit Hilfe von Suchmaschinen etwas finden. Anders gesagt: Der große Andere wird gelöchert. Was tun die Subjekte mit den heute gängigen Kommunikations-Gadgets noch? Sie freuen sich, wenn sie angeschlossen, wenn sie »drin« sind; sie rufen sich gegenseitig an, sie fühlen sich moralisch verpflichtet, überall und jederzeit zu antworten (sich zu melden), zur Ordnung gerufen zu werden und auf Schritt und Tritt Rechenschaft abzulegen; sie sind bereit, überwacht zu werden und zu überwachen (z. B. durch Videokameras in den Städten), andere vorzuführen, aber auch sich selbst vorzuführen und sich vorführen zu lassen wie in Orwells »Big Brother«. Zugleich fürchten sich die Subjekte vor der Ansteckung mit Fremdem, wie im Falle von AIDS oder der Computerviren, und manifestieren Allergien, d. h. Überempfindlichkeiten gegen Fremdstoffe. Dergestalt treffen sich im Bereich der modernen Verständigungsmittel – mit den Bindungsphänomenen des »Setzens auf« und des »Sich-Anschließens an« – mehrere Bedeutungen von »Übertragung«: die technische (Übermittlung, Transmission, »Übertragungsgeschwindigkeit«), die medizinische (Ansteckung, Infektion, »Übertragungsgefahr«) und die psychoanalytische (Transfert im seelischen Haushalt, »Übertragungsliebe« und »negative Übertragung«). Eine bestimmte Ansteckungs- oder Übertragungsgefahr hat Freud im Sinn, als er Ende der zwanziger Jahre vor einem »psychologischen Elend der Masse« warnt.59 Dieses Elend, das er damals in den USA schon realisiert sieht, beruht im Unterschied zu der von ihm immer wieder kritisierten »›kulturelle[n]‹ Sexualmoral« nicht auf übermäßiger Triebeinschränkung, sondern es liegt ihm eine Art gesellschaftlicher Bindung zugrunde, die »hauptsächlich durch Identifizierung der Teilnehmer untereinander hergestellt wird, während Führerindividualitäten nicht zu jener Bedeutung kommen, die ihnen bei der Massenbildung zufallen sollte.«60 In dieser Andeutung einer »Pathologie der kulturellen Gemeinschaften« ist »Führerindividualität« nicht unbedingt als autoritäres oder despotisches Ungeheuer zu lesen, sondern als ein Dritter, der Ich-Ideale bzw. bestimmte Kulturwerte verkörpert. Es scheint sich bei dieser Bindung um etwas zu handeln, das noch in späteren Jahrzehnten das »hysterische« Verhalten der Nordamerikaner genannt wird, heute aber zumindest in Bereichen des Lifestyle und der Pop-Kultur auch in Europa als normal gilt.61 Bei der hysterischen

59. S. Freud: »Unbehagen«, S. 475. 60. Ebd. 61. Man könnte es sich so vorstellen: Anstelle der Identifizierung mit einer Führerindividualität und der entsprechenden Triebeinschränkung werden hier die Triebe weni413

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Identifizierung greift der einzelne den Gefühlszustand des Nebenmenschen auf. Dieser ist dabei weder Objekt noch Vorbild; man will also weder den anderen haben noch will man wie er sein, sondern man will etwas ›auch haben‹. Damit komme ich zu einer Herausforderung, ja, Zumutung, die die Psychoanalyse heute darstellt. Sie betrifft eben diesen besonders häufigen und bedeutsamen »Fall der Symptombildung«, bei dem »die Identifizierung vom Objektverhältnis zur kopierten Person ganz absieht.«62 Das Besondere daran stellt Freud in »Massenpsychologie und Ich-Analyse« folgendermaßen dar: »Wenn zum Beispiel eines der Mädchen im Pensionat einen Brief vom geheim Geliebten bekommen hat, der ihre Eifersucht erregt und auf den sie mit einem hysterischen Anfall reagiert, so werden einige ihrer Freundinnen, die darum wissen, diesen Anfall übernehmen.« Dies geschehe »auf dem Wege der psychischen Infektion«. Der Vorgang beruhe darauf, daß andere sich »in dieselbe Lage« versetzen können oder wollen. »Die anderen möchten auch ein geheimes Liebesverhältnis haben und akzeptieren unter dem Einfluß des Schuldbewußtseins auch das damit verbundene Leid«, also das Leiden am hysterischen Symptom. Freud entwickelt dies nun theoretischer: »Es wäre unrichtig zu behaupten, sie eignen sich das Symptom aus Mitgefühl an. Im Gegenteil, das Mitgefühl entsteht erst aus der Identifizierung, und der Beweis hiefür ist, daß sich solche Infektion oder Imitation auch unter Umständen darstellt, wo noch geringere vorgängige Sympathie zwischen beiden anzunehmen ist, als unter Pensionsfreundinnen zu bestehen pflegt. Das eine Ich hat am anderen eine bedeutsame Analogie in einem Punkt wahrgenommen, in unserem Beispiel in der gleichen Gefühlsbereitschaft, es bildet sich daraufhin eine Identifizierung in diesem Punkte, und unter dem Einfluß der pathogenen Situation verschiebt sich diese Identifizierung zum Symptom, welches das eine Ich produziert hat. Die Identifizierung durch das Symptom wird so zum Anzeichen für eine Deckungsstelle der beiden Ich, die verdrängt gehalten werden soll.« 63

ger gezügelt (s. die sprichwörtliche Gewalt im Alltagsleben der USA, Debatten um Waffenbesitz usw.; ›dort geht’s zu wie im Wilden Westen‹), so daß den Massenmedien eine besondere Aufgabe – des Vorgebens von Gefühlslagen bezogen auf bestimmte prominente Zeitgenossen oder auch einfachere Menschen – zukommt, um dadurch die Massenbindung immer wieder aufs neue zu stabilisieren. Dies läßt sich im Falle der USA wohl auch aus der notwendigen Integration völlig unterschiedlicher Kulturen erklären, also durch die zumindest anfängliche Abwesenheit gemeinsamer Ideale. 62. S. Freud: »Massenpsychologie«, S. 117. 63. Ebd., S. 118. 414

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Der durch Infektion übernommene hysterische Anfall der Freundinnen indiziert also eine Deckungsstelle der beiden Ich, hier die Neigung, »auch ein geheimes Liebesverhältnis haben« zu wollen. In diesem besonders häufigen und bedeutsamen Fall der Symptombildung entsteht Identifizierung »bei jeder neu wahrgenommenen Gemeinsamkeit mit einer Person, die nicht Objekt der Sexualtriebe ist […]. Je bedeutender diese Gemeinsamkeit ist, desto erfolgreicher muß diese partielle Identifizierung werden können und so dem Anfang einer neuen Bindung entsprechen.« Die »gegenseitige Bindung der Massenindividuen« sei »von der Natur einer solchen Identifizierung durch eine wichtige affektive Gemeinsamkeit«. Freud vermutet, »diese Gemeinsamkeit liege in der Art der Bindung an den Führer«, und nimmt diese Überlegung im Zusammenhang mit der Hypnose und dem delegierten Ichideal wieder auf.64 Dort beläßt er es jedoch bei der Bemerkung, man sei »weit davon entfernt […], das Problem der Identifizierung erschöpft zu haben«, und kommt ganz überraschend auf die Arbeit des Psychoanalytikers zu sprechen: es sei nämlich zu ahnen, »daß wir vor dem Vorgang stehen, den die Psychologie ›Einfühlung‹ heißt und der den größten Anteil an unserem Verständnis für das Ichfremde andrer Personen hat.«65 Ohne diese Zusammenhänge weiter auszuführen, bemerkt er, daß die Identifizierung sich nicht auf die »nächsten affektiven Wirkungen« beschränkt, sondern auch »für unser intellektuelles Leben« Bedeutung hat. Daß Freud mit diesem Vorgang der Einfühlung nicht irgendeine psychotherapeutische Technik, sondern eine grundsätzliche Frage der psychoanalytischen Arbeit kennzeichnet, ersieht man aus folgender Fußnote: »Von der Identifizierung führt ein Weg über die Nachahmung zur Einfühlung, das heißt zum Verständnis des Mechanismus, durch den uns überhaupt eine Stellungnahme zu einem anderen Seelenleben ermöglicht wird.«66 Da Einfühlung oft als ein verständnisinniges Sich-in-den-anderen-Hineinfühlen, als Durchdrungenwerden eines Ichs durch ein anderes verstanden wird, kommt dieser Passage besondere Bedeutung zu. Man kann sagen, daß im Falle der Massenhysterie aus einer »bedeutsame[n] Analogie in einem Punkt« bzw. einer »gleichen Gefühlsbereitschaft« die Gewißheit einer Gleichheit oder zumindest einer Gefühlsgleichheit entsteht, und daß dabei zweierlei verkannt oder verdrängt gehalten

64. Im Kapitel 8 der »Massenpsychologie«. 65. S. Freud: »Massenpsychologie«, S. 119. 66. Ebd., S. 121 Anm. 2. 415

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wird: zum einen, daß man die psychischen Akte, die man der anderen Person zuschreibt, nur vermuten, also aus ihren Äußerungen und Handlungen67 erraten kann, zum anderen, daß »Gefühl« etwas Bewußtes – nämlich etwas sich Zu-Fühlen-Gebendes – und somit etwas Verschobenes ist, das auf seinen unbewußten Gehalt hin befragt werden sollte. Im Unterschied zu den Pensionatsmädchen bleibt beim Analytiker also Nachahmung aus. Es kommt keine Massenbildung zustande, da die Kur – oder der Kurs des analytischen Diskurses – auf das Begehren des Einzelnen ausgerichtet ist und deshalb kein »ich auch«, kein »wir beide verstehen uns doch« und keine Vereinigung verträgt (häufig auch keine ›Psychoanalytische Vereinigung‹). Im Unterschied also zu einem Anschmiegungs- und Gleichwerdungsvorgang ist der »Mechanismus« der psychoanalytischen Einfühlung der Versuch einer Näherung an das Ichfremde im anderen, und zwar unter Aufrechterhaltung der Verschiedenheit. Diese Einfühlung als »Stellungnahme zu einem anderen Seelenleben« kann man auch Erschließen eines »vermuteten realen Sachverhalts« nennen. In einem seiner letzten Texte grenzt Freud die »Realität«, als etwas sinnlich Wahrnehmbares, gegen das »Reale« ab, das sich der Wahrnehmung und der Darstellbarkeit entziehe, aber dennoch Wirkungen zeitige. Er betont – gegen die Bewußtseinspsychologie gewandt –, daß »die Daten der bewußten Selbstwahrnehmung« sich für das Verständnis der seelischen Funktionen »als unzureichend erwiesen« haben. Die Psychoanalyse habe »die Lücken unserer Bewußtseinsphänomene auszufüllen«; wie eine Naturwissenschaft decke sie »hinter den unserer Wahrnehmung direkt gegebenen Eigenschaften (Qualitäten) des Forschungsobjektes« anderes auf. Es gelte also »eine Anzahl von Vorgängen, die an und für sich ›unerkennbar‹ sind«, zu »erschließen«; wir »schalten sie in die uns bewußten ein und wenn wir z. B. sagen, hier hat eine unbewußte Erinnerung eingegriffen, so heißt das eben: Hier ist etwas für uns ganz Unfaßbares vorgefallen, was aber, wenn es uns zum Bewußtsein gekommen wäre, nur so und so hätte beschrieben werden können.«68 Den »vermuteten realen Sachverhalt« selbst könnten die Sinnesorgane aber nicht wahrnehmen. Freud formuliert an dieser Stelle, als nähme er ein Lacansches Diktum vorweg: »Das Reale wird immer ›unerkennbar‹ bleiben.«69 Freuds Feststellung, die Psychoanalyse betreibe die »Erschlie-

