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German Pages 65 [68] Year 1887
Dorträge -er theologischen Konferenz zu Gießen gehalten am 9. Juni 1887.
(III. Folge.)
Professor Dr. W. Herrmann (Marburg) :
Der Begriff der Offenbarung.
Profeffor Dr. Karl Müller (Gießen) : Bericht über den gegenwärtigen Stand der Forschung
auf dem Gebiet der vorreformatorischen Zeit.
Gießen, I. Ricker'sche Buchhandlung.
1887.
Der Degriff der Gffenbanmg von
Profeffor Dr. W. Herrmann in Marburg.
Der Begriff der Offenbarung bildete in der zweiten Hälfte de- 18. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Hauptgegenstand aller theologischen
ES ist aber nicht meine Abficht, heute
Controversen.
dieses
alte Kampffeld
des
naturalismus aufzusuchen.
Rationalismus
und
Supra-
Nicht auf eine historische Be
trachtung habe ich es abgesehen.
Ich erbitte mir vielmehr
Aufmerksamkeit für die Darlegung eines Streites, in dem
wir alle stehn, ich meine den Kampf des Glaubens in unselbst.
Man kann den Begriff der Offenbarung so entwerfen, daß man von dem Begriffe Gotte« und seine- Verhältnisses zur Welt au-geht und dann die Frage erhebt, wie Gott
es anfange, um sich den Menschen mitzuteilen. stehe aber,
Muße fehlt.
daß
Ich ge
mir für ein solche- Unternehmen die
Einer solchen Bettachtung mögen sich die
Seligen überlassen; ein Mensch der selig werden will, wird dagegen leicht in der Lage sein, daß er dafür keine Zeit
hat.
Wir dürfen nicht meinen, daß wir die Gegenstände
der religiösen Begriffe in guter Ruhe bettachten können
wie ein Astronom die Sterne. Denn al- das, was sie wirllich sind, stehen diese Gegenstände nur dann vor uns, wenn sich
1*
4 unser Innere- an ihnen aufrichtet.
Deshalb dürfen wir
die Frage, was die himmlischen Dinge seien, nicht trennen
von der Frage, wie die himmlischen Dinge an uns wirken
So ist es auch mit der
vnd uns dadurch gewiß werden.
Offenbarung
selbst.
Wollen wir sehn, was die Offen
barung ist, so müssen wir darauf achten, wie die Offen
barung uns gewiß wird und uns hilft.
Es ist ja nicht
schwer zu sagen, was im allgemeinen unter Offenbarung,
unter
den
biblischen
Ausdrücken
ajcoxaAvitteiv
und
tpavEQow zu verstehen sei, das Enthüllen eines bisher
Verhüllten, das Hervorführen eines bisher Verborgenen.
Aber den wirklichen Sinn solcher Worte erfassen wir doch erst, wenn wir an uns selbst erfahren,- wie das, was wir längst Offenbarung genannt haben, uns aus etwa« alt
Gewohntem zu etwas unbegreiflich Neuem wird.
Deshalb
lernt man in behaglicher Ruhe, etwa in einem bequemen Schriftstudium die Offenbarung noch nicht kennen.
Es
muß noch etwas anderes dazu kommen, was weniger erfteulich ist als das Nachsinnen über die Schriftgedanken,
das ist die Anfechtung, die Not.
Wer nichts davon weiß,
daß er im Dunkeln sitzt, kann auch gar keine Vorstellung davon bekommen, daß Gott ihn aus der Finsternis zu seinem wunderbaren Lichte führt.
Also den Kampf der Anfechtung
in uns selbst müssen wir uns ansehn, wenn wir wiffen
wollen, was die Offenbarung ist.
Das Wesen der An
fechtung aber besteht darin, daß wir unS unglücklich fühlen.
Das sind die Angefochtenen, die in allen Regionen ihrer
Existenz nichts entdecken können, was sie im Innersten zu frieden machen könnte.
Aus jeder Freude, welche die Welt
spendet, fallen sie in die unheimliche Stimmung zurück, in
welcher ihnen alles eitel vorkommt.
Durch den Druck der
Welt, durch Krankheit, Nahrungssorgen, Verkehr mit un
ausstehlichen Menschen werden ihre Kräfte nicht gespannt, sondern aufgelöst.
Nun diese Angefochtenen, dem Tode
Verfallenen, im tiefsten Unglücklichen sind wir selbst, wenn uns die Offenbarung ferne bleibt, die die Quellen unseres
persönlichen Lebens mit Licht und Wärme durchdringen kann.
Jene Leidenslast der Menschheit erfährt sogar bei
uns Christen noch eine eigentümliche Steigerung.
In un
arbeitet nicht nur wie in allen Menschen der unruhige
LebenStrieb, an dem das Leiden empfunden wird, sondern in uns dämmert auch eine Ahnung davon auf, in welcher
Form allein wahrhaftiges kraftvolles Leben möglich wäre.
Denn wir sind dazu erzogen, das Gute in seinem ewigen
Anrecht an unsern Willen zu verstehn und wir wissen daher recht wohl, daß nur der Weg des Gesetzes ein Weg
des Lebens sein kann.
Daraus ergibt sich für den Christen,
der sich in der Anfechtung befindet, der unerbittliche Schluß, daß er, der in seinem Innersten keine rechte Freude spürt,
es auch nicht besser verdient hat. Zu der Anfechtung durch die Not gesellt sich also bei dem Christen die Anfechtung
durch das innere Selbstgericht der Schuld; zu dem Über
druß an der Welt kommt bei uns der Überdruß an uns selbst.
Wenn uns irgend etwas aus diesem Todeszustand
wieder aufbrächte, dann könnten wir das doch wahrlich mit dem Prophetenwort begrüßen: „das Volk, das im Finstern
wandelt, sieht ein großes Licht." Was uns in solcher Lage und in solcher Weise als etwas nie Erlebtes vorkäme, das
könnten wir mit innerer Wahrhaftigkeit Offenbarung nennen. Denn dadurch wäre die Welt und wir selbst für unH ver-
6 ändert.
Wir hätten nicht nur einen Zuwachs an Kennt
nissen bekommen, sondern eine neue Art, alle Dinge zu sehn, eineu neuen Sinn und Mut.
WaS da- an un
bewirkt, da- ist Offenbarung.
Sind wir soweit gekommen, so können wir nun auch sagen, waS der Inhalt der Offenbarung sei.
Nur da-,
waS uns aus der Anfechtung rettet, d. h. uns aus der Verlorenheit unsres bisherigen Zustande- erhebt, macht auf uns den Eindruck des überwälttgend Neuen, einer
wahrhafttgen Offenbarung.
Vielleicht stimmen wir darin
alle überein, daß wir so etwa- lernten müssen, wenn das
Wort „Offenbarung" für uns einen rechten Sinn bekom men soll. Aber wenn wir nun in den Rahmen dieses all
gemeinen Offenbarungsbegriffs dasjenige eintragen wollen,
was uns als Offenbarung dargeboten wird, so fangen die Schwierigkeiten an und vielleicht auch die Differenzen.
Alltäglich kann man unter uns
folgendes hören: Die
heilige Schrift umfaßt die Fülle von Offenbarungen, welche uns gegeben find, ihre Lehren und Erzählungen find die
Mittel, wodurch uns Gott unsere Finsternis erhellen will.
Das darf man bei Leibe nicht leugnen, sonst träte man
ja von dem „Formalprinzip" der evangelischen Kirche zu rück, würde ein haltloser Schwärmer oder ein ganz Un
gläubiger, also auf jeden Fall rechtlos in der evangelischen Kirche.
Nun gut, wir wollen es einmal damit versuchen.
Das Weib ist aus der Rippe des Mannes gemacht, der Wüstenzug Israels ist von Wundern umgeben, ein Stern zeigte den Weisen aus dem Morgenlande den Weg zum
Christkinde, von allen Geschlechtern der Kinder Jsrael-
sind 144,000 versiegelt, von den Thoren de» neuen Jeru-
7 salemS ist jede- aus einer Perle gemacht.
Viele Christen
nennen alle diese Dinge Offenbarungen und nehmen fie
al» Wahrheit hin, weil sie in dem heiligen Buche ge schrieben stehn.
Aber wehe dem Christen, der nicht» davon
weiß, daß die Offenbarung
etwa»
andere» ist al» die
Summe solcher Dinge. Diese Erzählungen sind un» natür
lich etwas Neues, wenn wir sie zum ersten Male lesen, aber die Neuheit der Offenbarung haben sie nicht.
Sie
vergrößern den Kreis dessen, was wir für wirklich halten,
aber sie versetzen uns nicht in eine neue Wirklichkeit. Den»
wir selbst bleiben dieselben, mögen wir ihnen zustimmen oder sie ablehnen.
Ist aber in uns selbst nichts weiter
als der alte Mensch, so wird auch durch solche Mitteilungen
nur der Wirklichkeit des alten Menschen etwas hinzuge fügt.
Eine Offenbarung also, welche diese Wirklichkeit de»
alten Menschen durchbricht und un» sagen läßt: „da» Alte ist vergangen, siehe e» ist alles neu geworden" empfangen wir dadurch nicht. schlechte Auswahl
Aber vielleicht haben wir nur eine aus der Schriftoffenbarung getroffen.
Wir wollen zu höherem greifen. Der allmächtige Gott hat die Welt geschaffen; er hat sich von Ewigkeit her eine Ge meinde erwählt, in deren Dienst hat seine Weisheit die ganze Schöpfung gestellt, die Gestirne, die durch den Welt
raum rollen und den Wurm, der am Wege zertreten wird. Die Menschheit; au» der die Gemeinde Gotte» hervor
gehn soll, liegt in einem Streite mit Gott, den jeder vom Weibe Geborene als ein Flucherbe überkommt.
Um die,
welche ihm feind waren, zu retten, hat Gott seinen Sohu
in die Welt gesandt und sein Blut zu einem Mittel der Versöhnung gemacht; er hat endlich denen, die dem Sohne
8 folgen, feinen heiligen Geist gegeben, der sie zum Eingang Da- sind
in eine ewige Herrlichkeit vollbereiten wird.
doch sicherlich nach der Meinung der Meisten unter uns die wichtigsten und mächtigsten Schriftgedanken, und wohl dem Christen, der in ihnen lebt. Aber wehe dem Christen,
der sich einbildet, die Summe dieser Schriftgedanken mache
die Offenbarung an-, die alle- für ihn neu machen könne. Wir können diese Gedanken kennen lernen und können un- sogar so in sie eingewöhnen, daß sie uns ebenso sicher werden wie die in der Schule überkommene Lehre, daß sich
die Erde um die Sonne drehe.
Aber wir haben daran
feine Offenbarung, wir haben daran nicht einmal einen
sicheren Besitz.
Den Satz, daß sich die Erde um die
Sonne drehe, haben uns gelehrte Leute vorgesprochen, und schwerlich werden wir jemals eine Erfahrung machen, die uns das Zutrauen, daß die Sache sich so verhalte, er schüttern könnte.
Aber mit jenen Sätzen, welche die heilige
Schrift uns vorspricht, verhält es sich anders.
Wir können
leicht in eine Erfahrung kommen, welche uns das schnell erworbene Vorurteil, diese Sätze seien wahr,
entreißt.
Wenn uns eine rechte Not befällt, so lassen wir fteilich die Erde ruhig um die Sonne laufen; aber wie können leicht
dahin kommen, daß wir Gott nicht int Himmel thronen lassen.
Wenn wir uns ganz und gar unglücklich und
kraftlos fühlen, was ist solch ein Gefühl anders als eine
Leugnung Gottes?
Wenn wir in solcher Stimmung be
fangen sind, so sehen wir nur die Welt, die uns erdrückt
und vernichtet; einen Gott, der uns in allmächtigen Armen
emporhebt, sehen wir nicht.
In solchen Momenten soll es
uns schon klar werden, daß jene Schriftgedanken, die uns
9 den Himmel zu öffnen schienen, uns nur die Welt de alten Menschen erweitert hatten.
Wir können uns sogar
etnbilden, daß wir nach wir vor alle jene Dinge für wahr
halten, aber damit schassen wir die Thatsache nicht fort,
um welche sich die Welt des alten Menschen dreht.
ES
bleibt dabei, daß keineswegs unser Herz in Freude auf-
wallt und von Liebe überquillt; eS ist dann nach wie vor nichts darin als angstvolle Selbstsucht.
Und solch Mensch
will sich einbilden, er habe eine Offenbarung empfangen,
die als etwas unbegreiflich Neues in sein Leben getreten sei und eine neue Welt um ihn geschaffen habe!
ES sieht
so selbstverständlich aus, daß die Summe der gewaltigen
Schriftgedanken den Inhalt der Offenbarung ausmache, aber es ist dennoch nicht richtig. Denn, wenn es der Fall wäre,
dann müßten wir ja dadurch, daß wir diese Gedanken aus dem wunderbaren Wort der heiligen Schrift empfangen
und uns ihnen unterwerfen, in ein neneS Wesen versetzt werden.
Luther aber weist wohl mit Recht auf die That
sache hin, daß dies nicht der Fall sei, und daß eben des
halb die katholische Christenheit beflissen sei, ihren Glauben an eine solche Offenbarung zn ergänzen, indem sie sich durch ihre geistlichen Uebungen und andere Werke über
den Stand des alten Menschen zu erheben sucht.
Jene
Schriftgedanken bilden nicht den Inhalt der Offenbarung, sondern sie sind die Gedanken, welche in rechter Weise zu fassen, der Mensch erst dadurch befähigt wird, daß ihn die
Offenbarung
überall etwas Neues sehn läßt.
Freilich
kann der Mensch, bevor er durch die Offenbarung in ein
neues Wesen gebracht ist, jene Schriftgedanken sich an eignen, aber er macht dann etwas Altes daraus und bleibt
10 selbst wie er war.
In ihrem wirklichen Sinn können wir
jene Gedanken erst erfassen, wenn wir eine Offenbarung
geschaut haben, die wirklich etwas Neue- für uns ist, weil sie uns selbst erneuert.
Es ist nicht so, daß wir eine
Summe religiöser Lehren, welche die heilige Schrift uns
darreicht, uns aneignen müßte«, um dadurch erneuert und erlöst zu werden.
Wir müssen im Gegenteil bereits erneuert und erlöst sein, um in die Gedankenwelt der heiligen Schrift uns
hineinfinden zu können.
