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German Pages [385] Year 2010
Reto Luzius Fetz Benedikt Seidenfuß Sebastian Ullrich (Hg.)
Whitehead – Cassirer – Piaget Unterwegs zu einem neuen Denken
ALBER PHILOSOPHIE
https://doi.org/10.5771/9783495997260
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Reto Luzius Fetz / Benedikt Seidenfuß / Sebastian Ullrich (Hg.) Whitehead – Cassirer – Piaget
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Über dieses Buch: Die Beiträge dieses Tagungsbands gehen kritisch und interdisziplinär der Frage nach, inwieweit in den systematisch aufeinander bezogenen Entwürfen von Whitehead, Cassirer und Piaget ein aktuelles, für Philosophie und Einzelwissenschaften gleichermaßen fruchtbares Megaund Metaparadigma vorliegt. Über die Herausgeber: Reto Luzius Fetz, geb. 1942, Prof. Dr. phil., Studium der Philosophie in Freiburg/Schweiz, langjähriger Forschungsaufenthalt bei Jean Piaget in Genf, Dozent an der Pädagogischen Hochschule Sankt Gallen, von 1988 bis zur Emeritierung 2008 Professor für Philosophie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Buchveröffentlichungen zu Thomas von Aquin, Alfred North Whitehead, Jean Piaget, Ernst Cassirer. Benedikt Seidenfuß, geb. 1978, Dr. phil., Dipl. Päd. (Univ.), Studium der Philosophie, Politikwissenschaften, Pädagogik und Psychologie in Eichstätt, Magisterarbeit über Neurophilosophie, Dissertation über Freiheit und Entwicklung. Sebastian Ullrich, geb. 1977, Dr. phil., Studium der Philosophie, Musikwissenschaft und Psychologie in Leipzig, Paris und Eichstätt, Magisterarbeit über Alfred North Whitehead, Dissertation über Ernst Cassirers Symbolischen Idealismus.
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Reto Luzius Fetz / Benedikt Seidenfuß / Sebastian Ullrich (Hg.)
Whitehead – Cassirer – Piaget Unterwegs zu einem neuen Denken
Verlag Karl Alber Freiburg / München https://doi.org/10.5771/9783495997260 .
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2010 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48378-7
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung
I.
Allgemeine Grundfragen
Reto Luzius Fetz: Subjekt, Prozess, Struktur. Zur ontologischen Konturierung des anvisierten Megaparadigmas . . .
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Sebastian Ullrich: Systematische Implikationen des Begriffs des transformatorischen Denkens . . . . . . . . . . . . . .
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Hans-Joachim Sander: Die Relativität systematischer Kreativität. Ein Ort des Wissens im Zeichen der Pluralität von Wissensformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Elmar Anhalt: ›Haltepunkte‹. Zur Funktion der Problemgenerierung bei Whitehead, Cassirer, Piaget und in der Erziehungswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II.
Anthropologie und Psychologie
Gabriele Neuhäuser: Jean Piagets konstruktiver Realismus
. 134
Franz Riffert: Whiteheads und Piagets Bewusstseinskonzept. 167 Benedikt Seidenfuß: Eine strukturgenetische Theorie der Willensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Thomas Kesselring: Die Rationalität der Emotionen. Eine Ergänzung zu Piagets Theorie . . . . . . . . . . . . . . 221
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Inhalt
III. Kultur und Symbolisierung Rolf Oerter: Kultur und Individuum . . . . . . . . . . . . . . 250 Christian Bermes: Struktur als Prinzip und Tatsache. Zur Methodologie der Kulturwissenschaften . . . . . . . . . 278 Ernst Wolfgang Orth: Einige ontologische Implikationen in Cassirers Konzeption der symbolischen Formung. . . . . . . 295 Thomas Franz: Symbolisierung und Realität – ein Vergleich zwischen Whitehead und Cassirer . . . . . . . . . . . . . . 308
IV. Einzelwissenschaftliche Fragestellungen Gernot Falkner und Renate Falkner: Die Relevanz der Philosophie von Alfred North Whitehead für ein tieferes Verständnis physiologischer Vorgänge. . . . . . . . . . . . . 330 Thomas Schwinn: Whiteheads Bedeutung für die Entwicklung der soziologischen Systemtheorie . . . . . . . . . . . . . . 345 Martin Prominski: Die Relevanz von Prozess-, Struktur- und Subjektdenken für die Gestaltung der räumlichen Umwelt . . 366
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Vorwort
Die Namen von Whitehead, Cassirer und Piaget stehen für herausragende philosophische und wissenschaftliche Neuansätze des 20. Jahrhunderts. Was diese Denker und Forscher schufen, hat in der Geistesgeschichte unter den Titeln Prozessphilosophie, Philosophie der symbolischen Formen und genetische Epistemologie bereits einen festen Platz gefunden. Auch die historische Forschung hat schon weitgehend ihre Werke erschlossen. Monumente der Geschichtsschreibung zu werden, war aber gewiss nicht ihr eigentliches Ziel. Alle drei verstanden das von ihnen Konzipierte und Erarbeitete nicht als ein abgeschlossenes System, sondern als einen methodischen Neuanfang, der revidierbar und vor allem erweiterungsfähig sein sollte. Philosophie und Wissenschaft als ein »Abenteuer der Ideen«, gelebt zugleich als ein »Abenteuer der Hoffnung« – das ist mit den Worten Whiteheads der Geist, der ihr Denken auf einen Weg brachte, von dem sie hofften, dass andere ihn weitergehen würden. Whitehead, Cassirer und Piaget werden hier deshalb in einem Zuge genannt, weil diesen drei Denkergestalten trotz ihrer unterschiedlichen Schwerpunkte und Forschungsrichtungen weitgehend die gleichen Prinzipien und Methoden gemeinsam sind. Diese Übereinstimmung lassen ihre Ansätze nicht bloß als kompatibel, sondern auch als komplementär erscheinen. Was sich bei dem vornehmlich kosmologisch orientierten Whitehead nicht findet, nämlich eine umfassende Kulturtheorie, trägt Cassirer bei, und wenn Cassirer hauptsächlich das geschichtliche Werden der verschiedenen Kulturformen in den Blick genommen hat, so findet sich bei Piaget die notwendige Ergänzung unter dem individualgeschichtlichen Aspekt. Diese systematische und methodische Einheitlichkeit bei gleichzeitiger bereichsspezifischer Besonderheit der drei Denker lässt sich wissenschaftstheoretisch in die Frage kleiden, ob sich bei ihnen nicht ein für die Philosophie und die verschiedensten Wissenschaften gleichermaßen fruchtbares Meta- und Megaparadigma findet. Damit ist der Leitgedanke der hier versammelten Beiträge ausgesprochen. Der A
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Vorwort
inzwischen oft inflationär und unscharf verwendete Paradigmenbegriff wird dabei in dem genauen Sinn verwendet, den ihm Sneed und Stegmüller gegeben haben, wenn sie von einem die Grundprinzipien erfassenden Strukturkern die bereichsspezifischen Kernerweiterungen unterscheiden. Natur und Kultur, geschichtliche und individuelle Entwicklung sind die Bereiche, die so im Rahmen eines umfassenden Wirklichkeitsverständnisses einheitlich und doch differenziert angegangen werden können. Um eine solche Leitvorstellung zu erproben, fanden sich Vertreter verschiedenster Disziplinen vom 2. bis 5. April 2008 an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt zu einer Tagung zusammen, deren Ergebnisse hier vorliegen. Eine erste Bewährung fand die Idee eines auf Whitehead, Cassirer und Piaget fußenden Mega- und Metaparadigmas allein schon dadurch, dass die drei Denker eine Verständigungsbasis hergaben, auf der Exponenten unterschiedlicher Fachrichtungen zwanglos und ohne Anschlussschwierigkeiten miteinander ins Gespräch kamen. Die Ergebnisse selbst festigen zum einen die Idee, dass zwischen Whitehead, Cassirer und Piaget fundamentale Übereinstimmungen, aber auch aufschlussreiche Berührungspunkte in Einzelfragen bestehen. Zum anderen demonstrieren sie durch originale Weiterführungen, dass das Potenzial dieser Ansätze noch längst nicht ausgeschöpft ist. Wie diese Gründergestalten selbst unterwegs zu einem neuen Denken waren, so erweist sich auch ihre Zusammenführung als ein Weg, der neue Fragestellungen in einem umfassenden Horizont zu eröffnen vermag. Die Tagung wurde finanziell von der Fritz-Thyssen-Stiftung getragen. Für einen namhaften Beitrag zu den Publikationskosten danken wir außerdem der Maximilian-Bickhoff-Universitätsstiftung der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.
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Einleitung
Zur gegenwärtigen Situation von Philosophie und Wissenschaft Die gegenwärtige Situation der Philosophie, insbesondere in Deutschland, ist von zwei divergierenden Tendenzen geprägt. In sachlich-systematischer Hinsicht beherrscht weitgehend die Analytische Philosophie das Feld, die für viele als die einzig verbliebene valable Methode gilt, um philosophische Probleme anzugehen. Dem steht in historischer und hermeneutischer Hinsicht die Beschäftigung mit den Denkern der Vergangenheit gegenüber, die zum Kanon der Philosophiegeschichte gehören. Beide Tendenzen stehen insofern disparat nebeneinander, als von Seiten der Analytischen Philosophie den Denkern der Vergangenheit in sachlicher Hinsicht nur bedingt ein Aktualitätswert zuerkannt und die Zeit der großen Meisterdenker als vergangen erklärt wird. Im Rückblick auf die großen historischen Gestalten der Philosophie mit ihren weit ausgreifenden Systemen wird umgekehrt die fehlende Geschlossenheit, Tiefe und Breite analytischen Philosophierens beklagt, das sich in Detailfragen verliere. Es ist in der Tat nicht zu übersehen, dass die Analytische Philosophie zwar eine Fülle von interessanten Einzeluntersuchungen zu speziellen Problemen vorgelegt hat, aber weniger das Ziel verfolgt, einen einheitlichen paradigmatischen Ansatz hervorzubringen, von dem aus sich eine Wirklichkeitsdeutung insgesamt vornehmen ließe, wie das bei den großen historischen Gestalten der Philosophie der Fall war. Andererseits hat die philosophische Geschichtsschreibung gerade in Deutschland Monumente der Gelehrsamkeit wie das Historische Wörterbuch der Philosophie hervorgebracht, dabei aber auch eine Historisierung der Philosophie gezeitigt, bei der der Bezug zu aktuellen Sachfragen kaum mehr hergestellt wird. Minutiöse analytische Kleinarbeit einerseits, Historisierung der geschichtlich gewachsenen Philosophie andererseits, beides – von gewichtigen Ausnahmen abgesehen – unverbunden nebeneinander, das ist weitgehend das Bild, das die Philosophie zurzeit bietet. Führt kein A
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Einleitung
Mittelweg aus dieser zwiespältigen Situation heraus? Ist die Zeit der Meisterdenker tatsächlich definitiv vorbei? Ist kein systematischer philosophischer Gesamtentwurf mehr möglich, der klassische Denkfiguren auf eine aktuelle Weise aufnimmt und so umsetzt, dass Verbindungen zu allen heute diskutierten philosophischen Fragen und Gegenwartsproblemen geschlagen werden können? Die Situation der Philosophie hat Folgen auch für die Wissenschaft. Sie ist zu einem guten Teil verantwortlich dafür, dass Philosophie und Wissenschaft heute nicht in einer lebendigen Ideen- und Forschungsgemeinschaft stehen. Zwar ist es immer noch so, dass die Philosophie sporadisch ihre kritische Funktion gegenüber einer sich absolut gebärdenden Wissenschaft erfüllt, wie als jüngstes Beispiel die Zurückweisung der überzogenen, sich gegen die menschliche Freiheit richtenden Ansprüche der Gehirnforschung gezeigt hat. Aber das eine ist die kritisch-philosophische Entlarvung der auf Kategorienfehlern beruhenden ideologischen Verabsolutierung einzelwissenschaftlicher Modelle, das andere das Eingehen einer Kooperation von Philosophie und Wissenschaft, die gemeinsam den von einer Einzelwissenschaft erfassten Aspekt und den von ihr vernachlässigten »Rest« in ein Gesamtverhältnis zu bringen versucht. Dabei ist das erste nicht ohne das zweite befriedigend zu erfüllen. Alfred North Whitehead hat generell von der Philosophie gefordert, dass sie eine »Kritik der Abstraktionen« zu vollziehen habe, die die Wissenschaft davor bewahrt, Vereinfachungen, die innerhalb einzelwissenschaftlicher Forschung durchaus gerechtfertigt sind, für das Wirklichkeitsganze auszugeben. Der Philosophie kommt somit die Aufgabe zu, wissenschaftliche Modelle und Erklärungsweisen auf ihre Phänomenkonformität und damit auf ihre Adäquatheit, ihre Tragweite und ihre Grenzen zu überprüfen. Das aber vermag die Philosophie letztlich nur, wenn sie umfassende Deutungsansätze ins Feld führen kann, die die Partialität wissenschaftlicher Methoden und Modelle erkennen lassen. Kein einzelwissenschaftliches Paradigma ist hinsichtlich der mit ihm vollzogenen Wirklichkeitsauslegung neutral, sondern schließt immer unkontrolliert mitlaufende ontologische Voraussetzungen ein – Quines ontological commitments. Oft sind sie Residuen schon längst überholter wissenschaftlicher Paradigmen, wie die immer wieder zu konstatierende Wiederkehr mechanistischer und behavioristischer Denkschablonen zeigt. Solche einseitig verkürzte Paradigmen kritisch zu reflektieren, setzt einen übergeordneten Reflexionsstandpunkt voraus, ein Metaparadigma, wie wir es 10
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Einleitung
nennen wollen. Natürlich muss dieses selbst kritisch und mit eigenen Methoden – phänomenologischer, sprachanalytischer oder transzendentalphilosophischer Art – seinen Anspruch rechtfertigen, eine umfassendere Sichtweise zu eröffnen. Ein den Einzelwissenschaften übergeordnetes Metaparadigma von umfassendem Charakter steht gewissermaßen schon per definitionem zu den Einzelwissenschaften in einem integrativen Verhältnis. Letztere müssen sich von seinem Standpunkt aus als besondere, methoden- und bereichsspezifische Sichtweisen verstehen lassen. Damit wird ein solches Metaparadigma zu einem Megaparadigma. In dieser neuen Benennung fungiert es als Matrix und letzter Bezugsrahmen für umfassende interdisziplinäre Forschungsprogramme. Philosophie und Einzelwissenschaften treten damit in ein Wechselverhältnis ein, bei dem philosophische Fragestellungen zumindest partiell in empirische Forschung umgesetzt und damit auch umgekehrt philosophische Probleme einer empirisch überprüften Lösung zugeführt werden können. Jean Piagets Transformation klassischer erkenntnistheoretischer Probleme in entwicklungspsychologische Fragestellungen und ebenso Kohlbergs Transposition moralphilosophischer Begründungsformen in eine empirisch ermittelte Stufentheorie des moralischen Urteils sind herausragende Beispiele dafür, wie philosophische Erkenntnisse und Geltungsfragen mit Tatsachenfragen verknüpft werden können, ohne dabei in einen Psychologismus zu verfallen. Das setzt allerdings voraus, dass die Spezifität der normativen und der empirischen Komponente nicht verwischt wird, sondern durch die Befolgung eigener Methodenwege gewahrt bleibt. Diese ergänzen sich jedoch wechselseitig, wie Habermas im Falle Kohlbergs durch seine Komplementaritätsthese gezeigt hat, wobei er gleichzeitig für eine umfassende Metatheorie im Sinne des hier postulierten Metaparadigmas plädiert. Interdisziplinarität auf der Basis eines solchen Meta- und Megaparadigmas besagt aber nicht bloß ein fruchtbares Wechselverhältnis zwischen Philosophie und Wissenschaft, bei dem die Philosophie eine heuristische Funktion bezüglich der Hypothesengenerierung und die Wissenschaft umgekehrt eine empirische Validierungsfunktion spielen kann. Sie setzt auch die Einzelwissenschaften selbst in ein neues Verhältnis zueinander, insofern ganz unterschiedliche Bereiche unter einer zwar bereichsspezifisch differenzierten, aber letztlich einheitlichen Fragestellung angegangen werden können. Praktisch bedeutet diese Transdisziplinarität, dass in allen Bereichen letztlich die gleichen A
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Einleitung
Grundbegriffe zum Tragen kommen müssen. Im Rückblick auf das vergangene Jahrhundert kann insbesondere der Begriff der Struktur mit den dazu gehörigen Begriffen der Genese, der Selbstregelung usw. als ein Leitbegriff gelten, der die verschiedensten Wissenschaften in eine einheitliche Forschungsperspektive gerückt hat. Von einem übergeordneten philosophischen Standpunkt aus lässt sich dann die Aufeinanderbeziehung von Einzelwissenschaften thematisch noch reflektierter gestalten. Das gilt sowohl für einzelne Wissenschaftsgruppen wie für die Wissenschaften insgesamt. Für die Kulturwissenschaften wird man Ernst Cassirers »Philosophie der symbolischen Formen« als die vorbildliche synthetische Leistung werten dürfen, die es vermocht hat, alle noch so verschiedenen Kulturformen wie Sprache, Wissenschaft, Kunst und Religion und selbst Technik und Wirtschaft im einheitsstiftenden Medium der Symbolfunktion zusammenzusehen und die Kultur umfassend als das »symbolische Universum«, den Menschen entsprechend als das »animal symbolicum« neu zu verstehen. Für die Wissenschaften insgesamt hat Piaget unter dem Namen »genetischer Strukturalismus« ein Grundkonzept ausgemacht, das als mögliche generelle Folie allen bereichsspezifischen Wirklichkeitsdeutungen unterlegt werden kann und damit genau die Funktion eines umfassenden Meta- und Megaparadigmas erfüllt. Ein allgemeines Rahmenkonzept wie Piagets »genetischer Strukturalismus« versteht sich in erster Linie als eine Methodologie und keineswegs als eine Ideologie. Darum wird sich ein solches Meta- und Megaparadigma sowohl in der Philosophie, als auch auf dem Boden der Wissenschaft der Auseinandersetzung mit konkurrierenden anderen allgemeinen Trendrichtungen stellen müssen. Diese Auseinandersetzung betrifft nicht nur erkenntnis-, wissenschaftstheoretische und ontologische Fragen, sondern schließt direkt oder indirekt auch weltanschauliche Konsequenzen ein. Damit ist letztlich auch die explizite Herausarbeitung und Reflexion auf die Wertvorstellungen gefordert, die einem solchen Megaparadigma immanent sind.
Whitehead, Cassirer, Piaget: Vordenker eines aktuellen Meta- und Megaparadigmas Ist nun die Annahme eines solchen Meta- und Megaparadigmas realistisch, oder muss sie als eine unerfüllbare Utopie betrachtet werden? 12
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Einleitung
Den in diesem Band versammelten, aus einer Eichstätter Tagung vom zweiten bis fünften April 2008 hervorgegangenen Beiträgen liegt als generelle Arbeitshypothese die Annahme zu Grunde, dass sich ein solches Gesamtkonzept zumindest in nuce in den Denkentwürfen von drei herausragenden Geistesgestalten des letzten Jahrhunderts abzeichnet, auf die wir im Vorangehenden bereits hingewiesen haben, nämlich bei Whitehead, Cassirer und Piaget. Diese drei Denker sind einem einheitlichen Denktypus zugehörig und ergänzen sich wechselseitig, sodass durch ihre Aufeinanderbeziehung tatsächlich die Kontur eines Megaparadigmas für die philosophische und wissenschaftliche Forschung herausspringt. Von einem »Megaparadigma« kann hier deshalb gesprochen werden, weil das aus den drei Denkansätzen herausspringende Paradigma ein umfassendes und gerade für inter- und transdisziplinäre Fragestellungen äußerst bedeutsames Interpretationspotential bereithält, das noch längst nicht ausgeschöpft ist, gerade wenn man die drei Ansätze synergetisch betrachtet. Durch die Einbeziehung dieser drei als exemplarisch zu geltenden Denker ist natürlich die Bezugnahme auf andere, verwandte Denker keineswegs ausgeschlossen, sondern geradezu gefordert. Das liegt in der Methodologie eines solchen Megaparadigmas und dem hier geforderten »transformatorischen Denken«. Whitehead, Cassirer und Piaget vermögen deshalb die Basis für ein solches Meta- und Megaparadigma abzugeben, weil sie alle drei auf ihre spezielle Weise als »transformatorische Denker« gelten können. Darunter verstehen wir Denker, die klassische Problemstellungen aus ihrem historischen Kontext gelöst und ihnen eine moderne und immer noch aktuelle Form gegeben haben. Das transformatorische Moment ist den geistigen Schöpfungen solcher Denker selbst immanent, insofern sie methodisch die Transformation von Problemen als einen unabgeschlossenen Prozess und ihre Positionen selbst als revidierbar betrachten. Als »transformatorisch« kann deshalb auch eine methodische Haltung bezeichnet werden, die der produktiv tätig werdende Interpret sowohl gegenüber den zu verstehenden und zu erklärenden Phänomenen als auch gegenüber den zu diesem Zweck von ihm herangezogenen theoretischen Positionen und Entwürfen einnimmt. Führen wir uns nun kurz das bei aller Affinität je besondere Profil dieser drei Denker vor Augen. Alfred North Whiteheads (1861–1947) philosophisches Spätwerk, insbesondere sein Hauptwerk Process and A
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Einleitung
Reality, stellt die umfassendste und kühnste Transformation platonischer und aristotelischer Metaphysik unter den Bedingungen der Moderne dar. Dabei reflektiert Whitehead insbesondere die Umbrüche in der modernen Naturwissenschaft, die von der mechanistischen Physik Newtonscher Prägung zur Relativitätstheorie und Quantenphysik, in der Biologie zur Evolutionstheorie geführt haben. Was bei dieser Transformation herausspringt, ist eine organismische Philosophie, die die Wirklichkeit unter dem Zentralbegriff der Kreativität als die evolutive Selbstverwirklichung allseits verbundener Prozesswesen begreift. Whitehead hat ein Begriffssystem geschaffen, das wie kein zweites klassisch-metaphysische Problemstellungen mit den Ergebnissen aktueller Wissenschaft verbindet, dabei aber von Whitehead selbst als revidierbar betrachtet wird. Der aus dem Neukantianismus hervorgegangene Ernst Cassirer (1874–1945) hat mit seiner Philosophie der symbolischen Formen die Umwandlung und Erweiterung der kantischen Transzendentalphilosophie zur umfassenden Kulturphilosophie vollzogen. Alle Kulturformen, von der Sprache über Kunst, Religion und Wissenschaft bis hin zu Wirtschaft und Technik, werden als spezifische Ausformungen einer einheitlichen Grundfunktion betrachtet, die konstitutiv für den Menschen ist: die Symbolbildung. Auch hier wird die Theorie aus dem Zusammendenken klassisch kantischer Fragestellungen mit den Ergebnissen der einschlägigen Wissenschaften, der Linguistik, Kunstgeschichte, Religionswissenschaft, Wissenschaftsgeschichte und so fort, entwickelt. Cassirers »Philosophie der symbolischen Formen« ist gleichzeitig ein – wenn auch in unterschiedlichem Maß – ausgeführtes Programm und ein unter den gegenwärtigen Bedingungen der Globalisierung, des Widerstreits zwischen Kulturuniversalismus und Kulturrelativismus neu aufzugreifender Frage- und Interpretationsrahmen. Der erst vor kurzem herausgegebene erste Band der Nachgelassenen Schriften und Manuskripte hat überdies gezeigt, dass Cassirers »Metaphysik des Symbolischen« durchaus mit einer Metaphysik whiteheadscher Prägung in Einklang gebracht werden kann. Der vornehmlich als Entwicklungs- und Kinderpsychologe bekannt gewordene Jean Piaget (1896–1980) verstand sich selbst als Begründer der genetischen Epistemologie, einer genetischen Theorie speziell der wissenschaftlichen Erkenntnisentwicklung. Diese sollte im Ausgang von neuzeitlichen Fragestellungen die Erkenntnistheorie in eine empirische Disziplin überführen, der die Aufgabe gestellt wurde, 14
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Einleitung
das Entstehen des Erkennens auf der Basis der kognitiven Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen zu untersuchen. Durch die Verbindung mit der Wissenschafts- und allgemeinen Ideengeschichte wurde diese Erkenntnistheorie in einen Interpretationsrahmen gestellt, in dem sich die individualgeschichtliche und die menschheitsgeschichtliche Erkenntnisentwicklung wechselseitig erhellen und ergänzen. Obwohl Empiriker, hat sich Piaget nicht zum Empirismus, sondern zum Kritischen Idealismus Kants bekannt, dessen Fragestellung er allerdings genetisch transformierte und so in der Folge das Apriori als relative, vom jeweiligen individual- und menschheitsgeschichtlichen Stand abhängige kognitive Vorgabe auffasste. Damit rückt Piaget in die Nähe des Neukantianismus und insbesondere von Cassirer, mit dem ihn frappierende theoretische Übereinstimmungen verbinden, insbesondere das systematische Rahmenkonzept eines genetischen Strukturalismus. Cassirers Philosophie der symbolischen Formen bietet jedoch ihrerseits auch ein Programm, mit dem der von Piaget entwickelte strukturgenetische Ansatz über die wissenschaftliche Erkenntnisentwicklung hinaus auf weitere menschliche und kulturelle Entwicklungsrichtungen bezogen werden kann. Somit gilt es festzuhalten: Die drei Denker vertreten eine einheitliche Wirklichkeitsauffassung, die sich in einem doppelten Sinn durch ihr kreatives Potential auszeichnet. Zum einen wird die Wirklichkeit selbst als ein kreatives Geschehen interpretiert, dessen Höhepunkt die Ausbildung menschlicher Subjektivität mit allen ihr zugehörigen Kulturformen darstellt. Zum anderen haben aber auch die Theorien dieser drei Denker ein kreatives Potential, insofern sie selbst ihre Werke nicht als etwas Abgeschlossenes, sondern als revisions- und entwicklungsfähige Ansätze begreifen. Diese drei Denker stehen überdies in einem Verhältnis der Komplementarität zueinander, weil sie bei all ihrer Einheitlichkeit in Grundfragen verschiedene Forschungsrichtungen fokussieren. Ihre Einheitlichkeit bei unterschiedlicher Schwerpunktsetzung kann man mit Hilfe der von Stegmüller und Sneed logisch rekonstruierten kuhnschen Paradigmentheorie, die von ihren Autoren ausdrücklich als strukturalistisch bezeichnet wird und in einem profunden Affinitätsverhältnis zur Erkenntnis- und Wissenschaftsauffassung unserer drei Denker steht, wie folgt auf den Begriff bringen: Bei ihnen liegt ein einheitlicher Strukturkern vor, wobei ihre jeweilige Spezifität auf unterschiedlichen Beispielsmengen und Kernerweiterungen beruht. Was damit gemeint ist, soll im Folgenden verdeutlicht werden. A
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Einleitung
Der Strukturkern des Megaparadigmas Wie schon herausgestellt wurde, vertreten die drei genannten Denker eine einheitliche Wirklichkeitsauffassung, wobei sie sich allerdings nicht des gleichen Vokabulars bedienen. Whitehead hat für seine revolutionäre Weltsicht Neologismen geschaffen, Cassirer entlehnt sein Vokabular der kantischen Tradition, und Piaget übernimmt viele seiner Grundbegriffe aus der Biologie. Die Vereinheitlichung der Terminologie ist im Hinblick auf ein alle drei Denker integrierendes Paradigma ein Desiderat. Dennoch können schon jetzt ontologische Kernaussagen formuliert werden, die den Strukturkern des sich von ihnen herleitenden Paradigmas bilden. Die wichtigsten dieser Aussagen sind in Kurzform die folgenden. Die Wirklichkeit setzt sich aus einer Vielzahl eigenständiger, jedoch innerlich miteinander verbundener Prozesswesen zusammen (Pluralismus). Ein solches Prozesswesen resultiert aus einer Genese, die von einer anfänglichen Struktur zu einer Endstruktur führt. Struktur und Genese bedingen sich wechselseitig (genetischer Strukturalismus). Entscheidendes Moment bei der Selbstverwirklichung ist die Selbstregelung (Autoregulation), die sich in Gleichgewichtsprozessen (Äquilibration) ausdrückt. Die Entwicklung sowohl der Einzelwesen als auch der Wirklichkeit insgesamt zielt auf immer höhere Stufen ab, die von den physikalischen Strukturen über die biologische Organisation bis zum menschlichen Bewusstsein führen (Evolutionismus). Eine echte Neuschaffung (Konstruktivismus) schließt die Reduktion der höheren Formen auf die niedrigeren aus (Antireduktionismus). Ein organismischer Grundzug ist schon den physikalischen Einheiten eigen (Organizismus), der im Lebendigen zum Selbstbezug und im Menschen zum vollen Selbstbesitz führt, womit eine graduell zunehmende Subjektivität die ganze Entwicklung prägt. Als Fortführung der Subjektphilosophie der Neuzeit, aber ohne deren Dualismen von Materie und Geist, Leben und Geist, Natur und Kultur vermag diese Position für ein aufgeklärtes Humanitätsideal einzutreten. Sie lässt den »Tod des Subjekts« ebenso hinter sich, wie sie die entmenschlichenden Tendenzen von Systemdenken und Dekonstruktivismus überwindet.
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Einleitung
Paradigmatische Beispielsmengen und Kernerweiterungen des Paradigmas Wie angedeutet, gehören zu einem Paradigma nicht nur ein Strukturkern, der die allgemeinen theoretischen Grundaussagen beinhaltet, sondern auch das, was man als »paradigmatische Beispielsmenge« bezeichnet. Damit sind jene Bereiche gemeint, in denen das Paradigma von Anfang an seine Anwendung fand und die somit beispielhaft sicherstellen, dass es überhaupt Gebiete gibt, in denen sich das Paradigma bewährt hat. Dem gegenüber werden unter den »Kernerweiterungen« jene Bereiche verstanden, auf denen das Paradigma zusätzlich erfolgreich vorgetragen wird, wobei es allerdings jeweils bereichsspezifisch modifiziert werden muss. Whitehead, Cassirer und Piaget haben ihre einheitliche Theorie (Strukturkern) auf der Untersuchung unterschiedlicher Bereiche gegründet, und auch innerhalb dieser Bereiche kann man Gebiete unterscheiden, die exemplarisch erforscht sind (paradigmatische Beispielsmenge) und solche, auf denen das Paradigma erst durch weitere Schritte seine Anwendung fand und neu findet (Kernerweiterungen). Summarisch präsentieren sich die spezifischen Leistungen der drei Denker wie folgt: Whitehead ist der kosmologische Denker unter den Dreien. Seine organismische Philosophie ist so angelegt, dass sie die umwälzenden Neuerungen der modernen Wissenschaft, von Physik und Evolutionstheorie, aufnehmen kann, dabei aber auch eine Bewusstseins- und Kulturtheorie einschließt und überhaupt allseitig offen ist. Cassirer kann unter den Dreien als der Kulturphilosoph betrachtet werden. Die paradigmatische Beispielsmenge für seine Philosophie der symbolischen Formen bilden die Kulturbereiche Sprache, Mythos, Wissenschaft, die er eingehend untersucht hat. Kunst und Religion hingegen finden bei ihm nicht die gleiche Berücksichtigung, und Wirtschaft und Technik, die ebenfalls zu den symbolischen Formen zählen, werden kaum behandelt. In seiner »Metaphysik des Symbolischen« versucht Cassirer im Rückgang auf den Lebensbegriff den Unterbau für seine Kulturtheorie zu liefern. Was hier anklingt, findet sich jedoch in einer besser ausgeführten Form bei Piaget und auf einer generellen Ebene bei Whitehead. Noch deutlicher tritt die Differenz zwischen paradigmatischer Beispielsmenge und Kernerweiterungen bei Piaget hervor. Piagets beA
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Einleitung
vorzugtes und ausgiebig untersuchtes Forschungsgebiet, das die Basis seiner genetischen Epistemologie abgegeben hat, ist die Entwicklung logisch-mathematischen und physikalischen Denkens. Die Anwendung seines Ansatzes auf Bereiche wie die Weltbildentwicklung, das natürliche philosophische Denken, die Entwicklung von Freiheit und die Gewissensbildung ist erst vor kurzem erfolgt und keineswegs vollumfänglich durchgeführt. Hier zeigt sich aber auch, wie fruchtbar für die Erweiterung des piagetschen Ansatzes die Einbeziehung Cassirers ist. Cassirer hat mit seinem umfassenden symboltheoretischen Ansatz nahezu alle Linien vorgezeichnet, denen eine um alle Dimensionen menschlicher Kultur erweiterte genetische Betrachtungsweise zu folgen hat. Diese Kurzbeschreibung verdeutlicht somit gerade an der Differenz von paradigmatischer Beispielsmenge und Kernerweiterungen, wie sehr die Ansätze der drei Denker in einem komplementären Verhältnis zueinander stehen. Hält man die Annahme eines solchen Meta- und Megaparadigmas für eine aussichtsreiche Generalhypothese, so stellen sich idealiter folgende Aufgaben. Generell zu überprüfen ist die Voraussetzung, dass Whitehead, Cassirer und Piaget Vertreter eines einheitlichen Denktypus sind, mit jeweils unterschiedlichen, jedoch komplementären Fokussierungen, sodass sie zusammen die Basis für ein umfassendes Megaparadima abgeben. Dazu ist in erster Linie die Konzeptualisierung eines solchen Megaparadigmas erforderlich, insbesondere seines Strukturkerns, wobei die Möglichkeit einer Vereinheitlichung der unterschiedlichen Terminologie der drei Denker zu eruieren ist. Hierher gehört auch die Klärung der Frage, ob und inwieweit ein solcher Strukturkern durch die Schnittmenge der drei Ansätze bereits gegeben ist oder eigens konstruiert werden muss. Zusammen mit der Konkretisierung der Rekonstruktionsmethode müssen auch mitlaufend die methodologischen Implikationen einer »transformatorischen Denkhaltung« geklärt werden. Im Hinblick auf die postulierten umfassenden Forschungsprogramme muss die Möglichkeit der methodologischen Umsetzung traditionell philosophischer Fragestellungen in empirische Forschungsprogramme eruiert werden. Es sind die Verbindungslinien zwischen den drei Denkern herauszuarbeiten, insbesondere die Komplementari18
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Einleitung
tätsverhältnisse, bei denen Synergieeffekte herausspringen, die sich innovativ in weiterführende Forschungsprogramme umsetzen lassen. Generell muss das Integrationspotential des Megaparadigmas im Hinblick auf die Inklusion bzw. Exklusion einzelwissenschaftlicher Paradigmen untersucht werden. Die Aktualität eines solchen Megaparadigmas hat sich bei der kritischen Sichtung seines Problemlösepotentials im Hinblick auf akute Menschheitsfragen zu erweisen, etwa unter den Stichworten: Globalisierung technologischen Denkens und Zurückdrängung traditioneller Kulturformen, Kulturuniversalismus versus Kulturrelativismus, interkulturelle Philosophie, Weltethos usw.
Zu den Beiträgen dieses Bandes Die in diesem Band versammelten Beiträge verstehen sich teils als rekonstruktive Interpretationen, teils als eigenständige Weiterentwicklungen der Ansätze von Whitehead, Cassirer und Piaget. Die Beiträge im ersten Abschnitt »Allgemeine Grundfragen« thematisieren theoretische Probleme, die mit dem Postulat eines Meta- und Megaparadigmas einhergehen. So werden ontologische Grundbegriffe eingeführt und auf die Bedingungen und Möglichkeiten entsprechender praktischer Denkvollzüge reflektiert. Dabei kommen auch wissenspragmatische und wissenschaftstheoretische Aspekte der diskutierten umfassenden Konzeption von Philosophie und Wissenschaften zur Sprache. Die Beiträge des zweiten Abschnitts »Anthropologie und Psychologie« verfahren im methodologischen Sinne des »genetischen Strukturalismus« und stellen anthropologisch und psychologisch relevante Aspekte des Megaparadigmas in kritischer Auseinandersetzung mit aktuellen Themen der philosophischen und wissenschaftlichen Forschung zur Diskussion. Damit geben die Beiträge zugleich eine auf die empirischen Bedingungen der conditio humana zugeschnittene Auslegung der Grundbegriffe des Megaparadigmas. Im Anschluss an diese Diskussionen führt der dritte Abschnitt »Kultur und Symbolisierung« die vor allem aus Cassirers Philosophieren herzuleitenden Begriffe ein, sowohl hinsichtlich der individuellen Bedingungen von Kulturleistungen als auch hinsichtlich der objektiven Strukturen von Kulturalität. Der letzte Abschnitt »Einzelwissenschaftliche Fragestellungen« gibt teils in historisch-systematisch rekonstruierenden und teils in ForschungsA
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Einleitung
berichten aus empirischen Einzeldisziplinen Einblicke in die Fruchtbarkeit und Innovationskraft des Meta- und Megaparadigmas.
Allgemeine Grundfragen Im ersten Teil des Bandes werden allgemeine Grundfragen erörtert, die vornehmlich begrifflicher Natur sind. Insofern gehören sie im klassischen Sinne dem Fragebereich der Philosophie zu. Die begrifflichen Erträge lassen sich zwar in empirisch fundierten Aussagen exemplifizieren, sind jedoch selbst nicht mehr einer im einzelwissenschaftlichen Sinne empirischen Revision fähig. Fetz arbeitet in seinem Beitrag »Subjekt, Prozess, Struktur. Zur ontologischen Konturierung des anvisierten Megaparadigmas« die fundamentalen Gemeinsamkeiten heraus, die sich in der Wirklichkeitsauffassung von Whitehead, Cassirer und Piaget finden. Ziel ist, den Strukturkern des Megaparadigmas unter seinem ontologischen Aspekt zu eruieren. Er zeigt, wie alle drei Denker von einem Gesamtkonzept ausgehen, in dem ein holistischer und organismischer Strukturbegriff innerlich mit einem Prozessdenken verbunden wird, so dass es keine Struktur ohne Genese, aber auch keine Genese ohne Struktur geben kann, was Piaget auf den Begriff des genetischen Strukturalismus gebracht hat. Kreative Selbstverwirklichung durch konstruktive Formgestaltung wird so zum umfassenden Grundzug des Wirkend-Wirklichen, das in seiner Entwicklung von den physikalischen Einheiten über die lebenden Organismen bis hin zu menschlichem Bewusstsein zugleich durch eine graduell zunehmende Subjektivität gekennzeichnet ist. Im seinem Beitrag »Systematische Implikationen des Begriffs des transformatorischen Denkens« wendet sich Ullrich methodologischen Fragen der begrifflichen Genese desjenigen philosophischen Denkens zu, das im Abzielen auf ein Megaparadigma impliziert ist. Im Kontext des gemeinsamen systematischen Anspruchs der unterschiedlichen methodischen Ansätze von Whitehead und Cassirer stellt er in diesem Sinne auf die Denkmittel ab, die sich in ihrer Zweckhaftigkeit als auf Wertfragen verweisende Gebilde erweisen. Als solche sind sie im Zusammenhang des umfassenden philosophischen Lebensbegriffs zu sehen, dessen Binnenstruktur mit Bezug auf Whiteheads ›Theorie der Prehensionen‹ und Cassirers ›Metaphysik des Symbolischen‹ dar20
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gestellt wird, wobei der zuvor hypothetisch eingeführte Begriff der Transformation systematisch fundiert wird. Im Anschluss daran werden die Mittel des transformatorischen Denkens ausgehend von Kant als ›Reflexionsbegriffe‹ eingeführt und anhand von Whiteheads grundlegenden Ausführungen zum ›subjektivistischen Prinzip‹ der Prozessphilosophie entwickelt. Es zeigt sich, dass die Frage nach Gründen notwendig die Anerkennung von Werten fordert. Sander stellt in seinem wissenstheoretischen Beitrag »Die Relativität systematischer Kreativität. Ein Ort des Wissens im Zeichen der Pluralität von Wissensformen« im Anschluss an das Philosophieverständnis von Whitehead die Theologie als eine Wissensform der Machtbegrenzung heraus, insofern diese die Menschenrechte als unverzichtbar für ihre Aussagen ansehen muss. Er zeigt, dass der Prozess der Begegnung von Wissensformen als Relativierung zu beschrieben ist, wodurch Kreativität zum Ausdruck kommt, die sich als dynamisches Verhältnis von Neuem zur Alterität beschreiben lässt. Eine Vernetzung von Wissensformen ist aber alles andere als selbstverständlich. Ohne Alterität und ohne Pluralität schließen sich jedoch Wissensformen gegeneinander ab, was bis zu dem Punkt gehen kann, dass sie ideologisch werden. Wissen erweist sich dann als eine Form von Macht und zugleich gehört es zu den Technologien der Macht, Wissen einzusetzen. Demgegenüber sind Heterotopien anzuerkennen, die Diskurse zu relativieren vermögen und so zu elementar veränderten Perspektiven führen können. Anhalt geht von einer Konturierung des Kontrastes zwischen Wissensformen des Alltags und wissenschaftlicher Wissensformen aus. In seinem Beitrag »›Haltepunkte‹. Zur Funktion der Problemgenerierung bei Whitehead, Cassirer, Piaget und in der Erziehungswissenschaft« stellt er fest, dass der wissenschaftliche Erkenntnisfortschritt nur dort stattfinden kann, wo Problemstellungen im Ausgang von einer Neufassung vorliegender Lösungsansätze kreiert werden, um auf etwas aufmerksam zu machen, was zuvor noch nicht bedacht wurde und die Orientierung an Alternativen einer methodischen Kontrolle zu unterziehen. In einem historischen Ausblick auf Johann Friedrich Herbart zeigt er am Beispiel der Erziehungswissenschaft den Wert des metaparadigmatischen Ansatzes auf. Im Anschluss an Whitehead, Cassirer und Piaget ist eine wissenschaftliche Theorie nicht als ein fertiges System zu verstehen, sondern primär als eine Methode. Dabei erfährt
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auch der Begriff des transformatorischen Denkens eine wissenschaftstheoretische Auslegung.
Anthropologie und Psychologie Der zweite Teil des Bandes bringt eine Reihe Abhandlungen, die sich den Grundfragen der Anthropologie und Psychologie zuwenden. Insbesondere Jean Piagets Denkentwurf erweist sich als fruchtbarer Ausgangspunkt, um empirische Aspekte grundlegender philosophischer Fragestellungen im Rahmen eines umfassenden Ansatzes verständlich und erklärbar zu machen. Zunächst steht in Neuhäusers Beitrag »Jean Piagets konstruktivistischer Realismus« die Alternative gemäßigter versus radikaler Konstruktivismus zur Debatte. Für Piaget sind kognitive Funktionen Teil der Natur und durch diese Herkunft geprägt. Dieser Naturalismus und seine Theorie der stufenweisen Konstruktion kognitiver Strukturen haben dazu geführt, dass er von einigen Autoren als ›radikaler Konstruktivist‹ eingeschätzt wurde. Der Aufsatz bestreitet diese Einschätzung. Zwar enthält Piagets Erkenntnistheorie konstruktivistische Konzepte, radikal konstruktivistisch ist sie jedoch nicht. Vielmehr wird sie von realistischen Annahmen fundiert. Erkenntnisse haben für Piaget neben der assimilativen immer eine akkommodative Seite, mit der sie sich der Beschaffenheit ihrer Gegenstände anpassen. Piaget verbindet den Konstruktivismus mit dem Realismus und übersteigt gleichzeitig diese Alternative, indem er einen wissenschaftlich fundierten konstruktiven Realismus entwickelt. Auf dieser paradigmatischen Grundlage wendet sich der Beitrag »Whiteheads und Piagets Bewusstseinskonzept« von Riffert der Frage nach dem Bewusstsein als einem zentralen Thema der Philosophie, der Psychologie und der Neurowissenschaften zu. Whitehead entwirft ein neues Paradigma, das allen Grundelementen der Wirklichkeit eine subjektive Komponente zuschreibt. Die spezielle subjektive Empfindungsform des bewussten Erlebens entsteht durch zunehmende Komplexität und damit einhergehender innerer Differenzierung der aktualen Entitäten. Im Anschluss an Whitehead und in einem erhellenden Vergleich mit Piaget, der vielversprechende Ansätze für empirische Forschungen ans Licht bringt, entwickelt der Beitrag sechs grundlegende Thesen: (1) Es existiert der Primat der Erfahrung vor dem Bewusstsein; 22
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(2) Bewusstsein besteht nicht in einem bloßen Erhellen, welches das, was erhellt wird, unverändert ließe; (3) Bewusstsein setzt die Bildung von Propositionen d. h. von Symbolen voraus; (4) Bewusstsein entsteht im Empfinden eines sogenannten Affirmation-Negation-Kontrasts; (5) es gibt vielfältige Abstufungsgrade von Bewusstsein; (6) Bewusstwerdung hat die Funktion, die Intensität des ästhetischen Erlebens zu vergrößern. Seidenfuß wendet sich den im Horizont des Megaparadigmas zu Tage tretenden, fruchtbaren Implikationen des piagetschen Ansatzes zu, die von dessen Autor selbst nicht voll entwickelt wurden. Seinem Beitrag »Eine strukturgenetische Theorie der Willensfreiheit« liegt die Behauptung zugrunde, dass der strukturgenetische Ansatz im Kern eine Theorie der Freiheit ist. Für Piaget findet sich der Mensch nicht einfach fertig vor und ist er auch niemals fertig, sondern verdankt sich einem Aufbauprozess, den er selbst trägt und steuert: Freiheit ist ihm sein wichtigstes Regulations- und Strukturationsprinzip. Im Gegensatz zu den Extrempositionen eines ungenetischen Strukturalismus ohne »Subjekt« und eines Genetismus ohne Struktur steht hier der Begriff der Strukturation im Mittelpunkt. Begreift man Freiheit als die Höchstform von Regulation und Strukturation, entwickelt sich eine so verstandene Freiheit in zwei Richtungen: nach innen als Aneignung des eigenen Gewordenseins und nach außen als Ausgreifen über das Tatsächliche auf das Mögliche. Das Vermögen der Freiheit im Menschen setzt ein mit der Ausbildung der Urheberschaft im sensomotorischen Stadium und steigt dann über die Stufen des voroperatorischen, des konkretoperatorischen und des formalen Denkens auf. Autonomie ist nicht der terminus a quo, sondern der terminus ad quem der Freiheitsentwicklung. Kesselring wendet sich in seinem Beitrag »Die Rationalität der Emotionen. Eine Ergänzung zu Piagets Theorie« der emotionalen bzw. affektiven Seite der menschlichen Entwicklung zu. Diese wurde von Piaget zwar wenig untersucht, obwohl sich für deren Erforschung im Lichte des Megaparadigmas gerade sein psychologischer Ansatz als unerwartet ergiebig erweist. Das zentrale Augenmerk gilt der Rolle der Emotionen im sozialen Leben: Wir kommunizieren mit Hilfe unserer Gefühle. Empfindungen sind unmittelbar an körperliche Zustände gebunden. Gefühle kennzeichnen zwar ebenso wie die unmittelbar gebundenen Empfindungen körperliche Zustände, jedoch weisen sie einen kognitiven Gehalt auf: Sie enthalten einen proto-propositionalen A
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Kern, d. h. sie enthalten unausdrücklich ein Urteil, was ihre Rationalität ausmacht. Seiner piagetschen Programmatik folgend beschreibt der Aufsatz mit Piaget die kognitive Entwicklung als Dezentrierungsprozess. Dabei wird auch das im Zusammenhang mit der sozialen Funktion der Emotionen virulent werdende Problem der moralischen Zustimmung diskutiert.
Kultur und Symbolisierung Der Zusammenhang zwischen den anthropologischen und psychologischen Bedingungen des Lebens und Denkens und der einzelwissenschaftlichen Anwendung spezifischer Methoden ist ein kulturelles Phänomen. Deshalb werden im dritten Teil des Bandes Zusammenhänge erörtert, die sich in den Fragestellungen zu »Kultur und Symbolisierung« ergeben. Der Beitrag von Oerter stellt dabei zugleich ein Bindeglied zwischen den anthropologischen und psychologischen Erwägungen des zweiten Teils des Bandes und den im Anschluss folgenden speziell symbol- und medientheoretisch ausgerichteten Beiträgen her. Die Ausführungen seines Aufsatzes basieren auf den Überlegungen von Piaget und Whitehead. Der Kulturbegriff wird unter drei Aspekten eingeführt: (a) Kultur umfasst die Gesamtheit der erlernten Bedeutungen, die in einer Population weit verbreitet sind; (b) sie bewerkstelligt, dass Werthaltungen und soziales Verständnis (mehr oder minder) von allen geteilt werden und (c) sie führt zu Verhaltensmustern, die diese gemeinsamen Wertüberzeugungen widerspiegeln. Kulturelle Gegenstände besitzen so eine Handlungsstruktur. Das Regulationsprinzip zwischen Subjekt und Kultur ist Isomorphie. Beispiele für den Aufbau individueller isomorpher Handlungsbezüge finden sich in der Mathematik und Musik, in denen objektive Strukturen definiert sind, die unabhängig vom konkreten individuellen Wissen existieren. Isomorphie der Handlungsstruktur als wechselseitiger Regulationsprozess zwischen Individuum und Kultur ist für Homo sapiens überlebensnotwendig, aber dieser Prozess wird fortlaufend begleitet durch die Generierung abweichender Strukturen, die das Spannungsverhältnis von Individuum und Kultur ausmachen. Bermes nimmt in seinem Beitrag »Struktur als Prinzip und Tatsache. Zur Methodologie der Kulturwissenschaften« das Problem der 24
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kulturellen Symbolisierung unter dem Begriff der Struktur in den Blick. Unter dem Namen der Struktur geht es nicht einfach um ein sachliches, sondern um ein praktisches Problem, nämlich die Frage nach dem Menschen. Zunächst thematisiert Bermes das Verhältnis von Gestalt, Struktur und Sinn, indem er die Begriffe Prinzip und Tatsache einführt. Mit Merleau-Ponty wird »Gestalt« als Bedeutung begriffen. Auch Cassirer sieht Strukturen als Prägungen zum Sein. Die Gestalt als Tatsache des Sinns entfaltet sich in Strukturen als Prinzipien des Sinns. Als paradigmatisches Beispiel fungiert der Feldbegriff der Physik. Das Feld existiert nicht als Gegenstand, es entsteht durch einen konstruktiven Blick auf die Interaktionen und Bezüge möglicher Gegenstände, bezeichnet folglich die Organisation von Sinnrelationen, deren Knotenpunkte gleichsam als Platzhalter für Dinge und Gegenstände angesehen werden können. Aber eine Kulturwissenschaft läuft leer, wenn sie den Aspekt der Struktur als Gewissheit übergeht. Bei Gewissheiten als Organisationsprinzipien handelt es sich um materiale Überzeugungen. Strukturen erweisen sich als Ordnungsprinzipien der Kultur: Sie gliedern die Kultur nach Dimensionen des Sinns. Entsprechend besteht Kultur aus Überzeugungen, die wir nicht als propositionales Wissen objektiveren können, sondern als nicht-propositionales Wissen in unserem Handeln und Tun zum Ausdruck bringen. Das bedeutet aber: Wer versucht, die Kultur zur Sprache zu bringen, kommt am Ende nicht einfach zu einem sich selbst tragenden Wissen, sondern zu einer Überzeugung, die auf Anerkennung gründet. Orth begreift in seinem Beitrag »Einige ontologische Implikationen in Cassirers Konzeption der symbolischen Formung« in kulturtheoretischem Interesse Kultur als einen medialen Prozess. Insofern lassen sich alle menschlichen Gesellschaften als Mediengesellschaften beschreiben. Mit Cassirer lässt sich ›Medium‹ definieren als das für Kultur konstitutive Verkörpertsein von Sinn an und in einem Physischen. Im Hinblick auf den in ontologischen Strukturen zum Ausdruck kommenden Sinn erweist sich der menschliche Geist als konstitutiv: »die Welt hat für uns die Gestalt, die der Geist ihr gibt« (Cassirer). Sinnlich-Substrathaftes in einer so oder so bedeutsamen Funktion – das ist Medialität. Für Cassirer ist der Mensch selbst eine mediale Wirklichkeit und gibt das Musterbild dieses Strukturverhaltes ab. Bei den modernen Medien wird allerdings die Seite des Substrathaften gegenüber der Seite des Sinnes überakzentuiert. Medien werden mit Blick auf ihr automatisches Funktionieren ausgelegt. Demgegenüber A
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weist der Beitrag darauf hin, dass Medien lesbar sein und bleiben müssen, also nicht nur oder gar ausschließlich automatisch wirken dürfen. Die sogenannten virtuellen Welten, die heutzutage der Computer generiert, sind zwar für technische Modellbildungen von höchstem Nutzen, aber sie sind keine Leseleistungen. Die technisch sozusagen fertig gemachte Virtualität muss vielmehr in erneuten Leseakten immer wieder gelesen werden, um den freien Raum der Bedeutsamkeit allererst zu eröffnen; denn der Sinn aller Medialität ist, sich geistig etwas vorschweben lassen zu können, die Wirklichkeit und sich selbst als Möglichkeit zu erfahren. Die Möglichkeit einer theoretischen Fundierung der kulturtheoretischen Überlegungen im Lichte des Megaparadigmas skizziert Franz in seinem Beitrag »Symbolisierung und Realität – ein Vergleich zwischen Whitehead und Cassirer«. Cassirers Konzept eines ›symbolischen Idealismus‹ und Whiteheads Konzept einer Überwindung aller Dualismen betreffen nicht zuletzt auch den der Trennung von Natur (automatisches Funktionieren) und Kultur (Sinn). Whiteheads Symbolkonzeption ist eingebunden in die realistische Erkenntnistheorie seiner Prozessmetaphysik. Dass Whitehead wie Cassirer unter Metaphysik nicht die traditionelle Substanzontologie im Blick haben, ist ex negativo die gemeinsame Ausgangsbasis beider Konzeptionen. Im Kontrast der beiden Ansätze wird die Bedeutung des Symbolischen für die Erkenntnis der Realität, die nach Whitehead stets im Prozess ist, herausgearbeitet.
Einzelwissenschaftliche Fragestellungen Der vierte Teil des Bandes vereinigt Aufsätze, in denen die Fruchtbarkeit des Megaparadigmas in einzelwissenschaftlichen Anwendungen aufgezeigt wird. Die Beiträge greifen dabei unterschiedliche Aspekte heraus und exemplifizieren diese teilweise in historischen Erörterungen, teilweise aber auch an der Darstellung aktueller Forschungsansätze. Gernot und Renate Falkner haben als Biologen ein Forschungsprogramm entwickelt, das auf Annahmen des Megaparadigmas basiert und das Gernot Falkner in seinem Beitrag »Die Relevanz der Philosophie von Alfred North Whitehead für ein tieferes Verständnis physiologischer Vorgänge« beschreibt. Paradigmatisch wird das am kommunika26
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tiven Wechselspiel zwischen interpretierenden und interpretierbaren Manifestationen bei der physiologischen Anpassung von Cyanobakterien erörtert. Falkner zeigt, dass bei diesen Mikroorganismen die Erfahrung von Phosphatfluktuationen aus einem Nexus von adaptiven Ereignissen besteht, die als Entstehungseinheiten charakteristische Züge der whiteheadschen aktualen Ereignisse tragen. Eine Verallgemeinerung auf das adaptive Zusammenspiel aller Energie konvertierenden Subsysteme führt zu einem dynamischen Bild zellulärer Informationsverarbeitung, bei der adaptive Ereignisse als Elemente eines kommunikativen Netzwerks fungieren, in dem in einer ›geschichtlichen‹ Abfolge von alternierenden adaptierten Zuständen und adaptiven Operationsmodi ein Organismus sich in jedem adaptiven Ereignis von neuem hervorbringt. Eine experimentelle Überprüfung dieses Postulats erfordert eine Forschungsstrategie, die in entscheidenden Punkten von Versuchsprotokollen der traditionellen Physiologie abweicht. Sie muss die Nicht-Objektivierbarkeit adaptiver Operationsmodi berücksichtigen, weil sich hier die Organismen an die jeweiligen experimentellen Bedingungen anpassen und daher ein Experimentator Teil der organismischen Antwort auf die im Experiment verwendeten Bedingungen wird. Diese Forschungsstrategie liefert bei niedrigen Lebensformen Einblicke in die Existenz eines zellulären Gedächtnisses für Umweltänderungen. Sie offenbart darüber hinaus, wie die Interaktion von Einzellern mit ihrer Umwelt auf die Hervorbringung erkennbarer Muster ausgerichtet ist, von denen die nachfolgenden Anpassungsprozesse in distinkter und antizipatorischer Weise beeinflusst werden. Der Soziologe Schwinn wendet sich in seinem Beitrag »Whiteheads Bedeutung für die Entwicklung der soziologischen Systemtheorie« wiederum historisch-systematischen Fragestellungen seines Faches und dabei dem Systembegriff des amerikanischen Soziologen Talcott Parsons zu. Parsons übernahm den Grundriss seiner Theorie aus der Philosophie von Whitehead. Das über Thomas Hobbes eingeführte Ordnungstheorem als Problemformel der Soziologie wird in Parsons’ Werk entsprechend rekonstruiert. In den klassischen politischen und ökonomischen Theorietraditionen war das Subjekt das Letztelement der Theorie und Ordnung das mehr oder weniger problematische Resultat der Auseinandersetzungen der Individuen. Das organismische Denken ermöglichte es Parsons, Sozialtheorie auf radikal neue Weise zu denken, indem er in soziologischen Kontexten den Handlungsbegriff vom Subjektbegriff löste. Der Aktor ist selbst ein A
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emergenter Ordnungstypus des Handelns, der einen spezifischen Relationsmodus aufweist. Für Parsons war aber das Ordnungsproblem von Beginn an nicht auf das Problem der sozialen Ordnung begrenzt. Er transformierte die traditionelle Individuum-Ordnungs-Dichotomie durch eine radikale Steigerung des sozialtheoretischen Auflösungsvermögens. Parsons analytische Strategie zerlegt das Handlungssubjekt und lässt es aus der sozialen Ordnung entstehen. Der theoretische Bezugsrahmen ist so angelegt, dass Handlungen nicht vom verstehenden Subjekt her entwickelt werden, wie etwa bei Max Weber, sondern von vornherein als in soziale Systeme eingebettet verstanden werden. Das System ist der Konstrukteur der Handlung. Der organismisch verfassten Wirklichkeit lässt sich nur mit einem korrespondierenden System analytischer Elemente beikommen. Jede Einheit, von der wir ausgehen, lässt sich weiter dekomponieren, insofern sie sich aus den Beziehungen zur nächst höheren Einheit bestimmen lässt. Die Makroperspektive auf ein Handlungssystem und die Mikroperspektive auf eine einzelne Handlung sind ineinander übersetzbar. Mit ein und demselben Schema lassen sich die Wirkungsbeziehungen und Zusammenhänge über alle nur denkbaren Aggregationsstufen erfassen. Der Landschaftsarchitekt Prominski erörtert in seinem Beitrag »Die Relevanz von Prozess-, Struktur- und Subjektdenken für die Gestaltung der räumlichen Umwelt«. Die Umweltgestaltung baut in Deutschland auf Jahrzehnte alten Paradigmen auf, die durch eine scharfe, dualistische Trennung zwischen Natur und Kultur (oder Objekt und Subjekt) bestimmt sind. Beispielsweise trennt das Baugesetz zwischen besiedeltem und unbesiedeltem Raum und weist der Gestaltung in diesen beiden Bereichen völlig unterschiedliche Kriterien zu. Oder das Naturschutzgesetz gibt der Natur aus physiozentrischer Perspektive einen Eigenwert, was dazu führt, dass kulturelle Tätigkeiten, Handlungen des Menschen als negative Eingriffe gewertet werden. Diese Paradigmen haben zudem statischen Charakter, da sie ihre Bewertungen immer an einem Status Quo als Vorbild orientieren, den es möglichst zu bewahren gilt. Diese alten Paradigmen führen zu funktionalen Fehlentwicklungen und ästhetisch fragwürdigen Ergebnissen. An den zwei Themen Landschaft und Ökologie, die für die Gestaltung der räumlichen Umwelt eine große Rolle spielen, wird die Problematik der alten Paradigmen gezeigt und anschließend ein neues Paradigma skizziert, das Struktur, Prozess und ein reformiertes subjektivistisches Prinzip in den Mittelpunkt rückt. Dieses auf Whitehead, Cassirer und Piaget 28
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aufbauende Megaparadigma leistet eine bisher fehlende theoretische Fundierung für eine sinnvollere, nachhaltigere Praxis der Umweltgestaltung, was an innovativen Beispielen aus der aktuellen Landschaftsarchitektur gezeigt wird. Der Tagung, aus der die hier versammelten Beiträge hervorgegangen sind, lag der Leitgedanke zugrunde, dass sich bei Whitehead, Cassirer und Piaget ein für Philosophie und Wissenschaft gleichermaßen fruchtbares, einheitliches Meta- und Megaparadigma abzeichnet, dessen interdisziplinäres Leistungspotential noch längst nicht ausgeschöpft ist. Hat sich diese generelle Arbeitshypothese bestätigt? Gewiss kann auf der Basis der hier dokumentierten Tagungsergebnisse nur eine vorläufige Bilanz gezogen werden. Aber verschiedene positive Resultate können bereits verbucht werden. Schon der Umstand, dass unter Vertretern verschiedener Disziplinen und Forschungsrichtungen ein gutes, sachbezogenes Gespräch zustande kam, kann als ein Zeichen dafür gewertet werden, dass die Teilnehmer sich mit Whitehead, Cassirer und Piaget auf einer gemeinsamen Verständigungsbasis bewegt haben, womit die Idee eines übergreifenden Meta- und Megaparadigma bereits eine erste Bewährung gefunden hat. Inhaltlich gesehen zeichnen sich die verschiedenen Beiträge bei all ihrer Vielfalt und je besonderen Akzentsetzung durch eine Kohärenz im Grundsätzlichen aus, die für die Einheitlichkeit des anvisierten Meta- und Megaparadigmas spricht. Die hier präsentierten vergleichenden Rekonstruktionen von Theorieelementen der drei Autoren weisen diese überzeugend als verwandte Denker aus. Als besonders positiv ist schließlich zu vermerken, dass gleich mehrere der Beiträge auf der Basis des hier vorgetragenen Megaparadigmas neue Bereiche und Entwicklungslinien erschlossen und damit seine Fruchtbarkeit unter Beweis gestellt haben. Whitehead hat von der Geistesgeschichte als einem »Abenteuer der Ideen« gesprochen und die Wissenschaftsentwicklung als ein »Abenteuer der Hoffnung« gesehen. Einiges spricht dafür, dass mit der hier versuchten Explorierung des intendierten Meta- und Megaparadigmas ein neuer gemeinsamer Abschnitt in der Wirkungsgeschichte von Whitehead, Cassirer und Piaget begonnen haben könnte.
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Subjekt, Prozess, Struktur. Zur ontologischen Konturierung des anvisierten Megaparadigmas Reto Luzius Fetz
Unserer Tagung liegt die Annahme zugrunde, dass sich bei Whitehead, Cassirer und Piaget ein übergreifendes Megaparadigma für Philosophie und Wissenschaft finden lässt. Um dem von Kuhn historisch aufgewiesenen Paradigmenbegriff einen präzisen wissenschaftstheoretischen Sinn zu geben, möchte ich die logische Rekonstruktion der Paradigmentheorie durch Sneed und Stegmüller (1985) heranziehen, die als sogenannter Non-Statement View bekannt wurde. Diese von Stegmüller (1979, 752) ausdrücklich als »strukturalistisch« bezeichnete Rekonstruktion entspricht ziemlich genau der Auffassung von Philosophie und Wissenschaft, wie Whitehead und Piaget sie in einer rudimentäreren Form vertreten haben. Auch die Erkenntnisentwicklung im Sinne von Piaget lässt sich mit ihr präziser verstehen, worauf hier nur hingewiesen werden kann (vgl. Fetz 1980). Gemäß dem Non-Statement View besteht eine Theorie aus zwei Komponenten, dem sogenannten Strukturkern einerseits und seinen verschiedenen bereichsspezifischen Anwendungen andererseits, die durch sogenannte Kernerweiterungen möglich werden. Zum Strukturkern gehören die mathematischen Grundgesetze sowie die Grundbegriffe einer Theorie. Für unsere Zwecke möchte ich für den Strukturkern eine Unterscheidung von Kuhn (1970, 206 f.) übernehmen, der bei einem Paradigma generell zwischen dem instrumentalen und dem ontologischen Aspekt differenziert. Zum instrumentalen Aspekt gehören die logisch- mathematischen Formalismen, die eine Theorie benützt. Der ontologische Aspekt hingegen besteht in der Wirklichkeitsauffassung, die explizit oder implizit einer Theorie zugrunde liegt. Im Folgenden möchte ich mich mit dem ontologischen Aspekt des Strukturkerns des anvisierten Megaparadigmas befassen. Dazu muss zuerst geklärt werden, was unter »Ontologie« und »ontologisch« verstanden werden soll.
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Vorverständigung über den Ontologiebegriff Dem Wort »Ontologie« gebe ich seine aus der Geschichte resultierende Doppelbedeutung: »Ontologie« meint sowohl eine Lehre vom Seienden, von dem, was ist, als auch eine Lehre von den Seinsaussagen, insbesondere von den in ihnen verwendeten Kategorien. Die anspruchsvolle Bedeutung von Ontologie im ersten Sinn, als Seinslehre, lässt sich nicht realisieren ohne die Einlösung der zweiten Bedeutung, von Ontologie als Kategorialanalyse. Letztere ist die bescheidenere Form und liegt in jedem Fall innerhalb der Grenzen unserer Reflexion, wie Kant mit seiner »Analytik der Verstandesbegriffe« gezeigt hat. In dem Zusammenhang möchte ich auch zwischen einer impliziten und einer expliziten Ontologie unterscheiden. Eine implizite Ontologie im Sinne der Ontological commitments von Quine liegt immer schon vor, wenn wir in alltagsprachlicher oder wissenschaftlicher Form über die Wirklichkeit sprechen. Diese implizite Ontologie ist uns allerdings nicht bewusst, und um sie uns bewusst zu machen, bedarf es einer Reflexion, die die implizit gemachten Existenzaussagen und die dabei verwendeten Kategorien eigens herausarbeitet. Damit kommt es zu einer expliziten Ontologie. Ein frühes Beispiel dafür ist die Kategorienschrift des Aristoteles. Eine solche explizite Ontologie hat eine kritische Funktion, geht es doch auch darum, die Adäquatheit solcher Kategorien für verschiedene Anwendungsbereiche zu überprüfen. Auf der Linie einer solchen kritischen Ontologie kann es dann zu einer rekonstruktiven Ontologie kommen, die inadäquate oder unangemessen verwendete Kategorien bewusst zu korrigieren oder durch neu konstruierte zu ersetzen versucht, um so zu einer adäquateren Wirklichkeitsauslegung zu kommen. Das herausragendste Beispiel einer solchen rekonstruktiven Ontologie hat im 20. Jahrhundert gerade einer der uns hier angehenden Denker gegeben, nämlich Whitehead mit seiner »Kritik der Abstraktionen«.
Zur Vorgehensweise Eine weitere Frage betrifft das Vorgehen. Wir wollen klären, ob und in welcher Ausarbeitung sich bei unseren drei Denkern ein gemeinsamer ontologischer Strukturkern finden lässt. Unter den Dreien hat vor allem Whitehead (1985, 18–30) mit seinem Categoreal Scheme ontoloA
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gische Prinzipien und Kategorien vorgelegt, die die Funktion eines ontologischen Strukturkerns erfüllen. Aber das whiteheadsche »kategoriale Schema« lässt sich nicht tale quale übernehmen, wenn wir nicht orthodoxe Whiteheadianer werden wollen. Whitehead hat ein monadisches System konstruiert, basierend auf der spekulativen Annahme letzter mikrokosmischer Prozesseinheiten, den sogenannten actual entities oder actual occasions. Diese liegen noch unterhalb der kleinsten bekannten physikalischen Einheiten, was zur Folge hat, dass Whitehead alle physikalischen Entitäten, alle Lebewesen und auch den Menschen als eine Vielzahl von »Gesellschaften« solcher actual entities interpretieren muss. Das entspricht weder unserem Alltagsverständnis, noch der in Philosophie und Wissenschaft üblichen Auffassung, auch nicht jener unserer beiden anderen Denker, Cassirer und Piaget. Deswegen gehe ich hier bewusst nicht von der whiteheadschen Monadologie aus, womit ich mich unter die nichtorthodoxen Whiteheadianer einreihe. Whitehead hat überdies Neologismen geschaffen, die einen weitgehend esoterischen Charakter haben. Soll das anvisierte Megaparadigma allgemein akzeptabel sein, muss auch die Terminologie einen breiten Akzeptanzwert aufweisen und nach allen Seiten hin anschlussfähig sein. Trotz dieser Einschränkungen gilt aber, dass Whiteheads »kategoriales Schema« die reichhaltigste und tiefgründigste Fundstelle für die prinzipielle Aufarbeitung eines solchen ontologischen Strukturkerns ist. Für Cassirer und Piaget wird man das Gleiche nur in einem reduzierten Maß sagen können. Bei Cassirer finden sich überall zerstreut Momente einer Ontologie, meist in historische Analysen eingebettet. Am explizitesten wird Cassirer vor allem dort, wo es um generelle Fragen der Formwerdung, von Struktur und Genese geht, sowie in seinem Nachlass, wo er eine »Metaphysik des Symbolischen« entworfen und eine »Theorie der Basisphänomene« vorgelegt hat (Cassirer 1995). Bei Piaget steht es ähnlich. Am ausführlichsten wird er in ontologischer Hinsicht dort, wo er generell seinen Ansatz reflektiert und als »genetischen Strukturalismus« beziehungsweise »Konstruktivismus« bestimmt (dazu generell Fetz 1988). Um den ontologischen Aspekt des anvisierten Megaparadigmas zu konturieren, muss gewissermaßen die Schnittmenge der sich bei den drei Denkern findenden Ontologien eruiert werden. Ich versuche das in zwei Schritten. Zunächst beginne ich mit einer ontologischen Kurzbeschreibung des Megaparadigmas, d. h. mit einer Gesamtpräsentation, 34
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Subjekt, Prozess, Struktur
die gleichsam eine erste Skizze der hier involvierten Wirklichkeitsauffassung bietet. Dann werde ich nacheinander drei Aspekte herausheben, die nicht bloß das Megaparadigma profilieren, sondern für das hier analysierte Denken konstitutiv sind. Diese drei Aspekte, die man nicht in der Sache trennen, aber getrennt beschreiben kann, sind das Subjektdenken, das Prozessdenken und das Strukturdenken. Zusammen machen sie in ontologischer Hinsicht die Einheit des Strukturkerns aus.