67. Vgl. S. Freud: »Selbstdarstellung«, S. 57. 68. Sigmund Freud: »Abriß der Psychoanalyse«, in: ders., Gesammelte Werke, 17. Bd., London 1941, S. 127. 69. Ebd. Übrigens ist »das Reale« in den französischen und englischen Editionen des »Abriß« fälschlich als réalité bzw. reality übersetzt und somit die hier vorgenommene Unterscheidung ignoriert worden. 416

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ßung des Unbewußten«70, bezieht sich auf Vorgänge und Inhalte sowie auf psychische Gebiete und Strukturen. Beispielsweise sagt er: »Die Bearbeitung der Einfälle, welche sich dem Patienten ergeben, wenn er sich der psychoanalytischen Hauptregel unterwirft, ist nicht das einzige unserer technischen Mittel zur Erschließung des Unbewußten. Dem gleichen Zwecke dienen zwei andere Verfahren, die Deutung seiner Träume und die Verwertung seiner Fehl- und Zufallshandlungen.«71 Und gleichermaßen: »Aus der Zwangsvorstellung läßt sich das ursprüngliche Ereignis leicht erschließen.«72 Oder er spricht von den »einzelnen latenten Seelenvorgänge[n], die wir erschließen.«73 An anderer Stelle heißt es: »Das Über-Ich ist eine von uns erschlossene Instanz.«74 Da das Reale sich der Wahrnehmung entzieht, müssen wir »alles, was wir neu erschlossen haben, doch wieder in die Sprache unserer Wahrnehmungen übersetzen […], von der wir uns nun einmal nicht frei machen können.«75 Wir haben also etwas »Unfaßbares« anzuerkennen und uns diesem Realen auf zwei Wegen zu nähern: indem wir an der Aufnahmsfähigkeit unserer Sinnesorgane arbeiten – hören lernen – und indem wir das Erschließen des »vermuteten realen Sachverhalts« üben. Der Psychoanalytiker betreibt keine Hellseherei und verläßt sich auch nicht auf übersinnliche Phänomene. Er ist auf Sinnesdaten angewiesen, von denen aus er Rückschlüsse zieht.76 Seiner Wahrnehmung sind dabei ebenso Grenzen gesetzt wie der Selbstwahrnehmung des Subjekts infolge der »Zerlegung der psychischen Persönlichkeit«. In der gleichnamigen Vorlesung sagt Freud, er könne sich vorstellen, »daß es gewissen mystischen Praktiken gelingen mag, die normalen Beziehun-

70. Sigmund Freud: »Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse«, in: ders., Gesammelte Werke, 15. Bd., London 1948, S. 34. 71. S. Freud: »Über Psychoanalyse«, S. 31 (Hervorhebung durch mich, C.-D.R.). 72. Sigmund Freud: »Über Hysterie«, in: ders., Gesammelte Werke, Nachtragsband, Frankfurt a. M. 1987, S. 338. 73. Sigmund Freud: »Das Unbewußte«, in: ders., Gesammelte Werke, 8. Bd., London 1946, S. 269. 74. S. Freud: »Unbehagen«, S. 496. 75. S. Freud: »Abriß«, S. 126. Hier haben wir eine Funktion der Übersetzung in der psychoanalytischen Forschung. An anderer Stelle heißt es im »Abriß«, die »psychischen Vorgänge, Inhalte« des Unbewußten »haben keinen so leichten Zugang zum Bewußtwerden, sondern müssen auf die beschriebene Weise erschlossen, erraten und in bewußten Ausdruck übersetzt werden« (ebd., S. 82). 76. Bestimmte Relationen sind »nicht direkt aufzuzeigen, nur auf dem Wege des Rückschlusses faßbar« (Sigmund Freud: »Hemmung, Symptom und Angst«, in: ders., Gesammelte Werke, 14. Bd., London 1948, S. 186). 417

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gen zwischen den einzelnen seelischen Bezirken umzuwerfen, so daß z. B. die Wahrnehmung Verhältnisse im tiefen Ich und im Es erfassen kann, die ihr sonst unzugänglich waren.« »[Die] therapeutischen Bemühungen der Psychoanalyse« hätten »sich einen ähnlichen Angriffspunkt gewählt […]. Ihre Absicht ist ja, das Ich zu stärken, es vom Über-Ich unabhängiger zu machen, sein Wahrnehmungsfeld zu erweitern und seine Organisation auszubauen, so daß es sich neue Stücke des Es aneignen kann. Wo Es war, soll Ich werden. Es ist Kulturarbeit etwa wie die Trockenlegung der Zuydersee.«77 Diese überraschende Verbindung von »therapeutischen Bemühungen der Psychoanalyse« und »Kulturarbeit« erweitert den Sinn des ›Erschließens‹ um die ›Erschließung‹ eines Gebiets – es geht also um ein logisches wie um ein kolonisierendes Erschließen. Mir scheint, daß die unterschiedlichen Auslegungen des berühmten Mottos auf verschiedenen Auffassungen des ›Aneignens‹ (»daß es sich neue Stücke des Es aneignen kann«) beruhen. Eine verbreitete, ichpsychologische, Lesart dieses Bildes von der Trockenlegung lautet: das Es soll zurückgedrängt, sein Gebiet soll annektiert werden, gleichsam nach der Art eines ›Anschlusses‹ an das Ich, das nicht länger ein bloßes Anhängsel des Es bleiben soll. Das Es wird dabei der Zuydersee gleichgesetzt – als läse man »Es ist … Zuydersee« – und das jenseits des 1932 vollendeten Damms liegende Meer, die Nordsee, wird gar nicht mehr zur Kenntnis genommen. Ähnlich, aber unter kritischem Vorzeichen, kommt Herbert Marcuse zu dem Schluß: »Wo Es war, soll Ich werden« sei das »rationalistische, rationale Programm der Psychoanalyse – Sieg über das Unbewußte, seine ›unmöglichen‹ Triebe und Ziele.«78 Für seinen Kollegen Theodor W. Adorno belegt das Motto einen inneren Widerspruch in Freuds Denken, das zwar aufklärerisch und oppositionell sei, hier jedoch die Absicht offenbare, durch die Psychoanalyse das Irrationale, also gerade jenen noch nicht erfaßten Rest, zu tilgen, an dem ihm doch so viel liege. Hier zeige sich, so Adorno, daß »für Freud der Begriff der Psychologie ein wesentlich negativer ist. Er definiert das Gebiet der Psychologie durch die Vorherrschaft des Unbewußten und fordert, daß, was [sic!] Es war, Ich werden soll. So wäre die Befreiung des Menschen von der heteronomen Herrschaft des eigenen Unbewußten gleichbedeutend mit der Abschaffung seiner ›Psychologie‹.«79

77. S. Freud: »Neue Folge der Vorlesungen«, S. 86. 78. Herbert Marcuse: »Das Veralten der Psychoanalyse«, in: ders., Kultur und Gesellschaft II, Frankfurt a. M. 1965, S. 86. 79. Theodor W. Adorno: »Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Pro418

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Die Psychoanalyse komme also zu einem Ende, sobald das Es ganz ins Ich überführt worden sei. Dagegen hebt Adorno das Unbewußte, das Triebhafte, besonders die Glücksansprüche des Subjekts hervor, als deren Vertreterin er die Psychoanalyse schätzt. Von daher kritisiert er schon in den vierziger Jahren die Normvorstellung mancher Analytiker von einer Herrschaft des starken Ich, das obendrein völlig bewußt und widerspruchsfrei sein soll. Dieser Ichpsychologie hält Adorno entgegen: »Ich ist Es.«80 (Marcuse und er sprechen ausdrücklich als Philosophen und Soziologen, die nicht auf Fragen der Erschließung des Unbewußten in der analytischen Kur eingehen können.) Andere Akzente setzt Jacques Lacan: Im Gegensatz zu einer gängigen französischen Übersetzung – »Le moi doit déloger le ça« (»Das Ich soll das Es verscheuchen«) – unterzieht er das Freudsche Motto seit den frühen fünfziger Jahren einer Deutungsarbeit, die den Aspekt des Werdens hervorhebt und sich hauptsächlich auf die Tatsache stützt, daß Freud dort »Es« und »Ich« ohne Artikel schreibt. So gelangt Lacan zu Formulierungen wie: »Wo es war, soll ich werden«81, wobei »es« das Trauma oder der Urverlust (und die Urverdrängung) sein könnte, von dem ausgehend das Subjekt – »ich« – entstehen soll. Psychoanalytische Kulturarbeit wäre hier das Werden eines begehrenden Subjekts, also eines Subjekts, das aus einem bloßen ›trial and error‹ oder bloßer Ansprüchlichkeit (Kriegenwollen) herausfindet. Unter dem Gesichtspunkt der »Kulturarbeit« sollte festgehalten werden, daß Freud in seiner Vorlesung über die »Zerlegung der psychischen Persönlichkeit« das 1932 höchst aktuelle Bild von der Trockenlegung der Zuydersee im theoretischen Zusammenhang des Wahrnehmens, des Erschließens und des Ausbaus einer Organisation heranzieht. Das berechtigt zur Annahme, daß »aneignen« dort nicht als ein Zurückdrängen (Wegnehmen, Enteignen) zu verstehen ist, sondern als ein Erfassen oder Begehbarmachen unzugänglicher Verhältnisse. Ziel der Kulturarbeit wäre also nicht das Verstummen oder Verschwinden des Objekts der Aneignung, sondern die Erweiterung eines Wahrnehmungsfelds.