Was ist nun also der Inhalt der
Offenbarung, wenn die Schriftlehren es nicht sind?
Unter
Christen sollte doch wohl über die Beantwortung dieser Frage kein Zweifel herrschen.
Man muß schon viel un
fruchtbare Theologie getrieben und recht schlechte Unter weisung genossen haben, wenn man darüber in Zweifel ist.
Für den Christen,
ja für den frommen Menschen
überhaupt, der nichts weiter sucht als Gott, versteht eS sich von selbst, daß eben Gott der Inhalt der Offenbarung
ist. Alle Offenbarung ist Selbstoffeubarung Gottes. Irgend welche
Mitteilung
können wir erst dann Offenbarung
nennen, wenn wir Gott darin gefunden haben.
Gott aber
finden und haben wir, wenn er uns unwidersprechlich so berührt und ergreift, daß wir genötigt werden, uns ihm
gänzlich zu unterwerfen.
In anderer Weise ist'S nicht
möglich, denn Gott ist der Allmächttge.
Den allmächtigen
Gott aber haben wir noch nicht gefunden, wenn wir uns in unsern geheimsten Gedanken der Abhängigkeit von ihm entziehen.
Die Offenbarung des Allmächtigen erleben wir
in dem Moment, wo wir uns mit tiefer Freude unter
feine Macht beugen.
Gott offenbart sich uns, indem er
11 uns zwingt, ihm ganz und
Macht ist seine Liebe.
gar zu vertrauen.
Seine
Was helfen uns irgendwelche Mit
teilungen über Gott, wenn wir sie zwar für wahr halten,
aber sie im Stillen mit dem Gedanken begleiten, bester wäre es doch, wenn Gott nicht wäre.
Solchen Gedanken
kann nur ein Wesen hegen, das innerlich von Gott ge
schieden ist, dem also Gott nicht offenbar, sondern ver borgen ist.
Wir selbst können nun diesen Gedanken der
Gottlosigkeit nicht in uns auöttlgen.
Denn der unruhige
Leben-trieb, dem der Gedanke Gottes unbequem ist, weil er in Gott keine Ruhe findet, das sind eben wir selbst.
Gott allein kann das ändern, wenn er uns so nahe kommt, daß wir Freude an ihm haben und in freudigem Vertrauen
uns ihm gänzlich unterwerfen.
eö wäre möglich, daß
Nehmen wir einmal an,
Gott einen Menschen in solcher
Weise berühren könnte, das wäre ein Ereignis, das wirk
lich eine Offenbarung zu heißen verdiente.
Wenn wir da
erleben, so tritt etwa- völlig Neues in unsere Welt, das uns nie etwas Alte« werden kann.
Sonst mögen sich
unsere Gedanken ausdehnen, so weit sie wollen, wir finden
überall dieselbe Welt, die in dem Leben, das sie darreicht, den Tod verbirgt, die da« Lebendige, das sie erzeugt, zu einem Kampf um's Dasein verurteilt, der mit Vernichtung enden
muß.
Dieser Welt gegenüber verhärtet sich notwendig
unser LebenStrieb zu der unersättlichen Selbstsucht, die ihr eigenes Leben sich nur so denken kann, daß sie anderen das
Leben verkümmert.
Das wird alles anders, diese Welt
des Todes verschwindet, und wir selbst werden reich und satt und froh, wenn wir mit einem Wesen zusammen
treffen, daö uns seine allmächttge Liebe fühlen läßt. Denn
12 damit stehn wir ja in einer neuen Umgebung. Wir haben
nun ein Wesen vor uns, gegen das wir uns nicht zu wehren brauchen, dem wir nichts geben, sondern von dem
wir alles empfangen sollen. Offenbarung.
Das allein ist wahrhaftige
Das ist freilich etwa- anderes als die schön
geordnete Summe christlicher Lehren,
Bibel stehn oder im Katechismus.
mögen sie in der
Diese Lehren bringen
uns nicht in eine neue Wirllichkeit, sondern im Gegenteil
wir bringen sie ohne Mühe in der Welt des alten Men schen unter.
Auch auf solche hohe Lehren wie die von
der Trinität und von der Wiedergeburt verfällt der Mensch mit seinen Gedanken und macht sich seinen Vers darauf,
wie es möglich sei, daß drei Personen, eins sein können oder wie eS möglich sei, daß Gott den Menschen unbe schadet der Freiheit des menschlichen Willens zu einem
neuen Wesen machen könne.
Wenn einem das gelungen
ist, so hat man die vermeintliche Offenbarung glücklich in
der Welt des alten Menschen untergebracht.
Sie wird
nun selbst etwas alt Gewohntes und geniert den alten Menschen gar nicht mehr.
haftigen Offenbarung.
Anders ist es mit der wahr
Wenn wir sie nur überhaupt er
fahren, so bleibt sie uns etwas unbegreiflich Neues.
So
lange wir in uns selbst mit Sünde zu kämpfen haben, erleben
wir
es als eine wunderbare Offenbarung, daß
dieser Gott, die ewig lebendige, frei daherströmende Liebe,
dennoch uns lieben kann, die wir den Tod in den Ge
beinen fühlen und immer wieder in den Gedanken fallen, daß der andere sterben müsse, damit wir leben.
Solange
wir das Kreuz zu tragen haben, soll es uns wohl eine
wunderbare Thatsache bleiben, daß Gott in den Herzens-
13 gründ einer gequälten Kreatur eine Freude legen kann,
die durch keine Last erstickt wird.
Der Christ darf erfahren,
daß wie des Gottlosen Freude nicht recht im Grunde des Herzens ist, so
auch nicht das Trauern eines Christen.
Jeder Moment der Anfechtung, in welchem wir das er fahren und dadurch überwinden, hat immer wieder die Frische eines nie Erlebten.
Es ist nicht nur eine
disputable Sache für den Theologen, sondern
es
ist
eine
heilsnotwendige
Sache
Christen, daß er im stände ist, so haftige
Offenbarung
von
der
für
den
die wahr
Mitteilung
von Lehren und Berichten zu unterscheiden. Offenbarung ist dem Christen die Selbstoffenbarung Gottes d. h. die Thatsache, daß Gott ihn durch einen unwider-
sprechlichen Erweis
seiner allmächtigen Liebe überwältigt
und aus einem unglücklichen zu einem fröhlichen und ge trosten Menschen macht. barung halten.
Das allein sollen wir für Offen
Die christlichen Lehren sollen uns wert
und teuer sein, sofern in ihnen in der heiligen Schrift
bezeugte Gedanken zusammengefaßt sind.
Aber diese Ge
danken werden wahrlich nicht recht gewürdigt, sondern sie werden zu Mitteln der Sünde gemacht, wenn man ihre Summe die Offenbarung nennt.
Sie
sind
allerdings
Lebensgedanken, nämlich die Lebensgedanken, die Gott dem erlösten Menschen in's Herz gibt. Daß wir in ihnen leben
und denken lernen, darauf kommt alles an.
Aber wenn
man die Darreichung dieser Gedanken in Schrift- und
Kirchenlehre die Offenbarung nennt, so mutet man ja
dem Menschen zu, daß er selbst sie sich aneigne.
Denn
von einer Offenbarung, welche den Menschen dazu bringen
14 könnte, solche Dinge als Wahrheit zu denken, wird ja dann
ausdrücklich abgesehn.
Ihm selbst wird e- überlassen, daß
er au» der dargebotenen Lehre etwa» für sich mach«. Wenn
das angtnge, dann wäre freilich die Erlösung eines Men schen eine leichte Sache. selbst nichts
Da- wäre eine Erlösung, die
andere- wäre als eine neue Sünde.
Es
verhält sich vielmehr so, daß wir erst durch Gottes Offen
barung, die etwas andere-
ist als eine Summe heiliger
Lehren, neue und erlöste Menschen geworden sein müssen, dann ist in uns das lebendige Wesen vorhanden, das in jene» Gedanken sich bewegen kann.
Borher ist alles An
eignen derselben eitel Schein. Und dieser Schein ist um so widerwärttger, wenn man dann die Vollkommenheit deGlauben- darin sucht, daß man ein möglichst vollständige-
System dieser Schriftgedanken kennt und bekennt und die Christlichkeit anderer daran mißt, ob sie ein ebenso großes
Quantum von Lehren mit sich führen.
Luther sagt von
solchen Leuten, daß sie den neuen Wein des Evangeliums
in die alten Schläuche menschlicher Willenskraft
gefaßt
haben.
Also wir unterscheiden die Offenbarung Gottes von den Lebensgedanken des Erlösten, wie sie die heilige Schrift
uns darbietet.
Dann müssen wir aber auch Rede stehn
auf die Frage, wie wir denn an solche Offenbarung kommen.
Wir haben uns dem Verdacht
einzelnen Menschen mit
ausgesetzt, daß wir den
seinem inneren Leben als die
eigentliche Stätte der Offenbarung Gottes ansehn und
von objektiven Mächten der Offenbarung nicht- wissen
wollten. Es gibt ja in der That Theologen, welche meinen, die Offenbarung Gotte- sei ein Vorgang in der Seele,
15 in welchem der Einzelne ohne irgend welche Bezugnahme auf etwas Äußeres es verspüre, daß Gott ihn berühre.
Wer so etwas erlebe, der habe Gotte- Offenbarung em
pfangen und sei in dem Trachten nach solchen Erlebnissen Nun ich gehöre nicht zu den Be-
fromm oder religiös.
kennern dieser Mystik. Ich will zwar die Erlebnisse, welche man dort Offenbarung nennt, nicht mit harten Worten herabsetzen. Denn ich weiß sehr wohl, daß eine solche fromme
Gefühligkeit bei manchem aus einem herzlichen Verlangen nach Gemeinschaft mit Gott entstehn kann.
Aber ich darf
doch nicht verschweigen, warum es mir unmöglich ist, in
den Regungen, in welchen der Mensch
da« Umfaßtsein
vom Unendlichen unmittelbar zu fühlen meint, die Offen barung GotteS an den Menschen zu sehn.
Ersten- ist
eS nicht möglich, daß der Mensch in seinem Gefühlsleben allein die Gegenwart
Gottes als einer Macht, die ihn
rettet und über sich selbst hinaushebt, erfahre.
Was in
unserm eignen Herzen auflommt, hat Sünde an sich. Des
halb ist auch daS in der eignen Gefühl-erregung ergriffene Unendliche daö Erzeugnis eines nach Gott verlangenden, aber von Gott geschiedenen Herzens.
Zweitens entbehrt
eine solche Offenbarung grade dessen, womit sie uns helfen sollte. Sie hat keine von den Schwankungen unsere« innern
Leben« unabhängige Gewißheit.
Sind die erregten Ge
fühle auf da« gewohnte Maß der AlltagSstimmung herab gesunken,
so bemerkt der Mensch, daß er nach wie vor
auf der Erde liegt.
Die Gottverlaffenheit de« natürlichen
Leben- wird dann um so stärker empfunden und au- dieser
Empfindung entsteht notwendig der Zweifel, ob nicht da beglückende Erlebnis der GotteSnähe ein Traum und Ge-
16 dicht der Seele gewesen sei, die fteilich nach etwas Anderem
dürstet, als die Welt ihr geben kann.
Das Auflommen
dieser mystischen Frömmigkeit in der christlichen Gemeinde
ist ein merkwürdiges Beispiel davon, wie leicht der Mensch
die volle Wirtttchkeit, in der er steht, übersieht und in
Träumen lebt.
Für einen Christen sollte die Antwort ans
die Frage, wie er an die wahrhaftige Offenbarung Gottes
kommt, wahrlich nicht schwer zu finden sein. Er soll nicht mit Flügeln gen Himmel steigen, soll nicht nach außer ordentlichen Entzückungen trachten, aber er soll die Wirk
lichkeit anschauen und sich zu Herzen nehmen, in welche er täglich gestellt ist.
Fänden wir nicht in ihr die Offen
barung Gottes als den Felsen, der uns trägt, oder als den Stein des Anstoßes, an dem wir zerschellen, so würden
wir sie überhaupt nicht finden.
Aber sie ist vorhanden
als ein unleugbares Element unserer Welt.
Es ist die
geschichtliche Erscheinung Jesu, die ebenso zu unserer eignen
Wirllichkeit gehört wie der Rock, den wir anziehen, und das Haus, das wir bewohnen.
Die Frage aber, wie Jesus uns zur Offenbarung Gottes wird, können wir wiederum nicht in der Studier
stube erledigen.
Wir müssen uns dazu in die Nöte des
praktischen Lebens begeben, wir müssen sehen, wie in der Anfechtung uns Jesus als die Offenbarung Gottes rettet.
Nehmen wir einmal an, wir hätten alles, was in unsrer Kirche zum Preise des Erlösers gelehrt und gepredigt wird, nicht nur gehört, sondern auch willig ausgenommen. Diese
Gedanken, in welche wir uns eingewöhnt haben, sind unS ganz angenehm, so lange eS uns in trivialem Sinne gut geht.
Wir spüren vielleicht auch einen Hauch des Lebens,
17 au« welchem diese Gedanken gequollen sind und merken eS, wie unsere Seele sich danach
ausstreckt.
Aber eS
kommen auch für den Trägsten andere Zeiten, wo er aus solchem ruhigen Genießen herausgeschleudert
wird.
Er
gerät in Verhältnisse, in denen er nichts zu spüren meint
als eine vernunstlose Gewalt, die sein Glück zertritt. Er sieht dabei nichts weiter herauskommen, als daß er und andere,
die ihm teuer sind, unglücklich werden und verkümmern. In solcher Anfechtung hören wir wohl die Mahnung, wir
sollen uns an die Lehren halten, die das Wort des ApostelS
auslegen:
„Welcher auch seines eignen Sohnes nicht hat
verschont, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben, wie sollte er unS mit ihm nicht alles schenken."
die Mahnung und kennen die Lehre.
Wir hören
Aber die Organe,
mit denen wir uns an solche Lehren klammern sollen, sind
zu schwach
oder sie sind
wenn wir unS
Oder aber, lange
vielmehr gar nicht vorhanden,
gänzlich unglücklich und kraftlos fühlen.
dem Sünder wird seine Untreue, die er sich
verborgen hat, plötzlich enthüllt.