Kurzbeschreibung des Megaparadigmas unter dem ontologischen Aspekt Die fundamentale Existenz- und Kategorialaussage könnte etwa wie folgt lauten: Die Wirklichkeit besteht aus einer Vielheit von organismischen Prozesseinheiten mit graduell zunehmender Subjektivität. Damit sind ineins ein Pluralismus, ein Organizismus, ein Prozessdenken und ein Subjektdenken behauptet. Diese Prozesseinheiten sind eigenständige Wesen, die jedoch innerlich miteinander verbunden sind, durch interne Relationen, womit der Relationismus als weiterer Wesenszug hinzukommt. Als Prozesseinheiten sind sie selbstschöpferisch; Kreativität ist ein Grundzug der Wirklichkeit. Die Prozesseinheiten sind ebenso Träger und Ausgangspunkt wie Zielpunkt und Resultat ihrer Prozesse. Die für sie konstitutiven Prozesse integrieren Außenelemente, sind aber letztlich von innen, von der sich konstituierenden Prozesseinheit selbst bestimmt. Die Selbstverwirklichung beruht auf einer Selbstregelung, einer Autoregulation, die sich vor allem in Gleichgewichtsprozessen ausdrückt. Ihre Einheit verdanken diese Prozesswesen der sie prägenden Gesamtstruktur; Substrukturen sind für die Teileinheiten bestimmend, aus denen sich ein solches Wesen zusammensetzt. Der Strukturbegriff ist dabei nicht beliebig gefasst, sondern holistisch und organismisch konzipiert. Strukturen sind darum qualitativ mehr als mechanistische Systeme oder Aggregate. Aufgrund des Prozesscharakters sind Strukturen aber auch keine statischen Größen, sondern haben ihren Werdegang, ihre Genese. Struktur und Genese bedingen einander: Es gibt keine Genese, die nicht von einer anfänglichen Struktur als ihrem terminus a quo ausgeht und von ihr getragen ist, und es gibt keine Struktur, die nicht der terminus ad quem einer Genese wäre. Ein solcher A
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genetischer Strukturalismus ist von Piaget (1974a, 138) ausdrücklich proklamiert worden; frappante Übereinstimmungen finden sich aber auch bei Cassirer (vgl. Fetz 2008) Insgesamt kennt die Wirklichkeit eine Höherentwicklung (Evolutionismus), und zwar sowohl was die Individualentwicklung (Ontogenese) als auch die Gesamtentwicklung der Gattungen (Phylogenese) anbelangt. Diese Höherentwicklung kann als eine Filiation von Strukturen beschrieben werden. Auf Wesen mit rein physikalischen Strukturen folgen solche mit biologischen Strukturen, und aus diesen gehen Wesen mit kognitiven Strukturen hervor, die ihren Höhepunkt im menschlichen Bewusstsein finden. Die nachfolgenden Strukturen zeichnen sich den vorhergehenden gegenüber durch echte Neuerungen aus und sind darum nicht auf diese reduzierbar (Antireduktionismus). Die Höherentwicklung – sowohl in den Einzelwesen als auch in der Natur- und Kulturwirklichkeit insgesamt – beruht somit auf einer echten Neuschaffung. Auf der kognitiven Ebene ist dafür von Cassirer und Piaget der Ausdruck »Konstruktivismus« verwandt worden. Der organismische Charakter, der auf anfängliche Weise schon den physikalischen Einheiten eigen ist, verstärkt sich bei dieser Höherentwicklung immer mehr. Bei den Lebewesen, den eigentlichen Organismen, tritt der Selbstbezug hinzu. Dieser wird im Menschen durch Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung zum vollen Selbstbesitz. Die Höherentwicklung ist somit aufs Ganze gesehen durch einen graduell zunehmenden Subjektcharakter bestimmt, der sich im Menschen voll ausprägt. Leben und Geist, Natur und Kultur werden damit nicht dualistisch auseinandergerissen, sondern als in einem kontinuierlichen Entwicklungszusammenhang stehend betrachtet, bei dem jedoch die eigene Qualität des Geistes durchaus gewahrt bleibt. Bei der geistigen Entwicklung wird zudem zumindest hypothetisch ein Entsprechungsverhältnis zwischen Menschheits- und individualgeschichtlicher Entwicklung angenommen; letztere »rekapituliert« die erstere. Zusammengefasst weist das Megaparadigma drei sich wechselseitig bedingende Charaktermerkmale auf: Ein kreatives Prozessdenken verbindet sich mit einem Strukturdenken, das sich von seiner Zielrichtung her als ein Subjektdenken versteht. Diese drei Momente sollen nun durch Kontrastierung mit den verworfenen Positionen schärfer herausgearbeitet werden. Dabei beginnen wir am besten mit dem Subjektdenken.
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Zum Subjektdenken Das – organismisch fundierte – Subjektdenken ist als kategorialer Gegenentwurf zur herkömmlichen Dingauffassung exemplarisch von Whitehead vordemonstriert worden (vgl. Fetz 1981, 52–96). Den von Descartes begründeten Vorrang des Subjekts sieht Whitehead als die entscheidende philosophische Neuerung der Neuzeit an. Die kategoriale Konsequenz daraus vermochte Descartes allerdings laut Whitehead nicht zu ziehen, weil er dem seit Occam vorherrschenden, aus einer Simplifizierung der aristotelischen Kategorientafel hervorgegangenen Substanz- Qualität- Schema verhaftet blieb, und damit der Reduzierung der Wirklichkeit auf eine Welt von Dingen mit Eigenschaften. Nimmt man die Subjekt-Objekt-Erfahrung ernst, dann stehen am systematischen Ausgangspunkt der Philosophie aber nicht mehr Aussagen vom Typ »Dieser Stein ist grau«, sondern komplexe Aussagen wie »Ich nehme wahr, dass dieser Stein grau ist« (Whitehead 1985, 158 f.). Damit tritt die Relation zwischen den Subjekt und dem – als real angesetzten – Referenzobjekt in den Vordergrund. Dem Substanz-QualitätSchema kommt innerhalb dieses Relationsgefüges nur noch eine untergeordnete Bedeutung zu: Es steht für eine Abstraktion, nicht für die konkrete Wirklichkeit (womit hier auch die Funktion der Philosophie als »Kritik der Abstraktionen« sichtbar wird). Dieses »reformierte subjektivistische Prinzip«, das Whitehead (1985, 160) seiner Philosophie zugrundelegt, führt nun, ontologisch umgesetzt, auch zu einer organismischen Wirklichkeitsauffassung. Die Subjekt-Objekt-Relation, die im Bewusstsein aufscheint, ist für Whitehead die Anzeige dafür, dass unser Organismus die Umwelt in sich einschließt, also selbst relational konstituiert ist. Damit ist die Auffassung durchbrochen, dass ein Organismus gleich einem Ding nur gerade an seinem örtlichen »Hier« existiert (»einfache Lokalisierung«). Vielmehr ist es als eine in sich geschlossene Einheit zugleich offen auf seine Umwelt, ja es konstituiert sich geradezu durch die Integration seiner Umweltelemente. Was vom menschlichen Organismus gilt, gilt mutatis mutandis auch von den organismischen Einheiten, aus denen sich das physikalische Universum aufbaut. Die Dingauffassung gibt nur das oberflächliche Erscheinungsbild dieser Einheiten wider. Die »Dinge« sind jene vergleichsweise festen Einheiten, die wir in unserem Weltkontakt als für sich bestehende, dauerhafte Wesen ausmachen, die ihrer GrößenA
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ordnung nach auf unseren Leib abgestimmt sind und passiv die Manipulationen des Homo faber über sich ergehen lassen. Diese Dingauffassung konnte so lange Bestand haben, bis die moderne Physik in den »Dingen« eine Skala ganz anders gearteter Einheiten entdeckte, von den Molekülen über die Atome bis zu den Quanten, und so fort. Sie alle bilden nicht eine passive, beliebig teilbare Masse, sondern verkörpern Energie, behaupten sich aktiv als ursprüngliche Ganzheiten, bilden Kraftfelder um sich, agieren und interagieren mit ihrer Umwelt. Auf sie trifft darum ein organismisches Konzept viel besser zu als die Dingauffassung. Damit ergibt sich insgesamt ein gestuftes Wirklichkeitskonzept aufeinander aufbauender, immer komplexerer organismischer Einheiten, die graduell an Subjektivität zunehmen, bis schließlich die schon im physikalischen Bereich beginnende und für alles Lebendige konstitutive Organismus-Umwelt-Beziehung im Menschen die kognitive und bewusste Form der Subjekt-Objekt-Relation annimmt. Cassirer entwickelt in seiner »Metaphysik des Symbolischen« eine ähnliche Auffassung vom Subjekt in Abhebung einerseits von Descartes, andererseits von der Lebensphilosophie. Descartes wird vorgeworfen, dass er prinzipiell das Band zwischen dem »Ich-Phänomen« und dem »Lebensphänomen« zerschnitten und die entseelte Natur dem Mechanizismus preisgegeben habe (Cassirer 1995, 170, 176). Die Lebensphilosophie wertete zwar das Leben wieder auf, trennte aber den Geist vom Leben ab und setzte beide als unversöhnliche metaphysische Prinzipien einander entgegen. Cassirer hingegen sieht den Geist als die Fortführung des Lebens auf einer höheren Ebene, womit ein Dualismus wie bei der Lebensphilosophie grundsätzlich ausgeschlossen ist. Der Geist wird im Leben fundiert und umgekehrt das Leben in der Sphäre des Geistes »aufgehoben«. Darum kann Cassirer in Anlehnung an Hegel schreiben: »Die Substanz des Lebens ist zum Subjekt geworden« (Ebd. 238). Das eben ist für ihn der »Sinn des Subjektwerdens, dass es die früheren Stufen des ›Seins‹ nicht gleich Schlangenhäuten einfach abwirft, sondern dass es sich in seinem Werden weiß« (Ebd. 213). Und die eigentümliche Leistung seiner »Philosophie der symbolischen Formen« erblickt Cassirer gerade darin, dass sie mit der Ausbildung des Symbols und im Rückgang auf den Mythos das entscheidende Bindeglied zwischen Leben und Geist, Natur und Kultur aufgewiesen und damit den Ort bestimmt hat, wo Leben zum »Fürsichsein«, zur Subjektivität kommt (Ebd. 266). 38
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Für Piaget schließlich gilt Ähnliches. In seinen frühen Büchern hat er die Bildung der Symbolfunktion beim Kind verfolgt (Piaget 1969) und im kindlichen Weltbild mit dem Animismus und dem Realismus der Namen Züge mythischen Denkens aufgedeckt (Piaget 1978), mit dem Ziel, den Übergang von dem in der unmittelbaren Präsenz lebenden Kleinkind zu den eine weiterausgreifende Subjektivität ermöglichenden Repräsentationsformen auszumachen. In den späteren Schriften zur genetischen Epistemologie (zusammengefasst in Piaget 1974b) hat er die Subjektwerdung vor allem in den Entwicklung vom kindhaften naturalen Subjekt zum wissenschaftsfähigen epistemischen Subjekt, von der organischen zur kognitiven Organisation verfolgt. Zu den revolutionären Entdeckungen Piagets gehört hier die Einsicht, dass das Verhalten und Handeln als das entscheidende Mittelstück zwischen der organischen und kognitiven Organisation anzusehen ist: Die Erkenntnisfunktionen entwickeln sich als spezielle und differenzierte Steuerungsorgane des Verhaltens, und die Denkoperationen gehen aus der Verinnerlichung von Handlungskoordinationen hervor. Angesichts der Vieldeutigkeit des Subjektbegriffs und der Subjekt-Objekt-Relation wird man abschließend die von unseren drei Denkern anvisierte Position als einen Standortbezug »jenseits von Subjektivismus und Objektivismus« (Schwinn 1993) bezeichnen können. Es geht, anders gesagt, um eine Positionierung, die sich weder im Innenraum des Subjekts einschließt, noch sich der Illusion einer nicht subjektbezogenen Objektwelt hingibt. Wieder ist es Whitehead, der eine solche Position am explizitesten in prinzipielle Formeln fasst. Mit seinem »reformierten subjektivistischen Prinzip« verbindet er die Forderung, das cartesische subjektivistische Prinzip durch ein objektivistisches zu ergänzen, demzufolge auf der Objektseite der Erfahrung reale Gegenstände anzusetzen sind, mit denen das Subjekt durch ebenso reale Beziehungen verbunden ist (Whitehead 1985, 160). Mit dem »Relativitätsprinzip« wird umgekehrt postuliert, dass es kein »Seiendes« geben kann, das nicht ein mögliches oder wirkliches »Datum« für ein Subjekt ist, also in Beziehung zu einem »Subjekt« steht und damit zu einem »Objekt« werden kann (Ebd. 22). Cassirer hat insbesondere in seinem 1939 in Stockholm gehaltenen Vortrag »Was ist ›Subjektivismus‹ ?« Subjekt und Objekt als sich differenzierende Pole der Erfahrungswelt streng rational gefasst und die Hypostasierung der einen oder anderen Seite als ein Ding der Unmöglichkeit hingestellt: Es gibt »sowenig ein Ich ›an sich‹ wie ein Ding A
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›an sich‹« (Cassirer 2006, 186). Für Piaget schließlich ist die SubjektObjekt-Relation als intrinsischer Bezug eines realen Subjekts zu einem realen Referenzobjekt schon durch die genetische Herleitung aus der Organismus-Umwelt-Beziehung sichergestellt (vgl. Fetz 1988, 117– 120).
Zum Prozessdenken Wie schon das Subjektdenken bildet auch das Prozessdenken die Gegenposition zur Dingauffassung der Wirklichkeit, diesmal unter ihrem statischen Aspekt. Eine Welt, die aus Dingen mit Eigenschaften besteht und die kategorial im simplifizierten Substanz-Qualität-Schema reflektiert wird, kennt keine Werdensprozesse, die ihr innerlich sind. Denn die Qualitäten mögen zwar wechseln, aber ihnen liegt die Substanz als ein gleichbleibendes Substrat zugrunde. Substanzen entstehen und vergehen, doch für die Zeit ihres Bestehens, die als Dauerhaftigkeit aufgefasst wird, weisen sie keinen substanziellen Werdensprozess auf, sondern nur akzidentelle Veränderungen. Wie schon angedeutet wurde, entspricht ein solches statisches Dingkonzept unserer spontanen Wirklichkeitsauffassung als Homo faber. Dieser erblickt in den Dingen funktionelle Gegenstände oder ein Material, die beide mit Heidegger gesprochen einfach »vorhanden« und passiv der menschlichen Manipulation ausgesetzt sind. In der mechanistischen Physik der Neuzeit hat dieses statische Dingkonzept durch Newtons Grundbegriff der trägen Masse seine wissenschaftliche Verfestigung erfahren. Einer solchen dinglich-statischen Wirklichkeitsauffassung hat Whitehead plakativ schon mit dem Titel seines Hauptwerks, »Process and Reality«, eine prozessorientierte Konzeption entgegengesetzt, und die Rezeption und Weiterführung der von ihm inaugurierten Denkrichtung unter dem Namen »Prozessphilosophie« hat diese Hervorhebung des Prozesscharakters noch verstärkt. Auch Cassirer plädiert übrigens an einer Stelle explizit für eine »Metaphysik des Prozesses«. »Wir müssen«, schreibt er, »um den Aufbau und Sinn der Kultur zu verstehen, eine Metaphysik des Prozesses setzen« (Cassirer 1995, 240). Aber was ist nun mit »Prozess« gemeint? Whitehead liefert uns die Antwort mit seinem Prozessprinzip: »How an actual entity becomes constitutes what that actual entity is; so that the two descriptions of an actual entity are not independent. Its 40
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›being‹ is constituted by its ›becoming‹.« (Whitehead 1985, 23) Actual entity steht bei Whitehead für ein Einzelwesen, das im Vollsinn »wirklich« ist; gemeint sind die mikrokosmischen monadischen Einheiten, aus denen sich die Wirklichkeit zusammensetzt. Von solchen wirklichen Einzelwesen heißt es am Ende des Textes, dass ihr »Sein« durch ihr »Werden« konstituiert ist, anders gesagt, dass ihr »Werden« für ihr »Sein« konstitutiv ist. Das gleiche wird ausführlicher am Anfang formuliert: »Wie ein wirkliches Einzelwesen wird, konstituiert, was dieses wirkliche Einzelwesen ist.« Daraus wird dann noch die methodologische Konsequenz gezogen, dass die beiden Beschreibungen – die des Werdens und die des Seins – nicht unabhängig voneinander sind, aber das wird uns erst später beschäftigen. Was bedeutet nun die zentrale These, dass das »Werden« konstitutiv für das »Sein« eines wirklichen Wesens ist? Gemeint ist damit, dass wir das »Sein« nicht vom »Werden« abkoppeln können; vielmehr durchdringen und bedingen sich beide: Ein wirkliches Wesen ist, indem es wird. Das Werden ist also nicht ein bloßer Initialakt, wie das Entstehen einer Substanz, an das sich dann für die Dauer ihrer Existenz das »Sein« anschließt. Vielmehr ist das »Sein« durchgängig an das »Werden« gebunden, auf eine so innerliche Weise, dass es ohne das »Werden« in das Nichts zurückfällt. Ein Wesen im Vollsinn hat somit seine Existenz nur in dem Prozess, in dem es sich selbst konstituiert; es ist von diesem Prozess getragen und Resultat dieses Prozesses. Mit dem ein Wesen konstituierenden Prozess ist nichts anderes als die ihm innewohnende Kreativität angesprochen, durch die es sich selbst verwirklicht. Damit ist auch bereits gesagt, dass es sein Sein nur durch und aufgrund seines Wirkens besitzt. Das ist eine eigentümliche Umkehrung der traditionellen Verhältnisbestimmung von Sein und Wirken, die wir uns genauer vor Augen führen müssen. Für den Common sense ist das Sein das Erste und das Wirken ein Zweites. Um wirken zu können, muss man existieren. Die scholastische Ontologie hat das dadurch zum Ausdruck gebracht, dass sie das esse, den Seinsakt, als actus primus, das agere, den Wirkakt, als actus secundus bezeichnet hat. Für unser spontanes Selbstverständnis scheint auch ein Existieren ohne Wirken möglich. Das, was die Italiener das dolce far niente, das süße Nichtstun nennen, kann man sogar als einen Glückszustand ansehen. Nur darf man dabei nicht vergessen, dass das Nichtstun nicht ein totales werden und nicht auf unseren Organismus übergreifen darf: Wenn das Herz stillsteht, wenn die fundamentalen A
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Metabolismen aufhören, dann ist es auch mit dem süßen Nichtstun vorbei. Physiologisch gesehen ist es also durchaus so, dass unser Sein vom Wirken der lebensnotwendigen Körperorgane abhängig ist, ja geradezu von diesem Wirken getragen wird. Das ist wiederum ein fundamentaler Unterschied, durch den sich ein tieferes Verständnis von Organismen von unserer oberflächlichen Dingauffassung abhebt. Dinge bestehen scheinbar ohne ihr Dazutun weiter; sie scheinen nicht wirken zu müssen. Die moderne Physik lehrt uns allerdings, dass dieses Oberflächenbild der Dinge eine Illusion ist. Gehen wir auf die ursprünglichen physikalischen Einheiten zurück, aus denen sich die Dinge aufbauen, auf die Moleküle, Atome und sofort, dann stoßen wir auch hier auf energetische Prozesse, ohne die der Fortbestand solcher Einheiten nicht möglich ist. Und damit kommt es zu jener Verallgemeinerung, die für die Prozessphilosophie grundlegend ist: Nicht nur die höheren Organismen, sondern alle organismischen Einheiten und damit letztlich die Wirklichkeit insgesamt bestehen aus Prozesswesen, die nur aufgrund der ihnen innerlichen Prozesse existieren, für die also diese Prozesse konstitutiv sind. Die radikalsten begrifflichen Konsequenzen aus einem solchen Prozessdenken hat wiederum Whitehead gezogen. Wenn die ursprünglichen Wesen als Prozesseinheiten nur als Resultanten ihrer Prozesse bestehen, dann ist es laut Whitehead falsch oder zumindest sehr einseitig, sie als »Subjekte« zu bezeichnen. Denn dieser Term konnotiert seinem Wortsinn nach, dass ein sub–jectum etwas »Darunter-Liegendes«, immer schon Zugrundeliegendes im Sinne des aristotelischen Substanzbegriffs aus der Kategorienschrift ist (Whitehead 1985, 155). Das gleiche gilt auch, wenn wir »Subjekt« im neuzeitlichem Wortsinn fassen und als Quelle und Träger kognitiver und anderer Akte bestimmen. Denn auch hier wird übersehen, dass diese Akte nicht nur ein Subjekt voraussetzen, sondern auch konstitutiv für Subjektivität, für neue Formen des Subjekt- und Selbstseins sind. Nehmen wir die Auffassung eines Prozesswesens als Resultante seiner Prozesse ernst, dann darf es laut Whitehead nicht verkürzend und einseitig als »Sub-jekt« bezeichnet werden, sondern muss zusätzlich als »Super-jekt« gefasst werden: als das »Darüber-Liegende« seiner Prozesse, eben als Prozessresultat. Aber auch diese neue Benennung als »Super-jekt« darf nicht vereinseitigt werden. Denn seine Unmittelbarkeit als Prozesswesen besitzt eine Prozesseinheit nur dadurch, dass es
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beides zugleich ist, »Subjekt-Superjekt«, Wirkzentrum und Resultat seines Wirkens. Da Whitehead die eben vorgeführte Kritik gegen den Substanzbegriff der aristotelischen Kategorienschrift richtet, ist hier noch auf das Paradox hinzuweisen, dass er mit seiner Korrektur an diesem Substanzbegriff ohne es zu wissen genau jenen viel tieferen Substanzbegriff neu zur Geltung gebracht hat, den Aristoteles in seinen Spätschriften der Metaphysik entwickelt hat. Statt wie in der frühen Kategorienschrift die Substanz unter dem prädikationslogischen Gesichtspunkt zu bestimmen, wird hier die eigentlich ontologische Frage gestellt, was denn ein Wesen im Vollsinn – und dazu zählen für Aristoteles in erster Linie die Lebewesen – wirklich konstituiert. Die Materie als das allen Wesen Zugrundeliegende kann es nicht sein, argumentiert Aristoteles, denn die Materie ist per se amorph und kann nicht die sich in einem Lebewesen ausprägende Gestalt erklären. Also muss es der einem Lebewesen eigene Gestaltprozess sein, der von der ihm innewohnenden Gestaltkraft (morphe) ausgeht und es seiner Vollgestalt (entelecheia) zuführt (Metaphysik VII, Kap. 17). Ein wirkliches Wesen im Vollsinn (ousia) ist demnach ein solches Wesen, das seine »Wirklichkeit« (entelecheia) als »Werk« (ergon) seines »Wirkens« (energeia) in sich erzeugt (Metaphysik IX, Kap. 3, 1047 a 30 f.; Kap. 8, 1050 a 21– 23) womit die Affinität zum whiteheadschen Konzept einer actual entity als subject–superject unübersehbar ist. Zur Erläuterung und Begründung des Prozessdenkens haben wir hier ausschließlich Whitehead herangezogen. Das heißt aber nicht, dass wir entsprechende Gedankengänge nicht auch bei Cassirer und Piaget finden. Nur stehen sie dort in einem anderen Kontext, nämlich in Verbindung mit dem Form-beziehungsweise Strukturdenken. Wenn Cassirer jede ausgeprägte Form aus einer prägenden Form, jede, wie er sie nennt, forma formata aus einer forma formans hervorgehen lässt (Cassirer 1995, 18; vgl. dazu Fetz 2008) und als Prinzip aufstellt, dass es keine Gestalt ohne Gestaltung geben kann (Cassirer 1995, 209), und wenn Piaget (1973, 134) jede Struktur auf eine Strukturierung zurückführt, dann werden Gestalt und Struktur hier ebenso als Prozessresultate verstanden wie die verwirklichte Wirklichkeit im Prozessdenken. Damit ist das dritte entscheidende Charaktermerkmal des anvisierten Megaparadigmas ansichtig geworden, nämlich das Strukturdenken.
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Zum Strukturdenken »Struktur« ist ein Leitbegriff des 20. Jahrhunderts, sowohl in der Philosophie als auch in den Wissenschaften. Fundamentale Unterschiede trennen jedoch die verschiedenen Strukturalismen, die von Anfang an bedacht werden müssen. Für Cassirer und Piaget ist charakteristisch, dass sie beide den Begriff der Struktur innerlich an den Begriff der Genese zurückbinden, also einen »genetischen Strukturalismus« vertreten, um gleich die von Piaget geschaffene Bezeichnung aufzunehmen. Um die eigentümliche Verbindung dieses genetischen Strukturalismus mit dem vorhin präsentierten Prozessdenken aufzuweisen, müssen wir uns nur auf die methodologische Konsequenz des von Whitehead formulierten Prozessprinzips zurückbesinnen. Dort hieß es ja: »Wie ein wirkliches Einzelwesen wird, konstituiert, was dieses wirkliche Einzelwesen ist, sodass die beiden Beschreibungen eines wirklichen Einzelwesens nicht unabhängig voneinander sind.« Wie Whitehead an anderer Stelle ausführt (1985, 219), kann demzufolge eine Prozesseinheit »genetisch und morphologisch« betrachtet werden; die genetische Betrachtung wird von Whitehead in Teil III, die morphologische in Teil IV von »Process and Reality« ausgeführt. Wir müssen nur den Term »morphologisch« durch »struktural« ersetzen – und die Morphologie in engeren und weiteren Sinn ist ja zweifelsohne eine Strukturanalyse – um das Begriffspaar »genetisch« und »struktural«, beziehungsweise »Genese« und »Struktur« zu erhalten, womit wir bei gleichbleibender Begriffsbedeutung den Übergang von Whitehead zu Cassirer und Piaget vollzogen haben. Auch Whiteheads Hinweis, dass es sich dabei um zwei, jedoch nicht voneinander unabhängige Beschreibungsweisen handelt, wird dabei seine volle Gültigkeit bewahren. Denn wie wir gleich sehen werden, verliert der strukturgenetische Ansatz genau dann seine umfassende Validität und Erklärungskraft, wenn die strukturale und die genetische Betrachtung beliebig miteinander vermengt, d. h. die Dimension der Synchronie und der Diachronie nicht säuberlich voneinander getrennt werden, wie es seit de Saussures Neubegründung der Linguistik das erste Gebot eines jeden methodologisch versierten Strukturalismus ist. Um das genauer zu verstehen, müssen wir zuerst die Spezifität des Strukturbegriffs erfassen. Der Term »Struktur« wird häufig in einem sehr allgemeinen, um nicht zu sagen inflationären Sinn verwendet, wo 44
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er für Beziehungsgefüge jeder Art stehen muss. Bei Cassirer und Piaget – und bei allen, die die Etikette des Strukturalismus mit Recht für sich in Anspruch nehmen – ist das nicht so. Mit dem Begriff der Struktur verbinden sie eine holistische und organismische Konzeption, womit wir wieder bei der im ersten Abschnitt aufgewiesenen Wirklichkeitsauffassung sind. Die Ganzheitlichkeit von Strukturen besagt, dass die Teile, d. h. Elemente oder Substrukturen, aus denen sie sich zusammensetzen, nicht unabhängig voneinander und vom Ganzen ihr Sosein, ihre Existenz– und Funktionsweise besitzen. Zwischen den Teilen und dem Ganzen herrschen nicht äußerliche, sondern konstitutive innerliche Beziehungen. Die Eigentümlichkeit von Strukturen besteht somit darin, dass man sie nicht in ein Aggregat, in eine bloße »UndVerbindung« auflösen kann, wie Cassirer unter Berufung auf Wertheimer schreibt (Cassirer 2007, 320, 455). Das bedingt, dass Elemente einer Struktur nicht aus ihrem Zusammenhang gerissen und als für sich bestehende Einheiten kausal erklärt werden können. Vielmehr muss, sobald ein Element im Kontext seiner Struktur erfasst und funktional begriffen ist, die Struktur als Ganze auf ihre Vorformen zurückgeführt und aus ihnen kausalgenetisch hergeleitet werden. Nur so können bei Strukturen unterschiedlicher Entwicklungshöhe die einander entsprechenden Elemente in einen adäquaten Herleitungszusammenhang gestellt werden. Das ist der Grund, warum es, wie Whitehead schreibt, zwei Erklärungsweisen braucht, eine strukturale und eine genetische, wobei aber vor allem die genetische nicht unabhängig von der strukturalen vorgehen kann. Cassirer hat in seiner Studie »Formproblem und Kausalproblem« von 1942 mit dem Blick auf die ganze Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte eindringlich den Unterschied und die Komplementarität von strukturaler und kausaler Analyse erörtert (Cassirer 2007, 446– 461). In seinem systematischen Werk, wo er die Genese der höheren symbolischen Formen aus der Matrix des mythischen Bewusstseins erfassen will, hat er sich entschieden von einer »bloß genetischen« (Cassirer 2002, XI), den strukturalen Geltungszusammenhang nicht berücksichtigenden Zugangsweise abgesetzt. Und genau so hat Piaget (1974a, 134 f.) einen »Genetismus ohne Struktur« zurückgewiesen. Unserem Interesse an Whitehead, Cassirer und Piaget liegt nicht zuletzt die Annahme zugrunde, dass das bei ihnen sich abzeichnende Megaparadigma eine aktuelle Denkform darstellt, welche die epochalen Umbrüche der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte reflekA
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tiert und sich entsprechend auf einer hohen Entwicklungsebene positioniert. Das vermag nun kein Konzept besser zu zeigen als der Strukturbegriff im engeren Sinn, weil er selbst ein epochaler Begriff ist. Plakativ kann man das gerade in ontologischer Hinsicht mit dem Dreischritt verdeutlichen, den Rombach (1965/66) als die Abfolge von »Substanzontologie«, »Systemontologie« und »Strukturontologie« benannt hat. Eine entsprechende Dreiteilung findet sich auch bei Piaget (1974a, 86–100, 129–134). Die Substanzontologie kennzeichnet die Antike, insbesondere Aristoteles und das von ihm geprägte Mittelalter. Hier werden Einheit und Wirken der Einzelwesen von einem Totalitätsprinzip her erklärt, der substanziellen Form, die als Formal-, Wirk- und Zielursache fungiert, aber selbst nicht weiter analysiert und damit wissenschaftlich erfasst werden kann. Die zweite epochale Denkweise, die Systemontologie, steht für die mechanistische Erstphase der modernen Wissenschaft. Sie ist durch die Verwerfung des Totalitätsprinzips der substanziellen Form bestimmt. Ein System wie das mechanistisch gedachte Universum soll nun umgekehrt durch das Zusammenspiel seiner Elemente erklärt werden, die aber keine innere Einheit eingehen, sondern nur ein Aggregat von Teilen bilden, die immer noch als etwas substanzialistisch Vorliegendes gedacht werden. Die Strukturontologie schließlich ist als dritte epochale Form charakteristisch für die im frühen 20. Jahrhundert einsetzende Zweitphase der modernen Wissenschaft. Sie vermittelt zwischen den beiden ersten Ontologien und geht zugleich über diese hinaus. Hier wird mit der Struktur wieder wie in der Substanzontologie ein Ganzheitsprinzip eingeführt, das jedoch im Unterschied zur substanziellen Form nicht mehr als ein nur begrifflich postuliertes, aber nicht weiter analysierbares Realitätsprinzip angesetzt wird. Die Struktur wird vielmehr als ein Beziehungsgefüge konzipiert, dem die Elemente so unterstellt sind, dass aus ihrer Interaktion ein einheitliches Ganzes herausspringt. Damit verbindet der Strukturbegriff die synthetische Kraft des aristotelischen Formbegriffs mit der analytischen Leistung des Systembegriffs. Indem die Strukturontologie ein vermittelndes Drittes zwischen Substanzontologie und Systemontologie ist, vermittelt sie auch zwischen Philosophie und Wissenschaft. Die Substanzontologie des Aristoteles war und ist auf ihre Weise eine großartige begriffliche Leistung, aber sie blieb mit der Annahme einer nicht weiter analysierbaren substanziellen Form auf einer vorwissenschaftlichen Ebene, und so ist es 46
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verständlich, dass die beginnende Wissenschaft gerade das Formprinzip als wissenschaftlich unfruchtbar fallen ließ. Die mechanistische Wissenschaft der frühen Neuzeit vermochte aber ihrerseits dem traditionellen philosophischen Selbstverständnis des Menschen nicht gerecht zu werden. Der Mensch geriet innerhalb der mechanistischen Systeme unter die Zwänge eines universell herrschenden Determinismus, und der Geist konnte, wenn überhaupt, nur durch eine strikt dualistische Abtrennung von der Materie gerettet werden oder ging in den monistischen Systemen unter. Mit dem Strukturbegriff wurde das anders. Mit ihm wird – zumindest in der von Cassirer und Piaget vertretenen Variante – wieder ein auf das Einzelwesen bezogenes Ganzheitsprinzip in sein Recht eingesetzt, ein Ganzheitsprinzip, das die verschiedenen Wirklichkeitsstufen auf einheitliche und doch differenzierte Weise einzufangen vermag und damit sowohl einen materialistischen Monismus wie den Dualismus von Geist und Materie hinter sich lässt. Statt eines Gegeneinanders bahnt sich damit die Möglichkeit einer Kooperation von Philosophie und Wissenschaft an, und gerade eine solche Kooperation ist ja gefragt, wenn das anvisierte Megaparadigma für Philosophie und Wissenschaft fruchtbar werden soll. Was ist nun das Unterscheidungsmerkmal des von Cassirer und Piaget vertretenen Strukturdenkens anderen Formen des Strukturalismus gegenüber? Piaget (1974a, 138) hat seinen Strukturalismus als einen »genetischen« bestimmt, und damit ist gleichsam die spezifische Differenz benannt, die ihn von einem »Strukturalismus ohne Genese« (Ebd. 134 f.) abhebt – der extremen Gegenposition zu dem schon erwähnten »Genetismus ohne Struktur«. Einen »Strukturalismus ohne Genese« hat in radikaler Form Lévi-Strauss vertreten. Für ihn sind die Strukturen »grundsätzlich die gleichen für alle alten und modernen, primitiven und zivilisierten Geistwesen« (Lévi-Strauss 1976, 35), und diese die menschliche Kultur bestimmenden Strukturen decken sich zudem mit jenen der Natur, der Materie, sodass am Ende bei LéviStrauss ein expliziter Monismus in der Form eines kruden Materialismus herausspringt (Lévi-Strauss 1985, 184 f.). Durch die Homologie geistiger und materieller Strukturen löst sich jede Besonderheit des Menschen auf. Der frühe Foucault hat daraus die radikalen Konsequenzen gezogen. Die Strukturen, innerhalb deren der Mensch denkt, sind ein »anonymes System ohne Subjekt«, ohne »Ich«, sodass der »Tod des Subjekts« proklamiert werden konnte (Foucault 1969, 204. Cassirer und Piaget nehmen eine ganz andere Position ein. Für A
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beide tritt sowohl in der Evolution des Lebendigen und der Kulturentwicklung wie in der Individualentwicklung des Menschen der Unterschied physikalischer, biologischer und kognitiver Strukturen deutlich zutage, und bei den letzteren unterscheidet sich die Stufe wissenschaftlichen Denkens wieder qualitativ von ihren Vorgängerformen, insbesondere von der Ursprungsform des mythischen Bewusstseins. Mathematisch gesehen erscheint seit Gödel eine Struktur aller Strukturen als undenkbar, weil aufgrund der Grenzen der Formalisierung die Behebung von Antinomien jeweils nur auf einer nächsthöheren Ebene erfolgen kann, was immer wieder neue Konstruktionen verlangt. Was damit letztlich mit Cassirer (1995, 4) gesprochen dem Denken aufgegeben ist, ist »das Rätsel der Form-Werdung als solcher«, d. h. die Schaffung immer neuer Formen, die sowohl das Leben insgesamt wie das Leben des Geistes charakterisiert. Wegleitend für ein Verständnis der Formwerdung ist für Cassirer die prinzipielle Einsicht, dass es »keine Gestalt ohne einen Prozess der Gestaltung« (Ebd. 209) geben kann. Jeder Gestaltungsprozess weist aber selbst auf die Gestaltkraft einer vorgängigen Form zurück. So kommt Cassirer zur Unterscheidung zwischen forma formans und forma formata, die nicht absolut, sondern relativ zu sehen ist: Was als forma formata am Ende des Gestaltungsprozesses einer forma formans steht, kann selbst wiederum in seiner Verjüngung als forma formans den Anfang eines neuen Gestaltungsprozesses bilden (Ebd. 18). In die Sprache von Piagets genetischem Strukturalismus übersetzt besagt dies, dass Genese und Struktur in einem Wechselverhältnis zueinander stehen: Jede Struktur ist aus einer Genese hervorgegangen, die ihrerseits auf eine vorausliegende Struktur zurückweist. Anders formuliert: Strukturen sind sowohl terminus ad quem wie terminus a quo aller Genesen. Die Leistung einer Struktur als formbildende Kraft für eine neu zu schaffende Gestalt hat dann Piaget vor allem durch die einer Struktur eigentümliche Selbstregelung zu erklären versucht, die Ungleichgewichte durch eine neue Gleichgewichtsform zu beheben versucht (Äquilibration). »Gestaltenzeugung und Gestaltenwandlung«, um Cassirer (1995, 264) zu zitieren, wird so zum Grundrhythmus des Lebens, der vom Anorganischen her anhebt und sich in der Kulturentwicklung fortsetzt. Piaget hat bezüglich dieser Abfolge von einer »Filiation« der Strukturen gesprochen, bei der am Anfang physikalische, in der Mitte biologische und am Ende kognitive Strukturen stehen. Was seit Descartes und 48
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bis ins 19. Jahrhundert als Materie und Geist, was im 20. Jahrhundert als Leben und Geist einander entgegengesetzt wurde, findet sich damit in einer Stufenfolge vereinigt, die die Unterschiede nicht nivelliert, sie aber auch nicht ideologisch emporstilisiert. Es ist eine der großen historischen Leistungen des Strukturbegriffs im Sinne Cassirers und Piagets, dass er als ein vermittelndes Drittes zwischen den vorhin genannten Gegensatzpaaren zu einer Entideologisierung von Philosophie und Wissenschaft beigetragen hat, insofern nun vom neutralen Begriff der Struktur aus unbefangen nach der spezifischen Qualität des Materiellen, Lebendigen und Geistigen gefragt werden kann. Wo es um Formwerdung geht, ist nicht Gestalt, sondern Gestaltung, sind nicht Strukturen, sondern Strukturierungen als ein Erstes und Letztes anzusehen. Diese Akzentverschiebung von einem »Strukturalismus« zu einem »Strukturationismus«, der meines Erachtens für Cassirer und Piaget in Anbetracht der Unterschiede zu Lévi-Strauss die bessere Benennung wäre, bleibt für einen weiteren Punkt nicht ohne Folgen: für die Frage nach dem Subjekt. In einem Strukturalismus, für den es nur anonyme, sich in allen Natur- und Kulturformen gleichbleibende Systeme gibt, hat das menschliche Subjekt ausgedient, wie LéviStrauss und der frühe Foucault zur Genüge gezeigt haben. Bestehen hingegen Strukturen nur aufgrund von Strukturierungen, dann kehrt das Subjekt verstärkt zurück, wie Piaget (1973, 133 f.) gegen Foucault geltend gemacht hat. Denn Strukturierungen setzten eine entsprechende regulative Instanz, ein Funktionszentrum voraus, das schon mit der Selbstregelung von Organismen gegeben ist und in den höheren Lebewesen zunehmend an Subjektivität gewinnt. Und Subjektivität im Vollsinn, mit Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung, ist schließlich nichts anderes als die im Menschen verwirklichte Form des Selbstbezuges und der Selbstregelung. Ein Strukturdenken im Sinne Cassirers und Piagets ist also mit einem Subjektdenken solidarisch, und damit schließt sich der hier gezogene Kreis.
Literatur Cassirer, Ernst (1995): Zur Metaphysik der symbolischen Formen. Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. 1, hrsg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg: Meiner. Cassirer, Ernst (2002): Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das
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Der philosophische Anspruch, ein »Meta- und Megaparadigma« formulieren zu können, impliziert, so hält die Einleitung zu diesem Band programmatisch fest, eine bestimmte philosophische Haltung. Ein bestimmter Denkvollzug, so steht es also programmatisch im Raum, scheint mit der Idee eines Megaparadigmas wesentlich verknüpft zu sein. Diesem Vollzug wird in der Einleitung der Name »transformatorisches Denken« gegeben. Hier sei zunächst die einschlägige Stelle aus der Einleitung zitiert: »Whitehead, Cassirer und Piaget vermögen deshalb die Basis für ein solches Meta- und Megaparadigma abzugeben, weil sie alle drei auf ihre spezielle Weise als »transformatorische Denker« gelten können. Darunter verstehen wir Denker, die klassische Problemstellungen aus ihrem historischen Kontext gelöst und ihnen eine moderne und immer noch aktuelle Form gegeben haben. Das transformatorische Moment ist den geistigen Schöpfungen solcher Denker selbst immanent, insofern sie methodisch die Transformation von Problemen als einen unabgeschlossenen Prozess und ihre Positionen selbst als revidierbar betrachten. Als »transformatorisch« kann deshalb auch eine methodische Haltung bezeichnet werden, die der produktiv tätig werdende Interpret sowohl gegenüber den zu verstehenden und zu erklärenden Phänomenen als auch gegenüber den zu diesem Zweck von ihm herangezogenen theoretischen Positionen und Entwürfen einnimmt.« (vgl. oben S. 13) Soweit zur zunächst noch vorläufigen Verwendung des Begriffs des transformatorischen Denkens. Im Folgenden möchte ich in systematischem Bezug auf Whitehead und Cassirer zu konturieren und zu entwickeln versuchen, was transformatorisches Denken im genaueren Hinsehen sein kann und sein sollte. Ich beschränke mich hier auf Alfred North Whitehead und Ernst Cassirer, da ich mich mit diesen beiden schon intensiver beschäftigt habe, mit Piaget dagegen noch nicht; zweitens erschien mir das, was ich in den von mir – freilich nur kursorisch – durchgesehenen A
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Schriften von Piaget begegnete als weniger relevant für das, was ich in meinen rein systematischen Überlegungen zum Begriff des transformatorischen Denkens gefunden habe. Auf Cassirer gehe ich allerdings vor allem implizit ein, wenngleich ich auch insgesamt deutlich zu einer cassirerschen Position tendiere. Ich gehe in folgenden Schritten vor: (1) Zunächst versuche ich eine systematische Annäherung an den Begriff des transformatorischen Denkens. Dabei habe ich die Philosophien von Whitehead und Cassirer im Hinterkopf. (2) Deshalb werde ich in einem nächsten Teil in Anschluss an diese beiden Philosophen den Begriff des Lebens kurz darstellen, der sowohl in Whiteheads Prozessontologie als auch in Cassirers symbolischem Idealismus eine grundlegende Funktion hat. Diese Darstellung dient der Fundierung der Überlegungen zum transformatorischen Denken. (3) Im dritten Teil des Vortrags wird dann dessen Vollzug in einer auf Whitehead und Cassirer aufbauenden Theorie des transformatorischen Denkens und der Mittel, derer es sich bedient, entwickelt.
Eingrenzung des Begriffs des transformatorischen Denkens Als »transformatorisch« soll zunächst eine methodische Haltung bezeichnet werden, die der in produktiver Absicht tätig werdende Interpret gegenüber den Phänomenen und den von ihm herangezogenen theoretischen Entwürfen zum Erklären und Verstehen derselben einnimmt. 1 Ich spreche dabei von einer theoretischen »Haltung«, weil nicht schon im Vorhinein eine spezifische Methode zementiert werden soll. Die Idee des transformatorischen Denkens soll vielmehr in einem rein
Es geht dabei nicht primär um eine philologische Erschließung der Primärtexte und auch nicht um eine bloß rekonstruktive Erschließung der jeweiligen Begründungszusammenhänge, sondern zunächst und vor allem darum, Argumentationsstrukturen und Strategien zu identifizieren (zu isolieren und) zu übernehmen und diese in neuen Zusammenhängen fruchtbar zu machen. Eine Dekontextualisierung der jeweiligen Theoriemomente wird dabei in Kauf genommen, eine eigentliche Begründung der derartig sozusagen transplantierten Argumente muss dann ohnehin im neu zu etablierenden Begründungszusammenhang erfolgen.
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problemorientierten Herangehen zunächst unabhängig von einer bestimmten philosophischen Methode entwickelt werden. Immerhin wurden im Eingangszitat gleichermaßen Whitehead und Cassirer (und auch Piaget) als transformatorische Denker bezeichnet. Dies muss also, zunächst jedenfalls, unabhängig davon denkbar sein, dass es sich bei der philosophischen Position des Ersteren um eine an Fragen des Seins und der Struktur interessierten Ontologie im klassischen Sinne handelt und beim Letzteren um eine Transzendentalphilosophie, die sich grundsätzlich, und im Gegensatz zur Ontologie, über Fragen nach der Geltung den Fragen nach dem Sein nähert. Transformatorisches Denken soll systematische philosophische Entwürfe mit dem doppelten Blick auf systematische Ganzheit einerseits und einzelwissenschaftliche und empirische Anschlussfähigkeit andererseits aufeinander beziehen und in dieser Beziehung, nämlich auf der Grundlage eines gemeinsamen, systematischen Strukturkerns, zugleich neu denken. Transformatorisches Denken ist im Zusammenhang mit der Idee eines Megaparadigmas zu verstehen, dass der ganzen Welt eine einheitliche Deutung verleihen soll und insofern in Hinsicht auf alle Theorien über die Welt begründend sein soll. Transformatorisches Denken ist systematisches Denken und muss also Einheit als oberste regulative Idee anerkennen, Transformatorisches Denken intendiert konstitutiv systematische Einheit. Anschlussfähigkeit heißt Anwendbarkeit der sich dabei formierenden Methoden des Denkens auf konkrete Einzelprobleme, seien diese selbst philosophischer Natur oder insbesondere im weiteren Sinne empirischer Natur. Anschlussfähigkeit meint zugleich so etwas wie Fruchtbarkeit: Das Denksystem, das beim transformatorischen Denken herausspringt, soll es ermöglichen, bei einzelwissenschaftlichen Fragen besser voranzukommen, als es bisher oder schlechterdings ohne solches transformatorisches Denken möglich war bzw. gewesen wäre. »Besser« heißt insofern einerseits, dass Probleme aus Perspektiven in den Blick genommen werden können, die bisher nicht in Sicht waren, so dass sich wiederum auf produktive Weise neue einzelwissenschaftliche Fragen ergeben usw.; es heißt aber auch andererseits, dass sich mittels des transformatorischen Denkens alle Denkinhalte zugleich in systematischem, wechselseitigem Bezug erfassen lassen. »Besser« heißt also in einem zweiten Sinne auch, dass eine einheitliche Deutung der ganzen Welt in der wir leben und denken, möglich werden soll, dass es also möglich sein soll, einen Begründungszusammenhang zu konstruieren, A
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auf den jede wirkliche Begründung Bezug nimmt bzw. nehmen muss, sei dies nun explizit bewusst oder implizit darin angelegt. Das transformatorische Denken hat in diesem Sinne den gleichen Ehrgeiz wie die metaphysischen Entwürfe der Vergangenheit oder etwa auch die großen Systementwürfe des Deutschen Idealismus. Die Hypothese der Fruchtbarkeit des mit diesem Denkvollzug verknüpften bzw. aus ihm eigentlich erst erwachsenden Megaparadigmas, in Hinblick auf das hier der Begriff des transformatorischen Denkens zum Tragen kommt, ist in fachdisziplinären Fragestellungen, wie sie im vorliegenden Band behandelt werden, jeweils zu überprüfen. Transformatorisches Denken muss jedenfalls begründendes Denken sein. Es muss deshalb, und dies ist zu zeigen, ein normatives Denken sein: Das dabei herausspringende System, in dem Inhalte zu denken sind, normierend. Normierung des Denkens kann, wie zu sehen ist, nicht anders gedacht werden, als in wesentlichem Zusammenhang mit der Normativität des Lebens stehend, als dessen Vollzug Denken überhaupt (und insofern auch transformatorisches Denken im spezifizierten Sinne) erscheint. Ein weiterer Punkt ergibt sich aus der eingangs zitierten Definition: Transformatorische Denker greifen Historisches auf, um dieses in umwandelnden Denkprozessen für Lösungsansätze gegenwärtig relevanter Probleme nutzbar zu machen. Insofern erscheint es zunächst nichts anderes zu sein, als das unter dem Stichwort »Hermeneutik« bekannte Verfahren. Die Verwendung eines eigenen Begriffs wäre aber kaum gerechtfertigt, wenn es lediglich darum ginge, historisch schon einmal aufgetretene Argumente in einer zeitgemäßen Lesart bzw. in neuen Kontexten zu aktualisieren. Keinesfalls gemeint ist eine bloße Neuzusammenstellung alter Argumente und zwar so, dass die Relationen, in denen die Argumente neu koordiniert werden, diesen quasi akzidentell bleiben. Die Transformation muss vielmehr wesentliches Merkmal des geforderten Denkens sein. Mit Whitehead und Cassirer lässt sich jeder Lebensakt streng genommen als ein transformatorischer Akt verstehen. Dies ist zunächst zu zeigen. Das, was mit dem terminus technicus ›transformatorisches Denken‹ explizit gefordert wird, kann freilich nichts sein, was sozusagen selbstverständlich gegeben bzw. im Gange ist. Allerdings baut die Theorie des transformatorischen Denkens auf der Theorie des Lebens auf. Denn als Denkvollzug ist es ein weiterbestimmter Lebensvollzug. Die beanspruchte methodische Sonderstellung ist folglich in Auseinandersetzung mit einer Theorie des Lebens zu erweisen. 54
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Bei beiden herangezogenen Philosophen begegnet an systematisch grundlegender Position der Gedanke der Transformation. Bei Whitehead sogar terminologisch, bei Cassirer heißt das dann »Metamorphose«.
Die Grundform des Lebens nach Whitehead und Cassirer Der Begriff des transformatorischen Denkens soll hier systematisch entwickelt werden, aber, wie gesagt, mit den Philosophien von Whitehead und Cassirer im Hinterkopf. Zunächst lässt sich festhalten, dass der Vollzug transformatorischen Denkens ein bestimmter Lebensvollzug ist. Der Lebensbegriff spielt bei beiden Philosophen eine vergleichbar zentrale Rolle und auch die Intension dieses Begriffs weist bei beiden Denkern jenseits der Grenzen ihrer unterschiedlichen Interessen und Methoden liegende Überschneidungen auf; was kaum verwunderlich sein, sondern in der Natur der Sache selbst begründet liegen dürfte. Whiteheads Prozessontologie ist als eine organismische Philosophie insgesamt eine Philosophie des Lebens. Diese Einschätzung wird durch Whiteheads Ausführungen in seinem Alterswerk Modes of Thought 2 bestätigt. Darin widmet er das große, abschließende Kapitel, in dem alle im Buch verfolgten Fäden zusammenlaufen, dem Begriff des Lebens. Die dort entwickelte Theorie des Lebens rekapituliert in verknappter Form die Theorie der Prehensionen aus Process and Reality 3. Die immanente Struktur des Lebensbegriffs fällt demgemäß bei Whitehead mit der im Modus der genetischen Teilung zu analysierenden internen Prozessstruktur des aktualen Ereignisses zusammen. Whitehead entwickelt seine Theorie des Lebens als eine Kosmologie. Aber die Wissenschaften der Natur 4 reichen nicht aus, das in der Whitehead, Alfred North (1938): Modes of Thought. New York. – Zitiert als MT. Whitehead, Alfred North (1978): Process and Reality. An Essay in Cosmology. Corrected Edition by David R. Griffin and Donald W. Sherburne. New York. – Zitiert als PR. 4 Was die »physical science« angeht, so vertritt Whitehead philosophisch gesehen geradezu unbedarft den Standpunkt eines naiven Realismus, bzw., wie Cassirer es sagen würde, er ist »naiv objektivistisch«. Wie dem auch sei – seine Stärken liegen ohnehin woanders, nämlich in seiner konzeptionellen Kraft. – Was ein vollständiges Verstehen der Welt als Ganzes für die Naturwissenschaften nach Whitehead unmöglich macht, ist ihre Einschränkung auf das Prinzip der koordinierten Teilung, nur das dieses ihnen – gemäß Whitehead – nicht als Prinzip bewusst werden kann. 2 3
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Welt zu entdecken, was das Leben als solches ausmacht: Freude, Ziele, Kreativität (vgl. MT 154). Die objektiven Wissenschaften vermögen nicht, ein gültiges Bild der ganzen Welt zu geben. Es ist vielmehr die Aufgabe der philosophischen Spekulation (vgl. MT 162), die Ereignisse im Universum derartig zu konzipieren, dass nicht nur die Berechtigung der Naturwissenschaften verständlich bleibt, lediglich Regeln der Abfolge von Ereignissen (MT 154) aufzusuchen, sondern dass ein solches Verständnis zugleich kohärent bleibt mit unseren direkten Überzeugungen (vgl. MT 162), die gemäß Whitehead zugleich die grundlegenden Fakten (vgl. MT 52) bilden sollten, auf denen die philosophische Erkenntnistheorie zu erreichten sei. Was also meint Whitehead, wenn er »Welt« sagt? Whitehead betont, dass »the world for me is nothing else than how the functionings of my body present it for my experience.« (MT 163 f.) Welt ist also gemäß Whitehead zunächst und grundsätzlich nur als Korrelat eines erfahrenden Subjekts zu haben. Er nennt diesen Ausgangspunkt seines Philosophierens das subjektivistische Prinzip. Und zwar ist die Erfahrung unserer direkten Überzeugungen (direct persuasions) die leibliche Erfahrung. 5 Alles das, was unter dem subjektivistischen Prinzip als Welt 6 verstanden werden kann, trägt deshalb immer schon strukturelle Spuren von Subjektivität an sich, die in der ordo cognoscendi freilich abzuleiten sind von einer so hoch entwickelten Subjektivität, die entsprechender wissenschaftlich-analytischer und philosophisch-spekulativer Betrachtungen fähig ist. Diese (höchste) Form von Erfahrung müssen wir verstehen, um Erfahrung überhaupt und alle Entwicklungsstufen die dorthin führen verstehen zu können. Dies meint nicht Erfahrung des Leibes, sondern Erfahrung durch den ganzen Leib, d. h. alle Aspekte menschlicher Leiblichkeit umfassend; dazu gehören z. B. auch die ethischen Aspekte der Interleiblichkeit usw. – Whiteheads Wendung gegen Descartes in MT 154 ist hier analog der von Cassirer in ECW 13, 116 ff. (Aspekt der Leiblichkeit, vgl. MT 159, mit Vorlauf MT 158). – Whitehead versteht unter der Erkenntnistheorie des 18. Jahrhunderts die empiristische. – Dass Kant diese Sachlage systematisch in der Tat ähnlich beurteilt hat wie er, ist ihm nie aufgefallen. 6 Eine sprechende Charakterisierung der Welt, bzw. dessen, was Whitehead unter der Welt versteht, findet sich in MT 50: »the world around – the world of fact, the world of possibility, the world as valued, the world as purposed.« – Dies ist systematisch zu verstehen: Fakten als Data für das Empfinden, insofern als reale Potentialität, das, was für das aktuale Ereignis auf Grund der Gewichtung mittels initialer Wertung zu positiver Prehension zugelassen bzw. durch negative Prehension ausgeschlossen wird, und schließlich das, was die Welt für die Prozesseinheit im Anstreben ihrer Erfüllung ist. 5
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Die unverstellte Erfahrung, aus deren Teilmomenten wir gemäß dem subjektivistischen Prinzip mittels Abstraktionen die Grundbegriffe für unser Philosophieren zu gewinnen haben, enthüllt uns die grundlegenden Fakten der Welt. Das sind zunächst die uns immer wesentlich leiblich präsenten »emotions, and purposes, and enjoyments« (MT 163) – unsere Emotionen, Absichten und Lustempfindungen. Damit sind für Whitehead die grundlegenden Momente von Erfahrung genau das, was Cassirer als Ausdruckswahrnehmungen beschreibt. 7 Es mag zunächst überraschend wirken, aber als weiteres grundlegendes Faktum in der Erfahrung führt Whitehead deren Aktualität an. Obgleich für Whitehead Erfahrung immer Repräsentation ist, und diejenige, welche gemäß dem subjektivistischen Prinzip zum Ausgangspunkt des Philosophierens gemacht werden muss, symbolische Repräsentation ist, bleibt doch die Präsenz, nämlich die Präsenz des Leibes, selbst immer ein unmittelbares Faktum. 8 Übrigens ist die Betonung der Aktualität als grundlegendes Faktum der Erfahrung der Boden, von dem aus mit Bezug auf Whiteheads in der Tat monadische Kosmologie die leibnizsche Variante der Monadologie ausgehebelt werden kann. Denn für Leibniz ist Repräsentation letztlich immer als begriffliches System rekonstruierbar: Die Erfahrungen der Monaden lassen sich in rein begrifflicher Form wiedergeben, sei es nun verworren oder klar. Begriffe aber sind zeitlos. Für Whitehead dagegen ergibt sich mit der Aktualität als grundlegendes Faktum die Berechtigung, zu der einen der beiden grundlegendsten Thesen seiner Philosophie überzugehen – die Erfahrung der Zeitlichkeit der Welt. »We are in the present; the present is always shifting; it is derived from the past; it is shaping the future; it is passing into the future. This is process, and in the universe it is an inexorable fact.« (MT 52 f.) Die Ontologie der Welt muss also gemäß Whitehead und seinem subjektivistischen Prinzip eine Prozessontologie sein, weil die subjektive Erfahrung unentrinnbar zeitlich bzw. prozessual ist. Emotionen, Absichten und Lusterlebnisse, Aktualität und ProzesDiese grundlegenden Ausdruckserfahrungen sind Werterlebnisse. Dies offenbart sein Beispiel: »I am in the room, and the room is an item in my present experience. But my present experience is what I now am.« (MT 163) – Whitehead betont hier das »now«; es ist dazu zu bedenken, dass das ›Jetzt‹ immer die Dauer ist, die gemäß Whitehead in der genetischen Teilung ansichtig werden soll. Verlagert man den Akzent dagegen auf den Aspekt der Räumlichkeit – ›Ich im Raum‹ – so bekommt man es mit der methodischen Perspektive der koordinierten Teilung zu tun.
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sualität in dieser Aktualität – all dies ist soweit mit Whitehead als die grundlegenden Bestandstücke dessen, was wir mit dem Namen ›Welt‹ benennen können, zusammengetragen. Vermutlich dürfte es allerdings keine allzu großen Anstrengungen bereiten, auch diesen Befund noch in einer streng reduktionistischen, naturalistischen Theorie der Natur und des Lebens zu entschlüsseln. Whiteheads entscheidendes Argument gegen jede naturalistische Reduktion ist vielmehr das folgende, das nebenbei bemerkt sehr an Kants Berufung auf das Faktum der Vernunft in seiner Kritik der praktischen Vernunft erinnert, und das letztlich auch Kants gesamten systematischen Ansatz trägt. Es ist die zweite der beiden grundlegendsten Thesen von seiner Philosophie. Whitehead vertritt folgende Überzeugung: »In fact we are directly conscious of our purposes as directive of our actions.« (MT 156) – Wir sind uns – um das hier frei zu paraphrasieren – unmittelbar unserer Absichten bewusst und zwar insofern, als diese die Entscheidungen zum Ausdruck bringen bzw. bringen können, welche wir als Triebfedern unserer Handlungen anführen könnten. Kantisch und insofern mit gleichem Recht mit Cassirer gesprochen, liegt hier der Gedanke der Selbstbestimmung zu Grunde. Whitehead spricht von decisions (Entscheidungen) und selfenjoyment (Selbstgenuss bzw. Selbsterlebnis). Die Unmittelbarkeit des Bewusstseins unserer handlungsrelevanten Absichten liegt im Wesen des Selbsterlebnisses, dass in jeder Erfahrung mit beschlossen ist: »the occasion of experience is absolute in respect to its immediate self-enjoyment.« (MT 151) Dies alles überträgt Whitehead gemäß seinem subjektivistischen Prinzip in die als Ontologie zu verstehende Darstellung der aktualen Ereignisse: Sie alle sind lebendige Subjekte. Der mentale Pol, die im Modus der genetischen Teilung in eine Komplexion von Prehensionen zu analysierende Seite der Subjektivität eines aktualen Ereignisses, ist das, was Whitehead wie gesagt auch mit dem Begriff des Lebens einfängt. Wie der mentale Pol und der physische Pol, wie genetische und koordinierte Teilung miteinander zusammenhängen sollen, ist Sache der Prozessontologie im Einzelnen und hier nicht weiter von Belang. Leben ist jedenfalls als Prozess zu verstehen. »It is the process of eliciting into actual being factors in the universe which antecedently to that process exist only in the mode of unrealized potentialities. The process of self-creation is the transformation [– und hier haben wir unseren Schlüsselbegriff –] of the potential into the actual, and the fact of such transformation includes the immediacy of self-enjoyment.« 58
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(MT 151). Außerdem führt das Prozesswesen, das gemäß dem subjektivistischen Prinzip in die Ontologie übertragen werden muss, dazu, dass auch die Antizipation (vgl. MT 166) als eine ontologische Funktion in den Blick kommt. Demgemäß ist Existenz eine unentwegt in die Zukunft aufgehende Aktivität: »Existence is activity ever merging into the future.« (MT 169) Genauer gesagt ist Leben als ein Prozess der Transformation zu verstehen: Nicht das Beharren der Form bei gleichzeitigem Wechsel des Stoffes macht das Leben als solches aus, sondern der kontinuierliche Übergang von einer Form zu jeweils folgenden (subsequent), zuvor lediglich möglichen Formen von Subjektivität. Das Ziel der jeweiligen Transformation, die wesentlich für den Prozess des Lebens in seiner Aktualität ist, bezeichnet Whitehead als subjective aim. Entsprechend schreibt Whitehead: »Life is the enjoyment of emotion, derived from the past and aimed at the future. It is the enjoyment of emotion which was then, which is now, and which will be then. This vector character is of the essence of such entertainment.« (MT 167) Das subjektive Ziel ist gemäß der Prozessontologie wesentlich verantwortlich für die jeweils konkrete Ausgestaltung eines aktualen Ereignisses. Die Transformation besteht jedesmal darin, den konstitutiven Wert (als subjective aim) als Direktive des Vollzugs zugleich umzusetzen in die Ordnungen, in denen die Daten prehendiert werden sollen. In der Selbstfestlegung auf ein bestimmtes subjektives Ziel hin legt das aktuale Ereignis in seiner Selbstformierung zugleich fest, welche der Daten, die das im Verhältnis zu ihm vergangene Universum ausmachen, positiv, und welche davon negativ prehendiert werden. 9 Zu den oben genannten grundlegenden Fakten, die die Welt ausmachen, nämlich Emotion, Absicht, Lust, Aktualität und Prozess kommt also noch die Unmittelbarkeit des Bewusstseins bzw. der Absichten dazu, die als Selbstbestimmung verstanden werden muss. Des9 Den Anspruch der Naturwissenschaften, alles mittels kausaler Schemata (pattern) erklären zu können, versucht Whitehead mit folgender Argumentation auszuhebeln: »Consider our notion of causation. How can one event be the cause of another? In the first place, no event can be wholly and solely the cause of another event. The whole antecedent world conspires to produce a new occasion. But some one occasion in an important way conditions the formation of a successor. How can we understand this process of conditioning?« – Hier ist nur skizzenhaft zu Bedenken zu geben: Das Ereignis ist in seinem mentalen Pol, also in dem, was die genetische Teilung zur Sicht bringt, causa sui. Und als solche ist sie selbst ursächlich (›verantwortlich‹) für die Auswahl an Data, die kausal zugelassen werden (positive Prehensionen), und welche nur als Horizont bloßer Möglichkeit prehendiert werden (negative Prehensionen).
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halb spricht Whitehead mit Blick auf die Struktur des aktualen Ereignisses auch davon, dass es causa sui ist. Der letzte Grund eines aktualen Ereignisses liegt demgemäß zugleich immer in ihm selbst als causa sui – und insofern in der Kreativität – Whiteheads ultimative Kategorie (vgl. PR 21) –, sofern es als Instantiierung der Kreativität verstanden werden muss, bzw., was dasselbe ist, die Form der causa sui als unmittelbare Wirkung der Kreativität. Nebenbei bemerkt: Dieser Gedanke findet sich strukturell auch in Cassirers Metaphysik des Symbolischen, denn das Symbolisieren ist implizit immer ein formales Bilden seiner selbst als Selbstbilden des unmittelbaren Bildes einer gemeinten Idee von Geltung. Der Begriff des Lebens leitet jedenfalls in Whiteheads ontologischer Ausarbeitung über auf den Begriff des aktualen Ereignisses 10 und damit auf den Gedanken der Selbstbestimmung. Nun müssen gemäß Whitehead alle ontologischen Erklärungen auf aktuale Ereignisse Bezug nehmen, demnach auf den im Denken der aktualen Ereignisse immer schon mitgedachten Lebensbegriff. Whitehead nennt dies das ontologische Prinzip: »This ontological principle means that actual entities are the only reasons; so that to search for a reason is to search for one or more actual entities.« (PR 24). Jeder letzte Grund, also jedes aktuales Ereignis, kann aber zugleich nicht anders konzipiert werden als in einer Begrifflichkeit, welche vom Zielen auf die Realisierung von Werten spricht: »All ultimate reasons are in terms of aim at value.« (MT 135) Wollte man diese whiteheadsche Überzeugung möglichst verknappt zum Ausdruck bringen, so könnte man formulieren: »Das Höchste, was wir begreifen, ist das Leben« – das ist aber ein Zitat aus Ernst Cassirers Notizen zu seiner sog. Metaphysik des Symbolischen (ECN 11 1, 264). Mit Cassirer lässt sich im Sinne seiner Metaphysik des Symbolischen die Funktion des Symbolisierens als lebendiger geistiger Vollzug verstehen und rekonstruieren. Leben wird hierbei von Cassirer verstanden als »unendliche Formungsmöglichkeit, als Potenz zur Form« Aktuale Ereignisse sind nicht beobachtbar – von den Einzelwissenschaften zu fordern, sich in ihren Basissätzen so neu zu fassen, dass fortan Beobachtbares in der Sprache beschrieben werden sollte, mit der Whitehead in seiner Metaphysik die aktualen Ereignisse beschreibt, wäre nicht in seinem Sinne. 11 Cassirer, Ernst (1995): Nachgelassene Manuskripte und Texte. Band 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hg. von John Michael Krois, Oswald Schwemmer u. a., Hamburg. 10
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(ECN 1, 216) und zwar in dem Sinne, dass es sich in freien Akten geistigen Setzens selbst bestimmt. Die Funktion des Symbolisierens wird demgemäß in Cassirers symbolischem Idealismus als geistiges Bilden verstanden. Dieses geistige Bilden besteht darin, mögliche Sinnverknüpfungen hervorzubringen, und zwar im Bezug des Bildens auf sich selbst als ideellem Grund jeglicher Erscheinung von Realität. Die Sinnverknüpfungen sind als jeweils dynamisch zu konzipierender ordo ordinans die geistigen Mittel, durch die Wirklichkeit als solche entdeckt wird. Das Bilden projiziert dabei das jeweilige Bild seines eigenen Vollzugs als formale Struktur des objektiven Bestandes, der als der Anteil des Gegebenen der Realität erscheint. Das Leben dieses Bildens erscheint folglich gemäß Cassirer als ein ständiges, immanentes Übergehen von unendlicher Formungsmöglichkeit bzw. Bestimmbarkeit, der forma formans, zur Bestimmtheit der objektivierten Form bzw. forma formata, wobei sich in der objektivierten Form als Ziel und Ende des jeweiligen, sich durchbestimmenden Bildens, das damit als schöpferisches Wirken konzipiert wird, zugleich die Aufgabe zu erneuter Objektivierung formiert. In einem abgeleiteten Sinne kann folglich das Symbolisieren auch mit Cassirer als Prozess verstanden werden: Es ist geistiges Leben, und als »Urprozess« der »Gestaltung u. Gestaltenänderung« (ECN 1, 264) in seinem Wesen Metamorphose bzw. Transformation. Sowohl für Cassirer als auch für Whitehead muss bezüglich des Lebens gesagt werden, dass man darüber, was das Leben ist, etwas in Erfahrung bringt, wenn man betrachtet, wie es wird. Für beide gilt aber auch, dass man jenen Prozess als solchen nur dann richtig erfassen kann, wenn man sich einen Begriff davon verschafft, worauf dieser Prozess jeweils zielt. Für beide Denker kann das Leben als solches nur adäquat verstanden werden, wenn sich das Denken darum bemüht, das voll in den Blick zu bringen, was das Leben überhaupt sein kann. Was das Leben sein kann, wie es sich vollziehen und seine vollsten Möglichkeiten ausschöpfen und ausfalten kann zeigt sich wiederum nur, wenn man es schon als immer im Prozess seiner eigenen Entfaltung begriffen denkt. Und wie gesagt kann der Prozess als solcher nur konzipiert werden, wenn man seine Teleologie mit in Anschlag bringt. Leben zielt auf die Realisierung von Möglichkeiten. Das Ziel, das jeweils in einer organischen Lebensform im engeren Sinne oder in einem (kulturellem) Werk seinen Niederschlag findet, dieses Ziel mag im Einzelnen in jeder Lebensphase ein anderes sein. Der Zweck des Lebensvollzug ist immer A
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die Realisierung seiner selbst – und darin zielt jeder Lebensvollzug immer auf das Ideal seiner eigenen Totalität, also immer schon auf eine stets höhere Form seiner selbst. Das Leben zielt auf sich selbst als dem bestimmenden Wert jedes möglichen Prozesses, in dem sich Leben im Einzelnen vollzieht. Leben ist immer wesentlich Realisierung seiner selbst als Realisierung von Wert – das gleiche lässt sich auch umgekehrt formulieren: Leben ist wesentlich Realisierung von Wert und dadurch Realisierung seiner selbst. Für beide Denker ist dabei Leben ein sich selbst betreffender Prozess der Formung. Jeder Lebensakt ist transformatorisch. Transformation ist das Wesen des Lebens. Dies lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Diejenige Form die methodisch oder als konkreter Standpunkt eines Ereignisses (das ›Jetzt‹) als terminus a quo bestimmt ist, transzendiert sich selbst. Insofern gehört Antizipation zu ihrem Wesen: In dieser Phase antizipiert das Ereignis sich selbst als Funktion der Immanenz einer neuen Form, die insofern als terminus ad quem bestimmt ist. Dieser Übergang (transition) von so bestimmtem terminus a quo zu jenem terminus ad quem ist nun eigentlich das, was unter einem aktualen Ereignis zu verstehen ist bzw. seine Aktualität ausmacht. In einer von Cassirer herzuleitenden Terminologie gesprochen: Die lebendige Form ist die forma formans, aber nur, insofern sie sich in einer durch sie bestimmten bzw. mitbestimmten forma formata vollendet – wobei diese forma formata in ihrer Immanenz selbst wiederum nur als sich selbst transzendierend, als übergehend in eine zu dieser zunächst im Verhältnis der bloßen Möglichkeit stehenden forma formata gedacht werden kann. Deshalb bleibt auch die forma formata – mit Whitehead gesprochen die Erfüllung (satisfaction) – immer eine immanente Transzendenz bzw. Transzendenz in der Immanenz, und zwar in zweierlei Hinsicht: Denn sie wird nur entweder in der Selbstüberschreitung (Antizipation) aus der Immanenz des aktuellen Vollzugs erreicht – also nur als diesem Vollzug immanente Transzendenz, oder sie wird als forma formata zum Anstoß der erneuten Formierung bzw. Selbstbestimmung, wobei sie selbst bestimmender Gehalt des dieser forma formata bzw. dieser Erfüllung transzendenten Vollzugs wird, sprich: als Gegebenes erscheint bzw. Datum einer Prehension wird. Nur im Vollzug, also in dessen Immanenz, ist damit die Gegebenheit der forma formata bzw. Erfüllung als Gegebenheit realisiert und damit als das den Vollzug als solchen transzendierende. Jedes aktuale Ereignis ist eine Verknüpfung bzw. Relation, 62
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und zwar im whiteheadschen Sinne interne bzw. im cassirerschen Sinne reine Relation, von Transzendenz und Immanenz: »It is the conjunction of transcendence and immanence.« (MT 167).