paganda«, in: ders., Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1971, S. 63 f. 80. Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a. M. 1951, S. 75. 81. Jacques Lacan: »La chose freudienne«, in: ders., Écrits, Paris 1966, S. 416 f. Zu den verschiedenen Variationen bei Lacan vgl. Susanne Hommel: »Les interprétations lacaniennes du ›Wo Es war soll Ich werden‹«, in: Analytica 41 (1985), S. 87–93, etwa: »Là ou c’était / s’était, là c’est mon devoir que je vienne à être«, oder »Là ou c’était, Je doit advenir«, oder »Là ou était la chose, je dois advenir.« 419

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Mit einer Aneignung neuer Stücke des Es wird dem Subjekt nicht nur etwas geschenkt, sondern auch etwas genommen. Man kann diese Kultivierung eines lebenslangen Umwegs, die eine konstitutionelle Gespaltenheit des Subjekts nutzt, auch ›symbolische Kastration‹ nennen. Ich und Es stehen als zwei Spielarten der Triebökonomie in einem Spannungsverhältnis zueinander. »Die Triebe im Es drängen auf sofortige, rücksichtslose Befriedigung, erreichen auf diese Weise nichts oder erzielen selbst fühlbare Schädigungen.« Das Ich hingegen vermittelt die Sublimierung; zu seiner höchsten Leistung wird die Veränderung der Außenwelt – »die Entscheidungen, wann es zweckmäßiger ist, seine Leidenschaft zu beherrschen und sich vor der Realität zu beugen, oder deren Partei zu ergreifen und sich gegen die Außenwelt zur Wehr zu setzen, sind das Um und Auf der Lebensklugheit.«82 Man sieht: Es geht um die Problematik, auf die Freud schon 1895 in seinem »Entwurf einer Psychologie« mit dem Spalt zwischen der »Wunschbesetzung des Erinnerungsbilds« und der »Wahrnehmungsbesetzung«83, also zwischen Wiederzufindendem und momentan Vorgefundenem, hinweist. In Freuds prägnanter Formulierung bleibt ein zweites »Es« zu befragen, denn aus »Es ist Kulturarbeit etwa wie die Trockenlegung der Zuydersee« geht nicht unmittelbar hervor, welche Arbeit wo von wem geleistet wird. Soll Kulturarbeit ein Teil, eine Variante oder ein besonderer Schwerpunkt der Arbeit des Analytikers sein? Wäre der Analytiker ein Kulturarbeiter oder Kulturbeauftragter – was folgte dann aus dem schon erwähnten Satz Freuds: »Die psychoanalytische Arbeit stellt sich […] als ein besserer Ersatz für die erfolglose Verdrängung geradezu in den Dienst der höchsten und wertvollsten kulturellen Strebungen?«84 Soll »Dienst« heißen, der Analytiker kultiviere den Analysanten und beurteile dessen Äußerungen auf ihren kulturellen Wert hin? Der Analytiker verträte dann ein Kultur-Über-Ich. Es könnte aber auch ganz anders sein: nämlich, daß Kulturarbeit von der Kultur selbst vollzogen wird (analog zur Traumarbeit, die selbst eine Arbeit verrichtet) oder im Ich stattfindet (wie die Trauerarbeit). Das bleibt an dieser Stelle der Vorlesungen offen. Zieht man andere Freud-Texte zu Rate, erscheint »Kulturarbeit« als etwas von den Subjekten selbst vollbrachtes. Das Wort bezeichnet nicht in erster Linie kulturelle Aktivitäten (als Kunstliebhaber, Musikfan oder Hobbyarchäologe), sondern einen bestimmten

82. S. Freud: »Laienanalyse«, S. 228. 83. S. Freud: [»Entwurf einer Psychologie«], S. 423 f. 84. S. Freud: »Über Psychoanalyse«, S. 57. 420

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Umgang des Subjekts mit den Trieben, den Freud »Sublimierung« nennt. Beispielsweise: »Der Sexualtrieb […] stellt der Kulturarbeit außerordentlich große Kraftmengen zur Verfügung, und dies zwar infolge der bei ihm besonders ausgeprägten Eigentümlichkeit, sein Ziel verschieben zu können, ohne wesentlich an Intensität abzunehmen. Man nennt diese Fähigkeit […] die Fähigkeit zur Sublimierung.« In »dieser Verschiebbarkeit« des Sexualtriebes bestehe »sein kultureller Wert«.85 Unsere »Kultureignung«, die ein bestimmtes Verhältnis zum »primitiv gebliebenen Triebleben« ermöglicht, ergebe sich aus der ›Triebumbildung‹. Differenzierter: »Heißen wir die einem Menschen zukommende Fähigkeit zur Umbildung der egoistischen Triebe unter dem Einflüsse der Erotik seine Kultureignung, so können wir aussagen, daß dieselbe aus zwei Anteilen besteht, einem angeborenen und einem im Leben erworbenen, und daß das Verhältnis der beiden zueinander und zu dem unverwandelt gebliebenen Anteile des Trieblebens ein sehr variables ist.«86 Die ›Triebveredelung‹ könne sogar dauernd oder zeitweilig, etwa unter dem Einfluß eines Krieges, rückgängig gemacht werden.87 Auch wenn die Freudsche »Kulturarbeit« weder eine Freizeitbeschäftigung ist noch eine Pflicht des Psychoanalytikers, im Subjekt das Es trockenzulegen, so kommt letzterem doch die Aufgabe zu, das Subjekt bei dem zu leiten, was man Einschreibung ins Symbolische nennen kann. Bei dieser Arbeit des Subjekts an dem, was in ihm arbeitet, geht es wesentlich um die Anerkennung der eigenen Begrenztheit (Kastration) und der Angewiesenheit auf den großen Anderen – und damit um eine Anerkennung der Bedeutung des Kulturellen. Sowohl beim Analysanten als auch beim Analytiker (in der Kur wie bei abstrakterer theoretischer Arbeit) ist das Psychische zugleich etwas Erkennendes und etwas zu Erkennendes. Wenn Freud beispielsweise sagt, das »dunkle Es« verkehre »nicht direkt mit der Außenwelt« und werde »auch unserer Kenntnis nur durch die Vermittlung einer

85. Sigmund Freud: »Die ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne Nervosität«, in: ders., Gesammelte Werke, 7. Bd., London 1943, S. 150 (Hervorhebung im Original). 86. S. Freud: »Zeitgemäßes«, S. 334 (Hervorhebung im Original). Er fügt sogleich hinzu: »Im allgemeinen sind wir geneigt, den angeborenen Anteil zu hoch zu veranschlagen, und überdies laufen wir Gefahr, die gesamte Kultureignung in ihrem Verhältnisse zu überschätzen, d. h. wir werden dazu verleitet, die Menschen ›besser‹ zu beurteilen, als sie in Wirklichkeit sind. Es besteht nämlich noch ein anderes Moment, welches unser Urteil trübt und das Ergebnis im günstigen Sinne verfälscht« (ebd.). 87. Vgl. ebd., S. 338. 421

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anderen Instanz zugänglich«, dann ist es Objekt der Wahrnehmung. Umgekehrt, wenn er äußert: »Das Es, von der Außenwelt abgeschnitten, hat seine eigene Wahrnehmungswelt.«88 Entsprechend sagt er über das Ich, das sich »aus der Rindenschicht des Es entwickelt« habe, »die durch ihre Einrichtung zur Reizaufnahme und Reizabhaltung in direktem Kontakt mit der Außenwelt (der Realität) steht«, es sei die »psychische Instanz, die wir am besten zu kennen glauben und in der wir am ehesten uns selbst erkennen.« Die letzte Kennzeichnung enthält auch eine Wertung bzw. eine narzißtische Besetzung der Instanz durch die Kulturgemeinschaft und das Subjekt; diese würdigt seine »psychologische Leistung«, nämlich, »daß es die Abläufe im Es auf ein höheres dynamisches Niveau hebt (etwa frei bewegliche Energie in gebundene verwandelt, wie sie dem vorbewußten Zustand entspricht), [und seine] konstruktive [Leistung], daß es zwischen Triebanspruch und Befriedigungshandlung die Denktätigkeit einschaltet, die nach Orientierung in der Gegenwart und Verwertung früherer Erfahrungen durch Probehandlungen den Erfolg der beabsichtigten Unternehmungen zu erraten versucht. Das Ich trifft auf diese Weise die Entscheidung, ob der Versuch zur Befriedigung ausgeführt oder verschoben werden soll oder ob der Anspruch des Triebes nicht überhaupt als gefährlich unterdrückt werden muß (Realitätsprinzip).«89 Dieses Spiel von Ich und Es in seinen Beziehungen zum Ideal und Über-Ich betrifft natürlich nicht nur das Begehren des Analysanten, sondern auch das Begehren des Analytikers oder des Kulturforschers. »Immer klarer« erscheint es Freud – ich zitiere das hier nochmals –, »daß die Geschehnisse der Menschheitsgeschichte, die Wechselwirkungen zwischen Menschennatur, Kulturentwicklung und jenen Niederschlägen urzeitlicher Erlebnisse, als deren Vertretung sich die Religion vordrängt, nur die Spiegelung der dynamischen Konflikte zwischen Ich, Es und Über-Ich sind, welche die Psychoanalyse beim Einzelmenschen studiert, die gleichen Vorgänge, auf einer weiteren Bühne wiederholt.« 90 Die Wichtigkeit der Einschreibung in eine überindividuelle Struktur bzw. in eine symbolische Ordnung ergibt sich aus der psychologischen Leistung, daß – wie bei den Ich-Leistungen – »frei bewegliche Energie in gebundene verwandelt« wird und »die Abläufe im Es auf ein höheres dynamisches Niveau« gehoben werden. Beispielsweise weist Freud schon in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts darauf hin, daß die religiösen Illusionen »den durch sie Gebundenen den stärksten