So lange noch
Leben in dem Sünder ist, richtet er sich selbst und verur teilt sich dazu, daß er alles bezahlen müsse, was er ver schuldet hat. Er versucht sich zu beffern; aber er macht die
Erfahrung, daß sein Wille keineswegs zurückschnellt in die
grade Richtung, weil er krumm gewachsen ist.
Die Beffe-
rung zeigt sich als eine unabsehliche Aufgabe mühsamer
Selbsterziehung.
Und nicht
einmal die ersten Schritte
kann der Sünder auf dieser endlosen Bahn machen. Denn nur aus Freude und Frieden heraus kann man das Gute wollen und das Böse Haffen.
Der Sünder aber, der sich
selbst richtet, ist ja eben dabei,
alles zu vernichten, was
18 ist ihm selbst wie Freude und Friede »««sieht. Sollte Hirt wirklich in solcher Lage da- helfen tonnen, daß wir die
Lehre vernehme«, die Strafforderung de- gerechten Gotte set durch da- Blut seine- Sohne- ««-geglichen? Oder
sollte darin vielleicht die Hülfe liegen,
daß wir un- in
der Arche da- Wort der Sündenvergebung spenden lasse«,
da- wir
in ruhigeren Zeiten schon oft mit gläubigem
Herze« zu hören meinten? Es muß ein recht sanfte- Ge
wissen fein, da- sich durch solche Lehren Men läßt.
Der
Sünder muß noch gar nicht in dem Selbstgericht steh«, da- ihn gänzlich kraftlos macht, wenn er sich die Kraft zutraut, solche Lehren und Verkündigungen für wahr zu
halten.
Der Fehler dabei ist offenbar.
Das, wovon man
die Erlösung eine- verlorenen Menschen erwartet, stellt Forderungen an un-, die wir eben nicht erfüllen können,
sofern wir verloren sind. Was für eine Glut wahrhaftigen Leben- gehört dazu, um den Gedanken jene- paulinische«
Worte- al- Wahrheit denken zu können! Und wir selbst sollten diese Glut in un- anblasen können, die wir tot und
kalt sind, weil wir unglücklich sind?
Könnten wir wirtlich
mit freiem Entschluß solch Bekenntnis des erlösten Menschen
als Wahrheit denken, dann lägen wir eben nicht mehr in
Anfechtung und Todesnot, sondern ständen frei darüber.
Nun sagt man uns aber, das Wort des Evange liums sei nicht etwa- Totes, dessen wir uns annehmen müßten, um etwa- daraus zu machen, es lebe vielmehr in
ihm eine Wahrheitsmacht, die den Verzagten stärkt und
den Trotzigen niederwirst.
Es werde durch das Wort der
heilige Geist Gotte- in unser Herz gegeben, und in seiner Kraft könnten wir glauben, was dem Unglücklichen und
19 dem Sünder unglaublich und unfaßbar sei.
geredet.
Da- ist recht
Aber wenn man mit solcher Lehre alles abge
macht zu haben meint, so hat man nicht die Hülfe ge
zeigt, sondern die Hülflosigkeit vermehrt.
Soll etwa der
verzweifelnde Mensch sich hinsetzen und warten, bis der heilige Geist ihm eingegossen wird?
Soll er etwa darum
beten, daß der heilige Geist ihm gegeben werde?
Wen«
er nichts weiter thut als das, so wird es ihm gar nichts
helfen.
Wohl toiü der himmlische Vater seinen heiligen
Geist geben allen denen, die ihn darum bitten.
Aber
sie müssen eben ihn selbst bitten und ihn selbst
können sie nur bitten, wenn sie ihn gefunden haben.
Ist
das letztere nicht der Fall, so hilft auch das Gebet um den heiligen Geist nichts.
Der heilige Geist wird auf
solche Weise nicht kommen, wohl aber ein anderer Tröster,
die Zeit, die das Außerordentliche gemein macht, und
schließlich das Ende eine« solchen HinsterbenS, der Tod. Dennoch ist e« richtig, daß eine rettende Wahrheitsmacht
durch das Wort des Evangeliums wirkt und daß uns der
heilige Geist dadurch verliehen wird.
Aber wir müssen
bestimmter davon reden können, wenn wir nicht fruchtlos reden sollen.
Der heilige Geist — das ist für jeden ein
leeres Wort, der nicht mit wachen Augen sieht und weiß,
wie ihm selbst der heilige Geist Gottes gegeben wird. Lassen wir also nicht bloß eine Lehre aus unserm Ge dächtnis durch unsern Mund laufen, sondern reden wir
von dieser Sache wie Christen, die die Anfechtung kennen
und die
Erlösung.
Die Wahrheitsmacht im Wort des
Evangeliums ist Christus selbst; und der heiüge Geist, in
welchem wir Lebensgedanken fassen können, wird uns da2*
20 durch verliehen, daß Christus ein Element unsres innere«
Lebens wird, wie er ein Element unsres bereits ist.
Wie
geschieht das?
äußeren Lebens
Einfach so, daß der in
der Anfechtung kämpfende Mensch Jesum Christum alUnsere Not macht uns ein
etwas Wirkliches wahrnimmt.
sam, unsere Sünde bereitet uns den Eindruck, daß wir von Gott
verlassen
sind.
Daraus
erwächst
dann
der
Wunsch und Gedanke des Thoren, es sei kein Gott. Sind
wir in schwerem Unglück, so wird dem Angefochtenen die
ganze Welt zu einer Macht schwerer Gewissensnot,
des Unheils.
Sind wir in
so wird uns alles, was an und
um uns ist, zur Sünde und zur Strafe für die Sünden.
In solcher Erfahrung kann uns das Wunderbare und das Rettende an der Person Jesu verständlich werden. nehmen nämlich wahr,
daß
Wir
sie der einzige Bestandteil
der wirllichen Welt ist, der sich nicht in dieses trübe Einer lei hinabziehen läßt.
Jede andere Thatsache, mag sie uns
sonst noch so erfreulich vorgekommen sein, kann uns durch Sünde und Unglück so verdorben werden, daß sie anfängt,
uns unsern Gott zu verbergen. daß wir die Erscheinung Jesu
Die Thatsache dagegen,
in unserer Welt antreffen,
oder die Thatsache, daß es so etwas gibt wie die Erschei nung Jesu läßt sich
nicht zu einem solchen Mittel der
Gottlosigkeit machen.
Man kann die Augen von ihm ab
wenden.
Aber wenn er dem Menschen so in den Weg
tritt, daß er ihn sehn muß, so ist nur ein Doppeltes mög lich.
Dem in der Sünde verhärteten Menschen, der es
gerne sähe, wenn Gott nicht wäre, wird dadurch der Ge danke aufgedrängt, es möchte doch wohl einen Gott geben,
in welchem das Gute Macht hat, und durch welchen das
21 Böse
gerichtet wird.
Dem Unglücklichen aber, der gern
aus der Sünde heraus und im Guten selig wäre, tritt in der Erscheinung Jesu der Gott nahe, der sich seiner
erbarmt.
Das muß man an Christus erlebt haben, dann
kann man von Gottes Offenbarung reden.
Dem Menschen, der in der Welt lebt, mögen über Gott noch so schöne Dinge gesagt werden, — Gott bleibt ihm trotz dem verborgen.
Denn wenn diese Lehren richtig sind, so
sind sie höchst wunderbar und allem entgegen, was der
Mensch sonst mit seiner Vernunft als wirttich feststellt.
Der
Mensch denkt daher im Stillen sicherlich von diesen Lehren, daß sie höchst schwächlich und schlecht begründet sind. Aber deshalb verspürt er auch aus solchen Lehren nicht die All
macht eines Gottes,
der den Glauben in ihm schafft,
sondern er vernimmt eben nur Lehren, die von ihm ver
langen, daß er sie für wahr halten und etwas aus ihnen
machen soll.
In eine ganz andere Situation werden wir
dagegen versetzt, wenn wir in der wirklichen Welt einer
unleugbaren Thatsache begegnen, die ohne alle Lehre über
sie durch die bloße Macht ihres Inhalts uns zu der Ge wißheit bringt, daß es einen Gott gibt, und daß dieser
Gott in ihr sich uns zuwendet. In den christlichen Lehren
erhebt sich sicherlich nur derjenige Mensch zu Gott, der sie als Wahrheit denken kann.
Aber er kann sich erst
dann so zu Gott erheben, wenn Gott ihn gefunden und
sich ihm offenbart hat.
Und das
thut Gott durch die
Erscheinung Jesu, die als ein in der Welt wirkliches Fak
tum uns berührt, sei es durch die Evangelien, sei es durch das christliche Leben erlöster Menschen um uns her.
Was ist nun das für ein Inhalt der Erscheinung Jesu,
22 der den Zweifel überwinde«, die Gewißheit begründen und dadurch uns Gott offenbaren kann.
Auf diese Frage kann
man eine erschöpfende Antwort nicht geben, und wenn man noch soviele Worte machte.
Aber dennoch läßt sich mit
wenigen Worten ganz genau sagen, wodurch un« Jesu« die Offenbarung Gottes wird.
Er wird dies durch alles
das, wodurch er uns nötigt, ihm zu vertrauen.
Wenn
sonst ein Mensch uns Vertrauen abgewinnt, so machen wir auch die Erfahrung, daß der unmittelbare Eindruck
seiner Person un- viel reicher vorkommt als alles, wa-
wir etwa zur Rechtferttgung unseres Vertrauens anderen sagen könnten.
So ist es auch mit Jesus Christus.
Viel
reicher.als alles, was wir uns in bestimmten Vorstellungen als Gründe unsres Vertrauens zu ihm vergegenwärttgen
mögen, bleibt der Inhalt des Bildes, das er seiner Um gebung eingeprägt hat.
Aber das eine wenigstens können
wir : wir können den allgemeinen Charakter aller der Ein
drücke angeben, welche von seiner Person her vertrauen weckend und dadurch befreiend auf uns wirken.
Alles daS läßt sich auf zwei Thatsachen zurückführen. Jesus enthüllt uns das Gute und macht den Anspruch, daß er das
Gute in der Welt wirttich mache, das ist daS Eine.
Da«
Zweite ist dies: er lebt in ungetrübter Zuversicht zu der Liebe eines Gottes, den er als die heilige Macht des Guten er
kannt hat.
Aus beiden ergibt sich eine einfache Folgerung.
Das Gewissen ist bekanntlich um so reizbarer, je mehr der Mensch den Ernst und den Umfang der sittlichen Forde
rung erfahren hat.
Wie empfindlich
für da« Schlechte
muß also die Seele gewesen sein, der zum erstenmale das Gute in seinem vollen Glanze erschienen ist, und die nun den
23 ungeheuren Gedanken auf sich genommen hat, daß von
und Wirklichkeit
ihrer Existenz
Guten in der Welt abhänge.
die
Verwirklichung
des
Trotzdem fällt ans diese
Seele kein Schatten von Schuld, keine Erinnerung an ein Vergehen stellt sich zwischen Jesus und seinen Gott, den
er doch als die verzehrende Allmacht des Guten kennen
gelernt hat.
Das schließen wir nicht etwa aus einzelnen
Worten Jesu, in denen er seine Sündlosigkeit bezeugt.
Wir entnehmen es auch nicht nur daraus, daß es allem
Eifer
des Hasses
nicht
ist,
gelungen
an
dem Bilde
seines Lebens die Spur einer sittlichen Verfehlung aufzu
finden.
Wir entnehmen vielmehr das Zeugnis dafür ans
dem Auftrag, den er seinen Jüngern bei dem letzten Mahle erteilt hat, und der ohne Zweifel die sicherste Überlieferung
darstellt, die wir von Jesus besitzen.
Jesus hat danach
die Kraft gehabt, angesichts seines Todes,
also in den
Momenten, wo das Gewissen unerbittlich die Summe des
Lebens zieht, etwas auszusprechen, was niemand sagen kann, dem eine Schuld gegenwärtig ist.
Er hat gesagt,
daß alle Menschen nach ihm in dem Rückblick auf seine Person die Erkenntnis finden würden, daß durch seinen Tod ihnen der neue Bund der Gnade und Vergebung
beschafft sei.
So konnte freilich auch ein Irrsinniger reden.
Aber dieser Mann mit
dieser Gesundheit
des sittlichen
Urteils konnte so nur sprechen, wenn er wirklich niemals
unter der Last seines übermenschlichen Berufes zusammen
gebrochen war.
In solcher Weise läßt sich alles dasjenige an dem überlieferten Bilde Jesu znsammenfassen, was
auf uns
als etwas unbestritten Wirkliches zu wirken vermag. bedürfen
keiner Anstrengung
des
Fiirwahrhaltens,
Wir
um
24 dies als etwa- geschichtlich Wirkliches aufzufassen.
Mr be
dürfen auch keiner apologetischer Künste, um diese Thatsachen gegen den Zweifel zu schützen. Sondern hier handelt es sich einfach darum, ob wir an dem Wirklichen vorübergehen oder
ob wir vor ihm stehn bleiben wollen. daß es so ist.
Und Gott sei Dank,
Denn eine Offenbarung, die uns retten
soll, darf nicht erst durch unsere Anstrengungen als eine Offenbarung festgestellt werden.
Wenn wir nun aber vor
jener Wirklichkeit der Person Jesu stehen bleiben, haben wir davon?
was
Wir haben davon, daß wir ihn ent
weder hassen müssen, weil er die Macht, welche der Sünde tötlich feind ist, über den Horizont der Menschheit herauf
führt; oder wir müssen ihn lieben und ihm vertrauen. Und wenn wir das Vertrauen zu ihm fassen, daß er wohl
Recht behalten möchte,
so fängt in nnS der Glaube an
sich zu regen, der die Lebensgedanken Gottes denken kann, weil die Gewalt Christi, der dies Vertrauen uns abgewinnt, in ihm wirksam ist.
An die Wirklichkeit Jesu knüpft sich
für den Menschen, der ihm vertraut, die Wirllichkeit einer
Macht über alle Dinge, die dafür sorgt, daß er mit seiner
Sache zum Siege kommt.
Gedanke unsres Gottes.
Das ist nichts anderes als der In solcher Weise wird für den
Christen die Gewißheit von Gott begründet und
durch Jesus Christus.
getragen
Und diese Gewißheit wird uns zu
einer Erlösung, indem wir
auf das Kreuz Jesu blicken
und unö klar machen, daß Jesus in seinem Kreuzestode sein ganzes Leben zu einem Zeugnis dafür zusammengefaßt
hat, er habe von uns Sündern nicht lassen wollen.