Theorie des transformatorischen Denkens Auf dem Hintergrund der theoretischen Entfaltung des Lebensbegriffs ist ersichtlich: Das Wort »Trans-form-ieren« enthält den Gedanken eines Übergangs von einer Form bzw. Denkform in eine andere. Sofern aber ein Übergang damit angezeigt ist, kann es sich nicht um einen bloßen Wechsel zwischen Formen handeln. Apposition bzw. externe Relation der Formen ist also ausgeschlossen. Vielmehr soll die Form, die den terminus a quo darstellt, transzendiert werden und zwar so, dass dieser Prozess die Immanenz der Form betrifft, die den terminus ad quem des Übergangs darstellt. Der terminus ad quem stellt für die Form, von der ausgegangen wird, insofern ein konstitutives (ideales) Ziel des Übergangs dar. Der Ausgangspunkt hat sich so auf den Übergang in eine andere Form einzulassen, dass die ihm transzendente Immanenz seines Zielpunktes affiziert wird. Eine Modifikation der beabzielten Form, auf die der Übergang hinausläuft, ist insofern der Zweck des Prozesses, in dem sich die Form, von der es ausgeht, insofern in der neuen Form reproduzieren soll. Ein Denkakt, der ein transformatorisches Denkens sein soll, muss sich nun in diesem Sinne vollziehen: Er muss sich selbst auf ein ideales Ziel bezogen konzipieren, wobei dieses Ziel eine Denkform sein soll, welche seine Ausgangsform einerseits transzendiert und andererseits als Modifikation ihrer selbst reproduziert. Dieses Ziel zu realisieren ist der Zweck der ganzen konkreten Anstrengung des Denkens. Transformatorisches Handeln muss sich folglich als ein auf eine als gestaltbar erlebte, unmittelbare Zukunft beziehen. Als Handlung beinhaltet es die Selbstzuschreibung von Freiheit zur Selbstbestimmung und außerdem ein Wissen darum, Handlung zu sein. Transformatorisches Denken ist sich, um hier Whitehead zu paraphrasieren, ein seiner Absichten und seiner Voraussetzungen bewusstes Denken. Es enthält insofern eine unmittelbare Anschauung seiner eigenen Subjektivität. In diesem Handeln vollzieht sich Subjektivität. Deshalb gehört die Konzeption eines »Ich denke« als gedachter Träger dieser Handlung notwendig zum Selbstvollzug transformatorischen Denkens. Im zielA
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gerichteten Handeln konzipiert sich dieses Ich als auf einen Zweck bezogen. Ich weiß deshalb als transformatorisch Denkender darum, dass ich mich in Bezug auf eine Zukunft verhalte und entwickle, von der ich deshalb weiß, weil sie für mich Wert hat und deshalb ein Ziel darstellt, weil sie sein soll. Transformatorisches Denken ist als ein sich wesentlich unter normierenden Gesichtspunkten entfaltender Vollzug zu konzipieren. Aus dem Sollsein der zu modifizierenden Form folgt im transformatorischen Denken das Wissen um das Sein einer möglichen Zukunft als seinsollende Realität, die im Lebensvollzug in die Form des Seins zu transformieren ist. Diese Zukunft ist durch den Akt selbst in Interaktion mit seiner Umwelt erst hervorzubringen. Was genau aber wird hier in die als seinsollende Möglichkeit erfahrene Zukunft transformiert? Soll die Denkform als Form des Denkens, oder vielmehr die Form des Gedachten modifiziert werden und damit seine bestimmte Weise, im Sinne von Whiteheads subjektivistischem Prinzip als Element der Welt verstanden zu werden? Zunächst ist transformatorisches Denken in Hinblick auf seine objektive Intentionalität zu analysieren: Etwas anderes, ein Gehalt, soll transformiert werden. Als wissenschaftlich Denkende sind wir problemorientiert, vollziehen eine objektivierende Denkbewegung. Die reine Denkform als solche ist dagegen das, worin sich das Denken als Denken und zwar als jeweils dieses bestimmte Denken artikuliert: Der Prozess der Formgebung bzw. Formwerdung des Denkens legt fest, was das Denken ist (um zu sehen, was es ist, muss man sehen, wie es wird, es ist Werden zur Form). Insofern ist das transformatorische Denken ein technomorphes Denken, bedient sich spezifischer Mittel des Denkens, um die Auffassung seiner Gehalte zu gestalten und umzugestalten. Diese Mittel des Denkens sind Reflexionsbegriffe. Hier ergibt sich, mit Christoph Hubig gesprochen, notwendig eine »Dialektik der Mittel«: Wir benötigen Mittel zur Realisierung unserer Zwecke. Gewisse Vorstellungen werden uns aufgrund ihres ideellen Wertes als Zwecke bewusst. Real erfahren können wir unsere Zwecke aber nur im Medium unserer Mittel, wobei wir umgekehrt die Wirksamkeit unserer Mittel – sprich: unsere Mittel als Mittel – nur dadurch in Erfahrung bringen, dass sie sich tatsächlich als ursächlich für das Erreichen der jeweiligen, zunächst rein konzeptuellen Zwecke erweisen. Dies erklärt die mit Whitehead zu konstatierende Doppelseitigkeit von causa sui des aktualen Ereignisses, das dadurch seine Prehensionen 64
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selbst festlegt, und physische Verursachung des Ereignisses durch das vorhergehende Universum. Im Sinne des relativistischen Prinzip 12 sind deshalb immer zwei aufeinander verweisende, aber nicht aufeinander reduzierbare Beschreibungen eines aktualen Ereignisses erforderlich (vgl. PR 23). Bei Cassirer begegnet dieser Gedanke im grundsätzlichen Verhältnis der Selbstbestimmung des Lebens in einer symbolischen Form und dem Bestimmtwerden des Lebensvollzugs durch die Objektivität seines Werks. Um das transformatorische Denken als solches nachvollziehen zu können, müssen wir Wesen und Funktion der Reflexionsbegriffe verstehen. Dazu ist zunächst noch einmal der Blick zu wenden und zu fragen, was das transformatorische Denken eigentlich wesentlich will und tut, indem es sich vollzieht. Es soll ein wissenschaftlicher Denkvollzug sein, und das heißt, es soll, indem es seine Gehalte umgestaltet, diese zugleich begründen. Zudem soll das transformatorische Denken wesentlich mit der Idee eines Megaparadigmas verknüpft sein und Gründe liefern, die insofern mit der Idee einer alles übergreifenden systematischen Einheit korrelieren – sprich: Gründe, deren Geltungsanspruch auch tatsächlich in Hinblick auf Alles Bestand hat. Damit berühren wir mit den Überlegungen zum transformatorischen Denken den philosophischen Topos der Letztbegründung. Bleiben wir damit bei Whitehead! Whiteheads Philosophie kennt und braucht natürlich auch letzte, nichtrevidierbare, sogenannte metphysische Wahrheiten (vgl. PR 197). Letzte Gründe können wir gemäß Whitehead aber nur als Werte konzipieren: »All ultimate reasons are in terms of aim at value.« (MT 135) Transformatorisches Denken nimmt also wesentlich Bezug auf Werte. Es hat sich aber schon herausgestellt, dass Werte nur im Lebensvollzug direkt erfahren werden können – gemäß Whitehead als subjektives Ziel des mentalen Pols des aktualen Ereignisses, gemäß Cassirer im Wissen um sich selbst in der Selbstbestimmung des Lebens zu einem bestimmten (symbolischen) Formvollzug. Das transformatorische Denken hat also die Spezifität, ein bestimmendes Denken objekti-
12 Whitehead legt in seinen Analysen immer eine Doppelseitigkeit frei, es gibt immer zwei Aspekte, diese sind nicht immer deckungsgleich mit den grundlegenden Aspekten des Prinzips der Relativität, aber es handelt sich dabei jedenfalls um das Prinzip dieser Doppelseitigkeit der Realität. – In einer methodologischen Perspektive könnte dies auch als ein dialektisches Prinzip rekonstruiert werden.
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ver Gebilde zu sein, dies aber nur sein zu können, indem es sich in seinem Vollzug auf sich selbst richtet in Hinblick auf den Wert bzw. das Sollsein seines eigenen Vollzugs. Mit Cassirers Kant gesprochen: Im Behaupten des Seins der objektiven Gebilde, also im Hinblick auf deren quid facti, muss sich das transformatorische Denken selbst als Behaupten in den Blick nehmen mit der Frage nach seinem quid juris: »Was fordert die Notwendigkeit, so zu behaupten?« Insofern besteht die wesentliche Transformation dieses Denkaktes stets in der (Selbst-) Überschreitung von der Form des Seinsdenkens – mit Cassirer/Kant gesprochen die Erkenntnis den mundus sensibilis betreffend – in die Form des Wertdenkens – also den intelligiblen Willen und damit die Setzung des mundus intelligibilis vollziehend. Der hier als konstitutiv erkannte Wille muss als solcher im Akt des transformatorischen Denkens freilich vollzogen werden und kann nicht selbst einfach nur zum Objekt des Denkvollzugs gemacht werden, weil er dann ja wieder nur als ein Sein, letztlich als widersinniger Gegenstand des mundus sensibilis, in den Blick kommen könnte. Dies ergibt sich ohne weiteres aus den vorausgehenden Ausführungen: Das Erleben von Wert gibt es nur in der direkten Selbstbestimmung, die in Hinblick darauf als absolut anzuerkennen ist. »Thus the occasion of experience is absolute in respect to its immediate self-enjoyment.« (MT 151) Um zu einem in diesem strengen Sinne transformatorischem Denken zu werden, muss das Fragen (das immer Fragen eines Subjekts ist) sich folglich selbst transformieren in dem Sinne, dass es die Werte, die letztlich den Sinn jeder Begründung ausmachen, in seinem eigenen Lebensvollzug realisiert. Das Subjekt muss solchen Wert erleben, nachvollziehen, denn Wert wird nur in initiierendem Tun, zu dem sich das Subjekt selbst bestimmt, als Forderung erlebbar. Mit Cassirer lässt sich in diesem Sinne formuliert sagen: Mit dem transformatorischen Denken betreffen wir »unsere Welt, – die Welt, in der wir leben, weben und sind – […] die Welt, auf die wir ethisch hingewiesen (– nicht nur vital angewiesen) sind.« (ECN 3 13 , 161) Das transformatorische Denken im Kontext des wissenschaftlichen Vollzugs muss folglich solches sein, das alle Fragen nach der Struktur des Seins in Fragen nach dem Wert des Werdens solcher Cassirer, Ernst (1995): Nachgelassene Manuskripte und Texte. Band 3: Geschichte. Mythos. Mit Beilagen: Biologie, Ethik, Form, Kategorienlehre, Kunst, Organologie, Sinn, Sprache, Zeit, hg. von John Michael Krois, Oswald Schwemmer u. a., Hamburg.
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Strukturen transformiert. Die Form des Seinsdenkens wissenschaftlicher Aussagen wird integrierendes Moment des Erlebens des Sollseins der betreffenden Geltung. Transformatorische Philosophie muss damit im strengen Sinne auf Begründung als Wendung von Seinsfragen hin zu Wert- (bzw. Sinn-) Fragen abstellen. Diese Konzeption findet sich nebenbei bemerkt durchschlagend bei Fichte realisiert, demgemäß Wertfragen als solche nur verstanden und deshalb auch gestellt werden können, wenn Werte auch energisch gelebt werden. Transformatorisches Denken erfordert in diesem Sinne immer zunächst eine Umwandlung unserer selbst: Die Transformation des Subjekts ist Bedingung der Möglichkeit der Transformation der Fragestellung, so dass Geltungsansprüche zu Recht erhoben werden können. Kehren wir nun noch einmal zu den Mitteln des transformatorischen Denkens zurück. Die Mittel eines Denkaktes können freilich nur Begriffe sein, mittels denen es über seine Gehalte und insofern über das Verhältnis seiner selbst als sich vollziehender Subjektivität zu seinen sich in diesem Vollzug als objektiver Gegenständlichkeit einstellenden Gehalt reflektiert. Das, was Whitehead de facto tut, wenn er von seinem subjektivistischen Prinzip ausgeht, auf das seine Philosophie aufbaut, ist, Begriffe zu gewinnen aus der Vergleichung unseres subjektiven Vermögens, Erfahrungen zu machen, mit den in diesen Erfahrungen möglicherweise begegnenden grundlegenden Fakten als dem objektiven Gehalt der Erfahrung. Er geht auf die subjektiven Bedingungen als Grundlage seiner Philosophie zurück, unter denen wir allein zu Strategien des Vorstellens und Denkens (Hubig) gelangen können, mittels derer wir, indem wir entsprechende Erfahrungen machen, jener Fakten der Erfahrung habhaft werden und so die Daten, aus denen wir unsere Welt in der Erfahrung aufbauen, erfassen. Dieses methodische Verfahren entspricht nun aber der Sache nach ziemlich genau dem Verfahren, das Kant zur Gewinnung der (transzendentalen) Reflexionsbegriffe schildert (KrV A 260/B 316). Die Mittel des transformatorischen Denkens können insofern als Reflexionsbegriffe bestimmt werden. Über diese muss das denkende Subjekt bewusst – und das heißt natürlich im Rahmen einer philosophischen Systematik – verfügen können, um seine objektiven Zwecke, seine wissenschaftlichen Interessen im Sinne eines alles begründenden Megaparadigmas, zu realisieren. Deshalb können Reflexionsbegriffe nicht objektstufig konzipiert sein, es sind keine objektiv referierenden Begriffe. Streng genommen A
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sind es Namen für bestimmte Strategien des Vorstellens und Denkens (Hubig). Strategien des Denkens und Vorstellens entwickeln sich aber nirgends anders, als im Denken und Vorstellen. Dieses vollzieht sich immer schon begrifflich bzw. begrifflich imprägniert. Transformatorisches Denken hat deshalb die charakterisierende Eigenheit, nicht nur geradliniges Nachdenken-über-Etwas zu sein, sondern sich selbst reflektierendes Nachdenken-über-Etwas. Im Ansatz solchen Denkens steckt insofern immer schon die mitlaufende Reflexion seiner selbst als spezifischem Vorstellen und Denken (bei Cassirer heißt das: Die Philosophie muss mitlaufend Rechenschaft ablegen über sich selbst). Diese Selbstreflexion des Denkens kann freilich nur über die Strategien des Denkens und Vorstellens erfolgen und artikuliert sich deshalb notwendig in Reflexionsbegriffen. Mit bloß empirischen bzw. geradehin objektiv referierenden Begriffen wäre das im Ansatz des transformatorischen Denkens in strengen Sinne notwendig zu konzipierende bereits verfehlt. In ihrer Position zwischen der Idee der subjektiven Bedingungen und Strategien des Denkens und Vorstellens der immer schon wissenschaftlich bzw. kulturell geformten Objektivität der denkbaren bzw. vorstellbaren Sachgebiete sind die Reflexionsbegriffe dann weder ontologische Kategorien, also allgemeingültige, abstrahierte Bestimmungen des Seins und des Seienden, noch verstandeskonstitutive Kategorien von Gegenständlichkeit überhaupt. Sie sind aber für den transformatorischen Urteilsvollzug konstitutiv. Zugleich sollen die Reflexionsbegriffe die Strategien des Vorstellens und Denkens identifizieren, die für das Denken und Vorstellen der verschiedenen, sich immer dynamisch vollziehenden Formen der wissenschaftlichen oder kulturellen Sachbereiche konstitutiv sind – mit Cassirer gesprochen, für die symbolischen Formen. Für die Formierung der Gegenständlichkeit des Gedachten und Vorgestellten sind die Reflexionsbegriffe jedoch nicht konstitutiv, weil sie nämlich nicht notwendig aus der Form von Gegenständlichkeit überhaupt folgen. Die durch sie gemeinten Strategien des Denkens und Vorstellens aber betreffen die freien geistigen Setzungen, die, mit Cassirer gesprochen, als die jeweilige Modalität der Sinnzusammenhänge erscheinen, in denen die jeweilige objektive Gegenständlichkeit des Vorstellens und Denken erscheint bzw. thematisiert wird. Gemäß Cassirer muss jeder Gegenstand in einem bestimmten Sinnzusammenhang stehen, aber die Form der Gegenständlichkeit überhaupt bestimmt 68
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noch nicht die Modalität der Sinngebung, diese ergibt sich vielmehr in einer grundsätzlich notwendig erfolgenden, in ihrer Gestaltung aber prinzipiell freien, geistigen Setzung. Notwendig sind die mit den Reflexionsbegriffen gemeinten Strategien des Vorstelen und Denkens also für die konkret-formale Selbstbestimmung der die jeweilige Modalität der Sinngebung generierenden reflektierenden Urteilskraft. Diese Strategien bilden insofern ein dynamisches Apriori, das trotz seiner konstitutiven Funktion für den jeweils bestimmten Lebens- und Denkvollzug revidierbar bleibt. Es handelt sich um Begriffe der notwendig reflektierenden Urteilskraft als relatives, dynamisches Apriori der verschiedenen symbolischen Formen. 14 Reflexionsbegriffe haben auf Grund ihres Mittelcharakters mit Bedeutungsfeldern zu tun, die durch sie selbst erst zu generieren sind. Entsprechend kann mit Whitehead im Hinblick auf die Reflexionsbegriffe gesagt werden: »Every factor which emerges makes a difference, and that difference can only be expressed in terms of the individual character of that factor.« (MT 156) Insofern führen Reflexionsbegriffe immer auch einen Aspekt der Neuheit in das Denken und Leben ein. Reflexionsbegriffe gehen aus freier Reflexionstätigkeit hervor, aber sie sind deshalb keinesfalls willkürlich: Sie müssen die Strategien des Vorstellens und Denkens betreffen (es gibt nur das Problem der Korrektheit der Darstellung, nicht der Richtigkeit der Einsicht) und sind insofern durch das Material gebunden und immer schon durch intersubjektive Konventionen geprägt – sie sind Momente einer kulturellen Praxis, und zwar, mit Cassirer gesprochen, der symbolischen Form des wissenschaftlichen Denkens. Und daraus erklärt sich auch die Unerlässlichkeit des Blickes der transformatorischen Denker in die Geschichte ihrer Disziplin, den Cassirer und Whitehead jeweils problemorientiert praktizieren. Denn hier ist der Ort der Verwendung historisch aufgetretener philosophischer Argumente: Zur Gewinnung geeigneter Reflexionsbegriffe im Vollzug wissenschaftlichen Denkens werden philosophische Reflexionsstrategien reflektiert. Ihre Gewinnung besteht in einem Erlernen des Umgangs mit ihnen als Mitteln. 15 Historisch aufgetretenes und in 14 Reflexionsbegriffe sind insofern für den Gehalt des Denkens, für die Objektivität, regulativ, und für die Konstitution des Lebens und Denkens, und insofern indirekt bzw. zweitstufig für die Bedingung der Möglichkeit von Objektivität, konstitutiv. 15 MT ist in diesem Sinne eine Metareflexion Whiteheads über seine eigene philosophische Reflexion. – Deshalb kann man sich hieraus auch auf der Suche nach Reflexions-
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bestimmten philosophischen Entwürfen dokumentiertes wissenschaftliches und philosophisches Denken ist das Material und insofern die spezifische Empirie des transformatorischen Denkens, wenn es um die Gewinnung geeigneter Reflexionsbegriffe geht. Die Revidierbarkeit des transformatorischen Denkens kann auf dieser Reflexionsstufe dann diese konkreten Anstrengungen und insofern die Reflexionsbegriffe betreffen – der Versuch, etwas als Mittel zu einem Zweck einzusetzen, kann auch scheitern, genauso wie nach einer Neubewertung des faktischen Bestandes zuvor für einen Zweck gehaltenes diese Auszeichnung verlieren kann. Dies ist der Grund dafür, weshalb Reflexionsbegriffe und damit auch das damit ausgearbeitete philosophischwissenschaftliche Denksystem als revidierbar zu gelten haben, obwohl mit ihm dennoch etwas gemeint ist, was für das objektivierende Denken konstitutiv ist und deshalb nicht im Sinne der für die empirischen Wissenschaften geforderten Falsifizierbarkeit widerlegt werden kann. Es wird damit freilich fraglich, ob ein im Sinne des transformatorischen Denkens gültiges Megaparadigma mit den Namen Whitehead, Cassirer und Piaget gültig umrissen ist. Gerade in Hinblick auf eine methodische Haltung ist es auch fraglich, ob mit einer Ontologie im klassischen Sinne in dem ehrgeizigen Sinne des Systemdenkens wirklich weiter gekommen werden kann, oder ob nicht gerade eine ontologische Metaphysik tatsächlich obsolet geworden ist und dies gerade durch die methodologischen Überlegungen bezüglich eines Denkens, das systematische Einheit als oberstes Regulativ anerkennt, nicht gerade gezeigt wird. Ontologische Kategorien, bzw. das, was an deren Stelle, die sie traditionell einnahmen, tritt, sind Reflexionsbegriffe: Ontologische Kategorien in diesem neuen Sinne entspringen der Reflexion auf die Methoden bzw. Verfahren, die im Denken der Probleme (mit Blick auf systematische Einheit) zur Anwendung kommen bzw. im Vollzug sind. Nicht ein Abstraktionsverfahren – wie für Whitehead – führt also zu den ontologischen Kategorien, sondern das Reflexionsverfahren. Das Megaparadigma, falls es das gibt, müsste also erst aus den methodischen Implikationen des wesentlich geforderten Denkvollzugs gewonnen werden: Die sich aus dem Vollzug solchen Denkens begriffen bedienen (die Reflexionsbegriffe unterliegen auch einer gewissen Entwicklung der Reflexion, verhalten sich als Mittel zum Zweck des transformatorischen Denkens, und sind deshalb mit Einschränkungen revidierbar, natürlich liegen in den ausgearbeiteten Philosophien schon weit fortgeschrittene Reflexionen vor).
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jedesmal als objektiv werdende Form von Vorstellen und Denken überhaupt ergebende Struktur erscheint dabei im Verhältnis zu den wissenschaftlichen und kulturellen Gehalten bzw. Gebilden, die reflektiert und weiterbearbeitet werden sollen, als absolutes Apriori. Die Reflexionsbegriffe betreffen als Begriffe der notwendig reflektierenden Urteilskraft, die in dieser intermodalen Auseinandersetzung zum Tragen kommen, das relative, dynamische Apriori, »ein ›a priori‹ für die einzelnen Gebilde« (ECN 3, 250). 16 Kehren wir noch einmal zum programmatischen Eingangszitat zurück: »Das transformatorische Moment«, heißt es dort, »ist den geistigen Schöpfungen solcher Denker selbst immanent, insofern sie methodisch die Transformation von Problemen als einen unabgeschlossenen Prozess und ihre Positionen selbst als revidierbar betrachten.« Jetzt lässt sich das entschlüsseln: Natürlich gilt, dass im transformatorischen Denken als einem wissenschaftlichen Vollzug immer wieder neue Sachprobleme generiert werden. Das Genuine des transformatorischen Denkens besteht aber in seiner wertorientiert-normativen Ausrichtung: Begründete Probleme ergeben sich nur im Bezug der Fragestellungen auf den Wert der Formen des Lebens. 17
16 Zum Letzten: Vertiefung des Verständnisses der philosophischen Reflexion, der Funktion der Reflexionsbegriffe, damit der Generierung von Bedeutung, damit der Frage, was überhaupt (sinnvollerweise) gedacht werden kann, was wiederum für die empirische Forschung, die hier in interdisziplinären Fragestellungen thematisiert und präsent ist, auf Fragestellungen führen kann, die sie möglicherweise noch nicht in der sich zeigenden Weise aufgegriffen hat. Außerdem kann auch die Suche im sonst unendlichen Bereich des bloß Möglichen schon vorab methodisch eingegrenzt werden auf den Bereich des real-potentiell Denkbaren. – Mit anderen Worten: Es müssten sich hier Kriterien dafür ergeben, welche der rein logisch möglichen Fragestellungen sinnvoll sind und welche nicht. 17 Nicht alles soll fortan in Wertfragen transformiert werden, aber es soll gesehen werden, dass jede Begründung letztlich das Urexemplar eines Lebensvollzugs voraussetzt, das sich im Denken und methodisch kontrolliert in der Frage nach dem Wert des Lebens bzw. nach den Formen des Lebens und deshalb immer zugleich als Frage nach dem Wert seiner selbst als Lebensvollzug bildet (Cassirer spricht in diesem Sinne bezüglich der Philosophie davon, dass sie Rechenschaft ablegen müsse von sich selbst). Insofern ist das Urbild der causa sui das Sichbilden des subjektiven Vollzugs, der im Sinne des Begründens, nämlich der Verantwortlichkeit und Entscheidung (decision) für sich selbst (Selbstbestimmung) Ursache seiner selbst ist (Es ist in seinem Sein, nämlich Bilden von Wissensbildern bzw. symbolischen Formen zu sein, ein sich selbst erstellendes Handeln).
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Die Relativität systematischer Kreativität. Ein Ort des Wissens im Zeichen der Pluralität von Wissensformen Hans-Joachim Sander
Mein Beitrag beschränkt sich auf eine Anmerkung aus dem Categoreal Scheme von Prozess und Realität (Whitehead 1978) zu dem vorgeschlagenen Megaparadigma; zu Piaget und Cassirer kann ich mich mangels ausreichender Kenntnisse nicht äußern. Bei dieser Anmerkung geht es nicht um eine Art orthodoxes Whiteheadianertum, sondern um einen Zusammenhang, der mir aber bei dem Anteil von Whitehead an dem anvisierten Megaparadigma wichtig zu sein scheint. Es handelt sich um den relativistischen Grundzug in Whiteheads Philosophie und damit um den Gedanken der Relativität für die ProzessSäule des Megaparadigmas.
Das Wechselverhältnis von many und one Der Ausgangspunkt der Überlegung liegt bei zwei Kategorien in Prozess und Realität: der Category of the Ultimate und dem Principle of Relativity. Die Category of the Ultimate besagt: »the many become one and are increased by one« (Whitehead 1978, 21) Diese Kategorie versucht, Kreativität auf den Begriff zu bringen. Es geht also nicht einfach darum, kreative Verhaltensweisen etwa in spontanen Ereignissen zu beschreiben, sondern es geht darum, Kreativität systematisch zu begreifen, also zu einem elementaren Gedanken über sie zu kommen. Die Category of the Ultimate ist die basale Argumentation der Prozessphilosophie Whiteheads, die er ja als organistisches und atomistisches Denken zugleich beschreibt. Es handelt sich um eine metaphysische Beschreibung, also um eine Strukturformel von elementarer Einfachheit und hoher Abstraktheit zugleich. Sie formulierte einen einfachen Gedanken, der zugleich in so gut wie allen Aussagen des Whiteheadschen Denkens zu finden ist. Man kann diesen Gedanken also auch auf Wissensformen anwen72
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Die Relativität systematischer Kreativität
den, die sich begegnen. Sie sind ja in diesem Fall viele und sie werden zu einem, wenn es so etwas wie eine Verbindung von diversen Wissensformen gibt; das wird ja mit dem vorgeschlagenen Megaparadigma behauptet. Man kann sich mit dem Gedanken der Category of the Ultimate fragen, was bei dieser Verbindung eigentlich geschieht. Oder anders gefragt, welcher Prozess mit einem Megaparadigma zur Begegnung diverser Wissensformen eigentlich beschrieben wird und wie sich darin Kreativität ausdrückt. Wichtig in der Kategorie des Elementaren ist, dass viele und eines, many und one, keine Gegensätze sind. Vielmehr stehen sie in einem spezifischen Wechselverhältnis. Es fußt auf einer Relation aus Vielen und Einem: Die Vielen treten im Modus des Einen auf und zugleich steht das Eine im unmittelbaren Bezug zu Vielen. Zugleich gilt, dass das die Vielen nicht ohne das Eine zu fassen sind und ebenso dass das Eine nicht ohne die Vielen ausgesagt werden kann. Darin steckt also eine Relativierung, die unausweichlich ist und die folglich in dieser Kategorie einen elementaren Rang hat. Sie ist nicht zu vermeiden und sie ist zugleich ein kreativer Faktor in der beschriebenen Relation von Vielen und Einem. In diesem Wechselspiel relativieren sich many und one, sie verabsolutieren sich nicht. Aber deshalb sind sie füreinander ein Faktor, an dem Kreativität herauskristallisiert. Wenn viele zu einem werden, sich also relativieren, dann entsteht ein Ort von Kreativität. ›Ort‹ meint hier ›Topos‹, also die Wirklichkeit einer diskursiven Größe, die einfach schon dadurch beachtet wird, weil sie in diesem Diskurs von vielem und einem unvermeidlich ist. An diesem Ort geschieht, dass die Einheit die Vielen um eines vermehrt, also die Einheit durch das eine relativiert wird, um das die Vielen zulegen. Man steht hier in einer abstrakten Betrachtung, nicht vor einer konkreten Behauptung. Man muss also den fallacy of misplaced concreteness beachten, auf den Whitehead häufig hingewiesen hat. 1 Sprich: die vorschnelle Identifizierung des soeben Beschriebenen mit den Realitäten an Universitäten und Forschungsinstituten, oder auch auf Symposien, sollte vermieden werden. Es ist noch keine Realisierung von Kreativität, Viele und Eines einfach nur zusammenzubringen. Kreativität ist noch kein kreativer Einfall, kein produktives Zu»There is an error; but it is merely the accidental error of mistaking the abstract for the concrete. It is an example of what I will call the ›Fallacy of Misplaced Concreteness‹. This fallacy is the occasion of great confusion in philosophy.« (Whitehead 1967, 51)
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sammenarbeiten, keine weiterführende Debatte. In diesen findet sich aber ein Wechselverhältnis, so der Gedanke dieser Kategorie, das von many und one bestimmt ist. Deshalb ist dieses Wechselverhältnis von many-one und das ›increasing by one‹, auch wenn es sich um eine abstrakte Überlegung handelt und noch keine konkrete Realität, eine Behauptung, die falsifizierbar sein muss und die auch der Falsifizierbarkeit bedürftig ist. Es ist nicht einfach eine schöne Idee, sondern eine Erschließungsgröße für den tatsächlichen Gebrauch von Wissen. Sie muss etwas erklären, was real und tatsächlich geschieht.
Relativität und Kreativität Um diese Ebene zu erschließen, möchte ich eine weitere Kategorie aus Prozess und Realität einbringen, die vierte Kategorie der Erklärung, also das principle of relativity. Relativität ist für den Ort von Kreativität markant; damit wird sie unter anderem erklärbar, wenn man Whitehead folgt. Relativität bedeutet ja eine Art Wechselverhältnis von Größen, die sich nicht ausweichen können und die sich jeweils wechselseitig ihre Benennung zumuten. Die eine Größe lässt sich nicht begreifen, ohne zugleich die andere zu benennen, auch wenn keine füreinander nahe liegt, sondern jede zunächst so erscheint, als hätte die andere für sie keine Bedeutung. Das ist etwa bei Raum und Zeit der Fall, die in der newtonschen Physik absolute Größen sind, sie sich aber in der Relativitätstheorie als ein Wechselverhältnis zeigen. Ähnliches gilt für das Licht als Welle und als Teilchen in der Quantenphysik, oder für Dogma und Geschichte in der modernen Theologie. Durch diese unausweichliche Zusammenstellung, um einen Diskurs über die beiden Größen führen zu können, relativieren diese sich. Sie begrenzen sich also in ihren jeweils eigenen Aussagefähigkeiten, indem sie unvermeidlich aufeinander bezogen sind. Damit hebt Whitehead an dem Relativierungsvorgang ein besonderes Merkmal hervor: In der Relativierung geht jeweils eine Größe in eine andere Größe so ein, dass sie für den Prozess kennzeichnend wird, in dem diese zu dem wird, was sie ausmacht. Die eine Größe tritt von außen in deren Innen ein und dieses Außen ist nicht bloß äußerlich. Whitehead beschreibt die Kategorie wie folgt: »That the potentiality for being an element in a real concrescence of many entities into one actuality is the one general metaphysical character attaching to all entities, actual and non-actual; 74
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and that every item in its universe is involved in each concrescence. In other words, it belongs to the nature of a ›being‹ that it is a potential for every ›becoming‹. This is the ›principle of relativity‹.« (Whitehead 1978, 22) Setzen wir für das ›being‹ in der Definition dieser Kategorie irgendeine Wissensform ein und für das ›becoming‹ ein Wissen, das noch im Entstehen ist, also sich in ›concrescence‹ befindet, wie Whitehead die Betrachtung des Innen eines Prozesses nennt. Dann ist die Behauptung: Jede Wissensform hat das Potential, in die concrescence eines neuen Wissens einzugehen. Die einzige Bedingung dafür ist: Sie muss einen Ort im Universum dieser concrescence besetzen. Wenn ich Whitehead richtig verstehe, dann ist das lediglich eine Frage, wie weit man nun die Vernetzungen der Realität ansetzt, die diesen Wissensformen zugrunde liegt. Es gibt also zwangsläufige Konfrontationen, die unausweichlich im Raum stehen, weil sie einfach direkt auf denselben Ausschnitt der Realität bezogen sind. Und es gibt Relativierungen, die speziell gesucht werden müssen, damit eine Wissensform ins Universum der spezifischen Konkreszenz eingeht, um die es geht, weil sie an einander entfernten Realitäten ansetzen. Dabei gibt es natürlich Abschattungen, nexus, die sich womöglich verlaufen, Vermittlungen über andere schon bestehende Prozesse etc. Das lässt sich alles weiter diskutieren, aber das ist nicht das entscheidende Problem für diesen Gedankengang. Viel entscheidender ist der Umstand, dass in dieser Relativierung der many durch das one und des one durch die weiteren many etwas Neues entsteht. Es findet eine – wie auch immer im konkreten Fall genauer zu bestimmende – Aktualisierung von Kreativität Raum, also etwas von ›ultimativer Aussagekraft‹, um Whiteheads Kategoriensystem noch einmal zu bemühen. Das Principle of Relativity gehört zu den Kategorien der Erklärung. Es ist eng verzahnt mit dem ontologischen Prinzip und mit dem Prinzip des Prozesses. Das gesamte Ensemble führt zu einer anderen Art von Metaphysik, gleichsam einer ›Anders-Metaphysik‹ im Verhältnis zur metaphysischen Tradition von der Antike zur frühen Neuzeit. Auch das muss jetzt hier nicht weiter vertieft werden. Mir geht es darum, den merkwürdigen Vorgang herauszuheben, den Whiteheads Prozessmetaphysik damit beschreibt: Je mehr Relativität, desto mehr Kreativität. Das ist eine Kurzformel, die natürlich weiterer Erklärungen bedürftig ist und differenzierter ausgeführt werden muss. Whitehead benötigt ja dafür das ganze umfängliche Kategorienschema von A
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Prozess und Realität. Aber über den entscheidenden Gedanken verfügt diese verknappte Formel schon: Das, was von den anderen, die zum Universum des jeweiligen actual entity gehören, in seine concrescence, d. h. das innere Werden seines Prozesses, eingeht, das wird für diesen Prozess unausweichlich. Das ist der Relativierungsvorgang, den die Category of the Ultimate beschreibt – dieser Prozess, der stets ein einzelner und damit singulärer ist, kann den anderen, bereits abgeschlossenen Prozessen nicht ausweichen, und umgekehrt können diese anderen dem neuen Prozess nicht ausweichen, der sich gerade herauskristallisiert. Seine Genese ist von der Morphologie der anderen affiziert, und dann wird seine eigene Morphologie fähig, in die Genese von anderen einzugehen. Entsprechend ist stets eine solche polare Betrachtung nötig, um einen Prozess zu beschrieben, wie es Whitehead in der großen Einteilung von genetisch und morphologisch in Part III (The Theorie of Prehensions) und Part IV (The Theory of Extension) in Process and Reality versucht. Die polare Betrachtung ist im Realitätsbezug des Prozesses nötig. Es gibt keine Sprünge in der Relativierung durch andere, wohl aber Reichweiten. Je kreativer ein Prozess, desto größer die Reichweite dieser Relativierung. Dieser Begriff von Kreativität ist das Gegenteil der üblichen Anschauung von Kreativität, die besagt, dass kreativ sein, bedeutet, originell sein, also aus sich heraus etwas schaffen, das der Relativierung durch anderes und andere entgeht. Kreativität wird personifiziert in so etwas wie dem genialen Menschen, der jetzt eine unerwartete und überwältigende Idee hat, zu der anderen die Fähigkeit fehlt. Das souveräne wissenschaftliche Subjekt macht den kreativen Unterschied aus, auch wenn es in eine größere wissenschaftliche Gruppe oder community eingebunden ist. Nach der eben beschriebenen doppelten Einsicht in die elementaren Vorgänge zwischen many und one sowie in die prinzipielle Relativierung zwischen ihnen gilt dagegen: Je mehr Alterität von starken ›Vielen‹ auftritt, desto höher sind die Chancen, dass sich etwas Kreatives entwickelt, das als eigenständige Größe zu fassen ist. Dieses Kreative ist etwas Neues im Verhältnis zu der Alterität, an der es hängt. Auf die Begegnung von Wissensformen angewendet, bedeutet das: Das gefundene kreative Moment begrenzt die Reichweite der bisherigen Wissensformen, die autonom für sich existierten, und die neue Wissensart führt zu einer Relativierung der früheren Wissensformen. Beispiele dafür finden sich etwa in der Verwendung der Mathe76
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matik in Naturwissenschaften, die deren metaphysische Unterfütterung seit der frühen Neuzeit immer mehr auflöste; in der Verwendung der Chemie in der Biologie, was über die Makromoleküle zur DNS führt; in der Verwendung der Paläontologie in der Biologie, was zur Evolutionsbiologie führte; in der Bedeutung der Nationalökonomie und Religionswissenschaft in der politischen Philosophie, was die Soziologie auslöste.
Relativierung und Theologie Speziell für einen Theologen ist dieser Zusammenhang ein erregender Gedanke: Theologie kommt umso besser voran, sie ist also umso kreativer, je mehr sie sich relativieren lässt von Wissensformen, über die sie nicht von sich her verfügt und die sie sich von anderen sagen lassen muss. Also verläuft der kreative Wissensprozess gerade umgekehrt, als man es normalerweise meint. Nicht der Selbstbezug bringt eine Wissensform voran, sondern der Außenbezug, der relativierende Kraft entfaltet, also die Schwächen im Innen dieser Wissensform freilegt mit den Stärken von anderen, die unausweichlich sind. Aus der Geschichte der Theologie lassen sich dafür sehr prominente Beispiele nennen wie die Heidenmission versus die Beschneidungstheologie der Jerusalemer Herrenbrüder, die Philosophie der hellenistischen Epoche und die Christologie, Aristoteles-Rezeptionen der Scholastik, das neuzeitliche Subjekt und die Rechtfertigungslehre Luthers, die Menschenrechte und die Weltkirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. In jedem dieser Außenbezüge findet sich natürlich ein Abenteuergehalt mit dem Potential des Scheiterns, das in Abenteuern nun einmal liegt. Sie führen zunächst zu einer Relativierung der Rede von Gott, aber es handelt sich um eine Relativierung der vor diesem Außenbezug selbstverständlichen Gottesrede. Diese Relativierung führt deshalb zu einer Öffnung der bestehenden Ordnung der Dinge auf einen größeren Themenbereich, wenn diese Selbstverständlichkeit überschritten ist. Für die Rede von Gott ist es entsprechend umso besser, je mehr sie relativiert wird, weil ohne diesen Vorgang die Universalität der Gottesbehauptung nicht zu erhalten ist. Die stärksten Relativierungen, die zugleich das größte Potential haben, eine Erweiterung der gängigen Gottesdarstellung in Richtung Universalität anzuregen, gehen von dem aus, was zunächst einmal ganz und gar gegen die Rede von Gott A
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spricht. Hier sind die größten Sprünge nach vorn zu erreichen. Whitehead nutzt diesen Zusammenhang in den berühmten Antithesen im fünften Abschnitt von Process and Reality (Whitehead 1978, 348). Jede dieser Antithesen – wie etwa die gleichzeitige Immanenz von Gott in der Welt und der Welt in Gott oder die Schöpfung der Welt durch Gott und die Erschaffung Gottes durch die Welt – basiert auf einem Gegensatz, der auf Absolutierungen der jeweils einen Position setzt und Relativitäten ausweicht. Deshalb behauptet Whitehead für alle diese Antithesen, die eine Art Schlussstein seiner Gottesargumentation darstellen, einen Bedeutungswandel: »The final summary can only be expressed in terms of a group of antitheses, whose apparent self-contradictions depend on neglect of the diverse categories of existence. In each antithesis there is a shift of meaning which converts the opposition into a contrast.« (Whitehead 1978, 348) Dieser Bedeutungswandel ergibt sich aus der Notwendigkeit zur differenten Betrachtung je nach Ausgangspunkt in einem Relativitätszusammenhang. Eine solche Vernetzung von Wissensformen, die relativ zueinander gestellt werden, ist aber alles andere als selbstverständlich, weil jede Relativierung einer bestimmenden Wissensformen und ihrer herrschenden Anschauungen befremdlich ist; die Ausschließungen eines Gegensatzes, von denen ihre Selbstverständlichkeit lebt, funktionieren dann nicht mehr. Das bedeutet nicht, dass jeder Gegensatz überschritten werden kann; aber es bedeutet, dass Gegensätze keine Argumentationsfiguren darstellen, die unbefragt übernommen werden müssen. Dieses Problem ist durchaus nicht gering, weil man es mit einem Wissen zu bekommt, das stets eine ziemliche Macht darstellt; deshalb werden zugleich enorme Beharrungstendenzen auf die beherrschende Ordnung seiner Dinge entwickelt. Aber ohne Alterität und ohne Pluralität schließen sich Wissensformen ab; das kann bis zu dem Punkt gehen, dass sie ideologisch werden. Wissen ist eine Form der Macht und es gehört zu den Technologien von Macht, Wissen einzusetzen.
Wissen und zwei Arten des Teilens Wissen ist dabei eine besondere Ressource, weil sie für Macht regelrecht unverzichtbar ist. Es bringt eine Teilung von Macht mit sich, diese Ressource zu teilen. Dieser Teilungsvorgang kann bedeuten, dass 78
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das Wissen größer wird; es kann aber auch bedeuten, dass es verknappt wird. Das erste ist dann der Fall, wenn Wissen öffentlich wird, also publiziert wird, so dass andere an ihm und an der weiteren Diskussion seiner Themen teilnehmen können. Das tastet ein bestimmtes Machtverhältnis an – jenes souveräne Machtverhältnis, das daraus entsteht, dass Wissen für bestimmte auserwählte Personen vorgesehen ist und seine Verwendung auf wenige begrenzt ist. Deshalb müssen Wissensformen, die sich von Ausschließungen her definieren wie die Betriebsgeheimnisse wichtiger Technologieunternehmen – etwa der Quellcode des Betriebssystems von Microsoft – diese Teilung verhindern. Solche Wissensformen setzen auf die zweite Teilungsart, divider/to divide statt partager/to share. Die Normalform von Macht setzt auf diese zweite Teilungsart – divide et impera, wie ein französischer König Cäsars Politikstrategie auf den Punkt gebracht hat. Im Fall des Wissens verknappt sie den Zugang und teilt ihn regelrecht auf, so dass nur wenige das ganze Wissen besitzen, der Rest aber nur ein Teilwissen erhält. Aus dieser Verknappung geht Wissen als Besitz hervor. Aber eine solche Ausschließung des Zugangs von anderen schließt auch deren mögliche Beiträge des Wissens aus und das mindert auf Dauer Kreativität. Ganz ähnlich lässt sich das Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaften unter diesen Teilungsgesichtspunkten beschreiben. Das, was in der frühen Neuzeit zwischen sie getreten ist, war im Wesentlichen eine Machtfrage. Wer sollte das Bild der Welt bestimmen – eine freie Form von Wissenschaft, die sich allein nach ihren eigenen Methoden richtete, oder Religionsgemeinschaften, die aus dem Weltverhältnis einen bestimmten, sie selbst privilegierenden Ort des Menschen ableiteten? Die religiöse Wissensform wollte nicht mit der neuen naturwissenschaftlichen Wissensform ihre gesellschaftliche Bedeutung teilen und schloss sie aus denen aus, die ihre Behauptungen kritisieren durften. Das führte sehr bald zu einem massiven Autoritätsverlust, schließlich stellte sich ja sehr bald heraus, dass die naturwissenschaftlich erhobene Wissensform die tragfähigeren Ergebnisse hervorbrachte als die religionsbasierte Weltanschauung. Je mehr diese Ergebnisse von anderen im anderen Sinn von teilen geteilt wurden, desto mehr verringerte sich die Einflussmöglichkeit der religiös basierten Wissensform. Es zeigte sich, dass die religiös basierte Wissensform ihre Ergebnisse nicht teilen konnte, so dass sie wachsen konnte. Entsprechend wurde ihre Position unter den Wissenschaften immer fragiler. Sie fürchtete A
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die Relativierung ihrer Behauptungen durch die andere Wissensform und gerade das erzeugt die Relativierung ihrer Erkenntnisse. Die Anerkennung, dass die eigene Wissensform begrenzt in ihrer Reichweite und Aussagekraft ist, fällt schwer, weil diese Anerkennung den eigenen Ort relativiert. Aber wer diese Anerkennung verweigert, schließt sich gegen Kritik, auch gegen weiterführende Kritik, ab und begrenzt die eigene Aussagefähigkeit schließlich auf den Punkt der Durchsetzungsfähigkeit der eigenen Anschauungen gegen die befremdlichen Begriffe, die diese Anschauungen als unvernünftig erweisen. In der Gegenwart entsteht ein umgekehrtes Problem: Theologie ist eine Wissensform der Machtbegrenzung geworden, vor allem seit sie die Menschenrechte als unverzichtbar für ihre Aussagen ansieht. Ihre Positionen stehen gegen die Souveränisierung menschlicher Selbstgerechtigkeiten; das ist das nachhaltige Ergebnis ihrer neuzeitlich-modernen Entwicklung. Sie ist natürlich keine Mathematik, die universal für Naturwissenschaften verwendbar ist, weshalb auch nicht zu erwarten ist, dass ihre Schöpfungsvorstellungen für Naturwissenschaft einen naturwissenschaftlichen Gewinn erbringen. Sie ist kein ›intelligent design‹, die ein besseres Naturverständnis beansprucht. Aber ihre Schöpfungsbehauptungen bringen die Machtthematik im heutigen Wissen auf den Punkt von Humanität und Inhumanität; darauf sind Naturwissenschaften und life sciences zunächst einmal nicht geeicht. Die Relativierung, die durch dieses Thema für die selbstverständliche Anerkennung ihrer Betätigung entsteht, fürchten sie sogar. Sie stehen vor einem Teilungsproblem, ob sie ihre Zugriffe auf das Leben von Menschen mit Wissensformen teilen können, die auf ganz andere Formen des Wissenserwerbes ausgerichtet sind. Aber dieses Thema der gesellschaftlichen Akzeptanz naturwissenschaftlich erworbenen Wissens stellt sich spätestens dann ein, wenn diese Wissenschaften in den Grenzbereich des Lebens – Beginn und Ende – vordringen und ihre Ergebnisse gesellschaftliche Folgewirkungen haben, etwa das Wissen um Dispositionen für schwere Krankheiten, die Macht und Ohnmacht an einem neuralgischen Punkt verknüpfen. Wenn Naturwissenschaften und life sciences diese Relativierung ihrer Wissensformen durch andere ausschließen, dann wird das ihre Kreativität begrenzen. Sie werden durchaus besser im Zugriff auf menschlichen Körper werden, also biomächtiger. Aber diese Biomacht wird zugleich ihre Akzeptanz massiv relativieren, wie in der Medizin bereits zu beobachten. 80
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Ohne Transformation durch Wissensformen, die um die Nicht-Souveränität des Wissens wissen, werden sie in der Transformation der Moderne einen schweren Gang gehen. Zudem bahnt sich womöglich eine erste Großkatastrophe an, der Klimawandel, mit dem der Machtgehalt in naturwissenschaftlichen Wissensformen als allgemeines Problem sichtbar wird. Er geht nicht zuletzt auf die industrialisierte Lebensform zurück, die ohne Naturwissenschaften und Ingenieurskunst nicht möglich wäre. Das wird zu einer gesellschaftlichen Relativierung der Naturwissenschaften führen, wie sie sich beim ersten Atombombenabwurf bereits angedeutet hat.
Utopien und Heterotopien Was geschieht bei einem Relativierungsvorgang, der von außen mitten im innen einer Wissensform ansetzt? Die Utopien, die durch den Selbstbezug eines Wissens entstehen, werden angetastet. Genauer gesagt: die Fortschrittsperspektiven werden fraglich, die eine Wissensform, die sich von sich selbst her begreift, dadurch entwickelt, dass sie sich auf bestimmte Probleme konzentriert, sich also diszipliniert, und anderes ausschließt, was störend ist. Unter dem Gesichtspunkt von Utopien sind Wissensformen unbegrenzt. Ihre Reichweite wird als immer größer werdend angesehen und jede Relativierung dessen muss ausgeschlossen werden. Relativierungsvorgänge unter Wissensformen tasten deshalb unweigerlich die Utopien an, die aus der Macht eines vorhandenen Wissens generiert werden. Die andere Wissensform stützt keine Utopien, aber sie bringt eine andere Topologie hervor. Sie macht sichtbar, was verschwiegen ist oder umgangen wird, weil es die Grenzen des Wissens deutlich macht, die mit einer anderen Wissensform konfrontiert wird. Der Raum des Wissens, der durch die Relativierung entsteht, hat eine heterotopische Qualität. Ich wende damit auf die Relativität, die zwischen Wissensformen entsteht, die sich nicht ausweichen können, den Begriff an, den Michel Foucault für Orte geprägt hat, die einen anderen Diskurs unvermeidlich machen als jenen, der der bestimmenden Ordnung der Dinge entspricht (Foucault 2001). Diese Orte sind für den bestimmenden Diskurs befremdlich, weil sie seine Utopien, seine Nicht-Orte, konterkarieren und das zur Sprache bringen, was um dieser Utopien willen aus dem Diskurs ausgeschlossen ist, der bestimmen will. Anders als die NichtA
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Orte sind Heterotopien Orte, die es tatsächlich gibt. Sie sind unausweichlich, weil und sofern sie von den Rändern eines bestimmenden Diskurses her als Realitäten sichtbar werden, die es gibt und die als befremdliche Größen die Selbstverständlichkeiten einer Ordnung der Dinge relativieren. Man würde ihnen um der eigenen, souveränen, nicht-befremdlichen Diskurse willen viel lieber ausweichen, aber das kann man nicht, wenn man mit ihrer Topologie konfrontiert ist. Foucault nennt Orte wie Friedhof, Theaterbühne, Bordell, Kolonien. Wenn sich Wissensformen begegnen, die sich nicht ausweichen können, entstehen eigene Sprachräume über Erkenntnisse, Methoden, Praktiken, Grenzen des Sagbaren, in denen die jeweils anderen Wissensformen Defizite oder Unklarheiten freilegen. Diese Räume sind befremdlich, aber sie bilden zugleich die Kristallisationskerne von veränderten Diskursen, die sich nicht mit den Utopien der eigenen Wissensformen zufrieden geben. Es sind Heterotopien in der Sprache. Es ist daher kein Zufall, dass die biblische Rede von Gott mit Orten verbunden ist, die einen heterotopen Charakter haben; die Einführung des Gottesnamens in einen Diskurs verändert die Ordnung der Dinge dieses Diskurses und legt etwas frei, worüber er nicht sprechen kann. In der Bibel sind es Orte wie der brennende Dornbusch, der Exodus, das Exil, die Höhle des Elijah in 1 Kön 19, das zerstörte Jerusalem, Golgotha, Gethsemani, das leere Grab. An ihnen wird jeweils sichtbar gemacht, wie sehr bestehende Diskurse über eine pharaonische Gottesidee, über den baldigen Einzug in ein Gelobtes Land, über das vor den Fremdvölkern erwählte Volk, über die triumphale Herrlichkeit Gottes, über die Unantastbarkeit einer Stadt mit dem Tempel Gottes, über eine Gottespräsenz frei von Ohnmacht und Niederlage scheitern. Diese Orte führen Wissensformen über Gott, Glauben und Religion ein, auf die die Selbstverständlichkeiten der bestehenden Diskurse über diese Größen nicht geeicht waren. Sie relativieren diese Diskurse und sie führen zu elementar veränderten Perspektiven. An solchen Heterotopien kristallisiert sich die Fähigkeit aus, ein Wissen im Modus von anderen, befremdlichen Wissensformen benennen zu können.
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Bemerkungen zu dem Vorschlag von Reto Luzius Fetz zum Megaparadigma Von daher möchte ich zwei Gesichtspunkte in das vorgeschlagene Megaparadigma einbringen, die auf dieser topologischen Interpretation von Whiteheads Relativitätsgedanken basieren.
1.
Zum Strukturkern
Fetz beschreibt die fundamentale Existenz- und Kategorialaussage dieses Strukturkerns wie folgt: »Die Wirklichkeit besteht aus einer Vielheit von organismischen Prozesseinheiten mit graduell zunehmender Subjektivität. Damit sind ineins ein Pluralismus, ein Organizismus, ein Prozessdenken und ein Subjektdenken behauptet. Diese Prozesseinheiten sind eigenständige Wesen, die jedoch innerlich miteinander verbunden sind, durch interne Relationen, womit der Relationismus als weiterer Wesenszug hinzukommt. Als Prozesseinheiten sind sie selbstschöpferisch; Kreativität ist ein Grundzug der Wirklichkeit. Die Prozesseinheiten sind ebenso Träger und Ausgangspunkt wie Zielpunkt und Resultat ihrer Prozesse. Die für sie konstitutiven Prozesse integrieren Außenelemente, sind aber letztlich von innen, von der sich konstituierenden Prozesseinheit selbst bestimmt. Die Selbstverwirklichung beruht auf einer Selbstregelung, einer Autoregulation, die sich vor allem in Gleichgewichtsprozessen ausdrückt.« (Reto Luzius Fetz, Subjekt, Prozess, Struktur. Zur ontologischen Konturierung des anvisierten Megaparadigmas, oben S. 35) Ich stimme der elementaren Bedeutung der Autoregulation zu; sie ist ein tragendes Element kreativer Prozesse. Aber zugleich, d. h. auf der gleichen metaphysischen Ebene, stehen diese Prozesseinheiten in einer Beziehung zu anderen solchen Einheiten. Ihr Innen ist mit einem Außen konfrontiert, dem sie nicht ausweichen können, was ich eine Innen-Außen-Konstellation nennen möchte. Der Aspekt der causa sui dieser Einheiten steht in einer polaren Konstellation mit anderen, die zu dem relativ sind, was autoreguliert wird. Deshalb kann Whitehead diese Autoregulation auch als ein morphologisches Geschehen begreifen. Es handelt sich um eine concrescence – die Autoregulation – und zugleich um eine ›coordinate division‹ – die Relativierung im kreativen Sinn durch andere. A
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2.
Zu den drei Charakteristika des Megaparadigmas
(a) Subjektdenken: Dazu heißt es in dem Vorschlag: »Angesichts der Vieldeutigkeit des Subjektbegriffs und der Subjekt-Objekt-Relation wird man abschließend die von unseren die Denkern anvisierte Position als seinen Standortbezug ›jenseits von Subjektivismus und Objektivismus‹ (Schwinn) bezeichnen können. Es geht, anders gesagt, um eine Positionierung, die sich weder im Innenraum des Subjekts einschließt, noch sich der Illusion einer nicht subjektbezogenen Objektwelt hingibt.« (Fetz, Subjekt, oben S. 39) Auch dem stimme ich zu. Dieser Ort jenseits von Subjektivismus und Objektivismus und diese Position weder im Innen- noch bloß im Außenraum machen die gedankliche Anziehungskraft der drei Philosophien aus, die dem Megaparadigma zugrunde liegen. Aber dieses Jenseits kann man auch direkt positiv benennen: Es handelt sich um eine Relativierung beider von beidem her. Subjekt ist bei Whitehead zugleich ›superject‹ und deshalb ist jedes Subjekt gleichsam ein Sujet der anderen Superjekte, von denen es relativiert wird. (b) Prozessdenken: Dazu heißt es bei Fetz: »Mit dem ein Wesen konstituierenden Prozess ist nichts anderes als die ihm innewohnende Kreativität angesprochen, durch die es sich selbst verwirklicht.« (Fetz, Subjekt, oben S. 41) Auch dem stimme ich zu. Aber zugleich kann man im Stil des hier gewählten Sprachspiels sagen: die Kreativiät ist diesem Prozess zugleich auch ›außenwohnend‹. Many sind eben auch eine Basis des one; dieser Zusammenhang gilt nicht nur einseitig, also dass allein das one Basis der many wäre. Von daher bringt Whiteheads Prozessdenken eine Pluralität ins Spiel, die eben unausweichlich bleibt, weil sie sich in jeder Aktualität, also in jedem Prozess, im Wechselspiel von many und one dynamisiert. Prozess ist deshalb eine sowohl mikroskopische wie zugleich makroskopische Wirklichkeit. Daher ist ein Prozesswesen »nur dadurch, dass es beides zugleich ist, Subjekt-Superjekt, also Wirkzentrum und Resultat seines Wirkens« (Fetz, Subjekt, oben S. 42 f.). Auch dem stimme ich zu und auch hier möchte ich ein ›aber‹ anfügen: Die genetic division jedes subject-superject bedeutet eine Konfrontation mit relativierenden Größen anderer Prozesseinheiten. Jede Einheit ist sozusagen ein Sujet, also ein Thema der Möglichkeiten aller anderen Prozesse seines Universums, das von den Prozessen gebildet wird, zu denen diese Einheit eine Relativität besitzt. Daraus ergibt sich, dass kosmologische Zusammenhänge von einzelnen Prozes84
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sen ausgehend benennbar sind; in der physikalischen Kosmologie lässt sich dieser Umstand nachvollziehen. Und für die Theologie ist er sogar elementar: Punktualität von bestimmten Prozessen kann universale Bedeutung für alle anderen Prozesse annehmen, die dazu in Beziehung gesetzt werden können, also eine kosmologische Bedeutung haben. Das sind solche Prozesse, in denen das Präsens Gottes Geschichte geworden ist. (c) Strukturdenken: Hier möchte ich die Identifizierung von ›morphologisch‹ und ›struktural‹ im Sinne eines genetischen Strukturalismus problematisieren, der sich strikt von einem Strukturalismus ohne Genese absetzt wie bei Levi-Strauss und der von Kollegen Fetz auch für den frühen Foucault vorausgesetzt wird. Bei Foucault mache ich zunächst nur ein Fragezeichen, er war eigentlich kein Strukturalist. Aber ich möchte in dieses Megaparadigma nun keine Foucault-Debatte einbringen. Vielmehr geht es mir um die Anfrage an die Identifizierung von ›morphologisch‹ und ›struktural‹. Der morphologische Anteil im Prozessdenken ist relativiert, siehe die einführenden Bemerkungen zum dritten Teil von Process and Reality: »Dieser objektive Eingriff anderer Einzelwesen begründet den kreativen Charakter, der die jeweilige Konkretisierung bedingt. Die Erfüllung jedes wirklichen Einzelwesens ist ein Element im Gegensein des Universums: Sie begrenzt die schrankenlose, abstrakte Möglichkeit auf die besondere, reale Potentialität, aus der jede neue Konkretisierung hervorgeht.« (PR, deutsche Übersetzung, S. 401 ff.) Diese Erfüllung ist also relativiert. Die konsequenteste aller Konkretisierung dieser Relativität geht vom actual entity Gott aus, das eben diese schrankenlose, abstrakte Möglichkeit in der primordial nature zur Verfügung hat und sie der jeweiligen concresence eines actual entity im berühmten ›initial aim‹ zur Verfügung stellt. Meine Anfrage an den vorgesehenen genetischen Strukturalismus ist, ob diese Ersetzung des morphological character durch das strukturale Element im Sinne eines genetischen Strukturalismus diese Relativität gewährleisten kann, die Whitehead in der primordial nature Gottes – und in der Wechselwirkung entsprechend dann auch mit der consequent nature Gottes – benennt.
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Literatur Alfred North Whitehead, Process and Reality. An Essay in Cosmology. Corrected Edition. Edited by David R. Griffin and Donald W. Sherburne. New York: Free Press, 1978 Alfred North Whitehead, Science in the Modern World. New York: Free Press, 1967 Michel Foucault, Des espaces autres, in: Dits et écrits II, 1976–1988, Paris: Gallimard, 2ème edition 2001, 1571–1581
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›Haltepunkte‹. Zur Funktion der Problemgenerierung bei Whitehead, Cassirer, Piaget und Herbart Elmar Anhalt
I. Ein wichtiges Identitätskennzeichen für Wissenschaft ist ihre Selbstgesetzgebung. Wissenschaft will und soll sich nicht nach fremden Vorgaben richten, sie will und soll sich der Heteronomie widersetzen. Ein erster Ausdruck hierfür war die deutliche Abkehr von Autoritätsbezeugungen gegenüber der kirchlichen Autorität. Pierre de Maricourt z. B. verzichtete in seiner Epistola de magnete (1269) völlig auf die nach scholastischem Brauch üblichen und geforderten Bezugnahmen auf die auctoritates; stattdessen stützte er seine Argumente auf gemachte Erfahrungen (vgl. Benoît 2 2002a, S. 344). Nicolas Chuquet, ein französischer Mathematiker, der in der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts lebte, schrieb auf Französisch, nicht aber in der Gelehrtensprache des Mittelalters und der Klassik: Latein (Benoît 2 2002b, S. 351 f., vgl. auch S. 358 f.). Auch Galileo Galilei bevorzugte die »vulgäre Sprache des Volkes«, um allen Menschen den radikalen Wandel des »Weltsystems« zur Überprüfung vorzulegen und das Ende einer Tradition zu besiegeln, die sich auf die Autorität des Aristoteles stützte (Stengers 2 2002, S. 396 f.). In der Philosophie wurde das Autonomiepostulat von René Descartes beschworen, als er im niederländischen Exil seine Kritik an kirchlich-theologischer Autorität durch die Veröffentlichung seines Discours de la Méthode in Landessprache, statt in der Gelehrtensprache Latein, deutlich machte. 1 Bedeutsam an dieser Geste ist, dass mit ihr aufmerksam gemacht wurde auf ein möglichst von äußeren Einflüssen befreites Arbeiten, das Wissenschaftsgeschichtlich ist dieser Schritt von großer Bedeutung gewesen. Für Descartes’ Leben, also biographiegeschichtlich, war ein Rückschritt nötig: Er veröffentlichte das nächste Werk, die Meditationes de prima philosophia, wieder in der Gelehrtensprache und stellte ihm eine Demutsgeste gegenüber den Theologen voran.
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für jeden zugänglich gemacht werden sollte. Nicht der Glaube an Autoritäten, sondern die Orientierung an selbst geprüften Gewissheiten sollte der Wissenschaft den Weg in die Moderne weisen. Deshalb lehnte man eine Gelehrtensprache ab und suchte man nach unvoreingenommener Kontrolle, die eigenen Gesetzen folgt. 2 In der langen Zeit der Aufklärung distanzierte sich die Wissenschaft in schwierigen und langwierigen Auseinandersetzungen von der traditionsmächtigen Bevormundung durch Kirche und Politik, 3 indem sie den Anspruch aufstellte, sie solle und müsse selbst die Regeln generieren (dürfen), die sie zur Orientierung benötigt. Wissenschaft wollte sich ihre Orientierung nicht von anderen gesellschaftlichen Systemen vorschreiben lassen, sondern sie sollte jeden Versuch der Orientierung in ihre eigene »Regelsprache« umschreiben. Darin sollte sie sich als autonom erweisen. Es hat sich unter diesem Anspruch die Ansicht durchgesetzt, dass Wissenschaft als ein spezifisches System der Gesellschaft anzusehen ist, das von anderen Systemen unterschieden werden muss, weil es eigenen Formgesetzmäßigkeiten unterliegt, und das deshalb eigener Beschreibungskriterien bedarf. 4 Diese Beschreibung einer Situation, in der die Wissenschaft ihre Autonomie durch Selbstdeskription kontrolliert (vgl. Luhmann 1992/ 3 1998), kann prima facie zu der Ansicht verleiten, (1) wissenschaftliches Arbeiten sei in der Lage, sich konsequent von allen Abhängigkeiten zu befreien, (2) die Wissenschaft sei das einzige wirklich autonome Gesellschaftssystem. 5 Auf den zweiten Blick wird allerdings der Ausdruck dieses Anspruches war z. B. die Etablierung einer eigenen Gerichtsbarkeit durch die Royal Society (vgl. Wiesenfeldt 2006, S. 266 f.) 3 Die Eigendynamik des wissenschaftlichen Fortschritts zog auch eine Grenze zwischen sich und der Sprache des Alltags, in der auf wissenschaftliche Absicherung verzichtet wird. Insofern richtet sich der Autonomieanspruch der Wissenschaft nicht nur gegen Politik und Kirche (Religion), sondern in gleicher Weise auch gegen das Alltagsverständnis. Politik, Kirche (Religion) und Alltag sind die drei »Kontrahenten«, in Abgrenzung zu denen das wissenschaftliche Autonomiepostulat einerseits erst Kontur gewinnt, und mit denen sich andererseits aber Wissenschaftler immer wieder auch verbündet haben. Vgl. hierzu Serres 2 2002. 4 Diese Kennzeichnung übersieht keineswegs, dass Wissenschaftler in vielfältigen und häufig erst rückblickend erkennbaren Verflechtungen mit außerwissenschaftlichen Bereichen stehen und in diesen Verflechtungen Erkenntnisse produzieren, die ebenfalls »kontaminiert« sind mit außerwissenschaftlichen Interessen. Vgl. hierzu z. B. Daston 2001, S. 143 ff.; Galison 1995; Latour 1988; 2 2002; McAllister 2006; Shapin 1994. 5 Ludwig Feuerbach hat diese Ansicht in Wesen des Christenthums (1848) vertreten: Die wissenschaftlichen Erfolge und in ihrem Gefolge technischen Errungenschaften sind 2
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Trugschluss deutlich: Die Wissenschaft erweist sich als autonom, weil und indem sie in Abhängigkeiten steht. Autonomie besagt nämlich nicht einseitig »Abwesenheit externer Zwänge oder Beschränkungen«, sondern »Unabhängigkeit in der Selbstregulierung« (Luhmann/Schorr 1988, S. 51 f.). Die Selbstregulierung schafft »strukturelle Beschränkungen«, in denen sich die Autonomie eines Systems beweist. Ein System erweist sich daher nicht als autonom, weil es frei ist von Beschränkungen, sondern autonomes Verhalten zeigt es in der »Form des Umgangs mit Beschränkungen« (ebd., S. 53). Dies gilt nach Niklas Luhmann nicht nur für die Wissenschaft, sondern für jedes gesellschaftliche System. Autonomie hat das Wechselverhältnis von Abhängigkeit und Unabhängigkeit zur Voraussetzung, weil ansonsten nichts zu regulieren wäre. 6 Dem Autonomiepostulat entspricht folglich nicht der Gedanke, eine Zunahme von wissenschaftlicher Unabhängigkeit sei gleichzusetzen mit einer Isolierung des Wissenschaftssystems gegen andere Systeme der Gesellschaft – das wäre der vergebliche Versuch einer Absolutsetzung von Wissenschaft. Vielmehr entspricht der Gedanke der wissenschaftlichen Autonomie »kombinatorischen Niveaus« der Regulierung des Zusammenspiels von Abhängigkeiten und Unabhängigkeiten im System der Wissenschaft selbst wie auch im Verhältnis zwischen Wissenschaft und anderen Systemen der Gesellschaft (ebd., S. 52).
