Beiträge zu einem neuen Winckelmannbild [Reprint 2022 ed.] 9783112618288, 9783112618271


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German Pages 118 [121] Year 1974

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Beiträge zu einem neuen Winckelmannbild [Reprint 2022 ed.]
 9783112618288, 9783112618271

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Beiträge

einem neuen Winckelmannbild

S C H R I F T E N DER WINCKELMANN-GESELLSCHAFT BAND I

Beiträge zu einem neuen Winckelmannbild

Herausgegeben von BERTHOLD HÄSLER

AKADEMIE-VERLAG 1973

• BERLIN

Herausgeber der Reihe: JOHANNES

IRMSCHER

Erschienen im Akademie-Verlag G m b H , 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 Copyright 1973 by A k a d e m i e - V e r l a g G m b H , Berlin Lizenznummer: 202 . 100/219/73 Gesamtherstellung: V E B Druckhaus „ M a x i m Gor'ki", D D R - 7 4 Altenburg Bestellnummer: 2160/1 . E S - N r . : 12 A E D V - N r . : 752 322 0 Preis: 1 0 , -

Inhalt Vorwort 1. GERHARD LUKAS Johann Joachim Winckelmann in unserer Gegenwart 2. JOHANNES IRMSCHER Johann Joachim Winckelmann und die Altertumswissenschaft heute 3. WOLFGANG HEISE Winckelmann und die Aufklärung 4. BERTHOLD HÄSLER Winckelmanns Verhältnis zur griechischen Literatur 5. VERENA ZINSERLING Winckelmann als Begründer von Archäologie und Kunstgeschichte 6. LUDGER ALSCHER Die Bedeutung der griechischen Plastik für Werk und Wirkungen Winckelmanns 7. HELMUT HOLTZHAUER Winckelmann und die deutsche Klassik 8. PETER H. FEIST Winckelmanns Theorie im Verhältnis zur klassizistischen deutschen Kunst und zum Realismus 9. WILHELM GIRNUS Winckelmann und das Problem der Schönheit 10. IRENE HUSAR Die Idee der Vergottung des Menschen bei Johann Joachim Winckelmann 11. ELIDA MARIA SZAROTA Winckelmanns und Hölderlins Herkulesdeutung 12. JOHANNES IRMSCHER Das Winckelmann-Bild Franz Mehrings 13. GERHARD ZINSERLING Winckelmann und die Kunst der Gegenwart 14. Ausstellung „Winckelmann in Rom 1755-1768" Entwurf und Gestaltung: VERENA ZINSERLING

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Vorwort Der 250. Geburtstag und der 200. Todestag Johann Joachim Winckelmanns waren der Anlaß, des Begründers der Archäologie und Kunstwissenschaft in Feierstunden zu gedenken, in Stendal, seiner Geburtsstadt, und in Halle, wo er einen Teil seiner Studienjahre verbrachte. Träger der Veranstaltungen war das Staatliche WinckelmannKomitee der Deutschen Demokratischen Republik. Zur Würdigung von Leben und Werk Winckelmanns fanden sich Vertreter der Altertumswissenschaft, der Literatur-, Kunst- und Kulturgeschichte, der Philosophie und der Ästhetik aus der Deutschen Demokratischen Republik, aus der Sowjetunion und der Volksrepublik Polen zusammen, um die Bedingungen, unter denen er lebte und arbeitete, wie auch die gesellschaftlichen und geschichtlichen Voraussetzungen seines Werkes und dessen bis in die Gegenwart reichende Wirkung zu untersuchen. Den Festansprachen, Festvorträgen und Referaten eines wissenschaftlichen Kolloquiums, wenngleich unterschiedlichen Charakters nach Stil und Temperament sowie hinsichtlich der Ausführlichkeit oder der — in einem Kolloquium unumgänglichen — Knappheit der Darstellung, wurde ihre ursprüngliche Gestalt belassen, um die von dem besonderen Anlaß geprägte Eindringlichkeit und Wärme des mündlichen Vortrages auch in der gedruckten Form zu bewahren. Die anschauliche Ergänzung des Gehörten, die den Teilnehmern der Winckelmann-Ehrung durch die Ausstellung „Winckelmann in Rom 1755—1768" geboten wurde, kann durch die den Referaten angefügte Konzeption der Schausammlung allerdings nur zu einem geringen Teil ersetzt werden. Die in diesem Band vereinigten Beiträge wollen insgesamt mithelfen, ein neues Winckelmann-Bild zu entwerfen, das der gesellschaftlichen Entwicklung gerecht wird und der Aufgabe dient, die unserer Zeit gestellt ist: die humanistischen Werte der Vergangenheit zu bewahren und sie durch ihre Aneignung fruchtbar werden zu lassen. Der Herausgeber

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GERHARD

LUKAS

Johann Joachim Winckelmann in unserer Gegenwart Wenn wir Johann Joachim Winckelmanns, des Begründers der klassischen Archäologie, der modernen Kunstgeschichtsschreibung und wissenschaftlichen Ästhetik in Deutschland, aus Anlaß seines 200. Todestages durch eine staatliche Ehrung in der Aula der Martin-Luther-Universität Halle—Wittenberg gedenken, so geschieht dies in engem Bezug zu den Veranstaltungen, die am 9. Dezember 1967 zur 250. Wiederkehr seines Geburtstages in seiner Heimatstadt Stendal durchgeführt wurden. Die Stendaler Ehrung hob Winckelmanns Verdienste um die Entwicklung der Altertumswissenschaft hervor. Die heutige Feierstunde, die in Verbindung mit Ehrungen in Weimar, Wörlitz und Triest/Rom steht, soll die weltanschaulich-ideologische Bedeutung und Aktualität der Winckelmannschen Lehre, seiner Persönlichkeit und seines kunsttheoretischen Wirkens in den Mittelpunkt des Interesses rücken. Das kulturgeschichtliche und kunstgeschichtlich-ästhetische Wirken Winckelmanns, das einerseits auf die Einheit von gesellschaftlichem Fortschritt und realistischkünstlerischer Gestaltung der Umwelt orientiert und andererseits das Bewußtsein der Verantwortung des frühen Bürgertums für das Erfassen menschlicher Wesenszüge in ihrer künstlerischen Gestaltung dokumentiert, ist in der sozialistisch-realistischen Kunst unserer Tage integrierender Bestandteil künstlerischer Gestaltung des sozialistischen Menschenbildes. Wir ehren in Johann Joachim Winckelmann einen hervorragenden Repräsentanten der sich herausbildenden bürgerlich-demokratischen Kunstauffassung, die sich im Gegensatz zur absolutistisch-höfischen Kunst entwickelte. Seine Ästhetik und Kunstgeschichtsschreibung wirkten bahnbrechend für eine Bildungs- und Erziehungskonzeption, wie sie sich in der Aufklärung und Klassik manifestierte und über Deutschland und die damalige Zeit hinaus einen nachhaltigen Einfluß ausgeübt hat. Winckelmanns Wirken beeinflußt auch das Schaffen der Künstler in der Deutschen Demokratischen Republik, die sich der Gestaltung der Menschen, die in unserem Lande den Sozialismus vollenden, zuwenden. Den Weg dazu, sich die großen schöpferischen Werte der Weltkunstgeschichte anzueignen und diese fruchtbar werFestansprache zur Winckelmann-Ehrung der Deutschen Demokratischen Republik, gehalten am 25. Mai 1968 an der Martin-Luther-Universität Halle—Wittenberg, anläßlich seines 200. Todestages. Vorabdruck (mit Angabe der Belegstellen): Martin-Luther-Universität Halle—Wittenberg, Universitätsreden, 1968. 9

den zu lassen, hat kein geringerer als Karl Marx gewiesen, als er das historisch gewachsene Verhältnis, das die Arbeiterbewegung insbesondere zur Kunst der Antike besitzt, hervorhob. Auf dieser Tradition und Einstellung der Arbeiterklasse zur Weltkunstentwicklung fußt unsere Haltung zur Kunst der Vergangenheit und ihren humanistischen Werten. In der Einleitung zur „Kritik der politischen Ökonomie" bestimmt Karl Marx das Verhältnis der Arbeiterbewegung zur antiken Kunst und hebt das Wesentliche der Antike-Rezeption hervor. Nach Karl Marx hat das Verständnis der antiken Kunst seine Schwierigkeit nicht darin, zu erkennen, daß sie an gewisse gesellschaftliche Entwicklungsformen geknüpft ist, sondern daß sie stets gestaltgebend und orientierend auf alle progressive Kunst gewirkt hat. Deshalb hat sie auch uns in ihrer Aussage über den Menschen heute Entscheidendes zu sagen. Gerade die Unegalität in der Entwicklung von Ökonomie und Kunst während der Epoche der gesellschaftlichen Kindheit der Menschheit, die durch die Echtheit und allseitige Ursprünglichkeit in der künstlerischen Aussage über den Menschen als Modell ästhetischer Aneignung der Wirklichkeit in der Totalität von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem besondere Anziehungskraft ausübt, macht die Unwiderbringlichkeit der antiken Kunst aus. Der Reiz, der von ihr ausgeht, wirkt in allen Epochen. Wer sich dieses Verhältnises von Wirklichkeit und Kunst, von Produktion und Kunst sowie von Geschichte und Kunst bewußt ist, besitzt auch den Schlüssel zur AntikeRezeption Winckelmanns; denn Winckelmann hat sich unter unentwickelteren Verhältnissen gerade der Antike zugewandt, weil der Inhalt ihrer Kunst das Menschenbild umschloß und weil nach seiner Auffassung der Mensch nach den Gesetzen der Schönheit sich selbst und seine Umwelt gestaltet, wofür die Antike immerwährendes Vorbild sei. Diese Anschauung wird in ihrer umfassenden Bedeutung von Karl Marx charakterisiert, wenn er erklärt, daß der produktive Mensch sein Wesen in sein Produkt entäußert und dabei nach den Gesetzen der Schönheit formiert. So haben wir mit Winckelmann nicht nur ein gemeinsames Anliegen, sondern auch den gesellschaftlichen Auftrag, die Menschenwürde in der Gestaltgebung der antiken Kunst zu erfassen und in unseren Tagen kämpferisch zu verwirklichen. Winckelmann fand in der Kunst der Antike die nach den Gesetzen der Schönheit des Menschen gestalteten Anliegen des Kampfes um politische Mündigkeit, Weltoffenheit und staatsbürgerliche Freiheit verwirklicht, wie sie das Zeitalter der Aufklärung gegenüber absolutistischem Potentatentum auf seine Fahnen geschrieben hatte, und deshalb konnte er mit seiner Antike-Rezeption wesentlich zur Entwicklung des ästhetischen und weltanschaulichen Programms der Aufklärung und Klassik beitragen. Die sozialistischen Wissenschaftler und Künstler verehren in Winckelmann aber nicht nur den begabten Altertumsforscher, Kunsthistoriker und wissenschaftlichen Ästhetiker, sondern auch den glänzenden Wissenschaftstheoretiker und schöpferischen Systematiker, dessen vergleichende Wissenschaftsmethode und realistische Kunstbetrachtung die moderne Kunst und Altertumswissenschaft entscheidend beeinflußt haben. Ganz besonders aber fühlen wir uns heute seiner patriotischen und humanistischen Lebensauffassung verpflichtet, die ihn inmitten feudalistischer antinationaler 10

Kleinstaatereinichtnur zum unversöhnlichen Feind des preußischen Absolutismus und Militarismus — Friedrich II. nannte er einen „Tyrannen" und „Schinder der Völker" —, sondern auch zum prononcierten Gegner feudalistischer Vorurteile, zu einem offenen Verächter bürgerlicher Scheinheiligkeit und pedantischer Engstirnigkeit werden ließ. Diese konsequente humanistische Haltung befähigte Winckelmann zeit seines Lebens, ein ausgeprägtes Sozialbewußtsein zu bewahren, das Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit und Achtung vor der Würde des Menschen von den absolutistischen Potentaten ebenso wie von den feudalistischen Landeskirchen forderte. So blieb sein Humanismus — wie der Herders — nicht "auf die theoretischen Bildungs- und Erziehungsprinzipien beschränkt. Er beeinflußte als praktische, humanitäre Geistesund Lebenshaltung, die vom Erkenntnisoptimismus und dem Glauben an die Vervollkommnung aller Kräfte im Menschen und in der Gesellschaft durchdrungen war, seine Zeitgenossen und Mitmenschen, die ihm ein ehrendes Andenken bewahrten. Goethe hat Winckelmanns humanistischer Gesinnung ein bleibendes Denkmal gesetzt, als er 1805 schrieb: „Wenn bei sehr vielen Menschen, besonders aber bei Gelehrten, dasjenige, was sie leisten, als Hauptsache erscheint und der Charakter sich dabei wenig äußert, so tritt im Gegenteil bei Winckelmann der Fall ein, daß alles, ... was er hervorbringt, hauptsächlich deswegen ... schätzenswert ist, weil sein Charakter sich immer dabei offenbart ... Winckelmann war durchaus eine Natur, die es redlich mit sich selbst und mit anderen meinte... auf Wahrheit, Geradheit... und Redlichkeit stand sein ganzes Wesen". „Und so ist alles, was er uns hinterlassen, als ein Lebendiges für die Lebendigen ... geschrieben". Daher ist es unsere Aufgabe, „das, was er begonnen, mit Eifer und Liebe ... fortzusetzen". Johann Joachim Winckelmann, ein Zeitgenosse von Lomonossow, Rousseau, Voltaire, A. Smith und Montesquieu, wurde am 9. Dezember 1717 als Sohn eines Schuhmachers in Stendal geboren. Sein Leben fiel in die Zeit des deutschen Absolutismus. Während im zentralistisch regierten und merkantilistisch reglementierten Frankreich das Bürgertum in ökonomischer Hinsicht an Einfluß gewann und in Holland und England die bürgerliche Freiheit einen politischen Sieg über den Feudalismus errungen hatte, festigte sich in dem Konglomerat deutscher Kleinstaaten die Unfreiheit in Form der Gutsgerichtsbarkeit und zweiten Leibeigenschaft, die auf die soziale, politische und ökonomische Entwicklung in Deutschland einen verhängnisvollen Einfluß nahm. Der deutsche Fürstenabsolutismus, dessen politisches und gesellschaftliches System Winckelmann wegen des Despotismus und der ständigen Raubkriege, aber auch wegen der Widrigkeiten einer von Standesprivilegien bestimmten Adelsgesellschaft sowie des repräsentationssüchtigen und aufgeblähten Mäzenatentums deutscher Fürstenpotentaten ablehnte, führte nicht nur zu einer wirtschaftlichen Stagnation und zum Verfall der Städte, sondern lieferte auch das deutsche Bürgertum dem Feudaladel aus. Im Zuge dieser Entwicklung war auch Winckelmanns Geburtsstadt zu einem unbedeutenden Landstädtchen herabgesunken, und seine Eltern trugen in Niedrigkeit und Unbehagen mit an der allgemeinen wirtschaftlichen Misere. Andererseits aber zeigten sich in Stendal durch das Auftreten der ersten französischen Emigranten und Salzburger Protestanten auch hoffnungsvolle Ansätze eines neuen ökonomischen und geistigen Lebens, von dem der junge Wink11

kelmann ebenso ergriffen wurde wie von den wissenschaftlichen Anregungen, die ihm seine Lehrer in vertrauten Gesprächen vermittelten. In Sachsen dagegen, das ihm Gelegenheit zu förderlichem Gedankenaustausch mit Wissenschaftlern und Künstlern bot, hatte sich das Bürgertum, gestützt auf Handel, Textilmanufaktur, Bergbau und Metallverarbeitung, eine stärkere soziale und ideologische Position ausbauen können, weil es ihm gelungen war, Anschluß an die wirtschaftliche und geistige Entwicklung der fortgeschrittenen Länder Westeuropas zu finden. So nimmt es nicht wunder, daß Winckelmann das im Gegensatz zum rückständigen Preußen relativ weiterentwickelte Sachsen zu seiner Wahlheimat machte, bevor menschenunwürdiger Despotismus, antinationaler Territorialpatriotismus und scholastische Wissenschaftsauffassungen an Schulen und Universitäten ihn veranlaßten, nach Italien zu gehen. Winckelmanns Bildungsgang, der nach seinen eigenen Worten durch „Mangel und Armut, durch Mühe und Not", aber auch durch grenzenlose „Liebe zu den Wissenschaften" gekennzeichnet ist, führte den „homo vagus et inconstans" von der Lateinschule in Stendal über das Cöllnische Gymnasium zu Berlin, die Universitäten Halle und Jena, zwei Hauslehrerstellen in Osterburg und Hadmersleben, das Konrektorat in Seehausen, die Bibliothekarstelle in Nöthnitz bei Dresden bis zur angesehenen öffentlichen Stellung eines Aufsehers der Altertümer in Rom und eines Scriptors für deutsche und griechische Sprache an der Vatikanischen Bibliothek mit der Anwartschaft auf den Posten des Kustos an der Vaticana. Seine geistige und gesellschaftliche Entwicklung ist vor allem durch drei bemerkenswerte Phänomene gekennzeichnet, die geradezu typisch für den Bildungsgang vieler bürgerlicher Gelehrter im Zeitalter des Absolutismus mit seinen Bildungsprivilegien waren: e r s t e n s durch das ideologische Spannungsverhältnis, das sich aus den retardierenden und progressiven geistigen Strömungen seiner Zeit, also aus dem dialektischen Verhältnis von Tradition und Fortschritt in der frühbürgerlichen Wissenschaftsentwicklung ergab; z w e i t e n s durch das Streben, sich mit der Waffe einer möglichst umfassenden (polyhistorischen) Bildung nicht nur aus den niederdrückenden wirtschaftlichen und engen geistigen Verhältnissen zu befreien, sondern sich damit auch das Rechtauf Bildung zu erkämpfen; und d r i t t e n s durch die bewußte Hinwendung zu den Wissenschaften, die damals am meisten geeignet waren, dem Bürgertum wirksame ideologische Unterstützung im Emanzipationskampf gegen den Feudaladel zu geben. Das aber waren im Wissenschaftssystem jener Zeit die Naturwissenschaft, die Historie und die Altertumskunde, während die Theologie und Jurisprudenz obrigkeitstreue und landesherrliche Funktionen ausübten. Auch Winckelmann hat sich, vornehmlich im intensiven Selbststudium, mit diesen drei progressiven Wissenschaften beschäftigt, weil er sehr bald erkannte, daß allein mit ihrer Hilfe sowohl ein „natürliches", auf Vernunft gegründetes traditionsbewußtes progressives Menschen- und Geschichtsbild als auch ein gesellschaftliches und erzieherisches Leitbild für eine zukünftige bürgerliche Gesellschaft geschaffen werden konnten, dessen humanistische Wurzeln sich gleichermaßen in der Natur des Menschen und in den die Menschenwürde respektierenden Verfassungen nachweisen ließen, wie er sie z. B. in der Athener Verfassung der Perikleischen Zeit verwirklicht glaubte. So wurden Winckelmanns Selbstbildungsbedürfnis und die überlegte Aus12

wähl seiner Studienfächer zur Grundlage seiner großartigen wissenschaftlichen Leistungen und seines hohen bürgerlichen Verantwortungsbewußtseins und Sozialprestiges. In Italien gelang ihm der Durchbruch zu hoher wissenschaftlicher Anerkennung und öffentlicher Ehrung; hier verschaffte er sich auch förderliche Beziehungen zum Adel, der ihm, dem ,praeceptor Germaniae', seine Söhne auf Bildungsreisen in Italien anvertraute. Es gehört zur gesellschaftlichen Situation damals herrschender machtpolitischer Verhältnisse, daß Winckelmann der kleinstaatlichen Enge Deutschlands den Rücken kehren mußte, um sich in der römischen ,res publica litterarum et artium' als Gelehrter, Erzieher und humanistisch denkender Mensch zum höheren Nutzen für die Menschheit entfalten zu können. Winckelmann hat das gerade in Italienbesonders schmerzlich empfunden, und nicht wenige seiner Briefe sprechen von seiner Sehnsucht nach einem besseren und gerechteren Vaterland, als es ihm der deutsche Fürstenabsolutismus mit seiner Verachtung der Menschenwürde geben konnte. In Rom studierte er die Werke der antiken Schriftsteller, Historiker und Staatstheoretiker (Homer, Sophokles, Herodot, Xenophon, Plato) ebenso wie die der Renaissancekünstler (Michelangelo, Raffael) und der modernen Philosophen, Geschichtsschreiber und Kunsttheoretiker (Bayle, Voltaire, Montesquieu, Bellori). Bei historischen Untersuchungen über die Entwicklung und das Verhältnis von Natur, Gesellschaft und Kunst sowie vergleichenden Studien über die politischen, sozialen und künstlerischen Erscheinungen seiner Zeit gelangte er sehr bald zu der Auffassung, daß in der weltgeschichtlichen Entwicklung die politischen, humanistischen und künstlerischen Menschheitsideale am besten und reinsten in der griechischen Polisdemokratie und der klassischen Kunst des alten Griechenland verkörpert seien. Bei den Hellenen, so glaubte er, sei die vollendete künstlerische Gestaltung der menschlichen Würde als Inbegriff höchsten Menschentums gleichsam universalistisch nicht nur aus den Bedingungen der günstigen Umwelt und der demokratischen, freiheitlichen Verfassungen, sondern auch aus dem Fleiß und Talent der griechischen Künstler sowie dem fördernden Einfluß humanitärer Lebensauffassungen erwachsen. Das Gefühl politischer und geistiger Freiheit habe die Griechen im Einklang mit den ethischen Idealen ihrer Philosophen und Dichter inspiriert, in der bildenden Kunst ein idealisches Menschenbild, wie er es nannte, in idealischer Schönheit und Wahrheit zu schaffen, das sowohl dem Wesen des Menschen als auch der Natur und Wirklichkeit des Lebens am vollkommensten entspreche. Schon in seiner Nöthnitzer und Dresdener Zeit, in der Winckelmann die höfische Kunst und besonders die zeitgenössische Architektur des Barocks als Ausdruck fürstlichen Repräsentationsbedürfnisses und als Symbol des die Menschenwürde zerstörenden Absolutismus abzulehnen begann, fand seine Idealauffassung über das Griechentum ihren Niederschlag in drei programmatischen Abhandlungen, in den ,,Gedanken über die Nachahmung griechischer Werke in der Malerei und Bildhauerkunst" (1755), dem „Sendschreiben über die Gedanken von der Nachahmung..." und in der ,,Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung..." (beide 1756 erschienen). Im Grundlagentext dieser drei ohne gelehrte Schwerfälligkeit geradezu thesenartig abgefaßten Schriften entwarf Winckelmann nicht nur für die Kunstwissenschaft und Ästhetik, 13

sondern auch für die gesellschaftliche und künstlerische Praxis der Gegenwart eine Reihe regulativer Prinzipien, die eine neue Epoche der bürgerlichen Kunstbetrachtung und Kunsttheorie einleiteten und in nuce bereits einen Vorlauf zu seinen späteren wissenschaftlichen Erkenntnissen und künstlerischen Auffassungen zur Antike enthalten. Am Beispiel der griechischen Kunstdenkmäler und Kunstanschauungen, mit denen er die antiken Traditionen dem Bürgertum bewußtmachen wollte, zeichnete er ein neues, positives und optimistisches Menschenbild für die zur sozialen Emanzipation drängenden gesellschaftlichen Kräfte, die ihr künstlerisches Bewußtsein in der Unfreiheit geistiger Bevormundung durch den Absolutismus nicht entfalten konnten, weil sie unter dem Einfluß bizarrer Geschmacklosigkeit eines Barock und eines Rokoko als Ausdruck der angemaßten Herrscherwillkür und unberechenbaren Launenhaftigkeit deutscher Zwergfürsten standen. Im Gegensatz dazu sah Winckelmann in der Herausbildung der freiheitlichen Persönlichkeit und dem an der Natur und dem Leben geschulten künstlerischen Geschmack, der das harmonische Ideal der Schönheit, Natürlichkeit, Ebenmäßigkeit, Ausgeglichenheit und Wahrheit zum Kriterium der Kunst erhob, die wirksamsten Mittel zur geistigen Überwindung der Schranken und der herkömmlichen Traditionen feudalistischer Kunstanschauungen. Wenn Winckelmanns Griechenbild vom Standpunkt heutiger Erfahrungen und wissenschaftlicher Erkenntnisse auch als begrenzt eingeschätzt werden muß, so können wir dennoch feststellen, daß sein in weltgeschichtlichen Rückerinnerungen geformtes Griechenbild als fiktives Urbild vollendeter Menschlichkeit zutiefst humanistische Wesens'züge trägt. Es bewahrte als Bildungserlebnis, Traditionswahl und gesellschaftliches Gegenbild bzw. Leitbild unübersehbar utopische und harmonische Vorstellungen einer künftigen bürgerlich-freien Gesellschaftsordnung und darf als ideal-reales Wunschbild mit seinen potentiellen Möglichkeiten zur Verwirklichung einer besseren gesellschaftlichen und künstlerischen Wirklichkeit nicht losgelöst von den sozialen Strömungen, Problemen und Erfahrungen seiner Zeit betrachtet werden. Deshalb dürfen wir auch Winckelmanns Graecozentrismus und Griechenrezeption keinesfalls als passive Fluchterscheinung werten. Im Gegenteil: Sein Griechenenthusiasmus hat aktiven, revolutionierenden Charakter; denn er setzte mit seiner erzieherischen Funktion und mit dem Postulat, daß die Gesellschaft — und nicht Mäzene — Träger der Kunst sein müsse, neue Maßstäbe für ein friedliches, gesellschaftliches Zusammenleben und trug wesentlich zur Formung eines neuen humanistischen Menschenbildes und Bildungsideals bei. So gesehen, erhält auch Winckelmanns konzise Ausdrucksdeutung von der „edlen Einfalt und stillen Größe" griechischer Kunst einen prononciert antifeudalen Zug, darüber hinaus aber auch große erzieherische Bedeutung im gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungsprozeß seiner Zeit; denn diese kurze, aber inhaltsschwere Charakterisierung lebendigen geistigen und humanen Wesens in der griechischen Kunst als Symbol realistischer Kunstbetrachtung erhielt bei Winckelmann gleichzeitig die normative und allegorische Funktion einer Ausdruckserziehung menschlicher und bürgerlicher Tugenden. Durch die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, die keine bloße Nachahmung, sondern ein erreichbares Vorbild sein 14