So wird uns Jesus zu einer erlösenden Offenbarung Gottes.
Sein Dasein in unserer Welt wird uns als die
Thatsache verständlich, in welcher Gott selbst sich uns zu-
25 wendet.
Das ist es aber, dessen wir bedürfen, daß wir in
der Anfechtung etwas haben, waS uns eines Gottes gewiß macht, der sich unser annimmt.
Das verstehn wir dann als
die an uns gerichtete, erlösende Offenbarung Gottes. Diese
Offenbarung macht uns zu neuen Menschen. Denn dadurch sind wir neue Menschen, daß wir eine Macht kennen, die
uns in die Gegenwart Gottes stellt und uns emporhält, wenn Not und Sünde uns ins Bodenlose
wollen.
hinabziehen
Wenn wir diese Erfahrung an Christus machen,
so nehmen wir uns nun nicht mehr vor, irgend welche
Lehren über Gott und göttliche Dinge für wahr zu halten.
Wir haben vielmehr nun die Fähigkeit und die Nötigung
empfangen, die Wirklichkeit eines Gottes, dessen leben
weckende Liebe wir bereits erfahren haben, als Wahrheit zu denken.
Wir sind nun auch imstande, unsern Brüdern
Zeugnis zu geben von einer Wirklichkeit, die uns glücklich
und frei macht, nicht bloß von Lehren, die wir mit Schrift
beweisen und Vernunftbeweisen mühsam unterstützen. lich ist dadurch das
in uns geschaffen,
wahrhaftige Liebe kommen kann.
End
woraus allein
Denn es ist nun ein
Grund zur Freude in uns gelegt, der uns wohl einmal verdunkelt, aber nicht entrissen werden kann, weil Christus fest und sicher in unserer Welt steht.
Der Gedanke daran
bildet aber den Lebensnerv der unergründlichen Freude,
welche allein uns
macht.
innerlich zu
wahrhaftiger Liebe frei
Der unglückliche in Trauer
gebundene Mensch
kann nicht lieben, sondern nur der glückliche und freie. Und dieses befreiende Glück wird dem Menschen geschenkt, wenn er durch alles, was sich ihm als Überlieferung auf
drängt, sich endlich dahin durchgerungen hat, daß er in
26 Jesu» Christus eine Thatsache seiner eignen Wirklichkeit erkennt und dieselbe ans sich wirken läßt.
Die durch die Bemühungen der kirchlichen Presse ge
schaffene
Sprachverwirrung
eröffnet
mir
die
ziemlich
sichere Aussicht, daß den obigen Ausführungen entgegen gehalten wird, das sei Rationalismus.
Mit solchen An
klagen möchte ich es so machen, wie es Luther den Teufeln
gegenüber anrät: ich will sie fröhlich verachten, als wären sie nichts.
Denn sie sind entweder Zeugnisse gewohnheits
mäßiger Unwahrhaftigkeit oder eines Unverstandes in theo logischen Dingen, mit welchem eine Diskussion zu führen
ganz
unfruchtbar und
überflüssig wäre.
In Wahrheit
fehlen an meiner Ausführung alle bezeichnenden Merkmale des theologischen Rationalismus.
Anders verhält es sich mit einem Einwurf, welcher
mir vor kurzem von sehr beachtenswerter Seite gemacht
ist.
Luthardt hat mir vorgehalten, eine solche Auffassung
der Offenbarung und des Glaubens bezeichne einen elemen taren Standpunkt, den zwar die Jünger in ihren Anfängen
eingenommen hätten,
den aber die Kirche längst über
wunden habe.
Wer in dieser Kirche lehren wolle, der
müsse imstande
sein,
nehmen.
einen höheren Standpunkt einzu
Er müsse die in der Schriftoffenbarung vor
liegenden Lehren als Offenbarung hinnehmen und in der
Kirche vertreten.
Diesen Einwand Luthardt'S habe ich
gern gehört, denn er hebt doch wenigstens wenn auch als einen Fehler das hervor, worauf es mir vor allem an
kommt.
Denn nach meiner Meinung braucht die christliche
Kirche nicht solche Lehrer, die irgend welche Lehren nach-
27 sprechen und sich dann berufsmäßig bemühen, denselben ihre
Vernunftbeweise
anzuhängen.
Kirche
Die
Christi
braucht vielmehr solche Lehrer, welche wissen und zeigen
können, was wahrhaftiger von Gott erweckter Glaube ist. Das können sie aber nur, wenn sie fähig und bereit sind,
die Offenbarung Gottes als eine in unsrer eignen Wirklichkeit stehende Thatsache von einer Überlieferung von Wenn das von
Lehren und Berichten zu unterscheiden.
Luthardt verteidigte Verfahren lange fortgesetzt wird, so werden notwendig der Gemeinde unerträgliche Lasten auf
gehalst, und es wird ei» Glaube gepflegt, mühseliges und ganz unfruchtbares Werk ist.
der ein höchst Denn Lehren
für wahr halten wollen, die man doch noch nicht als
Wahrheit denken kann, ein solches Vornehmen muß die Menschen entweder unglücklich machen oder zu Leichtsinn verleiten.
Die Predigt,
welche in solcher Weise geübt
wird, kann zwar die kirchliche Gewohnheit nicht stören, wird aber auch kein Leben wecken.
Denn sie fährt wie
eine unfruchtbare Wolke über die Köpfe der Leute mit
hohen Lehren hin, welche von diesen gewiß nicht, aber in
den meisten Fällen auch von dem Prediger nicht als Wahr heit erfaßt werden können.
Anders ist es mit der Predigt,
welche nicht aus dem Vorsatz hervorgeht, die Lehren Jesu
und seiner Apostel für wahr zu halten, sondern welche ein Zeugnis von der Thatsache ist, daß jemand in dem Menschen Jesus Gott gefunden hat und durch ihn überwälttgt ist.
In einer solchen Predigt lebt die Senfkornart des von
Gott geschaffenen
Glaubens;
und wie
sie selbst
nichts
Gemachtes, sondern etwas aus Gottes Kraft Erwachsenes ist, so wird sie auch bei aller Schlichtheit und Einfachheit
28 als ein Zeugnis des Lebendigen von Gott damit gesegnet
werden, daß sie Leben wecken darf. nötig, daß Alle,
bereit sind, sich
Der Kirche ist eS sehr
die in ihr lehren wollen, immer
wieder
auf den
fähig und
„elementaren"
Standpunkt des anfangenden Glaubens zu stellen.
Denn
wenn es wahr ist, daß wir täglich erneuert werden, so soll der Glaube wohl täglich in uns anfangen.
er sei ein Christ, der ist kein Christ."
„Wer da sagt,
Dann muß uns
aber in immer neuer Anwendung die Thatsache verständlich gemacht werden, welche einzig und allein die Zuversicht in unS wecken kann, daß ein Gott sich unser annimmt, der Sünden vergiebt.
im Ganzen
einer
Dazu bedarf es freilich für die Kirche wissenschaftlichen Arbeit,
Theologen im Stile Luthardts erspart bleibt.
welche
den
Dem ein
zelnen Pfarrer aber wird auch eine schwere Aufgabe ge stellt, wenn er immer wieder zeigen soll, wie Gott aus
den Nöten des innern Lebens den Glauben machen kann,
und wie dann solcher Glaube, der nichts Anderes ist als eine Regung des Geistes Gottes, in den christlichen Lehren,
die in früheren Zeiten der Kirche erzeugt sind, Lebens gedanken des Erlösten spüren kann.
Das ist schwerer als
wenn man diese Lehren selbst mit einiger Gefühlswärme
vorträgt und durch den kräftigen Ausdruck der eigenen
Erregung die Zuhörer zu einer wertlosen Zustimmung zu bewegen sucht.
Aber der Umstand, daß diese Praxis be
quemer ist, wird doch schließlich diejenigen, die es mit der
evangelischen Kirche ernst meinen, nicht abhalten können,
das andere Verfahren in ernstliche Erwägung zu ziehen.
Bericht über den gegenwärtigen Stand der Forschung aut dem Gebiet der vorreformatorischen Zeit vcn Professor Dr. Karl Müller in Gießen.
M. H.!
Wenn ich
den
mir
gewordenen Auftrag,
Ihnen über den gegenwärtigen Stand der Forschung auf dem
Gebiet
der
vorreformatorischen
Zeit
zu
berichten,
übersehe, so fühle ich mich veranlaßt, demselben vorerst eine bestimmte Umgrenzung zu geben.
Ich bin der Mei
nung, daß es sich nicht darum handeln könne. Ihnen ein
Bild von den unermeßlich vielen Einzelbeiträgen zu liefern, welche in den letzten Jahren auf allen Punkten des aus
gehenden 14. wie des 15. Jhs. die Forschung weiter ge
führt haben.
Diese Beiträge sind, so wertvoll sie auch an
sich sein mögen, doch großenteils nur für den verständlich
und fördernd, der darauf ausgeht, ein Gesamtbild der
Vorgänge und Zustände in der Kirche jener Zeit zu ge winnen.
Es wird aber nur das letztere für einen weiteren
Kreis von Hörern von Interesse sein.
Ich werde also
schwerlich irren, wenn ich mein Thema vor allen Dingen
so bestimme, daß ich Ihnen ein Bild davon zu liefern habe, wie auf Grund der verschiedenen in den letzten Jahren erschienenen Forschungen — und ich werde von
diesen nur
die
bedeutendsten Arbeiten
nennen — die
Grundanschauungen über das Vorterrain der Reformation des 16. Jhs. sich geändert oder vertieft und erweitert haben. Ich hätte dabei an sich die beiden Äste zu ver-
32 folgen, in welchen die geschichtliche Kurve verläuft, die
Auflösung und den Wiederaufbau. Ich betone gerade dieses Moment des Wiederaufbaus. Denn wenn irgend ein Gewinn aus den Erörterungen
der letzten Jahre unbedingt feststeht, so ist eS der, daß das kirchliche und religiöse Leben während des 15. Jhs. sich
aus seiner Auflösung sammelt und von da an nach einer Seite hin in aufsteigender Richtung bis zur Reformation
verharrt, so daß diese schließlich nicht in ein religionsloses,
kirchenseindliches Zeitalter eintritt, sondern vielmehr auf eine außerordentlich gespannte religiöse Erregung stößt und
mit dieser in Wettbewerb treten muß. Ich muß nun aber aus Gründen der Zeitersparniß
davon absehen, die Momente der Auflösung im einzelnen zu schildern, wie sie sich am Ende des 14. Jhs. heraus
gestellt haben.
Dieselben sind ja auch im allgemeinen
bekannt. Ich kann mich darauf beschränken, zu sagen, daß
sie durchaus nicht bloß in der Auflösung des religiösen
Lebens, im sittlichen Zerfall von Hierarchie und Mönch tum bestanden haben, sondern ganz wesentlich auch in der Auflösung der alten kirchlichen Gliederung, Verwaltung, insbesondere des Steuerwesens, sowie der Gerichtsbarkeit.
Das Mittelalter
hat in
diesen Dingen
unendlich viel
politischer und realistischer gedacht als wir heutigen Prote stanten, weil die Kirche damals der große Weltstaat war,
dessen Verfassung,
Rechtspflege, Steuerwesen und Ver
waltung zumal bei dem noch wenig entwickelten Umfang
der staatlichen Aufgaben aufs lebendigste mit den Interessen aller großen und keinen Kreise der bürgerlichen Gesellschaft verwachsen war.
33
So hat denn auch der Ruf nach Reform vor allem diesen Punkten gegolten, zumal dieselben gerade durch das Schisma in besondere Auflösung und Mißbildung einge
treten waren.
Und man wird den Reformconzilien nicht
gerecht, so lange man nicht alles Gewicht darauf legt, daß sie es in erster Linie auf eine Neuordnung der kirchlichen
Gerichtsbarkeit, des kirchlichen Steuerwesens, der Verwal tung
und Gliederung der Kirche und auf eine festere
Umgrenzung der Machtbefugnisse der einzelnen Stufen ab
gesehen haben. In einer für die mittelalterliche Kirche sehr bezeichnenden Weise hat man in diesen Punkten — und bei der damaligen Lage der Dinge zum großen Teil mit
vollem Recht — die Hauptursache des religiösen und sitt lichen Verfalls, des Verfalls der Seelsorge und der kirch lichen Volkserziehung gesehen. Es ist bekanntlich nicht gelungen, auf diesem Gebiet nachhaltige Erfolge zu erzielen.
Die Konzilien sind „zer
gangen und keine Reformation gemacht worden".
Allein
die Erkenntnis von der Notwendigkeit die Zustände zu bessern ist geblieben und hat auf anderem Gebiet Früchte getragen.
I. Ich stelle
an die Spitze meiner Darstellung eine
Gruppe von Reformunternehmungen, die zwar in inniger Verbindung unter einander, aber außerhalb des Rahmens derjenigen Versuche stehen, welche Hand in Hand mit der
allgemeinen
Kirche
sind, Unter
unternommen worden
nehmungen, die vielmehr Zeugen dafür sind, wie man seit
3
34
dem Ende des 14. Jahrhunderts beginnt, das Heil der Kirche
nicht mehr von Maßregeln zu erwarten, die von der Universal kirche ausgehen, vielmehr dasselbe durch engen Anschluß des kirchlichen Lebens an das nationale zu erreichen bestrebt ist:
eS sind die Unternehmungen der beiden Männer Willis
und HuS. Das wichtigste ist hier die Erkenntnis ihres Gesamt-
charakterS. Die frühere Zeit hat in diesen wie in andern Män
nern, in den Trägern einer religiösen oder politische Oppo sition oder einer lebendigeren, innerlichen mystischen Fröm
migkeit mit Vorliebe „Borreformatoren" d. h. Vorläufer der Reformation Luthers gesehen, ein Mißverständnis, das durch
Ullmann
am umfassendsten
ausgebildet worden war.
Längst war diese Auffassung zum Untergang reif.
Es hat
daher nicht bloß keinen beachtenswerten Widerstand
ge
funden, sondern sich in kürzester Zeit als etwas allgemein anerkanntes durchgesetzt, als R itsch l *) in markigen Zügen
den Nachweis lieferte, daß diese Bewegungen und einzelnen Männer alle sich auf der Grundlage der mittelalterlichen
Religiosität und
Auffassung
des
Christenthums erheben
und von den Grundlagen und Kräften spezifisch evange lischer Frömmigkeit auch nicht eine Spur aufweisen.