II. Die Bestimmung des Autonomiebegriffs von Luhmann folgt einem Beschreibungsmuster, das in der Logik als »Korrelation« bekannt ist. Beschreibungen von Korrelationen gehen nicht von etwas aus, das ales, die das menschliche Sehnen nach einem Leben, in dem Leid und Übel sämtlich und auf immer beseitigt sind, zur Erfüllung bringen werden. Die Hoffnung, die sich bis dahin in religiösen Ansichten und Beschwörungen Ausdruck verleiht, wird durch den Fortschritt in Wissenschaft und Technik überflüssig werden. Damit war die Opposition von Wissenschaft und Religion auf den Punkt gebracht und die Religion als defizitär bzw. die Wissenschaft als das allein autonome System statuiert worden. 6 Ein Beobachter kann folglich Autonomie und Heteronomie zusammen beachten und im Hinblick auf die Regulierung dieses Verhältnisses bestimmen (vgl. hierzu Luhmann 1992/3 1998, S. 292). A
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lein von sich aus (was wäre das?) bestimmt werden kann, sondern das seine Bestimmung durch Relationierung mit anderem erhält. Alles, was beschrieben wird, wird als ein Relatum bestimmt, d. h. es wird in seinen Relationen zu einem anderen Relatum (bzw. zu weiteren Relata) gesehen. Der Begriff »Korrelation« bezeichnet Relationen, deren Relata (»Korrelata«) wechselseitig aufeinander verweisen. Kein Korrelatum kann aus einem anderen abgeleitet oder auf ein anderes reduziert werden. Korrelata können nicht gegeneinander ausgetauscht oder ohne Bezug aufeinander bestimmt werden. 7 Ein Korrelatum wird nicht, im Unterschied zu einem Relatum, nur einseitig in seinem Verhältnis zu einem anderen Relatum bestimmt. Eine korrelationale Bestimmung verlangt vielmehr danach, eine wechselseitige Bestimmung des Verhältnisses eines Relatums zu einem anderen Relatum vorzunehmen, d. h. das Verhältnis des Relatums A zum Relatum B im Zusammenhang mit dem Verhältnis des Relatums B zum Relatum A zu bestimmen. In der Logik wird dieser Zusammenhang als »gegenseitige Abhängigkeit« aufgefasst (vgl. z. B. Bochen´ski 1956; Klaus 1972; Kondakow 1978). Korrelata sind durchgängig in gegenseitiger Abhängigkeit zu bestimmen. Modifikationen eines Korrelatums führen daher unweigerlich zu einer Veränderung der Korrelation und eine Modifikation der Korrelation zieht unweigerlich Veränderungen der Korrelata nach sich. 8 7 Ein schlichtes Beispiel für eine Korrelation gibt Augustinus in De trinitate Buch V: »Nachbarschaft« ist eine Korrelation, deren Korrelata »Nachbarn« sind. »Nachbar wird beziehentlich zu einem Nachbarn ausgesagt, und da sie in gleicherweise einander Nachbarn sind – wie nämlich der erste dem zweiten, so ist auch der zweite dem ersten benachbart –, so ist die Nachbarschaft in beiden gleich.« Augustinus gibt hier ein Beispiel für eine Korrelation, denn was für den einen Nachbarn gilt, gilt auch für den anderen: jeder ist Nachbar des jeweils anderen. »Nachbarschaft« ist ein Beispiel für einen korrelationalen Zusammenhang, der aus zwei nicht aufeinander zurückführbaren, nicht durch einander ersetzbaren und nicht auseinander ableitbaren Elementen besteht. Wenn wir von Nachbarschaft sprechen, dann meinen wir zwei Personen, die in einem Wechselverhältnis zueinander stehen. Beide Relata befinden sich in einer gegenseitigen Abhängigkeit. Damit von einer Person als einem Nachbarn gesprochen werden kann, muss es eine zweite Person geben, die ebenfalls Nachbar ist, und zwar Nachbar der ersten Person et vice versa. Ohne die jeweils zweite Person würde auch die erste Person nicht Nachbar genannt werden können. Einen Nachbar nur für sich gibt es nämlich nicht. Wer sich ein Bild von der Nachbarschaft zweier Personen machen will, muss sich über die Perspektiven, die jede Person für sich vom jeweils anderen Nachbar hat, in ihrem Zusammenhang informieren. 8 Auffällig ist eine im 20. Jahrhundert zu erkennende Entwicklung auf verschiedenen
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Entscheidend am korrelationalen Denken ist, dass es weder notwendig noch möglich ist, auf außerhalb einer Korrelation befindliche »Größen« zurückzugreifen. 9 Korrelationen sind nicht mehr und nicht weniger als Relationsgeflechte von wechselseitig aufeinander verweisenden Relata, deren Bestimmung vollständig im Relationsgeflecht zu verorten ist. Eine Verankerung außerhalb dieses Relationsgeflechts ist im korrelationalen Denken nicht vorgesehen. Es gibt für solche Bestimmungen keinen festen »Haltepunkt« außerhalb ihrer selbst. Korrelationale Zusammenhänge schweben gleichsam in der Luft. Luhmann hat mit seiner Beschreibung von Autonomie auf das als Korrelation zu beschreibende Verhältnis der gegenseitigen Abhängigkeit von Systemen der Gesellschaft aufmerksam gemacht. In einer solchen Situation kann überhaupt erst von Autonomie im Sinne Luhmanns sinnvoll gesprochen werden, weil erst durch Selbstregulierung des Verhältnisses zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit Regeln, die im System selbst erarbeitet worden sind, von externen Regel(vorgabe)n unterscheidbar sind und auf der Grundlage dieser Differenz eine Option für selbst gewählte Regeln getroffen werden kann. Es gibt in einer solchen Situation, wie Luhmann betont, für die Wissenschaft »keine fundierenden Asymmetrien« zwischen ihr und einem anderen System (Luhmann 1992/3 1998, S. 294). Jedes System, auch das Wissenschaftssystem, generiert aus sich heraus die Differenz zwischen Operations- und Kontrollebenen. Das Wissenschaftssystem kontrolliert diese Differenz mit eigenen Mitteln und schafft sich auf diese Gebieten hin zu korrelationalen Beschreibungsmustern. Ein Beispiel: Freuds Tiefenpsychologie thematisierte das Verhältnis zwischen einer Person und ihrer Umgebung nach dem Muster einer einfachen Relation. Das Verhältnis wurde nahezu ausschließlich aus der Perspektive des Individuums bestimmt. Der Probierstein, an dem die Beschreibung getestet wurde, war das individuelle traumatische Erlebnis und ihm nachfolgende Verarbeitungsprozesse. Mit Alfred Adler und, in der Freud-Schule selbst, mit Erik Erikson wird die Perspektive geöffnet – die Tiefenpsychologie wird zur analytischen Sozialpsychologie bzw. später zur Humanistischen Psychologie. Die Öffnung der Perspektive geht einher mit dem Wechsel des Beschreibungsmusters weg von der einfachen Relationierung und hin zur wechselseitigen bzw. korrelationalen Verhältnisbestimmung, in der die gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen Individuum und Gruppe bzw. Gesellschaft zum Gegenstand von Diagnose und Therapie erklärt werden. In systemischen oder Familientherapien wird gezeigt, wie die Korrelationen zwischen den Individuen und ihren Umwelten bestimmt werden können. 9 Vgl. in diesem Zusammenhang Bruno Latours Versuch, auf der Grundlage von Whiteheads Ansatz eine »Ontologie der Ereignisse und Relationen« zu entwickeln (Latour 2001, S. 280). A
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Weise Orientierung, ohne einen festen Außenhalt voraussetzen zu müssen. In diesem Sinne erscheint es nur folgerichtig, wenn Wissenschaft auf korrelationale Beschreibungsmuster stößt, um sich in ihnen der Autonomie zu vergewissern. 10 Diese Beschreibung führt in ein Paradox: Wissenschaft wird als System beschrieben, dass sich als unabhängig erweist, indem es Abhängigkeiten wählt. Es ist unabhängig, während es abhängig ist, und es ist abhängig, obwohl es Unabhängigkeit beweist. Dies führt zur Frage, wie das Verhältnis zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit in der Wissenschaft entsteht, aufrechterhalten und verändert wird, wenn doch alles, was man in der Wissenschaft zu diesem Verhältnis sagen kann, über eine korrelationale Bestimmung nicht hinauskommt. Diese Frage wird in diesem Beitrag unter Bezugnahme auf die Werke von Alfred N. Whitehead, Ernst Cassirer und Jean Piaget sowie weiterer Autoren behandelt.
III. Die Antwort basiert auf der Annahme, dass die Wissenschaft das Verhältnis zwischen Abhängigkeiten und Unabhängigkeiten durch die Art und Weise reguliert, wie sie ihre Erkenntnisse gewinnt und sichert. In ihrer Ausrichtung an methodischer Kontrollierbarkeit des eigenen Vorgehens im weitesten Sinne ist das Spezifikum der Wissenschaft zu finden. 11 Diese Ausrichtung der Wissenschaft sichert ihre spezifische An dieser Stelle muss dann allerdings auch die Frage gestellt werden, die in den verschiedenen Varianten wissenschaftlicher Grundlagenforschung längst negativ beantwortet worden ist: Können korrelationale Beschreibungen dann aber überhaupt noch »die Realität« beschreiben? Vgl. hierzu Pickerings Theorie der Mangel (Pickering 1994; 1995; 2007). 11 Der Begriff der Methode wird hier nicht in dem engen Sinne gebraucht, wie er im Zusammenhang der empirisch-analytischen Wissenschaftstheorie verstanden wird, d. h. als bloß hypothesengeleitete Forschungsmethode zum Zwecke der Veri- bzw. Falsifizierung von Annahmen, die einer theoretischen Auffassung gemäß formuliert werden, durch Erhebung von Daten. »Ausrichtung an Methode« meint vielmehr, die als Prinzip der Wissenschaft formulierbare Forderung nach einem Vorgehen, das sich an Regeln hält, die es aus sich heraus generiert, und das diese Regelorientierung mit eigenen Mitteln zu begründen versucht. Wer sich wissenschaftlich betätigt, sieht sich deshalb der Forderung ausgesetzt, die Regeln angeben zu müssen, nach denen er vorgeht, um jedem anderen die Möglichkeit zur Überprüfung zu eröffnen. Dies ist eine Forderung, die sich 10
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Form der Unabhängigkeit in den unvermeidbaren Abhängigkeiten und zwingt sie geradezu zu einer korrelational verfassten Selbstbeschreibung. Der Forderung nach methodischer Kontrollierbarkeit des eigenen Vorgehens werden nicht nur die eigenen, als wissenschaftlich bezeichneten Tätigkeiten unterworfen, sondern auch externe Beschreibungen werden mit dieser Forderung konfrontiert. 12 Auch wer Wissenschaft von einer externen Warte aus beschreibt, soll an diesem Maßstab gemessen werden. Die Ausrichtung an der methodischen Kontrollierbarkeit des eigenen Vorgehens ist sozusagen der wissenschaftliche Standard par excellence, das Erkennungszeichen von Wissenschaft und das Differenzkriterium, mit dem sich Wissenschaft von anderem unterscheidet, um sich als autonom zu beschreiben. 13 Ein zentrales Kennzeichen des methodischen Vorgehens in der Wissenschaft ist, dass es dem Anspruch auf Selbstreflexion unterstellt wird, d. h. dass die Wissenschaft bemüht ist, das methodische Vorgehen selbst zum Gegenstand der Reflexion zu machen, um Kontrollmöglichkeiten und -grenzen auf der Grundlage von Gründen auszuloten. 14 Das bedeutet nicht nur, dass die Wissenschaft bemüht ist, zu wissen, was sie macht, sondern auch, zu begründen, was sie tut. Weil es auch hierfür »keine fundierenden Asymmetrien« gibt, steht die Wissenschaft vor der Aufgabe, die Korrelationen in den Blick zu nehmen, in denen die Ausrichtung an Methode Gestalt gewinnt. in keinem anderen System der Gesellschaft in dieser Schärfe und Konsequenz findet. Vgl. hierzu auch Lorraine Dastons Versuch, die Naturwissenschaft als »Kultur der wissenschaftlichen Objektivität« zu beschreiben, um Wissenschaft von anderem zu unterscheiden (Daston 2001). 12 So bereits Robert Merton, der als zentrale und deshalb auch von externer Beobachtung zu berücksichtigende Kriterien Universalismus, Unparteilichkeit, kontrollierter Skeptizismus und Kommunismus vorschlug (wobei das letzte Kriterium von ihm später zurückgenommen wurde) (Merton 1942). Für eine weitere Differenzierung der Kriterien, mit deren Hilfe Wissenschaft Orientierung findet, vgl. Megill 1994. 13 Die differentia specifica von Wissenschaft wird hier also nicht in der Gegenstandsorientierung gesehen. Es ist nicht der spezifische Gegenstand, der Wissenschaft als ein eigenständiges System konstituiert, sondern die Art und Weise der Thematisierung eines Gegenstands. Wissenschaft thematisiert Gegenstände, die auch aus anderen Perspektiven thematisiert werden, allerdings gibt es Unterschiede in der Behandlung der Gegenstände. Erhellend hierzu ist auch die Diskussion im angelsächsischen Sprachraum über »Demarcation Criterion« bzw. Abgrenzungskriterien (vgl. z. B. Daston 2001, S. 137). 14 Hierzu gilt als einschlägige Referenz Max Webers Aufsatz zur Objektivität in der wissenschaftlichen Erkenntnis (Weber 3 1968). A
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Diese Aufgabe wird im vorliegenden Beitrag als Problematisierung von »Haltepunkten« beschrieben. In den Werken von Alfred N. Whitehead, Ernst Cassirer und Jean Piaget finden sich wichtige Ansätze zu einer Theorie, in der die Ausrichtung an methodischer Kontrollierbarkeit des eigenen Vorgehens als Problematisierung von »Haltepunkten« thematisiert wird. Neben weiteren Autoren, von denen in diesem Beitrag nur wenige Erwähnung finden können, 15 haben Whitehead, Cassirer und Piaget auf je unterschiedliche Weise dazu beigetragen, diese Art von Theorie in unser Blickfeld zu rücken und unser Verständnis von ihr zu erweitern. Sie haben damit spezifische Beiträge zur Herausbildung eines Forschungsverständnisses geliefert, das von Fetz et al. als »Meta-« bzw. »Megaparadigma« rekonstruiert wird (Fetz et al. Einleitung in diesen Band, oben S. 32). In diesem Sinne wird in diesem Beitrag ein solches Meta- bzw. Megaparadigmas thematisiert. Im ersten Schritt wird dazu der Begriff des Paradigmas in der Bedeutung »Megaparadigma« bzw. »Metaparadigma« soweit geklärt, wie es für die nachfolgenden Ausführungen nötig ist (IV.-VI.). Im zweiten Schritt werden »Konturen eines ›neuen‹ Wissenschaftsprogramms« (Fetz 1997) beschrieben, indem zentrale Aspekte des wissenschaftlichen Fortschreitens erläutert werden: Problemstellung, Problemorientierung, Problemgenerierung, Zirkel der Problemgenerierung und Perspektivität. In diesem Zusammenhang wird die Funktion von »Haltepunkten« in der Forschung im Mittelpunkt der Beschreibung stehen (VII.-XV.). Zum Abschluss wird an einem Beispiel gezeigt, dass die Erziehungswissenschaft eine Tradition der Problematisierung von »Haltepunkten« kennt, die bis vor die Zeit von Whitehead, Cassirer und Piaget zurückreicht: In der Herbart-Tradition des Faches wird ein spezifischer Forschungszirkel entfaltet, der die zuvor vorgestellten Momente aufweist (XVI.). Dies soll als ein Indiz dafür verstanden werden, dass das als Mega- bzw. Metaparadigma zu beschreibende Verständnis von Wissenschaft an verschiedenen Orten der Wissenschaft entstanden ist, weil unter den Bedingungen der Moderne das traditionelle Wissenschaftsverständnis nicht mehr die erwartbar erfolgreichen Ansätze bereitstellen konnte.
Ausführlicher bin ich in meiner Habilitationsschrift auf die Konturen eines solchen Forschungskonzeptes sowie seiner Denker eingegangen (vgl. Anhalt 2005).
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IV. Die Ausdrücke »Megaparadigma« und »Metaparadigma« werden nur selten und dann nicht in einem terminologisch geklärten Sinne verwendet. 16 Dies verlangt nach einer Begriffsklärung, um Spekulationen einzugrenzen und um Missverständnisse im Sprachgebrauch nach Möglichkeit zu minimieren. Die folgenden Überlegungen stellen einen Versuch zu einer solchen Begriffsklärung dar. Sie beanspruchen keineswegs Vollständigkeit oder Endgültigkeit, sondern sollen lediglich die Terminologie für die anschließenden Ausführungen bereitstellen. Dazu wird zunächst kurz in Erinnerung gerufen, was Thomas S. Kuhn mit dem Begriff des Paradigmas bezeichnet hat. Anschließend werden die Begriffe »Mega-« und »Metaparadigma« erläutert. Der Begriff »Paradigma« wurde von Kuhn als terminus technicus in die Wissenschaftssprache eingeführt. Der Begriff stellt ein Einteilungsmuster wissenschaftlichen Vorgehens dar. Kuhns Beispielklasse bilden die Naturwissenschaften. In seiner revidierten Fassung, die Kuhn als »die einzige, die philologisch überhaupt angemessen ist«, bezeichnet hat (Kuhn 1978, S. 420), bezeichnet der Begriff Paradigma »Musterbeispiele«, die als »Standardbeispiele einer Gemeinschaft« fungieren (ebd., S. 401). Paradigmen im Sinne von Musterbeispielen »sind Problemlösungen« (ebd., S. 393). Der Begriff des Paradigmas macht nach Kuhn nur Sinn in Verbindung mit einem zweiten Begriff, den er in seiner Revision der Paradigmentheorie eingeführt hat, dem Begriff der »disziplinären Matrix«. 16 Für den Ausdruck »Megaparadigma« vgl. z. B. Diaz-Bone 2006a S. 71, der Foucaults Werk als ein »Mega-Paradigma in den Sozial- und Geisteswissenschaften« bezeichnet, ohne den Begriff allerdings zu klären. Vgl. ds., der andernorts den Strukturalismus in der Nachfolge Levi-Strauss’ als »Mega-Paradigma in Frankreich« bezeichnet (Diaz-Bone 2006b, S. 64; dort auch weitere Literaturhinweise). Für die Agrarwirtschaft hat Gottwald z. B. die Orientierung an einem Verständnis von Kultur als »Megaparadigma« gefordert (Gottwald o. J., S. 20). In der Pflegewissenschaft findet sich eine Verwendung des Begriffes »Megaparadigma«, die nicht an den Kuhnschen Begriff des Paradigmas anschließt, sondern explizit davon ausgeht, dass Paradigmen nur in den Naturwissenschaften gepflegt werden und die Pflegewissenschaft, wie alle Sozialwissenschaften, ohne Paradigmen auskommen. Das wirft die Frage auf, wie eine Wissenschaft sich an Megaparadigmen orientieren kann, ohne Paradigmen zu kennen. In der Pflegewissenschaft wird der Begriff des Megaparadigmas häufig synonym mit Metaparadigma verwendet, um Leitideen der Pflege, wie z. B. Personorientierung oder Berücksichtigung von Umwelteinflüssen, zu bezeichnen (vgl. z. B. Fawcett 1996).
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Eine Disziplin, in der geforscht wird, weist demzufolge spezifische Gemeinsamkeiten auf, die Kuhn am Verhalten der Wissenschaftler abliest. Die Problemstellungen und Lösungsstrategien, die in dieser Disziplin vorrangig Beachtung finden, sind »der gemeinsame Besitz der Vertreter einer Fachdisziplin«. Auch die Bestimmungsmomente einer »Matrix« zielen auf solche Gemeinsamkeiten ab. So verwenden die Wissenschaftler »symbolische Verallgemeinerungen, Modelle und Musterbeispiele« in der gleichen Weise (ebd., S. 392). Sie bilden dadurch eine »wissenschaftliche Gemeinschaft«, die sich durch eine »verhältnismäßig starke Kommunikation innerhalb der Gruppe« und »verhältnismäßig einmütige Urteile in Fachfragen« auszeichnet. Man kann daher sagen, die Wissenschaftler hätten »in auffälligem Maße die gleiche Literatur gelesen und die gleichen Lehren aus ihr gezogen« (ebd., S. 390 u. 391). Der Wandel von einem Paradigma zu einem anderen, d. h. von einer mehrheitlich verfolgten Problemlösestrategie zu einer anderen in einer Disziplin, kommt durch eine »wissenschaftliche Revolution« zustande. Durch sie werden Leitvorstellungen abgelöst und durch neue ersetzt. Entgegen einem geradezu inflationären Gebrauch des Wortes sind für Kuhn »Revolutionen« äußerst seltene Erscheinungen. Modifikationen in den Leitvorstellungen einer Naturwissenschaft können offensichtlich nur unter großen Anstrengungen erfolgen. In den »Revolutionen« strukturiert sich eine wissenschaftliche Disziplin mit eigenen Mitteln neu, anstatt z. B. nur auf einen Generationenwechsel zu warten. Der von Kuhn eingeführte Begriff »wissenschaftliche Revolution« wird mittlerweile kaum noch verwendet. An seiner Stelle ist es zu einem nicht minder inflationär gebrauchten Einsatz von »turns« gekommen. Der Ausdruck turn, z. B. in der Rede vom linguistic turn, soll spezifische Verlagerungen von Themenschwerpunkten und damit verbundenen methodischen Neuausrichtungen bezeichnen. 17 In diesem Sinne weist er Ähnlichkeiten mit dem Kuhnschen Ausdruck »Revolution« auf. Beide Ausdrücke kennzeichnen Umbrüche in den Orientierung stiftenden Leitideen wissenschaftlicher Forschung. Wer sich für den Ausdruck »Paradigma« entscheidet, wird deshalb gut beraten sein, Vgl. hierzu Hagners Erläuterungen im Kontext der Ablösung des Begriffes Paradigma durch den Begriff turn zur Kennzeichnung von Differenzen des wissenschaftlichen Fortschritts (Hagner 2001, S. 20 f.).
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sich die Differenzen zwischen beiden Begriffen deutlich zu machen. Zu diesem Zweck werde ich versuchen, die Begriffe »Megaparadigma« und »Metaparadigma« näher zu bestimmen. Die Ausdrücke »Mega-« bzw. »Metaparadigma« finden sich in Kuhns Theorie nicht. Sie führen eine Differenz ein, die es ermöglicht, Paradigmen im Verbund (»Megaparadigma«, s. V.) zu betrachten, um auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede verschiedener Paradigmen zu reflektieren (»Metaparadigma«, s. VI.). Sie stellen insofern die Möglichkeit bereit, die Paradigmentheorie im Sinne Kuhns weiterzuentwickeln. 18 Dies ist in zwei Richtungen möglich: Man kann den Paradigmenbegriff von Kuhn zur Bezeichnung von gemeinsam geteilten »Problemlösungen« verwenden und Verbünde von Paradigmen als großformatige Problemlösungen (»Megaparadigmen«) ansehen. Ich werde in diesem Beitrag die entgegengesetzte Richtung einschlagen: Mit Whitehead, Cassirer und Piaget werde ich zu zeigen versuchen, dass die Ausdrücke »Mega-« bzw. »Metaparadigma« auch dazu dienen können, den Prozess der Problemgenerierung zu bezeichnen. Der Ausdruck »Paradigma« wird daher nicht in erster Linie in historischer Absicht, wie bei Kuhn, verwendet, sondern um auf ein systematisches Moment der Selbstbeschreibung von Wissenschaft aufmerksam zu machen.
V. Der Ausdruck »Mega« bezeichnet recht Unterschiedliches. 19 Die griechische Vorsilbe mffga@ bedeutet ursprünglich groß. In dieser Bedeu18 Was seitens der Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsforschung gefordert wird (vgl. Hagner 2001, S. 36 Anm. 19). 19 Die Vorsilbe »Mega« wird z. B. als Maßeinheit für 1 Million verwendet. So zeigt die Vorsilbe »Mega« im Wort »Megabit« an, dass es sich um eine Million Bits handelt. Der Ausdruck »Mega« benennt in der Mathematik aber auch eine spezifische Zahl in der sog. Steinhaus-Moser-Notation, die auf der Notation hoher Potenzen durch geometrische Symbole basiert. (Mathematiker formalisieren diese Maßeinheit folgendermaßen: (103 )2 = 106 . Die Notation wurde 1950 von dem polnischen Mathematiker Hugo Steinhaus als Kreisnotation vorgeschlagen und später durch den Österreicher Leo Moser auf die Polygonnotation erweitert. Man rechnet in dieser Notation mit anschaulich nicht mehr darstellbaren Zahlenwerten, wie z. B. der Zahl 3,2*10616 (in Worten: zweiunddreißig Billiarden Zentillionen).) Darüber hinaus gibt es »Mega« noch als Bezeichnung einer Kette von Einkaufszentren in Russland, einer französischen Automobilmarke
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tung wird die Vorsilbe in vielen Wörtern eingesetzt, um etwas als groß innerhalb eines Sachgebietes zu bezeichnen. Ein »Megalith« z. B. ist ein »großer Stein« vorgeschichtlicher Grabbauten, wie sie für die Kultur der Jungsteinzeit typisch gewesen sind. Als »Megaloblast« bezeichnen Mediziner abnorme Vergrößerungen von roten Blutkörperchen. »Megalopolis« nennt man eine Riesenstadt, die aus zwei nahe beieinander liegenden Städten entstanden ist. Psychologen bezeichnen mit dem Ausdruck »Megalomanie« die Selbsteinschätzung einer Person, die übertrieben ist und im Volksmund als Größenwahn bezeichnet wird. Als groß wurde in der Antike auch aufgefasst, was von besonderer Bedeutung ist, wie z. B. der mffga@ ˆrko@ bei der Styx: »Der Schwur bei der Styx war nicht nur einer der ältesten, sondern der ursprünglich einzige sollenne und rechtskräftige Eid der Götter, der einzige, der als vor anderen mffga@ ˆrko@ respectirt werden musste.« (Hirzel 1979, S. 173). 20 Diese Hervorhebung der Bedeutung durch die Vorsilbe »Mega« findet sich heute in einigen Jugendsprachen wieder. Die Vorsilbe »Mega« wird dort häufig synonym mit »Super« gebraucht, z. B. in Ausdrücken wie »megaschön« oder »megainteressant«. In Kombination mit dem Begriff »Paradigma« wäre also von einem »Großparadigma« auszugehen bzw. von einem »Paradigma mit einer besonderen Bedeutung«. Dies wirft die Frage auf, ob und, wenn ja, inwiefern sich dies mit Kuhns Paradigmatheorie in Einklang bringen lässt. In der Einleitung zu diesem Band wird die von Kuhn für die Verwendung des Begriffes »Paradigma« ausdrücklich vorgenommene Begrenzung auf eine Disziplin explizit aufgehoben. Anvisiert wird ein »übergreifendes Megaparadigma für Philosophie und Wissenschaft« (Fetz et al. Einleitung in diesen Band, oben S. 32). In »Konturen eines (»Aixam-Mega«), zur Abkürzung der »Marx-Engels-Gesamtausgabe«, eines von Volkswagen entwickelten Mechanisch-Elektrischen Getriebe-Automaten oder des »Mobilen Einsatztrupps gegen Gewalt und Ausländerfeindlichkeit« in Brandenburg. 20 Styx (griech. StÐx – Fluss des Hasses) ist in der griechischen Mythologie neben Acheron, Lethe, Kokytos, Phlegethon und Eridanus ein Fluss der Unterwelt und eine Flussgöttin, Tochter des Okeanos und der Tethys. Entsprechend der Sage stellt der Fluss Styx die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und dem Totenreich Hades dar. Er umfließt den Hades neun Mal. Die Seelen der Toten werden von Charon, dem Fährmann, über den Fluss geschifft. Damit sie den Fährmann Charon bezahlen konnten, wurde den Leichnamen eine Münze (Obolus) unter die Zunge gelegt und in den Tod mitgegeben.
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neuen Paradigmas« hat Fetz die von Whitehead, Cassirer und Piaget geleistete »Überwindung« der Moderne als einer Epoche, die den »Zeitraum von etwa 1600 bis 1900« umfasst, »aus einem umfassenden europäischen Geist heraus« beschrieben (Fetz 1997, S. 73). Die zentralen Neuerungen dieses Paradigmas werden dort als »Entprovinzialisierung des Denkens« beschrieben, das gekennzeichnet ist (1) durch die Rückgängigmachung der Voraussetzung, dass »die typisch neuzeitliche Wissenschaft, die mechanistische Naturwissenschaft Newtonscher Prägung, die Wissenschaft überhaupt sei«, sowie (2) durch die Erkenntnis, »dass die wissenschaftliche Denkform als ganze nicht die einzige adäquate Form menschlichen Weltverständnisses ist, sondern nur eine Form unter anderen, mit einer bestimmten Funktion«. Whitehead, Cassirer und Piaget, so Fetz weiter, »konzipieren einen Begriff erweiterter menschlicher Vernünftigkeit, Rationalität oder Intellektualität«, insofern, als (3) die krude Fixierung des Denkens auf das erwachsene Denken eines männlichen Kontinentaleuropäers aus der Mittel- bzw. Oberschicht aufgegeben wird und (4) die Welt als »die Realisierung einer Schöpfungsmöglichkeit unter anderen« angesehen wird. Was ist bzw. als seiend wahrgenommen wird, ist das, was möglich gewesen ist und auch anders hätte werden können, sich aber nun einmal in der jetzt wahrgenommenen Form realisiert hat. (Ebd., S. 84 f.) Den Theorien Whiteheads, Cassirers und Piagets ist als weitere Gemeinsamkeit die »Grundtendenz« eigen, dass sie (5) »Extrempositionen vermeiden und nach mittleren Lösungen, nach Synthesen suchen«, sowie, dass sie dafür argumentieren, (6) »dass nicht Strukturen, sondern Strukturationen, also Gestaltungsprozesse, das Eigentliche und Letzte sind« und somit dem Subjekt, vor allem dem menschlichen Subjekt eine entscheidende Bedeutung beigemessen wird. (Ebd., S. 86 f.) Der Anspruch, einen Beitrag zu einem Megaparadigma zu leisten, trifft insofern auf die Werke von Whitehead, Cassirer und Piaget zu, wie Fetz in »Konturen eines neuen Paradigmas« zeigt. Es ist für ihn nicht überzogen, zu behaupten, dass sich mit diesen Werken »der europäische Geist zum ersten Mal eine die Menschheitskultur umfassende Form gegeben hat, nicht in der Weise der Ideologie, sondern eines offenen, auf universalen Ideen beruhenden Wissenschaftsprogramms« (ebd., S. 86). Diese Beschreibung zielt darauf ab, Gemeinsamkeiten eines Denkens ausfindig zu machen und zu systematisieren, das zwar auch in den A
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einzelnen Disziplinen der Wissenschaft zum Ausdruck kommt, das sich aber nicht an die dort gezogenen Grenzen gebunden weiß. 21 Unter diesem Anspruch ist die Einführung des Begriffes »Megaparadigma« durchaus plausibel, da sie eine Differenz zwischen einzelnen Paradigmen und integrativen Einheiten von Paradigmen, Paradigmenverbünden, einführt und die Möglichkeit zu weiterer Forschung eröffnet, in der »das Große« der Paradigmen (das ihnen Gemeinsame und das sie Unterscheidende) und die »besondere Bedeutung« einer neuen Perspektive zum Gegenstand von Untersuchungen gemacht werden kann. Vor diesem Hintergrund zielt der Ausdruck »Megaparadigma« darauf ab, das allem Denken Gemeinsame in den Blick zu fassen. Insofern ist »das Große« bzw. »das Bedeutende« des Paradigmas in einem die Disziplinen transzendierenden Referenzraum des Denkens schlechthin zu sehen. Die Referenz ist jetzt nicht mehr nur eine Disziplin, sondern wissenschaftliches und außerwissenschaftliches Denken als solches. Die Grenzen werden nicht allein innerhalb des Wissenschaftssystems zur Differenzierung des Erkenntnisfortschritts in einer Disziplin gezogen, wie dies Kuhns Projekt vorsieht, sondern markiert wird jetzt eine Grenze zwischen dem wissenschaftlichen Denken in seiner disziplinären Ausdifferenzierung zu einem gegebenen Zeitpunkt und dem nichtwissenschaftlichen Denken, die zugleich überschritten wird, um die Funktion des Megaparadigmas für wissenschaftliches und außerwissenschaftliches Denken bestimmen zu können. 22 Gesucht wird nun nach dem, was für menschliches Denken kennzeichnend ist – unter Berücksichtigung seiner Differenziertheit und den zum jeweiligen Zeitpunkt vorhandenen übergreifenden Formen seiner Institutionalisierung.
In diesem Sinne wird der Begriff des Paradigmas ähnlich verwendet wie der Begriff »Denkform« (H. Leisegang) oder »Denktypus«. 22 Die Philosophie, die – vor allem von Philosophen – häufig von den Wissenschaften unterschieden wird, wird hier als eine Disziplin des Wissenschaftssystems behandelt. Vgl. hierzu Whitehead: »Wissenschaft und Philosophie bilden in gewissem Sinne nur unterschiedliche Aspekte ein und desselben großartigen Versuchs des menschlichen Geistes. (…) Bei beiden geht es darum, individuelle Tatsachen als Illustration von allgemeinen Prinzipien zu verstehen. Die Prinzipien werden abstrakt verstanden, und die Tatsachen, insoweit sie diese Prinzipien verkörpern.« (Whitehead 1933/2000, S. 277) Vgl. hierzu aber auch die Unterschiede, die Whitehead ebd., insbesondere S. 281, 283 u. 286, erläutert. 21
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VI. Einer der wenigen Autoren, die den Ausdruck »Metaparadigma« verwenden, ist Walter C. Zimmerli. Er verwendet den Begriff »Metaparadigma«, um die Denkfigur des Netzes zu bezeichnen (vgl. Zimmerli 2002, S. 28; vgl. hierzu auch Zimmerli/Bagusat/Müller 2007, S. 79 f.). Für den Begriff »Metaparadigma« spricht aus seiner Sicht, dass ein solches Paradigma »sich quer durch alle Disziplinen zieht und außerdem die Lebenswelt umfasst«, wie z. B. das Netz- bzw. Netzwerkparadigma (ebd.). Der Ausdruck »Paradigma« meint in diesem Kontext »Beispiel«. Man darf aber nicht die Funktionen des Paradigmas, die Kuhn benannt hat, außer Acht lassen. Paradigma ist nach Kuhn nicht synonym mit Begriff, mag man auch von einem »Leitbegriff« sprechen (ebd.). Bei Kuhn dient der Begriff des Paradigmas zur Bezeichnung einer spezifischen historisch rekonstruierbaren Forschungskonstellation, die vor allem an den Praktiken der Wissenschaftler erkennbar ist. Gemeinsam verwendete (Leit-)Begriffe sind nur ein Moment einer solchen Konstellation. Durch die Vorsilbe met€ im Wort »Metaparadigma« wird zum Ausdruck gebracht, dass eine Perspektive eingenommen wird, von der aus ein Sachverhalt zum Gegenstand der Betrachtung gemacht wird. Häufig wird diese Differenz räumlich umschrieben und mit entsprechenden wertenden Konnotationen kontaminiert, wenn z. B. eine »höhere« Ebene von einer »niedrigeren« Ebene unterschieden wird (»Metaebene«). Eine solche Umschreibung ist aber bloß eine vereinfachte Veranschaulichung eines abstrakter zu denkenden Zusammenhangs: Eine Metaperspektive ist eine Reflexionsperspektive, von der aus ein Sachverhalt thematisiert wird, wie dies z. B. die Ausdrücke »Metatheorie« oder »Metaethik« zum Ausdruck bringen sollen. Da Reflexionsverhältnisse keine räumlichen Strukturen aufweisen, sondern durch differenzierende Abstraktion gewonnene Relationen bilden, ist es nicht sinnvoll, von einer Überordnung im Sinne einer Oben-Unten-Unterscheidung auszugehen. Eine »Metatheorie« reflektiert auf »Objekttheorien«, sie ist aber nicht räumlich getrennt von diesen, sie steht deshalb auch nicht über diesen. »Metatheorien« sind vielmehr Reflexionsinstanzen, in denen die Architektonik von Objekttheorien unter wissenschaftlichen Kriterien thematisiert wird. In diesem Sinne bezeichnet der Begriff Metaparadigma eine Reflexionsperspektive im Wissenschaftssystem, von der aus Paradigmen A
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in den Blick genommen werden können. In Verbindung mit dem Ausdruck Megaparadigma, der die integrative Einheit mehrerer Paradigmen bezeichnet, wird durch den Ausdruck Metaparadigma die reflexive Struktur eines solchen Verbundes benannt. Die übergreifende Theorieperspektive, die von Whitehead, Cassirer und Piaget eingenommen wird, impliziert folglich eine Heterogenität (die durch die verschiedenen Paradigmen gegeben ist), die in sich reflexiv gefasst wird. Von einem Metaparadigma sensu Whitehead, Cassirer und Piaget wäre daher zu erwarten, dass es eine reflexive Funktion erfüllt. Es sollte eine Differenz in Funktion setzen, die Paradigmen zum Gegenstand der Betrachtung macht. Ein Metaparadigma sollte Vergleiche zwischen Paradigmen ermöglichen, durch die Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie Grenzen und Inkommensurabilitäten der Paradigmen in den Blick gelangen können. Wird dies erfüllt, dann kann Wissenschaft mit einem eigenen Mittel (»Paradigma«) den eigenen Fortschritt beschreiben.
VII. Die Einführung der beschriebenen Differenz eröffnet der Forschung Raum zur Explikation zweier basaler Annahmen. Diese Annahmen lauten, • dass es zwar identifizierbare Spezifika der wissenschaftlichen Disziplinen gibt, die es möglich machen, sie innerhalb des Wissenschaftssystems voneinander abzuheben, dass es für sie aber gleichwohl auch verbindende Momente gibt, die es wiederum möglich machen, Gemeinsamkeiten verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen in den Blick zu nehmen. 23 Eine solche Gemeinsamkeit wäre dann ihre Wissenschaftlichkeit, d. h. das, was sie als wissenschaftlich qualifiziert. • dass es über die die wissenschaftlichen Disziplinen miteinander verbindenden Momente hinaus auch Differenzen und Gemeinsamkeiten im Hinblick auf andere Formen des menschlichen DenDie Einteilung in Geistes- und Naturwissenschaften ist für diese Aufgabe zu grob. Fündig werden dürfte man heute eher bei inter- und transdisziplinären Problemstellungen, die im Zwischenreich mehrerer Disziplinen angesiedelt sind.
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kens gibt. Wissenschaftliches Denken steht somit nicht in einer unverbundenen Weise – sozusagen in einer »Parallelwelt« – neben z. B. künstlerischen, rechtlichen oder ökonomischen Formen der Suche nach Orientierung in der Welt. 24 Die Werke von Whitehead, Cassirer und Piaget stehen exemplarisch für eine Forschungsperspektive, in der beide Annahmen eine wichtige Rolle spielen. Die drei Autoren haben Standpunkte eingenommen, in denen auf je verschiedene Weise die Grenzen zwischen funktionssystemspezifischen Strukturierungen und individuell-personalen Strukturierungen in beide Richtungen überschritten wurden, um ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu analysieren. Ihre Werke können daher als wissenschaftlicher Beitrag zu einer allgemeinen Theorie der Suche nach Orientierung für ein gelingendes Leben und ein gelingendes Gemeinwesen in ihren zahlreichen Facetten und Strukturierungsformen angesehen werden. Die folgenden Überlegungen legen diese Annahmen für die Wissenschaft aus. Es wird nicht versucht, den umfassenden Themenkreis zu bestimmen, der in der Einleitung zu diesem Band umrissen wird. Behandelt wird allein eine Gemeinsamkeit in der Differenziertheit wissenschaftlicher Forschung: ihre Ausrichtung an methodischer Kontrollierbarkeit des eigenen Vorgehens zum Zwecke der Regulierung des Verhältnisses zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit im bereits erläuterten Sinne. In einem grundlegenden Sinne unterscheiden sich die folgenden Überlegungen von der von Kuhn vorgeschlagenen Terminologie: Während Kuhn wissenschaftliche Paradigmen als Problemlösungen ansieht und die Konstellationen in der Forschung unter dem Vorzeichen gemeinsam verfolgter Lösungsansätze beschreibt, gehe ich von der Annahme aus, dass bei Whitehead, Cassirer und Piaget – wenn deren gemeinsamer theoretischer Ansatz unter dem Begriff des Paradigmas gefasst werden soll – das Moment der Problemgenerierung im Zentrum der Theoriebildung steht. Das die verschiedenen Disziplinen des Wissenschaftssystems ver-
24 Fetz et al. problematisieren grundlegende Strukturierungsformen der Suche nach Orientierung in der Welt, die sich im Laufe der Geschichte in verschiedene »Großformen« ausdifferenziert haben, von denen die wissenschaftlichen Formen, die als Paradigmen bezeichnet werden, zum Gegenstand der Reflexion aus der Perspektive eines Megabzw. Metaparadigmas gemacht werden können.
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bindende »auf universalen Ideen beruhende Wissenschaftsprogramm« (Fetz et al. in der Einleitung zu diesem Band, oben S. 32), insoweit es durch die Werke von Whitehead, Cassirer und Piaget sowie durch andere Autoren gestützt zu werden vermag, ist in der Entfaltung eines Problemraumes zu finden, in dem die Wissenschaft mit den ihr eigenen Mitteln Orientierung sucht und findet. Nicht die Lösungen, die wissenschaftliche Theorien offerieren, treiben den Erkenntnisfortschritt in der Forschung voran, sondern die Problemstellungen, die Autoren wie Whitehead, Cassirer und Piaget rekonstruieren bzw. kreieren, um auf etwas aufmerksam zu machen, was bislang noch nicht bedacht worden ist. Diese Autoren beschreiben Wissenschaft als den Bereich in der Gesellschaft, in dem man sich durch Ausrichtung an einer methodischen Kontrolle des eigenen Vorgehens dafür einsetzt, noch nicht erkannte Probleme in den Blick zu nehmen. Das Besondere des wissenschaftlichen Denkens, das durch die Vorsilbe »Mega« hervorgehoben wird, ist insofern in der »universalen Idee« eines Zirkels der Problemorientierung zu sehen, in dem alle Disziplinen der Wissenschaft stehen, insofern sie in sich einen Bereich der Grundlagenforschung ausdifferenzieren. Durch die Vorsilbe »Meta« wird angezeigt, dass der Zirkel der Problemorientierung eine selbstreflexive Struktur aufweist, da in ihm Grundlagen der Wissenschaft, zentrale Annahmen unserer Suche nach Orientierung mit wissenschaftlichen Mitteln zum Gegenstand von Untersuchungen gemacht werden. 25 In den Werken von Whitehead, Cassirer und Piaget sieht Fetz eine »Entideologisierung von Philosophie und Wissenschaft« am Werk. Es handelt sich für ihn um Autoren, »die zwar für einen umfassenden Dieser Annahme liegt folgende Differenz zugrunde: Im Gegensatz zum Verhalten, wie es im Alltag vorherrschend ist, werden in der Wissenschaft Probleme aufgesucht. Im Alltag hingegen stellen sich Schwierigkeiten oder Aufgaben von selbst ein. Sie sind da und müssen bewältigt werden, ob wir wollen oder nicht. Ein Forscher aber wartet nicht darauf, dass sich irgendwann Aufgaben ergeben oder Schwierigkeiten einstellen, sondern er formuliert Problemstellungen, indem er z. B. Lösungen, die vorliegen, einer erneuten Prüfung unterzieht und Kriterien reflektiert, um dieses Vorgehen methodisch kontrolliert durchzuführen. (Vgl. hierzu auch Dahrendorf 4 1986.) Insofern in einem Fach oder einer Disziplin die Orientierung an dieser Differenz selbst zum Gegenstand von Forschung gemacht wird, indem die leitenden Ideen, Annahmen, die in Gebrauch genommenen Grundbegriffe, Methoden, die anvisierten Ziele u. a. m. problematisiert werden, lässt sich von einer fach- bzw. disziplinspezifischen Grundlagenforschung sprechen, die andere Probleme verfolgt als die Anwendungsforschung.
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Diskurs plädieren, aber bewusst jede dogmatische und ideologische Grenzziehung überschreiten, d. h. sich primär als Methodiker verstehen«. (Fetz 1997, S. 86 u. 92) »Eine Theorie«, wie die von Whitehead, Cassirer und Piaget, schreibt Fetz, »versteht sich nicht als ein fertiges System, sondern primär als eine Methode.« (Ebd., S. 89) In diesem Sinne ordnen sich diese Positionen in den hier beschriebenen Zirkel der Problemgenerierung ein.
VIII. In der Einleitung zu diesem Band schreiben Fetz, Seidenfuß und Ullrich (oben, S. 13), Whitehead, Cassirer und Piaget seien transformatorische Denker, d. h. Denker, »die klassische Problemstellungen aus ihrem historischen Kontext gelöst und ihnen eine moderne und immer noch aktuelle Form gegeben haben. Das transformatorische Moment ist den geistigen Schöpfungen solcher Denker selbst immanent, insofern sie methodisch die Transformation von Problemen als einen unabgeschlossenen Prozess und ihre Positionen selbst als revidierbar betrachten. Als ›transformatorisch‹ kann deshalb auch eine methodische Haltung bezeichnet werden, die der produktiv tätig werdende Interpret sowohl gegenüber den zu verstehenden und zu erklärenden Phänomenen als auch gegenüber den zu diesem Zweck von ihm herangezogenen theoretischen Positionen und Entwürfen einnimmt.« Dieses Zitat bringt ein zentrales Merkmal der wissenschaftlichen Grundlagenforschung im hier verstandenen Sinne zur Sprache: Die »Transformation von Problemen« dient Whitehead, Cassirer und Piaget zur Orientierung im Prozess des wissenschaftlichen Voranschreitens. Sie lassen ihren Blick nicht auf vorhandenen Lösungen ruhen, sondern sie wenden sich den noch nicht gestellten oder neu zu stellenden Problemen zu. Indem sie diese methodische Haltung generell für das wissenschaftliche Arbeiten beanspruchen, setzen sie sich selbst dieser Haltung aus: Auch ihre Positionen können und sollen im Lichte einer möglichen »Transformation von Problemen« thematisiert werden. Whitehead, Cassirer und Piaget sind vor diesem Hintergrund als Wissenschaftler zu verstehen, die den Zirkel der Problemgenerierung nicht nur erkannt, sondern die ihn konsequent auf das wissenschaftliche Vorgehen, auch auf ihr eigenes, angewandt haben. Sie haben auch A
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ihre eigenen Theorien unter den Bedingungen des problemorientierten Zirkels beschrieben und sich somit gegen die Idee ausgesprochen, Theorien seien ausschließlich oder dominant zur Produktion von abschließenden Lösungen da. Jede Lösung, so lässt sich mit Whitehead, Cassirer und Piaget formulieren, wird im Zirkel der Problemgenerierung selbst wieder zum Anlass für neue Problemstellungen. Wissenschaftlicher Fortschritt zielt demzufolge nicht auf eine »letzte« Theorie, sondern er ist Produkt der Anwendung der Methode der Problemgenerierung. Mit Whitehead, Cassirer und Piaget gesprochen: Wissenschaftliche Theorien entstehen, werden rezipiert und verändert in einem Zirkel der Problemgenerierung. Die Bestimmungselemente dieses Zirkels sind • eine in der Theoriebildung zum Ausdruck kommende Orientierung an Problemen, • die durch das Formulieren von Problemstellungen und • durch voranschreitende Problemgenerierung dazu beiträgt, • dass »Haltepunkte« ausfindig gemacht werden, an denen Theorien ihre Orientierung finden und die im Hinblick auf Alternativen durchdacht werden, • weshalb Theorien ihre Beschreibungen unter den Bedingungen der Perspektivität anfertigen.
IX. Dem Vorhaben von Whitehead, Cassirer und Piaget liegt die gemeinsame Annahme zugrunde, dass eine Orientierung an Problemen einen Erkenntniswert besitzt. Ihr gemeinsamer Grundzug besteht darin, die Arbeit an der Entwicklung von Lösungsstrategien im Rahmen bereits bekannter Problemstellungen zu ergänzen durch die Arbeit an der Entwicklung alternativer Problemstellungen. Diesem Vorhaben liegt die Annahme zugrunde, dass durch den Entwurf von Problemstellungen der theoretische Kontext abgesteckt wird, in dem Lösungsstrategien entwickelt werden. Der jeweilige Problementwurf erfüllt somit zwei Funktionen: Er ermöglicht und begrenzt die Entwicklung von Lösungen. 26 Er strukturiert den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt. Wenn von wissenschaftlicher Freiheit bzw. von der Freiheit der Forschung die Rede ist, dann ist damit diese Orientierung an Problemen angesprochen. Das Betreten des
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Der Erkenntniswert wird – besonders im Werk von Cassirer, abgeschwächt, aber ebenfalls sehr deutlich in Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung – in erster Linie nicht in der Bereitstellung von Lösungen gesehen, sondern in der Formulierung von Problemen, denen sich die Wissenschaft bislang noch nicht gestellt hat. Der »Motor« des wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts besteht demzufolge im Generieren von Problemen. Gemeint ist die Fähigkeit, durch das Entwerfen von Problemstellungen einen bereits erreichten Wissensstand auf Voraussetzungen hin zu thematisieren, um zu prüfen, ob sie nicht auch anders hätten gemacht werden können oder ob sie überhaupt hätten gemacht werden müssen. Durch Problemgenerierung stecken Theorien den Kontext ab, in dem Lösungen entwickelt werden können. Dank dieses Vorgehens entfaltet die Wissenschaft in der Gesellschaft einen spezifischen Problemraum, in dem Orientierung gesucht werden kann. 27 Man kann, so lautet die Botschaft der Wissenschaft, versuchen, durch das Stellen von Problemen Orientierung zu finden, anstatt sich an Lösungen zu halten. 28 Jedes Fach entwickelt auf diese Weise eine eigene, eine diszipliProblemraumes, in dem Orientierung gesucht wird, hat daher in der Geschichte der Wissenschaft immer wieder zu den »Entdeckungen« geführt, die in der Paradigmentheorie Kuhns den Ausschlag geben für eine Umorientierung der Forschungstätigkeiten. 27 Der Begriff Problemraum wird als Metapher im Sinne Blumenbergs verwendet. Sie erfüllt die Funktion, den »Arbeitscharakter« der Erkenntnis anzuzeigen (Blumenberg 2 1999, S. 40). 28 Dies ist eine wichtige Aufgabe der Wissenschaft. Wer von Wissenschaftlern ein Lehrwissen und anwendungsbezogene Leistungen einfordert, der versteht Wissenschaft insofern einseitig. Angesichts der vielen Lösungen, die in der Vergangenheit versprochen wurden und die doch nicht die Enttäuschungen zu verhindern vermochten, die sich unweigerlich einstellten, wenn die Hoffnung auf Besserung der Lage an sie gebunden wurde, dürfte der Versuch, Orientierung an Problemstellungen zu finden, nicht von vornherein abwegig erscheinen. Gleichwohl wird vielerorts von wissenschaftlichen Theorien verlangt, sie sollten – endlich – die Lösungen bereitstellen, die benötigt würden, um die Suche nach Orientierung in der Welt abschließen zu können. Wer so argumentiert, bringt eine Hoffnung zum Ausdruck, die an die Wissenschaft adressiert wird. Er hat damit aber auch bereits entschieden, welche Aufgabe der Wissenschaft in der Gesellschaft zukommt: Sie wird als eine Instanz der Gesellschaft verortet, die dazu da ist, Probleme zu bearbeiten, die an anderen Stellen der Gesellschaft entstehen, indem sie Lösungen produziert, die an diese Stellen weitergegeben werden und dort für die Beseitigung der Probleme beitragen sollen. Diese Aufgabe möchte ich ihr nicht abstreiten. Aber darin die alleinige Funktion der Wissenschaft zu sehen, das erscheint mir Ausdruck eines reduktionistischen Verständnisses zu sein. Wissenschaft stellt nämlich nicht nur Ressourcen bereit, die Handlungen in konkreten Anwendungssituationen voranA
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näre Kultur der Problemgenerierung, die dazu beitragen kann, die Beschreibungen von Gegenständen im eigenen Fachgebiet mit Alternativen zu konfrontieren. Das problemgenerierende Vorgehen zeichnet sich dadurch aus, dass jedes Ergebnis, das im Laufe der Forschungen erzielt wird, selbst wieder zum Gegenstand nachfolgender Forschungen gemacht wird bzw. prinzipiell gemacht werden kann. Es wird von Forschern als Problem behandelt, indem sie es sich zur Aufgabe machen, das Ergebnis daraufhin zu befragen, ob es auch dann noch Bestand hat, wenn man es Prüfungen unterzieht, denen es bislang noch nicht unterzogen worden ist. Indem Theorien sich wechselseitig auf Voraussetzungen und noch nicht gedachte Möglichkeiten bzw. unberücksichtigt gebliebene Problemstellungen hin überprüfen, bilden sie einen Zirkel der Problemgenerierung. Der Begriff »Zirkel der Problemgenerierung« bezeichnet einen Ort, an dem Probleme formuliert und behandelt werden können, ohne dass man gezwungen wäre, möglichst sofort zu Lösungen zu kommen, die in der Anwendung bestätigt werden müssen. Wie der Ausdruck »Zirkel« andeutet, handelt es sich um einen Ort, in dem es keinen feststehenden Platz gibt. Er ist lediglich – im Sinne der Methode – als Abstraktionsraum von korrelationaler Struktur darstellbar. Abstrahiert wird von den Bindungen, die eine Theorie eingeht, um eine Beschreibung anfertigen zu können. Indem von diesen Bindungen abstrahiert wird, ist es möglich, Alternativen zu bereits vorliegenden Beschreibungen in den Blick zu rücken. 29 Der Aufenthalt im Zirkel der Problemgenerierung ist insofern vergleichbar mit einer Art Schwebezustand, der es möglich macht, über Alternativen nachzudenken, indem (1) andere Sachverhalte thematisiert werden können, als sie aus den schon vorhandenen Beschreibungen bekannt sind; indem (2) andere Beschreibungen eines Sachverbringen, sondern sie eröffnet zugleich Perspektiven der Betrachtung von solchen Handlungen. Dadurch erhöht sie nicht allein die Möglichkeiten zur Realisierung von Handlungszielen, sondern trägt sie immer auch dazu bei, dass das Wissen der Kontingenz von Handlungen anwächst. 29 Man kann in diesem Problemraum, wie z. B. Whitehead gezeigt hat, über mögliche Welten nachdenken, die in den bekannten Theorien noch nicht beschrieben werden. Man kann die Frage stellen, ob und, wenn ja, inwiefern diese möglichen Welten mit den vorliegenden Theorien beschrieben werden können oder ob und, wenn ja, wie diese Theorien den Entwurf solcher Welten verhindern.
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halts, als sie bekannt sind, ausprobiert werden können; und indem (3) mehrere Beschreibungen eines Sachverhalts miteinander verglichen werden können, um z. B. zu prüfen, inwiefern sie sich wechselseitig auf Lücken aufmerksam machen, zu deren Auffüllung noch keine Vorschläge vorliegen. 30 Eine Disziplin konstituiert sich demzufolge als Wissenschaft in den Kombinationsmöglichkeiten der Theoriebildung, die das Fach zulässt bzw. begrenzt, indem es aus sich heraus die Regeln generiert, die Zulassung und Begrenzung dieser Kombinationen regulieren. 31 30 Im Zirkel der Problemgenerierung ist man in der Lage, sich so weit von dem konkreten Geschehen zu entfernen, dass überhaupt erst die Möglichkeit eröffnet wird, Alternativen in einem Ausmaß durchzuspielen und einer methodischen Kontrolle zu unterziehen, wie es unter Anwendungsbedingungen niemals möglich ist. Als Nachteil wird man kritisieren, dass allzu leicht die Rückbindung an ein konkretes Geschehen, in dem die Möglichkeiten in einem engeren Spielraum auszuloten sind, aus den Augen gerät und die Wissenschaft »ständig in Gefahr ist, Aussagen zu kombinieren, deren Hintergründe nicht verträglich sind« (Whitehead 1933/2000, S. 297). Whitehead spricht zwar von einer unumgänglichen Abstraktion, er warnt aber auch vor deren Gefahren: »Wir sprechen habituell von Steinen, Planeten und Tieren, ganz so, als ob es möglich wäre, dass ein individuelles Ding auch nur einen Augenblick lang losgelöst von seiner Umwelt existieren könnte, die in Wahrheit doch ein notwendiger Bestandteil seines eigenen Wesens ist. Diese Weise des Abstrahierens ist einfach eine Denknotwendigkeit, bei der die entsprechende systematisch geordnete Umwelt stillschweigend vorausgesetzt und in den Hintergrund gedrängt wird. Das ist eine Feststellung, der man nicht widersprechen kann. Aber aus ihr folgt, dass die Wissenschaft da, wo es keine Vorstellung von der fundamentalen Natur der Dinge und gleichzeitig damit von den möglichen Arten von Hintergründen gibt, die man bei abstrakten Aussagen voraussetzen darf, dass (…) die Wissenschaft in diesen Fällen ständig in Gefahr ist, Aussagen zu kombinieren, deren Hintergrund nicht verträglich sind.« (Whitehead 1933/2000, S. 297) Whitehead mahnt deshalb zur Vorsicht: »Wir müssen auf jeden Fall von grober Abstraktion absehen. Jede vollkommen verwirklichte Tatsache verfügt über eine Unendlichkeit von Beziehungen zur geschichtlichen Welt sowie zum Reich der Formen, die ihre Perspektive auf das Universum konstituiert. Wir können sie nur im Rahmen einer minuziösen Auswahl dieser Beziehungen erfassen. Diese abstrahierten Beziehungen erfordern für ihr vollständiges Verständnis die Unendlichkeit, von der wir abstrahieren. Wir erfahren mehr, als wir analysieren können. Denn wir erfahren das ganze Universum, und dann erst analysieren wir in unserem Bewusstsein eine geringfügige Auswahl seiner Details.« (Whitehead 1936/2001, S. 125 f.) 31 Der Aufenthalt im Zirkel der Problemgenerierung erlaubt es, die Forschung von Maßstäben zu befreien, die sie in der Vergangenheit hat übernehmen müssen, weil es ihr nicht möglich gewesen ist, funktional äquivalente Maßstäbe mit ihren eigenen Mitteln zu erstellen. Aufgespannt wurde der Zirkel, weil die Forschungen auf Probleme stießen, zu deren Lösung sie keine geeigneten Regeln anzugeben wussten. Die Forschung erkannte, dass das wissenschaftliche Arbeiten auch Probleme aufwirft, für die
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Probleme sind die Grundelemente, mit denen die Wissenschaft sich im Zirkel der Problemgenerierung erhält. 32 Indem eine Theorie sich im Zirkel der Problemgenerierung aufhält, formuliert sie Probleme, um auf Beschreibungen (eines Sachverhalts, der Beschreibungen von Beschreibungen eines Sachverhalts etc.) zu reagieren, die aus einer bestimmten Warte angefertigt werden, und sie nimmt dazu selbst eine Perspektive ein, von der aus eine spezifische Beschreibung angefertigt wird, die von anderen Perspektiven aus auf Problemstellungen hin bees aktuell keine Lösungen anbieten kann, weil ihm die Regeln fehlen, die zur Entwicklung solcher Lösungen nötig sind. Vgl. z. B. die Beiträge in Hagner 2001; Serres 2 2002. 32 Wichtige Merkmale des Begriffs »Problem« hat Hönigswald in seinen Grundfragen der Erkenntnistheorie (1931) beschrieben. Im Vorwort zu dieser Schrift schreibt er: »Keines Menschen Name ist groß genug, um an die Stelle von Problemen zu treten. Um Probleme allein aber handelt es sich hier …« (Hönigswald 1931, S. V) Hönigswald lehnt eine Theorieform ab, die Begründungen ihrer Aussagen von anderen Theorien nimmt, wie es beispielsweise bei Theorieschulen häufig der Fall ist. Jede Theorie müsse eigene Problemstellungen entwickeln und diese selbst begründen. Sie muss dazu neben anderem auch auf die Voraussetzungen reflektieren, die ihren Problemstellungen zugrunde liegen. Hönigswald macht hiermit auf die Aufgabe der Selbstfundierung einer Theorie aufmerksam. Selbstfundierend ist eine Theorie, die es unternimmt, die Voraussetzungen zu prüfen, »die bereits ins Spiel gebracht sind, wo man es unternimmt, jenen Vorgang zu schildern«. (Ebd., S. 1 f.) Probleme im Sinne Hönigswalds sind von der Forschung selbst entwickelte Anforderungen. – Eine Auffassung, die Hönigswalds Problemverständnis nahe kommt, ist von Niklas Luhmann vertreten worden (vgl. hierzu besonders Luhmann 1992/3 1998). Die Funktion einer wissenschaftlichen Theorie, so Luhmann, ist es nicht, Probleme zu reduzieren, weil sie »kein Wissensziel mehr ausfindig machen kann, in dem sie, wenn sie es erreichte, zur Ruhe käme« (ebd., S. 371). Wissenschaft sei vielmehr als ein Bereich der Gesellschaft zu verstehen, für den es keine »beobachterunabhängige Realität« gibt (ebd., S. 374), die als Kriterium für einen Vergleich der entwickelten Lösungsstrategien im Hinblick auf »Richtigkeit« oder »Falschheit« im Sinne einer stimmigen Korrespondenz mit der Realität in Frage kommt. Aus Sicht der Wissenschaft ist eine solche Realität als »extern« anzusetzen. Es kann nach Luhmann aber keinen wissenschaftlichen Beobachterposten geben, von dem aus diese Realität in den Blick genommen werden kann. Die Wissenschaft generiert ihre Problemstellungen und Lösungsstrategien im Zustand der Immanenz, für sie kann es »keine hinreichend kompetenten externen Beobachter« geben (ebd., S. 369). Ihr ist damit auch der Zugriff auf einen letztgültigen Haltepunkt, der in der Realität liegt, verwehrt. Der Bereich der Gesellschaft, in dem wissenschaftlich gearbeitet wird, erhält sich »als sich selbst fortsetzende Unruhe« der Gesellschaft (ebd., S. 371). Eine wissenschaftliche Theorie kann demzufolge nicht beanspruchen, letzte Gewissheiten zu haben. Ihre Aufgabe besteht lediglich darin, Voraussetzungen in den Blick zu bringen, die ansonsten unbeachtet bleiben. Insofern diese Voraussetzungen als selbstverständlich genommen werden, besteht die Aufgabe der Wissenschaft darin, diese Selbstverständlichkeiten zu problematisieren. Dies ist die Funktion der Problemgenerierung.
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fragt werden kann. Jede wissenschaftliche Theorie operiert somit nolens volens – ob sie will oder nicht, ob sie dies eigens reflektiert oder nicht – unter den Bedingungen der Perspektivität. Ihre Beschreibungen werden unweigerlich als perspektivisch indexikalisiert. Whitehead hat für die wissenschaftliche Forschung unter den Bedingungen der Perspektivität gefordert, dass »die Begriffe, die wir in einem bestimmten Themenbereich zur Anwendung bringen, (…) immer von allen möglichen Standpunkten her ausgeleuchtet werden [müssen]. Sie müssen unter dem Gesichtspunkt der Konsistenz innerhalb des Themenbereichs kritisch betrachtet werden, aber auch unter den Gesichtspunkten anderer Themenbereiche von vergleichbarer Allgemeinheit, und unter dem Gesichtspunkt philosophischer Fragestellungen, die noch umfassender sind.« Ihm war bewusst, dass uns jene »wohlgefügte, ein für allemal gültige Zusammenordnung von Allgemeinheiten, die eine vollendete Metaphysik ergeben würde, (…) nicht gelingen« kann. Erreichbar sind für uns lediglich »partielle Systeme eingeschränkter Allgemeinheit«, weshalb jede wissenschaftliche Aussage den Index der Perspektivität aufweist. (Whitehead 1933/2000, S. 283–285) 33 Abschließende Lösungen sind für uns nicht auffindbar, wohl aber Beschreibungen, die eine spezifische Perspektive zur Sprache bringen, von der aus Lösungen möglich zu sein scheinen. Solche Beschreibungen können selbst wiederum – von einer anderen Perspektive aus – problematisiert werden. Eine Theorie richtet sich unter den Bedingungen der Perspektivität nicht nach einem Gegenstand, der ihr vorgegeben wird, sondern nach ihrer eigenen Problemstellung und dem theoretischen Instrumentarium, die entwickelt werden mit Blick auf Ergebnisse, die durch sie erzielt werden können, und deren Realisierung als Prüfstein für Modifikationen der Problemstellung und des Instrumentariums in Anspruch genommen wird. In diesem Sinne dient die wissenschaftliche Forschung nicht vorrangig »der Lösung von Problemen, sondern ihrer Multiplikation; sie geht von gelösten Problemen oder von Problemstel33 Whitehead meinte weiter: »Der Einklang unserer Vorstellungen in einem solchen System zeigt, wie es um die Reichweite und die Lebenskraft der fundamentalen Begriffe dieses Denkschemas bestellt ist. Und der Widerstreit zwischen den Systemen, ebenso wie nur die partielle Erleuchtung, die jedes System mit sich bringt, erinnert uns an die Grenzen, die unseren Intuitionen gesetzt sind. Der Aufweis dieser noch unentdeckten Grenzen ist eine Aufgabe, die sich der philosophischen Forschung immer wieder stellt.« (Whitehead 1933/2000, S. 285)
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lungen mit Lösungsaussichten aus und fragt weiter« (Luhmann 1986/ 3 1990, S. 156).
X. Forschung in diesem Sinne ist rastlos; sie kommt nicht zur Ruhe, indem sie letzte Standpunkte ausfindig macht, um von ihnen aus eigene Aussagen zu legitimieren. Wer problemgenerierend vorgeht, der versucht deshalb nicht, »Haltepunkte« aufzusuchen, an denen alle (vergangene, gegenwärtige und zukünftige) Forschung ausgerichtet wird. Das Verfahren der Problemgenerierung bemüht nicht die Annahme einer allzeit gültigen Übereinkunft der Forscher. Wer problemgenerierend vorgeht, der benötigt auch nicht die Annahme, dass den Forschern eine begrenzte Zahl von Problemstellungen vorgegeben sei und dass diese nur diese Problemstellungen bearbeiten könnten und sollten. Er nimmt vielmehr an, dass prinzipiell jedes Ergebnis der Forschungen weiteren Forschungen als Problem dienen kann, nämlich dann, wenn dieses Ergebnis erneut in den Prozess der Prüfung eingeschleust wird, und dass dabei immer darauf zu achten ist, welche bislang noch nicht formulierten Problemstellungen der Forschung zur Orientierung dienen können.
XI. Die Ausrichtung der Wissenschaft an der Funktion, Probleme zu generieren, indem bereits bekannte Lösungen Prüfungen unterzogen werden, die dazu dienen, noch nicht entdeckte Voraussetzungen aufzudecken und diese der Kritik auszusetzen, ist ein zweischneidiges Unterfangen. Einerseits trägt es dazu bei, dass die Sicherheiten brüchig werden, von denen wir annehmen, dass sie uns eine sichere und überzeugende Orientierung bieten können. Die Sicherheiten verflüssigen sich zu Problemen. Aus dem Blickwinkel der Wissenschaft können alle Sicherheiten unserer Suche nach Orientierung in Probleme umgewandelt werden. Andererseits kristallisiert sich auf diese Weise ein Wissen heraus, das immer differenzierter und begründeter wird. Wissenschaft gewinnt somit selbst Orientierung. Diese Orientierung kommt über die Aufdeckung von »falschen« bzw. unzureichenden, überholten oder noch nicht erfassten Problemstellungen zustande. 112
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Indem die Wissenschaft so vorgeht, dass sie Probleme generiert, um Annahmen und Voraussetzungen in Frage zu stellen, gewinnt sie also einerseits selbst Orientierung durch ein Wissen, das ihr eine negative Absicherung beschert, und andererseits verliert sie damit den Halt, den Standpunkte bereitstellen, die von Voraussetzungen zehren, die wie selbstverständlich in Anspruch genommen und in diesem Sinne positiv gesetzt werden. Vor diesem Hintergrund wäre es unangemessen, den Zirkel der Problemgenerierung per se als störend oder destruktiv zu disqualifizieren. Der Zirkel der Problemgenerierung erfüllt nämlich eine wichtige Orientierungsfunktion. Durch Problemgenerierung wird es möglich, die wie selbstverständlich in Anspruch genommenen Voraussetzungen von Theorien ans Licht zu bringen und entscheiden zu können, ob diese nach wie vor als gültig veranschlagt werden können oder nachweislich modifiziert werden sollten. Das Wissenschaftssystem kann in diesem Sinne als der gesellschaftliche Raum angesehen werden, in dem diese Orientierungsfunktion durch Forschung qua Problemgenerierung erfüllt wird. 34 Eindrucksvoll hat Cassirer diesen komplexen Zusammenhang in seinem mehrbändigen Werk Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit beschrieben (Cassirer 1906 ff.). Durch den Aufenthalt im Zirkel der Problemgenerierung wird das Potential einer Theorie erweitert, Probleme zu formulieren, die in Beschreibungen von Sachverhalten bislang noch nicht in den Blick genommen worden sind. Wissenschaft konstituiert ihren Gegenstand daher, um eine Methode zu entwickeln, die es erlaubt, eine Reflexion auf die Kombinationsmöglichkeiten zur Formulierung von Problemstellungen anzustrengen, die, wie es Canguilhem formuliert hat, »wiederum durch das Bemühen kontrolliert wird, in ihr Fehler zu entdecken« (Canguilhem 1979, S. 29). In diesem Sinne hatte sich auch schon Gaston Bachelard geäußert. Kennzeichen der wissenschaftlichen »Reflexion ist es, zu begreifen, was man nicht begriffen hatte« (Bachelard 1934/1988, S. 171). Aus sei34 Diese Orientierungsfunktion gilt für alle Formen der Problemgenerierung von den einfachen bis hin zu den elaborierten. Die aktuelle Situation ist dazu geeignet, Problemstellungen und Lösungsansätze zu durchdenken, die in der Tradition unbekannt blieben. Dies bietet die Chance, Korrekturen an den eigenen Entwürfen vorzunehmen, wenn durch die Auseinandersetzung für besser befundene Ansätze in den Blick gebracht werden können.
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ner Sicht ist deshalb »die Frage der Grenze wissenschaftlicher Erkenntnis für die Wissenschaft in keiner Weise von Interesse« (Bachelard 1971/1993, S. 25). Sie formuliert Probleme, um Möglichkeiten zu erkunden, nicht, um sich an bereits festliegenden Grenzen zu orientieren. Bachelard bezeichnet dies als die Idee des »offenen Rationalismus«, der »den unfertigen Zustand der heutigen Wissenschaft« charakterisiere. »Es ist ein Zustand wirklichen Erstaunens angesichts der Anregungen des theoretischen Denkens.« (Bachelard 1934/1988, S. 173) Diese Anregungen bestehen darin, Voraussetzungen in vorhandenen Beschreibungen zu problematisieren, um prüfen zu können, ob sich alternative Beschreibungen anfertigen lassen. Man spielt sozusagen »Deformationsmöglichkeiten« bestehender Beschreibungen durch, um zu prüfen, ob es nicht auch anders geht (ebd., S. 28). Das Erstaunen besteht darin, dass man sehen kann, dass dies geht, obwohl man das vorher nicht gedacht hatte.