sollte, wollte Winckelmann auch Deutschland zu einer ähnlichen Kunstblüte mit nationaler Repräsentation führen, wie sie Griechenland hervorgebracht hatte, wobei die vollendete realistische Kunst des alten Griechenland die Funktion eines nationalen Vorbildes überhaupt übernehmen könnte. Mit diesen vorwärtsweisenden Gedanken und Kunstauffassungen hat Winckelmann besonders auf Lessing, Herder und Goethe sowie auf Forster und Humboldt, aber auch auf die Kunst z. Z. der Französischen Revolution gewirkt. In Italien, einer Heimstatt des Klassizismus, erlebte er die Welt der Antike in den Jahren 1755—1768 in ihrer tradierten Unmittelbarkeit. Mit Begeisterung und Staunen wanderte er durch die „Reste eines Riesenzeitalters", dessen künstlerische Zeugnisse er nicht nur sorgsam katalogisierte und systematisierte, sondern auch aus ihrer Zeit heraus interpretierte, um sie damit seinen interessierten Zeitgenossen und der ganzen Menschheit in ihrem Wesen zu erschließen. 1758—1763 erschienen in italienischer Sprache die „Briefe über die herculanischen Ausgrabungen", 1760 in Französisch die „Beschreibung der geschnittenen Steine des verstorbenen Baron v. Stosch", 1762 die „Anmerkungen über die Baukunst der Alten", 1763 die „Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst...". Berufungen in repräsentative öffentliche Ämter sowie Ehrungen durch akademische Diplome der Accademia di San Luca in Rom, der Accademia Etrusca in Cortona und der Society of Antiquity in London krönten sehr bald die Erfolge seiner international beachteten wissenschaftlichen Leistungen. Doch Winckelmann selber schien mit dem Erreichten nicht zufrieden. Schon lange war es sein Wunsch, mit einer „Geschichte der Kunst des Altertums" als Versuch eines Lehrgebäudes" an die Öffentlichkeit zu treten, worin er — dem Vorwort zufolge — „den Ursprung, das Wachstum, die Veränderung und den Fall derselben, nebst dem verschiedenen Stile der Völker, Zeiten und Künstler lehren, und dieses aus den übriggebliebenen Werken des Altertums... beweisen" wollte. Freilich waren schon vor ihm einige Arbeiten unter dem Namen einer Geschichte der Kunst verfaßt worden, aber niemand von den Skribenten war „in das Wesen und dem Innern der Kunst" vorgedrungen. In der Tat unterscheidet sich sein Hauptwerk, das 1764 in deutscher Sprache erschien und sehr bald ins Französische, Italienische und Englische übersetzt wurde, in seiner schöpf erischen Unmittelbarkeit sehr wesentlich von seinen antiquarischen und kompilatorischen Vorgängern. Während nämlich früher die Verfasser historiographischer Werke nicht nur die Geschichte der Wissenschaften, Philosophie und Literatur, sondern auch die Geschichte der Kunst in registrierende Biographien auflösten und dabei im Wust zusammengelesener, unfruchtbarer Gelehrsamkeit steckenblieben, stellte Winckelmann die Geschichte der Kunst als Stil- und Formgeschichte erstmalig und von der Periodisierung her übersichtlich in organischen und entwicklungshistorischen Zusammenhängen mit den geographischen milieu-materialistischen und geistigen Verhältnissen der Antike dar. Boden, Klima, Arbeit, Lebensart, Staatsverfassungen, große Persönlichkeiten und Lokalgegebenheiten waren ihm wesentliche Grundlagen für die kulturelle Entwicklung im Altertum. Mit diesem säkularen, an Ideen und Urteilen reichen Pionierwerk, das ein intensives philosophisches, historisches und kunsttheoretisches Studium zur Voraussetzung hatte und die progressiven Grundtendenzen damaliger bürgerlicher Wissenschaftsprinzipien nicht nur 15

reflektierte, sondern auch schöpferisch weiterentwickelte, wurde Winckelmann zum Wegbereiter der modernen klassischen Archäologie, Kunstgeschichtsschreibung und wissenschaftlichen Ästhetik in Deutschland. Charakteristisch für Winckelmann war, daß er den Ursachen für den Aufstieg und Niedergang der Staaten und Völker nachging und auch die Beziehungen zwischen künstlerischer und nationaler Entwicklung untersuchte. Er interessierte sich besonders für den Gebrauch der Werkzeuge in der Antike sowie für Fragen von Handel und Verkehr. Mit diesen grundlegenden Ansichten hat er einen starken Einfluß auf Lessings „Erziehung des Menschengeschlechts" und Herders „Ideen %ur Philosophie der Geschichte der Menschheit" ausgeübt. Darüber hinaus erweiterte er den engen Rahmen der Betrachtung, der in der Antiquitätenforschung auf die klassischen Völker der Antike eingeschränkt war, auf die Ägypter, Phönizier, Perser und Etrusker, deren Beitrag zur Entwicklung der Kunst er ebensowenig unterschätzt wissen wollte wie deren Anteil an der Gesamtentwicklung der Menschheitskultur. Nicht zuletzt aber hat Winckelmann mit seiner Kunstgeschichte, die die Harmonie der antiken Kunstentwicklung den Auswüchsen der zeitgenössischen höfischen Kunst gegenüberstellt, auch die Entwicklung der deutschen Historiographie entscheidend beeinflußt. Während Iselin 1764 die Kulturgeschichte als „Geschichte der Menschheit" aus dem Verband der politischen Geschichte löste, befreite Winckelmann die Kunstgeschichte aus den Fesseln der Kulturhistorie und der Philologie und machte sie zu einer autonomen Disziplin. Nach seinem Vorbild begründeten Reitemeier 1785 die Geschichte des antiken Bergbaus und Hüttenwesens, Heeren und Benedict 1793 bzw. 1806 die Handelsgeschichte des Altertums, Mangelsdorf, Ruhkopf und Schwarz 1779 bzw. 1794 und 1813 die Erziehungsgeschichte, Eichhorn und Savigny in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die moderne Rechtsgeschichte. Bemerkenswerte Fortschritte aber erreichte Winckelmann, indem er versuchte, die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise auch in der Historie zur Anwendung zu bringen, um nach dem „Sat^ vom zureichenden Grunde" (Wolff) dem Kausalnexus in der Entwicklung von Natur, Gesellschaft und Kunst besser auf die Spur kommen zu können. In sprachlicher Hinsicht gehört sein Werk als Bestandteil der Nationalkultur ebenso wie die Arbeiten Lessings, Herders und Forsters zu den brillanten Zeugnissen lebendiger klassischer deutscher Kunstprosa, und der uns heute so geläufige Begriff „Stil" ist in der Kunsttheorie eigentlich erst durch Winckelmann zu seiner Prägnanz gekommen. Es versteht sich von selbst, daß jede wissenschaftliche Leistung ihre objektive und subjektive Begrenzung sowohl in dem jeweiligen Wissenschaftsstand der Zeit als auch in dem eigenen Wissen des Forschers findet. Winckelmann erkannte das Neue, den Fortschritt seiner Zeit und trug mit seinen Wissenschaftsanschauungen wesentlich zur Herausbildung der bürgerlichen Ideen im Zeitalter der Aufklärung bei. Wie Rousseau und Forster glaubte Winckelmann, daß durch die „Unterordnung unter die Vernunft" alle Unfreiheit, Rechtlosigkeit und Unterdrückung aus der Welt geschafft werden könnten. Wir wissen heute, daß dies eine Illusion war. Aber es war eine der historisch notwendigen Illusionen, die die Menschheit ein Stück auf dem Wege des historischen Fortschritts voranbrachte. Daß Winckelmann in der Kunst und Kunsterziehung die edelsten Triebkräfte für die Entwicklung der neuen bürgerlichen 16

Gesellschaft sah, ergab sich notwendigerweise aus den rückständigen ökonomischen und politischen Verhältnissen und aus den mangelnden gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Erfahrungen des Bürgertums jener Epoche. Ganz im Sinne Goethes rechnen wir Winckelmann zu den Denkern des 18. Jahrhunderts, die durch die Ideale und Kunstformen der Antike ein bürgerliches humanistisches Selbstbewußtsein förderten. Unsere sozialistische Gesellschaft, der nach dem Staatsratsbeschluß vom November 1967 über „Die Aufgaben der Kultur bei der Entwicklung der sozialistischen Menschengemeinschaft" und in der neuen Verfassung (Artikel 18,1) die Aufgabe gestellt wird, alle humanistischen Werte des nationalen Kulturerbes und der Weltkultur zu pflegen und die sozialistische Nationalkultur als Sache des ganzen Volkes zu entwickeln, ist berufen, das von Winckelmann angestrebte Menschheitsideal unter unseren gesellschaftlichen Bedingungen zu verwirklichen. Prof. Hager charakterisierte auf der 4. Tagung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands diesen Prozeß mit folgenden Worten: „Die sozialistische Kulturrevolution wird immer mehr v>u einem untrennbaren Bestandteil der sozialistischen Umwälzung in allen Bereichen der Gesellschaft. Zugleich ist die auf dem Boden der Deutschen Demokratischen Republik sich entfaltende sozialistische Nationalkultur einem bedeutenden Faktor des Kampfes gegen die imperialistische Reaktion und Unkultur in Westdeutschland geworden." So knüpft auch das sich in der Kunst der Deutschen Demokratischen Republik entfaltende sozialistisch-realistische Menschenideal legitim und folgerichtig an jene künstlerische Entwicklung an, die das humanistische Menschenbild formte und die von der klassischen Antike über die italienische Renaissance zur deutschen Klassik führte. In diesem Ringen um Entfaltung der menschlichen Schöpferkraft in einer lebenszugewandten Diesseitsbezogenheit, die eine bewußte Veränderung der gesellschaftlichen Umwelt einschließt, nimmt Winckelmann einen hervorragenden Platz ein; denn sein wissenschaftliches und humanistisches Streben galt diesem Anliegen. Es erfährt im sozialistischen Realismus, der den Künstler im marxistischen Sinn ästhetisch auf die Eroberung des ganzen Menschen in der „absoluten Bewegung des Werdens" orientiert, seine vollendete Weiterentwicklung. So ist uns Winckelmanns Erbe Verpflichtung zur ästhetischen Gestaltung der Wirklichkeit, zur künstlerischschöpferischen Bestimmung des vorauseilenden Bildes vom schönen, sozialistischen Menschen. Besonders in unserer Bildhauerkunst und Malerei, in denen gegenwärtig eine lebhafte Auseinandersetzung um die ästhetisch-realistische Gestaltung des Menschen in unserer Epoche stattfindet, verstärkt sich die Tendenz, die große Werke der Weltkunst nicht unter dem Gesichtspunkt des Historismus zu sehen, sondern sie als echte Werte der Vergangenheit in der sozialistischen Gegenwartskunst im dialektischen Sinne aufzuheben. Es ist ein glückliches Zusammentreffen und symbolhaft zugleich, daß unsere Winckelmann-Ehrung im gleichen Jahr stattfindet, in dem im Bezirk Halle, also inmitten des größten Industriegebietes der DDR, die 10. Arbeiterfestspiele durchgeführt werden, die den Entwicklungs- und Leistungsstand unserer sozialistischen Nationalkultur sichtbar demonstrieren und erneut davon Zeugnis ablegen werden^ daß diese Kultur in engster Verbindung mit dem Erbe steht und 2

Winckelmanilbild

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beide eine Einheit bilden., Das zeigt sich in unserer darstellenden und bildenden Kunst, in der berechtigt auch der monumentale Charakter, der als Ausdruck einer erstrebten hohen Stufe der künstlerischen Verallgemeinerung von Lebenserscheinungen in der klassischen Kunst der Antike seine Ausprägung erfuhr, zum echten Zeugnis eines neuen sozialistischen Lebensgefühls wird. Übereinstimmend mit Winckelmanns Kunstauffassung drücken wir in der Kunst des Monumentalen die wirkliche historische Größe des Aufbauwerkes unseres Volkes, das alle Kräfte im entwickelten System des Sozialismus entfaltet, sinnfällig aus. Unsere Gesellschaftsordnung, die es erreicht hat, alle ihre Mitglieder zu aktivem Schöpfertum und bewußtem Handeln in der Gemeinschaft zu führen, manifestiert künstlerisch ihre Erfolge und Wirkungsmöglichkeiten in echter künstlerischer Monumentalität, die dem Wesen des sozialhistorischen Grundprozesses unserer Zeit Gestalt gibt. Die Reife des Weltbildes unserer Künstler, ihr Vermögen, sich mit der reichen Vorstellungs- und Ideenwelt des Volkes in monumentaler Gestaltung und in echt historischem Realitätsbezug zu identifizieren, befähigen zur künstlerischen Lösung der gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit in der Einheit von Individuellem und Gesellschaftlichem. Dabei haben wir das Urteil der Geschichte nicht zu fürchten. Fern jeder falschen Monumentalität, wie sie die sterbende imperialistische Ordnung stets reproduziert, stimmen wir mit dem universellen geschichtlichen Entwicklungsprozeß überein, der im Symbolgehalt dem Betrachter eine vielschichtige, bildhafte, konkrete und zielgerichtete Assoziation vermittelt. Diese zeitüberdauernde Wirkung unserer Kunst ist auch inmitten unseres Industriebezirkes bei der Entwicklung eines neuen Lebens zu einem wesensbestimmenden Merkmal geworden. Davon legen die Großplastiken in unserer Bezirkshauptstadt und an anderen Zentren unseres sozialistischen Aufbaus sowie an den nationalen Gedenkstätten und den Gedenkstätten der Geschichte der Arbeiterbewegung beredtes Zeugnis ab. Angesichts der verhängnisvollen Auswirkung nationalistischer und chauvinistischer Tendenzen reaktionärer deutscher Herrschaftsideologie, die bis in Winckelmanns Jahrhundert zurückreichen, erwächst den Wissenschaftlern, Künstlern und Kulturfunktionären in der Deutschen Demokratischen Republik die Aufgabe, den unüberbrückbaren Gegensatz zur westdeutschen Kunst und Kulturpolitik herauszuarbeiten, die sich in der Einflußsphäre ddr herrschenden antikommunistischen Ideologie befinden. In der Bundesrepublik, in der die Kultur- und Bildungsdemontage in allen Bereichen des Lebens zum sichtbaren Ausdruck des Bildungsnotstandes und des eingeschlagenen Weges zur Notstandsgesetzgebung wird, ist das Winckelmann-Gedenken von einer elitären und nihilistischen Kunst- und kulturpolitischen Auffassung bestimmt. Der in den verschiedenen Kunstrichtungen geförderte Subjektivismus und Abstraktionismus zerstört das humanistische Menschenbild und die ihm innewohnenden schöpferischen Ausdruckswerte. Auch wendet sich die bildende und darstellende Kunst keinesfalls an die Massen der werktätigen Bevölkerung Westdeutschlands, sondern sie möchte nur von einem kleinen Kreis von „Kennern" goutiert werden. Hierbei zeigt sich der tiefe Bruch mit frühbürgerlichen progressiven Traditionen und das Unvermögen der heute herrschenden Klasse, sich mit ihrem Erbe zu konfrontieren. Es gilt — und darin erblicken wir ein Charakteristikum des von uns geführtem. ideologischen 18

Kampfes —, durch unsere Winckelmann-Ehrung die westdeutsche Arbeiterklasse und andere demokratische, insbesondere außerparlamentarische Kräfte der Bundesrepublik, auch der wissenschaftlichen und künstlerischen Intelligenz, zu stärken. Die Folgen fortschreitender Militarisierung in Westdeutschland zeigen sich deutlich im Engagement mit der sogenannten Ostforschung und müssen zu schädlichen Auswirkungen und zu Verfallserscheinungen in den Kunst- und Kulturwissenschaften führen. In der Bundesrepublik wird heute das Winckelmann-Bild unter Aspekten einer aus subjektivistischen geschichtsphilosophischen Quellen mit stark klerikalisierender Tendenz gewonnenen Leitthese vom Abendland, respektive vom abendländischen Denken, interpretiert. Dabei wird die Herausbildung der imperialistischen Gesellschaftsordnung als Ergebnis einer geistesgeschichtlich beschriebenen Entwicklung in Europa willkürlich und spekulativ in antikommunistischem Sinne erklärt. In solchen ideologischen Denkschemata erscheint Winckelmann in der Publizistik als ein träumerischer, weitabgewandter, visionärer, auf dieantikenBildungswerte orientierter Denker, dessen humanistische Gesamtaussage als illusionäres, imaginäres und schwärmerisches Streben sowie als „ästhetischer Mystizismus" verunglimpft wird. Das geschieht unter dem Leitgedanken einer Charakterisierung des gesellschaftlichen Prozesses als eines übermenschlich-schicksalhaften, unhumanen und ungeklärten Geschehens, das den Menschen entfremde und ihm keine Möglichkeit zur bewußten Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse gebe. Dem Fortschrittsoptimismus der Aufklärung und Klassik wird deshalb ein agnostisches Geschichtsdenken entgegengestellt, das den Glauben an die Schöpferkraft des Menschen als falsche Antithese zum abendländischen Geschichtsbewußtsein verstanden wissen möchte. In Beziehung dazu wird auch die Tatsache, daß zu Winckelmanns Zeit die wissenschaftliche Kenntnis über die klassische Antike noch beschränkt blieb, in demagogischer Weise zur Stützung einer solchen Interpretation des Winckelmannschen Ideals als illusionäre Humanismusschwärmerei ausgenutzt. Methodologisch und erkenntnistheoretisch orientieren sich regressive westdeutsche Winckelmann-Interpreten in geradezu charakteristischer Weise einerseits an den Fehleinschätzungen einer reaktionär bürgerlichen Kunstgeschichtsforschung nach 1848, andererseits an den Ansichten mancher anderer bürgerlicher Winckelmannforscher, die infolge Einseitigkeit ihrer Betrachtungsweise bzw. Unkenntnis der jeder Wissenschaft und Kunst innewohnenden Gesetzmäßigkeiten Winckelmanns Leistung für die Archäologie und Kunstgeschichte nicht nur stark einschränken, sondern seine Verdienste um die Weiterentwicklung dieser Disziplinen auch verkennen. In der ständigen Weiterentwicklung von Wissenschaft und Kunst, die sich wie die Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse der Gesellschaft und ebenso wie die menschliche Erkenntnis in einem dialektischen Prozeß vom Niederen zum Höheren bewegt, bedeutet die Einzelleistung eines Gelehrten trotz seiner Begrenzung einen Beitrag zur Gesamtentwicklung der betreffenden Disziplinen. So ist das wissenschaftliche Werk Winckelmanns ein integrierender Bestandteil des allgemeinen gesellschaftlichen und kulturhistorischen Entwicklungsprozesses, der durch Winckelmann im 18. Jahrhundert entscheidend mitbestimmt wurde. Wer die 2*

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wissenschaftliche und kulturpolitische Bedeutung Winckelmanns objektiv einschätzen will, darf sich nicht mit dem Registrieren seiner richtigen und falschen Erkenntnisse begnügen, sondern muß unter Anwendung der Prinzipien des dialektischen und historischen Materialismus sein geradezu avantgardistisches Lebenswerk in seiner starken gesellschaftlichen Aussage, seiner Individyalität, Universalität und Totalität (Humboldt) erfassen, die ihrerseits die geschlossene Grundlage für Winckelmanns wissenschaftliches und politisch-moralisches Profil bilden. Diese Grundlage aber beruht bei Winckelmann „auf einem methodologischen und erkenntnistheoretischen Fundament, besitzt in Kategorien, Definitionen und Prinzipien eine theoretische Systematik und drückt einen weltanschaulichen, in die gesamte Lebenspraxis eingreifenden Gedankenreichtum aus". Gerade aber dazu gibt es in der westdeutschen Winckelmann-Rezeption keine Bezüge. Das erklärt sich aus der sozialen Praxis, die den Menschen im Marxschen Sinne immer stärker von seinen eigentlichen schöpferischen Kräften entfremdet, ihn in ein allseitiges Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhältnis zum imperialistischen Gesellschaftssystem und zum systemkonformen Verhalten zwingt. So hat Winckelmanns Erbe nur im sozialistischen Deutschland und in den marxistischleninistischen Altertums- und Kulturwissenschaften eine echte Heimstatt gefunden. Im gewaltigen Prozeß unserer gesellschaftlichen Umgestaltung realisiert sich Winckelmanns Vermächtnis nicht in der Welt geträumter Ideale, sondern in der Dynamik der gesellschaftlichen Wirklichkeit des Sozialismus. Davon kündet die in der sozialistischen Gesellschaft entstandene Menschengemeinschaft, die das in der Vergangenheit nur abstrakt ersehnte humanistische Ideal des Menschen in allen Bereichen unseres Lebens konkret verwirklicht. Damit ist die Marxsche Forderung „Wenn der Mensch von den Umständen gebildet wird, so muß man die Umstände menschlich bilden" Realität geworden. Der Mensch findet in der sozialistischen Gesellschaft die sozialen Verhältnisse und Voraussetzungen, die die vielseitige Entwicklung eines freien Individuums ermöglichen. So ist in unserer Republik die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller. Hier ist die harmonische und verantwortungsbewußte Eingliederung des einzelnen in die Gemeinschaft und die Lösung des Widerspruchs zwischen dem gesellschaftlichen Wesen des Menschen und seiner individuellen Existenz möglich und notwendig. Freiheit heißt für uns, in einer sozialistischen Menschengemeinschaft als Freund unter Freunden und in brüderlicher Verbundenheit der guten Sache des menschlichen Fortschritts zu dienen und damit das große Beispiel der Freiheit des Menschen von der Ausbeutung in den Klassengesellschaften zu schaffen, unter denen der Mensch dem Menschen ein Feind war. Damit ist das historisch gewachsene und sich formende sozialistische Menschenbild realer Ausdruck eines lebendigen Humanismus, der uns in Winckelmanns Persönlichkeit und Werk in idealischer Form entgegentritt. Die Ehrung des Gelehrten, Patrioten und Humanisten Winckelmann soll deshalb den Menschen in unserer Republik Verpflichtung bleiben. Sie lenkt unsere Aufmerksamkeit auf den Wert seines Lebens und Wirkens im Dienste der Menschheit.

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JOHANNES

IRMSCHER

Johann Joachim Winckelmann und die Altertumswissenschaft heute Das Jahr 1967 war ein Jahr der Gedenktage und Jubiläen. Ihnen allen voran stand der 50. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, die im vollsten Sinne des Wortes eine „neue Epoche in der Weltgeschichte" einleitete, und selbst die dezidiertesten Antikommunisten konnten die Veranlassung, seiner zu gedenken, nicht in Abrede stellen. Die übrigen Anlässe bezogen sich auf Persönlichkeiten und Ereignisse, die mit der Geistesgeschichte des deutschen Volkes, ja vornehmlich sogar mit dem Territorium der Deutschen Demokratischen Republik verbunden sind, denen aber doch sämtlich darüber hinaus in unterschiedlichem Maße, wie sich versteht, europäische Bedeutung zukommt: Der 22. Juni erinnerte uns an den 200. Geburtstag Wilhelm von Humboldts, des Gelehrten und Staatsmannes, der im Geiste des bürgerlichen Neuhumanismus das Bildungswesen Preußens erneuerte; am 3. August jährte sich zum 100. Male der Todestag August Boeckhs, des Begründers der griechischen Epigraphik, der antiken Wirtschaftsgeschichte wie überhaupt einer umfassend historischen Sicht des klassischen Altertums, und am 23. Oktober der 100. Todestag Franz Bopps, des Schöpfers der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft; der 13. Oktober erinnerte an Martin Luthers Thesenanschlag im Jahre 1517, der mit der kirchlichen Reformation die frühbürgerliche Revolution in Deutschland auslöste, Bewegungen, die ohne das humanistische Fundament nicht denkbar sind; Theodor Mommsen, Historiker des römischen Rechts und der römischen Geschichte und Nobelpreisträger für Literatur, wurde vor 150 Jahren am 30. November 1817, Johann Joachim Winckelmann endlich, dem die heutigen Darlegungen gelten, vor 250 Jahren am 9. Dezember 1717 geboren. Es mag in gewissem Grade Zufall sein und entbehrt trotzdem nicht der Begründung, daß alle diese Gedenktage zu der klassischen Altertumswissenschaft und dem durch sie vermittelten antiken Erbe in enger Verbindung stehen. Eine Erklärung für dieses Zusammentreffen bietet sich nämlich unschwer an, ist doch allgemein bekannt, daß die griechisch-römische Antike in ihren am stärksten vorwärtsweisenden Festansprache, gehalten bei dem Festakt des Winckelmann-Komitees der Deutschen Demokratischen Republik zur 250. Wiederkehr des Geburtstages von Johann Joachim Winckelmann am 9. Dezember 1967 in Stendal. Vorabdruck (mit Angabe der Belegstellen und Hinweisen auf weiterführende Literatur): Martin-Luther-Universität Halle—Wittenberg, Universitätsreden, 1968.