War damit der allgemeine Nährboden festgestellt, auf
dem alle diese Erscheinungen erwachsen sind, so mußte doch noch daS Wesen und die einzelnen Elemente derselben unter«
*) Rechtfertigung und Versöhnung Bd. P, 129 ff., Geschichte d. Pietismus I, Prolegomena.
35 sucht werden; und auch darin ist man in den letzten Jahren sehr erheblich weiter gekommen.
Für Wiklif ist ein Fortschritt nach zwei Seiten ge macht
worden :
1) ist das Ouellenmaterial, das bisher
großenteils in den Bibliotheken vergraben lag und nur von wenigen Gelehrten wie Lechler benutzt worden war,
an die Oeffentlichkeit gebracht worden durch die auf An
regung Buddensiegs ins Leben gerufene englische Wiklif-
gesellschaft; 2) hat Bud den sieg selbst in einer eigenen Schrift über W. *) die Forschung wesentlich gefördert, in dem er W. vom Boden des englischen Kirchenwesens, Volks
tums und Staats aus )u begreifen sucht.
Er weist auf
die gewaltige Umbildung hin, in welcher damals das eng lische Volkstum und die englische Gesellschaft begriffen waren,
und stellt die Züge zusammen, welche dieselbe bezeichnen : das Emporstreben der bisher unterdrückten angelsächsischen
Elemente und die Verschmelzung derselben mit den herrschenden
normännischen Klassen, die außerordentliche Zunahme des Nationalwohlstandes, aber wesentlich nur zu Gunsten einer
kleinen Minorität in der bürgerlichen Gesellschaft wie der Hierarchie, die gewissenlose Ausbeutung der armen Klassen
durch die reichen und mächtigen; die dadurch unter den ersteren hervortretende religiöse Jdealisirung der Armen
als der frommen und gottwohlgefälligen, das Durchdringen
der durch die Minoriten aus dem Joachimismus über nommenen Vorstellungen von dem notwendigen Kommen
*) Johann Willis und seine Zeit.
Verein« fllr Reformationsgeschichte.)
Halle 1885.
(Schriften des
36 eines furchtbaren Gerichts Über die Kirche als die Haupt vertreterin des verhaßten, am Mark der Armen zehrenden
Reichtums, der Züchtigung ihrer Häupter und Diener; die religiöse Verkleidung des sozialen Kriegs zwischen Kapital
und Arbeit, die Jdentifizirung von Arbeit und Frömmigkeit,
Kapital und
gottloser Genußsucht,
Härte und
Wider
göttlichkeit.
Unter der Einwirkung dieser Elemente steht Willis wenn er Hand in Hand mit einer großen Partei den
Kampf gegen die Kurie und deren verrottete Bundes
genossen im Königreich unternimmt.
Ueberall sind es die
Stimmungen und Gedanken seiner Zeit, die ihn bei seinem
Kampf gegen Kirche und Papsttum, Hierarchie und Bettel orden leiten, nirgends die evangelisch-reformatorischen des 16. Jahrhunderts.
Speziell sind es
die
mittelalterlich
asketischen, insbesondere die franziskanischen Ideale, durch welche die Kirche reformiert und ihr damaliger Machtbestand
aus den Angeln gehoben werden soll. Dazu kommt ein anderer Gedanke, der in ganz emi
nentem Maß mittelalterlich zu nennen ist, sofern er nicht
nur bezeichnend ist für die auf diesem Gebiet heimische Vermischung politisch-sozialer und religiös-ethischer Grund
sätze, sondern auch sofern er die ersteren gerade aus der
eigentlich
mittelalterlichen
der Gedanke nämlich,
daß
Gesellschaftsordnung
entlehnt,
die ganze Menschheit einen
großen Lehenskomplex bildet unter dem obersten Lehens herrn Gott, von dem jeder Mensch auch seinen bürger
lichen Besitz nach Lehensrecht trägt, so daß er auch durch jeden schweren Verstoß gegen das Gesetz dieses göttlichen
Lehensherrn
seine Lehen ipso jure verliert.
Es ist das
37 ein Gedanke, der namentlich der Kirche und ihrem Besitz
gegenüber zu einem furchtbaren Hebel werden konnte, so
fern
nach WillifS Anschauung
die Hierarchie tatsächlich
unablässig gegen Gottes Grundgesetze verstößt und eben darum zwar nicht von jedem einzelnen, wohl aber durch
den Staat ihres Besitzes entkleidet werden kann, indem dieser den Beruf erhält, den Krebsschaden der Kirche, ihre äußere
Herrschaftsstellung
und
ihren Reichtum
auszu
schneiden und so das Werkzeug des göttlichen Gerichts zu
werden, welches
nach
der joachimitischen Apokalyptik der
apostolischen Erneuerung der Kirche vorangehen muß. Buddensieg ist diesen Gesichtspunkten insofern aller dings nicht durchaus gerecht geworden, als er m. E. die
treibenden Gedanken in der Anschauung Willifs zu wenig in die Mitte gestellt, den eigentlichen Hebel mehr oder
weniger verkannt hat. Dagegen hat G o t t s ch i ck in einem Aufsatz über „H u S',
Zwinglis und Luthers Lehre von der Kirche" (Zeitschr. f. Kirchengesch. VIII.) diese treibenden Gedanken
an einem einzelnen Punkt ins Klare gestellt. er dort
Denn was
im Gegensatz gegen Krauß und Seeberg
HussenS Kirchenbegriff sagt,
gilt
über
mit denselben Worten
auch von Willis, der Quelle Hussens. Er hat hier den Nach
weis geliefert, daß nicht das Moment der Prädestination, sondern das des göttlichen Gesetzes und seiner ausschließ
lichen Geltung die antihierarchische Wendung des Kirchen begriffs bei Willis und Hrks bedinge. Denn sie machen einerseits
die Mitgliedschaft in der Kirche Christi nicht mehr von der äußeren Anerkennung durch die Hierarchie oder gar von der
Zugehörigkeit zu dieser selbst abhängig, sondern ausschließlich
38 von der Erfüllung des göttlichen Gesetzes. Die Verhärtung
gegen dieses zieht also von selbst auch den Verlust der hierarchischen Würde nach sich.
Und sie fordern anderer
seits als Bedingung der Rechtmäßigkeit und des verpflich
tenden Charakters für jede Institution der Kirche wie für jede Maßregel der Hierarchie die positive Übereinstimmung mit und die Gewährung an der einzigen absoluten Auto
rität, dem göttlichen Gesetz des A. und N. Ts. Diese anti
hierarchische Seite im Hus-Wiklifischen Kirchenbegriff läßt aber, wie G-
gleichzeitig nachweist, die Grundlagen der
mittelalterlichen Auffassung der Kirche unangetastet, sofern
diese die Heil sanft alt bleibt, die durch Sakrament und Priestertum die naturhaft gedachte Gnade ausspendet und vermittelt.
So ist auch von dieser Seite her sicher gestellt, daß der Begriff des göttlichen Gesetzes in seiner absoluten Geltung
und Erhabenheit über alle menschliche und kirchliche Ord nung für Willis im Mittelpunkt steht und den Hebel für
seine Polemik und Reform bildet.
Von demselben Gedanken
ist seine spätere Aussendung der Reiseprediger beherrscht,
mit welcher m. E. die zweite Epoche im Leben und Wirken
Ws. beginnt. Denn in dieser Tatsache, deren Vorbild wiederum durchaus im Gesetz Christi (Matth. 10) liegt, finde ich das Unternehmen, denjenigen Gedanken aufs neue durchzusetzen, mit welchem einst nach W. selbst der h. Franz die Reform
der Kirche, die Rückführung ihrer äußeren Gestalt auf die Armut und Selbstlosigkeit der apöstolischen Zeit versucht
hatte.
Nachdem der
Versuch durch
die Verkommenheit
seines Ordens gescheitert, soll er abermals durch Männer
unternommen werden, die streng nach Matth. 10 leben
39 ur.b ausschließlich Gottes Gesetz predigen und nach dem selben die Gläubigen bedienen.
Diese centrale Stellung
des Gesetzes bei W. ist aber eine Thatsache, die schon allein
den ungeheuren Abstand von dem reformatorischen Christen tum ausdrückt.
Gerade dieser Begriff des göttlichen Ge
setzes aber sollte auf einem andern Boden bald eine furcht bare Wirkung Hervorrufen.
Für die Beurteilung Hussens sind dieselben Gesichts
punkte maßgebend : weder bei ihm noch bei seinen sog. Vor läufern ist auch nur eine Spur von Gedanken der Refor
mation des 16. Jahrhunderts nachzuweisen.
Die Arbeiten
vor allem von Loserth (Hus und Wiklif.
Zur Genesis
der husitischen Lehre 1884) haben hier in einer Menge
Einzelheiten wie im Ganzen der Auffassung sehr wertvolle Ergebnisse gebracht.
Loserth hat die religiöse Bewegung
in Böhmen vor Hus und unter ihm schärfer untersucht als einer vor ihm.
Er hat mit andern ’) den Zusammen
hang mit der außerordentlichen Erhebung Böhmens und
seiner Kirche durch die Verwaltung Karls IV. ins Auge gefaßt, das fortwährende Steigen des Reichtums und der
Pracht, aber auch trotz aller gegenseitigen Bemühungen das Sinken der alten Ordnung und Einfachheit, zugleich die stetige Erhebung der bisher drunten gehaltenen cechischen Bevölkerung, und hat dann mit diesem ganzen Zustand die
Erscheinung der Vorläufer in Beziehung gesetzt.
Diese
sind nun vor allem dadurch bezeichnet, daß sie 1) in stei-
') Vgl. die Literaturnachweise im einzelnen in Zeitschr. f. Kg. VII, 105.
40 gendem Maß ihre Bußpredigt auf die astetisch-sittliche Re
form von Klerus und Volk richten und damit Niedrigkeit,
Armut und
Vernichtung de« Luxus, ja allen unnötigen
Schmucks verlangen und der Entsittlichung und Ueppigkeit
des Klerus scharf entgegentreten; 2) daß sie mehr und mehr
den häufigen, teilweise geradezu täglichen Genuß des Abend mahls empfehlen; 3) daß sie gleichfalls immer mehr die
eschatologisch apokalyptischen Gerichtsgedanken de« Joachi mismus aufnehmen und durch die Anwendung der Anti christsvorstellung auf gewisse Kreise der Hierarchie und des Mönchtums ebenso die schärfste Verurteilung des faktischen
Zustands der Kirche ausdrücken, wie die Nähe des gött lichen Endgerichts bezeichnen; 4) daß sie wiederum in stei
gendem Maß
der national cechischen Bewegung zu Hilfe
kommen und 5) endlich daß sie — freilich nur sehr teil weise — auch schon die Anfänge der sozialen Frage na mentlich auf agrarisch-bäuerlichem Gebiet (Verhältniß von
Herren und Bauern) heranziehen.
Auch bei ihnen dagegen
findet sich nirgends eine neue evangelische Anschauung vom Heil und von der Kirche; nur die Elemente der mittelal
terlichen Frömmigkeit und Kirchlichkeit sind zum Teil in
eine andere Ordnung gebracht: das asketisch-ethische ist über das hierarchische gestellt, aber die Bedeutung der Kirche als der Heilsanstalt bleibt unverändert. Bon
einem
unmittelbaren Zusammenhang Hussens
mit diesen Bußpredigern kann kaum die Rede sein.
Es ist
gerade das Hauptverdienst Loserths, nachgewiesen
haben, daß mit HuS eine Willifismus, die WMfie.
zu
ganz neue Linie beginnt, der Hus ist nichts anderes, als die
nach Böhmen verpflanzte Wiklifie, verbunden mit dem na-
41 tionalen Cechentum. ganze Geschichte.
Diese beiden Elemente erklären seine
Allerdings
ist auch Hus am Anfang
seines Auftretens vor allem Bußprediger gewesen — er hat seine Predigt namentlich gegen den Klerus gewandt,
das,
aber
Nation toren.
was
gemacht
ihn
zum Mann
der Zeit und seiner
hat, das sind allein jene
beiden Fak
Bon Jahr zu Jahr mehr hat er die Schriften Wik-
lifs studiert, benutzt, ausgeschrieben.
Ganze Kapitel seiner
eigenen Werke, ja man kann fast sagen ganze Werke von
ihm, sind nichts anderes als Abschriften aus Wiklifs Werken, mit dem einzigen Unterschied, daß statt englischer Namen böhmische
eingesetzt sind.
Um die Wiklifie ist der Streit
entbrannt, der Hus mit seinem Erzbischof entzweit hat;
haben
die
berühmte Spaltung
der Universität Prag herbeigeführt;
auf Wiklifie lautet
Wiklifie und Cechentum
seine Anklage in Konstanz und wegen Wiklifie ist er ver
brannt worden.
Zugleich aber ist in HuS und durch Hus diese Wiklifie
mit dem nationalen Cechentum verbunden worden. Höfler in seinen ebenso reichhaltigen, als gänzlich nachlässigen und
zugleich gehässigen Arbeiten zur Geschichte Hussens hatte ihn einst zum ausschließlichen Apostel des Cechentums gemacht. Das
ist einseitig. Aber ebenso gewiß ist es — um von älteren Ar
beiten abzusehen — durch Bezolds und Loserths Ar beiten bestätigt, daß Hus der Führer nicht bloß der Wikli-
fiten, sondern auch der cechischen Partei gewesen ist.
Das
Cechentum war es wesentlich, was die wiklifitische Bewe gung emporgetragen hat:
die beiden Ströme fließen in
einander und drängen gegen die feste Stellung der deutschen Kultur wie der kirchlichen Macht in Böhmen.
42
Das
Hussitentum
nach
Hussens
vereinigten Stromes
Fortsetzung dieses
Tod
dar.
stellt
eine
Aber neue
Wassermassen haben ihn inzwischen gespeist und zur brau senden und vertilgenden Flut anschwellen lassen.
Diese
ganze Bewegung, wie ihre einzelnen Schichten hat v. B e z o l d
in seinen ausgezeichneten culturhistorischen Studien „Zur Geschichte des Hussitentums" (1874) in ebenso sorgfältiger
wie fesselnder und schöner Weise geschildert.