88. S. Freud: »Abriß«, S. 128. 89. Ebd., S. 129. 90. S. Freud: »Nachschrift 1935«, S. 32 f. 422

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Schutz gegen die Gefahr der Neurose« geboten haben91 und daß mit dem Auflassen dieser Bindung, mit der Ent-Bindung der kollektiv Gebundenen, viele individuelle neurotische Symptome freigesetzt werden, mit denen sich der einzelne nun auseinandersetzen muß. Aus seinen Äußerungen über eine zukünftige »Pathologie der kulturellen Gemeinschaften« ersieht man, daß es Freud dabei nicht gleichgültig ist, in welche Art von Ordnung sich das Subjekt einschreibt. So erkennt er »in all den Bindungen an mystisch-religiöse oder philosophisch-mystische Sekten und Gemeinschaften den Ausdruck von Schiefheilungen mannigfaltiger Neurosen.«92 Schon um 1900 geht Freud der Frage nach, was in jener Lücke zwischen den Neuronen a–b und a–c wirkt, und zwar sowohl bei der Abfuhr nach außen wie bei der »Abfuhr auf dem Wege der inneren Veränderung« und den damit verbundenen Versuchen einer ›Verständigung‹. Deshalb muß er sich auch damit beschäftigen, wie diese Vorgänge – also die spezifische Aktion, der Affekt und der Appell an den großen Anderen – mit der »Kulturarbeit« des Subjekts und mit dem allgemeinen Kulturprozeß verwoben sind. So interessiert ihn beispielsweise, auf welche Fragen überlieferte und zeitgenössische Kulturphänomene wohl eine Antwort darstellen und wie derartige Kultursymptome sich bilden, oder welcher Illusionen Menschenwesen fähig sind, und auch, welche organisierten (neuen und alten) Bedrohungs- und Heilsphantasmen ihnen von Religion und Massenmedien aufgedrängt werden und wie diese der psychologischen Wahrheit widersprechen. Er befaßt sich also einerseits mit den Mechanismen und Funktionen, vermittels deren Kulturelles im Psychismus wirkt, und andererseits mit dem inneren Funktionieren kultureller Gebilde und Prozesse. Zu letzterem gehören die Motive, die Ökonomien und die Überlieferungswege kultureller Vorgänge, die ja auch Bildungen des Unbewußten sind: kulturelle Zensur, Reaktionsbildungen, Symptombildungen, Regressionen, Sublimierungen usw. In diesem Bereich liegt denn auch der Schwerpunkt der drei »von der Psychoanalyse ausgehenden, aber weit über sie hinausgreifenden Studien« Totem und Tabu (1912), Die Zukunft einer Illusion (1927) und Das Unbehagen in der Kultur (1930); Der Mann Moses und die monotheistische Religion sollte noch folgen. Kultur und Sprache sind nicht einfach nur in die menschliche Psyche eingesetzt, sondern sie sind historisch aus menschlicher Erfahrung entstanden (etwa auf den Wegen der Symptombildung). Und der Gebrauch, den die Subjekte von ihrer »Kultureignung« machen, bedeutet einen Eingriff in den allgemeinen Kulturprozeß: sie fördern, verfestigen, verändern oder zertrümmern vorgefundene Kultur.

91. S. Freud: »Massenpsychologie«, S. 159. 92. Ebd. 423

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Im Hinblick auf einen bestimmten Gegenstand kann man sogar behaupten, der Psychoanalytiker betreibe doch Kulturarbeit: er versucht ja nicht allein das Es des einzelnen Subjekts in der Kur zu erschließen, sondern das »Es« oder »Reales« genannte »unerkennbare« Gebiet überhaupt. Da die Psychoanalyse eine praktische Theorie und eine theoretische Praxis ist, sind die Verfeinerungen des Wahrnehmungs- und Erschließungsvermögens des Analysanten mit denen des psychoanalytischen Forschers und seiner Gemeinschaft vermittelt. Hierbei ist die Kultur – die allgemeine wie die spezifisch psychoanalytische – nicht nur Gegenstand, sondern auch Instrument der Kulturarbeit des Forschers: sie eröffnet erst die Möglichkeit, ein unzugängliches Gebiet zu erschließen, das Wahrnehmungsfeld zu erweitern und das Erschlossene in die »Sprache unserer Wahrnehmungen« zu übersetzen. Wenn trotz der Kulturarbeit der Subjekte ein Ungenügen (an) der Kultur bleibt, so geht dies nicht allein auf deren Kulturfeindlichkeit zurück. Zum einen zeigt die Kultur angesichts der Übermacht der Natur selbst oft Schwächen; denn mit der Gewalt der Elemente, mit Krankheit und Tod »steht die Natur wider uns auf, großartig, grausam, unerbittlich, rückt [sie] uns wieder unsere Schwäche und Hilflosigkeit vor Augen, der wir uns durch die Kulturarbeit zu entziehen gedachten.«93 Zum anderen kann das Subjekt mit seiner Kulturarbeit dem Kulturideal zumeist nicht Genüge tun: »Das Kultur-Über-Ich hat seine Ideale ausgebildet und erhebt seine Forderungen. Unter den letzteren werden die, welche die Beziehungen der Menschen zueinander betreffen, als Ethik zusammengefaßt. […] Die Ethik ist also als ein therapeutischer Versuch aufzufassen, als Bemühung, durch ein Gebot des Über-Ichs zu erreichen, was bisher durch sonstige Kulturarbeit nicht zu erreichen war.«94 [Die Ethik hat also mit] »Vorschriften für den Verkehr der Menschen untereinander [eine Lücke zu füllen].« 95 An diesem Punkt setzt Freuds Kritik an bestimmten Kulturforderungen und -praktiken ein: sie gilt dem »fast unerträglichen Druck«, den »unsere Kultur« auf uns ausübe96, begegnet diesem aber nicht mit einer weiteren Idealkultur oder mit Rezepten idealer Lebensführung (da diese fast durchweg Symptombildungen sind), sondern mit einem Hinweis auf die »psychologische Wahrheit.«97 Von diesem Bezugspunkt aus strebt er danach, den – notwendigen – Druck auf den Einzelnen zu

93. 94. 95. 96. 97.

S. Freud: »Zukunft«, S. 337. S. Freud, »Unbehagen«, S. 502 f. S. Freud: »Neue Folge der Vorlesungen«, S. 178. S. Freud: »Laienanalyse«, S. 285. Beispielsweise: »[…] wenn es die Menschen unternehmen würden, der psychologischen Wahrheit nachzuleben«, in: S. Freud, »Zeitgemäßes«, S. 336. 424

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verringern und zugleich »eine dauernde Veränderung seiner seelischen Ökonomie«98 zu bewirken, denn: »Die Kulturgesellschaft, die die gute Handlung fordert und sich um die Triebbegründung derselben nicht kümmert, hat […] eine große Zahl von Menschen zum Kulturgehorsam gewonnen, die dabei nicht ihrer Natur folgen. Durch diesen Erfolg ermutigt, hat sie sich verleiten lassen, die sittlichen Anforderungen möglichst hoch zu spannen und so ihre Teilnehmer zu noch weiterer Entfernung von ihrer Triebveranlagung gezwungen. Diesen ist nun eine fortgesetzte Triebunterdrückung auferlegt, deren Spannung sich in den merkwürdigsten Reaktions- und Kompensationserscheinungen kundgibt. Auf dem Gebiete der Sexualität, wo solche Unterdrückung am wenigsten durchzuführen ist, kommt es so zu den Reaktionserscheinungen der neurotischen Erkrankungen.« 99 Wie oben am Beispiel des »psychologischen Elends der Masse« gezeigt, kritisiert Freud auch Kulturentwicklungen, die nicht auf Triebunterdrückung beruhen. Stets beschäftigen ihn ökonomische Fragen: wie groß sind die Opfer, wie stark die entstehende Kulturfeindschaft, wie schädlich die Förderung unmittelbarer Triebbefriedigung? Die Relationen zwischen der Einschreibung in die Kultur und den Veränderungen der Kultur (als Außenwelt), zwischen Kulturfortschritt und Glückseinbuße, sowie die zu Triebsublimierungen nötigende Kulturarbeit 100 sind Gegenstand vieler Erörterungen der »Kritischen Theorie« (»Frankfurter Schule«), wobei besonders Herbert Marcuse mit dem Begriff »repressive Sublimierung« sowie später »repressive Entsublimierung« operiert. Bei Freud aber steht die Vielfalt der Optionen der Kulturarbeit des Subjekts und dessen Verantwortlichkeit im Vordergrund; beispielsweise in folgender Passage aus »Das Unbehagen in der Kultur« (1929): »Das Programm, welches uns das Lustprinzip aufdrängt, glücklich zu werden, ist nicht zu erfüllen, doch darf man – nein, kann man – die Bemühungen, es irgendwie der Erfüllung näherzubringen, nicht aufgeben. Man kann sehr verschiedene Wege dahin einschlagen, entweder den positiven Inhalt des Ziels, den Lustgewinn, oder den negativen, die Unlustvermeidung, voranstellen. Auf keinem dieser Wege können wir alles, was wir begehren, erreichen. Das Glück in jenem ermäßigten Sinn, in dem es als möglich erkannt wird, ist ein Problem der individuellen Libidoökonomie. Es gibt hier keinen Rat, der für alle taugt; ein jeder muß selbst versuchen, auf welche besondere Fasson er selig werden kann. Die mannigfachsten Faktoren werden sich geltend machen, um seiner Wahl die Wege zu weisen. Es kommt darauf an, wieviel reale Befriedigung er von der Außenwelt zu erwarten

98. S. Freud: »Selbstdarstellung«, S. 68. 99. S. Freud: »Zeitgemäßes«, S. 335. 100. S. Freud: »Unbehagen«, S. 494 u. S. 465. 425

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hat und inwieweit er veranlaßt ist, sich von ihr unabhängig zu machen; zuletzt auch, wieviel Kraft er sich zutraut, diese nach seinen Wünschen abzuändern. Schon dabei wird außer den äußeren Verhältnissen die psychische Konstitution des Individuums entscheidend werden. Der vorwiegend erotische Mensch wird die Gefühlsbeziehungen zu anderen Personen voranstellen, der eher selbstgenügsame Narzißtische die wesentlichen Befriedigungen in seinen inneren seelischen Vorgängen suchen, der Tatenmensch von der Außenwelt nicht ablassen, an der er seine Kraft erproben kann. Für den mittleren dieser Typen wird die Art seiner Begabung und das Ausmaß der ihm möglichen Triebsublimierung dafür bestimmend werden, wohin er seine Interessen verlegen soll. Jede extreme Entscheidung wird sich dadurch strafen, daß sie das Individuum den Gefahren aussetzt, die die Unzulänglichkeit der ausschließend gewählten Lebenstechnik mit sich bringt. Wie der vorsichtige Kaufmann es vermeidet, sein ganzes Kapital an einer Stelle festzulegen, so wird vielleicht auch die Lebensweisheit raten, nicht alle Befriedigung von einer einzigen Strebung zu erwarten. Der Erfolg ist niemals sicher […].«101 Zwar gibt es für Freud in Sachen Libidoökonomie »keinen Rat, der für alle taugt«, doch verkörpert der »vorsichtige Kaufmann« einen allgemeinen Rat der »Lebensweisheit«: »nicht alle Befriedigung von einer einzigen Strebung zu erwarten.« Wenn Freud – der Sohn eines Kaufmanns – in der »Nachschrift 1935« von der Rückkehr zu den Fragen spricht, die ihn als Jüngling »gefesselt« haben, weist er damit darauf hin, daß ihm ein Gegenstand oder Sachverhalt Rätsel aufgibt, ihn fasziniert, bezaubert, aber auch einschränkt. Es könnte sein Phantasma von der Triebregulierung bzw. vom Begehren des eigenen Vaters sein – als ontogenetische »Ursprünge von Religion und Sittlichkeit«. Freuds Befragung seines eigenen Begehrens, zu analysieren, wird deutlicher an einer anderen autobiographischen Äußerung, Ende der zwanziger Jahre: »Nach 41jähriger ärztlicher Tätigkeit sagt mir meine Selbsterkenntnis, ich sei eigentlich kein richtiger Arzt gewesen. Ich bin Arzt geworden durch eine mir aufgedrängte Ablenkung meiner ursprünglichen Absicht, und mein Lebenstriumph liegt darin, daß ich nach großem Umweg die anfängliche Richtung wiedergefunden habe. Aus frühen Jahren ist mir nichts von einem Bedürfnis, leidenden Menschen zu helfen, bekannt, meine sadistische Veranlagung war nicht sehr groß, so brauchte sich dieser ihrer Abkömmlinge nicht zu entwickeln. Ich habe auch niemals ›Doktor‹ gespielt, meine infantile Neugierde ging offenbar andere Wege. In den Jugendjahren wurde das Bedürfnis, etwas von den Rätseln dieser Welt zu verstehen und vielleicht selbst etwas zu ihrer Lösung beizutragen, übermächtig.«102