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Elementen der um ihre Emanzipation als Klasse ringenden Bourgeoisie als ideologisches Arsenal diente; was Wunder also, daß zahlreiche bedeutende Ereignisse unserer Vergangenheit mit ihr und den Repräsentanten der Altertumskunde verbunden sind! Doch sind darum jene Ereignisse und Gestalten in unserer Gesellschaft von heute, die nicht mehr durch die Bourgeoisie, sondern durch die Arbeiterklasse bestimmt wird, nicht vielleicht zu Anachronismen geworden, die lediglich einer übertriebenen Pietät und mißverstandenen Traditionspflege ihre Fortexistenz verdanken? Oder können wir in solchen Zusammenhängen wirklich noch von einer lebendigen Kraft sprechen (um eine Formulierung des verdienten WinckelmannForschers Arthur Schulz zu verwenden), lebendig nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart? Es soll im folgenden versucht werden, in bezug auf Johann Joachim Winckelmann für den Teilbereich der Altertumswissenschaft diese Frage zu beantworten; zu Winckelmann als Begründer der modernen Kunstgeschichtsschreibung, als Ästhetiker und als Philosophen werden Kompetentere bei anderer Gelegenheit das Wort nehmen. Vielleicht, daß durch alle solche Überlegungen die Winckelmann-Renaissance, die vor rund fünfzig Jahren einsetzte, über Deutschland hinausgriff und auch die marxistische Forschung erfaßte, nach ihren wissenschaftlichen Anliegen und ihren gesellschaftlichen Wurzeln erhellt und erklärt werden kann! Wir sprachen vorhin von der Antike als einer gesellschaftlich mobilisierenden Kraft und denken dabei zunächst an die Renaissance, als im Zeichen der Wiedergeburt des klassischen Altertums die Macht des Feudaladels gebrochen und die moderne Herrschaft der Bourgeoisie begründet wurde. „In den aus dem Fall von Byzanz geretteten Manuskripten, in den aus den Ruinen Roms ausgegrabnen antiken Statuen ging dem erstaunten Westen eine neue Welt auf, das griechische Altertum; vor seinen lichten Gestalten verschwanden die Gespenster des Mittelalters" (Friedrich Engels). Doch die Renaissance mündete ein in den Humanismus, eine Bewegung von überwiegend akademisch-theoretischem, gelehrt-rhetorischem Charakter, die in der Zeit des politischen Niedergangs nach dem Scheitern der bäuerlich-plebejischen Volksrevolution vollends ihren progressiv-kämpferischen Elan verlor. Die jesuitische Gegenreformation versetzte dem Humanismus gar den Todesstoß, indem sie allein die formale Schulung durch die lateinische Grammatik und Rhetorik gelten ließ. Zwar besaßen die klassischen Studien noch immer eine gewichtige Position, ihre Beziehung zum tätigen Leben jedoch war weithin durch antiquarisches Sammeln ersetzt, dem vollständigen Zusammentragen wichtiger schien als wertendes Ordnen; das Griechische spielte gegenüber dem Lateinischen eine nachgeordnete Rolle. Das Barock aber, in dem Gegenreformation und Absolutismus ihren künstlerischen Ausdruck fanden, stand der Antike ohne Pietät gegenüber und vergriff sich schonungslos an ihren Überbleibseln. ,,Quod non fecere barbari, fecere Barberini", spottete der römische Volksmund. Deutschland benötigte lange Zeit, um sich von den Wunden zu erholen, die ihm durch den Dreißigjährigen Krieg geschlagen worden waren. Von einem Wiederemporkriechen des Bürgertums, von einer ökonomischen Erniedrigung des Landes sprach Friedrich Engels, die es weit hinter das so viel kleinere Holland zurückfallen 22

ließ. Politisch kennzeichnet das Zeitalter der Absolutismus. Dieser förderte in Frankreich im wohlverstandenen eigenen Interesse die Bourgeoisie und trug in gewisser Hinsicht dazu bei, diese zu stärken. In Deutschland dagegen verbanden sich der absolute Monarch und der Adel, nachdem er sich jenem gleichgeschaltet hatte, um das schwache gewerbliche Bürgertum zu gängeln und zu bevormunden und die sogenannte zweite Leibeigenschaft zu legalisieren. Dabei ergaben sich naturgemäß entsprechend der unterschiedlichen Entfaltung der Produktivkräfte Differenzierungen. Preußen zum Beispiel, Winckelmanns Geburtsland, kann geradezu als Musterbeispiel für die vorhin dargestellte Entwicklung angesehen werden, in Sachsen hingegen, wo Winckelmann seine entscheidenden Reifejahre verbrachte, bildete sich eine andere Situation heraus. Hier hatte einerseits das Bürgertum, auf Metallgewerbe, Leinenweberei und Handel gestützt, einen stärkeren Anteil an der Gesamtbevölkerung, während sich der fürstliche Absolutismus gegen die alte ständische Ordnung nur sehr langsam durchsetzte. All das bewirkte, daß in Sachsen neben orthodoxer Verknöcherung die protestantische Tradition lebendig und das Schulwesen fähig blieb, die Reflexe der geistigen Strömungen aufzufangen, die von ökonomisch und politisch weiter entwickelten Ländern auf Deutschland ausstrahlten. Die Repräsentanten der bürgerlichen Emanzipationsbewegung, die wir als Aufklärung bezeichnen, waren daher zu einem großen Teil gebürtige Sachsen oder doch wenigstens Absolventen sächsischer Schulen. Diesem Strom geistiger Überlieferung sollte sich als ein höchst bedeutsames Element Johann Joachim Winckelmann beigesellen. Der nachmalige Begründer der klassischen Archäologie wurde am 9. Dezember 1717 als einziger Sohn eines in bitterer Not lebenden Schuhmachermeisters in der Altmarkstadt Stendal geboren, die noch allenthalben Spuren des durch den Dreißigjährigen Krieg verursachten Niedergangs an sich trug. In diesem elenden, armseligen Milieu zeigte sich indes bereits die Richtung auf, in der später Winckelmann wirken sollte: In der Lateinschule der Stadt wurden wenigstens die Anfangsgründe des Griechischen gelehrt — „Das Griechische klang, wie ein Stern in der Nacht erscheint", um mit Goethe zu reden —; in der Schulbibliothek, deren Aufsicht ihm anvertraut war, vermittelte dem Knaben der „Geöffnete Ritterplatz" des Hamburger Buchhändlers Schiller eine erste Idee von den berühmten Kunstwerken der Malerei und Bildhauerkunst; die in der Altmark nicht seltenen Hünengräber wurden nach alten Urnen durchstöbert, die das Volk als Heidenbötte bezeichnete. Der humanistische Drang nach den Quellen, den schriftlichen wie den monumentalen, hatte den jungen Winckelmann ergriffen; daß er die Voraussetzung jedes altertumswissenschaftlichen Studiums darstellt, sollte jenem erst sehr viel später bewußt werden. Das Streben, sich Bildung anzueignen, um die ihn bedrängende Enge des Daseins zu überwinden, symbolisch für den Mann des dritten Standes, kennzeichnet Winckelmanns ersten Lebensabschnitt. Als Kind seiner Zeit sind auch ihm Vernunft und Wissenschaft des Menschen allerhöchste Kraft, bleibt auch er nicht frei von den Schwächen gerade der deutschen Aufklärung, ihrem betonten Idealismus und ihrer Flucht in ein Reich der Ideale. In Berlin und dann in Salzwedel sucht der junge Winckelmann vergebens nach vertiefterem Griechischunterricht, als Stendal ihn 23

bieten konnte; doch das Preußen des „Soldatenkönigs" war ein Land der Kasernen, kein Land der Schulen. Aus Pietät gegen das Elternhaus und in Ansehung zu erwartender Stipendien bezog Winckelmann 1738 als Student der Theologie die Universität Halle. Aber eher als in den Vorlesungen war er in den Bibliotheken zu finden, und die Stadt, von der Voltaire gesagt hatte, daß sie die Krone der deutschen Gelehrten in sich berge, hieß er eine Stadt der Blinden. Die Professoren schalt er als Leute, die nur wüßten, was andere schon vor ihnen gewußt hätten, für die es genug sei, Titel und Indizes zu kennen, statt Empfindung zu haben und zu denken. Es war hinfort sein Vorsatz, für ein breites Publikum und nicht für Zunftgenossen zu wirken und zu schreiben. In der Tat: Soll das antike Erbe zur gesellschaftlichen Kraft werden, so muß es der Gesellschaft erschlossen und darf nicht bloß dem esoterischen Kreise der Fachgenossen tradiert werden; gleichgewichtig steht neben dem historischen das humanistische Anliegen der Altertumswissenschaft. Mit einem leidlichen Abgangszeugnis der Hallenser theologischen Fakultät versehen, suchte sich Winckelmann, wie das bei mittellosen Gelehrten des 18. Jahrhunderts üblich war, eine höhere Bedientenstelle; er wurde Bibliothekar, dann Hauslehrer. Der Umgang mit dem altmärkischen Adel ließ ihn die Notwendigkeit erkennen, sich auch moderne Bildung und Kenntnisse in den neueren Sprachen anzueignen. Wiederum bezog er die Universität — Jena diesmal, die „Universitas pauperum" —, um sich neben den Sprachen vornehmlich den Naturwissenschaften und der Medizin, aber auch der Mathematik zu widmem. Obgleich nur zwei Semester umfassend, vermittelte der Jenaer Aufenthalt Winckelmann tiefgreifende Anregungen. Seine Sehnsucht, Erfahrung und Anschauung statt Wissen von Begriffen und Worten zu sammeln, erfüllte sich weitgehend, und noch in dem Winckelmann der späteren Jahre war der Gedanke lebendig, sich nach Abschluß seiner archäologischen Arbeiten der Physik zuzuwenden: „Meine letzten Betrachtungen werden von der Kunst auf die Natur gehen". Die Notwendigkeit naturwissenschaftlicher Bildung für den Kunstgelehrten wie für den ausübenden Künstler steht hinter solchen Überlegungen; daß die Archäologie von heute mit ihren systematischen Grabungen und ihren subtilen Datierungsmethoden sich aufs engste den Naturwissenschaften und der Technik angenähert hat, liegt in der konsequenten Fortsetzung dieser Linie. Doch auch in den übrigen Zweigen der Altertumskunde zeigen sich solche Tendenzen; denn wer das Leben der alten Welt in allen, nicht nur in seinen kulturellen Äußerungen einzufangen bestrebt ist, dem vermögen verständlicherweise die überlieferten geisteswissenschaftlichen Kategorien und Denkweisen nicht mehr zu genügen. Nach mehreren Intermezzi folgt 1743 das Konrektorat in Seehausen, von Winckelmann als die Zeit seiner tiefsten Knechtschaft empfunden, weil Beruf und Berufung in unüberbrückbarem Gegensatz zueinander zu stehen schienen: Ich „ließ Kinder mit grindigen Köpfen das Abc lesen, wenn ich während dieses Zeitvertreibs sehnlich wünschte, zur Kenntnis des Schönen zu gelangen, und Gleichnisse aus dem Homer betete". Die tiefste Misere seines Lebens läßt den rastlos Suchenden immer zielbewußter seine Bestimmung finden. Das Herkömmliche wird abgeschüttelt, die Begegnung mit den besten Werken der französischen Aufklärung erleichtert die

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Umwälzung in Glauben und Wissen. Es zerbricht das Tabu, das Antike mit römischer Antike gleichsetzte, und an die Stelle des römischen Abbilds tritt das griechische Urbild. Im Homer, der im französischen Streit der Alten und Modernen hinter Vergil, ja hinter Tasso hatte zurückstehen müssen, entdeckte Winckelmann die Symbole seines eigensten persönlichen Daseins; durch und an Homer erschlossen sich ihm nicht nur Herodot, Sophokles, Xenophon und Piaton, der Dichter der Griechen katexochen wurde ihm weit mehr: der Begleiter und Führer bei dem unablässigen Streben, zur Kenntnis des Schönen zu gelangen und dieses Schöne wissenschaftlich, das heißt rational, zu erfassen. Doch um für diese Aufgabe allseitig vorbereitet zu sein, bedurfte es noch weiterer Jahre des Wachsens und Reifens. Sie sind mit Sachsen verbunden, dessen relativ fortgeschrittene Entwicklung wir vorhin begründeten, und im besonderen mit der Residenzstadt Dresden, die das „Augusteische Zeitalter" mit seinen im Dresdner Barock gehaltenen Bauten für immer in die Reihe der europäischen Kunststädte erhoben hatte. 1748 wurde Winckelmann Bibliothekar und wissenschaftlicher Sekretär des Grafen Bünau auf Schloß Nöthnitz, südlich nahe Dresden gelegen, bei der Fortsetzung seiner deutschen Reichsgeschichte. Trotz Winckelmanns Klagen erwies sich für ihn die Nöthnitzer Zeit als durchaus fruchtbar, ja notwendig. Sie machte den jungen Gelehrten mit den Anliegen der Geschichtsschreibung bekannt — in Anlehnung an und in der Auseinandersetzung mit Bünaus Werk —, brachte ihn — dank der laufenden Bibliothekseingänge — mit der zeitgenössischen Literatur in Kontakt, mit den philosophischen Schriften der Aufklärung ebenso wie mit der internationalen Belletristik, ließ ihn neue Freundschaften anknüpfen — darunter zu Christian Gottlob Heyne, nachmaligem Schulhaupt der klassischen Philologie und Verfasser einer Lobschrift auf Winckelmann —, führte ihn durch Literatur und Anschauung an antike und moderne Kunst heran. An seiner eigenen Entwicklung wurde Winckelmann gewahr, daß der Altertumsforscher, will er seiner humanistischen Aufgabe gerecht werden, niemals ein lediglich rückwärts gewandter Antiquar sein darf, sondern ein Mann sein muß, der sich in den Problemen seiner Epoche zu orientieren und mit den Mitteln seiner Wissenschaft für das in jener Epoche Vorwärtsweisende Partei zu ergreifen vermag. August II. der Starke hatte eine respektable Antikensammlung zusammengekauft; doch „die besten Statuen" standen laut Winckelmanns Zeugnis „in einem Schuppen von Brettern, wie Heringe gepackt", wo sie „zu sehen, aber nicht zu betrachten waren". Immerhin dürften sie ebenso wie die Gipsabgüsse, „die der König hat", Winckelmann einen lebendigeren Eindruck von antiker Kunst vermittelt haben als die Münzen, Gemmen und anderen Antikaglien, die ihm vordem zugänglich gewesen waren, wenngleich jener Eindruck später hinter den stärkeren römischen Impressionen verblaßte. Anerkanntermaßen gewichtig aber war die unmittelbare Begegnung mit bildender Kunst und bildenden Künstlern, welche die Dresdner Galerie sowie die Freundschaft mit dem Altersgenossen Adam Friedrich Oeser ermöglichten, bei dem Winckelmann Logis nahm, von dem er Zeichenunterricht erhielt, durch den er in das Dresdner Kunstleben eingeführt wurde. Pointiert ist einmal bemerkt worden: „Erst unter dem Einfluß der Künstler konnte Winckel25

mann zu seiner Kunst gelangen", und' in der Tat machte die Begegnung mit Oeser die letzte Phase in dem langwierigen Bildungsgang und Reifeprozeß des Gelehrten aus. Der nachherige Aufenthalt in Rom bedeutete gewiß Erweiterung und Vertiefung, aber im Entscheidenden doch nur Bestätigung des in harter innerer Auseinandersetzung als richtig Erfundenen. In wenig mehr als einem Jahrzehnt entstand nun ein wissenschaftliches Opus von erstaunlichem Umfang und tiefgreifender Wirkung, niedergeschrieben, um die gewonnenen Erkenntnisse mitzuteilen, mehr aber noch, um sie in der eigenen Gegenwart verwirklichen zu können. Wir dürfen dieses Opus mit Herder als Kronzeugen getrost als ein einheitliches Ganzes behandeln. Sein Präludium bilden die „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst", ein dünner Quartband, 1755 in 50 rasch rar gewordenen Exemplaren in Dresden gedruckt, von seiner Wirkung her schon früh mit den Lutherschen Reformationsthesen verglichen. Auch Winckelmanns Schrift will verändern, aber sie fordert nicht die Gelehrtenzunft zur Disputation intra muros auf, sondern wendet sich in deutscher Sprache — auch das ein Novum! — in bewußt gepflegtem Stil, wie er allein dem Gegenstand angemessen zu sein scheint, an einen weiten Kreis, darunter nicht zuletzt an die bildenden Künstler. Denn der Gegenstand, über den gehandelt wird, geht alle an und ist keineswegs nur eine Sache der Kunst: es ist das neue Menschenbild, nach dem eine Klasse sucht, die sich wider den für unerträglich empfundenen Druck des Ancien régime empört, die aufbegehrt gegen dogmatische Enge, Zunftgeist, barbarischen Ungeschmack, ödes Antiquartum und sich auf künstlerischem Gebiet gegen die „freche Moderne" wendet, wie sie Barock und Rokoko repräsentieren. Vor diesem Hintergrund erhalten die vielzitierten Worte von der edlen Einfalt und stillen Größe der griechischen Meisterwerke einen neuartigen Akzent: Einer Welt der Ungerechtigkeit, der Bedrängnis, der Unrast, die Maß und Ziel verloren hat, wird das Ideal der Harmonie der Ausgeglichenheit, der Ebenmäßigkeit gegenübergestellt, das nicht nur im ästhetischen Abbild, sondern durch dieses hindurch in der althellenischen Vergangenheit verwirklicht gefunden wird. Denn diese althellenische Vergangenheit war für Winckelmann und die deutsche Klassik, die er vorbereitete, nicht Mythos, sondern Realität. „Der Einfluß eines sanften und reinen Himmels", lesen wir, „wirkte bei der ersten Bildung der Griechen, die frühzeitigen Leibesübungen aber gaben dieser Bildung die edle Form", das heißt, in die heutige Sprache umgesetzt, Natur und gesellschaftliche Einrichtungen. Diese „edle Form" in der Natur zu studieren, bot sich nach Winckelmann den griechischen Künstlern ausgiebig Gelegenheit: „Die Schule der Künstler war in den Gymnasien ... Der Weise, der Künstler gingen dahin ... Das schönste Nackende der Körper zeigt sich hier in so mannigfaltigen, wahrhaften und edlen Stellungen, in die ein gedungenes Modell, welches in unseren Akademien aufgestellt wird, nicht zu setzen ist". Bei dieser Darstellungsweise, die man abfällig als Naturalismus bezeichnen könnte, blieben die griechischen Künstler freilich nicht stehen; „sie fingen" vielmehr „an, sich gewisse allgemeine Begriffe von Schönheiten sowohl einzelner Teile als ganzer Verhältnisse der Körper zu bilden, die sich über die Natur selbst erheben sollten; 26

ihr Urbild war eine bloß im Verstände entworfene geistige Natur", das idealische Schöne, wie wir sagen würden. Denn „der Pinsel, den der Künstler führt, soll im Verstand getunkt sein, wie jemand von dem Schreibegriffel des Aristoteles gesagt hat: Er soll mehr zu denken hinterlassen, als was er dem Auge gesagt hat". Das Griechenbild, das solchen Gedankengängen zugrunde liegt, ist nach den vertiefteren Einsichten von heute gewiß unhistorisch, ist ein im Verstände entworfenes Urbild, um die Formulierung Winckelmanns aufzunehmen. Aber es will ja primär auch gar nicht Geschichte rekonstruieren, sondern Menschen — und das heißt die Gesellschaft — seiner Tage umgestalten. Mit Recht stellte der Romantiker Friedrich Schlegel in der überschwenglichen Diktion seiner Zeit fest: „Der erste unter uns, der die intellektuelle Anschauung der Moral gehabt und das Urbild vollendeter Menschheit in den Gestalten der Kunst und des Altertums erkannte und gottbegeistert verkündigte, war der heilige Winckelmann". Nicht um des einseitig ästhetischen Erlebens willen ist Kunst gut, sondern wegen des sittlichen Anderswerdens, das sie zu bewirken vermag. So verstanden, gewinnt der zunächst Anstoß und Widerspruch erregende Satz eine umfassendere Bedeutung: „Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nahahmung der Alten". Vom Zustande der klassischen Studien im Deutschland des 18. Jahrhunderts hat Goethe in seiner ganz griechisch, das heißt humanistisch, empfundenen Winckelmann-Schrift gesagt, daß „es eigentlich kein Studium des Altertums anders" gab „als in dem gemeinen Dienste von Brot erwerbenden Disziplinen". Bereits mit seiner Erstlingsschrift veränderte Winckelmann diesen Zustand, indem er der Beschäftigung mit dem Griechischen das unmittelbare Ziel stellte, eine als krank empfundene Kunst zu überwinden durch die Hinwendung zu dem Gesunden und Guten, das im Hellenentum verkörpert schien; teils tastend formuliert, teils ahnend empfunden, hieß dieses Ziel, auf dem Wege über die Kunst zu einem neuen Menschenbild, zu einer neuen Sittlichkeit, ja zu einer neuen gesellschaftlichen Ordnung zu gelangen. Die klassische Altertumswissenschaft in unserer Gegenwart vermag die unhistorische Antikekonzeption Winckelmanns nicht aufzunehmen; aber steht nicht auch vor ihr die entscheidende humanistische Aufgabe, mit ihren Inhalten an der Gestaltung einer neuen Kultur, an der Schaffung eines neuen Bildungsideals, am Aufbau einer neuen Gesellschaft teilzunehmen? Besser als fruchtlose Klagen über den Rückgang der altklassischen Bildung stünde es ihren Vertretern an, sich aus dem noch keineswegs überwundenen Antiquartum zu lösen und im Geiste Winckelmanns die Forderung des Tages zu begreifen. Als Winckelmann seine „Gedanken über die Nachahmung" niederlegte, war seine Denkmälerkenntnis äußerst gering, seine Urteile gründeten sich dementsprechend weithin mehr auf Intuition als auf wissenschaftliche Aneignung. Die römische Periode, der zweite Abschnitt seines Lebens, ließ das Versäumte nachholen in dem Maße, in dem zu seiner Zeit in Italien und von Italien aus griechische Kunst studiert werden konnte. Das Land „in der Ferne", „wo die Göttersöhne schlafen, das trauernde Land der Griechen", hat er ebensowenig gesehen wie Friedrich Hölderlin, 27

dessen Worte ich soeben anführte, ebensowenig wie auch alle übrigen Vertreter der durch Winckelmann heraufgeführten deutschen Klassik. Der Erfolg der Erstlingsschrift, durch die er über Nacht zum berühmten Manne wurde, sowie der kurz vorher erfolgte Übertritt zum Katholizismus — die einzige große Lüge im Leben dieses aufrechten und aufrichtigen Mannes, wie man gesagt hat, — hatten Winckelmann eine Pension des sächsischen Königs eingetragen, („Dieser Fisch soll in sein rechtes Wasser kommen") und ihn endlich in jene Freiheit und Unabhängigkeit des Schaffens versetzt, die er bislang so bitter entbehrt hatte. Am 18. November 1755 traf er in der Ewigen Stadt ein; sie ersetzte ihm hinfort Heimat und Vaterland. In Raphael Mengs, dem er über lange Zeit hin freundschaftlich verbunden blieb, begegnete ihm — wie in Dresden in Oeser — der Künstler, der zugleich der Theorie der Kunst nachging; in dem hochgebildeten, kunstliebenden Kardinal Alessandro Albani, in dessen Villa er 1759 Wohnung nahm, fand er, um die eigenen Worte Winckelmanns zu gebrauchen, den Freund und Wohltäter, dessen Leben und Tod vor allem anderen sein Leben und Schicksal bestimmten. „Es sollte scheinen, er baue für mich, er kaufte Statuen für mich, denn es geschieht nichts, was ich nicht billige", konnte der Deutsche bei anderer Gelegenheit über den römischen Mäzen schreiben. Von Rom aus bot sich Winckelmann die Möglichkeit, Florenz und die Toskana kennenzulernen, Neapel zu besuchen, in Herkulaneum die seit dem Beginn des Jahrhunderts betriebenen Ausgrabungen in Augenschein zu nehmen und schließlich bis zu den Tempeln von Pästum vorzudringen, an denen er die Unterschiedlichkeit griechischer und römischer Baukunst nachhaltig erfaßte. Rom brachte ihm aber auch Ämter und Ehren — 1763 wurde er Prefetto delle Antichità di Roma, im Jahre darauf Scrittore an der Vaticana — und machte ihn zum berühmten Manne, um dessen Freundschaft sich Gelehrte und Künstler, Fürsten und Adlige bemühten. Hatte der Stendaler Schuhmacherssohn seine Klasse verlassen? In Rom fand aber auch Winckelmanns literarisches Opus seine Abrundung. 1760 erschien, auf Veranlassung des Erben angefertigt, der Katalog der Gemmensammlung des Florentiner Kunstfreundes Baron Philipp von Stosch, eine Fleißarbeit gewiß, die mit vielen Mängeln behaftet, aber darum doch nicht unwichtig für die wissenschaftliche Entwicklung ihres Autors gewesen ist. Denn die Erfassung, Beschreibung und Erklärung der 3444 Nummern der Kollektion, die sich heute im Besitze der Berliner Staatlichen Museen befindet, nötigte Winckelmann, an der Aufbereitung der Quellen teilzunehmen, ohne die nun einmal jede philologisch-historische Wissenschaft und damit auch die Altertumskunde Schall und Rauch bleibt. Mehr als die nüchterne Beschreibung, wie sie der Catalogue raisonné erforderte, lag ihm indessen die ästhetische Würdigung, die künstlerisch-literarische Wertung. Der „Beschreibung des Torso im Belvedere zu Rom", eines seit der Frührenaissance viel bewunderten Marmorwerkes hellenistischer Zeit, die 1759 in einer deutschen Zeitschrift erschien, sowie die in der Urfassung erst postum gedruckte „Beschreibung des Apollo im Belvedere" haben als Muster kunstwissenschaftlicher Prosa beispielgebend nachgewirkt. Sie leiten über zu den mehrfachen deskriptiven Darstellungen antiker Denkmäler in der „Geschichte der Kunst des Altertums", Winckelmanns 28