Was in dieser
furchtbaren religiösen und sozialen Revolution durch ein ander gährt, das sind die verschiedensten Elemente aus der Zeit Hussens und
Schichten der samtentwiklung.
tionale,
seiner
Vorläufer, wie
cechischen Volks-
aus
andern
und der kirchlichen Ge-
Hier sind religiöse wie soziale und na
joachimitisch-apokalyptische
und
chiliastische,
wie
speziell wiklifische und waldensische Tendenzen, Gedanken,
Hoffnungen, Träume wirr durch einander.
Hier erscheint
der Hussit als der Krieger Gottes, als das Werkzeug des göttlichen Gerichts, das an den Todsiindern, den Verächtern seines Gesetzes, den ungetreuen Inhabern seiner Lehens güter, vor allem an der Kirche selbst vollzogen werden soll;
als der Engel des Gerichts, das alle Todsiinder und Gott losen mit Feuer und Schwert vertilgt, damit das tausend
jährige Reich Gottes kommen kann mit seiner neuen Ord nung der Dinge, mit der neuen Verteilung von Gut und Eigen, der alleinigen Geltung des göttlichen Gesetzes, mit
seiner völligen Aufhebung aller Standes- und Klassenunter
schiede,
aller Herrschaftsrechte und Privilegien, der unbe
dingten Gleichheit Aller, und damit dem ewigen Frieden,
mit seiner Aufhebung auch der bisherigen kirchlichen Ord
nung, des Unterschieds von Klerus und Laien, der Zer-
43 triimmerung aller äußeren Pracht und Herrlichkeit im Kult,
der Herstellung
der
schlichten, lediglich durch
einfachen
Gottes Gesetz geregelten Gottesverehrung.
Aber man hat allerdings,
wie Bezold mit Recht
scharf betont, darauf zu achten, daß in dieser zerstörenden Masse auch Elemente geborgen sind, die von der furchtbaren
Wildheit des gewöhnlichen Taboritentums völlig verschieden sind;
Elemente, die vielmehr bald sich von diesem Toben
zurüüziehen, sich ernüchtern,
die
chialistisch-sozialistischen
Stoffe ausscheiden und nur die religiösen Kräfte des Hus-
sitentums, der Wiklifie, wie der Vorläufer und des Waldensertums darstellen.
Hier besteht das Streben, vor allem
Gottes Gesetz im eigenen Leben zu erfüllen durch die Pflicht des Duldens und Entsagens, durch den Verzicht auf Gel
tendmachung eigener Rechte auch im bürgerlichen Leben den allgemeinen Frieden zu realisieren, die Gewalt der
Obrigkeit
entbehrlich zu machen.
Aus diesen Schichten
sind nach dem Brand die Männer hervorgegangen, deren
Vereinigung dann nach der Mitte des 15. Jahrhunderts durch Peter Chelcickh zum Bund der b ö h m isch e n B r ü d er
erfolgt ist.
Man gestatte mir hier eine geschichtliche Parallele.
Ich habe schon gesagt, daß die früher übliche Zusammen stellung von Hus mit Luther eine
gänzlich verfehlte ist.
Aber eine Parallele zwischen dem Hussitentum und der läuferischen Bewegung des Reformationszeitalters läßt sich bis in die Einzelheiten hinein durchführen.
Wahrscheinlich
sind auch thatsächliche Beziehungen zwischen beiden Be wegungen vorhanden.
Was Ritschl in seinen Prolego-
mena zur Geschichte des Pietismus den Franziskanern und
44 ihren Tetriarien zuweist, daß sie für eine ganze Menge
von Zügen der schwärmerischen und läuferischen Bewegung
des 16. Jhs. die Quelle bilden, das wird dem Hussitentum zuzuerkennen sein.
Dieses hatte einen großen Teil der
franziskanischen und joachimittsch-franziskanischen Elemente
in sich ausgenommen und verarbeitet und hatte, wie uns verschiedene Arbeiten (von Loserth, Bezold, Sello, Pro-
chaSka, Caro, Haupt) gelehrt haben *), im Bürgertum wie im Bauernstand während der zweiten Hälfte deS 15. JhS. eine weite Verbreitung gewonnen und so der religiösen
Schwärmerei wie der sozialen Revolution des 16. JHS.
überall den Boden bereitet.
So treten denn auch im
Hussitentum wie im Täufertum dieselben Züge hervor: geistliche und weltliche, religiöse und politisch-soziale; aus gelassene phantastische Schwärmerei wie schroffes Gesetztum im Einzel- wie im Gesammtleben, beides gegründet nament lich auf das A. T. und seine soziale wie sittliche Ordnung;
wilde Gährung, Revolutton, furchtbar blutige Zerstörung
des Bestehenden und
zugleich stille passive Gelassenheit,
Dulden und Entsagen; auf beiden Seiten der Wahn, zur
Vernichtung der Gottlosen und damit zur Anbahnung des göttlichen Reiches berufen zu sein und zugleich die Sanktion der entsetzlichsten Greuel im Kampf gegen die Feinde des
Herrn.
Fernerhin aber auf beiden Seiten die Ausscheidung
der stillen religiösen Elemente nach dem Sturm, die
Abllärung des religiösen Gehalts der Bewegung, die Bil dung von Gemeinden auf dieser Grundlage, die obwohl durchaus
unhierarchisch doch mit ihrem gesetzlichen und
*) Vgl. die Nachweise in Zeitschr. f. K.-G. VIII, 254 u. 259.
45 zugleich gefühlsmäßig frommen Leben mittelalterlich reli giösen Geistes sind, aber auf diesem Boden allerdings das
vollkommenste darstellen, was an religiösem Gemeindeleben darauf gebaut werden konnte, dort böhmische Brüder,
hier Mennoniten.
II. Von diesen nationalen Bewegungen, welche in der Re form beginnen, um mit ihrem Hauptstrom in der Zerstörung
zu endigen, sind ganz andere zu unterscheiden, welche Hand
in Hand mit der bestehenden Kirche gehen und teilweise
von dieser selbst oder
ihren
einzelnen leitenden Kreisen
unternommen werden. Ich stelle voran — auch der zeitlichen Ordnung fol
gend — die Reformationen auf dem Gebiet des Mönch
tums.
Wir haben hier zwei große Gruppen zu unter
scheiden :
1) die Reformen auf dem Gebiet der Orden,
die näher oder entfernter auf dem Grund der Benediktiner regel erwachsen sind;
2) die Reformen auf dem Gebiet
der Bettelorden. Das erstere Gebiet hat verschiedene Mittelpunkte, aber
weitaus am merkwürdigsten und wichtigsten sind die Re formen
in
Deutschland,
speziell
Niederrhein und in Niedersachsen.
Niederdeutschland,
am
Diese Reformen sind
kirchengeschichtlich von erheblichem Wert: es ist für die
Erkenntnis des ausgehenden Mittelalters bedeutungsvoll,
daß in einer Zeit, da man früher lediglich Verfall und arge Verkommenheit gesehen hatte, nicht nur eine Menge
Klöster neu gegründet, sondern auch viele alte in Zucht und Sitte längst verfallene wieder aufgerichtet, reformiert
46 und zu neuer, freilich teilweise nur kurz anhaltender Blüte gebracht worden sind.
Trotzdem muß ich über die be
deutenden Forschungen, welche Acquoh, Hirsche und
Grübe über diese Bewegung veröffentlicht haben'), und
die sich an die Namen Gerhard Groot, Brüder des ge meinsamen Lebens, Windesheimer und Bursfelder Con-
gregation u. s. w. anschließen, im Interesse der Zeit rasch hinwegeilen, zumal da das religiöse Volksleben von hier
aus viel weniger beeinflußt worden ist.
Erwähnt soll nur
werden, daß wir hier auf durchaus mittelalterlich-katho lischem Boden stehen und daß der alte Mythus von dem evangelischen und untatholischen Wesen der Brüder des
gemeinsamen Lebens durch Acquoh und Hirsche für
immer zu Grabe getragen ist.
Auch die Imitativ Christi
deS Thomas von Kempen — wenn nämlich Thomas wirk lich ihr Verfasser ist — ist aus diesem mönchisch-katho
lischen
Christentum
herausgewachsen
und
ein
schlechter
Spiegel und Lehrer evangelischen Christentums.
Bedeutsamer für die Entwicklung des religiösen Lebens in Deutschland wie in den anderen Ländern sind die Re formen auf dem Gebiet des Bettelm vnchtums, die
Bildung von Kongregationen reformierter bezw. observanter
Dominikaner-,
Franziskaner- und Augustiner-Eremiten,
*) Aequoy, het Klooater te Windeaheim en zijn invloed, 3 Bd., Utrecht 1875—1880; Hirsche, Brüder deö gemeinsamen Lebens (Herzogs Realencyklopädie II, 678—760); Grube, Gerhard Groot und seine Stiftungen, Köln 1883; Ders., Johannes Busch, Augustinerpropst zu Hildesheim. Ein katholischer Reformator des 15. Jhs. Freiburg 1881. Dgl. weiterhin die Literaturnachweise Ztschr. s. K.-G. VIII, 268 ff.
47 welche im letzten Drittel des 14. Jhs. beginnt und im
15. sich rasch vollzieht und ausbreitet. — Unser Interesse
ist hier an drei Punkten gesammelt, einmal bei der That sache, daß diese reformierten Kongregationen den größten
Einfluß beim Volk erhalten, die eigentlichen Leiter der volkstümlichen Frömmigkeit
in
der
zweiten Hälfte
des
15. Jhs. werden, sodann bei der speziellen Erscheinung
einer
dieser
Kongregationen,
derjenigen
der
deutschen
Augustiner-Eremiten, welcher Luther angehört hat, und
endlich bei der hervorragendsten Gestalt der reformierten
Dominikaner, Savonarola. Den ersten Punkt habe ich hier zunächst nur zu kon
statieren, um dann an einem anderen Punkt näher darauf zurückzukommen.
Der zweite ist uns durch das treffliche
Buch von Kol de, die deutsche Augustiner-Kongregation
und Johann Staupitz 1879, erläutert worden, beim dritten endlich haben verschiedene Forscher Hand angelegt. Das Bild, das Kolde vom Gang der Bildung der
deutschen
Augustiner-Kongregation
und
von
dem inneren Leben derselben entwirft, wiederholt sich im Grund bei allen anderen reformierten Bettelorden-Kongre
gationen.
Speziell für das
Wesen
dieses
reformierten
Mönchtums ist es besonders bezeichnend, daß nirgends ein
bestimmtes originelles Prinzip für die Ganzheit des christ lichen Lebens existiert, überall nur die Zersplitterung des selben in einzelne Handlungen und Verrichtungen zu Tage tritt : peinlicher Gehorsam, namentlich gegen die kleinsten
und äußerlichsten Vorschriften der Regel und Konstitu tionen, die höchste Steigerung einerseits der mechanischen und rechnerischen Art der Frömmigkeit und andererseits
48
lodernden
der
religiösen
Empfindung,
der
glühenden
Schwärmerei besonder» für Maria und die Heiligen, eine Schwärmerei, durch welche man sich für die Kahlheit und Leere jener mechanischen
zersplitterten Werkthätigkeit zu
E» ist daher bezeichnend, daß ebenso
entschädigen sucht.
die höchste Steigerung de» Ablaßunfug», wie andererseits die höchsten Leistungen der schwärmerischen Marienver-
ehrung aus diesen Kreisen hervorgegangen und ins Volk
übergeführt worden sind.
Als ein besondere« Verdienst
der Schrift Kolde'S ist dabei noch zu erwähnen, daß eS der von jedermann
behaupteten und
von niemand be
wiesenen Meinung ein Ende gemacht hat, als ob bei den
Augustiner-Eremiten die Schriften Augustins selbst mit
besonderem Eifer gelesen worden wären und die Gnaden lehre dieses Kirchenvaters dadurch an Luther wäre.
gekommen
Vielmehr hat sich auch hier wieder herausgestellt,
wie durchaus original Luthers Entwicklung und seine Ent
deckung der neuen religiösen Gedanken verlaufen ist, wie
unabhängig selbst
die Vorstufen zu derselben durch ihn
ausgegraben worden sind.
Je mehr die Ullmann'schen
Legenden zerschlagen worden sind, um so höher und reiner
hebt sich die Gestalt des Reformators von der Grundlage der Zeit ab, welcher er entstiegen ist. In eine ganz andere Schichte des reformierten Bettel-
mönchtumS führt uns die Gestalt SavonarolaS. Er ist der
Vertreter desromanischenBettelmönchtums, und dieses weicht in manchen Stücken nicht unbedeutend vom deutschen ab. Die Forschungen eines Franzosen, beS Simeon Luce,
Jeanne
d’Arc ä Domremy.
Recherches
critiqucs
sur les origines de la mission de la Pucelle 1886
49 haben uns zum ersten Mal ein Bild von diesem roma nischen Zweig des reformierten Bettelmvnchtums, speziell
für Frankreich gegeben.
und Franziskaner
Diese reformierten Dominikaner
treten vorzugsweise
erschütternde
als
Bußprediger auf; ganze Städte wissen sie teils durch die
Ankündigung des nahen jüngsten Gerichtes zu angstvoller Zerknirschung,
allgemeiner Versöhnung, Vertilgung des
Luxus und der sündigen Ueppigkeiten zu entflammen, teils dann wieder sich zum Schutz gegen das drohende Gericht
in den leidenschaftlichen Kult gewisser sinnlicher Symbole
oder bestimmter Momente z. B. an der Person Jesu zu
stürzen, vor allem des Namens Jesu und der Maria, diese Namen in der allersinnlichsten fetischmäßig verselb ständigten Form verstanden.
Daneben verquicken sich ihnen leicht besondere politische und soziale Tendenzen mit ihren religiösen Bestrebungen, so vor allem in F r a n k r e i ch. Die reformierten Franziskaner
und Franziskanerinnen schüren hier die Flamme, in welcher sich die religiöse und patriotische Begeisterung verschmelzen;
durch sie wird dem Volk Christus zum König, die h. Jung
frau zur Beschützerin des h. Frankreichs, die Engländer als dessen Feinde zu Feinden Christi und der Maria. Die
Jungfrau von Orleans ist der Typus dieser von den reformierten Franziskanern
geschaffenen Bereinigung
religiöser Schwärmerei und patriotischer Begeisterung. Zu gleich tritt wieder, wie sich einst in den kriegerischen Zeiten der Völkerwanderung die streitbaren Götter an die Spitze
des nationalen Gvtterhimmels gestellt haben, ein kriegerischer Heiliger in den Vordergrund, der h. Michael.