101. Ebd., S. 442 f. 102. Sigmund Freud: »Nachwort zur Frage der Laienanalyse«, in: ders., Gesammelte Werke, 14. Bd., London 1948, S. 290. 426

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Obwohl ihn diese Fragen brennend interessieren, wird er nicht Sozialreformer oder Kulturphilosoph (heute würde man sagen: Kulturwissenschaftler)103, sondern Psychoanalytiker, und er übt diese Arbeit bis an sein Lebensende aus. Die von ihm erfundene psychoanalytische Art, sich mit diesen Fragen zu befassen, kann sich nämlich gar nicht mit vorfindbaren Kulturzeugnissen begnügen – sie stützt sich ja auf das Sprechen der Analysanten in der Situation der Übertragung, also auf die Übertragungsphänomene, die uns »den unschätzbaren Dienst erweisen, die verborgenen und vergessenen Liebesregungen der Kranken aktuell und manifest zu machen, denn schließlich kann niemand in absentia oder in effigie erschlagen werden.«104 Sie weigert sich bekanntlich, aus dem manifesten Trauminhalt direkt auf den latenten Traumgedanken zu schließen105 und braucht deshalb zusätzlich zum Traumbericht die Assoziationen des Träumers, Gedankenreihen und Erinnerungen, die »wertvolle Äußerungen« des Seelenlebens sind. Wie ein Echo des »Wo Es war, soll Ich werden« klingt Lacans Äußerung zum »Sinn des Wortes Subjekt im analytischen Diskurs«: »Ce qui parle sans le savoir me fait je, sujet du verbe.« (»Das, was spricht, ohne es zu wissen, macht mich ich, Subjekt des Verbs.«106) Aus diesen Zusammenhängen ergeben sich weitere Herausforderungen der Psychoanalyse und ihrer Kulturtheorie: sie besteht darauf, daß es etwas Fremdes, Unzugängliches gibt, das nicht einfach abrufbar oder dekodierbar ist, das aber befragt werden kann: das Unbewußte, das Begehren, das Reale. Zudem beharrt sie darauf, daß der Einzelne nicht im großen Ganzen aufgeht, kein bloßer Abklatsch des Allgemeinen ist, auch nicht ein berechenbares Ergebnis dessen, was ihm in seinem Leben zugestoßen ist, sondern daß es darum geht, welche Fragen er sich stellt, wie er mit dem Geschehenen umgeht. Sie sperrt sich gegen eine vorschnelle »Identifizierung der Teilnehmer untereinander«, legt – mit Freud – Wert auf »eine gewisse Unabhängigkeit des Urteils« und verzichtet auf die »Volksgemeinschaft« und die Zustim-

103. In den »Ergänzungen zur ›Selbstdarstellung‹« erwähnt Freud einen weiteren Wunsch der Jugendzeit: Unter dem Einfluß eines älteren Freundes »wollte auch ich Jura studieren und mich sozial betätigen« (Gesammelte Werke, Nachtragsband, Frankfurt a. M. 1987, S. 763). 104. Sigmund Freud: »Zur Dynamik der Übertragung«, in: ders., Gesammelte Werke, 8. Bd., London 1943, S. 374. 105. Sigmund Freud: »Über den Traum«, in: ders., Gesammelte Werke, 2. u. 3. Bd., London 1942, S. 652. 106. Le Séminaire de Jacques Lacan. Texte établi par Jacques-Alain Miller. Livre XX, Encore, 1972–1973, Paris 1975, S. 108; dt.: Das Seminar von Jacques Lacan. Buch XX (1972–1973), Encore. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. v. Norbert Haas, Vreni Haas und Hans-Joachim Metzger, Weinheim / Berlin 1986, S. 128. 427

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mung der »kompakten Majorität«. Von gesellschaftlichem Konformismus hält die Psychoanalyse sich fern, aber auch von Komplizenschaft mit dem Einzelnen, der vom Analytiker eine komplementäre Beziehung oder sonstiges Heil erwartet. Statt ungebrochener Einfühlung und bloßem Einverständnis (›Ich weiß, was Du meinst‹) sorgt er in der analytischen Situation für genügend Fremdheit, die dem Analysanten erst die Begegnung mit seinem unbewußten Begehren ermöglicht. Der Psychoanalytiker ist nicht einfach ein Theoretiker der Beziehungen zwischen dem Realen, dem Symbolischen und dem Imaginären, sondern er ist als ein »Praktiker der Symbolfunktion«, wie Lacan ihn nennt107, ständig mit den Vorgängen des Sprechens, Deutens und Konstruierens beschäftigt und übt daher eine besondere Kunst des Erschließens und des Hörens aus. Mit dieser besonderen Erschließungstechnik, die von ›Anzeichen‹ und ›Resterscheinungen‹ und von der Erfahrung, »die vom Mund zum Ohr strömt«, ausgeht, hat Freud aber auch ein Stück Kulturtechnik geschaffen. Als Einrichtung eines bestimmten Hörens und Sprechens hat die Psychoanalyse allen Anspruch darauf, ein Kulturgut genannt zu werden. Ihre Einzigartigkeit besteht darin, daß sie einem bestimmten, bis dahin unerhörten Sprechen einen Platz einräumt. Ein Element der psychoanalytischen Technik – des Erschließens des Realen – kann man »strukturelles Hören« nennen.108 Theodor W. Adorno, der diesen Ausdruck geprägt hat, setzt ihn – in bezug auf den Umgang mit Musik – derjenigen Art von Einfühlung entgegen, die den subjektivistischen Vorlieben und Abneigungen verhaftet bleibt, mit denen man sogenannte schöne Stellen fetischisiert.109 Das strukturelle Hören dagegen soll dem objektiven Gehalt eines Werks gerecht werden.110 Es unterscheidet sich von der Beziehungslosigkeit der »vorschriftsmäßig« Hörenden zum Objekt, für die »die Reize, die sie genießen, […] von approbierter Art sein« müssen.111 Die Grundzüge

107. Jacques Lacan: »Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse«, in: ders., Schriften, Bd. I, Frankfurt a. M. 1973, S. 126. 108. Gewiß kann es in unterschiedlichen Psychotherapien analytische Momente geben – sogar beim Gespräch mit dem Kneipenwirt kann sich eine glückliche Deutung ergeben –, aber selbst wenn viele Therapien Elemente der Psychoanalyse enthalten, so ist doch hervorzuheben: in der Psychoanalyse ist das strukturelle Hören eine Einrichtung (vgl. Diane Chauvelot: »Das Symptom ist das einzig Wahre!«, in: André Michels u. a. [Hg.], Jahrbuch für klinische Psychoanalyse 2, Tübingen 1999, S. 150– 154). 109. Theodor W. Adorno: »Über den Fetischcharakter der Musik und die Regression des Hörens«, in: Zeitschrift für Sozialforschung 7 (1938), S. 338 f. 110. Theodor W. Adorno: Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1975, S. 161. 111. Ebd., S. 331 u. 344. 428

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dieser Gedanken formuliert Adorno schon 1938, also zu Freuds Lebzeiten. Das Pendant zur Fetischisierung »schöner Stellen« in der Musik wäre in der Psychoanalyse das Festhalten bestimmter Aussagen zum Zwecke der Bestätigung eigener Theorien, eigenen Könnens und der Diagnose. Einen »neurotischen Mechanismus der Dummheit auch im Hören«, nämlich »die hochmütig ignorante Ablehnung alles Ungewohnten«112, gibt es auch außerhalb der Musikwahrnehmung. Psychoanalyse als Kulturgut bedeutet nicht, ihr ein Denkmal zu errichten. Vielmehr sollte – im Sinne von Benjamins »denn was ist das ganze Bildungsgut wert, wenn uns nicht eben Erfahrung mit ihm verbindet?« – darauf geachtet werden, daß dieses Kulturgut mit der lebendigen Erfahrung vermittelt bleibt. Zum einen mit der konkreten Erfahrung des Analytikers: Es geht darum, »die psychoanalytische Theorie zur Couch zurück[zu]bringen.«113 Zum anderen mit der Erfahrung derer, die sich für eine Analyse interessieren könnten: Es geht darum, die Stellung der Psychoanalyse in der heutigen Kultur zu untersuchen, damit besser begriffen werden kann, welchen neuen Herausforderungen die Psychoanalyse mit ihrer Herausforderung begegnet. Dazu gehören Fragen wie: Wenn die Psychoanalyse ein Symptom des Unbehagens in der Kultur ist (und wenn man das Symptom als eine Wiederkehr des Verdrängten auffaßt), was wird dann von ihr erwartet, genossen und abgewehrt? Führt die Tatsache, daß Psychoanalyse sich mit dem Unheimlichen befaßt, automatisch zu einer Marginalisierung des analytischen Diskurses? Wird eine solche vielleicht sogar begünstigt durch bestimmte Analytiker, die sich mit einem ihnen zugewiesenen Platz – etwa dem eines Dienstleistenden in der Gesellschaft – identifizieren? Eine erneuerte psychoanalytische Debattenkultur könnte die Veranschaulichung der Psychoanalyse und zugleich eine Schärfung ihrer Begriffe fördern. Die hier beschriebenen Phänomene sind nicht unbedingt als Zeichen eines Kulturverfalls bzw. einer Schwächung oder eines Zerbrechens der symbolischen Ordnung zu deuten. Doch geben sie Anlaß zu Fragen nach den heutigen Einstellungen gegenüber dem großen Anderen als »Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner«, und danach, ob und wie sich am Anderen etwas geändert hat. Es ist nicht auszuschließen, daß die Rede von der heutigen Auflösung aller Bezugspunkte, von der vaterlosen Gesellschaft usw. solche Zustände herbeiwünscht, vergleichbar dem – zumindest anfänglichen – Triumph des ›neuen‹ Marktes über den ›alten‹, der »start-up«-Unternehmen über die herkömmlichen Betriebe, der »new economy« über die »old economy«.