XII. Um den Problemraum zu entfalten, kritisiert die wissenschaftliche Grundlagenforschung Beschreibungen von Sachverhalten im Hinblick auf in ihnen zugrunde gelegte Voraussetzungen, die wie selbstverständlich in Anspruch genommen, d. h. die nicht zum Gegenstand der wissenschaftlichen Analyse gemacht werden. Diese Voraussetzungen fungieren als »Haltepunkte« der Theorien. Der Ausdruck »Haltepunkte«, wie ich ihn hier verwende, findet sich in der Philosophie der Aufklärung von Ernst Cassirer. In dem mit dem Titel Natur und Naturerkenntnis im Denken der Aufklärungsphilosophie versehenen Kapitel erläutert er den Ansatz von Isaac Newton. Cassirer hebt besonders Newtons methodische Entscheidung für die »Analyse« gegenüber der Deduktion hervor: Jene, schreibt Cassirer, »ist prinzipiell-unabschließbar; sie lässt sich nicht auf eine begrenzte, von vornherein übersehbare Reihe von Denkschritten festlegen, sondern sie muss in jedem Stadium der Erfahrungswissenschaft von neuem aufgenommen werden. Hier gibt es niemals absolute Endpunkte, sondern immer nur relative und provisorische Haltepunkte.« (Cassirer 1932/1998, S. 68) 35 35
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Diesem Zitat geht die folgende Bemerkung voraus: »Wir können nicht mit allgemei-
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Die Funktion, die Cassirer den »Haltepunkten« beimisst, wird von John Dewey unter dem Stichwort »Maßstäbe ab extra« allgemein thematisiert. »Haltepunkte« sind »Maßstäbe ab extra« die in den Forschungsprozess eingebracht werden, um ihm eine Sicherheit zu bieten, die er nicht von sich aus, d. h. mit eigenen Mitteln sich zu geben vermag. 36 Der Ausdruck »Maßstäbe ab extra« stammt aus Deweys Logic: The Theory of Inquiry (1938). Er wird dort eingeführt, um auf ein wichtiges Prinzip der Forschung aufmerksam zu machen. Dieses Prinzip stellt die Forschung vor ein grundlegendes Problem: »In seiner einfachsten Form lautet das Problem, ob die Forschung in ihrem Fortgang die logischen Maßstäbe und Formen entwickeln kann, denen sich die weitere Forschung unterwerfen soll. Man neigt dazu zu sagen, sie könne es, weil sie es getan hat. Man möchte sogar den Opponenten herausfordern, auch nur ein einziges Beispiel für eine Verbesserung der wissenschaftlichen Methoden zu nennen, die nicht in dem und durch den sich selbst korrigierenden Forschungsprozess hervorgebracht worden ist; ein einziges Beispiel, das auf der Anwendung von Maßstäben ab extra beruht.« (Dewey 1938/2002, S. 18) Dewey geht davon aus, dass ein solches Beispiel nicht gegeben werden kann, dass ein Wissenschaftler vielmehr von »einer immanenten Kritik früher ausprobierter Methoden« ausgehen muss (ebd.). Ein Wissenschaftler kann, so die Annahme, den Raum der Wissenschaft nicht verlassen, um »Maßstäbe ab extra« aufzusuchen, die dann anschließend von ihm wieder in die Wissenschaft eingeführt werden, um die in der Wissenschaft bekannten Methoden zu verändern. Die Kritik an den Voraussetzungen wissenschaftlicher Forschung wird in der Wissenschaft vielmehr unter den nen Annahmen über das Wesen der Dinge beginnen, um sodann aus ihnen die Kenntnis der Einzelwirkungen herzuleiten; wir müssen vielmehr diese Kenntnis, wie sie uns durch die unmittelbare Beobachtung gegeben wird, an die Spitze stellen, und in allmählichem Aufstieg zu den ersten Gründen und zu den einfachen Elementen des Geschehens zurückzugelangen suchen. Dem Ideal der Deduktion tritt somit das Ideal der Analyse gegenüber.« (Cassirer 1932/1998, S. 68) 36 Der Begriff »Haltepunkt« fungiert in zahlreichen Theorien als letzte Gegebenheit, auf die alle Aussagen bezogen sind und die in Anspruch genommen wird, um den Argumenten eine letztgültige Legitimation zu verleihen. Nassehi spricht im Rahmen einer »theorieästhetischen Figur« vom »Fluchtpunkt« statt vom Haltepunkt. Der »Fluchtpunkt der Gedankenlinien« wurde in der klassischen europäischen Denktradition »außerhalb des Bildes«, das man beschrieb, platziert, »und wenn innerhalb, hat er unsichtbar zu sein.« (Nassehi 2003, S. 17) A
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zum jeweiligen Zeitpunkt als gültig anerkannten und in Geltung befindlichen Annahmen und unter den je aktuellen außerwissenschaftlichen Bedingungen sowie mit den ihr zur Verfügung stehenden Methoden durchgeführt. Das bedeutet nicht, dass die Wissenschaft auf dem einmal erreichten Stand ihres Wissens stagniert und dass die Forschung sich der immer gleichen Methoden bedienen würde. Dewey lenkt die Aufmerksamkeit vielmehr auf die Tatsache, dass die Wissenschaft sich mit ihren eigenen Mitteln um eine Kontrolle ihrer Voraussetzungen und Methoden bemüht. Diese Kontrolle kann selbstverständlich nur im Rahmen der Möglichkeiten und Grenzen durchgeführt werden, die der Wissenschaft zum jeweiligen Zeitpunkt eröffnet bzw. gezogen werden. Dabei kann sich herausstellen, dass frühere Methoden in einigen wichtigen Hinsichten »versagten«, wie Dewey meint (ebd., S. 18 f.). Ein »Haltepunkt« wird nach Dewey dann gesucht, wenn man angesichts einer Problemstellung meint, es bedürfe eines letzten Standpunktes, hinter dem nichts mehr ist, was dargestellt werden müsste. 37 Die Art seiner Differenz, das, wovon sich das von ihm Gesetzte unterscheidet, und die Relation, von der das Gesetzte ein Relatum ist, werden somit aus dem Gegenstandsbereich der Theorie ausgeblendet. Ist nämlich der Nachweis erbracht, dass dieser Punkt mit sich identisch ist, so ist es sinnlos weiter zu suchen. Logisch gewendet, führt ein solcher Nachweis zu einer tautologischen Aussage. Er ist, was er ist, und er ist nicht, was er nicht ist – mehr kann zu diesem letzten Punkt nicht mehr gesagt werden. 38 In Übereinstimmung mit Dewey meint Piaget in Einführung in die genetische Erkenntnistheorie, »dass sich die impliziten Werte und Dewey sieht einen solchen »Haltepunkt« insbesondere in der »Idee eines höheren Reichs einer unwandelbaren Realität, von der allein wahre Wissenschaft möglich ist«, und die unterschieden wird von »einer niedrigeren Welt der wandelbaren Dinge, mit denen es Erfahrung und Praxis zu tun haben« (Dewey 1929/2001, S. 20 f.). Die Idee zehrt von der Annahme, dass eine Unterscheidung zwischen dem Standpunkt eines Beobachters und einem Bereich, in dem die Sachverhalte oder die Kriterien der Beobachtung dieser Sachverhalte, liegen, nötig sei, wenn man wissenschaftliche Aussagen über diese Sachverhalte machen will. 38 Der Haltepunkt war in der Tradition, wie Armin Nassehi es formuliert, dann »entweder das ganz andere weit draußen – als transzendentale Bedingung der Möglichkeit – oder ganz innen – als ursprüngliches Mit-sich-vertraut-Sein, das so ursprünglich war, dass dafür die Begriffe fehlen und es als Geheimnis formuliert werden musste«. (Nassehi 2003, S. 17) 37
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Normen, die die Wissenschaften bestimmen, inspirieren und lenken, nur in der wirklichen Entwicklung der Wissenschaften selbst entdecken lassen. Jede andere Einstellung, so scheint uns, führt dazu, der Erkenntnis relativ willkürlich die persönlichen Anschauungen eines isolierten Beobachters überzustülpen. Gerade dies möchten wir vermeiden.« (Piaget 1970/1973, S. 10. Anm.) Dewey kritisiert im Sinne Piagets an dieser Idee »eines isolierten Beobachters«, sie untermauere die Annahme, »dass die Aufgabe des Erkennens darin bestehe, das aller Erkenntnis vorangehende Reale zu enthüllen, statt, wie es mit unseren praktischen Urteilen der Fall ist, die Art von Verstehen zu gewinnen, die notwendig ist, um mit den Problemen, wie sie jeweils gerade entstehen, fertigzuwerden« (Dewey 1929/2001, S. 20 u. 21). Mit dieser Idee versuche man, dem Wandel zu begegnen. Man suche »Gewissheit« in statischen Konzepten und übersehe dabei, dass der Wandel damit nicht zu negieren ist, denn »er hat ein Element des Zufalls in sich, das nicht eliminiert werden kann« (ebd., S. 23). Das hat nach Dewey zur Folge, dass die »Suche nach Gewissheit«, die im Auffinden von »Haltepunkten« der Erkenntnis und dem Entwurf von statischen Konzepten ihren Sinn hat, den Streit der Theorien bestimmt. »Der Lärm, der dabei entsteht, macht uns taub für ihre gemeinsame Prämisse. … Sie alle vertreten die Ansicht, dass die Forschungstätigkeit jedes Element praktischer Tätigkeit ausschließe, das in die Konstruktion des erkannten Gegenstandes eingeht.« (ebd., S. 26 u. 27) 39 Eine nach Auffassung Deweys realistische Beschreibung wissenschaftlicher Theorien konstatiert demgegenüber für die Wissenschaft einen Zustand der Haltlosigkeit, da es in einer Theorie nicht gelingen kann, eine Beschreibung des thematisierten Sachverhalts anzufertigen, die von sich begründen kann, dass alle Beschreibungen dieses Sachverhalts in ihr vereinigt werden oder dass ihr der Zugriff auf den Sach39 Die Theorien, die »Haltepunkte« der Erkenntnis in der von Dewey kritisierten Form suchen, führen zu einer »Zuschauertheorie des Erkennens«, weil sie »den Vermutungen über das, was beim Akt des Sehens stattfindet, nachgebildet« werden. Sie operieren mit der Prämisse, »dass das, was erkannt wird, dem mentalen Akt der Beobachtung und Untersuchung vorausgeht und von diesen Akten gänzlich unbeeinflusst ist« (Dewey 1929/2001, S. 27). Wer forscht, befindet sich insofern in einer Situation, die ihn in eine Beziehung zu einem ihm vorgegebenen und unwandelbaren Etwas stellt. Dieses Etwas stellt für ihn den »Haltepunkt« dar, den es aufzusuchen gilt, um gewisse Erkenntnis zu erlangen.
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verhalt gelingt, wie er »für sich«, d. h. unabhängig vom Faktum seines Beschriebenwerdens »ist«. Wer gleichwohl an dem Vorhaben festhält, ein Sachverhalt ließe sich anhand von »nackten, eigenständigen Tatsachen«, d. h. in seiner »Einmaligkeit und Wandelbarkeit« einfach »nur feststellen«, dem gibt Whitehead auch gleich einen Hinweis auf die konkreten Operationen, die er vollziehen muss, um zu einer solchen Feststellung zu kommen: »Wenn wir eine Darstellung uninterpretierter Erfahrung wünschen, müssen wir einen Stein nach seiner Autobiographie fragen.« Was uns dann zu Ohren kommt, ist »uninterpretierte Erfahrung«. Das Problem ist, dass uns nichts zu Ohren kommt, wenn wir so vorgehen, wie es Whitehead in ironischer Absicht fordert. Wir tragen nämlich immer schon kategoriale Differenzen an das heran, was wir »befragen«. (Whitehead 1929/1987, S. 52) Solche Differenzen können durchaus die Funktion von »Haltepunkten« im hier erläuterten Sinne erfüllen.
XIII. »Haltepunkte« bilden ein Konvergenzzentrum für die Theoriebildung. Sie stellen ein Reservoir von Voraussetzungen zur Verfügung, auf die die Theorie zurückgreift, weil sie ohne diese nicht zu den Beschreibungen in der Lage ist, die sie anfertigt. Jede Beschreibung basiert auf Voraussetzungen, die von ihr selbst nicht beschrieben, häufig nicht einmal thematisiert, keinesfalls aber problematisiert werden. Insofern sind »Haltepunkte« die im »Halbschatten« der Theorie angesiedelten Grundlagen von Beschreibungen. Whitehead meinte, im »Halbschatten« der Theorie fände man die »Intuitionen«, die in »metaphysischen Begriffen« artikuliert werden und die Aufgabe der philosophischen Durchdringung wissenschaftlicher Beschreibungen seien, weil durch sie »unsere Vorstellungskraft frische Inhalte gewinnen kann« sowie »eine Erweiterung unseres Blicks, die zu einer Vermehrung unserer Chancen führt«, in Aussicht gestellt wird. 40 »Die gesicherten Erkenntnisse der Wissenschaft sind also nichts als eine Illusion. In Wirklichkeit ist jede wissenschaftliche Erkenntnis von einem unerforschten Halbschatten künftiger Zusätze und Einschränkungen umgeben. Wie wir sie handhaben, wird durch die metaphysischen Begriffe bestimmt, die das allgemeine Bewusstsein unserer Epoche durchdringen. Wir werden von ihnen bei aller Vorsicht immer wieder zu falschen Erwartungen geführt. Und sobald irgendein neuer Beobachtungsmodus gefunden
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Es ist für Whitehead das »spekulative«, philosophische Denken – nicht die Daten produzierende Forschung unter den Vorzeichen des empirisch-analytischen Wissenschaftsverständnisses –, das Licht in den »Halbschatten« der Theorie zu bringen versucht, indem es den »Haltepunkten« nachspürt, deren die Theorie bedarf, um Beschreibungen von Sachverhalten anfertigen zu können.
XIV. Whitehead, Cassirer und Piaget haben Argumente vorgebracht, die gegen Versuche gerichtet sind, Beschreibungen von Sachverhalten auf einen externen »Haltepunkt« konvergieren zu lassen. Es reicht für sie die Annahme aus, dass eine Theorie einen Bezugspunkt für Problemstellungen wählt, in Bezug zu dem die Möglichkeit zur Beschreibung eines Sachverhalts einer methodischen Kontrolle unterzogen wird. Die Kritik an »Haltepunkten« wird bei Whitehead, Cassirer und Piaget allerdings unter verschiedenen Akzentuierungen durchgeführt. Whitehead betont die Kreativität als evolutive Selbstverwirklichung allseits verbundener Prozesswesen. Deren gegenseitige Abhängigkeiten werden nicht nach einer Regel geordnet, die es nur aufzufinden gilt, um ein Gesetz formulieren zu können. Das Zusammenspiel der Prozesswesen im Sinne der Whiteheadschen Kreativität gebiert vielmehr aus sich selbst heraus die Ordnungsformen, die den weiteren Prozessen zum Ausgang dienen. 41 Wissenschaft selbst muss demnach begriffen werden als ein in Abhängigkeiten mit anderen Bereichen stehender und gemäß einer eigenen Dynamik Ordnungsformen generierender Bereich, der diesen Zusammenhang zum Gegenstand eigener Reflexionen machen kann. wird, lösen sich die alten Erkenntnisse in einem Nebel von Ungewissheiten auf.« (Whitehead 1933/2000, S. 298) – »Jedes System ist zunächst ein triumphaler Erfolg, bis es dann endlich zu einem lästigen Hemmschuh des Fortschritts wird. Und den Übergang zu neuen, fruchtbaren Formen des Verstehens müssen wir im Rückgriff auf die tiefsten Intuitionen suchen, durch die unsere Vorstellungskraft frische Inhalte gewinnen kann. Am Ende – wenn man so sagen darf, obwohl es eigentlich natürlich kein Ende gibt – ist das, was sich auf diese Weise erreichen lässt, eine Erweiterung unseres Blicks, die zu einer Vermehrung unserer Chancen führt.« (Ebd., S. 305) 41 In der Antike wurden die »Voraussetzungen geschaffen, unter denen ein gewisses Maß intellektueller Analyse zur moralischen Verpflichtung werden konnte« (Whitehead 1933/2000, S. 281). A
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Cassirer sieht den Menschen als symbolbildendes und an Symbolen Orientierung findendes Lebewesen innerhalb einer sich wandelnden Welt der Symbole. In der Welt der Symbole gibt es ebenfalls keine Regel, der sich alles fügt. Symbolisierung ist vielmehr ein dynamischer Zusammenhang, der aus sich heraus die Grundlagen dafür erzeugt, dass er verstanden werden kann. Verstehen aber ist eine permanente Aufgabe. Auch hier gilt das Prinzip, dass im Ausgang von einer Lage, die mit den Mitteln des Verstehens selbst erzeugt worden ist, innerhalb der Möglichkeiten und Grenzen vorangeschritten wird, die dieser Ausgang bereitstellt. Die Wissenschaft des Verstehens generiert somit aus sich heraus Beschreibungen des Verstehens, um Verstehen zu verstehen, und verändert damit die Voraussetzungen für weitere Beschreibungen des Verstehens. Piaget kennt nur ein Apriori relativ zu den Operationen, die ein Organismus zu vollziehen vermag, d. h. ein Apriori als relative, von der jeweiligen individual- und menschheitsgeschichtlichen Phase abhängige kognitive Größe. Er lehnt ein Apriori ab, das in unveränderlicher Weise vorgegeben ist und durch seine Entschlüsselung die Regel bereitstellt, aus der alles andere abgeleitet werden kann. Wenn Piaget von einem Apriori spricht, dann immer nur relativ zum Prozess der Äquilibration assimilatorischer und akkomodatorischer Vorgänge, die eine Funktion für die Orientierung mittels kognitiver Organisation erfüllen, in der jeweiligen Phase der Entwicklung. Das Apriori ist somit eine Funktion der Äquilibration, die wiederum eine Funktion der Adaptation ist, welche selbst nur als ein fortdauernder Prozess der Organismus-Umwelt-Interaktion beschrieben werden kann. Jeder Wissenschaftler gewinnt nach Piaget seine Erkenntnisse in der Dynamik spezifischer Äquilibrationsprozesse, die er bestenfalls reflexiv durchsichtig machen kann.
XV. Die von Dewey vertretene Kritik an »Maßstäben ab extra« wird von Piaget geteilt. In Einführung in die genetische Erkenntnistheorie heißt es hierzu: »Wissenschaftliches Denken ist nicht Sache eines Augenblicks, ist nichts Statisches, sondern ein Prozess. Genauer: Es ist ein Prozess kontinuierlicher Konstruktion und Reorganisation.« (Piaget 1970/1973, S. 8). Piaget weist in diesem Werk auf die Tatsache hin, dass 120
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alles Erkennen, damit auch wissenschaftliches Erkennen, in »ständiger Evolution« begriffen ist. »Aus diesem Grunde«, so fährt er fort, »können wir nicht sagen, dass es auf der einen Seite die Geschichte der Erkenntnis gibt und auf der anderen Seite den Stand, den sie heute erreicht hat, so als ob ihr gegenwärtiger Stand in irgendeinem Sinne endgültig oder auch nur stabil wäre. Der gegenwärtige Stand der Erkenntnis ist gewissermaßen eine Momentaufnahme in der Geschichte, deren Gegenstand sich ebenso schnell – in vielen Fällen schneller – ändert, wie sie der Erkenntnisstand in der Vergangenheit immer geändert hat.« (Ebd.) Wer die Veränderungen beobachtet, auf die Piaget hier hinweist, der befindet sich als Beobachter im Prozess der Veränderungen, die er zum Gegenstand seiner Beobachtung macht. Er muss den von ihm beobachteten Veränderungen den Index ihrer Beobachtung nach Maßgabe seines Beobachtungsinstrumentariums verleihen. Fasst man die Aussagen von Dewey und Piaget zusammen, so ist ein Prinzip erkennbar, an dem sich beide Denker ausrichten. Es ist – in den Worten Piagets ausgedrückt – das Prinzip der »kontinuierlichen Transformation« bzw. das Prinzip der »kontinuierlichen Reorganisation« (Piaget 1970/1973, S. 10). Dieses Prinzip besagt, dass das Fortkommen des wissenschaftlichen Denkens nur als ein immanenter Prozess von Modifikationen beschrieben werden kann. Whitehead hat diese Dynamik unter dem Gesichtspunkt der Kontinuität beschrieben. 42 In Symbolism. Its Meaning and Effect betont er, dass es keine »reine Sukzession« geben kann, sondern jede zeitliche Erstreckung als eine »Herleitung von Zustand zu Zustand« zu beschreiben ist, »wobei«, wie er hinzufügt, »der spätere Zustand eine Konformität mit dem vorausgehenden Zustand aufweist«. Im Gegensatz hierzu ist die Idee der reinen Sukzession nur durch eine »Abstrak42 Die Dynamik hat eine prozessuale Form. Sie ist erkennbar an Modifikationen, die stattfinden. Die Modifikationen, die beobachtet werden können, machen sich auf unterschiedliche Weise bemerkbar, je nachdem, welche Phase des Prozesses betroffen ist bzw. welchen Aspekt der Formbildung man ins Auge fasst. Zu einer vollständigen Beschreibung der Dynamik gehören nach meinem Dafürhalten drei Teilprozesse, die zwar je für sich betrachtet werden können, die aber nur im Zusammenhang die Dynamik ausmachen, die Dewey und Piaget im Sinn gehabt haben dürften, als sie ihre Vorstellung von einer kontinuierlichen Transformation artikulierten. Die Dynamik gliedert sich in den Teilprozess der Entstehung eines Zusammenhangs, den Teilprozess der Stabilisierung dieses Zusammenhangs und den Teilprozess der Veränderung dieses Zusammenhangs. Die drei Teilprozesse sind konstitutiv für die kontinuierliche Transformation, wie sie von Dewey und Piaget beschrieben wird.
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tion von der irreversiblen Beziehung der abgeschlossenen Vergangenheit zur hergeleiteten Gegenwart« zu gewinnen (Whitehead 1927/ 2000, S. 94). Die Gegenwart muss daher, wie Whitehead betont, »mit demjenigen, was für sie die Vergangenheit ist, konform gehen« (ebd., S. 95). Das »Prinzip der Konformation« ist für Whitehead von besonderer Bedeutung (ebd., S. 105). Es bringt – analog zum »Prinzip der kontinuierlichen Transformation« bzw. »Reorganisation« – die Relation zum Ausdruck, die in zeitlicher Hinsicht Zusammenhänge miteinander verbindet. »Das bloße Abfolgen der Zeit ist eine«, wie Whitehead meint, unzulässige »Abstraktion von der konkreteren Beziehung der ›Konformation‹.« (Ebd., S. 95) Das »Prinzip der Konformation« liegt einer geschichtlichen Betrachtung eines Sachverhalts zugrunde, die nicht schlicht Daten aneinanderreiht, sondern die den überschauten Zusammenhang der zeitlich differenzierten Phasen zum Gegenstand hat und versucht, wie man mit Cassirer sagen kann, den jeweiligen »Stellenwert« des in diesem Zusammenhang Unterschiedenen zu bestimmen. 43 Wie Whitehead in Symbolism weiter ausführt, hat jede Sukzession ihre eigene Form. Jede solche Form bildet »eine besondere relationale Grundlage, in bezug auf die die Zeitspannen einander folgen. Die ganzen Zahlen folgen in einer Weise aufeinander, Ereignisse folgen in einer anderen Weise aufeinander« (ebd., S. 94). Man wird folglich die je konkrete »relationale Grundlage« berücksichtigen müssen, um Modifikationen in der Zeit ihrer spezifischen Form nach angemessen zu beschreiben. 44
Im Hinblick auf dieses Vorhaben meint Whitehead: »Es kann keinen nützlichen Aspekt von irgend etwas geben, wenn wir nicht das Prinzip der Konformation zulassen, wodurch dasjenige, was bereits geworden ist, zu einer Determinanten für das wird, was im Entstehen begriffen ist.« (Ebd., S. 105) 44 Erzielt wird damit die Beschreibung einer konkreten Zeitfolge bzw. einer spezifischen Transformation, nicht aber einer Beschreibung der Zeit schlechthin oder einer Transformation an sich. Die »Vorstellung reiner Punktualität in Prozessen« ist demnach »falsch«, wie Whitehead meint (Whitehead 1936/2001, S. 133). Die Beschreibung einer Modifikation unter zeitlichem Aspekt wird in diesem Sinne die Relationen auch für wissenschaftliche Sukzessionen aufzeigen müssen, die zwischen den verschiedenen Phasen – möglicherweise »Paradigmen« – bestehen. Je nachdem, in welcher Phase man sich als Beobachter des Wissenschaftssystems befindet, stehen andere Relationen zur Beachtung an. 43
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XVI. Der Beginn der »Pädagogik als Wissenschaft« hat nach weitgehend geteilter Auffassung unter Fachvertretern seinen historischen Ort im Werk von Johann Friedrich Herbart (1776–1841). 45 Gemäß der in diesem Beitrag vertretenen Auffassung, dass die Einnahme einer wissenschaftlichen Perspektive die Arbeit in einem Zirkel der Problemgenerierung zum Ausdruck bringt, müssten die Anfänge des Zirkels bereits in diesem Werk zu finden sein. Und das ist tatsächlich so. In Herbarts Werk findet sich erstmals ein Verständnis, das die Erziehung nicht nur mit den Begriffen beschreibt, die in Nachbardisziplinen der Pädagogik entwickelt worden sind und die eine Reflexion auf Erziehung und ihre Beschreibungen am Maßstab der Wissenschaft ausrichtet. Die Angemessenheit der Förderung menschlicher Entwicklung lässt sich mit und nach Herbart z. B. nicht mehr ausschließlich in religiösen oder philosophischen Begriffen verständlich machen. Er entwickelte ein Verständnis der Erziehung, dem nur eine facheigene Theorie Rechnung tragen kann, und stellte die Forderung auf, das Denken über Erziehung solle sich auf »einheimische Begriffe besinnen«, weil es nur so zur Herausbildung eines eigenständigen Forschungskreises beitragen könne (Herbart 1806/1887, S. 8). Diese Forderung wurde wegweisend für die Etablierung einer wissenschaftlichen Disziplin im Erziehungssystem. 46 Insofern sich die Theoriebildung an dieser Forderung orientierte, kann man von der Herbart-Tradition sprechen. 47 45 Bereits Dilthey hat in Über die Möglichkeit einer allgemeingültigen pädagogischen Wissenschaft gemeint, dass »Herbart zuerst eine wissenschaftlich begründete Pädagogik aufzustellen versucht« habe (Dilthey o. J., S. 14). Dass Herbart »mit seiner vielzitierten Bemühung um die Konstituierung einer pädagogischen Wissenschaft nicht schlechterdings an einem Anfang steht«, hat Nicolin beschrieben. Er weist aber darauf hin, dass erst mit Herbart »eine Kontinuität in der Erörterung der Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Pädagogik anhebt« (Nicolin 1969, S. X). 46 vgl. hierzu die differenzierte Rekonstruktion der Genese der Erziehungswissenschaft, die Tenorth jüngst vorgelegt hat (Tenorth 2004). 47 Der Begriff »Herbart-Tradition« ist nicht zu verwechseln mit dem unter Fachvertretern geläufigen Begriff »Herbartianismus«. Während dieser – wie neuere Untersuchungen der Forschungsgruppe um Rotraud Coriand und Michael Winkler zeigen (Coriand/ Winkler 1998) – häufig undifferenziert dazu verwendet worden ist, eine Phase der Rezeption von Herbarts Werk zu bezeichnen, betont der Begriff »Herbart-Tradition« eine spezifische Intention der pädagogischen Theoriebildung. Dass zur Bezeichnung dieser Intention auf den Namen Herbarts zurückgegriffen wird, ist dem Umstand zu verdan-
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In dieser Tradition kam es zu einer Ausdifferenzierung einer charakteristischen Perspektivität im Erziehungssystem, was die – facheigene und fachfremde – Reflexion auf diese Situation zur Beachtung der Korrelationen, die zwischen den verschiedenen Perspektiven bestehen, nötigt: Aufgabe der Erziehungswissenschaft in dieser Perspektivität ist die Erforschung pädagogischer Theorien, d. h. der im Erziehungssystem angefertigten Beschreibungen von Erziehung, die diese begleiten und an denen diese Orientierung findet. Gegenstand der Erziehungswissenschaft ist also nicht die Erziehung selbst – diese ist Gegenstand der Pädagogik –, sondern die Beschreibung der Erziehung. Die Erziehungswissenschaft ist insofern eine Reflexionsposition im Erziehungssystem (vgl. Anhalt 2007). Als solche steht sie auch vor der Aufgabe, ihre eigene Position im Erziehungssystem zu bestimmen. Sie reflektiert dazu auch auf die Relationen, in denen sie Kontur gewinnt. Eine Relation ist die bereits angeführte Beziehung zwischen Erziehungswissenschaft und Pädagogik. Diese Relation kann von der Erziehungswissenschaft nur dann angemessen bestimmt werden, wenn sie zugleich eine zweite Relation in den Blick fasst, nämlich die Relation zwischen Pädagogik und der von ihr beschriebenen Erziehung. Die Erziehung selbst kommt der Erziehungswissenschaft demzufolge immer nur vermittelt durch ihre pädagogischen Beschreibungen in den Blick. Insofern reflektiert die Erziehungswissenschaft nicht unmittelbar auf Erziehung, sondern auf die Vermittlungsformen von Erziehung. Gegenstand der Erziehungswissenschaft ist somit auch das paradigmatische Wissen des Faches, das über die in Form pädagogischer Theorien vermittelte Erziehung vorliegt. Insofern wäre zu erwarten, dass eine Theorie des Mega- bzw. Metaparadigmas auch für die Erziehungswissenschaft gehaltvolle Anregungen bieten kann. Herbart hat die Perspektivität, die von der Erziehungswissenschaft heute beachtet wird bzw. werden muss, selbstverständlich noch nicht in extenso beschreiben können. Er war, wie jeder Wissenschaftler, insofern ein »Kind seiner Zeit«, als er sich in den »Rahmungen« (Goffman) um Orientierung bemühte, die er mit seinen Mitteln nicht in Frage zu stellen vermochte. Er hat aber trotz dieser unvermeidlichen Begrenzungen Probleme erkennen können, die zu seiner Zeit noch nicht formuliert worden waren und die insofern den Zirkel der Proken, dass Herbart als Begründer der Pädagogik als Wissenschaft gilt und damit den Grundstein für die entsprechende Tradition gelegt hat.
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blemgenerierung »befruchtet« haben, als sie auch heute noch die Diskussionen im Fach anzuregen vermögen (für das Beispiel »Zeit« vgl. Anhalt 2009). Dies gilt auch für eine Bestimmung des Adressaten, an den sich Erzieher wenden. Er soll nach Herbart begriffen werden »als ein veränderliches Wesen, – als ein Wesen, das aus einem Zustande in den anderen übergehe, – das aber auch mit einer gewissen Stetigkeit in dem neuen Zustande zu beharren fähig ist« (Herbart 1802/1887, S. 290). Herbart wendet hier die Möglichkeit des korrelationalen Denkens auf eine Beschreibung des jungen Menschen an, der sich in Entwicklung befindet und der in seiner Entwicklung durch spezifische Maßnahmen gefördert werden soll. Die Förderung muss, so Herbart, in Relation zu der Dynamik des sich entwickelnden Menschen bestimmt werden. Das korrelationale Beschreibungsmuster findet sich auch in Herbarts Beschreibung der Funktion von Pädagogik als universitärer Ausbildungsdisziplin. Es ist nach Herbart nötig, überhaupt erst einmal eine »pädagogische Sinnesart« zu entwickeln, (Herbart 1802/1887, S. 288) die die Situation zu erfassen vermag, in der sich der heranwachsende Mensch für die Dauer seiner Entwicklung befindet. 48 Eine solche »Sinnesart« stellt sich Herbart wie ein Orientierungsmuster vor, das die Erzieher befähigt, die allgemein bestimmbaren Aspekte der Erziehung in ihren gegenseitigen Abhängigkeiten zu erfassen und mit dem gewonnenen Wissen die Fortdauer des Miteinanderumgehens mit den Kindern und Jugendlichen so zu planen, dass jeder erfolgende Schritt weitere erzieherische Schritte vorbereiten hilft. Was die Erzieher haben sollen, ist also ein Orientierungsmuster für ihr erzieherisches Handeln, das in erster Linie dazu dient, einen Plan für die Anschlussfähigkeit im Miteinanderumgehen von Erzieher und Educanden zu entwerfen und im Hinblick auf aus ihm erwachsende Konsequenzen zu beurteilen. Ein solches Orientierungsmuster berücksichtigt die Perspektiven der Akteure auf die Erziehung sowie die Integration der Beobachterperspektive des Erziehers in die Perspektivität der Erziehung und zugleich die Dynamik der sich wandelnden Erziehung durch die Inter48 Das heißt heute »lebenslang«. Zu Herbarts Zeit ging man noch von einem Ende der Entwicklung unter den Bedingungen von Pädagogik aus, das lange vor dem Tod erreicht sein sollte.
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aktionen im Sinne der Förderung menschlicher Entwicklung durch Lernen. Die einzelnen Prozessphasen dieses Wandels werden durch eine Beschreibung der aneinander anschließenden »Schritte« des Lernens unter den Bedingungen von Erziehung bestimmt, nicht aber durch eine universitäre Disziplin vorgegeben. Herbart verzichtet auch in diesem Punkt auf »Maßstäbe ab extra«. Der pädagogischen Perspektive wird nach Herbart erst dann Rechnung getragen, wenn die spezifische »relationale Grundlage« der zeitlichen Sukzession (Whitehead) im Hinblick auf die »Bildsamkeit« des sich entwickelnden Menschen bestimmt wird. Diese ist kein Vermögen, keine okkulte Qualität oder sich entfaltende Kraft, sondern, wie Herbart meint, die sich in verschiedenen Lebensphasen unterschiedlich ausprägende Differenz zwischen den »Natur-Anlagen« und »den auf jeder Altersstufe erworbenen Fähigkeiten des Weiterkommens« unter den Bedingungen der Erziehung, d. h. aus der Perspektive des Erziehers, der seine Maßnahmen zur Unterstützung der Entwicklung des jungen Menschen in Relation zu anderen Perspektiven auf die Erziehung abmisst (Herbart 1831/1897, S. 342 f.). Die je aktuellen »Fähigkeiten des Weiterkommens« bilden den Ausgangszustand für weitere Entwicklung unter den Bedingungen von Erziehung, der sich in der Folge verändert. Die »Fähigkeiten des Weiterkommens« sind somit sich selbst verändernde Bedingungen der Entwicklung. Sie entsprechen dem, was Piaget für die wissenschaftliche Forschung als Prinzip der »kontinuierlichen Transformation« bzw. als Prinzip der »kontinuierlichen Reorganisation« bezeichnet hat und was von Whitehead als »Konformation« in den Blick gerückt worden ist. Wo findet der Erzieher das Kriterium für seine Bemühungen um Förderung des sich entwickelnden Menschen? Eine Antwort, die Herbart gibt, findet sich in seiner Allgemeinen Pädagogik von 1806: Moralität bzw. »Charakterstärke der Sittlichkeit« heißt das gesuchte Kriterium. Auch hier verzichtet Herbart auf ein Kriterium, das von einer Warte außerhalb der Erziehung vorgegeben werden könnte. Die »Charakterstärke der Sittlichkeit« ist vielmehr etwas, das erworben werden, das geübt werden muss, indem der sich entwickelnde Mensch und der Erzieher ihren Umgang miteinander so gestalten, dass der junge Mensch die Gelegenheit erhält, das, was er denkt und tut, auch unter moralisch-ethischen Aspekten zu beurteilen, und ihm der Erzieher dabei zur Seite steht. Ein zweites Kriterium findet sich in Herbarts Abhandlung Über 126
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Erziehung unter öffentlicher Mitwirkung. Dort heißt es, dass die Erziehung »Wohlthäterin der Einzelnen« sei, »deren jeder ihrer Hülfe bedarf, um das zu werden, was er einmal wünschen wird geworden zu seyn« (Herbart 1810/1887, S. 77). Es geht also darum, den sich entwickelnden Menschen als jemanden zu begreifen, der erst zu einem Zeitpunkt über die Umstände und Gründe der vergangenen Entwicklung wird urteilen können, wenn die Veränderungen stattgefunden haben, deren Verlauf und Konsequenzen zum Zeitpunkt der Erziehung noch nicht abzusehen waren. Diese Auffassung bricht mit jedem finalistisch gedachten Konzept von Erziehung und verpflichtet Erzieher dazu, die Unvorhersehbarkeit des Ausgangs ihrer Bemühungen zu berücksichtigen. Angesichts dieser Unvorhersehbarkeit mahnt Herbart: »Möchte man, statt des schädlichen Selbstvertrauens, lieber behaupten, es habe noch keiner unter den Menschen Pädagogik, diese tiefe Wissenschaft, Erziehungskunst, diese schwere und nie auszulernende Kunst, wirklich verstanden.« (Ebd., S. 79)
XVII. Der kurze und grobschnittige Rekurs auf Herbarts Position kann als Anwendung der zuvor mit Blick auf Whitehead, Cassirer und Piaget beschriebenen Theorie des Zirkels der Problemgenerierung verstanden werden. Deren theoretische Ansätze weisen eine Gemeinsamkeit auf: Sie machen die Funktion der Problemgenerierung für den Erkenntnisfortschritt in der wissenschaftlichen Forschung deutlich. Sie rücken dazu ihre eigene Beschreibungsperspektive in eine Reflexionsposition, von der aus Grundannahmen und -prozesse in der Wissenschaft thematisiert werden können. In diesem Sinne stellen die Ansätze von Whitehead, Cassirer und Piaget Beiträge zur Grundlagenforschung dar. Würde man sie als Ansätze eines »Megaparadigmas« resp. »Metaparadigmas« beschreiben, so könnte man von einer allgemeinen Grundlagenforschung der Wissenschaft sprechen.
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›Haltepunkte‹ Whitehead, A. N.: Wissenschaft und moderne Welt (Science and the Modern World, 1925). Übers. v. H. G. Holl. Frankfurt a. M. 1988 Whitehead, A. N.: Wie entsteht Religion? (Religion in the Making, 1926). Übers. v. H. G. Holl. Frankfurt a. M. 1990 Whitehead, A. N.: Kulturelle Symbolisierung (Symbolism. Ist Meaning and Effect, 1927). Hrsg. u. übers. v. R. Lachmann. Frankfurt a. M. 2000 Whitehead, A. N.: Abenteuer der Ideen (Adventures of ldeas, 1933). Frankfurt a. M. 2000 Wiesenfeldt, G.: Was demonstriert ein Experiment? Überlegungen zum Verhältnis von Erkenntnisgewinn und Wissensvermittlung in der Frühen Neuzeit. In: Schramm, H./L. Schwarte/J. Lazardzig (Hrsg.): Spektakuläre Experimente. Praktiken der Evidenzproduktion im 17. Jahrhundert. Berlin, New York 2006, S. 260–278 Zimmerli, W. Ch.: Information über Information. Sprache und Wissenschaft in der Wissensgesellschaft. In: Bischoff, D./J. Frenk (Hrsg.): Sprach-Welten der Informationsgesellschaft. Perspektiven der Philologie. Münster u. a. 2002, S. 21– 32 Zimmerli, W. Ch./O. Bagusat/A. Müller: Bildung als Instrument eines Integrationsmanagements. In: Garcia Sanz, F. J./K. Semmler/J. Walther (Hrsg.): Die Automobilindustrie auf dem Weg zur globalen Netzwerkkompetenz. Effiziente und flexible Supply Chains erfolgreich gestalten. Berlin, Heidelberg 2007, S. 77–89
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II. Anthropologie und Psychologie
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I.
Einleitung
Wenn Jean Piaget die menschliche Kognition erklärt, spricht er ohne Scheu von Affen und Katzen, Schnecken und Einzellern. Für ihn ist die menschliche Erkenntnisfähigkeit ein Teil der Natur und bis in ihre Funktionsweise durch diese Herkunft geprägt. Sie erfindet in ihren noch wenig entwickelten Formen nichts neu, sondern setzt Arbeitsweisen fort, die schon in einfachen Lebewesen, in Organen, Instinkten und Reflexen am Werk sind. Dennoch transformiert die menschliche Erkenntnisentwicklung diese basalen Formen im Laufe ihrer Entwicklung so, dass kognitive Werkzeuge entstehen, die der menschlichen Vernunft ganz eigen sind: Alltagswissen, logisch-mathematische Operationen, wissenschaftliche Theorien. Für Piaget besitzt jede biologische Anpassungstätigkeit Erkenntnischarakter, weil sie bestimmten Aspekten und Bedingungen der Umwelt Rechnung trägt. Er hält diese Adaptivität für die Wurzel sämtlicher kognitiver Kompetenzen und verankert seinen erkenntnistheoretischen Realismus so in ontologisch »tiefliegenden« Schichten des Organischen. Diese Begründungstrategie verfolgt auch die Evolutionäre Erkenntnistheorie, so dass sich Piagets Erkenntnistheorie als »evolutionäre« titulieren lässt, denn die Fundierung aller Erkenntnis- und Denktätigkeiten in universellen biologischen Prozessen ist ein durchgängiges Muster seiner Argumentation. Aus diesem Grunde fordert er mit Nachdruck, dass Erkenntnistheorie nicht länger ausschließlich philosophisch-spekulativ verfahren solle 1 , sondern auf der Grundlage empirischer Wissenschaften, vor al-
In der Schrift »Weisheit und Illusionen der Philosophie« (1985) kritisiert er Philosophie, die glaubt, spekulativ-introspektiv so genannte suprawissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen.
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lem der Evolutionsbiologie, der Neurobiologie und der Entwicklungspsychologie. Er beließ es nicht dabei, diese Methode zu fordern, sondern praktizierte sie auch: in seinen eigenen Arbeiten und in Form interdisziplinärer Arbeitsgruppen an dem von ihm gegründeten »Internationalen Zentrum für Genetische Epistemologie« in Genf. Damit ist er einer der Wegbereiter des Naturalismus in der Erkenntnistheorie des 20. Jahrhunderts und ein vehementer Befürworter des Wechselspiels zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften. Diese naturalistische Ausrichtung und seine Theorie der kognitiven Entwicklung, die von einem stufenweisen Aufbau kognitiver Strukturen im Laufe der Ontogenese ausgeht, haben dazu geführt, dass Piaget als radikaler Konstruktivist 2 eingeschätzt wird. Dieser Aufsatz will dagegen zeigen, dass diese Einschätzung über das Ziel hinausschießt. Piagets Theorie kann zwar zweifellos »konstruktivistisch« genannt werden – sie befasst sich mit der Konstruktion von Erkenntnisformen und Erkenntnisinhalten. Vor allem in seinen Schriften zur ontogenetischen Ausbildung kognitiver Strukturen zeigt sich dieser Grundzug. Ein radikaler Konstruktivismus lässt sich daraus jedoch nicht ableiten, sondern nur ein gemäßigter, der zudem auf erkenntnisrealistischen Annahmen fußt. Gerade die Texte des Spätwerks, in denen er das Verhältnis von Biologie und Erkenntnis expliziert hat, ruhen auf einem realistischen Fundament. Piaget geht davon aus, dass die kognitiven Konstruktionen durchweg adaptiven Charakter haben, durch den sich die Welt dem organismischen und dem epistemischen Subjekt aufprägt. Hier soll daher Piagets Versuch umrissen werden, den Erkenntniskonstruktivismus mit dem Erkenntnisrealismus zusammenbringen und diese klassisch dichotomen Erkenntnisauffassungen als nicht ganz so unverträglich herauszustellen. Damit kann er als »transformatorischer Denker« im Sinne dieses Tagungsbandes gelten, der die klassischerkenntnistheoretische Fragestellung nach dem Verhältnis zwischen Rationalismus und Empirismus in eine moderne und immer noch richtungsweisende Form gebracht hat, welche die Vorzüge beider Argumentationslinien übernimmt, ohne ihre Vereinseitigungen mitzuvollSiehe den Sammelband »Piaget und der Radikale Konstruktivismus«, hg. von Gebhard Rusch und Siegfried J. Schmidt, 1994. Hier seien exemplarisch Ernst von Glasersfeld und Eve-Marie Engels erwähnt, deren Piaget-Auslegungen in Abschnitt III. diskutiert werden.
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ziehen. 3 Dieser synthetisierende Ansatz im Verein mit seiner wissenschaftsorientierten Art des Philosophierens ließ ihn Mitte des 20. Jahrhunderts eine zeitgemäße Form der Erkenntnistheorie formulieren, wie sie von einschlägigen Autoren der Wissenschaftsrealismus-Debatte vertreten wird 4 : einen wissenschaftlich fundierten konstruktiven Realismus.
II.
Biologie und Erkenntnis bei Piaget
Für Piaget gibt es keine absolute Trennlinie zwischen Lebendigem und Geistigem. Wenn er über kognitive Vermögen spricht, spannt er den Bogen von Einzellern bis zur theoretischen Physik. Sich als Erkenntnistheoretiker auf Biologie zu beziehen, hat für ihn nichts Reduktionistisches. Leben sei ein konstruktiver, schöpferischer Prozess, der neue Organisationsformen hervorbringe, die sich ihrem Wesen nach von früheren unterscheiden, auch wenn sie mit ihnen genetisch und organisatorisch verwandt sind. Kognitive Fähigkeiten stehen in Zusammenhang mit der biologischen Organisation als solcher; Denken ist nichts, was unabhängig von einem menschlichen Organismus wäre, auch wenn es in späten Entwicklungsstadien und in seiner formalisierten, operationellen Form autonom und abgelöst erscheint. Piaget unterscheidet drei Hauptformen von Erkenntnis: Die hereditären Formen, deren Prototyp der Instinkt ist; die logisch-mathematischen und die durch Erfahrung erworbenen Formen – die vom einfachen Lernen bis zur naturwissenschaftlichen Erkenntnisweise reichen. Der Realismus als erkenntnistheoretischer Standpunkt hat eine lange Geschichte, während der er viele begriffliche Nuancierungen erfahren hat. Hier wird er in drei Teilaussagen aufgesplittet, die sich im Kern in allen realistischen Positionen finden. 5 1. Es gibt eine Wirklichkeit, die unabhängig von uns und unserem Bewusstsein existiert. 2. Diese Wirklichkeit weist Beschaffenheiten und Strukturen auf, die ebenfalls von uns und unserem Bewusstsein unabhängig sind. 3. Teile
Diese synthetisierende Leistung stellen vor allem Thomas Kesselring (1981) und Reto Luzius Fetz (1988) heraus. 4 Stellvertretend für weitere einschlägige Autoren seien die Arbeiten von Ian Hacking (1996), Stathis Psillos (1999) und Christian Suhm genannt (2005). 5 Siehe Winfried Franzen, 1994, S. 23. 3
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dieser Wirklichkeitsstrukturen sind unserem Bewusstsein zugängig und werden in unserem Wissen erfasst. Wirklichkeit meint sichtbare und nicht sichtbare Entitäten wie beispielweise Steine, Bäume oder Elektronen und die dazugehörigen Eigenschaften, Relationen und Gesetzmäßigkeiten. Weil Piaget seine epistemologischen Schlüsselbegriffe der Wissenschaft vom Leben entlehnt, soll zum Verständnis realistischer Gehalte der wissenschaftlich fundierten Erkenntnistheorie, seine Biologie der Erkenntnis knapp skizziert werden. 6 Deren Generalthese lautet: Kognitive Funktionen sind Verlängerungen organischer Funktionen: »Die kognitiven Prozesse erscheinen (…) als die Resultante der organischen Selbstregelung, deren Hauptmechanismen sie reflektieren, und als die differenziertesten Organe dieser Regulation der Interaktionen mit der Außenwelt (im Original kursiv gesetzt, G. N.).« 7 Den Leitfaden seiner Untersuchung bildet die Frage, warum logisch-mathematische Strukturen und empirische Erkenntnisse mit der Realität übereinstimmen. Assimilation ist einer der zentralen Begriffe der genetischen Erkenntnistheorie. In der Biologie meint Assimilieren, körperfremde Stoffe chemisch in körpereigene verwandeln. Assimilation ist eine Funktion von Organen und dient der Selbsterhaltung. Neben Materie und Energie werden auch Informationen anverwandelt – diese epistemologische Bedeutung verlieh Piaget dem Begriff. Kognitive Assimilation integriert neue Erkenntnisse in schon vorhandene Strukturen. Assimilierende Integration ist keine passive, mechanische Reaktion auf äußere Reize, sondern ein aktiver Vorgang. Jede Erkenntnis ist an Verhalten und Handeln gebunden, wodurch Gegenstände in den Aktionsradius des Individuums eingegliedert werden und dessen Verfügungsund Aktivitätshorizont erweitern. Diese lebenserhaltende Aktivität strebt nicht nur nach Reproduktion. Sie hat die Tendenz, Funktionen auszuweiten und zu generalisieren und die Umwelt zu erobern. In der Naturwissenschaft findet diese Eroberung des Objekts ihre wissenschaftliche Gestalt. Assimilation spielt sich indes nicht im luftleeren Raum ab, sonAusführliche Darstellungen der Grundbegriffe der Genetischen Epistemologie und der Biologie der Erkenntnis finden sich bei Jean Piaget (1973, 1974, 1992) und in der Sekundärliteratur bei Reto Luzius Fetz (1988), Thomas Kesselring (1981, 1984, 1988), Hans Furth (1981), Arno Ros (1983, 1994) und Gabriele Neuhäuser (2003). 7 Jean Piaget, 1992, S. 27. 6
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dern benötigt einen Rahmen. Bei der materiellen Anverwandlung übernehmen Organe diese Funktion; die kognitive braucht Schemata. Ein Schema ist der Plan, nach dem eine Assimilation abläuft, ein Muster, nach dem sich zum Beispiel ein Reflex oder eine Bewegung vollzieht. In kognitiven Prozessen finden funktionelle Assimilationen an Schemata statt. Ein Schema ist das, was sich über verschiedene Situationen hinweg gleich bleibt, was sich transponieren, generalisieren und differenzieren lässt. Schemata haben keinen absoluten Anfang, sondern entwickeln sich durch aufeinanderfolgende Differenzierungen aus früheren Schemata, die sich Schritt für Schritt auf die Reflexe oder die spontanen ersten Bewegungen zurückführen lassen. Verhaltensschemata verlängern die physiologischen; kognitive Schemata die des Verhaltens. »Das Konzept des Schemas bildet also gleichsam das Leitmotiv, das die physiologischen Reiz-Reaktionszyklen über die Ebene des konkreten Verhaltens mit der Stufe der Erkenntnis und des abstrakten Denkens verbindet.« 8 Es reicht nicht, dass externe Elemente an die Strukturen des Organismus assimiliert werden. Die Assimilationsschemata müssen sich ebenfalls anpassen und transformieren. Akkomodation nennt Piaget diesen Prozess, der konträr zur Assimilation verläuft und sie ergänzt. Schemata beginnen sich gleich nach der Geburt zu akkomodieren und sich den Gegebenheiten der Umwelt anzupassen. Schemata akkomodieren sich, indem sie sich differenzieren oder mehrere bis dahin unabhängige Schemata unter der Steuerung eines übergeordneten Gesamtschemas koordiniert werden. Die Anpassung von Schemata an wechselnde Situationen und die damit verbundenen Variationen des Verhaltens sind für die Selbsterhaltung genauso nötig wie die Assimilation, zumal sich durch diese Modifizierungen auch das Aktionsfeld der Assimilationen erweitert. Um eine konstante Anpassung der Schemata zu gewährleisten, ist eine stete Auseinandersetzung mit der Realität notwendig. Akkomodation und Assimilation finden sich nicht nur im individuellen Verhalten, sondern auf allen Stufen der Entwicklungshierarchie: im Genom, im Epigenotypus, in den höheren kognitiven Mechanismen. Assimilation und Akkomodation kommen jedoch nicht in Reinform vor, sondern spielen immer zusammen. Mit dem Begriff Adaptation – einer höherstufigen Form von Anpassung – fasst Piaget 8
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Thomas Kesselring, 1981, S. 87.
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das Ineinandergreifen von Assimilation und Akkomodation zusammen. Beide sind in allen Aktionen gegenwärtig, doch ihr Verhältnis kann variieren. Die Richtungen von Einverleibung und Anpassung sind gegenläufig: mal passt sich das Subjekt einem Objekt an, mal spielt es sich in die andere Richtung ein. Die Assimilation ist der vom Subjekt bestimmte Pol, die Akkomodation wird vom Objekt beherrscht. »Der assimilative Erkenntnisvorgang ist in gewisser Weise vergewaltigend indem er den Erkenntnisgehalt des Objektes auf den Inhalt des Assimilationsschemas reduziert, während der akkomodative Vorgang die Einseitigkeit und Festgefahrenheit der assimilierenden Struktur reduziert und dadurch zu adäquateren Erkenntnissen und Einsichten führt.«9 Diese Adaptivität auf allen Ebenen des Erkennens und Verhalten ist es, welche die gewaltige realistische Unterströmung der Erkenntnistheorie Piagets ausmacht. Piagets erklärt Adaptivität biologisch und genetisch. Durch die grundsätzlich lückenlose Reihe konstruktiver Prozesse werden kognitive Repräsentationen auf sensomotorischen Handlungen zurückgeführt, diese auf Reflexe, die wiederum auf Grundtätigkeiten des Lebens aufbauen. Die Adaptivität beginnt daher nicht erst mit Handlungen. Doch sobald diese mit den ersten sensomotorischen Aktionen auftreten, nimmt sie weiter zu. Handeln ist seiner Natur nach Objekterkenntnis, denn es läuft nie leer ab, sondern ist stets gegenstandsbezogen. Diese Konstruktion neuer Strukturen ist gleichsam nach oben offen. Sie entwickelt sich aus den organismischen Handlungsstrukturen kraft einer immanenten biologischen Dynamik weiter und strebt einem Zustand zu, den sie nie vollständig erreicht: der Übereinstimmung mit der Umwelt, der Realitätsadäquatheit. Die Adaptivität der Handlungsstrukturen und die Wahrheit der Erkenntniskonstruktionen sind also stets begrenzt. Assimilation und Akkomodation wirken in einem übergreifenden Prozess zusammen, der in Piagets Theorie ebenfalls eine zentrale Rolle spielt, als wichtiger Faktor der Entwicklungssteuerung: der Äquilibration. Entwicklungen und Organismen streben nach Piaget Gleichgewichten zu und diese erreichen sie über Äquilibrierung. Die biologische Organisation und die Kognition sind äquilibrierte Systeme. Gleichgewichtszustände sind umso wichtiger, je offener ein System gegenüber seiner Umwelt ist. Das Genom ist maximal isoliert gegen Ein9
Thomas Seiler, 1994, S. 65 f. A
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flüsse von außen, ohne gegen störende Mutationen vollständig abgeschirmt zu sein. Das epigenetische System ist schon offener. Physiologische Systeme zeigen noch mehr Offenheit und das Nervensystem erlaubt dem Organismus sich maximal gegenüber der Umwelt zu öffnen. Das Verhalten schließlich ist allen möglichen Gleichgewichtsstörungen ausgesetzt, da es fortwährend auf eine unbeständige Umwelt reagieren und einwirken muss. Doch erst die kognitiven Mechanismen führen zu den stabilsten Gleichgewichtsformen: den Strukturen der Intelligenz, insbesondere den logisch-mathematischen Operationen. Bis zu diesem hochstabilen kognitiven System, das Autonomie und Kohärenz des Denkens gewährleistet, ist es jedoch ein weiter Weg, der über viele Gleichgewichtsstörungen verläuft. Störungen werden von den Regulationen vorweggenommen und aktiv kompensiert, daher bilden auch sie einen entscheidenden Aspekt der Äquilibration. Regulationen sind Korrekturmechanismen, in denen der Gleichgewichtszustand eines Systems als Kriterium dafür dient, ob Korrekturen ausgelöst werden müssen oder nicht. Regulationen wirken ebenfalls auf allen organischen und kognitiven Niveaus. Intelligenz und Organismus sind gleichermaßen selbstregulative Systeme, die nach Gleichgewichtszuständen streben. Der Organismus ist ein weiterer wichtiger Begriff. Er ist der Prototyp der Strukturen, die die Träger von Entwicklungen sind. PiagetInterpreten wie Reto Luzius Fetz 10 bezeichnen seinen Ansatz daher als Genetischen Strukturalismus. Ein Grundzug von Lebewesen ist die Organisation, ein weiteres wichtiges Brückenglied zwischen Organismen und Kognition. Sie findet sich in einer befruchteten Eizelle ebenso wie im Genom, in Zellen, primitiven Lebewesen, biochemischen Prozessen. Entscheidend für die Organisation ist ihr erhaltender Charakter. Ein chemischer Stoff zersetzt sich beim Reagieren; ein organisiertes Lebewesen bleibt in seiner Gesamtgestalt gewahrt, obwohl es sich aktiv transformiert. Das Besondere der Erhaltung wiederum ist, dass ein Ganzes erhalten bleibt, nicht als passiv fortdauernde homogene Ganzheit, sondern als so genannte relationale Totalität. In jeder Organisation gibt es Teilprozesse, die in hohem Maße aufeinander bezogen sind und sich nur in ihrer Zusammensetzung manifestieren. Piaget sah im Organismus den Prototypen einer solchen zyklischen, in sich zurück-
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Siehe Reto Luzius Fetz, 1978, 1988.
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laufenden Einheit in der Vielheit. Auch kognitive Systeme sind solcherart offen und geschlossen zugleich. Der Begriff Struktur kann »wie kein zweiter innerhalb der Piagetschen Theorie den Rang eines Grundbegriffes beanspruchen (…) – die fundamentalen Begriffe der Assimilation, der Akkomodation, der Adaptation setzen ihn voraus, da es sich immer um eine Assimilation ›an‹, und eine Akkomodation oder Adaptation ›von‹ Strukturen handelt.« 11 Piaget definiert eine Struktur als ein ganzheitliches System selbstregulativer Transformationen, als ein geordnetes Zusammensein und systemisches Zusammenwirken von Elementen. Zentral für eine Struktur ist ihre Ganzheit und Geschlossenheit. Strukturen umfassen Elemente und Beziehungen, die diese verbinden. Elemente können sein: chemische Stoffe, Energiemengen, kinematische und dynamische Prozesse bei biologischen Strukturen; Wahrnehmungen, Erinnerungen, Begriffe und Operationen bei kognitiven Strukturen. Beziehungen können in Verbindungen jeder Art bestehen: raum-zeitlichen, kausalen oder implikativen, je nachdem, ob es sich um dynamische oder statische Strukturen handelt. Viele Strukturen haben einen dynamischen Charakter, eine innewohnende Tendenz, sich akkomodativ und assimilativ zu reaktualisieren. Als Funktion bezeichnet Piaget die Aktivität einer dynamischen Struktur. Noch enger gefasst meint Funktion das Funktionieren einer Substruktur und deren Wirkung auf das Funktionieren einer Gesamtstruktur. Der Funktionsbegriff ist eng mit der Normalität oder Nützlichkeit einer Struktur verbunden. Die Funktion ist etwas viel allgemeineres als die Struktur; Strukturen können sich ändern, während Funktionen gleichbleiben. Einer wichtigen Funktion kann eine Vielzahl von Strukturen entsprechen. Organische Strukturen können variieren und sich differenzieren, aber die allgemeinsten Funktionen des Lebens bleiben erstaunlich gleich. Wichtig sind weiterhin die zwei Arten von Abstraktion, die Piaget unterscheidet: die empirische und die reflektierende. Die einfache, empirische Abstraktion sieht von den Eigenschaften der Objekte ab. Die reflektierende Abstraktion dagegen reflektiert nicht auf Objekte, sondern Denk- und Verhaltensschemata. Sie zielt auf Strukturen des Subjekts ab, deren Eigentümlichkeit und Besonderheiten sie hervorhebt und in neue Konstruktionen überführt, die dann ihrerseits wieder Aus11
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gangspunkt sind für empirische Abstraktionen. »So geht die Erkenntnisentwicklung als ganze spiralförmig vor sich, da dieses ›Reflektieren‹ eine ›Reflexion‹ nach sich zieht, die ihrerseits wieder auf eine höhere Ebene projiziert werden kann und zu einer neuen ›Reflexion‹ Anlass gibt.« 12 Der Anteil von reflektierender und empirischer Abstraktion ist nicht gleichwertig, auch wenn beide Abstraktionsformen auf allen Erkenntnisstufen bis hin zur Wissenschaft vorkommen. Die empirische Abstraktion arbeitet mithilfe von Assimilationsschemata, die die reflektierende Abstraktion vorantreibt. Der Fortgang der feststellenden empirischen Abstraktion hängt von dem der verstehenden reflektierenden Abstraktion ab, sie ist entscheidend für den Erkenntnisfortschritt. 13 Die reflektierende Abstraktion ist ein Konstruktionsprinzip sui generis. Sie erschöpft sich nicht in Verallgemeinerungen, sondern arbeitet interiorisierte Aktionen aus, indem sie von Handlungen abstrahiert. Diese bilden den Keim von Operationen, aus denen in späteren Stadien der kognitiven Entwicklung wiederum durch reflektierende Abstraktion neue operative Schemata konstruiert werden. Im Laufe der Entwicklung gewinnt die reflektierende Abstraktion immer mehr Autonomie. Sie wächst sich schließlich zu selbstbewusstem Denken aus, das sich immer besser in den Griff bekommt und allmählich auf sich selbst reflektiert. Im Grenzfall strebt sie ihrer eigenen Formalisierung zu, wie im Falle der logisch-mathematischen Operationen. 14 Diese sind in ihrer entwickelten Form, in den mathematischen Naturwissenschaften, in der Lage, mit der physikalischen Realität übereinzustimmen. Die mathematische Vorwegnahme physikalischer Phänomene ist ein gewichtiges Indiz für den Realismus. Piagets Methode nun, Erkenntnistheorie und Biologie zu verbinden, Parallelen zwischen organischen und kognitiven Prozessen herzustellen, besteht in der Herausarbeitung struktureller und funktioneller Isomorphien. Er sieht in der Natur zum Beispiel Strukturen, wie sie in der Logik und Mathematik vorkommen: Inklusion, Ordnung und Zuordnung. Er hielt sie für biologischen Ursprungs, da sie bereits in der genetischen Programmierung der embryonalen Entwicklung vorkommen oder in physiologischen Prozessen. Umgekehrt haben wesentliche 12 13 14
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Reto Luzius Fetz, 1988, S. 105 f. Siehe Reto Luzius Fetz, 1988, S. 107. Siehe Reto Luzius Fetz, 1988, S. 106.
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Merkmale der Erkenntnis evidente organische Entsprechungen. Schon bei einzelligen Lebewesen gibt es erfahrungsbedingte Verhaltensveränderungen und primitive Formen des Gedächtnisses. Pflanzen verhalten sich antizipierend und manche Tiere zeigen Ansätze von Bewusstsein. All dies sind auch Merkmale der entwickelten menschlichen Intelligenz, die sich in einem kontinuierlichen Prozess aus organischen Aktivitäten herauskristallisiert. Die ausgereiften kognitiven Strukturen des Erwachsenen gehen aus dem hervor, was das Neugeborene mitbringt. Da sind zunächst seine – beim Menschen nur noch rudimentär ausgeprägten – Instinkte wie die Nahrungssuche und Reflexe wie Saugen, Greifen und Schreiten. Sie enthalten sensomotorische Schemata wie den Saug- und Greifreflex, die sich sofort nach der Geburt erweitern und modifizieren durch ein Wechselspiel zwischen Akkomodation und Assimilation der Schemata. Die sensomotorischen Schemata des Kleinkindes enthalten nach Piaget schon eine Handlungslogik. Es bildet physikalische Grundbegriffe wie die Objekt-Konstanz und Volumen-Erhaltung aus und spätere Stadien der Entwicklung, die über vier große Stufen verläuft, bauen auf diesen frühen Formen der Kognition auf. Doch die Reflexe sind nicht der absolute Anfang, aus denen sich die kognitiven Funktionen herausbilden. Sie übernehmen allgemeine Funktionsweisen, wie sie bei allen Organismen vorkommen. Assimilation und Akkomodation finden sich überall, wo Lebewesen sich Teile der Umwelt anverwandeln und sich ihr zugleich anpassen.
III. Der Konstruktivismus Piagets 1.
Konstruktivistische Deutungen Piagets
Hier soll nun der Frage nachgegangen werden, inwieweit Piagets erkenntnistheoretischer Ansatz als »konstruktivistisch«, gar »radikal konstruktivistisch« apostrophiert werden kann. Dazu sollen zwei Autoren exemplarisch vorgestellt werden, die eine konstruktivistische Lesart der piagetschen Theorie vorgelegt haben: Ernst von Glasersfeld und Eve-Marie Engels. Von Glasersfeld interpretierte Piaget am deutlichsten als radikalen Konstruktivisten. Radikal heißt, dass die konstruktivistische Auffassung sowohl auf ontologischer als auch auf epistemologischer Ebene vertreten wird, d. h. es wird sowohl die Existenz A
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einer bewusstseins- und beobachterunabhängigen Realität bestritten als auch die Erkennbarkeit der Eigenschaften und Strukturen dieser Realität. Engels deutet Piaget schwächer konstruktivistisch; sie nimmt zwar ebenfalls an, dass Piaget nicht von einer Erkennbarkeit von Realitätsstrukturen ausgeht, dennoch von der Existenz einer unabhängigen Realität ausgeht und somit einen ontologischen Minimalrealismus vertritt. Für Ernst von Glasersfeld hat Piaget die konstruktivistische Tradition in der Philosophiegeschichte auf eine empirische Basis gestellt und vollendet. Giambattista Vico, George Berkeley und Immanuel Kant sind für ihn Vorläufer Piagets. Sie brachen mit der Vorstellung, menschliche Erkenntnis müsse in irgendeiner Weise eine Repräsentation einer beobachterunabhängigen Realität liefern, und haben nach v. Glasersfeld grundlegende philosophische Begriffe wie Sein, Wahrheit und Wirklichkeit neu gedacht. Nach Vicos Auffassung kann Wissen nicht mit dem Gegenstand des Wissens verglichen werden, sondern nur mit anderem Wissen, denn auch der Gegenstand selbst ist nur ein Wissensprodukt. Dieses aber sei von Menschen gemacht, die auch nur das begreifen können, was sie selbst hervorbringen. Berkeley hat diesen Gedanken in eine andere Richtung radikalisiert. Er philosophierte über die Existenz der Entitäten, die Gegenstände von Erkenntnis sind. Nach ihm existiert überhaupt nichts außerhalb unserer Wahrnehmung. Die Dinge, die wir wahrnehmen sind das Ergebnis von Wahrnehmungsaktivitäten und existieren nicht an sich. Piaget nun hat nach v. Glasersfeld die Grundeinsichten beider Denker zusammengeführt: Vicos Betonung des erkennenden Subjekts und Berkeleys Neudefinition des Ausdrucks »existieren«. In dem Satz: »Der Verstand organisiert die Welt, indem er sich selbst organisiert« 15 , habe er die Synthese auf den Punkt gebracht. Erkenntnisse seien für Piaget keine Kopie der Wirklichkeit, sondern eine Adaptation an sie. Die kognitive Adaptation erzeuge keine ikonographische Repräsentation einer objektiven Welt, sondern viable Begriffsstrukturen, die es dem Subjekt ermöglichen, in seine Umwelt zu passen: »Von einem konstruktivistischen Standpunkt aus betrachtet, bedeutet Anpassung jedoch keineswegs so etwas wie Übereinstimmung mit einer Außenwelt aus an sich existierenden Objekten, sondern vielmehr die Verbesserung des organischen Gleichge-
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Ernst von Glasersfeld, 1996, S. 25.
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wichts (…), d. h. des Passens, relativ zu den erfahrenen Beschränkungen. 16 Viabilität ist der entscheidende Begriff, den Konstruktivisten wie v. Glasersfeld dem der Wahrheit entgegensetzen. Nicht erst im Erkennen, »auch schon auf dem Gebiet der Wahrnehmung (erscheint) der Begriff des Passens weit zutreffender (…) als jener der ikonischen Übereinstimmung. Vom Gesichtspunkt des Handelnden ist es irrelevant, ob seine Vorstellungen von der Umwelt ein ›wahres‹ Bild der ontischen Wirklichkeit darstellen – was er braucht, ist eine Vorstellung, die es ihm erlaubt, Zusammenstöße mit den Schranken der Wirklichkeit zu vermeiden und an sein Ziel zu kommen.« 17 Der Begriff des Passens kommt aus der Evolutionstheorie und meint so viel wie die Fähigkeit eines Organismus, in seiner Umwelt zu überleben und sich fortzupflanzen. Damit ist er in der Regel auf keine bestimmte Art des Überlebens festgelegt, sondern es bieten sich ihm immer mehrere Möglichkeiten. Wie Organismen es schaffen, zu überleben, spielt keine Rolle. Wissen ist für den Konstruktivisten nur ein möglicher »Weg, um zwischen den ›Gegenständen‹ durchzukommen« und schließt nicht aus, dass »andere befriedigende Wege gefunden werden können.« 18 Für v. Glasersfeld bietet der Begriff der Viabilität eine Möglichkeit, das traditionelle Problem des Wissens zu umgehen: erkennen zu wollen, was außerhalb unserer Erlebenswelt liegt. Dadurch umgehe der konstruktivistische Ansatz zwei Sackgassen. Einmal das radikal skeptische Denken, das – nur weil sich kein sicheres Wissen finden lässt – zu Irrationalismen neige. Auf der anderen Seite stehe die Überheblichkeit jeglichen Denkens, das behauptet, die eine Wahrheit gefunden zu haben. Dagegen immunisiere der Gedanke, alles Wissen sei konstruiert. Das Subjekt gewinne dadurch Autonomie im Denken aber auch Verantwortung für sein Handeln – in dem Maße, wie dies in einer unerkennbaren Welt möglich ist. Freilich hält der Begriff der Objektivität konstruktivistischen Überlegungen nicht stand. Objektives Wissen glaubt, so v. Glasersfeld, die Beschaffenheit der Welt zumindest in groben Zügen zu erkennen. Dieser Gedanke sei »eine Form des naiven Realismus, der in dem Glauben besteht, wir könnten Dinge ›erkennen‹, so wie sie an sich sind, als 16 17 18
Ernst von Glasersfeld, 1994, S. 29. Ernst von Glasersfeld, 1992, S. 23. Ernst von Glasersfeld, 1992, S. 32. A
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hätte eben jene Tätigkeit des Erkennens keinen Einfluss auf die Beschaffenheit des Erkannten.« 19 Die entgegengesetzte Überlegung habe eine philosophische Tradition, die schon mit den Vorsokratikern beginne, und in diesem Jahrhundert empirische Argumente aus den Wissenschaften zur Bestätigung erhalte. Wenn man annehme, dass »Wissen nicht als Fertigware von der Außenwelt importiert werden kann«, dann käme man auf die konstitutive Rolle der Vernunft. Kant habe den Begriff der Erkenntnis von der Vorstellung getrennt, dass eine vorgeformte Realität entdeckt werde. Wissen müsse nicht abbilden, sondern passen. Das besage nicht, dass der Passungsgrad sehr hoch sein muss. Wenn Wissen passe, heiße dies nur, dass es bisher in der Praxis noch nicht gescheitert sei, argumentiert v. Glasersfeld. »Vom konstruktivistischen Standpunkt aus ist Anpassung nie eine Angleichung, sondern die Entwicklung von Strukturen, sei es des Handelns oder des Denkens, die in der Erlebenswelt den erwarteten Dienst tun.« 20 Diese Überlegungen wurden in der Wissenschaft und Wissenschaftsphilosophie erst dann ernst genommen, als die Forschung selbst Ergebnisse hervorbrachte, die konstruktivistische Theorien stützen. Vor allem die durch die Wahrnehmungsforschung erkannte Unspezifität der neuronalen Codierung gehöre zu den stützenden empirischen Erkenntnissen: »Die Annahme, dass unsere Sinne uns irgendetwas Objektives aus der ontischen Welt übermitteln könnten, wird hinfällig, wenn es zutrifft, dass die Signale unseres Wahrnehmungsapparates nicht einmal Gesehenes von Gehörtem oder Ertastetem unterscheiden.« 21 Das untergrabe die Vorstellung, unsere Sinne seien eine Art Nachrichtensystem, das unterschiedliche Aspekte der ontischen Welt direkt in das Bewusstsein leite. Keine philosophische Wissenschaftsoder Erkenntnistheorie könne es sich daher erlauben, solche Forschungsergebnisse zu ignorieren oder sich auf einen überholten Erkenntnistand zu berufen. Gerade die Undifferenziertheit der neuronalen Erregung im Nervensystem untermauere den Kerngedanken, dass alles, was wir wissen und erleben, konstruiert werden muss und keinerlei Anspruch auf ontologische Objektivität mehr erhoben werden kann. 19 20 21
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Ernst von Glasersfeld, 1992, S. 18. Ernst von Glasersfeld, 1992, S. 25. Ernst von Glasersfeld, 1992, S. 28.