nach äußerem Umfang wie nach innerem Gewicht bedeutsamsten Werk, leiten über zugleich in eine neue, höhere Phase in der Entwicklung des Gelehrten Winckelmann: die in den „Gedanken über die Nachahmung" konzipierten ästhetischen Kategorien fanden in den angeführten Beschreibungen griechischer Kunstwerke ihre Festigung und in der „Geschichte der Kunst" ihre historische Vertiefung. In deutscher Sprache 1764 in Dresden erstmalig vorgelegt, bald darauf ins Französische, Italienische und Englische übersetzt, leitete die „Geschichte der Kunst des Altertums" eine neue Epoche in der Archäologie ein, insoweit diese Wissenschaft die Kunstentwicklung zum Gegenstand hat. Wo vordem bestenfalls Künstlergeschichte, für gewöhnlich aber reines antiquarisches Faktensammeln zu finden gewesen war, wurde nunmehr nach historischen Prinzipien geordnet und in größere geschichtliche Zusammenhänge eingereiht. Daß dabei in vielem die Ausführung hinter dem programmatischen Ansatz zurückblieb, daß die philologische Schule Heynes Winckelmann schon zu Lebzeiten Irrtümer in Fülle nachzuweisen vermochte und daß vollends heute — nach zwei Jahrhunderten kunstarchäologischer Entdeckungen — sein Opus in den meisten Details überholt ist, all das ändert nichts daran, daß seine Leistung bahnbrechend die Fundamente legte, von denen her jene Korrekturen überhaupt erst möglich wurden. Die Disposition und Anordnung des Stoffes ist gewiß nicht die stärkste Seite des Werkes. Von hier aus könnte es nämlich scheinen, als betrachte nur dessen zweiter Teil die Kunst „nach den äußeren Umständen der Zeit"; in Wirklichkeit durchzieht jedoch die Dialektik von Kunstentwicklung einerseits und historisch-gesellschaftlicher Entwicklung andererseits das ganze Opus. „Denn die Wissenschaften, ja die Weisheit selbst", formuliert der Verfasser seine Überzeugung, „hängen von der Zeit und ihren Veränderungen ab, noch mehr aber die Kunst . . . Es war also nötig, die Umstände anzuzeigen, in welchen sich die Griechen von Zeit zu Zeit befunden haben". Dieser Blick auf die „Umstände" läßt ihn gewahr werden, daß zu ihnen nicht nur die Daten der politischen Geschichte gehören, sondern auch der „Einfluß des Himmels", will sagen: das Klima, sowie „der Verfassung und Regierung und der dadurch gebildeten Denkungsart", in unserer Sprache: der gesellschaftlichen Verhältnisse. Der Autor übersieht auch nicht die Rolle, welche das Material bei der Entwicklung der Künste spielte, zeigt es ihm doch „die verschiedenen Stufen derselben" an: „Die Kunst und die Bildhauerei fingen an mit Ton, hierauf schnitzte man in Holz, hernach in Elfenbein, und endlich machte man sich an Steine und Metalle". Einsichten in die Entwicklung der materiellen Produktion bahnen sich an, die Geschichte der materiellen Kultur als Bestandteil der Archäologie wird im Kern sichtbar. Und schließlich, was man bei einem Klassiker par excellence wie Winckelmann keineswegs als selbstverständlich erwartet, ist in die Kunstgeschichte des Altertums die Kunst der Ägypter, Phönizier, Perser, Etrusker einbegriffen — in komparatistischer Sicht ganz gewiß, aber trotzdem in weiten Partien auch sie in bahnbrechender Weise. Der Herdersche Humanismus ist hier vorweggenommen; denn jene Völker werden durchaus in die ästhetische Erkenntnis einbezogen: Sie können „unsere Begriffe erweitern und zur Richtigkeit im Urteil führen", bei den Griechen freilich soll man suchen, „das Wahre zu bestimmen, zur Regel im Urteilen 29

und im Wirken". Man hat Winckelmann vorgeworfen, daß er sich in seiner „Geschichte der Kunst" zu sehr von den Skribenten, Rhetoren und Sophisten der römischen Kaiserzeit abhängig gemacht habe; aber zeugt es nicht gerade von der Aktualität der Antike, daß viele zu Winckelmanns Zeit wie auch heute noch fruchtbare Gedanken von ihren Weisen bereits vprgedacht wurden? Mit der „Geschichte der Kunst des Altertums" war deutlich die Akme in Winckelmanns Schaffen erreicht; die unvollendet gebliebenen, 1767 im Selbstverlag herausgebrachten „Monumenti antichi inediti" bedeuteten einen offensichtlichen Rückschritt gegenüber den in der „Kunstgeschichte" gefundenen Positionen. Abgesehen von dem didaktischen Nebenzweck, war das Vorhaben durchaus antiquarisch orientiert, ja es sollte wohl gar die Leistungsfähigkeit des Verfassers gerade auch in diesem durch ihn überwundenen Genre gegenüber manchen Kritikern demonstrieren. Entsprechend hieß es in dem von Winckelmann selbst abgefaßten Prospekt, „die Absicht dieser Arbeit" gehe „vornehmlich auf diejenigen alten Denkmale, die teils schwer zu erklären sind, teils von anderen Gelehrten als unauflösliche Rätsel angegeben worden"; die Darbietung solle keine historische, sondern eine systematische sein: Mythologie der Götter, historische Mythologie, Denkmale der griechischen und römischen Geschichte, Denkmale der Gebräuche, Sitten und Künste. Aber nicht nur konzeptionell, auch im Technischen, in den Kupferstichen ließ das Werk des gescheiterten Selbstverlegers zu wünschen übrig. In prophetischer Vorahnung hatte Winckelmann schon 1763 einem Freunde gegenüber die „Monumenti antichi" als seine letzte „Arbeit in dieser Welt" bezeichnet. Die ihm jetzt wiederholt gebotene Chance, Griechenland mit eigenen Augen zu sehen, schlug er aus; ob er sich bewußt war, daß die Kenntnis balkanischer Wirklichkeit das Wunschbild eines idealischen Hellas hätte trüben müssen? „Nur aus der Ferne, nur von allem Gemeinen getrennt, nur als vergangen muß das Altertum uns erscheinen" — so kennzeichnete später Wilhelm von Humboldt solches Empfinden. Um so stärker wurde der Drang, die deutsche Heimat wiederzusehen; aber die am 10. April 1768 angetretene Reise brach Winckelmann in Regensburg abrupt ab, um über Wien nach Rom zurückzukehren. Doch die Rückkehr blieb ihm versagt; am 8. Juni setzte seinem Leben in Triest ein Raubmord — oder war es ein „gezielter" Mord? — ein Ende. Wir kommen zurück auf die eingangs gestellte Frage: Was bedeutet Winckelmann für die Altertumswissenschaft unserer sozialistischen Gegenwart? Wir haben zu wiederholten Malen darauf hingewiesen, daß Winckelmanns Werk in den Fakten und in unzählbaren interpretatorischen Details heute überholt ist. Niemand wird es daher als Einführung in die klassische Archäologie oder die klassische Altertumswissenschaft ganz allgemein empfehlen wollen, und Goethes Diktum von 1827: „Man lernt nichts, wenn man ihn liest" hat heute nach 140 Jahren in weitaus stärkerem Maße noch seine Gültigkeit. Denn entgegen manchen landläufigen Auffassungen gibt es auch in den altertumswissenschaftlichen Disziplinen, deren Forschungsobjekt eine ferne Vergangenheit ausmacht, kein Stagnieren, vielmehr entwickeln sie sich in ihrer Weise kaum weniger rasant als die naturwissenschaftlichtechnischen Fächer, bedingt durch den beständigen Zuwachs an Quellenmaterial 30

und die ausgedehnteren Möglichkeiten zur Komparation, vor allem aber dank dem allgemeinen Progreß; die stetig zunehmende Verwissenschaftlichung des Weltbildes schärft das methodische Rüstzeug des Altertumsforschers — wie eines jeden Historikers — und ermöglicht so sich immer mehr vertiefende Einsichten. Goethes Ausspruch hat indes noch einen Nachsatz, und dieser ist höchst gewichtig: „ M a n lernt nichts, wenn man ihn liest, aber man wird etwas". Winckelmann ist ganz gewiß der Archeget einer Wissenschaft, deren gewaltige Entfaltung er beim Besuch der Ausgrabungen in Herkulaneum allenfalls erahnen konnte. Wäre er aber nur das gewesen, so wäre es töricht, seine Schriften neu aufzulegen; denn allenfalls der Wissenschaftshistoriker würde sie heranziehen. Was wir darüber hinaus in ihm erkennen und worin er heute noch zur lebendig wirksamen Kraft zu werden vermag, liegt in anderen Bereichen. Es widerspräche den geschichtlichen Tatsachen, wollten wir wegen seiner dezidierten Freiheitsliebe und daraus resultierenden Äußerungen in Winckelmann den bewußten Revolutionär sehen; er hat sich vielmehr durchaus in der bestehenden Gesellschaft zu arrangieren gewußt. Doch hinderte ihn ein solches Arrangement nicht daran, als Denker und als Gelehrter die Schranken weit zu durchbrechen, die ebenjene Gesellschaft in einem so gewichtigen Bestandteil des ideologischen Überbaus errichtet hatte, wie ihn die Kunst mit ihrer Widerspiegelung der Universalität des Menschen ausmacht, lehrte er doch, vermittels der Kunst den Menschen und damit die Gesellschaft zu verändern. Das Beispiel, auf das er sich dabei berief, war das klassische Griechenland; die geistigen Waffen für seinen kämpferischen Humanismus fand er in der Antike, bei ihren Dichtern und Denkern. Die Altertumswissenschaft wurde in der Hand dieses vollständigen Mannes, wie Goethe ihn genannt hat, dank seiner unlösbaren Verbindung zur Praxis des Lebens und der Künste, dank seiner durch den Rationalismus der Aufklärung geprägten Weltansicht, dank seiner hellenischen Diesseitigkeit, dank seinem durch Polyhistorismus (im guten Sinne des Wortes) "geformten Geschichtsbild zur verändernden Kraft. Sollte es nicht das vordringliche Anliegen der klassischen Altertumswissenschaft unserer Tage sein, nach dem Beispiel und im Geiste Winckelmanns mit ihren noch immer scharfen Waffen mitzustreiten für die Gestaltung eines neuen Menschenbildes, eines neuen Schönheitsideals, einer neuen Gesellschaft? Ich schließe mit der Würdigung Goethes in seiner Winckelmann-Schrift von 1805: „ U n d so ist alles, was er uns hinterlassen, als ein Lebendiges für die Lebendigen, nicht für die im Buchstaben Toten geschrieben. Seine Werke ... veranlassen zu Hoffnungen, zu Wünschen, zu Ahnungen".

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WOLFGANG HEISE

Winckelmann und die Aufklärung Unsere Besinnung auf Winckelmanns Werk und Wirken geschieht im Bewußtsein unserer Epoche und ihrer weltweiten revolutionären Prozesse, die unser Leben bestimmen. Die historische Formation, zu deren intellektueller Vorhut Winckelmann in Deutschland gehört, ist an ihr Ende gekommen, die neue, sozialistische, hebt an. Winckelmanns Auffassung, daß und warum die weißhäutige griechische Schönheit die höchste, die naturgemäße, ja absolute Schönheit des Menschen sei, wirkt auf uns heute in ihrer Apodiktizität anachronistisch-blind, um ihres normativen Anspruchs willen. Dessen immanentes Überlegenheits- und Herrschaftspostulat haben die folgenden Jahrhunderte blutig enthüllt, bis es in der dritten Welt praktischrevolutionär widerlegt wurde. Der ideologische Schematismus, der ein lokal und sozial Besonderes allgemein setzt und verabsolutiert, ist längst als Ausdruck spontaner Geschichtsbewegung und als Methode ideologischer Herrschaft erkenntnistheoretisch und soziologisch durchschaut — so naiv er auch immer wieder reproduziert wird. Mit ihm ist zugleich der Ahistorismus absoluter ästhetischer Wertsetzung widerlegt. Und dennoch: historisch betrachtet ist die Normsetzung Winckelmanns auch eine Bedingung seiner bahnbrechenden Erkenntnis der Kunst als Geschichte. Sie ist zugleich Bedingung seiner Wirkung, mag deren Fruchtbarkeit sich auch erst in der kritischen Aneignung, Umformung, Verwendung seiner Ideen — von Lessing und Herder bis Goethe, Hegel und Hölderlin — erschlossen haben. Ja, der fortwirkende Reichtum dieser Ideen resultierte mit aus dem inneren Widerspruch, daß Winckelmanns Anschauung großer antiker Kunst weiter und gehaltreicher in der lebendigen Ausdrucksgewalt seiner Sprache als im TheoretischFixierten seiner Begrifflichkeit war, während umgekehrt der bildende Strom seiner Gedanken, der neue Horizont der Kunstänschauung seine eigentliche Wirksamkeit ausmacht, nicht die bläßliche Realisierung seiner Kunstideale, deren Leblosigkeit ihm Hegel mit Recht nachrechnete. Der gleiche Hegel aber schrieb auch: ,,... früher (war) schon Winckelmann durch die Anschauung der Ideale der Alten in einer Weise begeistert, durch welche er einen neuen Sinn für die Kunstbetrachtung aufgetan, sie den Gesichtspunkten gemeiner Zwecke und bloßer Naturnachahmung entrissen und in den Kunstwerken und der Kunstgeschichte die Kunstidee zu finden mächtig aufgefordert hat. Denn Winckelmann ist als einer der Menschen anzusehen, welche im Felde der Kunst für den Geist ein neues Organ und ganz neue Betrachtungsweisen zu erschließen wußten." (103) 32

Die ganz neue Betrachtungsweise wäre zu verstehen in dem Sinne, wie Hegel Kunst verstand, als „Art und Weise ... die tiefsten Interessen des Menschen, die umfassendsten Wahrheiten des Geistes zum Bewußtsein zu bringen." (54) Der nachrevolutionäre Hegel steht am Ende einer Bewegung, die in Deutschland mit Winckelmann begann: des bürgerlichen Klassizismus als — in sich sehr differenzierter — Idealbildung utopischen Gehalts, welche im Bilde der idealisierten griechischen Vergangenheit Normen für die Gegenwart und damit eine immanente Programmatik für die Zukunft fand. Hegel — die revolutionäre Verwirklichung dieser Ideale in der entfesselten bürgerlichen Gesellschaft ernüchtert vor Augen — hielt dennoch am Ideal fest, erkannte zwar dessen historische Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit, faßte es aber dennoch als ewige Norm, als Sprach- und Gestaltungsnorm dessen, was überhaupt Kunst sei. Deshalb kommt für Hegel mit dem Aufbrechen der Problematik des industriellen Kapitalismus die Kunst an ihr Ende. Mit der historischen Einsicht verlor er die heroische Illusion, aber er bewahrte sie zugleich als ästhetisches Kriterium und Ideal. Goethe hob den Klassizismus im Helenaakt seines Faust als philosophisch historischer Dichtung künstlerisch-dialektisch auf und besiegelte ihn in Euphorions Schicksal. Dies schon deutet darauf hin, daß Winckelmann einmal vom Strom der europäischen vorrevolutionären Aufklärung getragen wurde, zum andern in der deutschen ideologischen Emanzipationsbewegung ein ganz entscheidendes Kettenglied darstellt. Die Rezeption der westeuropäischen, vor allem der französischen Aufklärung nährte sein Denken — das gilt für cartesische materialistische Physik und sensualistischen Materialismus, das gilt für die ästhetischen Konzeptionen von Dubos und des italienischen Klassizismus, für die Geschichtsforschung und -konzeption der Bayle, Montesquieu und Voltaire. Hier fand er Leit- und Modellgedanken, die seinem leidenschaftlichen emanzipatorischen Streben, sich aus der Welt feudalabsolutistischer Misere und Abhängigkeit zu befreien, entsprachen, es zu konzeptioneller Bewußtheit brachten und ihn davor bewahrten, in seinem immensen antiquarischen Studium zu versacken: sie beflügelten seine Konzeptionsbildung. Diese vollzog sich zunächst im Durchdringen des historisch-literarischen Stoffes, bis sie — vermittelt über die besondere ästhetische Sensibilität Winckelmanns, die mit in seiner pädagogischpolitischen Leidenschaft und homoerotischen Sensualität begründet ist, — ihr ideales Modell und ihren adäquaten Gegenstand in der bildenden Kunst Griechenlands fand. Was hier ideologisch und individuell vermittelt war, erschloß die historisch-ästhetische Wirklichkeit antiker Kunst; sie öffnete den Sinn dafür, was Kunst in jenem Jahrhundert der Aufklärung und bürgerlichen Emanzipation sein könnte und sollte. Winckelmanns Leistung innerhalb der deutschen antifeudalen Emanzipationsbewegung, deren weltanschaulichen Aspekt wir Aufklärung nennen, sehe ich in folgendem: 1. In der Formel von der Nachahmung der Alten hat Winckelmann positiv in der griechischen Kunst ein ästhetisches und zugleich moralisches Ideal gesetzt, das sich durch die in ihm mit enthaltenen historisch-sozialen Voraussetzungen — denken wir etwa an Winckelmanns Berufung auf die Polisfreiheit-, durch die Sinnlichkeit seiner Diesseits- und Körperbejahung und durch den darin gesehenen Gehalt der „großen 3 Winckelmannbild

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Seele" klar von höfischen Kunstrichtungen des barocken und Rokokostils bzw. von dem römischen Vorbildern folgenden höfischen Klassizismus abgrenzte, zugleich von christlicher Weltanschauung und Haltung. Es erschien positiv als einmal erfüllte, historische Gestalt freier menschlicher Natur, als Verkörperung unentfremdeter, unverkümmerter Menschlichkeit. Diese Wertung enthält ein Postulat, das Ideal wendet sich hier gegen die Wirklichkeit, seine Schönheit ist Antizipation des Künftigen. Damit begründet Winckelmann den Klassizismus in Deutschland als bürgerlich antifeudale ästhetische Emanzipationsbewegung. 2. Er führte die geschichtliche Betrachtung der Kunst in bezug auf die Kunst der Antike durch, faßte damit Kunst als Geschichte des Schönen im Zusammenhang ihrer natürlichen und politisch-kulturellen Produktions- und Gebrauchsbedingungen, — und er zielte auf eine Geschichte als gesetzmäßigen Prozeß. Von hier aus erscheint klassische Schönheit als historische Verwirklichung einer allen Völkern naturgesetzlich immanenten Möglichkeit, die nur dank ungünstiger Milieubedingungen sich nicht entfalten konnte. Die Verabsolutierung der griechischen Antike als Norm diente einmal als Kriterium, um Höhepunkt und Verfall und dadurch die Entwicklung überhaupt zu bestimmen; umgekehrt fungiert das idealisierte Modell von Freiheit und Aufklärung als Milieubedingung, die ästhetische Norm zu verwirklichen. Hierfür ist charakteristisch, daß Winckelmann konsequent versucht, in der geschichtlichen Betrachtung den Materialismus wesentlich als geographischen Determinismus und als Milieutheorie anzuwenden und aus der Wirklichkeit des körperlich-sozialen Lebens und seinen geistigpolitischen Gehalten die Kunst zu begreifen. Wir sehen hier, wie die ideologische Wertung — die utopische Idealbildung — in Widerspruch zur historischen Betrachtung geraten, wie letztere deren Absolutheit sprengen muß, während erstere dennoch gerade modellgebend für die Gegenwartskritik wird. Von beiden Seiten her — der Einsicht in die Unwiederholbarkeit der Antike und ihrer kritischen Konfrontation mit der Gegenwart — beginnt das philosophisch-historische Gegenwartsverständnis der deutschen Aufklärung (Herder, Schiller, Hegel). Doch sei noch einmal die fundamentale Leistung einer Begründung der Kunstgeschichte als Wissenschaft hervorgehoben. Diese Wissenschaft bleibt nicht deskriptiv-antiquarisch, sondern fragt nach gesetzmäßigen Zusammenhängen der Kunstentwicklung. Deren innere Struktur faßt Winckelmann im Begriff des Stiles bzw. als notwendige Aufeinanderfolge der Stile: als Epochensignatur und Produktionsund Formgesetzmäßigkeit, die aus dem geschichtlichen Lebensprozeß des griechischen Volkes resultiert und zugleich darin die spezifische Logik einer ästhetischen Aneignung der „Wahrheit der Natur" bewährt. Winckelmann sieht darin Zusammenhänge dialektisch-widersprüchlicher Art, wenn er zum Beispiel darlegt, wie die Kunstregeln von der Natur gewonnen worden seien, danach von dieser sich entfernt hätten, Kunst sich eine eigene Natur gebildet habe und wie dann solch verselbständigtes System von erneuter Aneignung und der Annäherung an die „Wahrheit der Natur" gesprengt worden sei. Hier liegt ein wichtiger Ansatz, eine materialistische Theorie historisch anzuwenden, wenn auch dieser Ansatz schnell an die Grenzen des 34

mechanisch-metaphysischen Materialismus stößt. Winckelmanns Begriff des Stils ist dabei vielschichtig, umfaßt Epochentypik und Formstruktur als historische Norm, insofern ist er historisch, zugleich tendiert er zum Ideal, das aus einem historischen zum vermeintlich natürlichen und allgemein ästhetischen wird. Hier ist der Weg zum Stilbegriff Goethes angelegt. 3. Über beide Aspekte — den historischen wie den utopischen — vermittelt und dennoch über diese hinausführend hat Winckelmann das Modell eines neuen, intensiveren, sowohl sinnlich unmittelbareren als auch intellektuell aktiveren Verhältnisses zur bildenden Kunst gegeben. Sie wird neu als Form erfahren, die tiefste menschliche Interessen auszudrücken vermag, die weltanschaulichen Gehalt und bildende Forderung sinnlich präsent macht, durch Aktivierung der emotionalen und geistigen Potenzen des Rezipierenden, jenseits bloßer Belehrung oder Belustigung, jenseits des Modells der ars popularis oder höfischen Schmucks, jenseits von Repräsentation. Dies wiederum wurde zum Modell, Gehalt von allen Kunstarten zu fordern einerseits, Modell der ästhetischen bürgerlichen Kultur als Bildungsemanzipation andererseits. Zugleich liegt darin die Entdeckung der Kunst als Sphäre der weltanschaulichen und antizipierten ideologisch-politischen Emanzipation. 4. In allen diesen Momenten ist die weltanschauliche Grundlage ein Materialismus, der sowohl methodisch relevant wie — in den Ansätzen sensualistischer Ableitung der Schönheit — erkenntnistheoretisch produktiv wird. Seine Grenzen findet er da, wo die Dialektik gesellschaftlichen Handelns und der ästhetischen Verallgemeinerung Gegenstand wird, — hier nutzt Winckelmann, gelegentlich überschwänglich begeistert, neuplatonische Begriffe als Modellvorstellungen, die m. E. im Gesamtzusammenhang seiner Gedanken den Charakter von Hilfsvorstellungen tragen. Dominant scheint mir jene weltanschaulich-emanzipatorische Haltung, die Goethe als das Heidnische an Winckelmann bezeichnete. Die Grenze Winckelmanns blieb, daß er die Vermittlung vonKunstideal und Wirklichkeit wohl für die vom Lichte der Utopisierung erhellte Antike fand, nicht aber für seine Gegenwart. Er fand sie in der Geschichte, blieb aber in der Gegenwart bei der Konfrontation. Die Durchdringung von Ästhetik und Geschichte setzte dort, wo es um ästhetische Programmatik ging, aus. Sein Klassizismus mußte hier abstrakt, die Nachahmung akademisches Postulat bleiben. Die weitere Entwicklung setzte hier an: nicht in der Preisgabe des Ideals als Norm, wohl aber in seiner Dynamisierung und Historisierung: der Weg führt über Lessings Kritik des stoischen Gehalts von „edler Einfalt und stiller Größe", über Herders Kritik, der den utopischen Charakter des Griechenlandbildes erkannte, sein Vergangensein begriff: „Welches Volk hat je eine andere, als eine Säkular- und Nationalliteratur gebauet? Die Griechen nicht und wir auch nicht." Schließlich sei an Schillers Konfrontation von naiver und sentimentalischer Dichtkunst erinnert. Mit der Vermittlung von idealer Schönheit und Wirklichkeit — die er ersehnte — glaubte Winckelmann zwar im Idealen ein Allgemeines der Wirklichkeit letztlich zu treffen; sein Idealbegriff impliziert die Verallgemeinerung: aber da er diese ans antike Modell fixierte anstatt sie am lebendigen Prozeß zu entwickeln, vermochte er nicht den wirklichen Realismus der großen Niederländer zu begreifen. Die Widersprüch3*