112. Ebd., S. 345. 113. André Michels u. a.: »Editorial«, in: ders. u. a. (Hg.), Jahrbuch für klinische Psychoanalyse 1, Tübingen 1998, S. 7. 429

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Es geht dabei darum, wie Subjekte mit den Forderungen umgehen, denen sie begegnen, wie sie diese mit ihrem Begehren artikulieren. Beispielsweise ob sie sich ganz den Imperativen von Flexibilität und Anpassung unterwerfen, also sich vorrangig von den Fragen leiten lassen: ›Was ist mein Kurswert?‹, ›Wie stehen meine Aktien?‹ Im Vordergrund sollte die Frage stehen, auf wen das Subjekt glaubt sich verlassen zu können. Und auf was es um welchen Preis eingehen möchte; ob es bei seiner Suche nach Anschluß sich allein auf immer wechselnde Ansteckungen oder auf eine Bindung einlassen will, die eine Bearbeitung der Übertragung und der Übertragungsgefahr ermöglichte. Zu vermitteln wäre, daß Setzen mit Übertragung zu tun hat und daß jede Anschlußsuche einen Appell enthält; daß niemand diese Vorgänge zu beherrschen vermag, daß sie aber befragt und bearbeitet werden können. Der Börsenspieler delegiert Verantwortung an den Analysten. Wo dieser sich mit dem Wert eines ›Titels‹ befaßt, läßt der Analytiker sich auf den Text ein. Der eine betrachtet, wie etwas notiert ist, der andere, wie etwas geschrieben und umgeschrieben wird und wie jemand mit einem bestimmten Namen oder Titel umgeht. Der heutige Börsenspieler, das Gegenteil des ›vorsichtigen Kaufmanns‹, könnte auf die libidoökonomischen Dimensionen dessen hingewiesen werden, was sich auf seinem Schauplatz abspielt: Gier, Zerstörung und Selbstzerstörung, Lust auf Überraschendes, Unvorhersehbares, Erfahrungshunger. Lust an den Spannungsschwankungen zwischen Aufstieg in schwindelerregende Höhen und Absturz, am Flash des Gewinns und dem schlagartigen Verlust. Die ›langsame‹, die ›leise‹ Psychoanalyse hat eine Entdeckungsreise zu bieten, ein intellektuelles Abenteuer voller Überraschungen. Jedoch hat das Motto ›Wer wagt, gewinnt‹ in der Psychoanalyse einen anderen Akzent als an der Börse. Nicht direkt ›im Spiel gewinnen‹, aber ›etwas Spiel gewinnen‹ kann das Subjekt, wenn es einzuräumen vermag, daß es eines Tages mit Sicherheit verlieren wird. Dieser Gewinn ist also vermittelt über die Anerkennung des eigenen Mangels und des Mangels im großen Anderen. Die Wette lautet heute deshalb: Wo will der einzelne mehr riskieren – im Setzen oder im Liegen?

Literatur Adorno, Theodor W.: »Über den Fetischcharakter der Musik und die Regression des Hörens«, in: Zeitschrift für Sozialforschung 7 (1938), S. 321 ff. — Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a. M. 1951. — »Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propa430

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ganda«, in: ders., Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1971, S. 34–66. — Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1975. Benjamin, Walter: »Erfahrung und Armut«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II. 1, Frankfurt a. M. 1977, S. 213–219. Bilitza, Karl-Heinz: Stichwort Börse, München 1992. Chauvelot, Diane: »Das Symptom ist das einzig Wahre!«, in: André Michels u. a. (Hg.), Jahrbuch für klinische Psychoanalyse 2, Tübingen 1999, S. 150–154. Ferenczi, Sándor: »Zur Ontogenie des Geldinteresses«, in: ders., Bausteine zur Psychoanalyse, Bd. 1, Frankfurt a. M. / Berlin / Wien 1984 (Nachdruck d. Erstausgabe Leipzig 1927), S. 109–119. Freud, Sigmund: [»Entwurf einer Psychologie«], in: ders., Gesammelte Werke, Nachtragsband, Frankfurt a. M. 1987, S. 375–486. — »Über Hysterie«, in: ders., Gesammelte Werke, Nachtragsband, Frankfurt a. M. 1987, S. 328–341. — »Über den Traum«, in: ders., Gesammelte Werke, 2. u. 3. Bd., London 1942, S. 643–700. — »Die ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne Nervosität«, in: ders., Gesammelte Werke, 7. Bd., London 1943, S. 143–167. — »Über Psychoanalyse. Fünf Vorlesungen«, in: ders., Gesammelte Werke, 8. Bd., London 1943, S. 1–60. — »Zur Dynamik der Übertragung«, in: ders., Gesammelte Werke, 8. Bd., London 1943, S. 364–374. — »Das Unbewußte«, in: ders., Gesammelte Werke, 10. Bd., London 1946, S. 264–303. — »Zeitgemäßes über Krieg und Tod«, in: ders., Gesammelte Werke, 10. Bd., London 1946, S. 323–355. — »Massenpsychologie und Ich-Analyse«, in: ders., Gesammelte Werke, 13. Bd., London 1940, S. 71–161. — »Selbstdarstellung«, in: ders., Gesammelte Werke, 14. Bd., London 1948, S. 31–96. — »Nachschrift 1935 [zur Selbstdarstellung]«, in: ders., Gesammelte Werke, 16. Bd., London 1950, S. 31–34. — [Ergänzungen zur »Selbstdarstellung«], in: ders., Gesammelte Werke, Nachtragsband, Frankfurt a. M. 1987, S. 762–764. — »Hemmung, Symptom und Angst«, in: ders., Gesammelte Werke, 14. Bd., London 1948, S. 111–205. — »Die Frage der Laienanalyse«, in: ders., Gesammelte Werke, 14. Bd., London 1948, S. 207–286. — »Nachwort zur Frage der Laienanalyse«, in: ders., Gesammelte Werke, 14. Bd., London 1948, 287–296. — »Die Zukunft einer Illusion«, in: ders., Gesammelte Werke, 14. Bd., London 1948, S. 325–380. 431

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— »Das Unbehagen in der Kultur«, in: ders., Gesammelte Werke, 14. Bd., London 1948, S. 419–506. — »Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse«, in: ders., Gesammelte Werke, 15. Bd., London 1948. — »Abriß der Psychoanalyse«, in: ders., Gesammelte Werke, 17. Bd., London 1941, S. 63–138. Freud, Sigmund / Jung, Carl Gustav: Briefwechsel, Frankfurt a. M. 1974. Freud, Sigmund / Pfister, Oskar: Briefe 1909–1939, hg. v. Ernst L. Freud u. Heinrich Meng, Frankfurt a. M. 1963. Goldschmidt, Georges-Arthur: Als Freud das Meer sah. Freud und die deutsche Sprache, Zürich 1999. Hommel, Susanne: »Les interprétations lacaniennes du ›Wo Es war soll Ich werden‹«, in: Analytica 41 (1985), Paris, S. 87–93. Lacan, Jacques: Le Séminaire de Jacques Lacan. Texte établi par JacquesAlain Miller. Livre XX, Encore, 1972–1973, Paris 1975; dt.: Das Seminar von Jacques Lacan. Buch XX (1972–1973), Encore. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. v. Norbert Haas, Vreni Haas und Hans-Joachim Metzger, Weinheim / Berlin 1986. — »Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse«, in: ders., Schriften, Bd. I, Frankfurt a. M. 1973, S. 71–169. — »La chose freudienne«, in: ders., Écrits, Paris 1966, S. 401–436. — »Conférence de presse du Dr. Lacan« (Rom, 29.10.1974), in: Lettres de l’École freudienne 16 (1975), S. 6–26. — »La Troisième«, in: Lettres de l’École freudienne 16 (1975), S. 178–203. Marcuse, Herbert: »Das Veralten der Psychoanalyse«, in: ders., Kultur und Gesellschaft II, Frankfurt a. M. 1965, S. 85–106. Michels, A. u. a.: »Editorial«, in: ders. u. a. (Hg.), Jahrbuch für klinische Psychoanalyse 1, Tübingen 1998, S. 7–8. Rath, Claus-Dieter: »Nahrung«, in: Chri. Wulf (Hg.), Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim / Basel 1997, S. 243– 256. — »Zu den ›Anwendungen der Psychoanalyse‹«, in: BRIEF der Psychoanalytischen Assoziation »Die Zeit zum Begreifen« 19 / 20 (1997), S. 56– 72. Reik, Theodor: Dreißig Jahre mit Sigmund Freud, München 1976. Safouan, Moustapha: »Gesellschaft und Glauben«, in: Jutta Prasse / ClausDieter Rath (Hg.), Lacan und das Deutsche. Die Rückkehr der Psychoanalyse über den Rhein, Freiburg i.Br. 1994, S. 133–136.

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ÜBERTRAGUNGSGEFAHR

Die Autorinnen und Autoren Andrea Allerkamp, geb. 1960, Promotion an der Universität Hamburg. DFG-Stipendiatin an der Humboldt-Universität zu Berlin, Habilitation zum Thema Anruf, Adresse, Appell in Vorbereitung. Zwischen 1989 u. 1998 zunächst DAAD-Lektorin in Montpellier, dann Maître de Conférences in Toulouse. Veröffentlichungen (Auswahl): Die innere Kolonisierung. Köln / Weimar / Wien 1991; »Trauern um Medea? Müller via Euripides«, in: Gisela Ecker (Hg.), Trauer tragen – Trauer zeigen, München 1999; »›Qui écrit? A qui?‹ – Vom Kartenlesen und Adressieren: Derrida an Kafka«, in: Cahiers d’Études Germaniques 38 / 1 (2000); »Unhörbare Stimmen – Zur Figur des Anrufs im Hörspiel Ingeborg Bachmanns«, in: Gabriele Brandstetter / Sibylle Peters (Hg.), De Figura, München (im Druck).

Artur R. Boelderl, Studium der Germanistik und Philosophie in Klagenfurt, Dr. phil. sub auspiciis praesidentis, Assistent am Institut für Philosophie der Kath.-Theol. Hochschule Linz, Lehrbeauftragter für Gegenwartsphilosophie und für Literaturtheorie an der Universität Klagenfurt, Leiter des Instituts für psychohistorische Forschungen in Linz. Veröffentlichungen (Auswahl): Literarische Hermetik. Die Ethik zwischen Hermeneutik, Psychoanalyse und Dekonstruktion (Düsseldorf / Bonn 1997); (Hg. mit Florian Uhl:) Rituale. Zugänge zu einem Phänomen (Düsseldorf / Bonn 1999); »Writing a love letter to Schiller. Zur Konstitution von sex und gender in der Literatur am Beispiel von Patricia Dunckers Germanistin«, in: Friedbert Aspetsberger (Hg.), Hier spricht der Dichterin. Zur Konstitution des dichtenden Subjekts in der neueren österreichischen Literatur, Innsbruck / Wien 1998; »Philosophie der Geburt? Psychohistorie als Kulturtheorie«, in: Ralph Frenken / Martin Rheinheimer (Hg.), Die Psychohistorie des Erlebens, Kiel 2000.