Immer
massenhafter werden mit den letzten Jahrzehnten des hundert-
4
50
jährigen englisch-französischen Kriege« die Wallfahrten zu
seinen großen Heilgtümern; und auch er hat seine besondere Beziehung zur Jungfrau von Orleans.
Er ist es ge
wesen, der ihr zuerst erschien und sie zu ihrem Amt der Befreiung
berief,
wie
die h. Jungfrau ihr
die Fahne
erteilte.
Mehrere Züge dieses romanischen Bettelmönchtums
begegnen uns wieder in dem Bild Savonarolas, wie eS uns durch die neueren Forschungen gezeichnet wird, na
mentlich die Forschungen seines letzten Biographen Villari (es wird soeben die zweite erweiterte Auflage angekündigt), später Ranke's (in seinen historisch-biographischen Stu
dien 1877 : Savonarola und die florentische Republik gegen
Ende des 15. Jahrhunderts), sowie durch die wertvollen neuen Urkunden und Untersuchungen von G Hera di (nuovi
documenti e studii intorno a Girol. Sav. 1878). Auch Savonarola hat man früher zu einem evange lischen Reformator im Sinne Luthers gemacht und ihm natürlich auch die Erkenntnis der Rechtfertigung aus dem
Glauben zugeschrieben. Auf Grund dieser neuen Forschung
muß
auch der Blindeste erkennen wie verfehlt das war.
Savonarolas edle und
außerordentlich anziehende Gestalt
ist vielmehr durch und durch mittelalterlich; sie gehört ganz
in diese Klasse des reformierten Bettelmvnchtums : Buß prediger von erschütternder überwältigender Kraft, Prophet des kommenden Gerichts, das in den apokalyptischen Farben des Joachimismus geschildert wird, Reformator der Sitte
seiner Stadt durch Zerstörung alles Luxus und aller Eitel keiten, durch Aufrichtung strengster Zucht in Kloster und
51 Welt und endlich bei alledem zugleich politischer Reformer. Ranke's Meisterhand hat namentlich die letztere Seite scharf
hervorgehoben : er zeigt, wie Savonarola zum Zweck der
sittlichen Reformierung von Florenz der schroffste politische Gegner der Mediceer wird, in deren üppigem, monarchischem
Regiment er die Quelle des sündlichen Verderbens der
Stadt erkennt, wie er dann unter Rückgang auf Ideen seines großen Ordensbruders Thomas von Aquin die Wieder
aufrichtung der Republik verlangt, sich an die Spitze der demokratischen Partei stellt, mit ihr die Mediceer stürzt,
die Republik wieder begründet und nun die strenge sittliche
Ordnung derselben unternimmt, wie er dann aber schließlich durch die Freunde der Mediceer wie durch die Gegner einer
theokratischen Lebensgestaltung der Republik ins Verderben
gestürzt wird. Es ist klar, daß hier keine Parallelen zur Reformation
Luthers vorliegen.
Doch mag man allerdings auch hier
wieder eine Parallele zur Reformationszeit finden, ja sie
drängt sich beinahe von selbst auf : ich finde sie zwischen Savonarolas Werk in Florenz und demjenigen Zwinglis in
Zürich und vor allem Calvins in Genf.
Aber jedermann,
der die Art lutherischer Reformation kennt, weiß auch, daß gerade die eigentümliche Lebensordnung, welche besonders
Calvin in seiner Genfer Republik aufgerichtet hat, in vielen Hauptpunkten ihr Vorbild nicht in Luthers Wirken, sondern
in mittelalterlichen Reformunternehmungen gehabt hat. Im übrigen freilich ist diese Parallele zwischen Calvin und Sa vonarola in viel engeren
Grenzen aufzufassen als
zwischen Hussiten und Täufern.
jene
52
III. Lasten Sie mich endlich noch in einem letzten Abschnitt
die Erhebung und Gestaltung de- religiösen LolkSlebenS in Dentschland durch einige Hauptzüge beleuchten. Ich sehe des Zeitmangels halber davon ab, die Ursachen
zu schildern, welche diese Wiedererhebung mit sich geführt haben.
Ich weise nur darauf hin, daß die besondere Fär
bung, die
dieselbe
angenommen hat,
reformierten Bettelmönchtum entstammt.
hauptsächlich
dem
Die Reformation,
die von den Niederlanden ausgegangen ist, sich über das ganze niedersächsische Gebiet verbreitet und auch Mittel
und Süddeutschland ergriffen hat, äußert sich wohl nur in
der Tatsache, daß im bischöflichen und Pfarrstand wieder tüchtigere Kräfte emporkommen, sowie in der zum Teil vor
trefflichen und massenhaft verbreiteten Erbauungsliteratur. Im übrigen aber ist die volkstümliche Frömmigkeit auf einen anderen Ton gestimmt.
Das Verständnis für diese eigentümliche religiöse Be wegung ist zuerst durch Goth ein (politische und religiöse Volksbewegungen vor der Reformation 1878) sodann durch
Kawer au u.nd Kolde erweckt worden.
Die letzteren
haben ihre Ausführungen namentlich im Gegensatz gegen
Janssens bekannte Geschichte des deutschen Volkes gegeben,
Kawerau in einer Reihe von Aufsätzen der Zeitschrift für kirchliche Wissenschaft und kirchliches Leben 1882, Kolde
in seiner deutschen Augustiner-Kongregation, sowie in seiner
Schrift „Friedrich der Weise und die Anfänge der Refor mation" 1881 und seiner Lutherbiographie.
In ihren Ge
leisen, aber die Bahn noch mehrfach erweiternd, ist dann Lenz in seiner trefflichen Lutherbiographie (1883) gegangen
53
und
endlich hat v. Bezold in seiner neu erscheinenden
Geschichte der deutschen Reformation (in OnckenS Allg.
Geschichte in Einzeldarstellungen) das ausführlichste, voll
ständigste und eben darum auch treffendste Bild derselben
Ich führe im Folgenden einfach die Darstellung
gegeben.
dieser Forscher vor. Die ganze Zeit von etwa 1450 an ist danach eine
Epoche steigender religiöser Bedürftigkeit, heftiger religiöser Erregung
und einer fast grenzenlosen Steigerung aller
Heilsmittel der mittelalterlichen Frömmigkeit.
Schon Janssen hat, wenn auch in vielfach irrefüh
render
Weise
die
Tatsachen
zusammengetragen,
welche
auf die steigende Lebhaftigkeit der religiösen Empfindung Hinweisen : die wachsende Zahl von Kirchenbauten, die
zunehmende Pracht und Masse kirchlicher Stiftungen und
Schenkungen, durch welche sich zugleich der in gewaltigem Aufschwung begriffene Volkswohlstand und das gleichfalls
in glänzender Entwicklung befindliche künstlerische Können der Nation in Architektur, Plastik, Malerei und Kunst handwerk ein reiches Feld der Betätigung schafft.
Der
lebendige Schönheitssinn des Volks äußert sich überhaupt vorwiegend auf dem religiösen Gebiet unb fließt mit dem
religiösen Trieb in eins zusammen; so auch in der immer
vollendeteren Ausbildung der Prozessionen, der Passions
und anderer kirchlicher Spiele u. a.
Der ästhetische Zug
der katholischen Frömmigkeit kommt dabei zum bezeichnenden Ausdruck. Andererseits ist ein Grundzug der religiösen Indivi
dualität dieser Zeit die Massenhaftigkeit, mit der
alles unternommen wird.
Man will Gott durch die Masse
54 der religiösen Leistungen
gleichsam überwältigen,
Zorn besänftigen, seine Gnade erwerben.
seinen
Dieser Zug tritt
natürlich am stärksten hervor auf dem Gebiet der guten Werke, bzw. der Anstalten und Mittel um solche zu erwerben. Hier gerade liegt der machtvollste Einfluß der reformierten
Bettelorden.
Durch sie kommt die Massenhaftigkeit der
Bruderschaften auf, deren Bedeutung namentlich K o l d e
scharf betont, jener Anstalten zur Organisierung gewisser religiöser oder kirchlicher Leistungen innerhalb der Gemeinden
und zugleich zum sicheren und massenhaften Erwerb guter Werke.
Denn darin besteht ihr Hauptwert, daß man sich
einmal zu einem besondern Heiligen, dem Patron der Bruder
schaft in ein besonderes Verhältnis setzt und sodann darin,
daß die Mitglieder sich nicht nur gegenseitigen Anteil an ihren guten Werken und nach dem Tod eine bestimmte An
zahl von Messen, Gebeten und ähnlichen Leistungen zu sichern, sondern daß auch die ganze Bruderschaft wiederum
mit dem Orden, dem sie affiliert ist, in solcher Gemein
schaft der guten Werke, Gebete und Messen steht.
Diese
Versicherungsanstalten erfüllen also ihren Zweck um so ge
wisser, je zahlreicher man sich mit ihnen einläßt. Mancher hat sich damals, wenn er die nötigen Mittel hatte, in mehrere
Dutzende solcher Bruderschaften aufnehmen lassen.
Demselben Bedürfnis dienen die Ablässe, die in immer üppigerer Zahl und mit immer üppigeren Zahlen
von Ablaßzeiten erstehen; dann jene Gebete, die in be stimmtem Wortlaut ober an bestimmten Örtlichkeiten ver richtet besondere Gnaden speziell in der Todesstunde ver leihen ; die Reliquien, deren Sammlung von Privaten,
wie Genossenschaften und Gemeinden mit außerordentlichem
55 Eifer betrieben wird und wiederum den gröbsten Schwindel
und Betrug hervorruft.
Denn namentlich die Bettelorden
wissen die religiöse Erregung der Zeit hier und dort in empörendster Weise zu gunsten ihrer Macht oder behufs
Geldgewinns auszubeuten. Die religiöse Erregung äußert sich aber noch gewalt samer in Erscheinungen, die so fieberhaft sind, daß man sie
dem Gebiet der Volkskrankheiten zuweisen könnte.
Den
Zusammenhang derselben mit Frankreich möchte man unter
anderem daraus erschließen, daß die erste gewaltsame Äußerung des Wallfahrtsdrangs in einer Kinderfahrt zum h. Michael in der Normandie 1457 vorliegt
Seit
diesem Zug ist dieselbe Erscheinung immer wieder hervor
getreten, und seit dem großen Jubiläum des Jahres 1475 hat sie
noch
unheimlichere Formen
angenommen : die
furchtbare religiöse Erregung beginnt zeitenweise die freie Selbstverfiigung des Individuums über sich geradezu zu brechen.
Ganze Schaaren Erwachsener und Kinder laufen
wie von einer höheren Macht getrieben und von nicht zu
bändigendem Drang gepeitscht plötzlich von Haus und von
der Arbeit davon, um sich fast besinnungslos und jedenfalls widerstandsunfähig irgend einem daherkommenden Wall fahrtszug
anzuschließen,
zum
heil. Blut
von
Wilsnak
oder von Sternberg, zur schwarzen Mutter Gottes von Altötting, zum Sackpfeifer von Nillashausen u. s. w.
Auch die Phantasie ist in einer gewaltigen Erregung.
Fast plötzlich hat sich im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts
') Ueber Kindcrwallsahrten zum h. Michael in Frankreich siehe S. Luce a. a. O. Seite XCI.
56 der geistige Horizont der Zeit ungemein erweitert.
Die
Fülle von Eindrücken die sich neu hervordrängen, kann da-
Volk nicht bewältigen, noch weniger durch empirische Be obachtung erfassen : so tritt die Phantasie ein, um über
alle Schwierigkeiten hinwegzuhelfen.
Man „operiert mit
den geläufigen Begriffen des Wunders und des Dämo nischen verwegen darauf los, bis die ganze Ordnung der
Natur in ein höchst wunderliches Spiel lebendiger Kräfte aufgelöst ist, in dessen Leitung sich Himmel und Hölle zu teilen haben.
Daß hiebei dem Teufel mehr und mehr der
Löwenanteil zufällt, entspricht der hergebrachten kirchlichen Anschauung ebenso sehr, wie dem modernen Glauben an
die Unfehlbarkeit des klassischen Altertums, das ja gleich falls
an
hatte."
dämonische
Einwirkungen
aller
Art
geglaubt
(Bezold 137.)
So wächst denn fast mit einem Schuß gleichzeitig der neue Heiligenkult,
das Entdecken und leidenschaftliche
Verehren von Heiligen, die man bisher kaum dem Namen
nach gekannt hatte, insbesondere der h. Anna, der Mutter
der Maria, von der alle Welt voll wird, und andererseits der Teufels-, Dämonen- und Hexenspuck, welchen die Hexenbulle Jnnocenz' VIII. dem deutschen Volk gerade zu aufzwingt.
Die Welt bevölkert sich mit Geistermächten
wie einst beim Ausgang des llassischen Altertums.
Zwei
Heere kämpfen gegen einander: das Heer der Dämonen
und das der Heiligen und Engel.
Der Schauplatz des
Kampfes ist die Kirche und die einzelne Menschenseele. Und wie die Dämonen sich ihre Werkzeuge in der ganzen
Schar der Hexen schaffen, so die himmlischen Mächte in den begnadigten Visionären, ekstatischen und stigmatisierten
57 Jungfrauen, die zahlreicher als je auftreten, freilich auch
in größerer Anzahl als je als Betrogene oder Betrüger entlarvt werden.
Man kann also wirklich sagen : gerade
daS Auftreten der neuen Mittel, aus denen sich später die Aufklärung und die physikalische Welterklärung entwickelt
hat, haben hier in Deutschland zunächst lediglich eine un gemeine Steigerung der alten phantastischen Frömmigkeit nach sich gezogen und dazu beigetragen, die religiöse Nerven erregung zu steigern.
Wie mit Geistern, Dämonen, Hexen und Heiligen, so bevölkert sich die Welt auch mit Wundern massenhafter
und abenteuerlicher als je.
Der Höhepunkt dieser phan
tastischen religiösen Erregung, wie er durch das Auftreten
furchtbaren Mißwachses, der greulichen Verwüstung des Schweizerkriegs, sowie die Pest und die neue Franzosen krankheit
erreicht
wird,
wird
Kreuzwunderepidemie
durch
die
bezeichnet :
ganz
seltsame
eines Tags
im
Jahr 1501 erscheinen auf dem Kopftuch einer Frau bei Maastricht rote Kreuze, die sich nach ihrer Entfernung
immer wieder einstellen.