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An diesem Punkt kommt v. Glasersfeld auf die Fortschritte der Wissenschaften zu sprechen, die er immerhin zugesteht. Er wertet sie allerdings nicht als Indiz dafür, dass wir uns der Wahrheit immer mehr annähern, denn »es ist ein ›Wissen wie‹ und nicht das ›Wissen was‹, das die Erkenntnistheorien der Philosophen seit jeher zu erfassen suchten.« 22 Die Wissenschaften lieferten Gründe dafür, den auf Wahrheit angelegten Wissensbegriff instrumentalistisch zu deuten. Der instrumentalistische Begriff des Passens ersetze den der Isomorphie zwischen Wissen und seinem Gegenstand. Vertreter der Evolutionären Erkenntnistheorie 23 haben immer wieder darauf hingewiesen, dass die Genetische Epistemologie Piagets mit ihrem ontogenetischen Ansatz ein wichtiges Ergänzungsstück zum phylogenetischen der Evolutionären Erkenntnistheorie ist. Deren Grundgedanke lautet knapp: Menschliches Erkennen und Denken sind Funktionen unseres Organismus, die sich im Laufe der biologischen Evolution herausgebildet haben. Die Organe des Erkennens – das Gehirn, das zentrale Nervensystem insgesamt, die Sinnesorgane – sind evolutiv, durch den Selektionsdruck entstanden. Nicht nur ihre anatomische Struktur, auch ihre Funktionen sind naturgeschichtlich geprägt. Das Gehirn muss im Laufe seiner naturgeschichtlichen Entwicklung die Fähigkeit entwickelt haben, die natürliche Umwelt angemessen wahrzunehmen und zu erkennen. Dieses Wissen musste angemessenes Verhalten ermöglichen, um sicherzustellen, dass die Individuen und die Gattung überleben. Im Dienste der Anpassung sind menschliche Wahrnehmungsorgane auf ein mesokosmisches Umfeld hin ausgerichtet, d. h. einen Teilausschnitt der realen Welt, den wir wahrnehmend, handelnd, sensomotorisch bewältigen. Der Mesokosmos ist die »kognitive Nische«, der sich unsere Erkenntnisvermögen im Laufe der Evolution angepasst haben, eine Welt der mittleren Dimensionen, dessen Bereichsgrenzen den menschlichen Handlungs- und Wahrnehmungsspielraum abstecken. Er kann sich vom Mesokosmos anderer Lebewesen erheblich unterscheiden. Im mesokosmischen Wissen schlagen sich die vorwissenschaftliche, alltagspraktische und lebensweltliche Spielart von Erkenntnissen nieder und die unserer Vorfahren. Es ist ganz auf die Sinnesorgane, Erfahrungen, die Alltagssprache und eleErnst von Glasersfeld, 1992, S. 13. Für die deutschsprachige Diskussion sei hier stellvertretend auf den Hauptvertreter der Evolutionären Erkenntnistheorie Gerhard Vollmer (1985, 1995) hingewiesen. 22 23
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mentare Schlussweisen zugeschnitten und damit mesokosmischen Bedürfnissen angemessen. In der mesokosmische Nische spiegelt sich also nicht das ganze Universum. Unsere Sinne erschließen uns nur den Welt-Ausschnitt, der für unsere Ahnen überlebenswichtig war. Zu Mikro- und Makrokosmos haben wir keinen sinnlichen Zugang, es fehlen uns dafür die unmittelbaren Anschauungsformen. Bei Piaget kommt nun nach Eve-Marie Engels dem Zusammenhang von Handeln und Erkennen eine besondere Rolle zu, insofern er den Aufbau dieses Zusammenhangs im Laufe der Ontogenese aufklären will. Strukturen der Erkenntnis und der Realität werden im Laufe der Entwicklung von uns selbst hergestellt. »Piaget betrachtet diese Konstruktion als Spezialfall der biologischen Anpassung.« 24 Doch trotz seiner biologischen Ausrichtung habe Piaget einen anderen Passungsbegriff als die Evolutionäre Erkenntnistheorie. »Dementsprechend wendet sich Piaget auch kritisch gegen den erkenntnistheoretischen Realismus.« 25 Engels will zeigen, dass sich mit Piagets Erkenntniskonzeption ein konstruktionistischer Wahrheitsbegriff begründen lässt, der mit einer evolutionären Perspektive gut vereinbar sei. Piaget hebt wie die Evolutionäre Erkenntnistheorie auf den Handlungsbezug des Erkennens ab. Engels meint, »um zu verstehen, wie es uns überhaupt möglich ist, die Ergebnisse unseres Handelns kognitiv zu antizipieren, wie es kommt, dass sich die Dinge so verhalten können, wie wir es uns vorstellen, warum also unsere Erkenntnisstrukturen zur Welt ›passen‹, müssen wir die Frage nach dem Zusammenhang von Erkennen und Handeln viel fundamentaler stellen, indem wir die Entwicklung des Erkennens rekonstruieren und die Nahtstellen aufzeigen, an denen Handeln und Erkennen ursprünglich verknüpft sind.« 26 Piaget habe den richtigen Ansatzpunkt gewählt – das Individuum und seine Entwicklung. Die Phylogenese sei einerseits zu vage und andererseits verlaufe der stammesgeschichtliche Erfahrungsprozess über das Individuum. Damit konkretisiere sich die Frage nach dem Zusammenhang von Erkennen und Handeln als die Frage, wie sich dieser Zusammenhang im Laufe der Entwicklung aufbaut. Nach Engels kritisiert Piaget den erkenntnistheoretischen Realismus, nicht aber jede 24 25 26
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Eve-Marie Engels, 1989, S. 28. Eve-Marie Engels, 1989, S. 28 f. Eve-Marie Engels, 1989, S. 244.
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Form einer realistischen Erkenntnistheorie. 27 Vielmehr mache sein erkenntnistheoretischer Konstruktionismus – so nennt Engels seinen Ansatz, um Verwechslungen mit dem Erlangener und dem Radikalen Konstruktivismus vorzubeugen – minimalrealistische Voraussetzungen. »Danach wird die Existenz einer Realität trivialerweise vorausgesetzt – wie sollte Piaget sonst seine wissenschaftliche Aktivität verstehen – nicht aber die Erkennbarkeit ihrer Struktur, wie sie unabhängig von handelnden bzw. erkennenden Organismen bzw. Subjekten besteht.« 28 In seinen Untersuchungen stelle Piaget die kognitive Entwicklung als Konstruktion heraus, in der der Aufbau der Intelligenz und der Aufbau der Wirklichkeit zwei Aspekte desselben Prozesses seien, das heißt, die Bezugssysteme, innerhalb deren wir Realität erfahren, sind von uns konstruiert. Bezogen auf den Wahrheitsbegriff legen für Engels die piagetschen Formulierungen »eine Erweiterung der traditionellen Adäquationstheorie der Wahrheit nahe, indem hier die Übereinstimmung nicht mehr als eine Korrespondenz zwischen Denken und Sein an sich, sondern zwischen dem Denken und der von uns konstruierten Realität verstanden wird.« 29 Der Inhalt neuer Erfahrungen werde an vorgängig erarbeitete Konstruktionen assimiliert. Dabei vergegenwärtigten wir uns durch kognitive Rekonstruktionen vergangene Konstruktionsleistungen. Adäquate Rekonstruktion bedeute bei Piaget Korrespondenz von Denken und konstituierten Welt-Handlungssystemen, d. h. Kohärenz von Altem und Neuem. »Somit besteht das ›Passungsmoment‹ von Erkenntnis in deren Einfügbarkeit in die zuvor konstruierten Systeme.« 30 Eve-Marie Engels kritisiert die realistische Auslegung der Evolutionären Erkenntnistheorie, wie Gerhard Vollmer sie vertritt und beruft sich dabei auf Piaget. Piaget habe gezeigt, dass wir keine unabhängige Realität erkennen, sondern nur das, was wir an kognitiven Strukturen und Weltbildern ontogenetisch aufgebaut haben. Wir erkennen in dem, was wir für die Außenwelt halten, im Grunde uns selbst, so ihre Argumentation. Allerdings mildert Engels die Konsequenzen ihrer Position im Laufe ihrer Diskussion ab. Sie gesteht zu, dass wir selbst als Erkennt27 28 29 30
Siehe Eve-Marie Enge1s, 1989, S. 245. Eve-Marie Engels, 1989, S. 277. Eve-Marie Engels, 1989, S. 281. Eve-Marie Engels, 1989, S. 282. A
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nistheoretiker nicht auf realistische Annahmen verzichten können. Wie sollten Begriffe wie Assimilation und Akkomodation sinnvoll verwendet werden, wenn nichts Reales vorausgesetzt würde, an das wir uns akkomodieren und das wir anverwandeln?
2.
Konstruktivistische Gehalte der Erkenntnistheorie Piagets
Im Folgenden möchte ich zeigen, welche Elemente der piagetschen Theorie mit konstruktivistischen Grundannahmen verträglich sind. Sie enthält klar konstruktivistische Grundgedanken: Denkformen und Denkinhalte werden ontogenetisch aufgebaut. Richtig liegt v. Glasersfeld, wenn er auf den aktiven Charakter der Erkenntnis bei Piaget hinweist. Doch der aktive Grundzug von Erkenntnis widerspricht der Objektivität nicht. Wenn Piaget betont, Erkennen sei kein passives Widerspiegeln, so richtet er sich gegen das passive Moment in klassischen Erkenntniskonzeptionen und nicht gegen die Fähigkeit, erkennend Wirklichkeitsstrukturen zu erfassen. Piagets betont durchweg, dass Erkennen immer an Handlungen zurückgebunden ist – von einfachen Reflexen, aus denen sich die ersten sensomotorischen Schemata entwickeln, bis hin zu den reversiblen kognitiven Operationen der Logik und Mathematik, die er als interiorisierte Handlungen auffasst. Die Vorstellung also, dass kognitive Vermögen im Dienste der Anpassung eines denkenden und handelnden Subjektes stehen, trifft auf Piaget zu, selbst wenn er nicht denselben Passungsbegriff verwendet wie die Evolutionäre Erkenntnistheorie. Auch dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene auf ihrem jeweiligen Entwicklungs- und Wissensstand Kohärenz in ihr Denken bringen wollen, sieht v. Glasersfeld bei Piaget richtig. Doch stimmige Denksysteme sind für Piaget immer nur passagere Gleichgewichtszustände, die früher oder später wieder destabilisiert werden – in der kindlichen Intelligenzentwicklung beim Durchlaufen der Stadien sogar notwendigerweise. Oft treibt die Erfahrung von Widerständen diese Auflösungen voran, Erfahrungen, mit denen die »Realität« sich ins Spiel bringt und die Subjekte zur Anpassung ihrer Denk- und Handlungsstrukturen zwingt. Wie im Abschnitt »Biologie und Erkenntnis« dargestellt, steht die Assimilation im Zentrum jeglicher organischen und kognitiven Aktivität. Piaget grenzt sich mit dieser Gewichtung vehement gegen einen empiristischen Assoziationsbegriff und gegen die behavioristische Psy150
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chologie ab. Erkennen ist für ihn ein assimilativer Vorgang, bei dem »der Erkennende seine Assimilationsschemata an die Wirklichkeit heranträgt, sie ihr überstülpt oder, wie er oft formuliert, ihnen die Dinge einverleibt.« 31 Vieles können wir gar nicht erkennen, bevor nicht geeignete Assimilationsschemata ausgebildet sind. Wir nehmen nur das wahr, wofür wir Wahrnehmungskategorien und Begriffe haben. Erst wenn sie erarbeitet sind, können wir die ihnen entsprechenden Gegenstände erfassen. »Ein Kind, das den invarianten Mengenbegriff noch nicht besitzt, kann nicht erkennen und verstehen, dass die Menge an Saft nach dem Umschütten in ein hohes Glas gleich geblieben ist.« 32 Gerade an Kindern haben Piaget und seine Mitarbeiterin Bärbel Inhelder festgestellt, dass sie nicht nur erst dann Dinge wahrnehmen und erkennen können, wenn sie die entsprechenden Schemata besitzen. Oft »sehen« Kinder etwas, das gar nicht vorhanden ist, weil es zu ihren intuitiven und teilbewussten Erklärungen von Situationen oder Vorgängen gehört. Erkennen hat stark projektive Züge, die von den Assimilationsschemata herrühren und die sich auch im Erwachsenenalter und selbst in den Wissenschaften nie ganz verlieren. Zwar werden solche Projektionen und »egozentrischen Verzerrungen« durch Dezentrierungen immer wieder zurückgenommen – wie der Abschnitt zu Piagets Realismus weiter ausführt – doch einen völlig dezentrierten, projektionsfreien Zustand gibt es auf keiner Ebene des Wissens. Piagets Konzept der Strukturgenese fügt sich ebenfalls in das Bild einer konstruktivistischen Theorie. Kognitive Strukturen sind für ihn die Träger und Motoren der geistigen Entwicklung. Ihnen wohnt eine Dynamik inne, die Entwicklungen vorantreibt. Dabei bilden sich aus bereits bestehenden Strukturen neue heraus. Sie entstammen nicht den äußeren Objekten. Menschen werden mit vielen Strukturen geboren, die sich im Laufe der Entwicklung immer weiter modifizieren und auf neuen Strukturniveaus etablieren. Vor allem die kognitiven Strukturen generalisieren, differenzieren und integrieren sich in umfassendere und werden dabei immer abstrakter und bewusster. Diese Genese von Strukturen ist ein Konstruktionsprozess sui generis, insofern ist die Bezeichnung konstruktivistische Theorie berechtigt. Berechtigt ist auch die Deutung Engels, die Piagets Genetische Erkenntnistheorie als »evolutionäre« einzustufen. Beide Theorien fun31 32
Thomas B. Seiler, 1994, S. 83. Thomas B. Seiler, 1994, S. 83. A
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dieren Erkenntnis- und Denktätigkeiten in universellen biologischen Prozessen und Gesetzmäßigkeiten, argumentieren mit der menschlichen Phylogenese. Was sie ebenfalls eint, ist der starke Handlungsbezug des Erkennens. Das Subjekt wirkt auf seine Umwelt ein und dies setzt voraus, dass Handlungsschemata irgendwelchen Gegebenheiten und Eigenschaften der Umwelt Rechnung tragen. Ein einfacher Greifakt, als Aktualisierung eines Greifschemas, ist nur dann erfolgreich, wenn er greifend einigen Eigenschaften des Dinges gerecht wird, wie der Größe, der Konsistenz, der Gestalt, dem Gewicht oder der Oberflächenbeschaffenheit. Zwar erfassen Handlungen und Wahrnehmungen ihren Gegenstand nicht umfassend in all seinen Eigenschaften, sondern nur bezogen auf die Aspekte, die im betreffenden sensomotorischen Schema enthalten sind und die das Subjekt assimilieren kann. Doch Assimilationen sind immer von der Gegenbewegung begleitet, durch die Schemata gezwungen werden, sich zu akkomodieren.
3.
Kritik der einseitig konstruktivistischen Deutung Piagets
All diese konstruktivistischen Aspekte rechtfertigen jedoch nicht, Piaget als »radikalen Konstruktivisten« zu bezeichnen. Schon auf der Oberfläche der Formulierungen lässt sich dies zeigen. Zwar finden sich in seinen Schriften allerorten Wendungen wie »das Subjekt konstruiert«, »kognitive Konstruktionen« oder »der Konstruktionsprozess«. Doch mindestens so häufig spricht er davon, dass Erkenntnis »auf das Erfassen der Gegenstände zielt«, Wissen führe »zur Objektivität im Erkennen der Wirklichkeit« und logisch-mathematische Strukturen seien »wunderbar an die physikalische Wirklichkeit angepasst.« Sachlich übersieht diese Einschätzung, dass Piaget der Assimilation in Konstruktionsprozessen eine ebenbürtige Gegenspielerin zudenkt: die Akkomodation. Sie ist der Vorgang, der die Welt ins Spiel bringt und ihre Formierungskraft auf sämtliche Strukturen des Subjekts. Konstruktionen sind in ihrer Gesamtheit adaptiv; sie sollen sicherstellen, dass sich das Subjekt an die Gegebenheiten seiner Umwelt anpasst. Das gilt auch für die Wissenschaft, die Piaget für eine besondere Form der Anpassung an die Realität hielt, die immer objektiveres Wissen hervorbringt. Ein grundlegendes Prinzip seines Ansatzes ist, dass konstruktive Erkenntnis nie willkürlich und beliebig ist, sondern immer adaptiv. Sie 152
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trägt den Gegebenheiten und Anforderungen der Dinge und Situationen Rechnung und dies im Laufe der onto- und phylogenetischen und der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung in zunehmendem Maße. Dieser adaptive Grundzug, die Anpassung von Denkstrukturen an die Realität, scheint auf den ersten Blick dem konstruktiven Charakter der Strukturgenese zu widersprechen. Doch auch die Adaptation als übergreifender Prozess, in dem sich Akkomodation und Assimilation gegenseitig ergänzen, wird vom Subjekt selbst gesteuert. Seine Strukturen zu einem jeweiligen Entwicklungszeitpunkt bestimmen den Prozess; sie stecken den Rahmen für mögliche Akkomodationen ab. 33 Wenn auf einer Stufe der kognitiven Entwicklung Erkenntnishandlungen am Ende kohärenter und einsichtiger wirken als am Anfang oder auf einer früheren Stufe, so verdankt sich dies einem Prozess, in dem viele assimilative und akkomodative Akte vonnöten waren, durch die vorher isolierte Teilhandlungen zu komplexen und zielgerichteten zusammengeführt wurden. Versuch und Irrtum spielen in diese Vorgänge genauso hinein wie Zufälle, doch auch dafür muss das Subjekt sensibilisiert sein. Assimilation und Akkomodation streben in entgegengesetzte Richtungen und ergänzen sich. Sie sind aber auch »als generelle und analoge Aspekte der Systeme von Handlungen, Wahrnehmungen und Operationen zu begreifen. Sie bringen die allmähliche Integration und Koordination der Systemkomponenten und ihre wechselseitigen Korrekturen, Ergänzungen und Regulationen auf den Begriff. Als grundlegende und konstitutive Aspekte dieses Systembildungsprozesses bedingen und gewährleisten sie die allmähliche ›Nachkonstruktion der Wirklichkeit in der strukturellen Organisation des tätigen Organismus‹, wie Piaget sich wiederholt ausdrückt.« 34 Dieser Akkomodationsprozess wird durch Konflikte vorangetrieben. Ein Konflikt entsteht dann, wenn das Anwendungs- und Betätigungsbedürfnis von Handlungsschemata oder Denkstrukturen durch den Widerstand der Realität gebremst werden. Solche misslungenen Assimilationen zwingen die entsprechenden Schemata, sich zu akkomodieren. Erkenntnisse erfassen freilich immer nur Ausschnitte und Aspekte der Welt und nie alles, und das ist in Piaget Modell der Zentrierung und Dezentrierung ausgedrückt. Sie können sich zudem im-
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Siehe Thomas B. Seiler, S. 85. Thomas B. Seiler, S. 88. A
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mer als ganz oder teilweise ungültig erweisen, bleiben also revisionsbedürftig. Auch Eve-Marie Engels überliest die Stellen, in denen Piagets Realismus zutage tritt. Freilich spricht Piaget vom ontogenetischen Aufbau des Wissens; aber die kognitiven Strukturen und Funktionen ermöglichen für ihn grundsätzlich eine Angepasstheit an die Realität, lange bevor sie aktuell hergestellt ist, weil sie mit der Geburt nicht bei einem Nullpunkt anfangen, sondern Funktionsweisen fortsetzen und auf höhere Ebenen transformieren, die schon auf organismischem Niveau adaptiv sind und sich als Anpassungsinstrumente bewährt haben. Zwar sieht Engels, dass Piaget keine solipsistische Position vertritt und meint bei ihm minimalrealistische Prämisse zu erkennen. Doch so harmlos, wie es auf den ersten Blick scheint, ist ein solcher ontologischer Realismus nicht, schon gar, wenn man sich auf Piaget beruft, für dessen Erkenntnismodell das Wechselspiel von Assimilation und Akkomodation zentral ist. Im Lichte dessen wird die Annahme, Realität sei ein irgendwie oder auch gar nicht geartetes Etwas, unplausibel. Diese Formlosigkeit lässt sich nicht durchhalten, denn wenn Assimilation und Akkomodation grundlegende Erkenntnisvorgänge sind, muss es etwas Strukturiertes geben, an das sich Organismen – auch als Erkenntnissubjekte – anpassen oder es sich anverwandeln. Doch sobald materiale Behauptungen über die Struktur der Wirklichkeit ins Spiel kommen, beginnt der ontologische Minimalrealismus zu wuchern und wächst sich immer weiter aus, bis hin zu einem epistemischen Realismus, der zugestehen muss, dass wir einige Strukturen der Realität zumindest im Dienste der Assimilation und Akkomodation erfassen. Piagets »radikaler« Konstruktivismus ist also bei näherer Betrachtung allenfalls ein gemäßigter und weit davon entfernt, den Sensualismus Berkeleys vollendet zu haben, wie Ernst v. Glasersfeld unterstellt. Gegen den erkenntnistheoretischen Idealismus argumentiert Piaget an vielen Stellen ebenfalls an und relativistische Überlegungen finden sich bei ihm überhaupt nicht. Im Hinblick auf die Wissenschaften kann er sogar als hartgesottener Szientist bezeichnet werden, der dieser Art der Wissenserzeugung eine hochsuffiziente Wirklichkeitserkenntnis zutraut, auch wenn sie immer irren kann und nie ein vollständiges Bild der Wirklichkeit zeichnet. Piaget hat sich also der viel anspruchsvolleren Aufgabe gestellt, zu erforschen, warum unsere Erkenntnisse einerseits immer unsere Konstruktionen sind, andererseits jedoch vor 154
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allem in ihrer wissenschaftlichen Form – aller Vorläufigkeit und Irrtümer zum Trotz – so erfolgreich im Treffen der Realität ist.
III. Der Realismus Piagets Piagets Erkenntnistheorie enthält einen mehrstufigen Realismus. Sei es die Rückbindung der Ontogenese an die Phylogenese oder das dialektische Wechselspiel zwischen Zentrierung und Dezentrierung in der Wissenschaftsgeschichte oder die Leistungsfähigkeit der Mathematik, Realität zu berechnen – viele Pfeiler stützen den Realismus Piagets, auf den hier einige Streiflichter geworfen werden sollen. Für Piaget ist die wissenschaftliche Erkenntnis hochsuffizient darin, Realität zu erfassen. Nach ihm evolvieren im Laufe der Wissenschaftsgeschichte wissenschaftliche Theorien, welche der Realität immer besser angepasst sind. 35 In diesem Prozess formieren sich Subjekte und Objekte der Erkenntnis wechselseitig durch Akkomodation und Assimilation. »Es ist offenkundig, dass jede physikalische oder biologische Theorie objektive Phänomene einer begrenzten Anzahl von Modellen assimiliert, welche nicht ausschließlich anhand dieser Phänomene gewonnen wurden. Zu diesen Modellen gehört außerdem eine bestimmte Anzahl von logisch-mathematischen Koordinationen, welche die operatorischen Tätigkeiten des Subjekts selbst sind.« 36 In diesem Formierungsprozess wird nicht nur einseitig einverleibt; er bewegt sich auch in die andere Richtung: »Wenn die Physik sich fortentwickelt, indem sie Wirklichkeit an logisch-mathematische Modelle assimiliert, dann muss sie diese auch unablässig an neue experimentelle Ergebnisse akkomodieren. Sie kann nicht ohne Akkomodation auskommen, weil ihre Modelle sonst subjektiv und willkürlich bleiben würden.« 37
35 36 37
Siehe Gerhard Schurz, 1988, S. 26. Jean Piaget, 1985a, S. 36 f. Jean Piaget, 1985a, S. 37. A
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1.
Entwicklung zur Angemessenheit – Piagets Kontinuitätshypothese
Die Fähigkeit zu Angemessenheit der Realitätserkenntnis beginnt für Piaget nicht beim Wissenschaftler. »Es kann zwischen dem Denken, wie es sich beim Kind zeigt, und dem wissenschaftlichen Denken des Erwachsenen keinen theoretischen Bruch geben; deshalb haben wir die Entwicklungspsychologie zur genetischen Erkenntnistheorie erweitert. Das wird besonders deutlich auf dem Gebiet logisch-mathematischer Strukturen, wenn man sie für sich betrachtet und nicht (…) als Instrumente zur Strukturierung physikalischer Gegebenheiten. Zu diesen Strukturen gehören wesentlich die Relationen von Inklusion, Ordnung und Zuordnung. Solche Relationen sind gewiss biologischen Ursprungs, da sie bereits in der genetischen (DNA-)Programmierung der embryonalen Entwicklung ebenso vorhanden sind wie in der physiologischen Organisation des reifen Organismus, bevor sie noch auf den verschiedenen Ebenen des Verhaltens in Erscheinung treten und dort rekonstruiert werden. Sie werden dann zu fundamentalen Strukturen des Verhaltens und der Intelligenz in ihrer sehr frühen Entwicklung, bevor sie im Bereich des spontanen Denkens und später der Reflexion in Erscheinung treten. Sie liefern die Grundlage jener zunehmend abstrakter werdenden Axiomatisierungen, die wir Logik und Mathematik nennen.« 38 Dass die kognitiven Funktionen von Kindern organische fortsetzen, wurde im Kapitel über Biologie und Erkenntnis dargelegt. Durch und durch Entwicklungstheoretiker, meinte Piaget darüber hinaus bei Kindern schon Fähigkeiten zu erkennen, die das wissenschaftliche Forschen auszeichnen: Lernen aus Erfahrung, sich Reiben an Widerständen, logische Schlussfolgerungen, Verallgemeinerungen. Reto L. Fetz weist auf diesen Punkt hin, mit dem er Piaget in der Tradition des Empirismus stehen sieht: »Aber wenn schon ein Entsprechungsverhältnis zwischen der experimentellen und der gewöhnlichen Erfahrung behauptet wird, so lässt sich umgekehrt auch die Frage stellen, ob nicht die gewöhnliche Erfahrung bereits Elemente der experimentellen enthält, das heißt unentfaltete Ansätze zu jener Organisation, die wir in differenzierterer Form beim experimentellen Vorgehen finden. Die gewöhnliche Erfahrung wäre demnach auf die experimentelle hin zu in38
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terpretieren, deren Vorform sie ja darstellt, was nun genau in Piagets Absicht liegt: Mit der Assimilationshypothese soll bereits der einfachsten Erfahrung eine Struktur zugeschrieben werden, die jener der experimentellen Erfahrung analog ist und letztere als Höherentwicklung und Differenzierung der ersteren begreifen lässt.« 39 Doch entgegen den Empiristen gab es für ihn nichts ursprünglich Gegebenes, das objektive Erkenntnis garantiert: keine voll ausgeprägten Denkstrukturen des Subjekts, keine eindeutigen Objekte, keine reinen Sinnesdaten: »Deshalb lässt sich das Erkenntnisproblem (…) nicht losgelöst vom Problem der Intelligenzentwicklung betrachten. Es reduziert sich auf die Frage, wie das Subjekt zunehmend fähig wird, Objekte adäquat zu erkennen, das heißt, wie es zur Objektivität gelangt. Diese ist nämlich keine ursprüngliche Eigenschaft, wie es die Empiristen annehmen; vielmehr beruht ihr Erwerb auf einer Reihe aufeinanderfolgender Konstruktionen, die eine immer größere Annäherung an die Objektivität darstellen.« 40 Für Piaget gab es keinen Dualismus zwischen Leben und Erkennen. Die Fruchtbarkeit des denkenden Subjekts entspringt den inneren Ressourcen seines Organismus. 41 Das Denken ist deshalb auf Wirklichkeit anwendbar, weil es derselben Quelle entstammt wie diese und weil zwischen seiner eigenen Struktur und der Struktur der Dinge nirgends ein Gegensatz besteht. Die anfangs undifferenzierten Assimilationsschemata können zwar noch keine Objektivität im Sinne der Wissenschaften sicherstellen, sondern erst, wenn sie sich durch die dialektischkonstruktive Wechselwirkung zwischen Organismus und Umwelt differenzieren und koordinieren. Die tiefe Verankerung der kognitiven Konstruktionen durch ihre biologische Verwurzelung begründet jedoch noch nicht Objektivität und Wahrheit. Es ist ja das besondere der höheren kognitiven Konstruktionen, dass sie eine neue Dimension der Adaptivität an die Wirklichkeit eröffnen, die nicht mehr bloß im erfolgreichen Handeln besteht, »sondern in einer beschreibenden und erklärenden Repräsentation oder Rekonstruktion von Wirklichkeitsausschnitten.« 42 Erst im Laufe der Ontogenese entwickelt sich die Erkenntnis über eine Stufenreihe von 39 40 41 42
Reto Luzius Fetz, 1988, S. 69. Jean Piaget, 1985a, S. 26. Siehe Fred Wetzel, 1978, S. 62. Fred Wetzel, 1978, S. 57. A
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Entwicklungsniveaus, die zu komplexen, höheren Denkstrukturen führt. »Diese Richtung zum Höheren versteht Piaget sowohl im logischen wie im realistischen Sinn: Im logischen, als die höheren Strukturen die tieferen in sich enthalten (aber nicht umgekehrt), und im realistischen Sinn, als die höheren Strukturen (gegenüber den tieferen) die Realität besser und vollständiger erfassen.« 43 Erreicht werde dies, schreibt Thomas Seiler, indem Assimilationen und Akkomodationen immer umfassender und vielseitiger werden. Durch konstruktive Erweiterungen und Differenzierungen, Generalisierungen und Ergänzungen werden Teilaspekte und einzelne Relationen in komplexe Abhängigkeiten integriert. So bringe dieser genetische Prozess Strukturen hervor, »die die Wirklichkeit umfassender rekonstruieren, indem sie mehr Aspekte, mehr Beziehungen und gegenseitige Abhängigkeiten der Sachverhalte, auf die sie sich beziehen, erfassen. Am Ende stehen mehr oder weniger komplexe Theorien, die aber selbst stets begrenzt bleiben und die Realität unter idealisierenden und vereinseitigenden Gesichtspunkten repräsentieren.« 44 Die Konstruktion neuer Strukturen sei nach oben offen, indem die aus den organismischen Handlungsstrukturen entstandenen Strukturen kraft einer immanenten biologischen Dynamik sich weiterentwickeln. Sie strebten auf eine Übereinstimmung mit der zu beschreibenden und zu erklärenden Umwelt, einer gewissen Realitätsadäquatheit zu, ohne diese Ziele jemals vollständig zu erreichen. Piagets Argumentation zugunsten der Adaptivität der Handlungsstrukturen und der stets begrenzten Wahrheit der Erkenntniskonstruktionen habe zwei Richtungen: »die einer Fundierung ›nach unten‹ und einer Ausweitung ›nach oben‹. Einerseits argumentiert er mit der biologischen Natur des Erkenntnisprozesses, andererseits beruft er sich auf die immanenten und ebenfalls biologisch begründeten Gesetze des die Erkenntnis vorantreibenden Konstruktionsprozesses. (…) So versucht diese Erkenntnistheorie, die Annahme einer stets gegebenen, aber auch stets begrenzten Übereinstimmung der Erkenntnisstrukturen mit der Realität, den tatsächlichen Eigenschaften und Beziehungen der Situation, auf die sie angewendet wird, zu begründen. Piagets erstes Erklärungs-
43 44
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Gerhard Schurz, 1985, S. 338 f. Thomas Seiler, 1994, S. 58.
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prinzip für die Adaptivität ist also biologisch und genetisch. Durch die prinzipiell lückenlose, durch eine geschlossene Reihe konstruktiver Prozesse gewährleistete Rückführbarkeit kognitiver Repräsentationen aus sensomotorischen Handlungen und dieser auf angelegte Reflexe, die wiederum auf Grundfähigkeiten und Grundtätigkeiten des Lebens aufbauen, glaubt er ihnen einen gewissen adaptiven Wahrheitsgehalt sichern zu können.« 45
2.
Wissen und Nichtwissen – Zentrierung und Dezentrierung
Für Piaget gibt es auf jedem ontogenetischen und wissenschaftlichen Entwicklungsniveau eine Gleichzeitigkeit von Wissen und Nichtwissen, die in dem Modell der Abfolge von Zentrierung und Dezentrierung ihren Niederschlag findet. Zentrieren meint, wahrnehmend oder denkend die Aufmerksamkeit auf einen Punkt zu konzentrieren und dabei viele Aspekte eines Gegenstandes, einer Handlung oder Situation auszublenden. Je zentrierter das Denken, umso unbewusster ist es nach Piaget. Zentrierungen kommen in allen Formen des Denkens oder Wahrnehmens vor, wenn auch unterschiedlich ausgeprägt. Ein Kind im präoperationellen Stadium unterliegt umfangreicheren Zentrierungen als ein erwachsener Forscher. Aber auch wissenschaftliche Theorien sind nie frei von perspektivischen Verengungen durch Zentrierungen. Einen völlig dezentrierten Zustand gibt es nicht. Erfahrungen werden immer nach Maßgabe der kognitiven Schemata gemacht, die einem Subjekt oder einer Theorie zurzeit zur Verfügung stehen. Zentrierungen zeugen von der Allgegenwart der Assimilation an die Schemata des Subjekts. Sie haben einerseits ausblendenden Charakter, andererseits einen stark vereinheitlichenden Zug. Sie verleihen Daten eine gewisse Einheit und das ist für viele kognitive Leistungen unentbehrlich. Begriffe, Kategorien, Klassen, Paradigmen – sie alle kommen durch einheitsstiftende Zentrierungen zustande. Die Allgegenwart von Zentrierungen ist jedoch kein Argument zugunsten eines radikalen Konstruktivismus, denn auch perspektivische Tatsachen sind Tatsachen. Auch wenn sie nur eine partielle Erkenntnis zulassen, können die Teilaspekte dennoch richtig erkannt werden. Zu-
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Thomas Seiler, 1994, S. 55 f. A
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mal Fokussierungen in wissenschaftlichen Paradigmen es beispielsweise gestatten, Gegenstände besonders präzise zu sehen. 46 Zentrierungen werden durch Dezentrierungen gelockert. Für Piaget zeichnen sich Entwicklungsprozesse geradezu durch regelmäßige Dezentrierungsschübe aus – während der ontogenetischen Herausbildung kognitiver Strukturen und in der Geschichte des Wissens und der Wissenschaften. Dadurch werden die Perspektiven vervielfältigt, die Erkenntnisstrukturen erweitert und generalisiert. Die Betrachtung einer Sache oder Situation wird multiperspektivischer und damit objektiver, weil sie mehr Gesichtspunkte erfasst als zuvor, und zunehmend einen über einzelnen Perspektiven stehenden Standpunkt einnimmt. Dezentrierung heißt in der genetischen Erkenntnistheorie Piagets die zunehmende Differenzierung, Verallgemeinerung und Formalisierung der Erkenntnisstrukturen 47 , die im theoretischen Bereich und im Bereich instrumenteller Problemlösung ein immer adäquateres Begreifen der objektiven Wirklichkeit ermöglicht. Dezentrierung geht mit zunehmender Bewusstwerdung des eigenen Standortes einher. Das Subjekt wird sich seiner selbst umso bewusster, je dezentrierter es denkt und handelt. Es objektiviert sich zunehmend als das Zentrum seines Handelns, lernt seine Standpunkte als solche zu erkennen und koordiniert sie immer besser mir denen anderer Personen. Dezentrierungen werden oft durch Widerstände ausgelöst, die die Subjekte zwingen, ihre Schemata zu akkomodieren, das heißt, sie der Wirklichkeit anzupassen. Darin liegt ein weiteres realistisches Moment des piagetschen Modells. Nach Thomas Kesselring 48 werden Dezentrierungen und damit Entwicklungen dadurch angetrieben, dass Subjekte kognitive, soziale und auch emotionale Krisen durchleiden, in denen sie mit ihren Denk-, Handlungs- oder Gefühlsschemata an Grenzen stoßen oder über Ungereimtheiten stolpern. Sie funktionieren nicht mehr wie gewohnt und zwingen die Subjekte dazu, auf sie zu reflektieren, sie zu überdenken und zu modifizieren. Dadurch werden sie in der Regel erweitert im Sinne der Dezentrierung. Bei Piaget findet sich infolgedessen neben seinem Äquilibrationsmodell ebenfalls die Vorstellung, dass äußere Widerstände eingespielte Denk- oder VerhaltensDas ist nach Thomas Kuhn die Leistung eines etablierten Paradigmas nach einer wissenschaftlichen Revolution (siehe Thomas Kuhn, 1991). 47 Siehe Elisabeth Zeil-Fahlbusch, 1983. 48 Siehe Thomas Kesselring, 1981. 46
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schemata stören und Subjekte dazu zwingen, sie zu akkomodieren. Durch diese Akkomodationen auf allen Ebenen, von der einfachsten Sensomotorik bis zum wissenschaftlichen Experiment, wird Schritt für Schritt ein größerer, doch niemals vollständiger Grad der Angemessenheit erreicht. Das Wechselspiel zwischen Assimilation und Akkomodation, aus dem sich immer objektivere Erkenntnisse herausschälen, verläuft nicht planlos. Vielmehr wechseln sich Phasen, in denen Subjekte oder Theorien bestimmte kognitive Zentrierungen aufweisen, mit solchen ab, die diese perspektivischen Verengungen dezentrieren. Diese dialektische Bewegung findet auf allen Wissensebenen statt: in der Psychogenese und der Wissenschaftsgeschichte. 49 Sie sorgen für einen Zuwachs an Objektivität: »Allgemein gesprochen, ist dieses zunehmende Gleichgewicht zwischen Assimilation und Akkomodation ein Beispiel für einen grundlegenden Prozess in der kognitiven Entwicklung, der sich als Zentrierung und Dezentrierung beschreiben lässt. Die systematisch verzerrenden Assimilationen der sensomotorischen oder ersten Repräsentationsstadien – sie verzerren, weil sie nicht von angemessenen Akkomodationen begleitet sind – bedeuten, dass das Subjekt auf die eigenen Handlungen und den eigenen Standpunkt zentriert bleibt. Auf der anderen Seite ist das sich allmählich herausbildende Gleichgewicht zwischen Assimilation und Akkomodation das Ergebnis einer Reihe von Dezentrierungen, die es dem Subjekt ermöglichen, den Blickwinkel anderer Subjekte oder den Standpunkt von Objekten einzunehmen. Früher haben wir diesen Prozess lediglich als Egozentrismus und Sozialisation beschrieben. Aber er betrifft weitaus genereller und fundamentaler die Erkenntnis in all ihren Erscheinungsformen. Denn kognitiver Fortschritt ist nicht nur Assimilation von Information; er enthält auch einen systematischen Dezentrierungsprozess, der eine notwendige Bedingung von Objektivität überhaupt ist.« 50 Insgesamt läuft die kognitive Entwicklung auf einen äquilibrierten, dezentrierten Zustand hinaus. Das Denken löst sich von allen besonderen Perspektiven und nimmt ihnen gegenüber einen übergeordneten Standpunkt ein. 51 »Dezentrierung heißt in der genetischen Erkenntnistheorie Piagets die zunehmende Differenzierung, Verall49 50 51
Siehe hierzu die Arbeit Piagets mit dem Physiker Rolando Garcia (1989) Piaget, Jean, 1985a, S. 38 Siehe Elisabeth Zeil-Fahlbusch, 1983, S. 12 f. A
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gemeinerung und Formalisierung der Erkenntnisstrukturen, die im theoretischen Bereich und im Bereich instrumenteller Problemlösung ein immer adäquateres Begreifen der objektiven Wirklichkeit und im sozialen resp. moralischen Bereich eine fortschreitende Reziprozität der sozialen Beziehungen ermöglicht. Von einer Stufe der ›Zentrierung‹ (…) führt die allmähliche Dezentrierung des Subjekts zu der doppelten Bewegung der ›Exteriorisation‹, die auf physikalische Objekte bzw. soziale Reziprozität hinzieht, und der ›Interiorisation‹, die auf die logisch-mathematische Kohärenz bzw. moralische Autonomie hinzielt.« 52 In Dezentrierungen liegt das kritische Potential, in epistemischer und moralischer Hinsicht zwischen richtig, universell, allgemeingültig und falsch, partiell, beschränkt zu unterschieden.53 Blieben Subjekte ihren zentrierten Sichtweisen verhaftet, zerfiele die Welt in Einzelperspektiven. Intersubjektives Verständnis und objektive Erkenntnis wären unmöglich. 54 Ein definitives Ende erreicht das Wechselspiel zwischen Zentrierungen und ihren Lockerungen allerdings nie. Einen vollständig dezentrierten Zustand gibt es nicht; es bleibt immer ein Rest eingeschränkter Perspektiven und unerkannter Standpunkte.
IV. Schluss Unsere Wissenskonstrukte werden von einem unhintergehbaren Realitätsbezug geprägt, der sich auch in die Konstrukte einschreibt. Sie sind nicht rein willkürlich; der Gegenstandsbezug schlägt sich in ihrer Ausprägung nieder. Dass wir grundsätzlich perspektivisch denken, dabei von Interessen geleitet werden und der Prozess der Wissensproduktion eine unhintergehbare soziale Praxis ist, ist kein zwingendes Argument dagegen, dass die Resultate von Erkenntnisprozessen den Erkenntnisgegenständen angemessen sind oder zumindest sein können. Wäre alltagspraktisches und wissenschaftliches Wissen völlig frei und willkürlich konstruiert, könnte überhaupt nicht erklärt werden, warum auf seiner Grundlage erfolgreiche Anwendungen, Techniken, Vorhersagen möglich sind. 52 53 54
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Zeil-Fahlbusch, Elisabeth, 1983, S. 34. Siehe Elisabeth Zeil-Fahlbusch, 1983, S. 36. Siehe Elisabeth Zeil-Fahlbusch, 1983, S. 14.
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Diese Überlegungen zugunsten eines realistischen Standpunktes passen zu zentralen erkenntnistheoretischen Annahmen Piagets. Ein klassischer Einwand gegen den Abbildrealismus kritisiert die Vorstellung, die Erkenntnisvermögen des Menschen seien ein Spiegel, der die Erkenntnisobjekte passiv widerspiegelt. Dieses Modell verfehle den aktiven Charakter menschlicher Erkenntnis. Piaget betont immer wieder und nachdrücklich, Erkennen sei ein aktiver Vorgang und nichts, was dem erkennenden Subjekt passiv widerfahre. Autoren, die in Piagets einen radikalen Konstruktivisten sehen, berufen sich darauf. Piaget halte Erkenntnisse für etwas Gemachtes, folgern sie, und dies stimme mit einer konstruktivistischen Grundannahme überein. Doch der Aktivitätscharakter von Erkenntnis widerspricht ihrer Objektivität nicht, das pragmatische Moment ist mit dem realistischen vereinbar. Was wir erkennen richtet sich zwar danach, dass wir Gegenstände suchen, sie bearbeiten und in der Wissenschaft unter bestimmten Fragestellungen in den Blick nehmen. Dennoch bleibt die objektive Welt in ihrem SoSein unverfügbar. Die Vorstellung, wir würden ein vollständiges Bild der Wirklichkeit zeichnen, wurde ebenfalls kritisiert mit dem Hinweis, dass unser Wissen nie vollständig ist. Dies ist ein wichtiger Aspekt und das Verhältnis zwischen dem, was sich vor allem durch funktionierende Anwendungen als Wissen bewährt hat und dem, was über einen Gegenstand alles nicht gewusst wird, sollte die Scheidelinie sein, an der sich Fragen nach der Erkennbarkeit der Welt ausrichten. Wir können mit guten Gründen annehmen, dass unser Wissen Merkmale und Strukturen der Realität angemessen wiedergibt. Zugleich wissen wir jedoch, dass mit jedem Gewussten immer Nicht-Gewusstes aussteht. Dennoch brauchen wir mit Realitätsansprüchen hinsichtlich dessen, was wir wissen, nicht zurückhaltend zu sein. Teilweises Erfassen ist nicht dasselbe wie Nichterfassen. Vor allem Wissens-Anwendungen verlangen in der Regel eine präzise Kenntnis der »Materie«, ihrer Regelmäßigkeiten und Eigenschaften, zumindest in der für die Anwendung relevanten Hinsicht. Das schließt nicht aus, dass der Gegenstand der Anwendung auf einer anderen Ebene den Forschern und Praktikern ganz oder zum Teil unbekannt ist. In der Forschungspraxis ist dies ein Wissenschaftlern wohlbekanntes Phänomen: Wann immer sie neue Erkenntnisse gewinnen, offenbaren sich ihnen meist zugleich die Lücken und Grenzen ihres Wissens. Bei Piaget ist die Gleichzeitigkeit von Wissen und NichtA
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wissen in seinem Modell von Zentrierung und Dezentrierung ausgedrückt. Auch wissenschaftliche Theorien sind nie frei von perspektivischen Verengungen durch Zentrierungen. Dass Zentrierungen allgegenwärtig sind, ist jedoch kein Argument zugunsten eines Radikalen Konstruktivismus, denn auch perspektivische Tatsachen sind Tatsachen. Auch wenn sie nur eine partielle Erkenntnis zulassen, können die Teilaspekte dennoch richtig erkannt werden. Zumal Fokussierungen in wissenschaftlichen Paradigmen es beispielsweise gestatten, Gegenstände besonders präzise zu sehen. Mit dem piagetschen Modell lässt sich also ein perspektivischer Realismus begründen. Diese Befangenheiten werden durch Dezentrierungen gelockert. Für Piaget zeichnen sich Entwicklungsprozesse geradezu durch regelmäßige Dezentrierungsschübe aus – während der ontogenetischen Herausbildung kognitiver Strukturen und in der Geschichte des Wissens und der Wissenschaften. Dadurch werden die Perspektiven vervielfältigt, die Erkenntnisstrukturen erweitert und generalisiert. Die Betrachtung einer Sache oder Situation wird multiperspektivischer und damit objektiver, weil sie mehr Gesichtspunkte erfasst als zuvor und zunehmend einen über einzelnen Perspektiven stehenden Standpunkt einnimmt. Dezentrierungen werden oft durch Widerstände ausgelöst, welche die Subjekte zwingen, ihre Schemata zu akkomodieren, das heißt, sie der Wirklichkeit anzupassen. Darin liegt ein weiteres realistisches Moment dieses Modells. Piaget kann als Wissenschaftsrealist bezeichnet werden und für diese Form von Realismus liefert nicht nur die kontinuierliche Entwicklung in vielen Wissenschaften Indizien. Auch und vor allem pragmatische Argumente sprechen für ihn. Der Erfolg vieler Wissenschaften wie der Medizin oder der Physik könnte überhaupt nicht erklärt werden, ginge man davon aus, sie operiere nur mit Konstrukten, die so oder so ausfallen können. Ein Antirealist bezüglich der Wissenschaften hätte es schwer, zu begründen, warum Anwendungen und Prognosen funktionieren. Realität bringt sich in der Wissenschaft und im Alltag nicht nur positiv zur Geltung dadurch, dass sie sich fügt, mitspielt und Wissensanwendungen funktionieren lässt. Sie setzt auch Widerstand entgegen, vereitelt Deutungen und Anwendungen. Bei Piaget findet sich trotz seines Äquilibrationsmodells, nach dem kognitive Strukturen Gleichgewichten zustreben, die Vorstellung, dass äußere Widerstände eingespielte Denk- oder Verhaltensschemata stören und Subjekte dazu 164
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zwingen, sie zu akkomodieren. Durch diese Akkomodationen auf allen Ebenen, von der einfachsten Sensomotorik bis zum wissenschaftlichen Experiment, wird Schritt für Schritt ein größerer, doch niemals vollständiger Grad der Angemessenheit erreicht.
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Whiteheads und Piagets Bewusstseinskonzept Franz Riffert
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Einführende Problemdarstellung
Das Bewusstsein ist ein zentrales menschliches Phänomen und damit auch ein zentrales Thema der Philosophie, aber auch der Psychologie und Neurowissenschaften. Seit Descartes radikaler Trennung von res extensa und res cogitans wurde dieses Thema zudem mit dem LeibSeele-Problem oder Materie-Geist-Problem verknüpft. (Frith & Rees 2007, 9) Die Erörterung der Bewusstseinsthematik war immer schon gekennzeichnet von kontroversen und polarisierenden Diskussionen; daran hat sich bis heute nichts geändert. (Pothast 1987, 15, Velmans & Schneider 2007) In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, unter dem Einfluss des Neopositivismus und seiner psychologischen Spielart des radikalen Behaviorismus, geriet der Begriff unter den Generalverdacht der Unwissenschaftlichkeit und verschwand weitgehend aus der empirisch orientierten wissenschaftlichen Diskussion – ausgenommen waren tiefenpsychologische Zirkel. Bewusstseinsinhalte sind unaufhebbar subjektiv; was im Bewusstsein einer Person vor sich geht – z. B. wenn sie versucht ein Schachproblem zu lösen – ist nur dieser zugänglich. Die introspektive Perspektive der ersten Person lässt sich nicht, oder nur sehr schwer und selbst dann nur mit vielen Abstrichen, von der Perspektive der dritten Person, der des Außenstehenden, einholen und so intersubjektiv überprüfbar machen. Dies machte dieses Phänomen für wissenschaftlichexperimentelle i. e. psychologische und neurowissenschaftliche Untersuchungen so sperrig und verdächtig und führte schließlich zu seinem zeitweisen Versanden. Oeser und Seitlberger stellten in den 80-er Jahren etwa fest: »Nach dem Erscheinen von Ryles Buch [The Concept of Mind (1943)] gab es für mehr als ein Jahrzehnt keine Theorie des Geistes mehr.« (Oeser & Seitlberger 1988, 23) Noch schlimmer erging es dem Zwillingsthema, dem UnbewussA
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ten. In den 50-er Jahren war auch nur die Verwendung dieses Wortes in wissenschaftlichen Kreisen verpönt: »Alleine die Erwähnung möglicher Einflüsse subliminaler Stimulation wurde als ungeheuerlich empfunden« (Smith 2004, 27 meine Übersetzung); wie sollte man etwas wissenschaftlich erforschen können, was per definitionem nicht bewusst und damit per definitionem nicht zugänglich war? Andererseits kann man das Thema ›Bewusstsein‹ natürlich nicht einmal grob in Anschlag bringen, wenn man das Zwillingsthema des Unbewussten radikal ausklammern zu müssen glaubt. Der Wind hat sich in den letzten 20–30 Jahren allerdings gehörig gedreht: Vor etwa 15 Jahren, 1993, erschien die erste Nummer des Journal of Consciousness Studies und erfreut sich seither regen Zuspruchs als interdisziplinäre Drehscheibe der aktuellen Bewusstseinsdiskussion für alle nur erdenklichen Problemfacetten. Und in wissenschaftlichen Zeitschriften ist seit den 90-er Jahren ein regelrechter Boom an Veröffentlichungen zur Bewusstseinsthematik zu verzeichnen: »Today, we can see a steady rise in empirical articles that cite consciousness or closely related terms, currently some 5,000 articles per year.« (Baars 2007, 236) Für den Buchmarkt gilt Analoges: 2007, um stellvertretend nur ein Beispiel zu nennen, erschien The Blackwell Companion to Consciousness (Velmans & Schneider 2007); es versucht einen Überblick über den aktuellen Stand der Bewusstseinsdebatten zu geben und umfasst über 700 Seiten; in diesem Konvolut beleuchten 70 Autorinnen und Autoren in kurzen und dichtgedrängten Aufsätzen die unterschiedlichsten Aspekte des Bewusstseinsproblems: der Bogen spannt sich von Definitionsfragen – etwa zur Existenz verschiedener Bewusstseinsstufen und Fragen zum Verhältnis des Bewussten zum sogenannten Unbewussten – über den biologischen Ursprung und die Vielfalt bewusster Phänomene, von meditativen und mystischen Erfahrungen bis hin zu Zuständen ihrer Abwesenheit unter Anästhesie oder im Koma; von pathologischen Erscheinungen wie Blindsight und Antero- wie Retrograden Amnesien bis hin zum künstlich, mittels Durchtrennung des Corpus Callosum, herbeigeführten »Split Brain« Phänomen; das Bindungsproblem ist genauso thematisiert, wie die Rolle der Aufmerksamkeit und neuronaler Korrelate bei der Entstehung von Bewusstsein; ebenso wenig fehlt die Beleuchtung der Möglichkeit, die Quantenphysik für die Erhellung des Bewusstseinsphänomens nutzbar zu machen. Das Körper-Seele-Problem wird ebenso wenig ausgeklammert, wie die Diskussion der 168
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Whiteheads und Piagets Bewusstseinskonzept
Forschungsergebnisse Benjamin Libets zum Phänomen des freien Willens. David Chalmers Ankündigung »But consciousness is making a comeback.« (Chalmers 1994, 22) kann 15 Jahre später nur als bestätigte Prognose bezeichnet werden. Unterstützt wurde diese Tendenz aus unterschiedlichen Richtungen: Miller, Galanter und Pribrams Buch Plans and the Structure of Behavior, erschienen 1960, wird meist als Schlüsselwerk für die sogenannte kognitive Wende und damit Abkehr vom (radikalen) Behaviorismus in der Psychologie bezeichnet; unser Handeln wird durch Rekurs auf innere Pläne, Konzepte oder Schemata erklärt. Natürlich gab es auch schon früher Vorläufer und Wegbereiter einer kognitiv ausgerichteten Psychologie; zu nennen sind hier unter den herausragenden Vertretern natürlich George Kelly mit seiner Psychology of Personal Constructs (1955) und Jean Piagets genetischer Strukturalismus (z. B. 1937, 1973). Im philosophischen Bereich kann Karl Popper (1966, 1974) – auch zusammen mit John Eccles (1977) – als Wegbereiter dieser Richtung genannt werden; aber auch Mario Bunges Das Leib-Seele Problem (1984) und Thomas Nagels einflussreicher Artikel »What is it Like to be a Bat« (1974) sind hier u. a. zu erwähnen. Das Konzept des Unbewussten erhielt zudem im selben Zeitraum, und das durchaus überraschend, Unterstützung von Seiten der Neurowissenschaften: klinische Phänomen der Blind Sight, Split Brain, Prosopagnosie oder Lateral Neglect, um nur drei Beispielfelder explizit anzuführen; aber auch aus dem Bereich der experimentellen Psychologie kam Schützenhilfe: etwa die mikro- bzw. perzeptionsgenetischen Wahrnehmungsexperimente oder die Untersuchungen, die mit Stimulusmaskierung (priming) arbeiteten. Kurzum, das Bewusstseinsphänomen – zusammen mit seinem Zwillingsthema, dem Unbewussten – ist nicht nur zurück im Spiel, es ist auch eines der Topspiele, die derzeit im Gange sind. Obwohl das Bewusstsein und das Unbewusste rehabilitiert erscheinen und wieder zu Hauptthemen der Psychologie und Philosophie, aber auch der Neurowissenschaften geworden sind, bedeutet dies nicht, dass die vielen damit assoziierten Probleme bislang auch nur adäquat angegangen, geschweige denn einer allgemein akzeptierten Lösung auch nur näher gebracht worden wären. David Chalmers hat eine Unterscheidung in die Diskussion eingeführt, die in die Vielfalt anstehender Probleme zumindest eine erste A
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grobe Orientierung zu bringen vermag. Er differenziert zwischen konzeptuellen und empirischen Problemen. Während er die empirischen Probleme für leicht(er) zu lösen hält, qualifiziert er die konzeptuellen Probleme als hart oder schwierig. Entsprechend dieser Unterscheidung lässt sich hoffen, dass die sogenannten leichten, empirischen Probleme, wie z. B. das Auffinden neuronaler Korrelate für bestimmte bewusste Akte und die Erklärung psychischer Funktionen, auch weiterhin mit Hilfe der Standardmethoden der gegenwärtigen Kognitions- und Neurowissenschaften sukzessive Lösungen zugeführt werden können; anders verhält es sich nach Chalmers Meinung mit dem konzeptuellen Problem: es hat sich bislang erfolgreich allen Lösungsversuchen auf der Basis des klassischen wissenschaftlichen (physikalistischen) Paradigmas bzw. der von ihm (meist implizit) vorausgesetzten Metaphysik widersetzt. Dies hat dazu geführt, dass zunehmend der Ruf nach einem radikalen Paradigmenwechsel lauter wird (vgl. z. B. Seager 2003). Das lösungsresistente Kernproblem besteht darin, zu erklären, wie sich innerlich subjektives und aktives, ja teilweise Bewusstsein erreichendes Erleben aus einer nur äußerlich wirkenden, passiven physikalischen oder auch bio-chemischen Basis entwickeln kann. Thomas Nagel stellte dazu fest: »Die physikalische Wissenschaft ist fortgeschritten indem sie den Geist beiseite gelassen hat bei dem was sie zu erklären versucht; aber es mag sein, dass es mehr gibt, als sich mit der physikalischen Wissenschaft erklären lässt.« (1987, 36 f. meine Übersetzung) Und David Chalmers brachte das Problem folgendermaßen auf den Punkt: »Warum sollten physische (physikalische) Prozesse zu einem reichen inneren Leben führen?« (1995, 201 meine Übersetzung) Während der Ruf nach fundamentaler konzeptueller Neuorientierung immer vehementer vertreten wird – etwa jüngst von Galen Strawson in seinem Artikel »Realistic Monism: Why Physicalism Entails Panpsychism« (2006) 1 – muss festgestellt werden, dass es bislang Der Diskussion dieses Aufsatzes von Galen Strawson wurde eine ganze Sondernummer der Zeitschrift Journal of Consciousness Studies (2006, 13/10–11) gewidmet. Die zentrale These seines Artikels – »All physical stuff is energy, in one form or another, and energy, I trow, is an experience-ivolving phenomenon. This sounded crazy to me for a long time, but I am quite used to it now and I know that there is no alternative short of ›substance dualism‹, a view for which (as Arnauld saw) there has never been any good argument.« (2006, 25 f.) – wird in siebzehn Beiträge – von Peter und Elisabeth Carruthers, Sam Coleman, Philip Goff, Frank Jackson, William Lycan, Fiona Macpherson, Colin McGinn, David Papineau, Georges Rey, David Rosenthal, William Seager, Peter
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Whiteheads und Piagets Bewusstseinskonzept
noch an entsprechend detailliert ausgearbeiteten Vorschlägen mangelt; jene, die vorgelegt worden sind, haben das Niveau zwar inspirierter, aber dennoch nur grober metaphorischer Skizzen kaum je hinter sich gelassen. Auch David Chalmers hat einen groben Hinweis gegeben, wo seiner Meinung nach eine Lösung des Bewusstseinsproblems liegen könnte: Es gilt ein Paradigma zu entwickeln, in dem »die Erfahrung selbst einen fundamentalen Charakterzug der Welt darstellt.« (1995, 210 meine Übersetzung) Mit Whiteheads Prozessphilosophie liegt bereits ein im Detail ausgearbeiteter Ansatz in dieser Richtung vor, dessen Grundbausteine, die aktualen Entitäten, von ihm – gerade zu in Chalmerscher Diktion – als »Erfahrungstropfen« (1978, 18) 2 charakterisiert werden und er von »feelings« (Whitehead 1978, 26 u. ö.) als Komponenten aktualer Entitäten spricht. Whiteheads Lösungsversuch des ›harten‹ Problems besteht – auf seinen Kern reduziert – in zwei Schritten: erstens entwirft er eine Metaphysik (ein neues Paradigma), die allen Grundelementen der Realität, den aktualen Entitäten, Empfindungscharakteristika und damit subjektives Erleben zuschreibt. Im einem zweiten Schritt zeigt er sodann, wie die spezielle subjektive Empfindungsform des bewussten Erlebens durch zunehmende Komplexität und damit einhergehender innerer Differenzierung der aktualen Entitäten entsteht: Zwar weisen die aktualen Entitäten oder ›Erfahrungstropfen‹ stets einen inneren, subjektiven Aspekt (»subjective form«) auf, dieser subjektive Aspekt ist aber nicht mit Bewusstsein gleichzusetzen, weshalb es angebracht erscheint Whiteheads Ansatz als Panexperientialismus und nicht als Panpsychismus zu bezeichnen (Griffin 1998). Diese grundsätzliche konzeptuelle Reorganisation eröffnet überraschend neue Lösungsperspektiven für das Bewusstseinsproblem, da das eigentliche Problem, wie aus inerter, ›toter‹ Materie lebendiges subjektives Empfinden entstehen kann, quasi per definitionem metaphysisch gelöst ist. Fasst man dann das Bewusstsein, wie Whitehead es auch tut, als eine spezielle, hochentwickelte Form dieses subjektiven Aspekts einer aktualen Entität auf, die nur unter speziellen Rahmenbedingungen überhaupt und damit nur gelegentlich in komplexen, difSimons, David Skribna, J. J. C. Smart, Henry Stapp, Daniel Stoljar und Catherine Wilson – einer kritischen Diskussion unterzogen. 2 Alle Zitate aus Whiteheads und Piagets Werken, die nicht deutschen Übersetzungen entnommen sind, wurden vom Autor übersetzt. A
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ferenzierten aktualen Entitäten entstehen kann, so liegt bereits eine mögliche grobe Lösungsskizze vor. Und so spricht sich auch etwa William Seager, einer der führenden gegenwärtigen Akteure in der Bewusstseinsdebatte, für eine fundierte Auseinandersetzung mit Whiteheads Prozessphilosophie aus: »Ich schlage vor, dass angesichts der offenkundigen Diffizilität des Bewusstseinsproblems und der offensichtlichen Konvergenz verschiedener Argumentationslinien auf einige von Whiteheads grundlegendsten Einsichten hin, es an der Zeit ist, Whiteheads Ansichten zum Leib-Seele Problem nochmals ernsthaft Aufmerksamkeit zu zollen.« (2003, 344 meine Übersetzung) David Griffin hat in seinem Werk Unsnearling the World-Knot. Consciousness, Freedom, and the Mind-Body Problem (1998) einen großangelegten Versuch unternommen, Whiteheads Position zum Bewusstseinsphänomen umfassend darzustellen. In dieser Arbeit ist weder der Ort, diesen Versuch kritisch zu bewerten, noch selber einen (nötigen) alternativen Versuch vorzulegen; es soll hier vielmehr um jene Aspekte von Whiteheads Überlegungen zum Bewusstseinsphänomen gehen, die einer empirischen Überprüfung zugänglich sind, also quasi um die nach Chalmers einfachen, leicht zu lösenden Aspekte des Bewusstseinsproblems. Es soll gezeigt werden, wie sich die spezielle subjektive Komponente, die man gemeinhin als Bewusstsein bezeichnet, entwickelt. Im nachfolgenden Abschnitt wird eine mögliche Vorgangsweise, diese Aufgabe in Angriff zu nehmen durchgeführt: Whiteheads metaphysisch fundierten Ideen über das Entstehen von Bewusstsein, werden auf ihre »Phänomenkonformität und damit auf ihre Adäquatheit, ihre Tragweite und Grenzen« (Fetz, Einleitung in diesem Band, S. …) hin überprüft, indem sie mit den Resultaten von Jean Piagets empirisch fundierten Studien kritisch-konstruktiv konfrontiert werden. Dabei wird deutlich werden, dass erstaunliche, weitreichende und teilweise bis ins Details gehende, Analogien zwischen beiden Positionen vorliegen; dort wo sich konzeptionelle Divergenzen zeigen, erweist sich Whiteheads Prozessansatz als tiefer durchdacht und tragfähiger. Damit legt zumindest dieser themenspezifische Integrationsversuch von Whiteheads und Piagets Bewusstseinskonzepten nahe, bei der konvergenzorietierten Entwicklung des Theoriekerns eines Megaparadigmas der Whiteheadschen Prozessphilosophie gegenüber Piagets genetischem Strukturalismus – prima facie – eine relative Priorität einzuräumen. 172
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Vergleich der Whiteheadschen und Piagetschen Positionen zum Bewusstseinsphänomen
Bevor ein Vergleich der beiden Positionen durchgeführt wird, muss zuvor noch auf die Frage eingegangen werden, warum gerade Whitehead und Jean Piaget für diesen Vergleich ausgewählt worden sind. Gibt es Hinweise dafür, dass ein Vergleich dieser beiden Positionen nicht rein willkürlich ist, und daher schon von vorneherein zum Scheitern verurteilt sein muss? Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass beide Ansätze demselben Paradigma angehören: Ludwig von Bertalanffy weist in seinem Werk … aber vom Menschen wissen wir nichts (1970) darauf hin, dass am Beginn des 20. Jahrhunderts das »mechanistische Weltbild« (Bertalanffy 1970, 15) von verschiedenen Disziplinen aus – Biologie, experimentelle Embryologie, Psychologie, Soziologie, Kulturanthropologie und Neukantianismus – unter Kritik geraten sei. Als Resultat dieser kritischen Auseinandersetzung habe sich ein neues Paradigma formiert, welches über die Ablehnung des Mechanizismus hinausgehend, auch positive gemeinsame Züge aufweise, die als »organismische Auffassung« (Bertalanffy 1970, 14) charakterisiert werden könnten. Ausgehend von seinen eigenen Arbeiten im Bereich der Biologie fasste Bertalanffy die Grundzüge dieses neuen Paradigmas folgendermaßen, kontrastierend mit dem Mechanizismus, zusammen: Betrachtung des lebenden Systems als eines Ganzen im Gegensatz zu bloß analytischer und summativer Methodik; dynamische Betrachtungsweise im Gegensatz zu einer statischen oder Maschinen-Theorie des Organismus; der Grundsatz, dass die Organismen primär aktive und nicht reaktive Systeme sind. (Bertalanffy 1970, 14) Die drei hier angesprochenen Charakteristika der Übersummativität, Eigenaktivität und Dynamik lassen sich auch bei Whitehead und Piaget leicht feststellen. Und so verwundert es auch nicht, dass Bertalanffy darauf hinweist, dass »insbesondere Whitehead (1925) in philosophischer Hinsicht […] als wichtiger Vorläufer« (1970, 15) Erwähnung finden müsse. Bertalanffy macht damit Whitehead zu einem philosophischen Vorläufer dieses neuen Paradigmas. Aber Bertalanffy erwähnt nicht nur Whitehead als Proponenten dieses neuen Paradigmas; er reiht auch Jean Piaget unter ihre Vertreter: »Wieder etwa zur gleichzeitig [mit Heinz Werners und Ludwig von Bertalanffys Entwicklung des organismischen Ansatzes] begann der A
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Genfer Psychologe Piaget seine Untersuchungen zur geistigen Entwicklung des Kindes, in einer Weise, die man gleichfalls dem Begriff des ›Organismischen‹ unterordnen kann.« (1970, 15) Damit postuliert Bertalanffy implizit eine grundsätzliche Übereinstimmung zwischen den Ansätzen von Whitehead und Piaget. Diese kann durch einige Stellen im Werk von Piaget belegt werden; so findet sich etwa eine Stelle in seinem Buch Biologie und Erkenntnis (1983) in der er Bertalanffys organismische Auffassung als fruchtbare Position bezeichnet und sie zustimmend paraphrasiert: »Die Struktur der Organisation ist also durch drei Merkmale gekennzeichnet: offenes System, Dynamik der Austauschprozesse und ›primäre Aktivität‹ im Gegensatz zu einer primitiv aufgefassten Reaktivität.« (Piaget 1983, 157) Darüber hinaus findet sich in Piagets Erkenntnistheorie der Wissenschaften vom Menschen (1972) ein Beleg dafür, dass Piaget, genauso wie Bertalanffy, Whitehead zu den Begründern des organismischen Paradigmas zählte: »Schon A. N. Whitehead hat in seinen Werken über wissenschaftliches Denken die Auffassung vertreten, dass die gewöhnlich als ›mechanisch‹ eingestuften Interpretationen die Analyse des Wirklichen nicht bis zum letzten treiben können und dass die Begriffe des Organismus und der Organisation spezifische Merkmale aufweisen, die es zu nutzen gelte.« (Piaget 1972, 244) Ausgehend von der gerade aufgezeigten grundsätzlichen paradigmatischen Übereinstimmung im Denken von Whitehead und Piaget hat der Autor an anderer Stelle (vgl. etwa: Riffert 1995, 2003, 2007a, 2007b, 2008) – inspiriert und motiviert aber auch durch die anregenden Arbeiten von Reto Luzius Fetz (vgl. etwa: Fetz 1984, 1999) – die grundlegenden Begriffe von Whiteheads Prozessphilosophie und Piagets Genetischem Strukturalismus einander im Detail kritisch-vergleichend gegenübergestellt und dabei – obwohl unabhängig voneinander entwickelt – weitreichende inhaltliche Parallelen bis zu identischen Problemen, die sich aus diesen Konzeptionen ergeben, nachgewiesen. Dies rechtfertigt den nun durchzuführenden Vergleich der Überlegungen beider Autoren zum Bewusstseinsproblem. Dafür wird folgende Vorgangsweise gewählt: Da Piaget als einer der führenden Entwicklungspsychologen des 20. Jahrhunderts das Bewusstseinsphänomen wesentlich umfassender untersucht hat als Whitehead, wird zunächst Whiteheads Position thesenartig dargestellt; in einem zweiten Schritt wird sodann auf Piagets entsprechende Positionen eingegangen. 174
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2.1 Whiteheads Überlegungen zum Bewusstseinsphänomen Zunächst werden in gebotener Kürze einige Grundannahmen der Whiteheadschen Metaphysik skizziert, aus der heraus er seine Überlegungen zum Bewusstseinsphänomen entwickelt hat und die daher für das Verständnis derselben unverzichtbar sind. 2.1.1
Whiteheads metaphysische Grundannahmen – eine Skizze
Whiteheads organismische Prozessphilosophie kann als ontologischer Typenmonismus bezeichnet werden: es gibt nur einen einzigen Typ von Entitäten, die sogenannten aktualen Entitäten oder aktualen Ereignisse. Jede aktuale Entität ist ein kurzlebiges Ereignis, das dadurch entsteht indem es vorangegangene aktuale Entitäten aus seiner einzigartigen Perspektive integriert und sich dabei selbst bildet; sobald dieser Integrationsprozess – Whitehead spricht hier von Konkreszenz – seine abschließende Einheit und somit Erfüllung erreicht hat, wird sie zu einer unter vielen anderen aktualen Entität die als Ausgangsmaterial (Datum) für neu sich entwickelnde Konkreszenzprozesse fungieren. Auf diese Weise entsteht eine pulsierende Realität von entstehenden und zerfallenden aktualen Entitäten. Obwohl alle aktualen Entitäten vom selben Typ sind, können sie sich doch nach ihrer Komplexität, d. h. nach ihrer inneren Differenziertheit unterscheiden: so gibt es einerseits niedriggradige aktuale Entitäten, die im Wesentlichen nur ein passives Produkt der einströmenden Umwelteinflusse sind und selbst kaum gestalterischen Einfluss auf ihren eigenen Entstehungsprozess ausüben und andererseits höhergradige aktuale Entitäten, die sich dadurch auszeichnen, dass sie verstärkt eigenaktiv ihren Entstehungsprozess mitgestalten, d. h. sich innerlich differenzieren. Gruppen von aktualen Entitäten können sogenannte »Gesellschaften« formen. Sie tun dies, indem sie ein allen Mitgliedern dieser Gesellschaft gemeinsames Muster weitervererben; die Gesellschaft besteht, so lange die sie konstituierenden aktualen Entitäten dieses gemeinsame Muster realisieren. Es gibt Gesellschaften von Gesellschaften von aktualen Entitäten; ein Gorilla ist beispielsweise so eine komplexe Hierarchie von aufeinander abgestimmten Gesellschaften, wie z. B. verschiedenen Typen von Zellen, Organen, Knochen, Synapsen, Atome, … Schließlich gibt es höhergradige, komplexere aktuale Entitäten, die Bewusstsein ausbilden; soweit wir heute wissen ist dies A
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bei höheren Tieren (z. B. Primaten) und insbesondere beim Menschen der Fall. Aber natürlich erreichen bei weitem nicht alle aktualen Entitäten, die einen Menschen konstituieren, dieses hohe Komplexitätslevel. Im Gegenteil: die Entstehung solch hochgradiger aktualer Entitäten setzt eine komplex strukturierte Umwelt voraus. Es scheint, dass nur Gehirne eine derartig vorteilhaft arrangierte, komplexe Umgebung darstellen. Whitehead spricht von lebenden personalen Gesellschaften, die in diesen vorteilhaft organisierten Umwelten überleben können und deren Mitglieder gelegentlich Bewusstsein erlangen. Es handelt sich dabei um seriell, in Form einer Kette, organisierte Gesellschaften, die an der Spitze der komplexen Hierarchie von Gesellschaften (z. B. Mensch) stehen und diese zumindest partiell dominieren und lenken können. Sie verleihen den untergeordneten, miteinander hierarchisch vernetzten Gesellschaften eine einheitliche Ausrichtung (Zielsetzung, Intention). Bewusstsein erlaubt es, sich von unmittelbaren Umwelteinflüssen zu distanzieren und über die Entwicklung von symbolischen Repräsentationen weitreichende Zielsetzungen zu verfolgen. Wie sich die Entstehung von Bewusstsein im Kontext des Konkreszenzprozesses verorten lässt, wird anhand einer graphischen Darstellung 3 zu verdeutlichen versucht: In Diagramm 1 sind vier Phasen eines möglichen Konkreszenzprozesses dargestellt. Das Datum, die unmittelbar vergangenen aktua), werden zunächst physisch-angleichend aus unterlen Entitäten ( schiedlichen Perspektiven (hier durch Grauabstufungen angedeutet) erfasst (prehendiert) (A). Von diesen physischen Empfindungen (Prehensionen) leitet sich in der zweiten Phase eine konzeptuelle Empfindung (B) ab. Würden diese beiden einfach wieder miteinander vereint, so würde ein sogenannter physischer Zweck realisiert und es läge die Erfüllung einer einfachen (niedriggradigen) aktualen Entität vor; der Konkreszenzprozess wäre damit beendet. Zudem kann die konzeptuelle Empfindung (B) durch Reversion 4 Diese Grafik folgt der Darstellungsweise von Donald Sherburne (1966, 40), weicht aber auch von ihr ab. 4 Whitehead versteht unter ›Reversion‹ »die sekundäre Hervorbringung konzeptueller Empfindungen von Inhalten, die partiell identisch sind mit und partiell verschieden sind von den ewigen Objekten, welche die Inhalte der ersten Phase des mentalen Pols bilden.« (1978, 26) 3
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oder Transmutation 5 inhaltlichen verändert werden (und wäre dann im Schema als B’ darzustellen).