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lichkeit und Tragik der bürgerlichen Gesellschaft lagen außerhalb seines Horizonts. Die unmittelbare realistische Darstellung bejahter Wirklichkeit erschien ihm als Naturalismus, mußte ihm seinerzeit, da es sich um eine etablierte, nicht mehr kämpferisch sich durchsetzende Gesellschaft handelte, so erscheinen; für ihn ging in der Darstellung der unmittelbaren Wirklichkeit das aktivierend-bildende Moment des Idealen verloren. Dies umso mehr unter deutschen Verhältnissen, wo die Abschilderung nur die verneinte Kleinlichkeit des Vorhandenen reproduzieren konnte. Eine Ahnung, welche Kraft innerhalb der vorhandenen Welt das Künftige, Verändernde repräsentierte, hatte er nicht; er sah diese Kraft nicht, das Künftige erschien wiederum in der Abstraktheit der idealen bzw. natürlichen Norm. Es ist kein Zufall, daß Winckelmann gerade für die bildende Kunst, von der er ausging, am wenigsten gewirkt hat. Unter den Bedingungen, wie sie in Deutschland bei der ökonomischen und politischen Ohnmacht und Zersplitterung seines Bürgertums gegeben waren, konnten seine Ideen — transformiert — fruchtbar nur in der Literatur und Philosophie werden. Daraus ergibt sich ein weiteres Moment: daß diese Idealbildung, der ein politischgesellschaftliches Ziel immanent war, auf Grund der Schwäche der wirklichen Bewegung in Deutschland reduziert wurde auf die Innerlichkeit eines bloßen Bildungsideals, eine Innerlichkeit, der die Vermittlung zum Praktisch-Gesellschaftlichen verlorenging. Winckelmanns Weg in die gelehrte Historie ist schon ein Moment dieser Tendenz der von Ohnmacht erpreßten Anpassung. Darin ist auch begründet — und hier kommen die vorrevolutionäre spezifisch deutsche Ohnmachtssituation und die allgemeine Denkmöglichkeit der deutschen Ideologie überhaupt zusammen —, daß dort, wo die gesellschaftliche Wirklichkeit unter dem Aspekt ihrer Veränderung, ihres Produziertwerdens gedacht wurde, wo die Vermittlung von Ideal und Wirklichkeit dynamisch und historisch konzipiert wurde, dies nur innerhalb idealistischer Konstruktionen möglich war: Wirklichkeit als produktive Verwirklichung unserer Ziele und Zwecke in Arbeit und Handeln, dies aktive Moment wurde idealistisch entwickelt; denken wir an Hegel und Fichte. Dazu gab es keinen Weg von den materialistischen Grundlagen Winckelmanns her, wohl aber — so widerspruchsvoll ist diese Entwicklung — wurde dies aktive Moment gedanklich mit provoziert von der Konfrontation jenes Ideals mit der Wirklichkeit, diesen Gegensatz vermochte Winckelmann selbst nur idealistisch und statisch zu denken. Ich meine, Winckelmann ist nicht abgetan. Es ist nicht nur so, daß wir von ihm und seit ihm gelernt haben, Kunst ernst zu nehmen, — man vergleiche nur die gelehrten Entschuldigungen seiner Zeitgenossen, daß man sich mit dergleichen befasse: Gottsched, Baumgarten und anderer. Er ist auch mehr als Glied der Wissenschaftsgeschichte, — das glaube ich begründet zu haben. Ich will nur einige Probleme anführen, die Winckelmann anging, und die auch heute noch unsere Probleme sind. Gerade angesichts der epochalen Unterschiede scheint doch die Praxis der Aufstiegsbewegung der entgegengesetzten Formationen unvermeidlich analoge Probleme zu stellen: 1. Winckelmanns sinnlich-geistige Beziehung zum bildnerischen Werk als gestaltetem Körper, der in seinem Dasein wirkliche menschliche Selbstbejahung und zugleich das 36

Aktivierende des Idealen, in der Besonderheit dieses Körpers insofern Ausdruck von Weltanschauung und -verhalten ist, wirft die Frage auf, welche Bedeutung und Bedeutungsfähigkeit der menschliche Körper als Schönheitsideal für uns heute hat, welche Möglichkeiten er für die plastische Darstellung bietet, gerade weil die Normen antiker Typologie nicht mehr als ideal erlebbar sind. 2. Damit verbunden ist ein weiteres: Viel kritisiert wurde Winckelmanns Allegorienauffassung — und es ist sicher richtig, daß sich seine Allegorik in antiquarischem Bildbedeutungswissen verlief. Aber Allegorie in Winckelmanns Sinne ist damit nicht abgetan. Er faßte Allegorie allgemein als ästhetisches Zeichen, als Sprache der Kunst, als unmittelbar sinnfälliges Erscheinen einer Bedeutung, auf die in dem Bilde nur hingewiesen wird. Herders Kritik an der Unbestimmtheit seines Allegoriebegriffes ist wohl richtig: aber Herder faßte nicht konkret die Universalität dieses Sprachproblems und damit die — von Winckelmann nicht reflektierte — kommunikative Funktion der Kunst. Er ontologisierte sie als Modell seiner panentheistischen Weltkonzeption. Auch Hegel lehnte die Allegorik — in seinem Sinne mit Recht — ab: er reflektierte damit eine historische Phase, da bestimmte allgemeine Bedeutungen eben nicht mehr selbstverständlich, sondern nur noch gelehrtes Wissen waren. Aber Hegel selbst prognostiziert das Ende der Kunst unter anderm deshalb, weil sein Kanon vom Modell antiker Kunst in der Sinnfälligkeit von äußerer und innerer Beziehung, von Ausdruck und Bedeutung in der nun entstehenden technischen Zivilisation des Kapitalismus notgedrungen unzureichend wurde, das Gewußte und Erfahrene sich der ästhetischen Zeichenbildung zu entziehen schien und die aktiven Funktionen neuer Künste dem kontemplativen Modell widersprachen. Aber ist nicht dies Sprachenproblem, in dem die Relation von Bildzeichen und Bedeutung neu gefunden werden muß, gerade eine entscheidende Problematik auch unserer Epoche, das Problem, wie nämlich Kunst heute die „tiefsten Interessen des Menschen, die umfassendsten Wahrheiten des Geistes zu Bewußtsein" bringen kann? 3. Winckelmann hat — wesentlich den Anregungen antiker Historiker folgend — im Kreislaufmodell von Jugend, Blüte- und Verfall den historischen Prozeß der Kunst reflektiert und im Widerspruch dazu die Nachahmung der Alten als Medium späterer Blütezeiten gedacht. Die Tatsache von Auf- und Niedergang ist nicht zu bestreiten, so problematisch auch unsere Maßstäbe sein mögen. Haben wir wirklich einen hinreichenden Maßstab? Gerade angesichts des Wandels der Kunstsprachen und der Funktion einzelner Kunstgattungen innerhalb des Gesamtkonzerts der Künste? Es war der junge Marx, der — unter anderem durch intensives Studium der Schriften Winckelmanns — in seiner revolutionär-demokratischen Phase über die Kunstfeindlichkeit seiner Epoche reflektierte, in der Bildung des modernen bürgerlichen Staates und christlicher Religion kunstfeindliche Momente erblickte, in der antiken Kunst aber ein unwiederholbares, dennoch normatives Muster nicht entfremdeter Menschlichkeit in ästhetischer Gestalt sah, — ohne daß er sich über deren soziale Grundlage Illusionen machte. Das Problem umfaßte noch mehr: Wenn Hegel mit Winckelmann in der Antike die Norm der Kunst schlechthin erblickte, so wurde diese Norm — mit gewissem historischem Recht — für Formationen und soziale Verhältnisse mit noch 37

persönlichen Beziehungen und Abhängigkeiten gesetzt, in denen nicht die Warenproduktion allgemein die sozialen Beziehungen bestimmte. Hegel ließ Kunst enden, wo diese sachlichen Beziehungen des Kapitalismus absolut wurden. Unsere werdende neue Welt ist durch sozialistische Beziehungen und moderne Technik gekennzeichnet. Die alten Modelle versagen angesichts der Abstraktheit unseres Wissens, der Rationalität beherrschter Lebenszusammenhänge, der Globalität der gesellschaftlichen Zusammenhänge, der Technisierung des Milieus im Alltag etc. Welche Kunstsprache und wie ermöglicht sie es, diese allgemeinen Zusammenhänge, unsere Beziehung zur Welt sinnfällig werden zu lassen? Wir kommen fürs Heute nicht um die Frage herum, die in Winckelmanns antiquarischer Beschränktheit doch gestellt wurde, umso mehr, weil wir eben, unter anderm dank seiner Pioniertat, uns selbst geschichtlich zu sehen gelernt haben und uns der Geschichtlichkeit des Schönen bewußt sind. 4. Winckelmann erhob die antike Kunst zur Norm, wie dies mit wechselnden Akzenten seit der Renaissance immer wieder geschehen war, und dies ward zur Bildungsmacht unserer eigenen klassischen deutschen Literatur. Ich will auf den Bildungsakademismus des 19. Jahrhunderts und die Tendenz zu barbarischer Ästhetisierung des Antikenbilds im 20. nicht eingehen. Wir haben heute ein erheblich realistischeres Bild dieser Antike. Ob wir wollen oder nicht, zehren wir doch in vielen Beziehungen von ihren Leistungen. Aber ist sie noch Bildungsmacht? Kann sie es sein? Wie ist ein unnaives, bewußtes und doch bildendes Verhältnis zu ihr angesichts zweifellos zunehmender Beziehungslosigkeit zu gewinnen? Ist hier nicht ein Muster gegeben, den Menschen groß zu sehen? Mir scheint, der Anfang der neuen sozialistischen Formation kann an den Gestalten des Anfangs und der ersten Ausprägung der Klassengesellschaft — gerade der antiken griechischen Polis — doch Modelle seines künstlerischen Selbstverständnisses, gerade in der Selbstverständlichkeit künstlerischer Betätigungsformen gewinnen. Sollte dies nicht auch eines der Momente sein, durch die Winckelmanns Botschaft uns fruchtbar wird?

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BERTHOLD

HÄSLER

Winckelmanns Verhältnis zur griechischen Literatur In Nöthnitz (1754) las Winckelmann den Homer allein „3mahl mit aller application, die ein so göttliches Werck erfordert". 1 In einem Brief aus Italien vom Jahre 1759 schreibt er: „Homerus folget noch immer bey mir nach dem Morgenseegen". 2 Auf seiner letzten Reise, die in Triest ein tragisches Ende nehmen sollte, war der Homer das einzige Buch, das er mit sich führte.3 Homer war unter den vielen Werken der griechischen Literatur, deren Kenntnis er sich im Laufe seines Lebens aneignete, der Text, den er am meisten liebte, dem er sich immer wieder zuwandte, um aus ihm Belehrung, Anregung, oft auch Trost und Seelenruhe zu schöpfen. Die Bedeutung, die den Gedichten Homers für Winckelmanns Leben und Werk zukommt, ist mehrfach ausführlich dargestellt worden, besonders feinfühlig und sachkundig von Wolfgang Schadewaldt in seiner Leipziger Universitätsrede vom Jahre 1940.4 Daher darf in einer knappen Skizze, wie sie hier nur möglich ist, das Thema Winckelmann und Homer wohl doch kürzer, als es seiner Wichtigkeit zukäme, behandelt werden. Man muß allerdings hervorheben, daß für Homer das Gleiche gilt wie für die anderen griechischen Autoren, denen sich der junge Winckelmann als Schüler in Berlin und Salzwedel, als Student in Halle und Jena sowie später als Lehrer in Seehausen und als Bibliothekar in Nöthnitz zuwandte: daß dem Verlangen, sich mit den literarischen Schöpfungen der griechischen Antike vertraut zu machen, Schwierigkeiten höchst materieller Art entgegenstanden, insofern als Textausgaben griechischer Autoren im damaligen Deutschland durchaus zu den libri rarissimi gehörten. Die Zeit, in der die griechischen Studien in Deutschland durch Melanchthon, Reuchlin und Camerarius eine erste Blüte erlebten, war, längst dahin. Dreißigjähriger Krieg 1

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An Berendis, Nöthnitz, 6. Juli 1754; siehe J . J . Winckelmann, Briefe, hrsg. von Walther Rehm, Nr. 98: 1. Bd., S. 142 (im folgenden zitiert: Rehm, Briefe ...). An Hagedorn, Florenz, 13. Januar 1759; Rehm, Briefe, Nr. 262: 1. Bd., S. 445. Nach Johann Gottfried Gurlitt, Biographische und literarische Notiz von Johann Winckelmann, Magdeburg 1797 (Progr. Klosterschule Bergen), S. 19. Wolfgang Schadewaldt, Winckelmann und Homer. Leipziger Universitätsreden, Heft 6 (Vortrag, gehalten zur Winckelmann-Feier des Archäologischen Instituts in der Universität Leipzig am 7. Dezember 1940), Leipzig 1941. — Vgl. ferner Konrad Kraus, Winckelmann und Homer, mit Benutzung der Hamburger Homer-Ausschreibungen Winckelmanns, Berlin 1935. (Diese Auszüge stammen aus W.s Seehausener Zeit; sie gelangten aus dem Besitz von J . G. Gurlitt in die Hamburger Staatsbibliothek.)

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und Gegenreformation hatten dazu geführt, daß an den deutschen Universitäten das Griechische nur noch als Hilfsdisziplin der Theologie einen bescheidenen Platz einnahm. Die Altertumswissenschaft als Fach entstand erst in den Jahrzehnten nach Winckelmanns Tod durch Christian Gottlieb Heyne und — vor allem — durch Friedrich August Wolf, mit dessen Namen die Homer-Renaissance untrennbar verbunden ist. In Deutschland waren die letzten Ausgaben der großen Griechen zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts erschienen, Plato war sogar seit 1602 nirgends wieder herausgegeben worden. Nicht nur die Lage an den Universitäten also, sondern auch ein höchst realer Mangel an Bildungsgütern überhaupt zwangen Winckelmann dazu, sich als Autodidakt den Weg zu den Schätzen der griechischen Literatur zu eröffnen. Er bemühte sich, in Bibliotheken und bei Auktionen solcher seltenen Exemplare habhaft zu werden, nachdem die Lektüre von Anthologien, wie sie damals von Johann Vorst, Johann Matthias Gesner und anderen geschaffen wurden, sein Verlangen nach vollständiger Kenntnis der Werke der Alten zugleich stimuliert und ungestillt gelassen hatten. Es liegt also nicht nur an dem Bemühen eines Autodidakten im strikten Sinne des Wortes, wenn die Autorennamen, die in den Zeugnissen seines Entwicklungs- und Bildungsganges allenthalben begegnen, gelegentlich den Eindruck einer planlosen, frühe und späte Werke, Wertvolles und Unerhebliches in bunter Folge ohne Systematik auswählenden Lektüre hervorrufen. Winckelmann stürzte sich mit jenem elementaren Eifer, den Dingen auf die Spur zu kommen und ihnen ihren Bildungswert abzuringen, der ein Grundelement seines Wesens ausmacht, auf die antiken Texte, wann und wo sie ihm zugänglich wurden. J e mehr sich ihm diese Bildungsgüter erschlossen, vor allem natürlich während seines letzten Lebensabschnittes in Italien, desto mehr treten diejenigen Autoren in den Vordergrund, denen er eine entscheidende Bedeutung beimaß, um das Wesen des griechischen Denkens, Fühlens und künstlerischen Gestaltens zu erkennen und nachahmend zu erneuern. Es genügt hier, die Namen aufzuführen: Homer zuvörderst, dann Herodot, „der Homerus unter den Geschichtsschreibern und der Zögling der Grazien", 5 Sophokles, von dem Winckelmann sagt, er rühre das Herz „durch innige Empfindungen, die nicht durch Worte, sondern durch empfindliche Bilder bis zur Seele dringen", 8 in dsesen Dramengestalten eine „eroica maestà" 7 verkörpert sei. Neben Homer, Herodot 5

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In „Vorläufige Abhandlung" (Trattato preliminare), vor dem Werk „Monumenti antichi inediti", 4. Kap. (Kunst der Zeichnung unter den Griechen) : Winckelmann's Werke, hrsg. von Fernow, Meyer, Schulze, Siebeiis, Dresden 1808 bis 1820, 7. Bd., S. 161 (im folgenden zitiert: Fernow, W.s Werke). Geschichte der Kunst des Alterthums, 9. Buch, 2. K a p . : Fernow, W.s Werke, 6. Bd., 1. Abth., S. 32. Monumenti antichi inediti spiegati ed illustrati da Giovanni Winckelmann, volume primo, Roma M D C C L X V I I ; Trattato preliminare dell' arte del disegno degli antichi popoli, p. L X X V I : . . . dovrà pe' tempi di Fidia verdersi qual' eli' [seil, l'arte] era dalle immagini ardite e sublimi d'Eschilo e di Pindaro, e dall' eroica maestà di Sofocle, siccome lo stile di Prassitele sarà stato mosso da quelle medesime grazie, e da quella stessa purità

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und Sophokles treten Piaton und Xenophon wohl etwas 2urück, doch nennt er gerade sie als hervorragendste Vertreter der attischen Prosa in ihrer vollen Reife. Mit der Zeit, in der die Werke des Polykles und Leochares entstanden, „fängt", wie Winckelmann sagt, „das letzte Alter der großen Männer in Griechenland an, und die Zeit ihrer letzten Helden, ihrer Weisen, ihrer feinsten Scribenten und größten Redner; Xenophon und Plato waren damals in den besten Jahren, und Demosthenes trat nach ihnen auf, und redete unüberwindlich für sein Vaterland". 8 Es sind die Grazie und die Reinheit des Stils, die Winckelmann als die besonderen Vorzüge der Werke Xenophons und Piatons schätzt. Und man darf — mit Carl Justi — hinzufügen: „Das vorzüglichste Merkmal der Meisterwerke der Kunst, die edle Einfalt und stille Größe, ist auch das Kennzeichen der griechischen Schriften aus der besten Zeit, der Schriften aus der sokratischen Schule". 9 Mehr noch: Es ist unbestreitbar, daß Winckelmann von den S c h r i f t e n der Alten ausgegangen ist, um seiner Zeit ein neues Verständnis der Werke der b i l d e n d e n K u n s t der Griechen zu erschließen, 10 und daß der von ihm geprägte Begriff des Stils zunächst an den literarischen Werken abgelesen worden ist. Wohl lassen sich Autoren nennen, die nicht dem Kreis der bevorzugten Schriftsteller angehören, etwa Thukydides und Euripides. Dennoch darf nicht übersehen werden, daß Winckelmanns Kenntnis der griechischen wie der römischen Literatur durchaus von enzyklopädischem Charakter ist. Das beweisen allein schon die überaus zahlreichen, in seine Briefe eingestreuten Zitate und die als Motto seinen Arbeiten vorangestellten Excerpte. Seit Beginn seiner Studien hat Winckelmann unermüdlich die von ihm gelesenen Autoren ausgeschrieben, übersetzt und Gedanken zur Textgestaltung und Kommentierung notiert. Die Komödien des Aristophanes hat er nicht weniger gründlich studiert als die Deipnosophistae des Athenaeus. Daß er das Handbuch des Pausanias kannte, wie wohl wenige seiner Zeitgenossen, erweisen viele Partien seiner „Geschichte der Kunst des Alterthums". Obwohl zu jener Zeit eine Kenntnis der Lehren Epikurs und der Stoiker nur auf dem Umweg über römische Autoren (Lukrez, Cicero, Seneca) oder über das späte Kompendium des Diogenes Laertius zu erlangen war, vermochte es Winckelmann, sich zu den in Herculaneum gefundenen Papyri mit epikureischen Texten, die nicht nur bei den begeisterten Freunden der Antike damals

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che ammirarsi in Senofonte e in Piatone, scrittori respettivamente coetanei all' uno e all' altro scultore . . . ; in deutscher Übersetzung bei Fernow, W.s Werke, 7. Bd., S. 181 f. Geschichte der Kunst des Alterthums, 9. Buch, 3. K a p . : Fernow, W.s Werke, 6. Bd., 1. Abth., S. 79. Carl Justi, Winckelmann und seine Zeitgenossen, 4. Aufl., Leipzig 1943, Bd. 1, S. 182. Bezeichnend ist der Rat, den Winckelmann in der „Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst, und dem Unterrichte in derselben" gibt: „Zuerst sollte [des Knaben] Herz und Empfindung, durch Erklärung der schönsten Stellen alter und neuer Scribenten, sonderlich der Dichter, rührend erwecket, und zu eigener Betrachtung des Schönen in aller Art zubereitet werden, weil dieser Weg zur Vollkommenheit führet. Zu gleicher Zeit sollte dessen Auge an Beobachtung des Schönen in der Kunst gewöhnet werden" (Fernow, W.s Werke, 2. Bd., S. 399).

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höchste Erwartungen weckten, mit staunenswerter Sachkenntnis und wohlbegründeter Kritik an den Methoden der Erschließung ihres Inhalts zu äußern: in dem bekannten „Sendschreiben von den Herculanischen Entdeckungen an den Reichsgrafen von Brühl" 11 und in seinen Briefen an Giovan Lodovico Bianconi.12 Aus dem Jahre 1767, in dem Winckelmann zur Vorbereitung des dritten Bandes der „Monumenti antichi inediti" erneut mit „beständigem Lesen alter Scribenten"13 beschäftigt war, stammt ein Manuskript mit dem Titel „Collectanea zu meinem Leben", dessen Text zuerst in deutscher Uebersetzung durch Wolfgang Schadewaldt im Jahre 1954 bekannt gemacht14 und drei Jahre später in der Originalsprache durch Walther Rehm mustergültig ediert wurde.16 Die von Winckelmann zusammengestellten Lesefrüchte, 67 an der Zahl, stammen aus den verschiedensten Autoren: Herodot, Sophokles, Euripides, Plutarch, Athenaeus und Galen sind darin ebenso vertreten wie Ennius, Cicero, Sallust und Ovid. Viele dieser Texte haben für uns Nachfahren Winckelmanns den Charakter eines Selbstbekenntnisses über Weg und Ziel dieses Lebens, das dem hellenischen Geist in seiner edelsten, die Zeiten überdauernden Ausprägung gewidmet war. Fernow, W.s Werke, 2. Bd., S. 3—148; über die Herculanischen Papyri auf S. 94—138. Zwei Jahre darauf folgten die „Nachrichten von den neuesten Herculanischen Entdeckungen an Herrn Heinrich Füeßli in Z ü r c h " (ebda S. 149—226). 12 Fernow, ebenda S. 2 2 7 - 2 4 6 . 13 Brief an Stosch, Porto d'Anzio, 2. April 1767; Rehm, Briefe, Nr. 836: 3. Bd., S. 246. 14 Neue Beiträge zur klassischen Altertumswissenschaft. Festschrift zum 60. Geburtstag von Bernhard Schweitzer, hrsg. von Reinhard Lullies, Stuttgart 1954, S. 391 —409 (dazu Taf. 89—91): Wolfgang Schadewaldt, Winckelmann als Exzerptor und Selbstdarsteller (Wiedergabe der 67 Excerpte — sowie 6 weiterer, die im Nachlaß Montpellier Nr. 433 enthalten sind —, nach Sachgruppen geordnet, in deutscher Übersetzung). Unverändert übernommen in die Sammlung der kleinen Schriften Schadewaldts „Hellas und Hesperien", Stuttgart 1960, S. 637—657 (ebendort S. 600 bis 636 die in Anm. 4 genannte Leipziger Universitätsrede „Winckelmann und Homer"). 1 5 Rehm, Briefe, 4. Bd., S. 154—163 (Dokumente zur Lebensgeschichte, Nr. 103,3) und 478—480 (Erläuterungen; Rehm datiert die Niederschrift der „Collectanea" auf das Frühjahr 1767). 11