Ulrike Oudée Dünkelsbühler, Dr. phil., M.A. U.C. Berkeley, Studium der Allg. Literaturwissenschaften, Romanistik u. Anglistik; freie Übersetzerin und Fremdsprachentrainerin; z.Z. Habilitationsstipendium der Univ. Hamburg zum Thema »Male der Institution« (Schnittstellen zwischen Dekonstruktion, jüdischem Textverfahren u. Psychoanalyse). 433

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DIE AUTORINNEN UND AUTOREN

Veröffentlichungen (Auswahl): Kritik der Rahmen-Vernunft. Parergon-Versionen nach Kant und Derrida, München 1991; Jacques Derrida, As if I were Dead – Als ob ich tot wäre. Herausgabe, Übersetzung und Applikationen mit Th. Frey, D. Jäger u. a., Wien: Turia + Kant 2000; »›Als ob Kafka eine Frau wäre‹ oder Wenn Sehstäbe Buchstaben lesen. Lektürefacetten zu Clarice Lispectors Die Passion nach G.H.«, in: texte. psychoanalyse. ästhetik. kulturkritik. Nr. 3, 20. Jg. 2000.

Filip Geerardyn, geb. 1961, ist Dozent für angewandte Psychoanalyse an der Vakgroep voor Psychoanalyse der Universiteit Gent, Belgien. Er lehrt Geschichte der Psychologie und Psychoanalyse sowie Kunst und ist Herausgeber der Zeitschrift Psychoanalytische Perspectieven. Vor kurzem hat er eine Forschungseinheit »Neuro-Psychoanalyse« gegründet, die sich mit der Konfrontation der aktuellen neuroscience mit der Freud/ Lacanschen Psychoanalyse beschäftigt. Veröffentlichungen (Auswahl): (Hg. mit G. van de Vijver:) Aux sources de la psychanalyse. Une analyse des premiers écrits de Freud (1877–1900), Paris 1998; Freuds Project. On the Roots of Psycho-analysis, London 1997. Susanne Gottlob, Studium der Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Hamburg, Promotion über »Stimme und Blick. Zwischen Aufschub des Todes und Zeichen der Hingabe in einer Konfiguration von Hölderlin – Carpaccio – Heiner Müller – Fra Angelico«. Jüngster Themenschwerpunkt: Einsamkeit und Literatur (Musil). Veröffentlichungen u. a.: »Eine Widmung, Titel und Namen. Zu Hölderlins Antigonä«, in: S. Gottlob, C. Jost, E. Strowick (Hg.), »Was ist Kritik?« Fragen an Literatur, Philosophie und digitales Schreiben, Hamburg 2000; »Nur ein Gruß – Die große Verkündigung von Fra Angelico im Kloster San Marco, Florenz«, in: S. Gottlob, K.J. Pazzini. E. Porath (Hg.), Kontaktabzug. Medien im Prozeß der Bildung, Wien 2001; »Ein Bild lesen. Die Grabbereitung von Vittore Carpaccio«, in: M. Schuller, E. Strowick (Hg.), Singularitäten: Literatur – Wissenschaft – Verantwortung (im Erscheinen).

Roger Hofmann, Dr. phil., Lehrbeauftragter an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M., arbeitet als Psychotherapeut in eigener Praxis in Bad Homburg v. d. H. Veröffentlichungen (Auswahl): Beschreibungen des Abwesenden – Lektüren nach Lacan, Frankfurt a. M. / Berlin / New York 1996; (Hg. mit H.-D. Gondek u. H.-M. Lohmann:) Jacques Lacan – Wege zu seinem Werk, Stuttgart 2001.

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DIE AUTORINNEN UND AUTOREN

Claudia Jost, Studium der Literaturwissenschaft, Politischen Wissenschaften und Soziologie in Freiburg und Hamburg, Promotion an der Universität Hamburg. Visiting Research Fellow an der Hebrew University of Jerusalem, Israel (Franz Rosenzweig Center of German-Jewish Literature and Culture). Derzeit Habilitierung über Hannah Arendt, Elias Canetti und Emmanuel Lévinas; Visiting Fellow am Department of German Languages and Literatures der Princeton University, USA. Veröffentlichungen: Die Logik des Parasitären. Literarische Texte, Medizinische Diskurse, Schrifttheorien, Stuttgart 2000; (Hg. u. a.:) »Was ist Kritik?« Fragen an Literatur, Philosophie und digitales Schreiben, Hamburg 2000; Aufsätze zu Theater-, Medien- und Schrifttheorien, zur Konstituierung des Körpers zwischen Gesetz und Naturgesetz, zu Lebenswissenschaften und Psychoanalyse.

Max Kleiner, geb. 1959, arbeitet als freiberuflicher Psychologe in der »Rehabilitation psychisch Kranker«, Mitarbeit im »Lehrhaus der Psychoanalyse«. Veröffentlichungen: »Einige Bemerkungen über die psychotische Realität«, in: Fragmente 37 (1991); »Das Abgründige einer Gründung«, in: Schadchen 2 (1995); »Über Bilder«, in: Schadchen 3 (1995); »Warum ist Greenaway so langweilig?«, in: Schadchen 4 (1997); daneben Übersetzungen einiger Lacan-Texte: Seminar III teilweise, als Arbeitstext des »Lehrhauses« verbreitet; Seminar XXII RSI, vorgestellt im LacanArchiv Bregenz 1998, dort als Arbeitstext beziehbar; Seminar XXIII Das Sinthom, nicht veröffentlicht. Burkhardt Lindner, Professor am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft und am Institut für Deutsche Sprache und Literatur I der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M. Sprecher des Graduiertenkollegs »Zeiterfahrung und ästhetische Wahrnehmung«, Mitglied des Graduiertenkollegs »Psychische Energien der bildenden Kunst«. Monographien und Sammelbände zu Jean Paul, Walter Benjamin, Theodor W. Adorno, Bertolt Brecht, Peter Weiss, Literatur- und Medientheorie. Zahlreiche Aufsätze zum 18. Jahrhundert, zu Moderne und Avantgarde, zur zeitgenössischen Literatur- und Medienproduktion sowie zur psychoanalytischen Kunst- und Kulturtheorie.

René Major, lebt und arbeitet als Psychoanalytiker in Paris. Herausgeber der Zeitschrift Cahiers Confrontation und Mitglied des Comité Directeur des Collège International de Philosophie. Veröffentlichungen (Auswahl): Rêver l’autre, Paris 1977; L’Agonie du jour, Paris 1979; Le Discernement. La psychanalyse aux frontières de la biologie, du droit et de la philosophie, Paris 1984; De l’élection: Freud face aux idéologies américaine, allemande et soviétique, Paris 1986; Lacan avec Derrida: Analyse Désistentielle, Paris 1991. 435

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FILIP GEERARDYN

Charles Melman, lebt und arbeitet als Psychoanalytiker in Paris. Begründer der Association freudienne internationale, ehemaliger Chefarzt der psychiatrischen Klinik St. Anne. Veröffentlichungen: Nouvelles Études sur l’Hysterie, Paris 1982; Psychoanalytisches Seminar, Paris (Reihe Édition Association freudienne). Bettina Noddings, geb. 1949, Studium der Psychologie in Frankfurt a. M. und Münster. 1976 Wissenschaftliche Hilfskraft im DFG-Forschungsprojekt »Psychosoziale Entwicklung thalidomidgeschädigter Jugendlicher«, ab 1977 Psychologin an einer privaten Schule (Gymnasium), seit 1992 eigene Praxis in Achern. Veröffentlichungen: »Ent-Lehren«, in: Diskurier 1 (1992); »Zum Wort kommen beim Lernen und Lehren«, in: Eckes-Lapp / Körner (Hg.), Psychoanalyse im sozialen Feld (Prävention – Supervision), Gießen 1998; »Gewalt und Lernen – Haß, Ohnmacht und Gleichgültigkeit zwischen ›Prävention‹ und ›Wissen‹«, in: Forum 22, Freiburg 1998. Jutta Prasse, Dr. phil., Studium der Germanistik und Romanistik in Freiburg, Wien und Paris. Nach dem Studium 15 Jahre in Italien, in dieser Zeit (in Mailand und Paris) Ausbildung zur Psychoanalytikerin. Seit 1981 in Berlin als Psychoanalytikerin in freier Praxis und als Übersetzerin tätig. Mitbegründerin der Sigmund Freud-Schule (1978), der Zeit zum Begreifen (1988) und der Freud-Lacan-Gesellschaft (1997). Veröffentlichungen zahlreicher Aufsätze in Zeitschriften und Sammelbänden. Buchpublikation: (Hg. mit C.-D. Rath:) Lacan und das Deutsche. Die Rückkehr der Psychoanalyse über den Rhein, Freiburg 1994.

Claus-Dieter Rath, lebt und arbeitet als Psychoanalytiker in Berlin. 1979 bis 1984 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Semiotik und Kommunikationstheorie der Freien Universität Berlin, 1984 Promotion am Institut für empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen. Gründungsmitglied der Fondation Européenne pour la Psychanalyse (1991), der Assoziation für die Freudsche Psychoanalyse (1994) und der Freud-Lacan-Gesellschaft. Psychoanalytische Assoziation Berlin (1997). Veröffentlichungen (Auswahl): »Olympiade 1936«, in: C.-D. Rath / J. Prasse (Hg.), Lacan und das Deutsche. Die Rückkehr der Psychoanalyse über den Rhein, Freiburg i. Br. 1994; »BELLE VUE / Stimmfähigkeit. Aussichten und Ansichten der Psychoanalyse«, in: A. Michels / P. Müller / A. Perner (Hg.), Psychoanalyse nach 100 Jahren, München / Basel 1997); (Hg. mit Jutta Prasse:) Lacan und das Deutsche. Die Rückkehr der Psychoanalyse über den Rhein, Freiburg i. Br. 1994; (Hg. mit André Michels, Peter Müller, Achim Perner:) Jahrbuch für klinische Psychoanalyse, Tübingen 1998 ff.