D E (
[A]
8 > > > >
> > > :
B
Diagramm 1: Schematische Darstellung des Konkreszenzprozesses einer komplexen aktualen Entität .. perspektivische Erfassung unmittelbar vergangener aktualer .. Entitäten (das Datum des Konkreszenzprozesses) mittels physischer Empfindung (A) B … konzeptuelle Empfindung (basierend auf der physischen Empfindung A) [A] … logisches Subjekt (gewonnen durch Elimination aus der physischen Empfindung A) [B] … prädikatives Muster (gewonnen durch Elimination aus der konzeptuellen Empfindung B D … einfache vergleichende Empfindung (propositionale Empfindung) E … intellektuelle Empfindung (Synthese aus D und A) In der vorliegenden schematischen Darstellung geht es aber um den Konkreszenzprozess einer höhergradigen aktualen Entität: In diesem Fall kommt es in einer weiteren Phase zusätzlich zur sogenannten »doppelten Elimination« (1978, 261), nämlich der Reduktion einer physischen Empfindung (A), zu einem reinen ›Es‹ ([A]), das als logisches Subjekt fungiert und gleichzeitig zur Reduktion einer konzeptuellen Empfindung zu einem prädikativen Muster ([B] oder evtl. [B’]). Durch deren Synthese entsteht eine propositionale Empfindung. Whi»Eine derartige Transmutation einfacher physischer Empfindungen vieler Aktualitäten in eine physische Empfindung eines Nexus als eines einzigen, wird ›transmutierte Empfindung‹ genannt.« (Whitehead 1978, 251)
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A
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tehead unterscheidet hier zwischen ›perzeptiven‹ (propositionalen) Empfindungen und ›imaginativen‹ (propositionalen) Empfindungen. (Vgl. Diagramme 2 und 3) 6
F
H
[H]
8 > > > > > > > > > >
> > > > > > > > > :
G
J
Diagramm 2: perzeptive Empfindung
F
H
[H]
J
8 > > > > > > > > > > > >
> > > > > > > > > > > :
G
Diagramm 3: imaginative Empfindung Bei den perzeptiven Empfindungen (Propositionen) (vgl. Diagramm 2) stammen sowohl das prädikative Muster [G], als auch das logische Subjekt [F] von derselben physischen (indikativen) Empfindung (F). Bei imaginativen Empfindungen (Propositionen) (vgl. Diagramm 3) stamWie Whiteheads drei Wahrnehmungsmodi – Kausale Wirksamkeit, Vergegenwärtigende Unmittelbarkeit und Symbolischer Bezug – mit den Phasen des Konkreszenzprozesses verknüpfbar sind, kann hier nicht erörtert werden; eine ausführliche Darstellung findet sich bei David Roy (2007, 19–54).
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men das Prädikative Muster [G] und das logische Subjekt [F*] jeweils von verschiedenen physischen (indikativen) Empfindungen (F). Wird eine propositionale Empfindung (D) ihrerseits mit der ursprünglichen physischen Ausgangsempfindung (A) kontrastierend verknüpft, so entsteht dadurch eine intellektuelle Empfindung (E), die wiederum – der Differenzierung der propositionalen Empfindungen folgend – in ›bewusste Wahrnehmungen‹ und ßblockß›ßblockßintuitive Urteile‹ unterteilt werden. Diese Darstellung des Konkreszenzprozesses soll es erleichtern, die sechs Thesen Whiteheads zum Bewusstseinsphänomen, die im Folgenden dargestellt werden, zu verstehen. 2.1.2
Sechs Thesen zum Bewusstseinsphänomen aus Whiteheadscher Sicht
These 1: Primat der Erfahrung vor dem Bewusstsein. Zunächst vertritt Whitehead die These »dass Bewusstsein die Wahrnehmung [experience] voraussetzt und nicht die Wahrnehmung das Bewusstsein.« (Whitehead 1978, 53) Wir befinden uns nach Whitehead immer schon in einer Auseinandersetzung mit unserer Umwelt mitsamt ihren vielfältigen Anforderungen und Möglichkeiten, und werden uns nur gelegentlich, in einigen Augenblicken, und im Nachhinein dieser Tatsache bewusst, um danach wieder in einen subliminalen Status zurückzufallen. All diese vielfältigen Lebensprozesse und Aktivitäten finden also bereits statt bevor wir uns ihrer bewusst werden; sie sind unabhängig von dieser gelegentlichen Bewusstwerdung: »Unsere Funktionen werden nicht von unserem Bewusstsein initiiert. Wir wachen auf, um uns mitten in unserem Lebensprozesses zu finden, der von Befriedigung und Ungenügen durchtränkt ist, und den wir aktiv – durch Intensivierung oder Dämpfen und durch das Aufgreifen neuer Zwecke – modifizieren. Diesen Primärvorgang, der bei unserer Bewusstwerdung immer schon vorausgesetzt wird, werde ich Instinkt nennen. Er ist die Erlebnisweise, die sich unmittelbar aus dem Wirken der individuellen und milieubedingten Vererbung herleitet. (Whitehead 1967, 46, Hervorhebung nicht im Original) Wer hat nicht schon selbst den Party-Talk Effekt (Cherry 1953, Broadbent 1954) erlebt: in einem Raum stehen Menschen in verschiedenen Gruppen beisammen; man selbst befindet sich in einer dieser Gruppen und unterhält sich. Plötzlich hört man – bewusst – wie z. B. A
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der eigene Name (oder ein anderes emotional besetztes Wort) in einer benachbarten Gruppe erwähnt wird. In der Nachbargruppe wurde bis zu diesem Augenblick auch gesprochen, aber wir hatten diese Konversation nicht bewusst wahrgenommen. Erst der eigene Name wird bewusst wahrgenommen. Dabei ist es in diesem Kontext nicht relevant, warum gerade bedeutungshaltige, emotionsgeladene Worte bewusst werden; wichtig ist nur, dass dem bewussten Wahrnehmen offensichtlich ein unbewusstes Wahrnehmen vorausgeht, das (gelegentlich) die Bewusstseinsschwelle übersteigen kann. Würden wir nicht immer schon unterschwellig Wahrnehmen, wäre wohl nur schwer zu erklären, warum uns bestimmte (emotionsgeladene, persönlich bedeutungsvolle) Worte bewusst werden und andere nicht. In diesem Sinne stellt Whitehead fest, »dass das Bewusstsein die Krone der Wahrnehmung ist, nur gelegentlich erreicht, nicht seine notwendige Basis.« (1978, 267 meine Übersetzung) Es sei hier nur kurz darauf hingewiesen, dass diese Position Implikationen für die Philosophie im Allgemeinen und die Metaphysik, als abstrakteste und allgemeinste philosophische Disziplin im Besonderen hat. Philosophen, die als Ausgangspunkt das bewusste menschliche Wissen wählten, in dem die Inhalte clare et distincte gegeben sind (wie z. B. der Vater der Moderne, Rene Descartes), versuchen nach Whitehead das Pferd vom Schwanz her aufzuzäumen. Bewusste Wahrnehmung liefert uns ein sehr abstraktes, selektives Bild von Wirklichkeit; überall dort, wo wir den enggefassten Bereich des Alltagslebens, für den im Laufe der Evolution unsere Erkenntniswerkzeuge bereichsspezifisch entwickelt wurden, verlassen und uns allgemeinen Fragestellungen zuwenden, wie dies eben in der Philosophie und zumal in der Metaphysik der Fall ist, führt ein unkritisches Vertrauen auf diese bereichsspezifisch adaptierten Werkzeuge unweigerlich in die Irre. Für Whitehead »sind jene Elemente unserer Wahrnehmung, die klar und deutlich in unserem Bewusstsein hervorstechen, nicht ihre grundlegenden Fakten; sie sind die abgeleiteten Modifikationen, die in diesem Prozess auftreten. Beispielsweise erhellt das Bewusstsein die Prehensionen im Modus der kausalen Wirksamkeit nur schwach, weil diese Prehensionen die primitiven Elemente unserer Wahrnehmung sind. Aber die Prehensionen im Modus der Vergegenwärtigenden Unmittelbarkeit befinden sich unter jenen Prehensionen, die wir mit äußerst lebendigem Bewusstsein genießen.« (1978, 162) Nach Whitehead
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ist das ontologisch Primäre im Modus des bewussten Erkennens nur sehr unzureichend erfassbar. These 2: Bewusstsein besteht nicht in einem bloßen Erhellen, welches das, was erhellt wird, unverändert ließe. Bei oberflächlicher Lektüre könnte man könnte man den (falschen) Eindruck bekommen, dass Whitehead unter Bewusstwerdung ein einfaches, passives Erhellen vorbewusst gegebener Inhalte versteht, da er sehr häufig den Begriff »erhellen« in diesem Zusammenhang verwendet (vgl. z. B. 1978, 161 f., 242, 267 u. ö.). Da aber Bewusstsein für Whitehead, wie wir bereits gesehen haben, die subjektive Form einer neuen, hochgradigeren Empfindung, einer intellektuellen Empfindung, darstellt, werden die vorbewusst in simpleren Empfindungen gegebene Inhalte, nicht einfach nur erhellt; dieser Vorgang geht vielmehr mit »Modifikationen« (1978, 162) bzw. – wie Piaget es nennen wird – ReKonstruktion einher. Um es metaphorisch auszudrücken: Bewusstwerdung ist nicht zu vergleichen mit einer durch Einschalten einer Beleuchtung sichtbar werdenden Bühnenszenerie, welche vor der Beleuchtung schon genauso auf der Bühne vorhanden war, wie nachher. Nur durch die neuerliche Integration der vorgegebenen Prehensionen in den Phasen einer intellektuellen Empfindung, und damit ihrer Veränderung wird, bewusstes Erfassen möglich. Positiv formuliert lautet die These 2 also: Wann immer etwas bewusst wird, wird es gleichzeitig transformiert. These 3: Bewusstsein setzt die Bildung von Propositionen d. h. von Symbolen voraus. Nach Whitehead lassen sich die intellektuellen Empfindungen – wie bereits erwähnt – in zwei Subklassen einteilen: Bewusste Wahrnehmungen und intuitive Urteile. Der Unterschied zwischen beiden besteht darin, dass bewusste Wahrnehmungen Propositionen vom Typ der perzeptiven Empfindungen und intuitive Urteile auf Propositionen vom imaginativen Typ voraussetzen; somit setzen beide aber Propositionen voraus. Eine Proposition symbolisiert dabei eine physische Empfindung, welche ihrerseits z. B. einen Nexus erfasst haben kann. Eine Proposition kann sprachlich ausgedrückt werden, muss es aber nicht. Für die Illustration von Whiteheads Propositionslehre ist ein Rekurs auf sprachlich ausgedrückte Propositionen aber für ein besseres VerständA
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nis hilfreich. Das grammatische Subjekt einer Aussage steht für das logische Subjekt der zugrundeliegenden Proposition und das grammatikalische Prädikat für das sogenannte »prädikative Muster« (1978, 257) dieser Proposition. Der sprachliche Ausdruck als ganzer, der Satz, steht zunächst für eine Proposition; diese steht ihrerseits dann für den durch sie eben symbolisierten Sachverhalt. So gesehen symbolisiert ein sprachlicher Ausdruck, vermittelt durch eine Proposition, die er ausdrückt, einen Teilausschnitt der Realität (wenn er wahr ist). Eine Proposition stellt somit ein Symbol dar, das sich auf primitive physische (indikative) Empfindungen bezieht, welche die Realität unmittelbar erfassen. Wird diese Beziehung explizit hergestellt, wie etwa in einer bewussten Wahrnehmung oder einem intuitiven Urteil, so liegt eine intellektuelle Empfindung vor, welche die Synthese des Kontrasts zwischen Proposition und primitiver physischer Empfindung darstellt. Eine Proposition stellt demnach ein Symbol für eine primitive Empfindung, also für bislang unbewusste Erfahrungen dar. Folglich hat sich gezeigt, »dass es kein Bewusstsein getrennt von Propositionen als einem Element im objektiven Datum gibt.« (1978, 243) These 4: Bewusstsein entsteht im Empfinden eines sogenannten Affirmation-Negation Kontrastes. Bislang hat sich gezeigt, dass Bewusstwerdung nach Whitehead Symbolisierung voraussetzt, also Propositionen, die physische Empfindungen symbolisieren. Symbolisierung ist zwar eine notwendige Bedingung für Bewusstwerdung, aber – so Whitehead – keinesfalls eine hinreichende. Bewusstwerdung tritt vielmehr erst dann auf, wenn das Symbol, die Proposition in Whiteheads Terminologie, mit einer physischen Empfindung kontrastiert und so in die neue Einheit einer intellektuellen Empfindung gebracht wird. Dabei stellt die physische Empfindung quasi das reale Faktum dar, das was der Fall ist; die propositionale Empfindung, das Symbol, steht für die Möglichkeit, das was der Fall sein könnte. Eine intellektuelle Empfindung erfasst somit »den Kontrast zwischen ›in-der-Tat‹ [der physischen Empfindungen] und ›könnte-sein‹ der propositionalen Empfindung.« (1978, 267) Sehen wir uns folgendes Beispiel an: Von einer Person wird die folgende Proposition vertreten: »Dieser Stein ist grau.«. Wenn Sie nun näher an den Stein heran tritt, den Stein aus der neuen Perspektive betrachtet und sich nun herausstellt, dass der Stein tatsächlich nicht grau ist, so kommt es zum Empfinden des besagten Affirmation-Nega182
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tion Kontrasts. Die subjektive Form in der dieser Kontrast erfahren wird, ist nach Whitehead Bewusstsein. »Der allgemeine Fall bewusster Wahrnehmung, ist die negative Wahrnehmung, nämlich ›das Wahrnehmen dieses Steins als nicht-grau‹. […] Bewusstsein ist das Empfinden von Negation: in der Wahrnehmung des ›Steins als grau‹ ist ein solches Empfinden erst im reinsten Keim vorhanden; in der Wahrnehmung des ›Steins als nicht grau‹, befindet sich eine solche Empfindung in voller Entwicklung. Daher stellt die negative Wahrnehmung den Triumph des Bewusstseins dar.« (1978, 161) Analoges gilt nach Whitehead auch für (wissenschaftliche) Theorien, die nichts anderes als sehr allgemeine Propositionen darstellen. (siehe z. B. 1978, 184, 186 u. ö.) Während also eine singuläre Proposition eine Möglichkeit für eine bestimmte Klasse von aktualen Entitäten (einen bestimmten Typ von Nexus) aufzeigt, unterscheidet sich eine generelle Proposition von ihr nur »durch die Generalisierung von ›eine bestimmte Art von Klasse von aktualen Entitäten‹ in ›jede Klassen, die einer bestimmten Art von Klasse angehört.‹« (1978, 186) Wenn nun die Art der Klasse »alle Klassen mit der Möglichkeit für diesen Reaktionsmodus beinhaltet, so wird diese Proposition ›universell‹ genannt.« (1978, 186) Und Whitehead bestätigt bezüglich (wissenschaftlicher) Theorien, was er bereits bezüglich Propositionen im Allgemeinen festgestellt hatte: »Bewusstsein erfordert mehr als reine Theorie. Es ist das Empfinden des Kontrasts zwischen Theorie als reiner Theorie und Faktum als reinem Faktum.« (1978, 188) Es ist in diesem Zusammen von Interesse darauf hinzuweisen, dass es nach Whitehead auch sogenannte ausgesetzte Urteile (z. B. 1978, 191, u. ö.) gibt; sie eröffnen die Möglichkeit, viele fiktive Möglichkeiten – ganz unabhängig von der tatsächlichen Realität – durchzuspielen. Wie können derartige fiktive Spielereien uns dann aber bewusst werden, wenn ihnen jeder Bezug zur Realität und damit zum Kontrast zu fehlen scheint? Whitehead löst dieses Problem, indem er darauf hinweist, dass es neben dem Vergleich von Theorie und Realität, auch ein Vergleich zwischen Theorie und möglicher Realität durchgeführt werden kann; auch auf diese Weise kann man zu einem Kontrast gelangen, der von Bewusstsein begleitet wird: »Es [das symbolische Denken] kann sogar mit Inkonsistenzen spielen; es kann folglich Licht auf die konsistenten […] Elemente der Wahrnehmung durch Vergleich mit dem, was in der Vorstellung inkonsistent mit ihnen ist, werA
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fen.« (1978, 5) Ein Beispiel für ein derartiges ›Spielen mit Inkonsistenzen‹ stellt etwa das Verfahren des sogenannten ›indirekten Beweises‹ in der Mathematik oder Logik dar: zunächst wird quasi ›spielerisch‹ angenommen, das Gegenteil dessen, was man eigentlich als für wahr hält und beweisen will, angenommen, um dann zu zeigen, dass diese Annahme in Widersprüche führt und somit im Umkehrschluss (innerhalb eines zweiwertigen formalen Systems) das Gegenteil davon wahr sein muss. Ähnlich geht auch Piaget vor, wenn er quasi spielerisch annimmt, dass ein Kind schon lange vor dem Alter von etwa 2 Jahren über das voll ausgebildete Konzept des permanenten Objekts verfügen würde. Wäre diese Annahme korrekt müssten sich aber ganz andere Verhaltensweisen zeigen als dies tatsächlich der Fall ist, und daher ist das Gegenteil, nämlich dass z. B. einjährige Kinder noch nicht über das Konzept des permanenten Objekts verfügen, (bis auf Weiteres) anzunehmen. Die Konfrontation einer Proposition oder Theorie mit der Realität kann im höher entwickelten Denken also durchaus durch die Konfrontation mit einer nur gedanklich-spielerisch angenommenen Realität ersetzt werden. These 5: Es gibt vielfältige Abstufungsgrade von Bewusstsein. Whitehead lässt keinen Zweifel daran, dass es für ihn verschiedenste Bewusstseinszustände gibt, Bewusstsein also eine graduelle Angelegenheit ist: »Wir schlafen; sind halbwach; wir sind uns unserer Wahrnehmungen bewusst, sind aber getrennt von den Allgemeinheiten des Denkens; wir sind aufs Lebhafteste in einen kleinen Bereich abstrakten Denkens vertieft und vergessen währenddessen die Welt um uns herum; wir achten auf unsere Gefühle – einen Strom von Leidenschaft –, auf sie und nichts anderes; wir schweifen mit unserer Aufmerksamkeit krankhaft weit ab; und schließlich sinken wir in zeitweiliges Vergessen zurück, schlafen oder sind betäubt.« (1978, 161) Einen Hinweis auf diese Position haben wir bereits erhalten, als wir das Beispiel mit der Proposition ›Dieser Stein ist grau.‹ erörtert haben; dort stellte Whitehead fest, dass eine reine Affirmation dieser Proposition, das heißt ihre Übereinstimmung mit dem Faktum Bewusstsein »erst im reinsten Keim« (1978, 161) hervorbringt und dass eine Negation, d. h. die Konstatierung einer Divergenz zwischen Proposition und Faktum erst volles Bewusstsein erzeugt. Dieser Hinweis
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soll an dieser Stelle genügen, um zu belegen, dass Whitehead vielerlei Abstufungen und Formen von bewusstem Erleben angenommen hat. These 6: Bewusstwerdung hat die Funktion, die Intensität des ästhetischen Erlebens zu vergrößern. Das bewusste intellektuelle Empfindungen führen zu einer »Erhöhung emotionaler Intensität« (1978, 272), dem Ziel jeglicher Entwicklung nach Whitehead. Insbesondere im suspendierten Urteil kann sich das Denken von der unmittelbaren Realität lösen und zu luftigen Spekulationen übergehen indem verschiedene Möglichkeiten einander gegenübergestellt werden und so mit eventuellen Inkonsistenzen gespielt wird. Die dabei entstehende Komplexität führt zu einer verstärkten Intensität des Empfindens. Bezüglich eines heute immer wieder postulierten evolutionäradaptiven Vorteils des Bewusstseins, ist Whitehead skeptisch eingestellt gewesen zu sein. Welche Wirkung intellektuelle Empfindungen, die neue Ideen in die Welt bringen, für das Überleben der Menschheit entwickeln können, bleibt nach Whitehead offen: sie können segensreich – dem Überleben dienlich –, aber genauso katastrophal – das Überleben bedrohend oder auslöschend – sein. Whitehead zieht bezüglich der Wirkung neuer Ideen folgenden Vergleich mit »Tier-, Pflanzen- oder Mikrobenarten, die jahrtausendelang als obskures Abfallprodukt der Natur auf einsamen Inseln, in Sümpfen oder Wäldern vegetieren, um dann durch Zufall in die Außenwelt zu gelangen, wo sie das Gesicht der Zivilisation verwandeln, ein großes Reich zerstören oder die Wälder eines ganzen Kontinents verwüsten. Solche Potentiale haben auch die Ideen, die im Inneren verschiedener philosophischer Systeme existieren.« (1967, 146 Hervorhebung nicht im Original) Welche Wirkung also neue Ideen entfalten, ist also nach Whitehead keineswegs von vorneherein klar; sie scheint aber keinesfalls nur vorteilhaft zu sein. Dass sie das Produkt einer sehr hohen Entwicklungsstufe sind, verbürgt somit keineswegs, dass sie nicht extrem destruktive Potentiale in sich bergen können und so dem Überleben mehr schaden als nützen. »Die Neuheit mag Ordnung hervorbringen oder sie zerstören; sie mag gut oder schlecht sein. […] Irrtum ist der Preis des Fortschritts.« (1978, 187) Es zeigt sich also, dass Whitehead – anders als Piaget, wie wir noch sehen werden, – skeptisch ist bezüglich einer behaupteten Verbesserung unseres Adaptationsvermögens und damit ihrer Überlebenschancen durch die EntwickA
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lung von komplexem, bewusstem Denken. Nicht einen Überlebensvorteil bringt das bewusste Denken seiner Meinung nach, sondern eine Intensivierung des subjektiven Empfindens; kurz: erhöhten ästhetischen Genuss.
2.2 Piagets Studien zum Bewusstseinsphänomen Piaget hat – wie gesagt – seine wesentlichen Forschungsergebnisse zum Bewusstseinsphänomen in drei Büchern, die alle im Jahr 1974 erscheinen sind, dargestellt: Reussir et comprendre (1974a), Recherches sur la contradiction (1974b) und La prise de conscience (1974c). 7 Piaget beschreibt darin die Untersuchungsergebnisse seiner empirischen Studien zur Bewusstseinsentwicklung bei Kindern. Im Folgenden werden jene Ergebnisse herausgegriffen, die für die sechs metaphysisch inspirierten Whiteheadschen Thesen zum Bewusstsein relevant sind und diese gegebenenfalls belegen oder widerlegen. Ad These 1: Auch nach Piaget setzt Bewusstsein vor- bzw. unbewusstes Wissen voraus; die Menschen sind von der Zeugung an, sowohl während der pränatalen, wie auch während der beiden ersten Jahre der postnatalen Entwicklung ständig in unbewusste Interaktionen mit ihrer Umwelt involviert; dies ändert sich auch später nur zum Teil. Piaget unterscheidet dementsprechend zwischen zwei Modi des Wissens (Erkennens). Die primitivere und unbewusste bezeichnete er als savoir faire (Gewusst Wie; know how). Sie ist die ausschließliche Wissens- bzw. Erkenntnisform der ersten, frühesten Phase der postnatalen menschlichen Entwicklung. Piagets Untersuchungen zeigten, »dass Aktivität in sich selbst schon ein autonomes und wirkungsvolles Wissen darstellt. Auch wenn es sich nur um ein ›Gewusst Wie‹ [savoir faire] handelt, und nicht um ein bewusstes Wissen im Sinne konzeptualisierten Verstehens, so bildet es nichtsdestoweniger die Quelle des letzteren, da fast an allen Stellen und oft eindrücklich bewusste Erkenntnis diesem anfänglichen Wissen hinterherhinkt.« (1976, 275)
Bei den folgenden Zitaten handelt es sich ausschließlich um Übersetzungen von den englischen Ausgaben dieser Werke: Success and Understanding (1979), Experiments in Contradiction (1980), The Grasp of Consciousness (1976).
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Nach Piaget befindet sich also das Kind schon immer mittels seiner sensomotorischen Schemata in unbewusster Auseinandersetzung mit seiner Umwelt. Das konzeptuell-bewusste erfassen der Welt setzt diese originäre Verschränktheit zwischen Akteur und Umwelt immer schon voraus und baut darauf mittels reflektierender Abstraktion auf. Dementsprechend konnte Piaget auch zeigen, dass das unbewusste Wissen eines Kindes korrekt sein kann, während das bewusste Wissen darüber fehlerhaft ist. Fragt man etwa Kinder danach, wie sie auf allen Vieren krabbeln, so geben sie im Alter vor 7–8 Jahren eine falsche Antwort, nämlich, dass sie gleichzeitig die beiden Arme bzw. die beiden Füße bewegen würden. Ihr bewusstes Wissen über das Krabbeln ist demnach falsch, während auf der Ebene des unbewussten savoir faire das Krabbeln kein Problem darstellt. Nach Piaget geht also die unbewusste, aber nichts desto trotz kenntnisreiche Auseinandersetzung mit der Umwelt folglich einem bewusst-konzeptuellen Erfassen voraus. Ad These 2: Piaget wird nicht müde darauf hinzuweisen, dass das Bewusstwerden nicht einfach ein passiver Vorgang des ›Gewahrwerdens‹ bislang unbewusster Inhalte des savoir faire darstellt, welches diese ursprünglich unbewussten Inhalte unverändert ließe. Im Gegenteil: »Es ist klar, dass dieser Prozess [des Bewusstwerdens] sich in keiner Weise auf ein simples Erhellen von Elementen […] reduziert, ohne dass diese dabei modifiziert würden.« (1976, 266) Auch nach Piaget bedeutet das Bewusstwerden von bislang unbewussten Inhalten die Durchführung von aktiven Transformationen (mittels abstraktiver Reflexion). Er spricht diesbezüglich von ›Rekonstruktion‹ der unbewussten Inhalte auf einer höheren Ebene. »Wenn Bewusstwerdung nur das Resultat des Erhellens einer Situation wäre, würden diese Koordinationen keine neue Konstruktion notwendig machen, da sie alle bereits auf der materiellen Ebene der Aktivität selbst erreicht worden sind.« (1976, 267) Dass die Bewusstwerdung mehr als ein bloßes Erhellen darstellt, wird besonders dort augenscheinlich, wo Menschen die unbewussten Inhalte und Prozesse nur fehlerhaft zu rekonstruieren vermögen. Dies lässt sich sehr schön an Piagets Schleuderversuch illustrieren: Kinder im Alter von etwa sieben, acht Jahren sind problemlos in der Lage mit einiger Übung, eine an einer Schnur befestigte Holzkugel mithilfe kreisender Schwungbewegungen in eine vor ihnen aufgestellte SchachA
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tel zu schleudern. 8 Wenn man sie aber fragt, an welcher Stelle der Kreisbewegung sie die Schleuder loslassen, so erhält man eine falsche Antwort; die Kinder sind der bewussten, irrtümlichen Meinung, dass sie die Schleuder direkt vor der Schachtel, in gerader Linie zum Ziel, loslassen. Es zeigt sich also deutlich, dass das unbewusste savoir faire und das bewusste Wissen auseinander fallen, und das bewusste Wissen dem savoir faire hinterherhinkt. Dies belegt, dass des Bewusstwerden einen aktiven Rekonstruktionsprozess voraussetzt und nicht auf bloß simplem (passivem) Erhellen von bereits sensomotorisch gegebenen Inhalten basiert. Ad These 3: Der Rekonstruktionsprozess der Bewusstwerdung unbewusster sensomotorischer Schemata erfolgt auf der Ebene von Konzepten (Symbolen): »Diese [Bewusstwerdung] setzt von Anfang an Konzeptualisierung voraus.« (1976, 267) Die sensomotorischen Schemata werden quasi auf eine neue Ebene gehoben und dort rekonstruiert. »Das Subjekt sieht auf seine Aktivitäten, und diese werden – mehr oder weniger adäquat – durch sein Bewusstsein assimiliert, als ob es sich um irgendwelche materiellen Verbindungen in den Objekten handelte, woraus sich die Notwendigkeit einer neuen konzeptuellen Konstruktion ergibt, um ihnen Rechnung zu tragen. In der Tat ist es nur eine Rekonstruktion, aber sie ist so arbeitsaufwändig, wie wenn ihr nichts korrespondieren würde, was das Subjekt nicht schon kennen würde.« (1976, 267 f.) Wäre es anders, so würde es ausreichend sein, wenn das Bewusstsein »einfach ein Spiegel wäre, welcher die bislang unbewussten Bewegungen der Aktivitäten objektiv reflektieren würde, um eine ›Repräsentation‹ […] bereits erreichter Koordinationen zu erreichen.« (1976, 267) Konzepte stellen demnach Symbolisierungen von sensomotorischen Aktivitäten bzw. der an sie assimilierten Realitätsaspekte dar. Folglich setzt das Bewusstwerden auch für Piaget die zumindest rudimentäre Existenz der Symbolfunktion voraus. Entsprechend kann Bewusstsein umfassend frühestens ab etwa der Mitte des zweiten Lebensjahres auftreten. Piaget behauptet bei genauer Betrachtung aber mehr, als dass BeEine detailliertere Beschreibung und Interpretation der Ergebnisse dieses Versuchs lässt sich in Piaget 1976, 19 ff. finden.
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wusstwerdung Konzeptualisierung voraussetzt; er behauptet, dass beide zusammenfallen, identisch sind: Bewusstwerdung ist Konzeptualisierung und Konzeptualisierung ist Bewusstwerdung. Bewusstwerden »besteht von Anfang an in der Konzeptualisierung oder, in anderen Worten, im Übergang von praktischer Assimilation […] zu Assimiliation mittels Konzepten.« (1976, 266) Hier divergieren die Positionen von Piaget und Whitehead. Es scheint, dass für Piaget Konzepte und Urteile – wie etwa auch bei Aristoteles 9 – zusammenfallen, da er darauf hinweist, dass der Kontrast zwischen Konzept und Realität von ausgeprägtem Bewusstsein begleitet wird (vgl. 1980, 252 f.). Dieser Unterschied zwischen Piagets und Whiteheads Position wird im nächsten Abschnitt (These 4) genauer erörtert. Ad These 4: Bewusstwerdung ist die Folge eines erlebten Kontrasts zwischen Konzept (Symbol) und Faktum (Realität). Nach Piaget kommt es ohne Konzeptualisierung zu keiner Bewusstwerdung. Während aber für Whitehead zur Bildung eines Konzepts noch der Akt des Vergleichens mit der Realität hinzutreten muss – also ein Urteil –, damit Bewusstsein entsteht, so scheint dies bei Piaget nicht der Fall zu sein, oder genauer ausgedrückt: dieser Akt des Vergleichens scheint bei Piaget mit dem Akt der Generierung von Konzepten zusammenzufallen. Piaget geht bei seinen Untersuchungen zum Bewusstsein bzw. zur Bewusstwerdung bei Kindern von Claparedes ›Gesetz der Bewusstwerdung‹ aus; dieses besagt, dass geglückte Adaptationen keinen Anlass zur Bewusstwerdung liefern; und Piaget formuliert entsprechend, »Bewusstwerdung würde daher als direkte Folge des Versagens der Anpassung erscheinen und folglich nutzlos sein, solange sich das Verhalten […] normal adaptiert.« (1976, 262) Bewusstwerdung tritt demnach nur ein, wenn eine konzeptuelle Adaptation (an der Realität) scheitert. Piaget erläutert dies in seinem Werk Reussir et comprendre (1979) anhand eines Beispiels das dem von Whitehead in diesem Kontext verwendeten Beispiel – vom Kontrast zwischen der Proposition ›Der Stein ist Darauf hat etwa Peter Cataldo (1982) hingewiesen. Cataldo hat versucht zu zeigen, dass es möglich ist, durch Whiteheads klare Unterscheidung zwischen Propositionen (Konzepte in Piagets Terminologie) das bei Aristoteles virulente Problem ›negativer Fakten‹ zu vermeiden.
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grau.‹ und dem Sachverhalt, dass der Stein nicht grau ist – frappant ähnelt: »[W]ir nehmen wahr, dass ein Objekt rot ist oder rechteckig oder auf einem anderen liegt, etc. Die negativen Qualitäten haben keine Bedeutung außer in Beziehung zu Vorhersagen, die nicht eintreffen und momentanen Bedürfnissen, welche nicht erfüllt werden.« (1979, 252, Hervorhebung nicht im Original) Und diese Kontraste zwischen Proposition bzw. Konzept und Realität (oder besser: der mittels sensomotorischen Konzepten erfassten Realität) sind für den Prozess der Bewusstwerdung entscheidend: Die Negationen – so Piaget weiter – »involvieren Korrelationen, Koordinationen und oft zunehmend komplexe Ableitungen. Wie haben es daher mit einem besonders wichtigen Beispiel für den allgemeinen Prozess der Bewusstwerdung […] zu tun.« (1979, 252) Auch Piaget weist hier auf die Bedeutung des Kontrasts zwischen Konzept und Realität für den Bewusstwerdungsprozess hin; soweit stimmt er mit Whitehead überein. Ad These 5: Es ist notwendige, die Existenz verschiedener Bewusstseinsgrade anzunehmen. Auch diese These, die ebenfalls der Whiteheads entspricht, lässt sich leicht mit Zitaten aus den Schriften Piagets belegen; aber er kommt auf einem anderen Weg als Whitehead zu ihr. Bei verschiedenen Untersuchungen hatte Piaget festgestellt, dass es häufig zu Wahrnehmungsverfälschungen kommt. Zur Illustration sein nochmals auf die Untersuchung mit der Schleuder zurückgekommen. Kinder, die jünger als sieben, acht Jahre sind, werden sich nicht ihres tatsächlichen Verhaltens bewusst: sie konzeptualisieren das Loslassen der Schleuder fälschlich so, dass dies in direkter Line zum Zielobjekt erfolgt (also in einem Winkel von 0 (und nicht, wie es korrekt wäre, mit einer Abweichung von 90 vom Zielobjekt). Piaget stellte sich daraufhin die Frage, wie dieses Fehlurteil (diese fehlerhafte Konzeptualisierung) zustande kommen konnte. Bei seiner Erklärung bezog er sich auf das vom Kind bei früheren Wurfaktivitäten rekonstruierte konzeptuelle Wissen, dass man nämlich einen Stein direkt (in etwa mit 0 Abweichung von der angenommenen Geraden zum Zielobjekt) auf die Schachtel hin loslassen musste, um das Zielobjekt zu treffen. Dieses bereits vorhandene konzeptuell-bewusste Wissen (das durch viele Wurfaktivitäten belegt ist) steht in Widerspruch zu einer korrekten Konzeptualisierung des Schleuderwurfs und wird Piaget zufolge daher unterdrückt. Piaget spricht von der ›Verdrängung‹ kognitiver (konzeptuell rekonstruierter) Inhalte. 190
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Das hier angesprochene Konzept der ›kognitiven Verdrängung‹ wirft aber ein Problem auf: wie kann es den zu einem Konflikt kommen, der eine Verdrängung nach sich zieht? Der Konflikt kann nämlich nicht zwischen Handlungsschemata auf der Ebene des savoir faire und der Ebene der bewussten Konzepte angesiedelt werden, da die unbewussten Konzepte ja schon immer mit diesen Konzepten vereinbar waren; so ist es für das Kind keinerlei Problem, das korrekte Handlungsschema für das Schleudern der Holzkugel anzuwenden und gleichzeitig damit ein auf der kognitiv-bewussten Ebene ein davon divergierendes Konzept zu vertreten. Daher kann es nicht so sein, wie Kitchener es vertreten hatte, dass nämlich »ein sensomotorisches Schema bewussten Ideen widerspricht« (Kitchener 1986, 64); denn das unbewusste Handlungsschemata war unabhängig von einer konzeptuellen Rekonstruktion einsetzbar und ist es auch nach der (falschen) Rekonzeptualisierung desselben noch immer; folglich kann nicht von einem Konflikt zwischen diesen beiden die Rede sein: das Kind vermag die Schleuder am richtigen Punkt loszulassen, unabhängig und unbeeinträchtigt von der falschen Konzeptualisierung seiner Handlung. Des Weiteren kann der Konflikt, so Piaget, auch nicht zwischen Konzeptualisierungen innerhalb des Subjekts auftreten, da sich ja das Subjekt keinerlei Konflikts bewusst ist (1976, 269), eine Konzeptualisierung aber nach Piaget immer mit Bewusstwerdung einhergehen müsste. Piaget sieht nur einen Ausweg aus dieser schwierigen Situation: »Er [der Konflikt] muss daher im aktuellen Prozess der Konzeptualisierung lokalisiert werden, der den Prozess der Bewusstwerdung charakterisiert.« (1976, 269) Damit führt Piaget die Idee verschiedener Grade der Bewusstwerdung ein: »Beispielsweise könnte das, was man mit dem Terminus ›Subzeption‹ bezeichnet und als ›unbewusste Wahrnehmung‹ definiert, in dem Augenblick, in dem es sich ereignet, von einem bestimmten Bewusstsein begleitet werden, aber dies bleibt temporär in dem Sinne, dass es nicht in die nachfolgenden Phasen integriert zu werden scheint.« (1976, 270 Hervorhebung nicht im Original) Piaget vertritt also als Lösung die Position, dass in einer bestimmten Phase eines Strukturierungsprozesses zur vorübergehenden Ausbildung eines neuen Konzepts kommt, das aber in Folgephasen aufgrund des Konflikts mit bereits bestehenden und bewährten Konzepten und Mangels Synthesemöglichkeit der beiden aus dem Strukturierungsprozess ausgeschlossen wird. In derartigen Strukturierungsprozessen A
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käme es demnach zu einer nur kurz andauernden und somit sehr schwachen Ausprägung der Bewusstwerdung dieses Konzepts – eine Art flüchtiges Aufblitzen einer Idee. Es muss allerdings hier gefragt werden, wieso sich die Subjekte dieses bewussten Inhalts eben nicht bewusst sind. Piagets Lösungsvorschlag bleibt somit hoffungslos widersprüchlich: es müsste ein nichtbewusstes Bewusstsein geben. Whiteheads Position, der zu Folge Propositionen (Konzepte bei Piaget) normalerweise unbewusst bleiben, kann dieses Problem ganz leicht lösen, oder besser: dieses Problem entsteht in Whiteheads Ansatz erst gar nicht: Wenn die Konstruktion von Propositionen nicht automatisch (wie bei Piaget) mit einer Bewusstwerdung einhergeht, kann es zu einem unbewussten Widerspruch zwischen zwei Propositionen (Konzepten) kommen, wobei – wenn keine konsistente Integration beider Propositionen erarbeitet werden kann – eine der beiden Propositionen (Konzepte) quasi verdrängt wird. In Whiteheads Terminologie: eine verdrängte Proposition wird nicht als prädikatives Muster in eine Proposition aufgenommen und kann daher im darauffolgenden intuitiven Urteil auch nicht bewusst werden. 10 Ad These 6: Die Vorteile des Bewusstseins. Konzeptualisierungen haben nach Piaget die Funktion, die Wiederherstellung eines Gleichgewichts zu erleichtern. (1976, 261–265) »Bezüglich des Äquilibrationsprozesses selbst haben wir im Verlauf dieses Buches immer wieder die Tatsache betont, dass Überwindungen von Kontradiktionen mit ihrem Doppelaspekt der extensionalen Ausweitung der Bezugsobjekte und einer qualitativen Transformation der Begriffe in Richtung auf eine Relativierung, sowohl aktiv als auch konstruktiv sind.« (1979, 177 f.) Natürlich lässt sich gegen diese Position sofort einwenden, dass wir uns vieler Propositionen bewusst sind, ohne dass wir sie explizit in einem Urteilsakt mit der Realität zu kontrastieren scheinen, zumal wir ihnen auch keinen Wahrheitsgehalt zuzuschreiben scheinen. Dies trifft etwa auf die Lektüre eines fiktiven Romans, oder eines Gedichts zu. Wie kann dies möglich sein, wo doch Propositionen für sich allein genommen (ohne Vergleichsurteil) nach Whitehead per definitionem nicht bewusst werden können. Hier verwiest allerdings bereits S. Hooper (1946) m. E. zu Recht auf Whiteheads Konzept des ›ausgesetzten intuitiven Urteils‹ : bei diesen werden Propositionen zwar mit der Realität konfrontiert, aber eben gerade unter Absehung ihres Wahrheitsgehalts. »In einem solchen Fall wird ein imaginäres Prädikat [Konzept] der Welt mit der Haltung ›sei es wahr oder falsch‹, zugeschrieben. (Hooper 1946, 68) Dies ist eben dann der Fall, wenn wir beispielsweise einen fiktiven Roman lesen und uns seines imaginativen Charakters bewusst sind.
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Konzeptualisierungen (und damit nach Piaget auch Bewusstwerdungsprozesse) führen zu verbesserter, majorierter Äquilibration und damit verbesserten Adaptationsmöglichkeiten des Organismus: Die Strukturen werden dadurch differenzierter und flexibler; sie können dadurch mehr Objekte abdecken, was zu einem stabileren Gleichgewicht führt. Der Begriff der majorierten Äquilibration hängt nach Piaget eng mit der Verbesserung der Überlebenschancen zusammen. (Vgl. dazu z. B. 1976b, 37ff & 1976, 351) Somit verbessern Konzeptualisierung und Bewusstwerdung die Überlebenschancen der Organismen, die sie entwickeln. Piagets Position widerspricht auch hier derjenigen Whiteheads. Während nach Whitehead Bewusstsein der Erhöhung des ästhetischen Genusses dient, hat das Bewusstsein bei Piaget einzig die Funktion die adaptive Leistungsfähigkeit zu erhöhen.
3 Schlussbemerkung Damit sind wir am Ende des Vergleichs der Positionen von Piaget und Whitehead zu einigen empirischen Aspekten des Bewusstseinsphänomens angelangt. Es haben sich weitreichende Parallelen gezeigt; an zwei Stellen allerdings auch Divergenzen. Alles in allem macht die Ergebnislage aber deutlich, dass Whiteheads Position zu einigen Aspekten der von Chalmers als ›leicht‹ titulierten Problemen des Bewusstseinsphänomens durch die Übereinstimmung mit Piagets empirisch abgestützter Position als bewährt gelten kann. Zudem scheint Whiteheads Konzeption zumindest an einer der beiden Stellen, an denen die beiden Positionen voneinander abweichen (der Möglichkeit unbewusster Konflikte zwischen Propositionen/Konzepten), die tiefgründiger durchdachte, weil Widersprüche vermeidende, zu sein. Dass Whitehead eine Konzeption des Bewusstseinsphänomens vorgelegt hat, die in ihren empirischen Facetten eine weitgehende Bestätigung findet, macht William Seagers eingangs erwähnten Aufruf, sich erneut auch wieder mit Whiteheads Lösungsvorschlag für das harte, paradigmatisch-konzeptionelle Problem des Bewusstseinsphänomens auseinander zu setzen, noch reizvoller und erfolgversprechender; 11 die 11 An dieser Stelle sein nur anhand einer exemplarischen Auswahl darauf hingewiesen, dass Whiteheads Prozessphilosophie nicht nur im Bereich der Bewusstseinsproblematik
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dabei entstehenden Ergebnisse dürften auch für die Erarbeitung des Strukturkerns eines Megaparadigmas nutzbringend sein.
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Eine strukturgenetische Theorie der Willensfreiheit Benedikt Seidenfuß
(1) Der auf Piaget zurückreichende strukturgenetische Ansatz ist – zumindest im Kern – eine Theorie der Freiheit. Diese zugegebenermaßen kühne These findet sich nirgends ausdrücklich in Piagets Werk. Aber sie schwingt in seinem Denken immer mit. Nirgends wird dies deutlicher als in Piagets Menschenbild. Denn der Mensch findet sich nicht einfach fertig vor. Er ist auch niemals fertig, sondern verdankt sich in seinem Wesen und seinen Fähigkeiten einem Aufbauprozess, den er selbst trägt. Begreift man den lebendigen menschlichen Organismus als ein Strukturganzes, dann ist das Subjekt dessen wichtigstes Strukturationsprinzip. So verstanden ist der Mensch im ursprünglichsten Sinn des Wortes Person. Aber das ist nicht alles. Sein Personsein verlangt ihm eine Eigenleistung ab. In diesem Sinne wird er Person. Sein Personsein ist ihm – wenn man so will – Bestimmungsgrund und Entwicklungsziel in einem. Sprachlich lässt sich diese Doppelbestimmung daran festmachen, dass sich der Mensch nicht zur Person, sondern als Person entwickelt. In diesem »als« kommt der Umstand zum Ausdruck, dass uns unser Personsein nicht nur in einem schlichten Sinn gegeben, sondern in einem umfassenden Sinn aufgegeben ist. Aber nicht allen anthropologischen Theorien gilt der Mensch als Person. Historisch wie systematisch gehen dem genetischen Strukturalismus zwei Extrempositionen voraus. Im ungenetischen Strukturalismus, in dem der Strukturbegriff zum Universalbegriff schlechthin aufsteigt und alle gegenständlichen und lebendigen Erscheinungen überhaupt in ihm aufgehen, wird das, was ehemals als »Subjekt« bezeichnet wurde, zum Subjektivitätseffekt seiner Strukturen. Denn ohne Genese der Strukturen sind die Strukturen der Wirklichkeit, was sie sind. Subjektsein braucht es dazu nicht. Und Freiheit gibt es in ihm auch nicht. Vor allem im französischen Strukturalismus treffen wir auf eine philosophische Spielart solcher Denkmodelle: nämlich die eigentümliche Denkfigur einer subjektlosen Subjektivität. Der Ausdruck 198
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Eine strukturgenetische Theorie der Willensfreiheit
»Subjektivität« fungiert hier als Ersatzbegriff für den vielfach in die Krise geratenen Subjektbegriff. In diesem Sinne wird Subjektivität paradoxerweise gleichsam bezugslos, als Ausdruck eines bestimmten Erlebniszustandes gebraucht. Nirgends kommt dies klarer zum Ausdruck als in Michel Foucaults Rede vom »Tod des Subjekts«. In seiner Absage an Sartre konstatiert Foucault im Jahre 1966: »Das ›Ich‹ ist zerstört (…) – nun geht es um die Entdeckung des ›es gibt‹« (Foucault 1966: Absage an Sartre, S. 204). An seine Stelle tritt »ein anonymes Denken, Erkenntnis ohne Subjekt« (ebd.). Was vom Menschen bleibt, ist das »anonyme System ohne Subjekt« (ebd.). Umgekehrt sieht der Genetismus ohne Struktur die lebendigen Organismen, so auch den Menschen, in einer unbegrenzten Evolution als den Umweltzwängen unterworfen, ohne dass innere Strukturen diesen Außeneinflüssen entgegenstehen oder sie assimilieren könnten. Für den Genetismus ohne Struktur findet sich das einzelne Subjekt ausgeliefert an ein es bestimmendes Affektionsgeschehen wieder. Was ihm fehlt, ist seine eigene, von ihm ausgehende Strukturierungs- und Gestaltungsaktivität. Auch hier ist das Subjekt nicht zu retten. Und auch hier gibt es keine Freiheit. Nirgends wird dies deutlicher als in der Position Lamarcks. Gegen diese beiden Extrempositionen macht der strukturgenetische Ansatz Piagets geltend, dass die conditio sine qua non einer jeden Struktur notwendig ihre Strukturation ist. Insofern bedeutet die piagetsche Konzeption der systematischen Betonung der Wechselwirkung von Struktur und Genese für die Konstitution des Lebendigen in dem Sinne eine Aufhebung aller genetistischen und strukturalistischen Einseitigkeiten, als sich sein genetischer Strukturalismus gegen einen Strukturalismus ohne Genese und gegen einen Genetismus ohne Struktur wendet und abzugrenzen vermag. Struktur und Genese bedingen sich in einer zyklischen Interdependenz gegenseitig: Jede Struktur ist das Ergebnis ihrer Genese, die ihrerseits nur als eine Weiterbildung einer vorausliegenden Struktur begriffen werden kann. Umgekehrt gilt, dass jede Genese ohne den Rekurs auf eine zugrunde liegende Struktur nicht auskommt. Organisation und Entwicklung erweisen sich in diesem Formschaffungsprozess als die fundamentalen Prinzipien der strukturalen Genese. Zusammen machen sie das aus, was Piaget die dem Lebendigen eigene progressive Organisation nennt, ein Eckstein in Piagets genetischem Strukturalismus. Von daher können wir ein erstes anthropologisches Datum festhalten: Für den geneA
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tischen Strukturalismus Piagets ist der Mensch in sich Treffpunkt von materialem Sein und geistigem Wirken. (2) Wenn wir beurteilen wollen, ob die Grundthese, dass nämlich der strukturgenetische Ansatz im Grunde eine wenn auch implizite Freiheitstheorie ist, richtig ist, dann müssen wir zu allererst bestimmen, um welchen Typus Freiheit es geht. Freiheit, wie sie sich von der Logik des strukturgenetischen Ansatzes her darstellt, ist kein bloßes Postulat, sondern ein reales menschliches Vermögen. Es bezeichnet eine biologisch fundierte und sozial vermittelte Grundtendenz personaler Existenz überhaupt. Doch eine solche Sicht der Dinge ist keineswegs selbstverständlich. Denn die jüngste Debatte um die menschliche Willensfreiheit legt eine ganz andere Vermutung nahe. Unter der zumindest fragwürdigen Berufung auf die von Benjamin Libet in den 70er Jahren durchgeführten Experimente gibt es mittlerweile eine ganze Schule reduktionistischer Hirnforscher, die sich in dem gemeinsamen Ziel zusammengefunden haben, dem Menschen seine Freiheit wegerklären zu wollen. Solche reduktionistischen Ansätze gehen von der Prämisse aus, dass das Freiheitsbewusstsein, das wir uns als die Urheber unserer Handlungen zuschreiben, eine Selbsttäuschung ist. Das Ergebnis eigenen Entscheidens ist gewissermaßen ein leer laufendes Rad. Demgemäß ist die als »mentale Verursachung« begriffene Willensfreiheit mithin ein Schein, hinter dem sich in Wahrheit eine durchgängige kausale Verknüpfung neuronaler Zustände nach Naturgesetzen verbirgt. Nach dieser reduktionistischen Logik tun wir nicht was wir wollen, sondern wollen nur, was wir tun. Aber – so müssen wir einwenden – einer solchen Sicht der Dinge liegt ein mehr oder weniger falscher und unrealistischer Freiheitsbegriff zugrunde. Denn die meisten Hirnforscher glauben, wahre Freiheit, wenn es sie überhaupt gibt, läge in der Abwesenheit von Bedingtheiten. Wahre Freiheit soll ihrem Wesen nach unbedingt sein. Aber es ist einfach falsch, Freiheit und Determinismus an der Abwesenheit oder Anwesenheit von Bedingtheiten festmachen zu wollen. Vielmehr gilt es, die Debatte um Freiheit und Determinismus als eine Auseinandersetzung über die richtige Weise der Naturalisierung des Geistes zu verstehen. Denn nur so kann es gelingen, Beides zusammenzubringen: die intuitiv unbestreitbare Evidenz eines in allen Handlungen performativ mitlaufenden Freiheitsbewusstseins einerseits und das Bedürfnis 200
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nach einem kohärenten Bild des Universums andererseits. Also haben wir nach den Bedingungen zu fragen, die über unsere Freiheit entscheiden. Erst von ihnen her können wir rekonstruieren, was Freiheit im strukturgenetischen Sinn überhaupt ist. Folgt man der Auffassung der analytischen Philosophie, wie sie in dieser Frage etwa von Bieri vertreten wird oder dem nicht-szientistischen Determinismus, wie er von Habermas formuliert wurde, so ist der Befund klar und eindeutig: Freiheit ist immer bedingt. Unbedingte Freiheit gibt es nicht und kann es nicht geben. Wenn wir die Idee der unbedingten Freiheit beim Wort nehmen und ihre gedanklichen Linien kompromisslos ausziehen, dann sehen wir, dass die Idee einer unbedingten Freiheit keine besonders gute Idee ist: Indem man sie zu Ende denkt, zerrinnt sie einem gleichsam zwischen den Händen. Und dies aus zwei Gründen. Erstens: Ein Wille, der als unbedingt gedacht wird, geht als Wille verloren. Er würde sich gleichsam im kausalen Niemandsland verlieren. Denn er wäre dann nicht auf eine bestimmte Person bezogen und daher im letzten Grunde überhaupt kein Wille. Und zweitens: Selbst wenn der erste Einwand falsch sein sollte, wenn der Wille ohne inneren Widerspruch als unbedingt beschrieben werden könnte, so entspräche das Beschriebene nicht unserer Erfahrung von Freiheit. Denn der unbedingte Wille wäre in einer besonderen Weise erfahrungsresistent. Ein solcher Wille wäre einer, der von nichts abhinge, also ein vollständig ungebundener, von allen ursächlichen Zusammenhängen freier Wille, unbeeinflussbar, losgelöst von unserer Urheberschaft und damit uns selbst fremd. Wir sehen also: Ein unbedingter Wille wäre einer, der unabhängig von unserem Körper, unserem Charakter, unseren Gedanken und Empfindungen, unabhängig von unseren Phantasien und Erinnerungen wäre. Er wäre einer, der mit unserem Leben und seiner Geschichte nichts zu tun hätte. Und das ist eine absurde Vorstellung, zumal die Folgen katastrophal wären: Unbedingtheit hieße Unbelehrbarkeit, Unberechenbarkeit und Unverständlichkeit, fehlende Urheberschaft, völlige Beliebigkeit, Zufälligkeit und Fremdheit unseres Willens uns gegenüber – alles Eigenschaften der Unfreiheit und nicht der Freiheit des Willens (vgl. Bieri 2004: Das Handwerk der Freiheit, S. 230). Aber das ist nicht alles. Die Zukunft eines unbedingt Wollenden wäre vollkommen offen. Alle normativen Erwartungen würden unsinnig werden. Wir sähen uns der Ohnmacht eines gleichsam aus einem kausalen Vakuum herausbrechenden Willen ausgesetzt (vgl. Bieri 2004: Das Handwerk der Freiheit, S. 236 ff.). A
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Das ist der Grund, warum wir nun zu verstehen versuchen müssen, wie sich Freiheit und Unfreiheit im Rahmen universeller Bedingtheit unterscheiden. Denn nur die Bedingtheit unseres Willens und die Bedingtheit durch unseren Willen garantiert, dass wir Urheber unseres Tuns sein können. Und nur wenn unser Verhalten einem Willen entspringt und durch ihn verwirklicht wird, ist ein von uns angestoßenes Tun ein sinnvolles Tun. Das ist so, weil nur durch unser bedingendes Bestimmen unser Tun einen bestimmten Sinn bekommt. Damit setzt die Vorstellung, der Urheber seines eigenen Tuns zu sein und sich als solcher zu erfahren, die Vorstellung voraus, sich in seinem Verhalten als auf eine bestimmte Weise bedingt zu erfahren (vgl. Bieri 2004: Das Handwerk der Freiheit, S. 165). Damit sind dem Willen zwei grundlegende und begrenzende Bestimmungsdimensionen auferlegt: Was wir wollen können, liegt zum einen an der Welt, zum anderen an uns selbst. Sinnvollerweise können wir nur das wollen, was wenigstens prinzipiell möglich ist. Was uns selbst betrifft, so ist unser Wille über körperliche Bedürfnisse, soziale Beziehungen, Emotionen und Einstellungen, über die eigene Lebensgeschichte und den in ihr gewordenen individuelle Charakter bedingt. Auf diese Weise ist er gleichsam in der je eigenen Innenwelt mit ihren festen Konturen verankert. Nur durch diese Verankerung ist er der Wille einer bestimmten Person, also überhaupt jemands Wille (vgl. Bieri 2004: Das Handwerk der Freiheit, S. 52). Die prinzipielle Bedingtheit unseres Willens, seine biologischen Grundlagen, seine geschichtlichen Erfahrungen, sein persönliches Erleben, das die je eigene soziale Umwelt und vieles andere mehr umfasst, kann weder uns noch unseren Willen in seiner Freiheit stören. Das ist so, weil die Begrenzung unseres Wollens durch all das, was ihm notwendig vorausgehen muss, kein Hindernis für die Freiheit, sondern deren Voraussetzung ist. Daher kann auch die Fixierung des Willens im Strukturganzen der biologischen Organisation des lebendigen Organismus die Freiheit des Willens nicht stören. Vielmehr fungiert sie als eine unhintergehbare Ermöglichungsbedingung, weil er nur so bestimmt, das heißt ein personaler Wille sein kann. Was von daher über die Freiheit und Unfreiheit unseres Tuns und Wollens entscheidet, ist nicht die nackte An- oder Abwesenheit von Bedingtheiten, sondern die Art und Weise des Bedingtseins unseres Willens. Damit können wir dem Willen seine abschließende Kontur geben. Der Wille ist ein Wunsch, der dadurch handlungswirksam wird, dass 202
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wir ihn durch die Entscheidung für ihn und gegen andere Wünsche ins Werk setzen. Solche Wünsche scheinen aber nicht einfach in uns als quasi-kausale Ereignisse auf, sondern ergeben sich immer aus dem Zusammenspiel der Logik der eigenen Lebensgeschichte und der in ihr gewordenen und von ihr her verstehbaren Struktur unseres zum Habitus verdichteten Handelns. So verstanden ist der Wille sowohl das Konstituens als auch das Konstitutionsprodukt unsere Lebensgeschichte. Die Begrenztheit des Willens hat ferner mit unseren Fähigkeiten selbst zu tun, genauer gesagt kommt es dabei nicht so sehr auf die tatsächlichen, sondern auf die vermeintlichen, nicht so sehr auf die Fakten, sondern auf unser Selbstbild an. Beide zusammen stecken den Spielraum unserer Möglichkeiten ab. Damit stellt die prinzipielle Bedingtheit unseres Willens, seine biologischen Grundlagen, seine je eigene soziale Umwelt, seine lebensgeschichtlichen Einbettung, sein persönliches Erleben, seine Bezüge zu Habitus und Einstellungen dasjenige dar, was den Willen einer Person als ihren Willen ausweist, zu ihrem eigenen Willen macht. Jetzt können wir auch genauer zwischen dem Begriff der Willensund der Handlungsfreiheit unterscheiden. Entscheidend ist dabei der Spielraum der Möglichkeiten. Für die Freiheit des Handelns müssen erwogene Möglichkeiten tatsächlich bestehen: Wir können nur tun, was wir wollen, wenn wir es wirklich können. In dem Maße, in dem wir tun können, was wir wollen, sind wir frei. Für die Freiheit des Willens ist die Rolle der Möglichkeiten eine andere. Denn für die Freiheit des Willens ist die Frage entscheidend, ob unser Wille sich unserem Urteil und damit unserer Entscheidung fügt oder nicht. Ob die in unserer Urteilsbildung erwogenen Möglichkeiten wirklich bestehen spielt dabei keine begrenzende Rolle. Für die Freiheit des Willens gilt also: In dem Maße, in dem er dem Überlegen und dem Urteil des Wollens entspricht, ist der Wille frei (vgl. Bieri 2004: Das Handwerk der Freiheit, S. 283 f.). Für die Freiheit des Willens kommt es daher auf die uns kognitiv vermittelte Welt an und insbesondere darauf, wie wir sie uns zurechtlegen: Damit gehen in die Verfasstheit unserer Willensfreiheit Beides unhintergehbar und konstitutiv mit ein: das eigene Selbstbild und das von ihm aus entworfene Weltbild. (3) Für den strukturgenetischen Ansatz – so sahen wir – ist der Mensch Treffpunkt von materialem Sein und geistigem Wirken. Freiheit erwies sich als ein bedingtes Vermögen, genauer als ein biologisch bedingtes A
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und soziale vermitteltes. Freiheit hat also wie auch all die anderen, den Menschen auszeichnenden Eigenschaften und Fertigkeiten ein fundamentum in re. Und dieses fundamentum in re scheint nun nirgends klarer auf als in den beiden Leitbegriffen des strukturgenetischen Ansatzes: Struktur und Genese. Ihr komplementäres Verhältnis zueinander klären wir am besten dadurch, dass wir uns dem Strukturbegriff selbst zuwenden. Unter Struktur versteht Piaget »ein ganzheitliches System selbstregulierender Transformationen« (Piaget 1973: Der Strukturalismus, S. 44) und damit ein wirklichkeitskonstitutives und wirklichkeitsinhärentes Erklärungsmodell. Es beschreibt ein Modell, das nicht nur erklärender Veranschaulichungsgegenstand, sondern Organisationsprinzip des Realen sein soll. Damit ist gemeint, dass sich Strukturen aus sich selbst heraus – wenn auch unter dem Einfluss der Umwelt – entwickeln. Der Ausdruck »aus sich selbst« meint dabei natürlich nicht »aus nichts«, sondern bezeichnet den Umstand, dass die Schaffung einer neuen Struktur durch die Selbsttransformation der ihr vorausgehenden Struktur impliziert ist. Ganzheitlichkeit, Selbsttransformation und Selbstregelung machen dabei die drei in ihrer Allgemeinheit nicht weiter reduzierbaren, aufeinander verweisenden Hauptmerkmale einer jeden Struktur (vgl. Piaget 1973: Der Strukturalismus, S. 7) aus. Es liegt dabei, wenn von Freiheit die Rede ist, nahe, diese drei Merkmale von Strukturen nicht an irgendeinem lebendigen, sondern am menschlichen Organismus zu exemplifizieren, dem Prototyp der strukturalen Organisation. Er stellt als relationale Totalität von Strukturen eine Prozesseinheit dar, die über ihre permanente Konstruktion und Rekonstruktion in sich selbst Strukturation ist. Sein Sein besteht generell in der Strukturation der ihn tragenden Strukturen, also in seinem Strukturiertwerden. Oder in Piagets Worten: »das Subjekt existiert, weil das ›Sein‹ der Strukturen ganz allgemein ihre Strukturierung ist« (Piaget 1973: Der Strukturalismus, S. 134). Damit ist das Axiom des konstitutiven Zusammenhanges von Strukturiertwerden und Strukturationen notwendig geknüpft an ein reales Aktionszentrum, das heißt letztlich an ein aktives Subjekt. Dieses Subjekt erhält wiederum eine Doppelbestimmung: Es ist Konstituens und Konstitutionsprodukt der Formalstrukturen. Strukturationen und Strukturen stehen damit in einem konstitutiven Verhältnis zueinander. Im ersten Fall ist sie Bestimmungsgrund des Strukturationsprozesses ihres Subjekts, im zweiten Fall das jeweils nur vorläufig bestimmte Prozess204
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resultat. Damit treffen wir erneut auf die beiden Prinzipien, die wir schon eingangs kennen gelernt haben: das Prinzip der organisierten Organisation in der Ebene der Synchronie und das Prinzip der organisierenden Organisation in der Ebene der Diachronie. Weil diese Geschlossenheit in einem konstitutiven Verhältnis des Strukturiertwerdens und Strukturierens der Strukturen besteht, ist damit zugleich ein drittes Merkmal strukturaler Organisation konstituiert, nämlich deren Selbstregelung. Dieses Charakteristikum der Selbstregelung fungiert als das innere Gesetz oder als die treibende Kraft der immanenten Organisation des Zusammenwirkens des Strukturganzen selbst (vgl. Piaget 1973: Der Strukturalismus, S. 15–16). Ganzheitlichkeit, Selbsttransformation und Selbstregelung machen im Ganzen genommen daher auch die funktional geschlossene Offenheit des Lebendigen aus. Denn das Lebendige als offenes System erhält seine Weltoffenheit aufgrund der stets neu zu organisierenden Geschlossenheit seiner Strukturen als Transformationssysteme. Das ist der Grund, warum das ureigenste Charakteristikum des Lebendigen in dem unaufhörlichen Hinausgehen über sich selbst besteht. So verstanden lässt sich die Erkenntnisleistung des Subjekts als eine Fortführung der biologischen Organisation deuten, die unter dem Aspekt der Selbstregulation steht, womit eine Kontinuität zwischen den organischen und den kognitiven Regulationen und zugleich eine Originalität der letzteren gegenüber den ersteren behauptet ist (vgl. Fetz 1988: Struktur und Genese, S. 236). Damit lässt sich auch das Wesen menschlicher Ratio neu beschreiben: Es liegt als eine echten Höherentwicklung der biologischen Organisation in der spezifisch menschlichen Erkenntnisentwicklung begründet. Und nun wird auch klar, was es heißt, der Mensch sei ein nie fertiges Wesen. Er ist immer perfektibel. Er ist auf die Möglichkeit einer potentiell unbegrenzten Entwicklung hin angelegt, die sich verhaltensmäßig in seinem Explorationsdrang manifestiert. In dieser prinzipiellen Unabgeschlossenheit und Unabschließbarkeit unseres Erkenntnisstrebens findet die radikalisierte Offenheit menschlicher Erkenntnis ihren intellektuellen Ausdruck. Somit kommt der Erkenntnis innerhalb der Organisation des Lebendigen eine Sonderstellung zu, insofern nämlich mit ihr die Selbstüberschreitung seiner Organisation und damit Freiheit eröffnet wird. Strukturbildung und Strukturwandel erweisen sich im Piagetschen System von daher als ein auf Integration ausgerichteter Organisationsprozess. Dieser Mechanismus wird daA
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durch getragen, dass die höher entwickelten Strukturen die jeweils vorangehenden als Substrukturen in Rahmen eines umfassenden Transformationsprozess in sich aufnehmen. Damit stehen wir vor der Frage, was diese Entwicklung antreibt, denn bislang ist offen geblieben, wie Neues hinzukommt, wie eine echte Höherentwicklung in Gang kommen und getragen werden kann. Entwicklung wird bei Piaget als Interaktionsverhältnis gedacht. Ihre beiden Seiten machen die Assimilations- und Akkomodationstätigkeit des Subjekts aus, das heißt die Assimilation der äußeren Gegenstände an die inneren Schemata einerseits und die Akkommodation dieser Schemata wiederum an die äußere Situation andererseits. Aber eine Assimilation im Vollsinn des Wortes kann nur gelingen, wenn ein funktionales Gleichgewicht zwischen beiden Seiten herrscht, wenn die Möglichkeit der Anpassung der Assimilationsschemata als Adaption an die zu assimilierenden Gegenstände im Sinne einer möglichen Akkommodation an sie gegeben ist. Für das Ingangkommen und generell die Dynamik dieses Entwicklungsgeschehens sorgt ein andere biologisch fundierter Mechanismus: die Äquilibration als Regulationsvorgang, deren grundlegende Tendenz es ist, von bereits erreichten Gleichgewichtszuständen über Gleichgewichtsstörungen und daraus resultierenden Unausgewogenheiten die Herstellung eines qualitativ besseren Gleichgewichts anzustreben (vgl. Piaget 1974: Biologie und Erkenntnis, S. 12–13). Die Äquilibrationstätigkeit stellt somit einen Regulationsvorgang dar, der wesentlich auf eine progressive Gleichgewichtung abzielt. Entwicklung im Kontext der Äquilibration ist daher nichts anderes als die Behebung eines Ungleichgewichts durch das Wiederherstellen eines neuen Gleichgewichts. Eine solche »Reäquilibration« nennt Piaget daher auch die so genannte »majorierende Äquilibration« (vgl. Piaget 1976: Die Äquilibration der kognitiven Strukturen, S. 11). Die fortschreitende Äquilibration der Strukturen geben so den allgemeinen Rahmen der Selbstregelungsmechanismen des Lebendigen ab. Das, was wir als Freiheit bezeichnen, kommt in biologisch Hinsicht daher einem Regulationsmechanismus gleich, genauer: der Fähigkeit zur Selbstregulierung. Die Entwicklung der Freiheit des Willens kann also nicht als bloße Reifung einer entsprechenden Anlage angesehen werden; vielmehr muss es sich dabei um einen organisierten und stets neu zu organisierenden Entwicklungsprozess handeln, der in seiner grundlegendsten Form als progressive Organisation auftritt. Die Freiheit des Willens kommt 206
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demnach, was ihr biologischen Korrelat anlangt, einer sich progressiv immer weiter organisierenden Selbstregulierung gleich, die als biologischer Mechanismus keineswegs spezifisch menschlich ist, die aber in dieser höchsten Form so nur im Menschen angelegt ist. (4) Damit haben wir das biologische Fundament lebendiger menschlicher Existenz gelegt. Nun könnte man einwenden, dass das alles Biologie ist und mit Freiheit eigentlich nichts oder bestenfalls am Rande etwas zu tun hat. Aber dieser Vorwurf trifft nicht zu. Denn der biologische Mechanismus Selbstregulierung weist zwei grundlegende Momente auf, die wir auch aus unsere alltäglichen Freiheitserfahrung kennen: Es ist dies einmal die Tendenz der Aneignung nach innen und des Ausgreifens nach außen und dann der Umstand, dass dieses Aneignen und Ausgreifen etwas mit dem Subjekt und seinem Organismus macht. Diese Tendenz bringt das Subjekt, bring den Organismus in irgendeiner Form weiter. Sie will auf ein Mehr hinaus, das zugleich ein Höher ist. Wir sehen: Das Problem, um das es hier geht, ist eines der Kausalität. Für den strukturgenetischen Ansatz ist der Mensch Person. Eine rein menchanizistische Verhaltensverursachung, wie sie in den Ursache-Wirkungsbeziehungen vorliegt, muss daher von vornherein ausscheiden. Natürlich gibt es im Reich des Lebendigen solche einfachen Verursachungskausalitäten. Aber Handlungen werden anders determiniert als der Blutzuckerspiegel. Sie werden nicht von einer Art Wunschhydraulik in den Ausdruck gepresst, sondern sind ihrer Struktur nach intentional. Die Kausalität, um die es bei Handlungen geht, ist finaler Natur. Und diese Finalität schöpft ihre Kraft aus dem intentionalen Kontakt zu Gründen. Gründe sind zwar ihrer Struktur nach kausal wirksam; aber sie sind es gerade nicht hinreichend. Wären sie für sich schon hinreichende Handlungsbestimmungen, dann würde – wie Tugendhat darlegt – unser Wille gleichsam seine Schwerkraft verlieren (vgl. Tugendhat 1979: Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung, S. 242). Dass es also buchstäblich an uns liegt, so und nicht anders zu wollen und infolgedessen so und nicht anders zu handeln, erfordert neben der Überzeugung, das Richtige zu tun, auch das Tun eben selbst. Und dieses Tun ist notwendig auf ein Subjekt bezogen, das sich ein »Können« zuschreibt. Aber auch dieses Können ist wie das Wollen an etwas gebunden: nämlich an das Strukturganze des je eignen Körpers. Dem A
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Willen kann so im Rahmen des strukturgenetischen Ansatzes nicht nur irgendein unbestimmtes und allgemeines fundamentum in re zugeschrieben werden, sondern ein bestimmtes und individuelles, das kein anderes sein kann, als die je individuell erlebte und gewordenen Leiblichkeit der einzelnen Person. Die handelnde Person kann sich so von ihrem organischen Substrat, das als Leib erfahren wird, ohne Beeinträchtigung ihrer Freiheit »bestimmen« lassen. Aus der Perspektive dieser Leiberfahrung verwandeln sich alle kausalen Determinanten in ermöglichende Bedingungen (vgl. Habermas 2004: Freiheit und Determinismus, S. 877). Und nun können wir präzisieren, was mit bedingter Freiheit gemeint ist. Freiheit ist nicht nur bedingt, sondern auch natur- und entwicklungsbedingt, was genau der Piagetschen Leitidee des fundamentum in re entspricht. Weil der Körper in einem schlichten Wortsinn als Leib jeweils der eigene Körper ist, bestimmt er das, was wir können und wollen können. So verstanden ist bestimmt zu sein ein konstitutiver Rückhalt der Selbstbestimmung. Die Leiblichkeit des Menschen fungiert daher nicht als Hemmnis personaler Freiheit, sondern als das Kondensat ihrer ermöglichenden Bedingungen. Die Verbindung von Leiblichkeit und erlebter Urheberschaft ist damit der innerste Ausdruck des strukturgenetischen Freiheitsbegriffs. Beide unterstehen demselben, den ganzen lebendigen Organismus tragenden Strukturationsprinzip: den progressiven Organisationen. Dass damit die Leiblichkeit der Person etwas zutiefst dynamisches darstellt, lässt sich schon daran erkennen, dass Piaget ihrem fundamentum in re um das in actione subjecti ergänzt. Damit haben wir den eigentlich aus der Biologie stammenden Ausdrücken der »Selbsttransformation« oder »Selbstregulierung« eine neue Wendung gegeben. Indem wir sie auf den Leibbegriff und die immanente Existenzweise des Menschen als Person anwenden, gewinnen beide Begriffe nicht nur eine allgemeine wissenschaftliche, sondern über diese hinaus auch für den Einzelnen erlebbare und persönliche Bedeutung. Das aus Biologie und Verhaltensforschung entstammende Konstrukt der Selbstregulierung und die in Philosophie und Anthropologie beheimatete Annahme der Freiheit des Menschen erweisen sich also die beiden Seiten derselben Medaille menschlicher Existenz. Denn diese beiden Seiten derselben Tendenzen beruhen auf demselben Organisationsprinzip. Immer fungiert ein bereits organisierter Organisationszustand, ein Konstitutionsprodukt vorausliegender Organisationsprozesse als Konstituens 208
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für einen neu zu organisierenden Organisationsprozess. Konstituens und Konstitutionsprodukt greifen als progressive Organisationen ineinander. Was hierbei zum tragen kommt, haben wir schon im ersten Abschnitt dargelegt: Es ist dies das komplementäre Verhältnis von Organisation und Entwicklung. (5) Indem wir Freiheit als eine Form der Selbstregulierung denken, ist ausgeschlossen, dass Freiheit jene Bodenhaftung verliert, die für sie auch im philosophischen Sinn konstitutiv ist. Aber damit haben wir noch nicht erklärt, was die eigentliche Auftriebskraft darstellt, die es uns erlaubt, uns zur Selbstbestimmung zu erheben. Was also nun ansteht, ist die Frage nach den Bedingtheiten selbst. Wir haben oben gesehen, dass es nicht die Bedingtheit an sich ist, die über die Freiheit oder Unfreiheit des Willens entscheidet, sondern dass es darauf ankommt, ob es sich dabei um die richtige Art von Bedingtheit handelt. Wenn sich aber sowohl unsere Freiheit als auch unsere Unfreiheit im Rahmen eines universellen Bedingungszusammenhanges konstituieren, dann muss es eine bestimmte Teilklasse von Bedingungen geben, die unseren Willen zur Freiheit bestimmen und damit als Bedingungen der Möglichkeit seiner Freiheit fungieren. Denn Bedingtheiten können so sein, dass sie Freiheit möglich machen. Dann sprechen wir von notwendigen Bedingungen. Sie können aber auch Freiheit unmöglich machen, nämlich dann, wenn sie unser Verhalten hinreichend determinieren. Von daher erweist sich die Art der Bedingtheit als der neuralgische Punkt unserer Freiheit. Zunächst einmal können wir ganz grundlegend festhalten, dass die Bestimmung des Willens entwicklungsangemessen sein muss. Das bedeutet, dass ein handlungsleitendes Motiv im Ganzen keine Regression auf frühere Stufen beinhalten darf. Aber das kann nicht alles sein. Denn bislang sprachen wir nur von dem Willen, ohne genauer hinzusehen, um was für einen Willen es geht. Im selben Atemzug sprachen wir bislang von Freiheit nur als einer Tendenz, genauer vom Ausgreifen des Willens aufs Mögliche. Der menschliche Organismus ist demnach, so sahen wir, immer perfektibel. Er ist in sich regulativ geschlossen und damit zugleich für Neues – und das heißt für neue Assimilationen und Akkomodationen – offen. Aber dabei fielen noch alle qualitativen estimmungen unter den Tisch. Denn im Willen drückt sich nicht nur eine inhaltsleere Tendenz, sondern immer auch eine Form der bekümmerten Sorge aus. Und zum Wesen der Sorge gehört es, dass sich unser A
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Wollen nicht nur situationsrelativ verstehen lässt, sondern sich bewusst auf Zwecke beziehen kann. Und das wiederum scheint nur möglich zu sein bei einem Wollen, bei dem es um ein gut und besser geht (Tugendhat 2003: Egozentrizität und Mystik, S. 31). Wir kommen also nicht umhin zwei Arten des Wollens zu unterscheiden: das sinnliche, auf Gefühle bezogene Wollen und das deliberative, überlegte Wollen. Unsere aktuellen Wünsche und Präferenzen fungieren zwar durchaus als gute Gründe. Aber diese Gründe erster Ordnung können durch Gründe höherer Ordnung, nämlich durch solche, die sich im Zuge einer die ganze Lebensgeschichte ausmachenden Identitäts- und Moralentwicklung fundieren, übertrumpft werden. Der Wille unserer Willensfreiheit ist nach dieser Logik in dem Sinne frei, als er unserem Entscheiden entspricht, als er für das Er- und Abwägen der Ergebnisse eines Erkenntnisprozesses offen ist und sich von Argumenten binden lässt (vgl. Bieri 2004: Das Handwerk der Freiheit, S. 46 und insbesondere Habermas 2004: Freiheit und Determinismus, S. 877 f.). Dieser identitätsstiftende und gleichsam schöpferische Akt des Entscheidens beruht auf der Fähigkeit, einen inneren Abstand zu uns selbst einnehmen zu können und dadurch in der Reflexionsform unseren Willen, mithin uns selbst zum Thema unseres Reflektierens machen zu können. Ein Wille bildet sich daher, wie unbemerkt auch immer, im Zuge von Überlegungen. »Frei ist daher nur der überlegte Wille« (Habermas 2004: Freiheit und Determinismus, S. 874), also der Wille, der sich durch Gründe motivieren und binden lässt. Das Ausmaß schließlich, in dem uns die Bestimmung unseres Willens durch unser Überlegen und damit die Bindung desselben an Gründe gelingt, ist zugleich das Ausmaß, in dem unser Wille frei ist; und das Ausmaß, in dem dies misslingt, ist zugleich das Ausmaß seiner Unfreiheit. Damit haben wir einen starken, aber nicht-idealistischen und vor allem nicht-dualistischen Begriff der Willensfreiheit vorbereitet. Der Wille ist damit alles andere als willkürlich. Weit davon entfernt, ein sperriges Etwas in uns zu sein, erleben wir unser Wollen als in die ontogenetisch bedingten Lebensumstände eingebettet. Wir, die wir wollen und handeln sind vom Substrat unseres Könnens, von unserer Lebensgeschichte, unserem Charakter und unseren Fähigkeiten, von der gesellschaftlichen und kulturellen Umgebung und nicht zuletzt von den aktuellen Gegebenheiten der Handlungssituation abhängig und dennoch frei.