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VERENA

ZINSERLING

Winckelmann als Begründer von Archäologie und Kunstgeschichte 200 Jahre nach Winckelmanns Tode ist sein Licht verstellt von einem Wald genialer, kluger, kritischer, be- und verurteilender Schriften, die das Bild des großen Gelehrten beschwören, sein Werk da- und dorthin deuten, oft ganz von ihm absehen, um den Unkundigen in Hilflosigkeit zurückzulassen. Wer aber kann v o n sich behaupten, er sei kundig, wenn es um das Werk Winckelmanns geht? Zwar bringen wir auch heute noch im Goetheschen Sinne „wohlgemeinte O p f e r " an seinem Grabe, neigen uns pietätvoll vor dem Gründungsheroen unserer Wissenschaft, aber ein Lebendiges für uns, die Lebendigen, ist sein Werk nicht mehr. Neben die weihräuchernden Nachfahren treten die mit eklem Zahn an seinem Werk herumkostenden Kritiker, die in Winckelmann nicht den großen Humanisten, den genialen Deuter der Griechen, sondern den Anfang allen Übels klassizistischer Kälte und Einfallslosigkeit und bourgeoisen Bildungsdünkels sehen. Die Kunstwissenschaftler haben sich ohne Jubiläumszwang nicht allzu häufig an Winckelmann erinnert, es sei denn aus wissenschaftshistorischem Interesse oder wenn sie nach der Wurzel eines Spezialproblems suchten. Schon L . Curtius, obgleich er doch v o m winckelmannschen Geiste geprägt war, mochte es niemandem mehr zumuten, sich durch die Geschichte der Kunst des Altertums hindurchzuarbeiten, und heute, im Zuge der Spezialisierung aller Forschungsgebiete, gibt es nur wenige, die zu Winckelmann zurückfinden. Wendet man die Mühe an sein Meisterwerk, die Geschichte der Kunst des Altertums, und liest es bis zum Ende, bemüht man sich um Eingang in dieses Labyrinth historischer, philosophischer, ästhetischer und archäologischer Gedankenstränge, so erstaunt man vor der ungemeinen Vielfalt, die der Einheitlichkeit dieses Gebäudes keinen Abbruch tut. Die „wunderliche Verworrenheit" (C. Justi) des Aufbaus erschwert zwar das Verständnis seiner Kunstgeschichte im engeren Sinne, wird aber dem modernen Leser zu einer überraschenden Fundgrube von Gedankengängen und Erkenntnissen, die in ihrer Aktualität verblüffen können. Bei Winckelmann sind fast alle Betrachtungsweisen der Kunst, die im Laufe der Zeit ausgebildet und zu höchster Vollkommenheit geführt worden sind, im Keime vorhanden. Daher haben die späten einseitigen Verfechter der diversen Forschungsrichtungen meist gar nicht unrecht, wenn sie sich auf Winckelmann berufen und ihn als Schutzheiligen vorweisen. N u r ist es eben die Gesamtheit der Wege, die Winckelmann ins Neuland der Kunstgeschichte gebahnt hat, die seine geistige Wirksamkeit und Unsterblichkeit ausmachen. Winckelmann hat bedeutende Vorläufer, von ihm genannte wie Goguet, Richardson 43

und Montfaucon und auch solche, deren Geist er sich zu eigen gemacht hatte und die er ohne den Abstand der Namensnennung verwendete. Beide Gebiete, die er zusammenführte, die reine Geschichtswissenschaft und die Kunstbetrachtung hatten schon ihre Helden. Ohne Dubos, Montesquieu, Voltaire, Alberti, Vasari und Bellori hätten seine Werke nicht geschrieben werden können, aber man tut ihnen keinen Abbruch, wenn man bekennt, daß es eigentlich der Dresdner Oeser war, der ihm die Vorstellung von der „edlen Einfalt und stillen Größe" der griechischen Kunst eingegeben hatte, und daß auch der gelehrte Graf Caylus die Vorbildlichkeit der griechischen Kunst schon gepredigt hatte. Winckelmann gibt die Zusammenschau und macht durch seine Genialität daraus einen Neubeginn. Der Neubeginn heißt Geschichte der Kunst und des Stils ihrer Denkmäler. An die Stelle der Künstlerbiographie tritt die Würdigung des Kunstwerkes, das Sinn und Wert in sich selbst trägt. „Die Geschichte der Kunst soll den Ursprung, das Wachstum, die Veränderung und den Fall derselben, nebst dem verschiedenen Stile der Völker, Zeiten und Künstler lehren, und dieses aus den übriggebliebenen Werken des Altertums, so viel möglich ist, beweisen". Winckelmann trägt den Entwicklungsgedanken an die Kunst des Altertums heran und gibt damit den Stoffsammlungen seiner Vorgänger ein Gerüst, dessen Balken seine zweite große Leistung, die Periodeneinteilung, das heißt ein zeitliches Ordnungsprinzip, werden sollten. Er gliedert sein Werk in einen systematischen Teil, der die „Kunst nach dem Wesen derselben" untersucht, und einen historischen, der die äußeren Umstände, die Fakta der antiken Schriftquellen in eine Beziehung zu den Kunstdenkmälern setzt. Diese Trennung nannte Justi Winckelmanns glücklichsten Gedanken. Im Grundsätzlichen hat die Archäologie sie bis zur Gegenwart beibehalten. Es haben sich die Generationen wechselweise abgelöst, die vorrangig eine Geschichte der antiken Kunst schrieben bzw. sich um eine Theorie ihrer Voraussetzungen und ihres Wesens kümmerten. In beiden Teilen seiner Kunstgeschichte behandelt Winckelmann den gleichen Gegenstand, nämlich die Kunst der alten Welt, nur jeweils unter verschiedenen Gesichtspunkten und in anderer Weise. Der historische Teil der Geschichte der Kunst des Altertums ist früh den Kritikern anheimgefallen und zweifellos ist es der theoretisch-systematische erste Teil, der die wertvollen neuen Erkenntnisse birgt. Nicht nur das Wesen der Kunst, den Inhalt der Kunstwerke, die Ursachen für die Veränderungen und Unterschiede der einzelnen Kulturen, sondern auch die historische Entwicklung der Kunst, speziell der Plastik, aber auch die mechanisch-technischen Voraussetzungen der Kunstwerke in ihrem Verhältnis zur Formgestaltung gehören in Winckelmanns Blickfeld. Damit waren die Grenzen einer Wissenschaft abgesteckt. Noch heute stehen wir im wesentlichen vor den gleichen Fragen. Aber Winckelmann hat nicht nur neue Aufgaben gestellt, sondern in ihrer Lösung sein Lehrgebäude geschaffen. Für ihn ist jede Kunst eingebunden in die gesellschaftliche Wirklichkeit und nur von daher deutbar. Mit diesem Forschungsansatz wurde die Kunstbetrachtung erstmalig von materialistischer Position aus vorgenommen. Winckelmann bemühte sich nicht um die Geschichte der reinen Kunstform, sondern vielmehr um ihre Erklärung aus dem menschlich-materiellen Leben. Dabei unter44

schied er, beeinflußt von der Klimatheorie Dubos', die natürlichen Voraussetzungen des Klimas und der Landschaft für die Entwicklung des Kunstschaffens und zum anderen die Einwirkung der gesellschaftlichen Faktoren: der Staatsform, der Religion und der Stellung der Künstler. Dies war neu und gab der Forschung Aspekte, die später von der Hinwendung zur reinen Stilgeschichte überlagert wurden und erst mit der dialektischen Methode der marxistischen Kunstwissenschaft weitergeführt werden konnten. Der geistige Angelpunkt von Winckelmanns Hauptwerk ist die unübertreffliche Vorbildlichkeit der griechischen Kunst, die als Gipfelleistung menschlicher Kultur gefeiert wird und durch ihn zum Idol für das aufstrebende Bürgertum erhoben wurde. Was aber wußte Winckelmann wirklich von den Griechen? Er hatte die Schriftquellen wie vielleicht kein zweiter zu seiner Zeit studiert. Er sah die Antiken, die aus römischem Boden ans Licht traten, von denen er schon erkannte, daß es römische Meister waren, die sie Jahrhunderte später nach griechischen Vorbildern mehr oder weniger getreu kopiert hatten. Bei der geringen Kenntnis griechischer Werke im 18. Jahrhundert ist die winckelmannsche Rekonstruktion der griechischen Kunstentwicklung anhand weniger datierbarer Monumente um so erstaunlicher, als sie sich im wesentlichen nicht überlebt hat, wenn wir auch heute manche Grenzsteine anders setzen und die meisten seiner Bewertungen nicht mehr teilen können. Winckelmann arbeitete als Gelehrter und wußte um die Bedeutung einer wissenschaftlichen Hypothese. In der Vorrede der Geschichte der Kunst des Altertums heißt es: „Ich habe mich mit einigen Gedanken gewagt, welche nicht genug erwiesen scheinen können: vielleicht aber können sie andern, die in der Kunst der Alten forschen wollen, dienen, weiter zu gehen; und wie oft ist durch eine spätere Entdeckung eine Mutmaßung zur Wahrheit geworden. Mutmaßungen, aber solche, die sich wenigstens durch einen Faden an etwas Festem halten, sind aus einer Schrift dieser Art ebensowenig als die Hypothese aus der Naturlehre zu verbannen; sie sind wie das Gerüst zu einem Gebäude, ja sie werden unentbehrlich, wenn man, bei dem Mangel der Kenntnisse von der Kunst der Alten, nicht große Sprünge über viel leere Plätze machen will. Unter einigen Gründen, welche ich von Dingen, die nicht klar wie die Sonne sind, angebracht habe, geben sie einzeln genommen nur Wahrscheinlichkeit, aber gesammelt, und einer mit dem anderen verbunden, einen Beweis". Vieles mußte Hypothese bleiben, Manches widerlegten die Nachkommen, aber Wichtiges fand Bestätigung und wurde zum Ausgangspunkt großer archäologischer Unternehmen. Winckelmann hatte nicht nur die griechische Kunst in Zeiten des Anfangs, des Fortgangs, des Standes, der Abnahme und des Endes gegliedert, sondern darunter die römische Kunst subsummiert, die er in ihrer eigenständigen Bedeutung noch nicht zu würdigen wußte, obgleich ihm auch hier Erkenntnisse, wie ihre Verwurzelung im Etruskischen und Griechischen gelangen. „Die Abhandlung von der Kunst der Ägypter, der Etrurier und anderer Völker kann unsere Begriffe erweitern und zur Richtigkeit im Urteil führen; die von den Griechen aber soll suchen, dieselben auf eins und auf das Wahre zu bestimmen, zur Regel im Urteilen und im Wirken". So gab er die Begründung für die Beschäftigung mit Kulturen, die zu seiner Zeit noch kaum ins Licht der Forschung getreten waren. 45

Aus der Notwendigkeit, seine Theorie von der Periodeneinteilung auf datierte Denkmäler zu stützen, wurde Winckelmanns kritischer Geist auf die Scheidung von Echtem und Falschem, von Original, Kopie und Nachahmung gelenkt. Manche Fehler konnte auch er nicht vermeiden, wie die Verwechselung von archaistischen Werken mit den altetruskischen oder der von Mengs und Casanova angefertigten Wandgemälde, die er unbesehen in seiner Kunstgeschichte in höchsten Worten preist. Dennoch beginnt er mit dem kritischen Sichten des antik Hinterlassenen, ein Unterfangen, das in der Wildnis von fehlenden Maßstäben, Mangel an Vergleichsobjekten und dem schwunghaften Handel der Fälscher ein doppeltes Verdienst war. Es kann hier nicht der Ort sein, Winckelmanns archäologische Erkenntnisse und Fehler aufzureihen, nur der großen Leistungen für die Erforschung der Wandmalerei, der griechischen Vasen und der römischen Relief kunst sei gedacht. E r erfaßte die Abhängigkeit von griechischen Vorbildern und die freie Neuschöpfung durch die römischen Künstler, leistete Vorarbeiten zu einer zeitlichen Ordnung der in den vom Vesuv verschütteten Städten und in Rom zutage tretenden Gemälde und erkannte die griechische Meisterhand auf den Gefäßen, die in etruskischen Gräbern gefunden und zum beliebten Sammlungsobjekt wurden. In zunehmendem Maße hat sich Winckelmann gleichsam um die Ordnung in den einzelnen Räumen seines äußerlich vollendeten Gebäudes bemüht und sich mit echt antiquarischer Begeisterung der Deutung des Einzelkunstwerkes gewidmet. Für den Inhalt der erzählenden Reliefs fand er den Schlüssel in der griechischen Mythologie, eine Methode, die ihn zu viel Ruhm, aber auch zu zahlreichen Fehlschlüssen führte. Das fortwährende Suchen nach der Norm, dem verbindlichen Maßstab, ließ ihn zum Schöpfer einer Theorie der Schönheit werden, die er am Beispiel der griechischen Plastik exemplifizierte. Aus der barocken Tradition kommend, hatte Winckelmann 2ur Kunst des 4. und der folgenden Jahrhunderte ein enges, gefühlsbetontes Verhältnis. Seine gewaltigen Sprachschöpfungen bei der Beschreibung des Apoll und Torso vom Belvedere und des Laokoon werden nicht nur von einer fast rauschhaften Begeisterung getragen, sondern basieren auf seinem ästhetischen System mit der Vorstellung einer Staffel der Schönheit als Kerngedanken. Hier wird gewissermaßen der Mechanismus der Schönheit ergründet, dem Verstände eröffnet, was die Empfindung und das Gefühl zur Begeisterung treibt. Auf dieses Gebiet ist ihm die archäologische und kunsthistorische Fachwissenschaft kaum nachgefolgt, es wurde eine Domäne der klassischen deutschen Philosophie. In der literarischen Nachschöpfung eines Kunstwerkes dagegen hat er Schule gemacht. An diesem Stamm sind im Laufe der Zeit wunderbare, aber auch wunderliche Blüten getrieben. Für das 18. Jahrhundert bedeutete seine Versenkung in die Kunstform, der er mit der „körnichten Kürze" seiner Sprache Leben zu geben wußte, die Befreiung von trockener und gelehrter Langeweile. Die Worte seines großen Biographen Justi haben ihre Gültigkeit bewahrt. Sie sollen hier am Ende stehen: „Indem er (Winckelmann — V. Z.) die griechische Kunst, bis dahin ein versiegeltes Buch, wieder aufschließt, ihre menschliche, ewige Bedeutung fühlbar macht, so wird nun auch überall da, wo das Bewußtsein von dem unvergänglichen Wert dieser Kunst lebendig ist, seines Wirkens dankend gedacht, sein Bild mit Interesse betrachtet". 46

L U D G E R ALSCHER

Die Bedeutung der griechischen Plastik für Werk und Wirkungen Winckelmanns „Er sah und suchte nichts als Griechenland in Rom" — so bemerkt Herder in seinem „Denkmal Johann Winckelmanns" und fährt fort: „und sein erstes Werk war, ,die berühmtesten Statuen recht zu sehen'. Die Art, wie er sie sah, hat er selbst in einem eignen Aufsatz und in einer Vorrede beschrieben, die ich nur zitiere; sie zeigen wovon er ausging und wohin er wollte." Mit diesen Worten ist das zentrale Anliegen Winkkelmanns — ist der historische Raum und der Gegenstand, „wovon er ausging und wohin er wollte" — klar umrissen. Wie weit auch immer er den Bogen seiner Betrachtungen spannte: er bezieht in die Darstellung seiner „Geschichte der Kunst des Altertums" die Kunst unter den Ägyptern, Phöniziern und Persern, unter den Etruriern und ihren Nachbarn sowie die Kunst unter den Römern mit ein — so mißt und wertet er deren Werke stets an dem Maßstab der griechischen Kunst, für deren von ihm gepriesene Vollkommenheit, für deren Unübertrefflichkeit die Kunstschöpfungen der anderen Völker des Altertums ihm im Grunde nur als Relief dienen. Und so verschiedenartige Materialien der klassisch-antiken, insbesondere der griechischen Kunst er auch immer herangezogen, untersucht und dargestellt hat — nicht nur in dem Katalog über die umfangreiche Gemmensammlung des Baron von Stosch, sondern auch in den Schriften über die herkulanischen Entdeckungen, in den „Anmerkungen über die Baukunst der Alten": sein i n t e n s i v s t e s Bemühen galt der Erkenntnis und Darstellung der griechischen Plastik. Seine Beschreibungen des Apollon oder des Torso vom Belvedere, des Laookoon oder des Borghesischen Fechters ragen unter seinen Schriften nicht nur in ihrer sprachlichen, ja nahezu dichterischen Gestaltung hervor, sondern zugleich auch in ihrer vertiefenden Interpretation und in der Kraft der Vergegenwärtigung des beschriebenen Bildwerks. Der Aufwand an Mühe und Sorgfalt, mit dem er gerade seinen Beschreibungen sich gewidmet hat, geht schon daraus hervor, daß er — wie er in einem Brief an Franke vom März 1757 berichtet — an seiner, doch nur wenige Seiten umfassenden Darstellung des Torso drei Monate hindurch gearbeitet habe; ein Jahr zuvor hatte er in einem, ebenfalls an Franke gerichteten Brief bekannt: „Diese Arbeit" (nämlich an den Statuen vom Belvedere) „beschäftigt mich dergestalt, daß ich, wo ich gehe und stehe, daran denke." Die Sicht der ihm unerreicht und vorbildhaft erscheinenden griechischen Plastik hatte sich Winckelmann vollends erst erschlossen, als ihm vergönnt war, in Rom die antiken Standbilder zu sehen, und erst jetzt war in ihm die Fähigkeit gereift, ihren Gehalt, ihr Wesen im Wort zu vermitteln. Doch bereits v o r seiner Romreise galt die Plastik der Griechen ihm als zentrales Anliegen seines geistigen Auftrags: Die Schrift 47

über die „Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst", vor seiner Reise nach Rom im Jahre 1755 veröffentlicht, enthält als Haupt- und Kernstück die Behandlung der Plastik — ihr uneingeschränktes Lob so weitgehend, daß er die Künstler seiner Zeit mahnte, sie würden in ihren Werken unnachahmlich erst, wenn sie die Bildwerke der Griechen nachahmten. Die überraschend breite Wirkung dieser Schrift sowie später die seiner „Geschichte der Kunst des Altertums" und seiner „Beschreibungen" auf die Zeitgenossen wird uns verständlich erst, wenn wir das Neu- und Andersartige seiner Sicht gegenüber der bis dahin gewohnten Art der Kunstbetrachtungen bedenken. Seine Vorgänger begnügten sich entweder mit der bloßen Darstellung der Thematik, des Sachverhaltes eines Bildwerkes, oder bestenfalls wiesen sie — wie der bedeutende Vasari — auf die N a t u r ä h n l i c h k e i t eines von ihnen gepriesenen Bildes hin. Winckelmann hingegen führt über diese Betrachtungsweisen entschieden hinaus, indem er W e s e n und W i r k l i c h k e i t des betrachteten Werkes zu umschreiben, zu vergegenwärtigen versucht. So läßt er in der Statue des Apollon vom Belvedere, hinweisend auf die Körpergestalt, den Stand, die Gebärden, auf die Züge des Kopfes und selbst die Formen des Haares, den geistigen Gehalt des Werkes sichtbar werden durch deutende (und nicht nur beschreibende) Worte wie etwa diese: „Keine Adern noch Sehnen erhitzen diesen Körper, sondern ein himmlischer Geist, der sich wie ein sanfter Strom ergossen, hat gleichsam die ganze Umschreibung dieser Figur erfüllt... Eine Stirn des Jupiter, die mit der Göttin der Weisheit schwanger ist, und Augenbrauen, die durch ihr Winken ihren Willen erklären... ein Mund, welcher denjenigen bildet, der dem geliebten Branchus die Wollüste einflößt. Sein weiches Haar spielt, wie die zarten und flüssigen Schlingel edler Weinreben, gleichsam von einer sanften Luft bewegt, um dieses göttliche Haupt..." Die unmittelbar ergreifende Auswirkung des Standbildes auf den Betrachter kennzeichnet er so: ,,... ich nehme selbst einen erhabenen Stand an, um mit Würdigkeit anzuschauen. Mit Verehrung scheint sich meine Brust zu erweitern und zu erheben ...". Die Wirklichkeit des plastischen Bildwerks — das heißt: seine formale Realität — veranschaulicht Winckelmann besonders in der Beschreibung des T o r s o vom Belvedere. Auch hier umschreibende Bilder wählend, die an Homerisches erinnern, vergegenwärtigt er die Kraft und die Formen des muskulösen Körpers dieser von ihm als Herakles gedeuteten Gestalt: „Ich kann das Wenige, was von der Schulter noch zu sehen ist, nicht betrachten, ohne mich zu erinnern, daß auf ihrer ausgebreiteten Stärke, wie auf zwei Gebirgen, die ganze Last der himmlischen Kreise geruht hat. Mit was für einer Großheit wächst die Brust an, und wie prächtig ist die anhebende Rundung ihres Gewölbes." Die Muskelformen des Körpers umschreibt er: „So wie in einer anhebenden Bewegung des Meeres die zuvor stille Fläche in einer nebligen Unruhe mit spielenden Wellen anwächst, wo eine von der anderen verschlungen und aus derselben wiederum hervorgewälzt wird, ebenso sanft aufgeschwellt und schwebend gezogen, fließt hier eine Muskel in die andere, und eine dritte, die sich zwischen ihnen erhebt und ihre Bewegung zu verstärken scheint, verliert sich in jener, und unser Blick wird gleichsam mit verschlungen." Hat Winckelmann mit diesen Beschreibungen den Weg zu einem eingehenderen Verständnis des Kunstwerks und einer unmittelbar lebendigen Begegnung mit ihm gewiesen, so hat er in seiner 48

„Geschichte der Kunst" zugleich die Anschauung der Bildwerke dadurch vertieft, daß er sie dargestellt hat in ihrem Zusammenhang mit Raum und Zeit, daraus sie erwachsen sind. Er hat so den Lebensboden des Kunstwerks benannt, es als lebendige Verkörperung des Landes, dem es entstammt, sowie der historischen Situation, der es angehört, gekennzeichnet. Zwar mutet manches in seiner Betrachtungs- und Darstellungsweise uns befremdlich an: bereits Herder, der Winckelmanns Schriften in der Jugend mit großem Gewinn studiert hat, kann sich einen spöttischen Seitenhieb — besonders gegen die an Winckelmann anknüpfende Kunstbetrachtung — nicht versagen, indem er in seiner „Plastik" betitelten Schrift betont: ,,... mein Endzweck ist keine Lobrede aufs Schönein dem unbestimmten, begeisterten Ton, in dem wir seit Winckelmann jauchzen" oder: „Allegorie für die Bildhauer ist durchaus nichts! ... Wer da dichten will, künstelt"; zwar sind uns die von Winckelmann gepriesenen Standbilder — der Apollon oder der Torso — in ihrem Aussagewert entschieden bedingter, geringer geworden, da uns die späteren Ausgrabungen — besonders von originalen Bildwerken — ein breiteres Feld der Betrachtungen erschlossen und andere Maßstäbe geboten haben; zwar sind Spätere über die Sicht Winckelmanns hinausgewachsen, wie Herder, der in seiner „Plastik" das spezifische Wesen der plastischen Form klarer umrissen hat mit dem Hinweis auf das Körperhaft-Tastbare; zwar können wir uns dem Urteil Wilhelm Waetzoldts nicht ganz verschließen, wenn er in seiner Winckelmannschrift feststellt: „Winckelmann gehört in die Gruppe der ... sinnlich-übersinnlichen Freier um antike Schönheit, die durch Namen wie Carstens und Thorwaldsen bezeichnet wird. Goethes Durchtränktheit mit naiver, antikischer Sinnlichkeit war ihm nicht geschenkt"; aber was auch immer an Vorbehalten zu Recht oder Unrecht geäußert werden mag — Winckelmann hat als erster seinen Zeitgenossen die Augen geöffnet für das Wesen der griechischen Plastik und es sichtbar gemacht zu fruchtbarer Auswirkung, von der, bewußt oder unbewußt, auch wir Heutigen noch zehren. Das Gründende, das Entscheidende seiner Leistung wird uns jedoch erst offenbar, wenn wir nach den Triebkräften fragen, die Winckelmann zu seiner Sicht — zu seiner Bevorzugung der griechischen Kunst und insbesondere der griechischen Plastik — geführt haben. Sein Hauptanliegen war nicht, zu lehren, nicht — wie er bekennt — „den Antiquario machen; denn dieses würde mir schwer sein, wenn auch mein bester Freund käme, weil ich meinen Ekel nicht überwinden kann." Er wollte erziehen. Das bezeugen bereits seine engen Freundschaften mit jungen Menschen, deren Erziehung er sich mit unermüdbarem Eifer und trotz bitterer Erfahrungen gewidmet hat. Und aus dem Anliegen des Erziehers ist bereits seine erste Schrift über die Nachahmung, ist sein Hauptwerk über die Geschichte der Kunst erwachsen — aus einem deutlich erkennbaren erzieherischen Verantwortungsbewußtsein gegenüber seiner Zeit. Nur so begreifen wir die nachdrückliche Bevorzugung der griechischen Kunst ebenso wie das intensive Bemühen um die Darstellung der griechischen Plastik. Die Werke der „mittägigen und morgenländischen Völker" abwertend, stellt er in der „Geschichte der Kunst" fest: „Folglich bestand die Kunst bei diesen Völkern mehrenteils bloß auf die Religion und konnte aus dem bürgerlichen Leben wenig Nutzen und Wachstum empfangen. Die Begriffe der Künstler waren also weit eingeschränkter als 4 Winckelmannbild

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bei den Griechen, und ihr Geist war durch den Aberglauben an angenommene Gestalten gebunden." Er nennt die „Freiheit die Pflegerin der Künste", die er in der Athenischen Demokratie am reinsten verwirklicht sah. Mit diesem Maßstab messend, wertet er auch die Kunst der römischen Kaiserzeit ab — selbst die unter dem Philhellenen Hadrian entstandene, indem er vermerkt: „Wäre es möglich gewesen, die Kunst zu ihrer vormaligen Herrlichkeit zu erheben, so war Hadrian der Mann, dem es hierzu weder an Kenntnis noch an Bemühung fehlte: aber der Geist der Freiheit war aus der Welt gewichen . . . " Deutlich wird in all diesen Urteilen und Hinweisen die entschiedene Kritik an den Grundordnungen seines eigenen Zeitalters, das, durch Feudalherrschaft und klerikale Hierarchie gekennzeichnet, jenes gepriesenen Geistes der Freiheit noch entbehrte. Der Aufklärer Winckelmann manifestiert und veranschaulicht seine erzieherischen Ideen in der Darstellung der griechischen Kunst und ihrer Abgrenzung von den anderen kunstschöpferischen Bereichen des Altertums. Und aus denselben Impulsen der Kritik an seiner Zeit läßt sich der geradezu emphatische Hinweis auf die Plastik der Griechen begreifen — seine Mahnung, sie nachzuahmen, um unnachahmlich zu werden. Daß damit nicht etwa ein bloßes Nachbilden antiken Formengutes gemeint ist, wie es beispielsweise der Klassizist Thorwaldsen verstanden hat, erklärt Winckelmann selbst in seiner „Erinnerung über die Betrachtung der alten Kunst", in der er betont: „ G e g e n das eigene Denken setze ich das Nachmachen, nicht die Nachahmung: unter jenem verstehe ich die knechtische Folge, in dieser aber kann das Nachgeahmte, wenn es mit Vernunft geführt wird, gleichsam eine andere Natur annehmen und etwas Eigenes werden." Er wendet sich mit seinem Griechenbild gegen die prunküberladene und verspielte Hofkunst seiner Zeit: gegen den „gemeinsten Geschmack der heutigen, sonderlich der angehenden Künstler" — wie wir in der „Nachahmung" lesen — und verwirft ihre Werke, denn „Ihren Beifall verdient nichts, als worin ungewöhnliche Stellungen und Handlungen, die ein freches Feuer begleitet, herrschen, welches sie mit Geist, mit Franchezza, wie sie sagen, ausgeführt heißen." Dem entgegen stellt er die „Edle Einfalt und stille Größe" des griechischen Standbildes. Dieses vielzitierte und vielgeschmähte Wort Winckelmanns, das nach unserem Sprachgebrauch eher eine verharmlosende, romantisch entstellende Sicht der griechischen Kunst auszusagen scheint, wird in seiner Bedeutung erst verständlich, wenn es in seinem Widerspruch zur Hofkunst des Jahrhunderts Winckelmanns begriffen wird und wir den lebendigen Kern dieser Aussage herauszuhören uns mühen. Winckelmann geht es nach Zeugnis seiner Schriften um das Sichtbarmachen eines neuen M e n s c h e n b i l d e s ! „Der höchste Vorwurf für denkende Menschen ist der Mensch" und „Das Schöne besteht in der Mannigfaltigkeit im E i n f a c h e n " — in diesen Worten erscheint umrissen, welcher Art die neue, am Griechenbild veranschaulichte Sicht Winckelmanns war. Er sah die Größe des Menschen in seiner naturgegebenen Einfachheit, in seinem unaufdringlich-schlichten So-Sein, unverbrämt durch den Aufwand an Prunk und unverbildet durch ein gefälligmüßiges Treiben des Geistes. „Die Schule der Künstler war in den Gymnasien" — lesen wir in der „Nachahmung" — also dort, wo die Menschengestalt unverhüllt dem Auge des griechischen Künstlers sich darbot und in den sportlichen Übungen ihre Kraft und Schönheit offenbarte. 50