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25.09.01 --- Projekt: transcript.übertragung.übersetzung / Dokument: FAX ID 00f5298810078970|(S. 433-439) T02_01 autoren.p - Seite 436 298810079066

DIE AUTORINNEN UND AUTOREN

Manfred Riepe, geb. 1960, Journalist, lebt in Frankurt. Veröffentlichungen (Auswahl): »Karzinome der Lust. David Cronenbergs Filme mit Lacan«, in: Kunstforum 133 (1996); »Das bleierne Richtmaß. Freud und die Nikomachische Ethik«, in: RISS 37 / 38 (1997); »Sie kommen von innen. Körper und Fremdkörper in David Cronenbergs Filmen«, in: RISS 39 / 40 (1997); »Die Phobien. Ein Versuch über Angstneurose und psychotische Angst«, in: RISS 42 (1998); »Der große Andere und der kleine Unterschied. Vom Gödelschen Unvollständigkeitssatz zum Namen-des-Vaters bei Lacan«, in: RISS 47 (2000).

René Scheu, geb. 1974, Studium der Philosophie und Romanistik in Zürich. Mitarbeiter bei verschiedenen Zeitungen und als Übersetzer. Arbeitsschwerpunkt: zeitgenössische italienische Philosophie.

Regula Schindler, lebt und arbeitet als Psychoanalytikerin in Zürich. Arbeitsschwerpunkte: Übermittlung der Seminare und Schriften von Jacques Lacan. Vortrags- und Seminartätigkeit in der Schweiz, in Frankreich und Deutschland. Arbeitsschwerpunkte: Psychoanalytische Topologie, Begrifflichkeit, Klinik, Verhältnis Psychoanalyse-Kunst, Psychosen. Veröffentlichungen (Auswahl): »Alberto Giacometti: Die ZeitRaum-Scheiben«, in: M. Heller u. a. (Hg.), Zeitreise, Museum für Gestaltung, Zürich 1993; »Die bleichen Berge: Eine postmoderne Geognostik«, in: M. Sturm u. a. (Hg.), Phantasma und Phantome, Offenes Kulturhaus, Linz 1995; »Versagen des Glaubens in der Psychose«, in: A. Michels / P.-Müller / A. Perner (Hg.), Psychoanalyse nach 100 Jahren, München/ Basel 1997. Michael Schmid, Dr. phil, Psychoanalytiker, Mitbegründer des Lacan-Archiv Bregenz, der Assoziation für die Freudsche Psychoanalyse und des Lacan Seminar Zürich. Mitherausgeber der Zeitschrift RISS. Veröffentlichungen in RISS, texte u. a.

Gerhard Schmitz, geb. 1953, Studium der Literaturwissenschaft, Skandinavistik u. Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M.; Promotion 1983. 1984–1996 Lehrbeauftragter für Literaturwissenschaft, seitdem als freier Wissenschaftler und Übersetzer tätig. Veröffentlichungen (Auswahl): »Zwischen Genießen und Begehren. Anmerkungen zur Angst«, in: RISS 42 (1998); »Maske und Angst. Bemerkungen aus psychoanalytischer Sicht«, in: A. Schäfer / M. Wimmer (Hg.), Masken und Maskierungen, Opladen 2000; »Das Seminar von Jacques Lacan. Aspekte seiner Geschichte«, in: H.-D. Gondek / R. Hofmann / H.-M. Lohmann (Hg.), Jacques Lacan – Wege zu seinem Werk, Stuttgart 2001. 437

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DIE AUTORINNEN UND AUTOREN

Private Übersetzungen von Seminaren sowie von bisher nicht in Deutsch vorliegenden Aufsätzen Lacans und anderer Autoren des Freudschen Feldes.

Marianne Schuller: seit 1984 Professorin für Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg; verschiedene Stiftungsprofessuren in den USA; Arbeitsschwerpunkte zur Literatur und den Wissenschaften vom Menschen (Medizin, Psychiatrie, Psychoanalyse), Gender Studies und Theater; zahlreiche Aufsätze hierzu wie im ›klassischen‹ Feld der Literaturwissenschaft. Veröffentlichungen (Auswahl): Moderne. Verluste. Literarischer Prozeß und Wissen, Basel / Frankfurt a. M. 1997; (Hg. mit Claudia Reiche und Gunnar Schmidt:) BildKörper. Verwandlungen des Menschen zwischen Medium und Medizin, Hamburg 1998; (Hg. mit Gunnar Schmidt:) Mikrologien. Studien zum Kleinen, 2001; (Hg. mit Elisabeth Strowick:) Singularitäten. Literatur – Wissenschaft – Verantwortung, 2001.

Edith Seifert, Dr. phil., Studium der Romanistik und Soziologie, seit 1989 Psychoanalytikerin in Berlin, Gastprofessuren in Wien und Innsbruck, z. Zt. am Institut für Erziehungswissenschaft in Innsbruck. Derzeitiger Arbeitsschwerpunkt: Körper und Seele in der Psychoanalyse; Neurologie und Psychoanalyse. Elisabeth Strowick, Dr. phil., geb. 1967; Studium der Germanistik und Psychologie an der Universität Hamburg; 1994 Diplom im Fach Psychologie; 1995–1998 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Psychologie der Universität Hamburg; Promotion 1998; 1998– 2000 Mitarbeit am Forschungsprojekt »Körperbilder. Mediale Verwandlungen des Menschen in der Medizin« von Prof. Dr. Marianne Schuller, Universität Hamburg; Lehrbeauftragte am Literaturwissenschaftlichen Seminar und am Psychologischen Institut der Universität Hamburg; derzeit Habilitierung über das Thema: »Sprechende Körper. Konzepte von Performativität in Rhetorik, Literatur und Psychoanalyse«. Arbeitsschwerpunkte: Literaturtheorie, Psychoanalyse, Rhetorik, feministische Theorie. Veröffentlichungen: Passagen der Wiederholung. Kierkegaard – Lacan – Freud, Stuttgart 1999, sowie mehrere Aufsätze.

Helena Texier, Dr. phil, Psychoanalytikerin in privater Praxis in Dublin, Irland. Vormals Lehrbeauftragte am Centre for Psychoanalytic Studies und an der School of Psychotherapy und am Trinity College Dublin; Herausgeberin der Zeitschrift THE LETTER – Lacanian perspectives on psychoanalysis.

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DIE AUTORINNEN UND AUTOREN

Georg Christoph Tholen, Prof. Dr. phil., Ordinarius für Medienwissenschaft mit kulturwissenschaftlichem Schwerpunkt an der Universität Basel; 1980–1994 Mitherausgeber von Fragmente, Schriftenreihe für Kultur-, Medien- und Psychoanalyse. Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Medienphilosophie, Theorie der Psychoanalyse, Raum und Zeit, Erinnern und Vergessen. Veröffentlichungen (Auswahl): (Hg. mit M. Sturm u. R. Zendron:) Phantasma und Phantome. Gestalten des Unheimlichen in Kunst und Psychoanalyse, Linz 1995; (Hg. mit E. Weber:) Über das Vergessen(e). Anamnesen des Undarstellbaren, Wien 1997; (Hg. mit M. Scholl:) DisPositionen. Beiträge zur Dekonstruktion von Raum und Zeit, Kassel 1997; (Hg. mit W. Coy und M. Warnke:) HyperKult. Geschichte, Theorie und Kontext digitaler Medien, Basel / Frankfurt a. M. 1997; (Hg. mit S. Schade:) Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München 1999.

Samuel P. Weber, Prof. Dr. phil., lehrt Englische und Vergleichende Literaturwissenschaft an der University of California, Los Angeles und an deren Paris Program in Critical Theory. Veröffentlichungen (Auswahl): Rückkehr zu Freud. Jacques Lacans Ent-Stellung der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. / Berlin / Wien 1978; Freud-Legende. Vier Studien zum psychoanalytischen Denken, Wien 1989; »Zur Singularität des Namens in der Psychoanalyse. Lacan und Heidegger«, in: E. Seifert (Hg.), Perversion der Philosophie. Lacan und das unmögliche Erbe des Vaters, Berlin 1992; »Von der Ausnahme zur Entscheidung. Walter Benjamin und Carl Schmitt«, in: E. Weber / G. Ch. Tholen (Hg.), Das Vergessen(e). Anamnesen des Undarstellbaren, Wien 1997; in Vorbereitung: Benjamins-abilities sowie Theater als Medium.

Sigrid Weigel, geb. 1950, Studium der Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg; Promotion 1977, Habilitation 1986. 1984–1990 Professorin am Literaturwissenschaftlichen Seminar der Universität Hamburg; 1990–1993 Vorstandsmitglied des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen; 1992–1998 Professorin am Deutschen Seminar der Universität Zürich. 1998–2000 Direktorin des Einstein Forums Potsdam. Seit 1999 Professorin am Institut für Deutsche Philologie, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der TU Berlin und Direktorin des Zentrums für Literaturforschung Berlin. Veröffentlichungen (Auswahl): Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise, Frankfurt a. M. 1997; Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses, Wien 1999. Neuere (Mit-)Herausgaben: Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster, Köln u. a. 1999; Gershom Scholem. Literatur und Rhetorik, Köln u. a. 2000; Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, München 2000; Zur Medien- und Kulturgeschichte der Stimme 2001. 439

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transcript Kulturwissenschaften Novitäten Herbst 2001 Georg Christoph Tholen,

Rainer Winter,

Gerhard Schmitz,

Lothar Mikos (Hg.)

Manfred Riepe (Hg.)

Die Fabrikation

Übertragung – Übersetzung –

des Populären

Überlieferung

Der John Fiske-Reader

Episteme und Sprache in der

(Cultural Studies 1, hrsg. von

Psychoanalyse Lacans

Rainer Winter)

Oktober 2001, 452 Seiten,

Aus dem Englischen

kart., 49,80 DM

von Thomas Hartl

ISBN: 3-933127-74-2

Oktober 2001, 372 Seiten, kart., 49,80 DM

Hans-Joachim Lenger

ISBN: 3-933127-65-3

Vom Abschied Ein Essay zur Differenz

Udo Göttlich, Lothar Mikos,

Oktober 2001, 242 Seiten,

Rainer Winter (Hg.)

kart., 49,80 DM

Die Werkzeugkiste

ISBN: 3-933127-75-0

der Cultural Studies Perspektiven, Anschlüsse und

Annette Keck,

Interventionen

Nicolas Pethes (Hg.)

(Cultural Studies 2, hrsg. von

Mediale Anatomien

Rainer Winter)

Menschenbilder als Medienprojektionen Oktober 2001, 454 Seiten,

Oktober 2001, 348 Seiten, kart., 49,80 DM ISBN: 3-933127-66-1

kart., 49,80 DM ISBN: 3-933127-76-9

Stefan Weber Medien – Systeme – Netze Elemente einer Theorie der Cyber-Netzwerke Oktober 2001, 128 Seiten, kart., 24,80 DM ISBN: 3-933127-77-7

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

20.09.01 --- Projekt: transcript.übertragung.übersetzung / Dokument: FAX ID 008d298403519098|(S. 440

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