Und nun verbreitet sich diese
Erscheinung mit der Schnelligkeit einer Springflut über ganz Deutschland bis hinüber nach Polen. Überall er scheinen auf Wäsche und Kleidern oder auch auf der bloßen
Haut dieselben Kreuze oder kreuzähnlichen Gebilde, oft von ganzen Menschenscharen auf einmal erblickt. Überall rufen sie Entsetzen und Angst, Bußhandlungen und Selbst peinigungen in Masse hervor. Überblickt man diese Erscheinungen, so besteht das
Urteil zu recht, das Gotheiu, Kolde, Kawerau, iienz und Bezold im Gegensatz zu Janssens Darstellung gemeinsam
58 fällen, daß der religiöse Trieb in einer krankhaften Ver bildung
entwickelt ist.
Neben der
unleugbaren
großen
Zahl von guten und relativ gesunden Kräften geht ein Strom von ganz anderer Färbung her, der in Wirklichkeit das religiöse Leben des Volkes tränkt und treibt.
Was
der Unglaube von Gott und Christus nicht mehr erwartet, das verlangt er von der Kirche und den durch sie legiti
mierten zahllosen Heiligen, sowie von den durch sie ge
billigten oder vorgeschriebenen mechanischen Verrichtungen und Übungen; und da hier das Gemüt die verlangte Ruhe nicht findet, so greift man in der Angst religiöser Erregtheit nach immer neuen
gesteigerten Mitteln
und
Wegen, die durch ihre Neuheit und Bizarrheit für eine
Zeit lang zu beruhigen vermögen, aber eben weil sie nur
selbst wieder starke Reizmittel sind, sich rasch abstumpfen und nun durch stärkere ersetzt werden müssen. Tas Bild dieser Zustände wäre aber nicht vollständig, wenn man nicht noch eine ganz andere Schichte dieser Zeitströmung ins Auge faßte, die Fülle von Zündstoff
die auf eine Umwälzung der bestehenden Ver hältnisse deutet.
Die Forschungen Gothein's, v. Bezold's und Haupt's *)
haben auch hier eine lebensvolle Erkenntnis an die Stelle der verfehlten und blassen Schablone Ullmann's gesetzt. Es besteht eine breite Schichte von Opposition gegen die
kirchliche Lehre insbesondere vom Ablaß, von der Ewigkeit der Hvllenstrafen, der Freiheit des Willens und der sittlichen
Verantwortlichkeit des Individuums.
Vor allem aber ist
J) Die religiösen Sekten in Franken vor der Reformation 1882.
59 bemerkenswert die ungeheuere Macht der hussitischen Ideen .
die Erwartung des göttlichen Gerichts über Kirche un6 Klerus und überhaupt
alle Besitzenden und Mächtiger,
der Vernichtung ihres Reichtums, der Neuverteilung dem
selben zu gunsten der bisherigen besitzlosen und rechtlose, Klassen, die Weissagung von der Umwandlung der soziale,
und kirchlichen Ordnung, daß der faule Kleriker künftig
den Pflug, der arme Bauer aber den Altar bedienen werb Namentlich Bezold *) hat die Volkslieder, Holzschnitt
Kalender u. s. w. nachgewiesen, die auf diese Umkehr deDinge hindeuten und sie für die nächsten Jahrzehnte utt.
Jahre ankündigen und zwar als unzweifelhafte, weil durc
Weissagung
und
Sterne
feststehende
Thatsachen.
Ti
Idealisierung der Armut und Besitzlosigkeit, die Erhebun der Urproduktion im Gegensatz zur Fabrikation wie zur kaufmännischen Kapital, der wachsende Unmut gegen de.
seine Stellung
rücksichtlos
ausnutzenden Großgrundbesi
des Adels und der Kirche, — das alles erscheint allerding
als der Niederschlag einer Zeit, in welcher die sozialei Gegensätze schroffer hervortreten als je und die Macht de
neuen Großkapitals wie andererseits die politische Konzen
tration der kleinen und größeren Territorien auf alle altei
wirtschaftlichen und sozialen Gebilde drückt.
Aber es sin
doch nur Ideen, die der mittelalterlichen Ethik und Wirt
schaftslehre selbst entstammen und sich nun, da sie voi den Laien selbständig angewandt werden, gegen die Kirch
kehren, die die Anwendung ihrer eigenen Grundsätze nie
*) Vgl. besonders auch dessen Aussatz über „die Armen Leute in
Mittelalter".
(Syl-els Hist. Ztschr. Bd. 41, N. F. 6.)
60 mals da gestatten will,
selbst stoßen
wo sie gegen sie
ES sind die Ideen vom sündigen Ursprung alles
würden.
Eigentums aus Eigennutz und Geiz, des Ursprungs der Obrigkeit aus Selbstsucht und Gewalt, die Notwendigkeit einer Reform im Sinn der Armut u. s. w.
So
geht denn der Ruf nach Zertrümmerung de»
PfaffengutS wie der Herrenmacht durch die ganzen 50 Jahre
vor der Reformation hindurch, und immer wieder erklingt
das Lied : „Wir sollen Gott im Himmel klagen. Daß wir die Pfaffen nit sollen erschlagen,
Kyrie Eleison!" Und diese revolutionäre Stimmung wird geschürt durch die Äußerungen der besten Zeitgenossen selbst, deren Klagen
nicht aufhvren wollen, daß Kirche, Klerus und Mönchtum unheilbar krank seien, daß alles Reformieren nichts ge
holfen habe, und daß keine Hoffnung mehr sei auf Besser werden.
So droht die religiöse und die sozialistische Er
regung allenthalben in
zuschlagen
und ein
einen großen Brand zusammen
zweites
Deutschland, zu bringen.
Hussitentum,
diesmal über
Schon züngeln die Flammen da
und dort auf in den Bauernaufständen, die gegen die
Kirche wie gegen Fürsten und Herren gerichtet seit dem zweiten Drittel des 15. Jhs. nicht mehr abreißen, vor allem in der Geschichte des Pfeifers von Nicklashausen,
des
bezeichnendsten
Vertreters
dieser
Verbindung
von
katholisch-religiöser Schwärmerei und sozialistischer Erregt
heit.
Und überall braust es in der Luft und' gährt es
in der Tiefe : weithin erscheint der Zusammensturz von
Kirche und Gesellschaft als unvermeidlich.
61 In diesem wirren Knäuel der gewaltigsten Mächte, welche die Geschichte kennt, ist nur
eine Institution in
unverkennbarem Fortschreiten begriffen, die landesfürst
liche Gewalt.
Die Arbeiten von Maurenbrecher
(Studien und Skizzen zur Geschichte der Reformationszeit), oder Kolde, Grube (Johannes Busch, ein katholischer
Reformator des 15. Jhs.), Lenz und Bezold haben ein mütig darauf hingewiesen, wie fest die territorialen Ge walten bei Abrundung ihrer Befugnisse namentlich darauf ausgehen auch in Bezug auf das Kirchenwesen ihrer Länder das entscheidende Regierungsrecht zu bekommen, und wie
namentlich sowohl das Bedürfnis der Reformen, die oft
nur mit Waffengewalt durchzusetzen sind, als andererseits der Wunsch des Papsttums, über die rebellische Geistlichkeit der einzelnen Länder Herr zu werden, dazu führt, daß die leitenden kirchlichen Gewalten die Landesherren selbst dazu veranlassen oder ermächtigen, in den kirchlichen Verhält
nissen ihres Landes kräftig drein zu sprechen und kirchliche Regierungsrechte in Anspruch zu nehmen, ein Ergebnis,
das bekanntlich für das 16. Jhd. von unermeßlicher Trag
weite geworden ist.
Werfen wir nunmehr einen Blick auf die Gesamt heit dieser Zustände, so läßt sich Folgendes sagen. In den meisten Ländern ist im 15. Jhd. eine Strömung
religiösen Bedürfnisses vorhanden, die sich in Deutschland geradezu zu einer Flut entwickelt hat. Hier trifft dieselbe aber auch mit anderen, ebenso leidenschaftlichen Äußerungen des Volksgeistes zusammen und eben die Leidenschaftlichkeit
der Bewegung sowie
die
unverkennbare Auflösung
der
62 kirchlichen Verhältnisse eröffnet Aussichten auf einen furcht baren Umschwung.
Sollte nämlich in der nächsten Zukunft
eine Auffassung des Christentums entdeckt werden, welche dem erregten religiösen Trieb einen schlichten, aber um
so sichereren Weg zeigte,
der über alle jene künstlichen
Mittel hinüber unmittelbar an die Quelle der göttlichen
Liebe wiese und zugleich daS Wesen der Kirche von Grund aus neu bestimmte, so wären alle Bedingungen gegeben,
daß sich die religiöse Erregung der Zeit auf einen Schlag dieser neuen Auffassung zuwendete.
Aber es wäre freilich
auch unvermeidlich, daß sich die zählende Masse von edlen und wüsten, bauenden und zerstörenden Kräften in neue Bewegung
setzte und Erscheinungen hervorriefe,
welche
durch die alte Zeit zur Reife gebracht doch auch die neuen
religiösen Mächte in die furchtbarste Mitleidenschaft ziehen
müßte.
Ich brauche nur an die zeitliche Verknüpfung von
lutherischer Reformation
einerseits und andererseits der
Schwarmgeisterei und des Täufertums, der Revolution der Ritter und
des Bauernkriegs,
der politischen Be
strebungen der Städte und der Ausbildung des landes herrlichen Absolutismus zu erinnern, um diese Auffassung
zu illustrieren. Nur ein Land giebt es damals in Europa, wo die
mittelalterlich-kirchlichen Verhältnisse
eine absolute Be
festigung erfahren haben: Spanien.
Hier haben —
und das hat Maurenbrecher zuerst in seinen Studien und Skizzen, dann in seiner Geschichte der katholischen
Reformation
und
Gegenreformation
dargethan
—
zur
selben Zeit, da die religiöse Bewegung in Deutschland auf
ihren Höhepunkt gelangt, die Begründer des spanischen
63 Königtums, Ferdinand und
Isabella,
ihre Landeskirche
reformiert und zugleich ebenso die Hierarchie unter das
katholische Königtum, wie das Laientum unter die Hier
archie mit starrer Hand gebeugt, in einer Weise daß hier und nur hier ein katholisches Kirchenwesen von absoluter Geschlossenheit und strengster mittelalterlicher Religiosität
und Kirchlichkeit sich erhoben hat, in welchem alle Kräfte der mittelalterlichen Kirche in hoher Anspannung entwickelt
Bon der Stunde an,
sind.
da das spanische Königtum
sich zur Weltmonarchie entwickelt, Burgund, Deutschland
und Italien in seinen Machtbereich zieht, und von der
Stunde an, da dieses spanisch habsburgische Weltreich sich durch die deutsche Reformation bedroht sieht, haben die Kräfte dieses spanischen Kirchenwesens nicht mehr gerastet, bis sie die ganze alte Kirche durchsetzt und durch Reform
des
Papsttums,
der
Hierarchie
und
des
Mönchtums,
durch Glaubensentscheidungen, Jesuitenorden, Index und
Inquisition die Gegenreformation eingeleitet und die neue furchtbare Erhebung
der Papstkirche
zu Wege
gebracht
haben. Ich habe schon einigemale in meiner Übersicht zur
Verdeutlichung
zogen.
historischer Erscheinungen Parallelen ge
Ich kann mirs nicht versagen, für die ganze Zeit
vor dem Auftreten Luthers noch zwei Parallelen aufzu weisen :
die Zeit, welche
dem
Sieg des
vorangieng, und unsre eigene Zeit.
Christentums
Dort hat auch die
neuere Forschung mit immer greifbarerer Deutlichkeit ge zeigt, daß das Christentum nicht wie man ehmals gemeint
hatte, in eine Zeit der Religionslosigkeit eingetreten sei und sich die Völker unterworfen habe, weil ihre überkommenen
64 Religionen zertrümmert gewesen wären, sondern vielmehr daß
eS
hereingetreten ist
in
eine
Zeit
unvergleichlich
lebendiger Religiosität, die sich seit dem ersten Jahrhundert
unsrer Zeitrechnung langsam, seit dem Ende des zweiten aber in ununterbrochen raschem und schließlich reißendem Verlauf entwickelt hat, und daß so der Triumph des Christen tums nicht ein Sieg über gebrochene, sondern über leben
dige und selbstbewußte Kräfte der Gegenwart war,
ein
Beweis seines Vermögens, die Frage die auf allen Ge
mütern lastete, mit ungleich sichereren und zugleich ebenso viel einfachereren Mitteln zu lösen.
Und wer heutigentags das religiöse Leben des katho lischen Volks in Deutschland studiert, dem wird wiederum
die schlagende Parallele mit dem fünfzehnten Jahrhundert entgegentreten: außerordentlich lebendiges religiöses Be
dürfnis, fieberhaftes Suchen nach Heilsgewißheit, und doch das alte Unvermögen der Kirche gerade diese Gewißheit
anders zu befriedigen, als durch gehäufte Anwendung der
alten Mittel, die nie dauernden Frieden schaffen können, weil sie nie zur Friedensquelle führen; auch heutigen TagS wieder unser katholisches Volk beherrscht durch die Mittel
einer sinnlich materiellen Devotion romanischen Ursprungs; diese aber gehegt und gepflegt nicht mehr durch die Bettel orden,
sondern
durch die Erben und Vollender
dieser
bettelmönchischen Devotion, die Jesuiten, deren Geist der Geist der römischen Kirche geworden ist. — Doch wer wollte eS wagen einen ähnlichen Ausgang wie im sech
zehnten Jahrhundert zu weissagen?
Die Geschichte wieder
holt sich nicht, da auch ihre Elemente immer wieder andere
sind.
Das was damals nur in Spanien bestand, eine
65 geschlossene gesammelte Gestaltung des Kirchentums, das
hat Rom heutigen Tags in allen Ländern und vor allem in Deutschland.
Dennoch dürfen wir die Hoffnung nicht
aufgeben, daß das lebendige Heilsbedürfnis des katholischen
Volks schließlich mächtig genug sein werde, die Bande zu
zerbrechen, durch die es immer noch an die lvcherichten
Brunnen gefesselt ist.
Druck von Vilbel in steiler in Gießen.