Dieses von Winckelmann seiner Zeit entgegengehaltene Menschenbild verkörpert sich ihm am sinnfälligsten in der plastischen Form — in der Freiplastik der Griechen, so daß er ihr eine höhere Bedeutung beimißt als den übrigen Gattungen der Künste. „In der Baukunst ist das Schöne mehr allgemein, weil es vornehmlich in der Proportion besteht. ... Da das Schöne in der Bildhauerei mehr als in den beiden anderen Künsten auf eins gerichtet ist, folgt hieraus, daß die Empfindung desselben in den anderen beiden Künsten soviel seltener sein muß, als sie in jener Kunst selten ist" (Winckelmann, Von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst). In der „Geschichte der Kunst" lehrt er: „Die Bildhauerei und Malerei sind unter den Griechen eher als die Baukunst zu einer gewissen Vollkommenheit gelangt: denn diese hat mehr Idealisches als jene, weil sie keine Nachahmung von etwas Wirklichem hat sein können.... Die Bildhauerei aber ist vor der Malerei vorausgegangen und hat als die ältere Schwester diese als die jüngere geführt..." Die Flächenkunst ist in entschieden höherem Maße als die Plastik eine e r z ä h l e n d e und das V o r s t e l l u n g s v e r m ö g e n des Betrachters beanspruchende Kunst, während die plastische Form — insbesondere des griechischen Zeitalters — das Menschenbild l e i b h a f t zu vergegenwärtigen vermag und es somit unmittelbarer wirksam werden läßt. Aus einem solchen der Plastik innewohnenden Wesen wird vor allem das besondere Bemühen Winckelmanns um diese Gattung der Künste verständlich. Die gestaltflüchtigen Tendenzen in der Kunst seiner Zeit, bezeichnend für die Daseinsstruktur dieser Epoche, versucht er zu bannen und zu überwinden durch den geradezu beschwörenden Hinweis auf die plastischen Bildwerke der Griechen in ihrer gestalthaft-gesunden Form. Wird somit die hohe Bedeutung der griechischen Plastik für Werk und Wirkungen Winckelmanns verständlich aus seinem Anliegen, erzieherisch und aufklärend auf sein Zeitalter zu wirken, so ist darüberhinaus seine Tat fruchtbar bis in unsere Zeit hinein geblieben. So verschieden unsere Epoche von der seinen in der Gesellschaftsstruktur, in den Erfahrungen und Errungenschaften auf dem Gebiet der Wissenschaften, der Künste und insbesondere der Technik auch ist, so fremd auch vieles in seinen Schriften uns geworden ist: in e i n e m bleibt das Werk Winckelmanns gültig und wirksam — in der Berufung auf den M e n s c h e n , auf jenes Menschenbild, das er am Beispiel der griechischen Plastik anschaulich gemacht hat. „Gehe hin und sieh" — diese Mahnung Winckelmanns am Schluß einer seiner Schriften sollten auch wir beherzigen.

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HELMUT HOLTZHAUER

Winckelmann und die deutsche Klassik Der Titel, unter dem dieser Beitrag angekündigt ist, hat etwas Irreführendes. Obwohl nur als Arbeitstitel gedacht, haftet ihm ein tautologisches Moment an. Klassik und Winckelmann stehen nicht selbständig nebeneinander, wie dies etwa bei einer Untersuchung unter dem Titel .Winckelmann in Italien' der Fall wäre, wo die Geschichte und der Inhalt der Beziehungen des Landes zu dem berühmten Fremdling in Frage stünden. Das Verhältnis Winckelmanns zu der mit klassischer Epoche deutscher Kunst und Literatur bezeichneten Erscheinung im geistigen Leben des deutschen Volkes ist völlig anderer Natur. Winckelmanns Werk ist ein Teil dieser Klassik, er selbst ihr Anreger, Parteigänger, ein „Flügelmann" der sozialen und geistigen Bewegung, die unter dem Begriff Klassik in vereinfachender, aber doch das Wesentliche treffender Bezeichnung zusammengefaßt wird. Getrennt von Lessing, aber sich in der gleichen Richtung bewegend und zu dem gleichen Ziele gelangend, war es Winckelmanns großartige Leistung, dem in Auflösung begriffenen Klassizismus des Barock, der zum äußerlichen Ausdrucksmittel des Feudalismus herabgesunken war, die Idee der Klassik entgegenzustellen. Es war in der künstlerischen Sphäre der Ruf „zurück zu den Ursprüngen", wie er auf sozialem Gebiet unter der Losung „zurück zur Natur" die fortschrittlichen Geister der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts faszinierte. Kein anderer als Diderot schrieb bereits 1765 [Salon]: „II me' semble qu'il faudrait étudier l'antique pour apprendre à voir la nature." So ist es klar, daß weder die einen noch die anderen, von einigen Schwärmereien abgesehen, daran dachten, die sozialen oder künstlerischen Verhältnisse des Altertums oder gar primitiver Epochen wieder herbeizuführen: sie waren ja nicht reaktionär gerichtet. Ihr Losungswort drückte vielmehr ein „weg von der Unnatur" der herrschenden Verhältnisse aus. Welche Verhältnisse an die Stelle des Feudalabsolutismus treten sollten, dafür glaubten die Verfechter einer Wiedergeburt der griechischen Antike ein überzeugendes Beispiel gefunden zu haben: die griechische Demokratie. Und so wurden sie nicht müde zu versichern, daß, um so groß und unerreicht wie die Griechen zu werden, auch diesen vergleichbare gesellschaftliche Verhältnisse herbeigeführt werden müßten. Und in der Tat hatten sie in der Geschichte der griechischen Sklavenhalterordnung jenen fruchtbaren Moment erkannt, wo die Verfassung der griechischen Stadtstaaten eine Zwischenstellung zwischen den orientalischen Despotien und dem römischen Imperialismus kennzeichnet, eben die antike Demokratie. Der römische Imperialismus machte der griechischen Demokratie ja auch den Garaus. 52

In dieser Demokratie sahen die Verkünder der Wiedergeburt griechischer Kunst und Dichtung die Würde, die Freiheit und die Schönheit des Menschen gesichert. Diese Idee übernahm auch Herder, und zwar einerseits aus den Schriften Winckelmanns und Lessings und andererseits aus dem Anspruch der sich aus der miserablen Wirklichkeit, aus der knechtischen Welt der zu Hofmeistern und Lakaien degradierten jungen Intelligenz ergab. Es ist gar nicht so schwer, sich vorzustellen, wie unter dem Druck des „gemeinen, abstoßenden Verfalls" und dem „Zerbröckeln aller Lebensverhältnisse", wie Engels diesen Zustand charakterisierte, die glimmende Lunte sich dem Pulverfaß näherte. In Frankreich kam es zur Explosion, nicht aber in Deutschland. Wie dieses Verhängnis sich auf die Klassik und ihre Folgen auswirkte, ist noch besonders zu untersuchen. Vom Standpunkt der Würde, Freiheit und Selbstvollendung des Menschen in Schönheit und Harmonie seiner Kräfte und Fähigkeiten gelang es Herder, Winckelmanns Vorstellung von der Unnachahmlichkeit griechischer Kunst eine neue Seite abzugewinnen. Indem er den Gedanken des Nacheiferns betont, schiebt er — mehr noch als Winckelmann — den des Nachmachens gänzlich beiseite. Gleichzeitig wirft er die Frage auf: „Wo ist aber noch ein Winckelmann, der uns den Tempel der griechischen Weisheit und Dichtkunst so eröffne, als er den Künstlern das Geheimnis der Griechen von ferne gezeigt? Ein Winckelmann in Absicht auf die Kunst konnte bloß in Rom aufblühen; aber ein Winckelmann in Absicht der Dichter kann in Deutschland auch hervortreten, mit seinem römischen Vorgänger einen großen Weg zusammen tun", und er stellt die Aufgabe, „so deutsch zu sein, wie die Griechen grieschich". In Wirklichkeit durfte sich Herder doch mit Lessing in den Ruhm teilen, ein Winckelmann der Dichtung zu sein. Für ihn, dem es wie Lessing um eine Erneuerung der deutschen Literatur und Kunst von Grund auf ging, waren die Schöpfungen der Griechen genau so wie für Winckelmann Produkte einer „Denkart", die wie ein Baum „aus seiner Wurzel in schöner Erde langsam hervorgetreten" ist. „Aus edler Natur gebar er edle Keime, gesunde Blätter, erquickende Blüten, vollendete Früchte." Auch hier trat die Absicht hervor, deutlich zu machen, daß es auf den gesellschaftlichen Boden ankommt, daß nur „auf schöner Erde" vollendete Früchte geerntet werden können. Goethe und seine Generation brauchte nicht mehr um Rang und Stellung des Griechischen in Kunst und Literatur ihrer Gegenwart zu kämpfen. Nach Winckelmanns und Lessings Vorgang hatten Klopstock und Heinse längst den Raum erobert, in dem so deutsch gearbeitet werden konnte, wie die Griechen griechisch arbeiten. Die umfangreichste und genaueste Kenntnis griechischer Kunst und Literatur kennzeichnet bereits die allgemeine bürgerliche Bildung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Frage nach der Bedeutung des Griechischen für Kunst, Literatur und eben auch für die Gesellschaftskritik war bereits entschieden. So durften Goethe und seine Mitstreiter sich durchaus als „Glieder einer ungeheuren Opposition" fühlen. Ihr humanistisches Selbstbewußtsein sagte ihnen, daß es „dem Schicksal ist, nicht den Göttern, zu schenken das Leben und zu nehmen." Und dieses Schicksal war nicht mehr eine blinde Macht, die über der Menschheit waltet wie ehemals die Götter, sondern es war, zumindest für Goethe, die Menschheit selbst. Wie Napoleon einst (nach Kanzler Müllers Bericht) den Ausspruch tat: „Die Politik ist das Schicksal", so 53

sah Goethe, konsequent humanistisch gedacht, die Menschheit als das Schicksal des Menschen an. Sätze wie: „Nur alle Menschen machen die Menschheit aus, nur alle Kräfte zusammengenommen die Welt", oder: „Nur sämtliche Menschen erkennen die Natur, nur sämtliche Menschen leben das Menschliche", wie Goethe am 5. Mai 1798 an Schiller schrieb, kennzeichnen eine derartige Auffassung. Aus Überlegungen und Ansichten dieser Art heraus erklärt sich die gesteigerte Fortführung der Winckelmannschen Auffassung von der Stellung des Menschen in der Kunst durch Goethe. Winckelmann hatte bereits in seiner Kunstgeschichte betont, daß der höchste Gegenstand der Kunst der Mensch sei. Goethe entwickelt eine ganze Stufenleiter von Gegenständen und stellt auf deren höchste Sprosse den Menschen. „Der Mensch ist der höchste, ja der eigentliche Gegenstand bildender Kunst", und kurz zuvor hieß es: „Der Mensch ist dem Menschen das Interessanteste und sollte ihn vielleicht ganz allein interessieren". Und schließlich, schon im Alter, hieß es vom Dichter wie vom Künstler: „Was sollt' aus ... [ihm] werden, wenn es nicht hohe, mächtige, kluge, schöne und geschickte Menschen gäbe, an deren Vorzügen er sich auferbauen kann? An ihnen, wie die Rebe am Ulmenbaum, wie Efeu an der Mauer, rankt er sich hinauf, Auge und Sinn zu erquicken". Und noch einen anderen Gedanken Winckelmanns hatte Goethe aufgegriffen und weitergeführt. In dem didaktischen Aufsatz Winckelmanns „Uber die Fähigkeit zur Empfindung des Schönen", wird zu wiederholtem Male der Kern der Winckelmannschen Ästhetik, die konstitutive Rolle des Schönen in der Kunst, hervorgehoben. Goethe, der den Hauptgedanken beibehält, geht jedoch weit über Winckelmann, ja über seine eigene Zeit hinaus, wenn er seine Auffassung vom Wesen des Schönen in die Worte zusammenfaßt: „Das Schöne sei, wenn wir das gesetzmäßig Lebendige in seiner größten Tätigkeit und Vollkommenheit schauen, wodurch wir, zur Reproduktion gereizt, uns gleichfalls lebendig und in höchste Tätigkeit versetzt fühlen ...". So ist mit der Wiedergeburt der griechischen Antike durch Winckelmanns bahnbrechendes, epochales Wirken, fortgeführt von Lessing und Herder und zur Vollendung gebracht von Goethe, Schiller, aber auch durch Künstler wie Mengs, Tischbein, Kauffmann, Koch, Carstens und viele andere, durch Wissenschaftler wie Fernow und Meyer bis hin zu Hegel, ein völlig neues, verwandelndes Element in die Kunst, Literatur und Wissenschaft Deutschlands eingedrungen. Das wesentliche Merkmal dieser neuen Kunstauffassung ist ihr humanischer und ästhetischer Gehalt und ihre realistische Methode. Auch hier ist Goethe, indem er sich auf die griechische Antike beruft, mit seinen Schriften theoretisch grundlegend gewesen. „Was uns von Poesie und Prosa aus den besten griechischen Tagen übrig geblieben", so schreibt er 1818 in dem Aufsatz „Philostrats Gemälde", „gibt uns die Uberzeugung, daß alles, was jene hochbegabte Nation in Worte verfaßt, um es mündlich oder schriftlich zu überliefern, aus unmittelbarem Anschauen der äußern und innern Welt hervorgegangen sei." Oder, etwa zur gleichen Zeit: „Die bildende Kunst ist auf das Sichtbare angewiesen, auf die äußere Erscheinung des Natürlichen". Wie stark die Wiedergeburt der griechischen Antike in andere Länder hineinwirkte, wie sie durch einen David eine ganze Revolution in der Kunst auslöste, greift weit 54

über den Rahmen dieses Beitrages hinaus. Nicht minder auch die Frage, wie es zu einer Zurücknahme des klassischen Humanismus und Realismus in Deutschland kam, ja wie die hoffnungsvolle Entwicklung unterbrochen und abgebrochen wurde. Eines aber steht fest: das Studium dieser klassischen Epoche deutscher Literatur, Kunst und Kunstwissenschaft, nunmehr auf der Grundlage des wissenschaftlichen Sozialismus, dürfte in erster Linie den Weg öffnen zum Verständnis der Schaffensprobleme unserer Zeit und der weltweiten Auseinandersetzung in Kunst und Kunstauffassung.

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P E T E R H. F E I S T

Winckelmanns Theorie im Verhältnis zur klassizistischen deutschen Kunst und zum Realismus Die kunsttheoretische Position, die der achtunddreißigjährige Winckelmann mit den „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst" (1755) zu beziehen beginnt, ist durch einen eigentümlichen inneren Widerspruch gekennzeichnet, den er nicht auflöste, ja, aus historischen Gründen wohl gar nicht auflösen konnte. Dies hatte sowohl für die Entwicklung der klassizistischen bildenden Kunst in Deutschland, die Winckelmanns Theorie in hohem Maße verpflichtet war, als auch für die spätere Kunst bemerkenswerte Folgen. Die von ihm bewunderte Größe der griechischen Kunst, die Winckelmann in der Kategorie der Schönheit erfaßt, erklärt er unter Heranziehung vieler Argumente aus dem Verhältnis der Kunstwerke zur Natur, d. h. zur sinnlich erlebten und praktisch erfahrenen Realität, sowie aus den besonders glücklichen Voraussetzungen, welche die griechische Wirklichkeit für das Entstehen einer schönen Kunst gehabt habe. Winckelmann wird in den „Gedanken über die Nachahmung" und in der ihnen nachgesandten „Erläuterung" nicht müde, in Körperbau und Lebensgewohnheiten, Sprache und Kleidung der Griechen, im Klima des Landes und in der Gesellschaftsordnung objektive, vom Künstler vorgefundene Ursachen für die Schönheit der antiken Menschendarstellung aufzudecken. Kunst ist für ihn Nachahmung der Natur, s c h ö n e Kunst ist Ergebnis der Nachahmung jener schönen „Natur", wie sie das alte Griechenland in einem so deutlichen Unterschied zu Winckelmanns eigener Zeit und Umwelt vor dem Künstler ausgebreitet habe. Die Schönheit stecke, freilich verteilt, in der Natur. Wie Albrecht Dürer hätte auch Winckelmann sagen können: „Wer sie heraus kann reißen, der hat sie." Die günstigen Umstände, zu denen noch ihre von Winckelmann untersuchte Art zu arbeiten kam, machten es den griechischen Künstlern leichter als neueren, die in der Natur „zerstreute" Schönheit zu sammeln und in eins zu vereinigen. In einer fast banal-utilitaristischen Art empfiehlt Winckelmann den Künstlern, über die Nachahmung der antiken Kunst zur Nachahmung der Natur zu gelangen, von der griechischen Vorleistung zu profitieren, um den Weg zur Meisterschaft zu erleichtern. „Das Studium der Natur muß also wenigstens ein längerer und mühsamerer Weg zur Kenntnis des vollkommenen Schönen sein, als es das Studium der Antiken ist: und Bernini hätte jungen Künstlern, die er allezeit auf das Schönste in der Natur vorzüglich wies, nicht den kürzesten Weg dazu gezeigt." 1 1

Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. In: J. J. Winckelmann: Kleine Schriften zur Geschichte der Kunst des Altertums. Leipzig 1925, S. 72.

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Obwohl es Winckelmann nicht um ein allgemeines Nachahmen der Natur, sondern um die Erfassung der Schönheit in der Natur geht, stoßen wir hier auf ein Element jener Auffassung vom naturnachbildenden, auf der sinnlichen Erfahrung, der Anschauung gründenden Realismus, wie sie dann zumindest für das 19. Jahrhundert bestimmend blieb.Diese Auffassung ist in Winckelmanns Theorie verbunden mit der Ausbildung eines in bestimmten Zügen materialistischen historischen Begriffes der Kunst, der ihn zu seiner bahnbrechenden Leistung einer entwickelnden Kunstgeschichtsschreibung und zur Entdeckung von natürlichen und gesellschaftlichen Faktoren der Kunstentwicklung führte. Sie ist noch enger verbunden mit seinem Prinzip, in der wissenschaftlichen Arbeit von der genau beobachteten anschaulichen Gestalt des originalen Kunstwerkes, von einem unmittelbar sinnlichen Verhältnis zum Kunstwerk auszugehen und nicht von literarisch-antiquarischen Reflexionen. Von daher rührt das uns noch heute entflammende Feuer seiner Beschreibungen und Analysen, wie etwa der des „Torso vomBelvedere". Voller Stolz betont er selbst den Gegensatz seiner Interpretationen zu dengrimmig verhöhntenElaboraten von Gelehrten, die über Dinge urteilten und spekulierten, welche sie sich offenbar nie genau angesehen hatten. Ganz unvermittelt aber schiebt sich bei Winckelmann über die Auffassung von der in der Natur zu entdeckenden Schönheit die Konzeption einer höheren, idealen und in nicht näher definierter Weise dem Kopfe des Künstlers entspringenden Schönheit. „Die Kenner und Nachahmer der griechischen Werke finden in ihren Meisterstücken nicht allein die schönste Natur, sondern noch mehr als Natur, das ist, gewisse idealische Schönheiten derselben, die, wie uns ein alter Ausleger des Plato lehrt, von Bildern bloß im Verstände entworfen, gemacht sind." 2 „Ihr [der griechischen Künstler] Urbild war eine bloß im Verstände entworfene geistige Natur." 3 „Die sinnliche Schönheit gab dem Künstler die schöne Natur; die idealische Schönheit die erhabenen Züge: von jener nahm er das Menschliche, von dieser das Göttliche." 4 Winckelmann reißt die Schönheit in zwei Teile, und in das Verhältnis des Künstlers zur Wirklichkeit schiebt er ein transzendentes Absolutum ein. Am Ende formuliert derselbe Autor, der sogar die Eckigkeit der Handknöchel und Nicht-Eckigkeit anderer Knochen an griechischen Statuen vergleicht; um zu erweisen, daß diese die Natur nachahmen, das „höchste Ziel" der Malerei „erstrecke sich auf Dinge, die nicht sinnlich sind" 5 , und das „größte Glück" der Malerei bestehe in der „Vorstellung unsichtbarer, vergangener und zukünftiger Dinge." 6 — Ich glaube nicht, daß hier der gattungstheoretische Unterschied zwischen Plastik und Malerei eine Rolle spielt; vielmehr handelt es sich um das Auseinanderklaffen jener vorhin berührten sensualistisch-realistischen Züge einerseits und eines Idealismus andererseits, der in ausgeprägtem Gegensatz zur Realismusauffassung des mittleren 19. Jahrhunderts steht. Dort nämlich wird in fast wörtlicher Bezugnahme auf Winckelmann formuliert, daß „die Malerei eine konkrete Kunst ist und nur in der Darstellung wirklicher, sichtbarer Dinge bestehen kann Ein abstraktes,

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3 Ebda. S. 68. 4 Ebda. S. 69. Ebda. S. 61 f. Ebda. S. 100, vgl. mit Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung . . . , ebda. 6 Ebda. S. 104. S. 117f.

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nicht sichtbares, nicht existierendes Wesen gehört nicht in das Gebiet der Malerei" (Gustave Courbet).7 Die crux der klassizistischen Kunstauffassung wurde vor allem durch die von Winckelmann wohl studierten neuplatonischen Lehren des Giov. Pietro Bellori (Vite dei pittori etc. moderni, Rom 1672) befördert. Bellori hatte einerseits davon gesprochen, daß die Idee des Künstlers der sinnlichen Anschauung entstamme,, der Künstler die anziehendsten natürlichen Schönheiten aufsuche, um von ihnen aus seine Idee zu vervollkommnen, hatte andererseits aber eine im Künstler präfigurierte Idee postuliert. 8 Der Ort, an dem sich in Winckelmanns Theorie der Ubergang von dem der Natur abgerungenen Schönen in das die Natur überragende Idealschöne vollzieht, ist das in der Folgezeit markanteste formale Kennzeichen klassizistischer bildender Kunst: der Kontur. „Könte auch die Nachahmung der Natur dem Künstler alles geben, so würde gewiß die Richtigkeit im Kontur durch sie nicht zu erhalten sein; diese muß von den Griechen allein erlernt werden. Der edelste Kontur vereinigt oder umschreibt alle Teile der schönsten Natur und der idealischen Schönheiten in den Figuren der Griechen; oder er ist vielmehr der höchste Begriff in beiden." 9 Damit war der klassizistischen Kunstübung ein anzustrebendes Ziel gesetzt, das die Ausschließung der Farbe, die Geringschätzung der Natur und die beflisseneNachahmung der Antike bewirkte und zu den Kartons und blassen Umrißzeichnungen der Carstens, Flaxman, Genelli und anderer führte. Hinzu trat die Orientierung Winckelmanns auf die verstandesmäßige, zum Denken anregende und belehrende Allegorienbildung. Diese Seiten seiner Kunstauffassung gewannen — trotz Goethes Einsichten — die Oberhand. Zugleich mit der Hofkunst des Absolutismus und dem katholischen Barock verwarf Winckelmann ja auch die holländischen Realisten, während er merkwürdigerweise so ausgesprochen barocke Bilder wie die Pariser Gemäldefolge des Rubens zu Ehren der Maria de' Medici und das Deckenfresko der Wiener Nationalbibliothek von Daniel Gran um ihres allegorischen Erfindungsreichtums willen gelten ließ 10 . So kam es, daß alle Elemente eines naturverbundenen Realismus, die doch in seiner Theorie ursprünglich mit angelegt waren, in der Folgezeit, wo immer sie in der klassizistischen Kunst durchdrangen, als systemstörende, fremde Elemente wirkten und gleichsam nur hinter dem Rücken der Theorie auf Grund ihrer Lebenskraft Platz greifen konnten. So ist es etwa bei dem Bildhauer Schadow, dessen Werk vom Widerstreit klassizistischer und frisch naturverbundener, realistischer Züge geprägt 7

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Der französische Maler Gustave Courbet, Begründer eines bewußten und programmatischen Realismus in der neueren bildenden Kunst, schrieb das im „Courner du Dimanche" vom 25. 12. 1861. Vgl. Karl-Heinz Klingenburg: Gustave Courbet. Berlin 1960, S. 7 und ausführlicher Charles E. Gauss: The Aesthetic Theories of French Artists 1855 to the Present. Baltimore 1949, S. 10. Vgl. dazu neuerdings Dieter Hönisch: Anton Raphael Mengs und die Bildform des Frühklassizismus (Münstersche Studien zur Kunstgeschichte, 1). Recklinghausen 1965. Wie Anm. 1, S. 75. Ebda. S. 102. Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung . . . , ebda. S. 138.

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wird. Am Ende mußte sich der sensualistische Realismus des 19. Jahrhunderts als eigene Strömung in einem prinzipiell geführten Kampf gegen den dogmatisch erstarrten, lebensfernen Spätklassizismus durchsetzen. Dem Klassizismus gelang es nicht, mit dem Widerspruch von Wirklichkeit und Ideal, Wahrheit und Schönheit als einem dialektischen Widerspruch fertigzuwerden. Dies ist freilich ein kunstpraktisches wie -theoretisches Problem, das auch gegenwärtig bei der Entwicklung einer realistischen Kunst für die entwickelte sozialistische Gesellschaft von höchster Aktualität ist und das für die Funktionen der Kunst bei der Herausbildung einer sozialistischen Menschengemeinschaft und ihrer realisierbaren Schönheitsvorstellungen große Bedeutung besitzt. Der reale Humanismus der sozialistischen Beziehungen zwischen den Menschen gibt die Voraussetzungen diesen inneren Widerspruch fruchtbar aufzulösen. Die Bedingungen, unter denen Winckelmann seine Theorie formulierte, entbehrten dieses Charakters. Winckelmanns Theorie war keine Verallgemeinerung breiter praktischer Kunsterfahrungen in Deutschland. Die Lage war günstiger in England und Frankreich, deren progressive bürgerliche Kunst- und Gesellschaftstheorie Winckelmann wohl vertraut war, als er sich, von der Geschichte und Literatur herkommend, der bildenden Kunst zuwandte. In Deutschland gab es zwar gewisse klassizistische Tendenzen, aber meist vertreten durch unbedeutende Maler wie Adam Friedrich Oeser (1717—1799), der Winckelmann in die bildende Kunst einführte, oder Architekten wie Friedrich August Krubsacius (1718—1790), den Pionier des „Zopfstils" in Dresden. Im übrigen herrschte ringsum das „freche Feuer" des Spätbarock, für dessen Differenziertheit und Beschwingtheit (Dresden, Zwinger 1710 ff.) Winckelmann keinen Sinn haben konnte. Winckelmanns Kunstprogramm war ein aus einem sozial determinierten, ebensowohl ethischen wie ästhetischen Ansatz heraus entwickeltes theoretisches Postulat, eine eigenwillige Normensetzung, eine Revolution im Kopfe. So blieb es auch in der Folgezeit. Wenn Winckelmann die Freiheit der Griechen als eine Grundlage der Größe ihrer Kunst ansah, blieb diese Freiheit eigentümlich utopisch abstrakt. Dem Klassizismus Winckelmanns fehlt letztlich der soziale, demokratische Impetus, den der revolutionäre Klassizismus Jacques Louis Davids haben sollte, weil jener in Deutschland keine vergleichbare gesellschaftliche Basis besaß. Konnte der französische Klassizismus der achtziger und neunziger Jahre zur historischen Maskerade bei der Lösung sozialer und politischer Gegenwartsaufgaben der Bourgeoisie werden, zum ideologischen Gewand der bürgerlichen Revolution, so blieb der Klassizismus in Deutschland weithin ästhetischer Selbstzweck oder Vehikel einer abstrakt-ethischen, allgemein-menschlichen Bildungsreform. Zwischen der „edlen Einfalt und stillen Größe, sowohl in der Stellung [der Figuren] als im Ausdruck" 11 und dem aktivistischen, heroischen Pathos der schwörenden „Horatier" und des „ermordeten Marat" von J. L. David besteht ein unübersehbarer Unterschied. Und trotzdem bedurfte es erst der von der französischen Revolution geschaffenen 11

Ebda. S. 81.

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welthistorischen Situation, um auch in Deutschland den Klassizismus voll durchzusetzen. Gewiß hat Winckelmanns jüngerer römischer Freund Anton Raphael Mengs (1728—1779) mit seinem „Parnaß" von 1761 in der Villa Albani eine Wende in der Auffassung vom Deckenbild herbeigeführt und in der Folgezeit mit seinem eleganten Frühklassizismus einen — freilich kurzlebigen — europäischen Ruhm erworben, und ebenso gewiß markiert Erdmannsdorffs (1736—1800) Wörlitzer Schloß (1769—1773) mit dem dazugehörigen Park den Beginn einer neuen Etappe der deutschen Architekturgeschichte. Aber Gilly und Langhans, Schadow und Carstens, Koch und Schick, gar Schinkel und Klenze werden erst gegen die Jahrhundertwende oder danach wirksam. Nun erst traten die Prinzipien des Klassizismus, wie sie Winckelmann formuliert hatte, in klarer künstlerischer Realisierung zu Tage: die normierende idealische Steigerung, die Bedeutung erhabener Ideen, die erzieherische Funktion der Kunst, die Notwendigkeit einer Erziehung zum Kunstverstand für den vollkommenen Menschen. Zugleich aber legt sich das Dogma von der Nachahmung der Antike als dem einzigen Weg zur künstlerischen Größe immer wieder hemmend vor jenes offene, sinnenhafte Studium der Realität, das doch Winckelmann selbst als einen Quell der Schönheit griechischer Kunst erfühlt hatte. Die Antinomien der Kunstentwicklung im 19. Jahrhundert sind in starkem Maße Ausfluß des in Winckelmanns Theorie wie in der Folgezeit ungelöst gebliebenen Widerspruchs. Daß er ungelöst bleiben mußte, gründet in der Unangemessenheit des griechischen Modells, wie es in Winckelmanns idealer Konstruktion vorlag, für die Realität der auf kapitalistischer Produktion beruhenden bürgerlichen Gesellschaft und auch in der sukzessive schwindenden Möglichkeit des bürgerlichen Realismus, aus sich heraus ein forderndes, menschenbildendes Ideal zu setzen. Denn das war die große Leistung des Klassizismus: daß er der Kunst — freilich in utopischer Weise — einen hohen Anteil an der Erziehung, an der „Schaffung" des Menschen zuwies. Das Fordernde, die Unbedingtheit des Maßstabs, die Einheit von innerer und äußerer Haltung — und dazu der Anspruch an den Künstler, mit urteilendem und vorausdenkendem Verstand eine Gestaltung zu erfinden; dies und weniger die Nachahmung älterer Vorbilder ist es, was m. E. eine Brücke vom frühbürgerlichen Klassizismus zur Kunst der aufsteigenden Arbeiterklasse schlägt. Es ist lange üblich gewesen, allen Fortschritt in der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts nach dem Maß an sinnlicher Unmittelbarkeit, an Wahrheit in der Naturnähe, an Realismus im Sinne des demokratischen und kritischen Realismus des 19. Jahrhunderts und das will sagen: nach dem Maß einer Überwindung des Klassizismus zu messen. Es wird aber für eine marxistische Kunstgeschichtsschreibung zum 19. Jahrhundert wie für die Realismustheorie der Gegenwart notwendig sein, sich der Dialektik der beiden damals historisch zwangsläufig entgegengesetzten Tendenzen zur Wahrheitsfindung und Idealbildung, wie ebenso der widersprüchlichen inneren Verbundenheit von Klassizismus und Romantik tiefer bewußt zu werden. Beide Tendenzen haben der Kunst und dem Menschen vorangeholfen. Sie in einer Synthese aufhebend fortzuführen, ist der sozialistischen Kunst historisch aufgegeben. 60

WILHELM GIRNUS

Winckelmann und das Problem der Schönheit Es war eine unvergleichliche Epoche geistiger Umrüstung. Innerhalb weniger Jahre erschienen die Maßstab setzenden programmatischen Schriften des Jahrhunderts: 1765 Diderots Essai sur la peinture, 1769 Entretiens avec D'Alembert, 1759 der Candide, 1763 der Traité sur la tolérance vom gleichem Verfasser und 1764 der Dictionnaire philosophique. Das in Frankreich. Aber zugleich in Deutschland 1759—65 Lessings Briefe die neuste Literatur betreffend, 1766 der Laokoon, 1767—69 die Hamburgische Dramaturgie. Im gleichen Jahr wie der Laokoon Herders Schriften über die neuste deutsche Literatur und eben 1764 Winckelmanns epochemachende „Geschichte der Kunst des Altertums". Eine erstaunliche Ballung geistiger Angriffslust, fast könnte das Gefühl des Neides von uns Besitz ergreifen, wären wir nicht über so niedrige Gefühle erhaben. Denn das Erstaunliche an der Fülle dieser programmatischen Schriften ist: Sie haben alle Epoche gemacht und das trotz ihrer Fülle. Und was ich eben nannte, ist ja, wir wissen es, nur eine gedrängte Auswahl. Die Forderung, auch die Deutschen seien einer eigenen Nationalkultur vom welthistorischem Format fähig, war nicht mehr nur bloße theoretische These, ihre Verwirklichungsmöglichkeit war erwiesen. Und Winckelmann ist einer der Schrittmacher des geistigen Aufbruchs Europas zu der modernen Welt, die sich von metaphysischer Erstarrung und klerikaler Bevormundung befreit und im Wirken der Volkskräfte die eigentliche Triebfeder aller produktiven Veränderung in der Geschichte entdeckt. Denn das ist seine Entdeckung für die Bildende Kunst, wie es die Herders ist für die Literatur, daß auch die Künste dem Gesetz der Entwicklung unterworfen seien, wie Montesquieu sie für die politischen Institutionen der Gesellschaft aufgewiesen hatte. Es gibt keinen Stillstand und es gibt keine Teleologie in der Kunst. Die Geschichte der Kunst soll, so lesen wir bei ihm, Ursprung, Wachstum und Veränderung der verschiedenen Stile der Völker, Zeiten und Künstler, lehren ... Hier also schon das Problem der Entwicklung von Epochen-, National- und Personalstilen. Was Lessing für das Theater, was Herder für die Weltliteratur, das wurde der Schustersohn aus Stendal vom Aspekt der bildenden Künste her. Wenn Heinrich Weinstock ihn in die Reihe Erasmus, Schiller, Humboldt, Fichte, Feuerbach, Marx stellt — und er hätte hier ebensosehr noch Herder und Goethe hinzugefügt haben können — so soll uns das nur recht sein. Freilich bei Weinstock ist's ein Verdammungsurteil, ein postumer Fluch. Ihr Vertrauen in die Macht des Menschen sei angeblich die moderne Hybris, und die trage Schuld am moralischen Zusammenbruch der bürgerlichen Welt von heute. Vielleicht steckt in dieser Feststellung mehr 61

Wahrheit als der vom Weltsturm eingeschüchterte und geängstigte einstige Frankfurter Professor selbst zu ahnen imstande war. Vielleicht ist der unerschütterliche Glaube an die Macht des Menschlichen tatsächlich stärker als der Glaube an die Unerschütterlichkeit bürgerlicher Institution und wirkt so mit an deren Untergang. Friedrich von Gentz muß wohl mit seiner Metternichschen Spürnase etwas davon gewittert haben, als er — erbost über Goethes Winckelmann-Aufsätze — an Adam Müller wetterte, diese seien gottlos, und welche unanständige, zynische, faunische Freude scheine der Verfasser des Faust bei der glorreichen Entdeckung empfunden zu haben, Winckelmann sei eigentlich ein geborener Heide. Und diese Feststellung allerdings findet sich an mehreren Stellen bei Goethe, das muß man dem Metternichschen Restaurationsorakel zugestehen. Aber der Alte in Weimar wußte schon, was er sagte, als er den Satz niederschrieb, der heidnische Sinn Winckelmanns, der aus allen seinen Handlungen und Schriften hervorleuchte, sei der eigentliche Quell seiner schöpferischen Begeisterung und Leistung. Der Zusammenhang ist sehr konkreter Natur. Nur der freien reinen Sinnlichkeit, der Freude am sinnlichen Sein konnte sich das sinnliche Schöne erschließen, und ohne Sinnlichkeit keine Schönheit. Das letzte Produkt der sich immer steigernden Natur sei der s c h ö n e Mensch, so konstatiert er. Der schöne Mensch, der Mensch in seiner Schönheit, das ist in Wirklichkeit der Schlüssel nicht nur für Winckelmanns Gedankenwelt, sondern für die gesamte deutsche Klassik bis hin zu Heine. Und wie wäre Hölderlins Trunkenheit am Schönen ohne das Wirken Winckelmanns denkbar? Die vornehmste Absicht der Kunst sei die Schönheit. Dieser Gedanke erweist sich rückblickend als das eigentliche movens, die eigentliche Triebfeder seines gesamten Werkes. Es bildet dessen Koordinatenkreuz. Aber wir würden Winckelmann zum Urvater eines faden Ästhetizismus umfälschen, fügten wir nicht unverzüglich hinzu, daß die Schönheit für Winckelmann kein Privileg der Kunst ist. Die schönste Schönheit der Kunst steht immer noch unter der Schönheit der Natur — gemeint ist nach damaligem Sprachgebrauch die Wirklichkeit. Ein Satz — er verdient besonders vermerkt zu werden — gesprochen immerhin mit Blick auf Raffael. Und was Raffael für Winckelmann als Wertmaßstab bedeutete, ist bekannt. Die Schönheit der Wirklichkeit also, darum ging es Winckelmann und mit ihm den deutschen Klassikern. Wie gesagt bis hin zu Heine. Der Mensch aber eben als Gipfel der Natur auch Gipfel der Schönheit. Nicht der Kreis sei die schönste Linie, der schönste Körper nicht die Kugel, die schönste Linie sei die edelste Kontur des menschlichen Körpers. Das ist eine deutlich polemische Absage an die Abstraktion der mittelalterlichen Scholastik und ein ausdrückliches Bekenntnis zur Gegenständlichkeit des Humanen, das harmonische Gegenstück zu Goethes Ausspruch, der Mensch sei der höchste, ja der eigentliche Gegenstand bildender Kunst, und die höchsten Kunstwerke, die wir kennen, zeigen uns lebendige, hochorganisierte Naturen. Nicht nur, daß für Winckelmann die vornehmste Absicht der Kunst in der Schönheit gipfelt, für ihn gipfelt das Ziel alles menschlichen Tuns in der Verwirklichung der Schönheit im menschlichen Dasein, ja in der menschlichen Persönlichkeit selbst. Im Rühmen menschlicher Schönheit erreicht sein Enthusiasmus stets das höchste Maß.Hellenische Schönheit ist ihm identisch mit der Schönheit des hellenischen Menschen. Georgien 62

feiert er als das Land der schönen Menschen, welches ein reiner und heitrer Himmel mit Fruchtbarkeit segne. Man hat Winckelmann unterstellt, er sei ein Monomane der hellenischen Antike gewesen und daher verantwortlich für das klassizistische Epigonentum, das ganz Europa dann in seinen Bann geschlagen habe. Nichts wäre törichter als diese wissenschaftlich indiskutable Behauptung. Der Klassizismus als künstlerische Strömung setzt lange vor Winckelmann ein. In der Malerei sind es bereits Nicolas Poussin und Claude Lorrain, die diese Epoche eröffnen; in der Literatur wird das Verhältnis zur Antike als ein nicht umgehbarer Knotenpunkt künstlerischer Kraftentfaltung und Wertbestimmung durch die Querelles des anciens et modernes zum Kriterium der historischen Positionsbestimmung moderner Kunstentwicklung erhoben. Demarets de Saint-Sorbin war es, der bereits 1657 zur Entscheidung in dem Streit aufgerufen hat, welcher Standpunkt zur antiken Kunstwelt zu beziehen sei. Er nannte das Problem die größte Streitfrage der Epoche. Denn es sei zu entscheiden, ob die Franzosen für immer den Ruhm der Sprache und des Genies an Hellas und Rom abzutreten hätten. Und dieser Streit hat Europa 60 Jahre in Spannung gehalten. Endgültig erloschen aber ist er im Grunde erst durch Marxens Schiedsspruch über die historische Funktion dieser weltgeschichtlichen Totenbeschwörung, die mit Dantes Göttlicher Komödie begann, in Goethes Helena-Akt ihren literarischen Gipfel, in Hölderlin ihren elegischen Abklang erlebte. In Wirklichkeit gehört Winckelmann zu jener Partei in Deutschland — es ist in gewisser Weise trotz ihres heterogenen Charakters eine Partei —, die im Morgendämmern der großen Umwälzung, durch die zwei Jahrzehnte nach seinem gewaltsamen Tode die bewunderungswürdigen Pariser die Welt erschüttern sollten, leidenschaftlich nach der Verwirklichung der Schönheit in dieser Welt suchten, und das nicht nur im Bereich der Kunst. Das allerdings setzte die Sterblichkeit der bestehenden Welt voraus. Durch Montesquieu und Voltaire zu geschärftem Sinn für Kultur als Geschichtsprozeß erzogen, waren ihm die Kategorien Werden und Vergänglichkeit bereits geläufige Denkweise. Die Ausschau nach neuen Ufern, nach neuen Möglichkeiten zwang, die Vergangenheit nach Höhepunkten und deren Gesetzmäßigkeiten abzutasten, um Anhaltspunkte für die Extrapolation in Richtung Zukunft zu gewinnen. Konnte sie das bei der Gotik oder Romanik, in der Ritterpoesie finden? Es steht in diesem Zusammenhang gar nicht zur Debatte, ob das Bild von der ästhetischen Kultur Griechenlands, das ihre Sehnsucht entdeckte, sich mit dem unsrigen heute deckt. Immerhin gibt es darüber das Wort von der n o r m a l e n Kindheit der Menschheit, und dieses Wort stammt von Karl Marx. Winckelmanns Illusionen über das Maß der normativen Kraft hellenischer Kunstleistung sind auf jeden Fall vergleichsweise unbedeutend und sympathisch, gemessen an den recht unheroischen Illusionen gewisser Schöngeister von heute über die normative Kraft bürgerlicher Weltbetrachtung und bürgerlicher Staatsinstitutionen. Ich denke da etwa an Herrn Günter Grass und ihm verwandte Gesprächspartner. Im übrigen bleibt es eine welthistorische Tatsache allerersten Ranges, daß die Griechen die Götter zu Menschen gemacht, daß sie Mythos und Historie voneinander geschieden, das Drama aus der Liturgie erlöst, alle Kunstgattungen praktisch und theoretisch 63

klar gegeneinander abgesetzt haben und in den Mittelpunkt aller künstlerischen Bemühung den Menschen, den ganz einfachen, unverfälschten, ungekünstelten Menschen gerückt haben, ohne mystische Perversion, ohne Aufgeblasenheit, ohne falsche Demut, aber auch ohne bestialischen Fetischismus, ohne tierische Entstellung. Ich dächte, das wäre schon etwas. Und dessen Wiederentdeckung ebensosehr. Der Rückgriff auf die Antike hatte für Winckelmann — ebensogut wie für die großen Renaissancegeister — eine höchst originale polemische Spitze. Wenn Winckelmann nämlich fordert, die Geschichte der Kunst solle „den Ursprung, das Wachstum, die Veränderung und den F a l l derselben lehren und dies aus den übrig gebliebenen Werken des Altertums, so viel möglich ist, beweisen," so offenbart das zugleich unter den gegebenen historischen Umständen eine klare Kampfstellung gegen die These der herrschenden Klasse und der herrschenden Kunst seiner Zeit, sie und ihre Normen seien von Ewigkeit zu Ewigkeit. Dieser Anmaßung setzt er die explosive Idee ihrer Sterblichkeit entgegen, und die Möglichkeit einer neuen Kultur, deren Zukunftsbild stets in ihrem Schönheitsideal gipfelt. Um die Entzifferung dieses verschleierten Bildes ging es Winckelmann und seinen Freunden in allererster Linie: Der fortgeschrittne Mensch trägt auf erhobenen Schwingen Dankbar die Kunst mit sich empor, Und neue Schönheitswelten springen Aus der bereicherten Natur hervor. (Schiller) Deshalb, und nur deshalb, konnte Winckelmanns Funke in der Jugend seiner Epoche so zündend einschlagen. Er sprach in gewissem Sinne das erlösende Wort für diese neue schönheitsdürstende Welt aus. Und wer wollte einer Epoche — es sei, welche sie wolle — das souveräne Recht streitig machen, ihr eigenes Bild im Spiegel der Vergangenheit schärfer ins Auge zu fassen. In diesem Sinne wohl auch hat der doch ganz gewiß der Gegenwart ergebene Goethe sein Werturteil gemeint, derselbe Goethe, der von der Verzauberung durch den hellenischen Geist sagt, wen Helena paralysiert, der kommt so leicht nicht zu Verstände. Winckelmann, so sagt Goethe, „entdeckte als ein neuer Kolumbus ein lange geahntes, gedeutetes und besprochenes, ja man kann sagen ein früher schon gekanntes und wieder verlorenes Land." Sicher hat Winckelmann die normative Kraft der hellenischen Ästhetik überschätzt, aber nicht er hat diese heroischen Illusionen in die Welt gesetzt. Das Bedürfnis nach ihnen hatte Klassenursprung. Marx hat darüber das Nötige gesagt. Überdies wissen wir heute, daß nicht nur der mediterrane Raum alte klassische Kulturen geboren hat. Es gibt eine bewunderungswürdige chinesische Klassik, eine arabische, eine persische, eine indische . . . Sicher hat Winckelmanns Leidenschaft eine suggestive Wirkung auf seine Zeit ausgeübt. Sehen wir indessen genauer hin, so verbergen sich 64

bei ihm doch tiefere Wirkungskräfte hinter der Griechenbegeisterung. Winckelmann selbst gibt uns den Schlüssel für die Lösung des Rätsels in die Hand: gib acht, so bemerkt er, ob der Meister des Werks, das du betrachtest, selbst g e d a c h t oder nur nachgemacht hat, ob er die vornehmste Absicht der Kunst, die Schönheit, gekannt oder nach den ihm gewohnten Formen gebildet, ob er als Mann gearbeitet oder als Kind gespielt habe. Ich meine, das ist deutlich. Winckelmann unterstellen, er habe auf die ästhetische Kraft hellenischer Kunst verwiesen, um eine neue Kopisten-Schule ins Leben zu rufen, ist barer Unsinn. Im übrigen hat sich noch kein Meister gegen unfruchtbares Epigonentum wirksam zu wehren vermocht, nicht einmal ein Brecht. — Im Gegensatz zu vielen Theoretikern des Klassizismus ist gerade Winckelmann davon überzeugt, daß Kunst nicht nach vorgegebenen Regeln produziert werden könne, daß künstlerische Spontaneität und künstlerische Bewußtheit eine unlösbare Einheit bilden müßten. Mit Leidenschaft wandte er sich gegen jene Art ausgeklügelter Pseudokunst, die er als „Leistungen eines grammatikalischen Gehirns" der Verachtung preisgab. Winckelmann war eben, dies bleibt unstreitbar, in der Sprache unserer Zeit ein „Schrittmacher" im Kampf für eine neue künstlerische Konzeption der Welt. Diese neue künstlerisch-ästhetische Konzeption aber — und das ist das letzte Geheimnis seiner leidenschaftlichen Begeisterung — war nur Teil eines neuen Bildes vom Menschen, eines edleren, besseren Menschen, in dem die schöpferischen Kräfte die Dominante seines Wesens geworden sind. Daß auch dieses Bild wie das vom hellenischen Menschen eine starke utopische Komponente offenbart, ist keineswegs das schlechteste an ihm. Ein Satz aus der „Geschichte der Kunst des Altertums" enthüllt die letzte Triebfeder seiner geistigen Anstrengung. Dort heißt es: „Überhaupt wurde alles Vorzügliche in allerlei Kunst und Arbeit besonders geschätzt, und der beste Arbeiter in der geringsten Sache konnte zur Verewigung seines Namens gelangen." Nun, dieser Satz sagt mehr über Winckelmann als über die Antike aus. Das wissen wir heute. Der Wunsch ist darin stärker als die historische Analyse. Eins jedoch muß man Winckelmann vom Standpunkt der historischen Analyse auch heute zubilligen: Seine Entdeckung, daß demokratische Lebensnormen der wahre Mutterboden weltgeschichtlicher Blütezeiten lebendiger realistischer Kunst seien, das ist durch die Historie bestätigt worden. Und der Marxismus hat diesem Axiom eine neue Wertqualität verliehen, indem er der Demokratie einen ganz neuen tiefen Sinn gegeben hat, einen Sinn, der der Welt Winckelmanns notwendigerweise noch verborgen bleiben mußte, weil die moderne Arbeiterklasse — der wahre Demiurg der modernen Welt — noch nicht auf dem Schauplatz der Geschichte angetreten war. Wenn die Politik unseres Staates hier in der DDR heute der Schönheit als einer normativen Kraft der Weltgestaltung eine so zentrale Rolle in unserer Gesellschaft anweist, so fühlen wir uns mit Recht als die Erben eines Winckelmann. Wenn uns deshalb Gehässigkeit — mag sie auch aus dem charmanten Wien und nicht nur aus dem ruppigen Bonn kommen — als sozialistischen Verschönerungsverein zu diffamieren versucht, so soll uns das nur lieb sein. Wir überlassen es ihnen und ihrer famosen demokratischen Freiheit großzügig, einen Verein zur Verhäßlichung der Welt zu gründen. Wir haben tatsächlich die Vermessenheit, eine schönere, eine 5

Winckelmann

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bessere Welt zu schaffen. Wir stehen zu Winckelmann! Wir stehen zu unserer Klassik! Vor allem aber stehen wir zu Marx, der hat ja dazu auch noch einige Wörtlein hinterlassen — gerade auch der junge. Und da haben wir nicht den geringsten Zweifel, auf wessen Seite die stärkeren Bataillone sind. In diesem Sinne gilt auch für uns Goethes Wort über Winckelmann: Und so ist alles, was er uns hinterlassen, ein Lebendiges für die Lebendigen, nicht für die im Buchstaben Toten geschrieben.

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IRENE

HUSAR

Die Idee der Vergottung des Menschen bei Johann Joachim Winckelmann Die progressive Idee der Vergottung des Menschen — -9-etocri