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(6) Damit können wir nun im Gang der bisherigen strukturgenetischen Untersuchung den Zusammenhang dieser Entwicklungslinien mit der Freiheitsentwicklung abschließend herauszuarbeiten. Die Freiheit, um die es in all den Ausführungen vornehmlich ging, war die Freiheit des Willens. Sie ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass es wirkliche Handlungsfreiheit geben kann. Eine der Grunderkenntnisse der Piagetschen Biologie ist der Umstand, dass alles Lebendige ein geschlossenes System der Selbstregulation darstellt und gerade durch diese innere Geschlossenheit umweltoffen wird. Dieser Grundsatz lässt sich nun für die Psychogenese des epistemischen Subjekts präzisieren: Die für die Entwicklung der Freiheit unseres Willens so wichtigen Erkenntnismittel sind nicht von Anfang an fertig gegeben, sondern müssen sich erst ausbilden. Sie tun dies, indem sie sich vom Anbeginn der Ontogenese an in der Berührungszone zwischen dem eigenen Körper und den ihn umgebenden Dingen konstituieren. Von dort aus erweitern sie sich in zwei komplementäre Richtungen: nach innen und nach außen. Dies nennt Piaget die doppelte Konstruktion, die Erarbeitung des Subjekts und die damit verbundene Konstituierung der Objekte (vgl. Piaget 1974: Abriß der genetischen Epistemologie, S. 32). Dieser doppelte Richtungssinn ist für die menschliche Existenz so umfassend, dass er in beinahe allen ihrer Facetten zum Tragen kommt. Analog zur Erkenntnisentwicklung bestimmt dieser doppelte Richtungssinn auch die Entwicklung der Willensfreiheit, insofern beide Richtungen tief und unhintergehbar in der Entwicklung des Menschen als Person verankert sind: Es sind dies erstens die Ausdehnung der Freiheitssphären nach außen und zweitens die Aneignung der Freiheitssphären nach innen. Immer ist es die Entwicklung des ganzen Subjekts, die die Bedingungen der Möglichkeit so verstandener Freiheit stellt. Die Ausdehnung der Freiheitssphären nach außen manifestiert sich im Ausgreifen des Willens über das Tatsächliche hinaus auf das Mögliche. Der Blick geht hier aus uns heraus, das heißt es geht um die Offenheit der eigenen Zukunft, um das Gestalten der zu lebenden eigenen Lebensgeschichte. Damit verbunden ist die Erfahrung, sich – geleitet von innen gelenkter Phantasie – in die Zukunft hinein entwerfen zu können. Die zweite Richtung dieser Freiheitsentwicklung ist die Ausweitung des erkenntnisgetragenen Zugriffs auf uns nach innen, ist also die Aneignung der Sphären des Selbst. Lag dieser ersten Richtung das Vermögen der Welterkenntnis zugrunde, so geht es nun um das der A
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Selbsterkenntnis. Der Blick geht hier in uns zurück. Genauer: Hier geht es um die Offenheit der eigenen Vergangenheit, um die Aneignung der gelebten eigenen Lebensgeschichte. Aber damit sind einige Schwierigkeiten verbunden. Nur weil uns das eigene Innenleben scheinbar näher ist als die fremde Welt, die uns umgibt, heißt das nicht, dass der Zugang zu uns selbst einfacher ist. Denn unsere Wünsche selbst werden uns nicht dadurch transparent, dass wir sie haben. Dazu müssen wir uns unseren Willen aneignen. Wie darf man sich das vorstellen: sich den eignen Willen aneignen? In drei Schritten vollzieht sich nach Bieri die Aneignung des eigenen Willens (vgl. Bieri 2004: Das Handwerk der Freiheit, S. 384): zunächst durch die Artikulation des Willens, dann durch den Versuch, den Willen in seinem Gehalt zu verstehen und schließlich durch eine Bewertung desselben. Wir müssen also versuchen, unsere Wünsche verstehen lernen, und um das zu können, müssen wir Struktur, Gehalt und Dynamik unserer Wünsche erkennen, artikulieren und bewerten können. Und dann gilt es, sie ins Verhältnis zu uns selbst zu setzen, zu dem was wir sind und was wir sein wollen. In dem Maße, indem uns das gelingt, vertiefen wir nicht nur die Bekanntschaft mit uns selbst. Wir breiten uns auch gleichsam nach innen aus und vergrößern damit zugleich den Radius unserer Urheberschaft. Und indem wir den inneren Radius unserer Urheberschaft vergrößern, werden wir in einem umfänglicheren Sinne zum Autor unseres Willens. (7) Freiheit fügt sich damit nahtlos in die Entwicklung der Person ein. Mehr noch sie ist für sie konstitutiv, vielleicht sogar der entscheidende Grundzug aller andern Entwicklungslinien des Menschen. Für den strukturgenetischen Ansatz wurden schon einige der grundlegenden Wesenszüge der Person ausgemacht: Piaget verdanken wir die Rekonstruktion der kognitive Entwicklung von der sensomotorischen Intelligenz über das prä- und konkretoperatorische zum formaloperatorischen Denken, Kohlberg die Aufschlüsselung der Moralentwicklung von der heteronomen über die konventionelle zur prinzipiengeleiteten, universalistischen Moral. Mead, Selman und Habermas haben die Entwicklung der Interpersonalbeziehungen und die Identitätsbildung von der natürlichen über die konventionelle zur autonomen Ich-Identität in ihrer Stufenabfolge dargelegt. Und auf Fetz schließlich reicht der Nachvollzug der Reflexionsentwicklung von der Objekt- zur Mittelreflexion und die Gewissensbildung vom präkonventionellen über das 212
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konventionelle zum autonomen Gewissen als Angelpunkt von Moralität und Identität zurück. All diesen Entwicklungslinien sind einige Eigenschaften gemeinsam: Entwicklung erweist sich dabei als ein Prozess, in dem sich das Subjekt mehr und mehr von seiner anfänglichen Bindung an die konkreten Handlungen und deren spezifischen Bedingtheiten zu lösen vermag. Im Verlaufe der kognitiven Entwicklung gelingt dabei immer mehr die Loslösung vom Gegebenen und die Öffnung hin zum Möglichen bis schließlich als terminus ad quem ein transzendentalen Standpunkt eingenommen werden kann. Für diesen Prozess spielt die Symbolfunktion eine entscheidende Rolle. Denn sie macht eine simultane Repräsentation zeitlich aufeinander folgender Vorgänge möglich. Damit endet das Ausgeliefertsein an die Affektion durch das je Gegebene, endet das Gefangensein in der konkreten Raumzeit. Es eröffnet sich uns die Sphäre des Möglichen, der überräumlichen und überzeitlichen Wahrheiten, so dass Selbstfindung und der Selbstbestimmung zu Themen einer bewussten Lebensführung werden können. Nun ist es möglich, uns selbst zum Thema unserer Reflexion machen können, uns ins Verhältnis zu unseren Wünschen zu setzten. Damit eröffnet sich ein völlig neuer Umgang mit den Dimensionen der Zeit. Die Vergangenheit erhält ihre Tiefe, die Zukunft ihre Offenheit und die Gegenwart ihre Vergänglichkeit. Aus der Raumzeit des Daseins wird ein Gestaltungsspielraum für das eigene Dasein. Und eine solche Veränderung im Gefüge der Person geht natürlich an den anderen Entwicklungssträngen nicht spurlos vorüber: Das moralische Urteilen verändert sich. Die heteronome Kindermoral muss einer konventionellen Moral weichen und diese – wenn alles gut geht – einer autonomen. Ein ähnliches Bild zeichnet sich in der Entwicklung der Interpersonalbeziehungen und der Identität ab. Im Gewissen schließlich zeitigen sich die Veränderungen in Moral und Identität am ausdrücklichsten. Denn hier kommen beide Entwicklungsstränge zur Deckung. Das moralische Urteilen nimmt ja im Normalfall nicht nur den Anderen in den Blick, sondern auch das eigenen Handeln und Verhalten. So verstanden ist das Gewissen in eins eine moralische Norminstanz und ein fundamentaler Identitätsträger. (8) Damit ist klar: Freiheit ist kein exklusives Vermögen erwachsener Menschen, das nur den Erwachsenen gegeben ist. Denn gerade in der analytischen Entwicklungspsychologie gibt es eine Vielzahl von BeleA
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gen dafür, dass der Säugling von Anfang um seine Freiheit ringt. Vier solcher Ebenen lassen sich analog zur Psychogenese des epistemischen Subjekts unterscheiden: Da ist zunächst die Grundlegung und Ausbildung prä-intentionalen Verhaltens im sensomotorischen Stadium zu nennen. Das erste fundamentale Etappenziel der Entwicklung personaler Willensfreiheit besteht in nichts Geringerem als der Ausbildung einer aufs Praktische fokussierten teleologischen Haltung, die sich als eine Vorstufe echter Intentionalität qualifizieren lässt. Natürlich ist diese erste Ebene menschlicher Willensfreiheit nicht unversehends mit einem Mal erreicht. Wir können vielmehr drei Teilstadien unterscheiden, die zugleich Stufen der Urheberschaft des Selbst auf dieser sensomotorischen Ebene ausmachen. Es sind diese: die physische, die soziale, schließlich die teleologische Stufe. Auf der physischen Stufe situiert sich eine erste selbstkonstitutive Kausalbeziehung: Der Säugling tritt dabei von Geburt an als kleiner Akteur auf, dessen anfängliche motorische Aktionen kausale Einflüsse auf die Umwelt ausüben. Auch wenn er diese Aktionen seinem Selbst noch nicht zuzuschreiben vermag, er »wirkt« als physischer Akteur, dessen Aktionen Veränderungen in der angrenzenden Umwelt herbeiführen. Doch dies stellt nicht die einzige Form frühkindlicher Aktivität dar. Säuglinge beteiligen sich darüber hinaus von Geburt an aktiv an artspezifischen Interaktionen mit ihren Betreuungspersonen (vgl. Stern 1992: Die Lebenserfahrung des Säuglings). In ihrem Verlauf beeinflussen die Äußerungen des Kindes die Verhaltensreaktionen und Emotionsäußerungen seiner Betreuungspersonen. Damit ist die zweite Stufe der ersten Ebene erreicht. Ein frühes Verstehen des Selbst als sozialer Akteur beinhaltet die Repräsentation der Kausaleffekte, die von den Kommunikationsäußerungen in der sozialen Umwelt ausgelöst werden. (Neisser 1988: Five kinds of self-knowledge, S. 35–59). Wenn – etwa im Alter von acht bis neun Monaten – Säuglinge beginnen (vgl. Tomasello 1999: The Cultural Origines of Human Cognition), Aktionen von ihren Resultaten zu unterscheiden und sie als Mittel zu repräsentieren, die dazu dienen, bestimmte Zielzustände herbeizuführen und sogenannte interessante Erscheinungen andauern zu lassen, dann können wir von dem Erreichen einer dritten, von der physischen und sozialen verschiedenen Stufe sprechen. Auf ihr wird das Selbst als ein teleologischer Akteur verstanden (Csibra und Gergely 1998: The teleological Origins of mentalistic action explanations: A developmental hypothesis, S. 255–259); ein solcher teleologischer Akteur vermag es nun, un214
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ter verschiedenen möglichen Handlungen die jeweils von seiner Warte aus vielversprechendste auszuwählen. Wie dieser knappe Abriss zeigt, stellt die Freiheitsentwicklung in der sensomotorischen Phase ein hochkomplexes Transformationsgeschehen dar. An seinem Ende steht ein teleologisches oder prä-intentionales Selbst. Die präkonventionelle Freiheit beschreibt die zweite Stufe der Freiheitsentwicklung. In ihr kommt es zur Ausbildung bewusster Intentionalität im präoperatorischen Denken. Und auch auf dieser Stufe können wir zwei Teilstadien unterscheiden: einmal die Ausbildung einer »naiven Theorie des Mentalen« (Fonagy, Gergely u. a. 2004: Affektregulierung, Mentalisierung und Entwicklung des Selbst, S. 246) charakterisiert und dann die Situierung eines repräsentationalen oder autobiographischen Selbst. Der entscheidende Entwicklungsschritt in der Selbstentwicklung und der damit korrespondierenden Entwicklung menschlicher Willensfreiheit ist damit im Übertritt vom teleologischen Verhalten zum intentionalen Handeln. Dieser qualitative neue Entwicklungsschritt lässt sich paradigmatisch an der Ausbildung der Fähigkeit festmachen, dem Anderen und dem eigenen Selbst »vorausgehende Intentionen« (Searle 1987: Intentionalität) zuzuschreiben. So erlaubt es das Konzept der Intentionalität nunmehr, zielgerichtete Aktionen zu erklären und vorherzusagen. Erste Anzeichen dafür lassen sich an Kleinkindern im Alter von zwei Jahren beobachten, ein Umstand der sich daran festmachen lässt, dass Kinder dieses Alters nun im Stande sind zu verstehen, dass signifikante Andere vorgängige Intentionen oder Wünsche haben können, die für deren Tun und Unterlassen ausschlaggebend sind. Dies impliziert die Fähigkeit, intentionale mentale Zustände zu repräsentieren, womit zugleich das Konzept der Repräsentation mentaler Verursachung inbegriffen ist (vgl. Fonagy, Gergely u. a. 2004: Affektregulierung, Mentalisierung und Entwicklung des Selbst, S. 246). Kinder der präkonventionellen Ebene sind alles andere als willenlose Subjekte, sie haben allem Anschein nach einen mitunter unbeugsamen Willen. Aber der frühkindliche Wille ist vornehmlich nach außen ausgreifend nur kaum nach innen blickend. Denn noch fehlt das dazu notwendige repräsentationale oder autobiographische Selbst. Aber nirgends wird diese intentionale Haltung greifbarer als am erstmaligen Auftauchen des sprachlich geäußerten Willens, der beim etwa Zweijährigen in der spontanen Benennung spezifischer eigener Wünsche oder der anderer Personen mit dem Verbum »wollen« in ErscheiA
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nung tritt (vgl. Bartsch und Wellman 1995: Children talk about the mind). Mit diesem »ich will« zeigt der etwa Zweijährige, dass er nun zwischen seinen eignen und subjektiven Wünschen und denen anderer unterscheiden kann (vgl. Fonagy, Gergely u. a. 2004: Affektregulierung, Mentalisierung und Entwicklung des Selbst, S. 244). Mit der Ausbildung eines repräsentationalen oder autobiographischen Selbst kommt die präkonventionelle Freiheit zu ihrem vorläufigen Abschluss. Der entscheidende Schritt dafür besteht in der »kausalen Selbstbezüglichkeit« (Searle 1983: Intentionalität). Diese höhere Form des Selbst entwickeln Kinder im Alter von etwa vier bis fünf Jahren (vgl. Fonagy, Gergely u. a. 2004: Affektregulierung, Mentalisierung und Entwicklung des Selbst, S. 213). Dieses autobiographische Selbst umfasst die Fähigkeit, die repräsentationalen und kausal selbstbezüglichen Eigenschaften intentionaler mentaler Zustände zu begreifen. Die bloße Erinnerungsrepräsentanz wird nun durch »Gedächtnis für die kausale Wissensquelle« (Fonagy, Gergely u. a. 2004: Affektregulierung, Mentalisierung und Entwicklung des Selbst, S. 251) ergänzt. Damit rückt erstmals die je eigene Lebensgeschichte in den Mittelpunkt der Betrachtung: von nun an kann die eigene Biographie als Auto-Biographie verstanden werden. Alles in allem dominiert zunächst die Vergrößerung bestehender Freiheitssphären nach außen. Dies entspricht dem kindlichen Explorationsverhalten. Gleichzeitig spielt die Bindung an feste Bezugspersonen eine für die weitere Entwicklung fundamentale und für das Werden der Person konstitutive Rolle. Dies entspricht dem zweiten großen menschlichen Verhaltenssystem, dem kindlichen Bindungsverhalten. Die Aneignung des eigenen Willens nach innen hingegen spielt erst mit der Ausbildung eines autobiographischen Selbst eine Rolle. Weil das formale Denken noch nicht ausgebildet ist, und weil das kindliche Denken im Konkreten verfangen ist, bleibt der Einfluss des Überlegens auf den Willen aufs Praktische beschränkt, wenngleich das Ausmaß dieses Einflusses des praktischen Überlegens auf die Bestimmung des Willens umfassend ist: Es formt von Grund auf die kindliche Verstehensmatrix. Der Wille folgt dem Überlegen, das Überlegen aber kann nicht aus seinen präoperatorischen Grenzen. Aber diese Determination ist nicht umfassend; es situiert sich eine Freiheit im Denken, die es später so nie wieder geben wird: die phantasievoll getragene Freiheit in der Weltbildkonstitution, die Welterklärung und Sinnstiftung zugleich ist. In der konventionellen Freiheit werden die Bestimmungen des 216
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Willens vielschichtiger und subtiler. Mit der Ausbildung konkreter Operationen tauchen zwei neue Errungenschaften auf: die Reversibilität des Denkens und der Geschlossenheit der Struktur. Konventionelle Freiheit ist konkretoperatorischen Ursprungs. Der spezifisch beschränkten Geschlossenheit konkretoperatorischen Denkens entsprechen auf der Reflexionsseite die Objektreflexionen, die insofern objektivistisch sind, als sie das Gegebene für das Umfassende nehmen und ein Hinterfragen der je eigenen Konstitution und Legitimität dieses Gegebenen nicht zulassen. Was die konkreten Operationen für den konkreten Gegenstandsbereich sind, das sind für die konventionelle Freiheit die konkreten Gegebenheiten der einschlägigen Konventionen. Für die Identitätsentwicklung bedeutet dies eine konventionelle Identität, und für die Moralentwicklung schließlich eine an den Normen und Verhaltenserwartungen der Gemeinschaft oder Gesellschaft orientierte Moral. Analog zu anderen Entwicklungssträngen lassen sich auch hier zwei unterschiedliche Stadien postulieren. In einem ersten Schritt ist es das Primärsystem der Familie oder der Peers, kurz: die Gemeinschaft, die das Denken prägt. Erst in einem zweiten Teilstadium weitet sich diese Bedingtheit auf das ganze soziale System aus: die Gesellschaft. Damit haben wir es mit einem Objektivismus in anderer, nämlich in praktisch-sozialer Form zu tun. In einer besonderen Weise dominiert dabei das Nachaußen der Willensfreiheit das Nachinnen derselben. Durch das Verinnerlichen gemeinschafts- oder gesellschaftsrelevanter Rollendispositionen in das Gesamtgefüge der Person wird die Freiheit des eigenen Willens zwar nachhaltig thematisiert, aber eben immer unter den Vorzeichen äußerer, sozial getragener Vermittlung. Wir sind es, die aus der Perspektive eines verinnerlichten generalisierten Anderen unseren Willen bestimmen, und, ohne es zu merken, folgen wir fremden Verhaltenserwartungen. Der Wille ist zwar frei in dem Sinne, als er dem Überlegen und Entscheiden folgt, aber die Überzeugungen selbst, die sich in den Entscheidungsprozess unbemerkt eingeschlichen haben, werden nicht erkannt, thematisiert und artikuliert. Sie sind bewusst und in ihrer Wirkung hoch virulent, aber nicht als fremden Ursprungs bewusst. Konventionelle Freiheit geht zwar über die bloße Abwesenheit äußerer Begrenzungen hinaus, konstituiert sich aber als eine Freiheit in der Form der Übereinstimmung. Insofern bedeutet konventionelle Freiheit zwar Freiheit, aber noch keine Autonomie. Konventionelle Freiheit zu erlangen, so scheint es, ist keine besonders große Leistung. Es ist mehr ein Entwicklungsgeschehen, das ohne A
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eigenes Dazutun zwar nicht gelingen kann, aber auch normalerweise nicht schief geht. Der Mensch wird, was er eigentlich immer schon war: ein soziales Wesen, ein Gemeinschaft- und Gesellschaftswesen. Anders verhält es sich mit der autonomen Freiheit als Selbstbestimmung. Kam es bei der Sozialisation und der konventionellen Freiheit eher auf die anderen und ihre Erwartungen an, so kommt es nun auf uns selbst an: Die Autonomie in der Bestimmung unseres Willens und damit die Autonomie unserer Freiheit ist etwas, das wir erlangen können, indem wir unseren Willen selbst und seine Bedingungsgeschichte aneignen. Und dazu kommt es auf das an, was Mead die »Selbstbehauptung« (Mead 1969: Geist, Identität und Gesellschaft, S. 203) nennt. Natürlich kann ein autonomer Wille kann nicht in stiller Versenkung oder intrapersonaler Vereinzelung erlangt werden. Autonomie macht ohne Interpersonalität keinen Sinn. Aber es macht einen Unterschied aus, ob wir einen im Austausch mit anderen entwickelten und durch sie veränderten selbstständigen Willen vor uns haben, oder ob er von anderen bloß übernommen, durch sie manipuliert ist. Wir müssen das Bedingungsgeschehen, um eine Manipulation abwehren zu können, artikulieren, verstehen und bewerten. Dazu brauchen wir über das konkretoperatorische Denken hinaus das formaloperatorische, denn letzteres erlaubt nun, über ersteres hinaus Operationen an Operationen. Dieser Übergang manifestiert sich hinsichtlich der Reflexionstätigkeit des Erkenntnissubjekts in der Aufhebung der Objektdurch die Mittelreflexion. Der Betrachtende nimmt dabei nicht bloß die Welt, sondern auch sein Bild von der Welt und mit ihm zugleich sich selbst in den Blick. Von dieser durch eine systematisch angewandte Mittelreflexion einheitlichen Reflexionsgestalt her ist nun das möglich, was dem Objektivismus der Objektreflexion entweder unmöglich war oder nur unzureichend gelang: eine kritische Wirklichkeitserfassung, die eine gelingende Selbstinterpretation und Identitätsfindung einschließt, und von daher eine verständnisvolle Aneignung tradierter Wertvorstellung im Kontext der eigenen Lebensgeschichte. Erst im Kontext dieser neuen Einheit lässt sich dann der tiefere Sinn der Welt und besonders des eigenen Lebens erschließen. Und das erlaubt uns, uns in einem emphatischen Sinn als Urheber unserer Taten, als Autoren unserer Lebensgeschichte zu erfahren. Gingen die präkonventionelle und die konventionelle Freiheit in ihrer Genese jeweils von außen nach innen, eine grundlegende Richtungsbestimmung, die sich am deutlichsten an der Moralentwicklung 218
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Eine strukturgenetische Theorie der Willensfreiheit
ablesen lässt, so ändert sich der immanente Richtungssinn des sich aneignenden Willens fundamental. Das Wesentliche sind nicht mehr die äußeren Umstände, sondern die sprichwörtliche Tiefendimension der eigenen Person. Denn durch die Aneignung unseres Willens gehen wir uns gleichsam selbst auf den Grund, wodurch Selbstbestimmung im Vollsinn des Wortes erst möglich wird. In einem zweiten Schritt weitet sich diese Selbstbestimmung wieder nach außen. Doch dieses Nachaußen ist nicht mehr das Entscheidende. Indem wir selbst es sind, die unseren Willen bestimmen, und indem diese Bestimmung durch uns selbst andere Bestimmungen zu umgreifen und aufzuheben beginnt, eröffnen wir uns die Freiheit unseres Willens als Selbstbestimmung. In der Freiheit der Selbstbestimmung haben wir den terminus ad quem der Freiheitsentwicklung erreicht, der zugleich terminus a quo eines weiteren Aneignungsgeschehens ist. (9) Damit können wir abschließend einige Ergebnisse der hier vorgelegten strukturgenetischen Theorie der Willensfreiheit zusammenfassen: Freiheit ist nicht nur bedingt, sondern in einem umfassenderen Sinn entwicklungsbedingt. Dadurch fügt sich Freiheit nahtlos in den biologischen Rahmen ein. So verstanden stellt Freiheit die höchste Form der Selbstregulation dar, wie sie so entwickelt nur bei Menschen anzutreffen ist. Denn nur der Mensch kann sich sein Wollen zurechnen, kann sein Wollen sprachlich artikulieren und so zu seinem Wollen Stellung nehmen. Frei ist in diesem Sinne der überlegte Wille, der sich durch Gründe binden lässt. Freiheit kennt ferner zwei Richtungen nach innen und nach außen, genauer: einen erkenntnismäßig getragenen Explorationsdrang des Willens nach außen, in dem immer Neues an subjekteigene Strukturen assimiliert wird; und dann ein das eigene Selbst und seine Freiheitssphären ergründender Aneignungsvorgang nach innen. Die Aneignung des eigenen Willens erweist sich dabei als dasjenige Mittel, das geeignet erscheint, unseren Willen und infolge dessen auch uns selbst zu formen und damit Einfluss auf das eigene Entwicklungsgeschehen zu nehmen. Damit bringt das Konstrukt der Aneignung des eigenen Willens als das entscheidende strukturgenetische Vermittlungsvermögen das zusammen, was unvereinbar erschien: den biologischen Mechanismus der Selbstregulation und das philosophische Postulat der Selbstbestimmung. Eben dadurch, dass wir uns unsere bedingte Freiheit aneignen, werden wir zu den Autoren unserer Lebensgeschichte. A
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Die Rationalität der Emotionen. Eine Ergänzung zu Piagets Theorie Thomas Kesselring
1.
Einleitung
Piaget ist zeitlebens an erkenntnistheoretischen Fragen interessiert gewesen. In seinen psychologischen Forschungen hat er sich auf die kognitive Seite der Entwicklung konzentriert und die emotionale bzw. affektive Seite weitgehend (wenn auch nicht ganz) vernachlässigt. Die Beziehung zwischen Kognition und Emotion (Intelligenz und Affektivität) war Thema zweier Vorlesungen, die er an der Sorbonne gelesen, aber Jahrzehnte lang nicht zur Publikation freigegeben hat (Piaget 1954, 1981). Bis Anfangs der achtziger Jahre sind diese Vorlesungen praktisch unbekannt geblieben. Diese Vorlesungen bildeten einen der seltenen Anlässe, bei denen Piaget sich über die emotionale bzw. affektive Seite des menschlichen Verhaltens (»l’affectivité«) äußerte. Er interpretierte die »affectivité« als Quelle der Verhaltensmotivation – im Gegensatz zur Intelligenz, auf die er Form oder Struktur des Verhaltens und der Denkprozesse zurückführte. Die Vielfalt der Gefühle und emotionalen Regungen ist in dieser Vorlesung ebenso wenig Thema wie ihre Entwicklung. In dieser Hinsicht klafft in Piagets Werk eine Lücke. Wie ich im Folgenden zeigen möchte, lässt sich diese Lücke stopfen, ohne dass man der Theorie Piagets untreu zu werden braucht. Es erweist sich nämlich – so die These meines Beitrags – durchaus als möglich, die Entwicklung der Emotionen im Piagetschen Geist nachzuzeichnen. In meinen Ausführungen will ich mich unter Anderem auf eine Reihe von emotionalen Phänomenen beziehen, die im zwischenmenschlichen Umgang eine wesentliche Rolle spielen – wie Stolz, Scham, Neid, Dankbarkeit, Groll, Entrüstung usw. –, die aber weder von Piaget noch (wie ich vermute) von der Psychoanalyse seiner Zeit genauer analysiert worden sind. Ich beginne mit drei Bemerkungen, deren eine sich auf die Natur der Emotionen, die zweite auf den Prozess der Dezentrierung, wie PiaA
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get ihn beschrieben hat, und die dritte auf den kognitiven und reflexiven Gehalt der Emotionen und auf ihre Rolle in der sozialen Interaktion bezieht (Abschnitt 2.–4.). Danach beschreibe ich in knappen Zügen die Entwicklung der Emotionen (5.) und gehe zum Schluss auf die Rolle der Kognitionen bei den komplexen und speziell den moralischen Emotionen ein (6.).
2.
Der Begriff der Emotion
Unter einer Emotion verstehe ich im Wesentlichen dasselbe wie ein Gefühl. Manche Autoren (z. B. Damasio 2003) beziehen den Begriff »Emotion« auf die äußere Seite eines emotionalen Zustands – auf dasjenige, was man davon beobachten kann – und reservieren den Begriff »Gefühl« für die innere, subjektive Erfahrung der Emotionen. Von größerer Bedeutung ist die Unterscheidung zwischen Gefühl und Empfindung. Tastempfindungen, visuelle, akustische, Geruchs-, Geschmacksempfindungen usw., sind unmittelbarer an körperliche Zustände gebunden als Gefühle. Diese kennzeichnen zwar ebenfalls körperliche Zustände, doch weisen sie einen (mitunter recht komplexen) kognitiven Gehalt auf, der den Empfindungen abgeht. Gefühle sind auch in viel höherem Masse durch kognitive Prozesse beeinflussbar als Empfindungen, ja es gibt Beispiele von Emotionen – wie Empörung oder Dankbarkeit –, für deren Verständnis wir nichts über ihre Physiologie zu wissen brauchen. Alle Gefühle enthalten einen protopropositionalen Kern, d. h. (unausdrücklich) ein Urteil, und das verleiht ihnen den Anstrich von Rationalität. Piaget hat stets betont – und zwar völlig zu Recht –, dass »Affekte«, wie er sie nannte, einen rationalen Kern enthalten. Und er hat – wiederum völlig zu Recht – die kognitive Entwicklung als einen Konstruktionsprozess interpretiert, in dem sich Operationssysteme aufbauen, deren intellektueller Gehalt sukzessive zunimmt und deren logische Stringenz von unserem emotionalen Leben immer stärker, und schließlich fast völlig, unabhängig wird. Allerdings ist es ihm entgangen, dass nicht nur die intellektuellen Operationen, sondern auch die Gefühle sich entwickeln und dass sie dabei ebenfalls immer komplexer werden und einen immer reicheren rationalen Gehalt (eine »Struktur«) gewinnen, ohne jemals ihre affektive Färbung zu verlieren. –
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Den Nachweis für diese These zu erbringen, ist das Hauptanliegen dieses Beitrags.
3.
Die kognitive Entwicklung als Dezentrierungs-Prozess
Piaget hat die kognitive Entwicklung in Stufen und Stadien unterteilt. Die Differenzierung in Stadien ist in seinem Werk nicht überall gleich. In den Werken, die zwischen 1936 und 1955 erschienen sind, hat er die intellektuelle Entwicklung in vier Stufen differenziert (sensomotorische, präoperationale, konkret und formal operationale Stufe), deren jede zwei, drei oder sechs Stadien umfasst. Gleichzeitig hat er wiederholt betont, dass sich auf den einzelnen Stufen wesentliche Entwicklungsschritte in jeweils analoger Weise auf immer höherer Ebene wiederholen. Versucht man, diese Aussage Piagets mit seiner Stadieneinteilung zu vereinbaren, ohne die vielfältigen Beispiele, die er zur Veranschaulichung heranzieht, zu verzerren, so drängt sich eine Rekonstruktion auf, in der jede Stufe sich in drei Stadien untergliedern lässt (vgl. die Zusammenfassung in Kesselring 1992, 1999, S. 100–149 sowie 2009). Was den Begriff der »Dezentrierung« betrifft, so hat Piaget damit die Lockerung einer egozentrischen Haltung bzw. die Befreiung aus der Befangenheit in der eigenen kognitiven bzw. räumlichen oder sozialen Perspektive bezeichnet. Dieser Lockerungs- und Befreiungsprozess verläuft jeweils über mehrere Stadien. Während aber der junge Piaget die kognitive Entwicklung vom Säugling bis zum Erwachsenen als einen einzigen Dezentrierungsprozess begriffen hat, schrieb er Mitte der dreißiger Jahre die Entwicklung in einer grundlegenden Hinsicht anders, nämlich als einen zyklischen Prozess, wobei sich auf jeder Entwicklungsstufe (oder zumindest auf dreien der vier Stufen) je spezifische Dezentrierungsprozesse abspielen. Wenn ich nun einen solchen Dezentrierungsprozess stichwortartig nachzeichne, halte ich mich an eben diese zyklische Konzeption.
3.1. Erstes Stadium: Starker Egozentrismus Das erste Stadium einer zyklisch strukturierten Entwicklungsstufe ist, wie erwähnt, durch eine egozentrische Haltung gekennzeichnet. Diese A
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äußert sich darin, dass das Subjekt perspektivenbezogene Unterschiede nicht berücksichtigt. So schreibt beispielsweise ein Säugling bis mindestens ins Alter von 8–10 Monaten einem Gegenstand noch keine Existenz zu, die vom unmittelbaren taktilen, visuellen, akustischen usw. Kontakt unabhängig wäre. Sobald der unmittelbare sinnliche oder körperliche Kontakt abreißt, zieht der Gegenstand keinerlei Aufmerksamkeit mehr auf sich – so als existierte er nicht mehr. Im ersten Stadium der prä-operationalen Stufe (d. h. bei einem Kind von 2–3 Jahren) zeigt sich der Egozentrismus in Verhaltensweisen, die sich so interpretieren lassen, als ob das Kind auf der Vorstellungsebene ganz in seiner Perspektive (im räumlichen und sozialen Sinn) befangen bliebe und diese gleichsam verabsolutierte. Es macht sich noch nicht bewusst, dass die Art und Weise, wie man die Dinge wahrnimmt, von der besonderen räumlichen (und im übertragenen Sinn auch persönlichen) Perspektive abhängt, die man ihnen gegenüber einnimmt. Aus diesem Grunde denkt es auch, seine Ideen und Gefühle könnten von anderen Personen geteilt werden. Ein weiterer Aspekt dieser egozentrischen Denkweise liegt darin, dass das Kind Dinge noch nicht zueinander in Beziehung setzt und sie nicht miteinander vergleicht. Es stellt zwar beispielsweise fest, dass die eine Puppe groß und die andere klein ist, verschließt sich aber noch dem direkten Vergleich (»grösser als«, »kleiner als« usw.). Der Komparativ kommt in der Kindersprache dieser Phase nicht vor. Auch unterscheidet das Kind noch nicht klar zwischen der materiellen Wirklichkeit der Dinge und den Vorstellungen, die sie in uns wachrufen. Ebenso wenig unterscheidet es zwischen den Bereichen des Belebten und des Unbelebten. Das Weltbild des kleinen Kindes ist animistisch.
3.2. Zweites Stadium: Schwacher Egozentrismus; beginnende Dezentrierung Das zweite Stadium ist von einer schwächeren Form von Egozentrismus geprägt: Das Kind entdeckt den Unterschied der Perspektiven, aber es gelingt ihm noch nicht, diese miteinander zu koordinieren. Auf der sensomotorischen Stufe, im Alter von 6–9 Monaten, lebt der Säugling beispielsweise noch in einer Welt von »sensorischen Bildern« (»tableaux sensoriels«). Wenn man beispielsweise dem hungrigen Kind eine volle Milch224
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flasche zeigt und diese in dem Augenblick, in dem es seine Arme nach ihr ausstreckt, um 180 Grad dreht, so zieht es die Hände zurück: Es reagiert so, als handelte es sich um einen anderen Gegenstand. Anders gesagt, die Milchflasche stellt für das Kind noch nicht (in Piagets Terminologie) einen »permanenten Gegenstand« mit dauerhafter Existenz in Raum und Zeit dar, sondern lediglich ein »sensorisches Bild«: Man kann es betrachten, berühren, schütteln, zum Mund führen usw. Der Umstand, dass es sich den verschiedenen Sinnen unterschiedlich präsentiert, deutet darauf, dass es als etwas vom erkennenden Subjekt mindestens teilweise Unabhängiges begriffen wird, das seinem Willen nicht unterworfen ist. Der anfängliche Egozentrismus hat sich also ein Stück weit gelockert. Sobald das Baby jedoch den sensorischen Kontakt zu diesem »sensorischen Bild« verliert oder sobald dieses sich in ein ungewohntes Etwas verwandelt, bricht seine Identität in sich zusammen, und es scheint sich in Luft aufzulösen bzw. in etwas ganz Anderes zu verwandeln. – Erst im Alter von ca. 18 Monaten gelingt dem Baby die vollständige »Dezentrierung«: Nun nimmt es einen Gegenstand als etwas wahr, dessen Existenz von der Eigenaktivität und der Sinneswahrnehmung des Kindes ganz unabhängig ist. Der Gegenstand hat nun gleichsam ein Eigenleben gewonnen. In einer mathematischen Sprache kann man sagen, der »permanente Gegenstand« verdankt sich einer Funktion, der gemäß sich bestimmte sensorische Bilder durch entsprechende Vorkehrungen in andere sensorische Bilder überführen (bzw. vorübergehend zum Verschwinden bringen) lassen. Man kann zwar die »Bilder« gemäß dieser Funktion manipulieren, die Funktion jedoch ist von unserem Willen, aber auch von unserer Wahrnehmungsperspektive, vollständig unabhängig. Die »sensorischen Bilder«, die sich mit einem Bleistift erzeugen lassen, sind gänzlich andere als diejenigen, die von einem Hammer oder einem Buch ausgehen … Auf der prä-operationalen Stufe ist das zweite Stadium durch die Fähigkeit charakterisiert, zwei Dinge zueinander in Beziehung zu setzen und miteinander zu vergleichen: »Die Katze ist kleiner als der Hund«, »das Buch liegt links vom Heft«. Doch lassen sich die Ergebnisse mehrerer solcher Vergleiche noch nicht miteinander koordinieren. Das Kind versteht deswegen die Umkehrbarkeit (»réversibilité«) von Beziehungen aller Art noch ebenso wenig wie die Transitivität räumlicher und mathematischer Beziehungen. Mit etwa vier Jahren ist ein Kind in der Lage, zwischen links und rechts zu unterscheiden, A
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aber es begreift die Vertauschung von links und rechts bei einer Drehung um 180 Grad noch nicht. Und wenn man es vor eine Gebirgslandschaft aus Pappmaché setzt, ahnt das Kind zwar, dass eine Puppe, die auf der gegenüber liegenden Seite dieser Landschaft sitzt, eine andere Ansicht davon hat als es selber, aber es ist nicht in der Lage, unter den fotografischen Ansichten der Gebirgslandschaft diejenige zu identifizieren, die der Ansicht der Puppe entspricht (1948, Kap. VIII).
3.3. Drittes Stadium: Vollständige Dezentrierung Während der Phase, die zur vollständigen Dezentrierung führt, gelingt es dem Kind schließlich, die (räumlichen ebenso wie sozialen) Perspektiven korrekt miteinander in Beziehung zu setzen, und es entdeckt die Beziehungs-Eigenschaft, die Piaget als »réversibilité« bzw. »renversabilité« bezeichnet: Gegen Ende der sensomotorischen Stufe versteht das Baby, dass jeder Gegenstand eine Kehrseite hat. Und es weiß, dass es verschiedene Routen gibt, um von einer Ecke eines Zimmers zur gegenüberliegenden Ecke zu gelangen und dass es sich über die eine Route hin- und die andere zurückbewegen kann. Gegen Ende der präoperationalen Stufe (im Alter von 6–8 Jahren) ist das Kind in der Lage, verschiedene räumliche oder soziale Perspektiven untereinander zu koordinieren. Mit etwa 9 Jahren gelingt es ihm, der Perspektive, unter der die Puppe das Pappmaché-Gebirge wahrnimmt, die richtige Ansicht (Fotografie) zuzuordnen. Diese Dezentrierungs-Leistung setzt die Fähigkeit voraus, ein System räumlicher Beziehungen – oder, analog im sozialen Kontext, ein System sozialer Beziehungen – aufzubauen, in das die eigene Position als eine unter vielen mit eingeht. Diese Fähigkeit, die eigene Perspektive, die eigenen Handlungen, die Handlungsziele und -motive und die eigenen Vorstellungen zu reflektieren, bezeichnete Piaget als »reflektierende Abstraktion« 1 Dieser Reflexionsfähigkeit verdankt sich auch die Entwicklung der Fähigkeit, logische, mathematische, räumliche, soziale usw. Beziehungen miteinander zu koordinieren. Auf jeder Entwicklungsstufe führt die reflektierende Abstraktion zum Aufbau eines Systems kognitiver Strukturen, die sich durch das Auftreten von Invarianten auszeichnet: Am Ende der sensomotorischen Stufe bildet das »objet permanent« eine 1
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Diesen Begriff hat Piaget 1950 eingeführt.
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solche Invariante, am Ende der prä-operationalen Stufe der Begriff der invarianten Menge oder stofflichen Quantität, die bei Formveränderungen intakt bleibt, und am Ende der Stufe der konkreten Operationen das Konzept der Proportionalität.
4.
Kognitiver Gehalt der Emotionen, reflexive Emotionen, soziale Emotionen
Emotionen spielen eine entscheidende Rolle bei der Steuerung der Motivation. Die meisten Emotionen treten, wie schon Spinoza (1677) festgestellt hat, paarweise auf – Freude / Ärger, Überraschung / Enttäuschung, Liebe / Hass usw. Bei den einfachsten Emotionen steigert die eine die Motivation, die andere bremst sie. Im Unterschied zu bloßen Empfindungen enthalten Emotionen außerdem einen kognitiven Gehalt – genauer: einen Urteilskern, der mehr oder weniger komplex ist (vgl. Kasten 2). Man kann einer Emotion auch ein Proto-Urteil zuordnen, dessen Informationsgehalt, erkenntnistheoretisch gesprochen, sich nicht in eine deskriptive und eine evaluative Komponente unterteilen lässt. Kasten 1: Gefu¨hle/Emotionen und die ihnen zugrunde liegenden Urteilskerne Gefu¨hl
Zugrunde liegendes Proto-Urteil (es ist stets deskriptiv und wertend zugleich!)
Angst
Das ist eine gefährliche Situation
Ekel
Das erregt Brechreiz
Stolz
Das habe ich in den Augen möglicher Beobachter gut gemacht
Lust
Das gefällt mir
Frustration
Das ist alles vergeblich
Ärger
Die Folgen einer Handlung sind unangenehm und hätten vermieden werden können
Neid
Jemand anderem ergeht es besser als mir, ohne dass er/sie es verdient hat
Empörung / Entrüstung
Er/sie hat gegen eine moralische Norm verstoßen und andere Personen geschädigt
Schadenfreude
Dass er / sie leiden muss, ist gut!
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Wie komplex der kognitive Gehalt von Emotionen sein kann, zeigen Beispiele von Emotionen / Gefühlen, die sich auf andere Gefühle beziehen: Ich schäme mich über meine Eifersucht. Oder: Ich möchte eigentlich nicht rauchen, deshalb stimmt mich das Vergnügen, das ich an jeder Zigarette habe, unzufrieden mit mir selbst. Oder: Ich fürchte mich vor fanatischem Hass. Oder: Ich würde mich erleichtert fühlen, wenn sich meine Beunruhigung über den Treibhauseffekt als unbegründet erwiese … Die Emotionen nutzen also ein höchst differenziertes Vokabular, und dieses setzen wir in der Kommunikation ständig ein (Kasten 2). Kasten 2: Wir kommunizieren mit Hilfe unserer Gefu¨hle 1. Wir haben Emotionen, wir haben Gefühle. 2. Gefühle können sich als Reaktionen auf das Verhalten Anderer einstellen. 3. Emotionen drücken ein wertendes Urteil (bzw. Proto-Urteil) aus. Sie drücken eine Erkenntnis und eine Wertung aus. 4. Wir können uns reflexiv zu unseren Emotionen verhalten und sie kontrollieren. Dies ist in der Kommunikation von großer Bedeutung. Wir treffen häufig Entscheidungen darüber, a. wie stark Emotionen / Affekte unser Verhalten beeinflussen dürfen; b. welche Emotionen / Affekte wir Anderen zeigen und welche wir vor ihnen verbergen wollen; 5. Wir reagieren auf ihre Emotionen – sei es verbal oder sei es spontan mit eigenen Emotionen – und beeinflussen sie damit. 6. Wir stellen uns die Lage, in der sich eine andere Person befindet, vor und schreiben ihr durch Empathie (indem wir uns in sie einfühlen, uns in ihre Haut versetzen) bestimmte Gefühle zu; und durch Beobachtung können wir sehr oft feststellen (wahrnehmen), ob ihr Verhalten die ihr zugeschriebenen Emotionen wirklich bezeugt oder nicht. 7. Wir beurteilen diese Emotionen wertend, wir vollziehen sie nach und heißen sie gut oder distanzieren uns von ihnen. 8. Wir wissen, dass andere Personen zu alledem (1.–7.) ebenfalls in der Lage sind und dass sie in ähnlicher Weise unsere eigenen Emotionen »evaluieren«. 9. Wir wissen, dass andere Personen es zu schätzen wissen, wenn wir uns ihren Emotionen gegenüber sensibel zeigen (uns für ihre Emotionen interessieren). 10. Wir kennen die gegenseitigen sozialen Erwartungen im Umgang mit unseren Emotionen und sind bereit, unsere Gefühle so weit zu beherrschen (zu regulieren), dass andere Personen sie gutheißen oder zumindest nachvollziehen können. Wir wissen auch, dass Sitten und Konventionen einen erheblichen Einfluss darauf haben, wie wir unser emotionales Leben gestalten.
Die in Kasten 2 angeführten Fähigkeiten sind in ihrer Mehrheit (alle außer den ersten drei) reflexiver Natur. Die unter 8.–10. erwähnten 228
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Fähigkeiten sind sogar in doppeltem Sinn reflexiv: Sie enthalten eine Reflexion auf die Reflexion von Emotionen (sei es eigener oder fremder). Außerdem finden sich – neben einer Reihe nicht reflexiver Emotionen, wie Freude, Vergnügen, Lust, Ekel, Trauer, Angst, Furcht, Langeweile, Überraschung und Interesse – auch ein paar Gruppen reflexiver Emotionen – Emotionen, die gleichsam reflexiv auf eine Handlung oder einen Sachverhalt Bezug nehmen. Somit lassen sich mehrere Gruppen von Emotionen unterscheiden (diese Gruppen überlappen sich). Die Emotionen einer ersten Gruppe schließen eine Reflexion der betroffenen Person auf sich selber bzw. auf ihr eigenes Verhalten ein. Dies ist der Fall bei Stolz und Scham, Verlegenheit und beim schlechten Gewissen. Die Emotionen einer zweiten Gruppe beziehen sich auf eine andere Person, auf ihre Aktivität, ihre Lebensweise, ihre Befindlichkeit: Dankbarkeit, Bewunderung, Neid, Eifersucht, Rachsucht, Verachtung, Schadenfreude sind Beispiele. Bei einer dritten Gruppe geht in die Emotion zudem der Bezug auf eine Konvention, eine soziale Erwartung oder eine moralische Norm (einen Standard) mit ein. Dazu gehören die sozialen Emotionen, wie Scham und Stolz und bestimmte moralische Emotionen, etwa Entrüstung bzw. Empörung, der Groll (bzw. auf jemanden »sauer« sein) und das Schuldgefühl. Wir entrüsten uns über jemanden, der gegen eine moralische Norm verstößt und dafür Dritte schädigt, ohne dass wir selber davon betroffen wären. Groll hegen wir gegen jemanden, der einer moralischen Norm zuwider handelt und uns damit Schaden zufügt oder uns verletzt. Schließlich empfinden wir Gewissensbisse (Schuldgefühle), wenn wir selbst in einer Weise gehandelt haben, die uns unrecht oder unmoralisch erscheint. Die Vermutung liegt nahe, dass sich die Emotionen mit höherem Komplexitätsgrad langsamer oder später entwickeln als diejenigen mit geringerem Komplexitätsgrad. Es erscheint zudem nahe liegend, dass eine Emotion, die sich auf eine andere bezieht, in der Entwicklung später auftritt als diese (in der Literatur werden komplexe Emotionen häufig als »sekundäre«, die einfachen als »primäre« bezeichnet).
5.
Dezentrierung im Bereich der Emotionen
Im Folgenden will ich zu zeigen versuchen, dass sich auch bei der Entwicklung der Emotionen ein Dezentrierungsprozess beobachten lässt. A
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Ich werde mich dabei auf verschiedene Beispiele aus der psychologischen Literatur beziehen. Es ist zu erwarten, dass eine Rekonstruktion der Emotionen zugleich die Entwicklung des sozialen Verstehens ein Stück weit zu erhellen vermag.
5.1. Die sensomotorische Stufe Auf dieser ersten und elementarsten Entwicklungsstufe beobachtet man einerseits eine Reihe primärer Emotionen, wie Freude, Angst, Wohlbefinden und Unwohlsein, Überraschung, Neugier, Interesse, später auch Ekel usw. All diese Emotionen stellen affektive Reaktionen auf erlebte Episoden dar. Man beobachtet auch schon erste Anzeichen von Empathie – der Fähigkeit, sich in die Haut einer anderen Person zu versetzen. Diese Fähigkeit ist für das soziale Leben insgesamt von größter Bedeutung. Piaget hat den epistemischen Rätseln der Empathie keine besondere Beachtung geschenkt. 2 Zur Entstehung und Entwicklung von Empathie finden sich bei ihm keine Angaben – bedauerlicherweise, denn damit hätte er wahrscheinlich einigen ernsthaften Missdeutungen oder Missverständnissen seiner Theorie vorgebeugt. Manche Autoren (z. B. Borke 1978) haben nämlich argumentiert, Piagets EgozentrismusTheorie würde durch die Tatsache, dass zwei- bis dreijährige Kinder ihre Gespielen und ihre Angehörigen zu trösten versuchen, wenn diese sich verletzt haben, widerlegt. Dieses früh auftretende Tröste-Verhalten zeugt in der Tat vom Vorhandensein einer bereits mit 2–3 Jahren erstaunlich weit entwickelten Empathie-Fähigkeit. Diese geht dem Bestreben, sich auch intellektuell in die Situation einer anderen Person hineinzudenken bzw., im Sinn von Habermas, mit ihr die Rolle zu tauschen, um viele Jahre vorher. Diese intellektuelle Fähigkeit ist neben der Einfühlungskraft für die Anwendung der Goldenen Regel (»Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu«) eine notwendige Voraussetzung. Die Einfühlungsfähigkeit allein reicht anscheinend für zuverlässiges altruistisches Verhalten nicht aus, obwohl sie dafür ebenfalls eine notwendige Voraussetzung darstellt. Was die Frage nach dem Ursprung der Empathie betrifft, so vermutet M. Hoffman, dass sie aus einer Gefühls-Ansteckung heraus ent2
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Über die Rätsel der Empathie, aus philosophischer Warte: Nagel 1974.
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steht. Während der ersten Lebenswochen lassen sich Säuglinge vom Weinen anderer Säuglinge in ihrer Nähe anstecken. Die These von der Gefühlsansteckung ist mit Piagets Beobachtungen völlig kompatibel. Das Neugeborene differenziert nicht klar zwischen sich und einem anderen Kind, das zu weinen beginnt – und zwar vollzieht es diesen Unterschied weder auf der körperlichen Ebene noch auf der Ebene der emotionalen Prozesse. Ähnliche Beobachtungen wie die der Gefühlsansteckung lassen sich bis in die zweite Hälfte des ersten Lebensjahrs anstellen; doch wird die Gefühlsansteckung nun zunehmend von einer Prise Nachahmung überlagert. Ein Mädchen im Alter von 11 Monaten beobachtet beispielsweise, wie ein anderes Kind hinfällt und zu weinen beginnt; es »blickt zunächst gebannt zu diesem Unglücklichen hinüber und verzieht anschließend sein Gesicht, als ob es gleich selbst zu weinen anfangen wollte, führt aber dann den Daumen in den Mund und lässt den Kopf auf den Schoss der Mutter sinken – eine Reaktion, die es immer dann zeigt, wenn es sich verletzt hat und Trost sucht« (Hofmann 1983, S. 248). Ein Junge im Alter von 12 Monaten befindet sich bei seinem Vater, als dieser stolpert und sich wehtut; der Junge reagiert, als ob er selbst von diesem Malheur betroffen wäre, schaut seinen Vater an, zeigt eine Leidensmiene und saugt dann am Daumen der einen Hand, während er mit den Fingern der anderen an seinem Ohrläppchen zieht (eine Geste, mit der er sich zu beruhigen pflegt; ebd.). – Nach der Rekonstruktion der Dezentrierungsprozesse (vgl. Abschnitt 3) handelt es sich hier offensichtlich um Beispiele des zweiten Stadiums (schwacher Egozentrismus) der sensomotorischen Stufe: Das Ritual der Selbstberuhigung wird unmittelbar durch die beobachtete Verletzung ausgelöst. Das beobachtende Kind reagiert anders als das Kind, das sich verletzt hat, aber es reagiert so, als hätte es sich ebenfalls verletzt. Zwischen dieser Verhaltensweise und dem »sensorischen Bild« besteht eine gewisse Parallele: Das beobachtende Kind macht sich von der Verletzung des anderen ein emotionales »Bild«. Dieses Bild hat genau so einen Ereignischarakter wie das »sensorische Bild«, und das beobachtende Kind ist noch nicht in der Lage, dieses Ereignis eindeutig einer bestimmten Person zuzuschreiben. Die folgenden Beispiele zeugen von einem höheren Maß an Dezentrierung, das die letzten Phasen der sensomotorischen Stufe charakterisiert: Ein Kind von 13 Monaten reagiert auf die Trauer eines Erwachsenen mit dem Ausdruck von Schmerzen und bietet ihm soA
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gleich seine Lieblingspuppe an. Ein anderes Kind (ebenfalls 13 Monate) beobachtet, wie seine Spielgefährtin hinfällt und zu weinen beginnt; um sie zu beruhigen, holt es seine Mutter (seine eigene!) und führt sie zu dem weinenden Kind, obwohl dessen Mutter ebenfalls im Raum anwesend ist. Das Kind begreift noch nicht, dass jedes Kind durch die eigene Mutter getröstet werden möchte (ebd.). In all diesen Fällen wird das sensorische Ereignis – Trauer, sich wehtun – einer anderen Person zugeschrieben; insofern liegt hier eine Dezentrierung vor. Aber diese Dezentrierung erfasst noch nicht alle Aspekte des sensorischen Ereignisses: die Weise, wie das Kind andere tröstet, ist egozentrisch! – Diesem intermediären Stadium zwischen Egozentrismus und Dezentrierung entspricht in der kognitiven Entwicklung die Transformation des sensorischen Bildes zum Schema des objet permanent. Bevor dieses in seinem Aufbau abgeschlossen ist, verharrt es stets in teilweiser epistemischer Abhängigkeit vom erkennenden Subjekt. In eben dieser Weise ist auch die beobachtete Person noch ein »Objekt«, das sich nicht in allen seinen Eigenschaften von der beobachtenden Person klar abhebt.
5.2. Prä-operationale Stufe Bei der Diskussion von Beispielen dieser neuen Entwicklungsstufe sollen im Folgenden zwei Seiten des emotionalen Austauschs unterschieden werden: einerseits die Gefühle, die das Kind empfindet, und andererseits die Art und Weise, wie es die Emotionen anderer Personen versteht. – Der folgende Abschnitt gilt letzterem. 5.2.1. Zur Entwicklung der Empathie Sobald ein Kind sich selbst als jemanden mit eigenem Körper betrachtet, schreibt es auch anderen Menschen einen Körper sowie einfache Gefühle zu. Es reagiert auf die Gefühle anderer, ist fähig, sie zu trösten oder auch umgekehrt, sie bewusst zu provozieren und zu verärgern. Aber es hat Mühe, sich das emotionale Eigenleben der anderen Person zu imaginieren. Im Symbolspiel experimentiert es zwar mit dem emotionalen Eigenleben des Anderen, indem es erlebte Szenen mit Variationen durchspielt. Aber es macht sich noch nicht vollends klar, dass, wenn es hinfällt und sich verletzt, seine Mutter den Schmerz nicht 232
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auch am eigenen Leibe spürt. Hofmann spricht in diesem Zusammenhang von einer »quasi egozentrischen Empathie« (quasi-egocentric empathy«, 2000, S. 70 ff.). Es schreibt dem anderen vorschnell die eigenen Gefühle zu. Dem entspricht im kognitiven Bereich, dass zweibis dreijährige Kinder noch nicht in der Lage sind, die Gedankenwelt einer anderen Person nachzuvollziehen, und deshalb z. B. weder darauf achten, ihre Erlebnisse zuhörergerecht zu erzählen, noch mit der Möglichkeit rechnen, dass sie selber die Geschichte, die ein anderer erzählt, anders auffassen, als dieser sie gemeint hat. Von einem deutlichen Dezentrierungsschritt zeugen Verhaltensweisen im Alter zwischen 3 und 4 Jahren: Bereits mit 3 Jahren sind Kinder in der Lage, negative Emotionen vor anderen Personen spontan zu verbergen. Wenn sie ein Geschenk erhalten, das ihnen keine Freude bereitet, sind sie in der Lage, ihre Enttäuschung in Anwesenheit des Gebers zumindest teilweise zu verbergen (Harris 1992, S. 141 f.). Ebenfalls mit etwa 3 Jahren beginnen Kinder, den Umstand zu berücksichtigen, dass die Emotionen anderer Personen von ihren Interessen und Wünschen abhängen, und von 4 Jahren an berücksichtigen sie den Einfluss von Interessen und Wünschen auf die Emotionen anderer auch in Situationen, die sie nicht aus eigener Erfahrung kennen (Harris 1992, S. 74 f.). Diese Beispiele belegen einen weitergehenden Dezentrierungs-Effekt. Ab dem Alter von 6 Jahren an geben Kinder sich Rechenschaft darüber, dass Emotionen auch von Überzeugungen geprägt werden können. Sie begreifen nun beispielsweise, dass eine Person, die allein in einem Haus lebt und die durch ein seltsames nächtliches Geräusch aufgeschreckt wird, an einen Dieb denkt und folglich Angst empfindet, auch wenn das Geräusch lediglich vom Wind erzeugt wird. Ein analoges (wenn auch sehr amerikanisches) Beispiel: Man erzählt einem Kind, dass einem kleinen Stoffelefanten, der gerne Coca Cola trinkt, eine Dose mit der Coca Cola-Aufschrift angeboten wird, die aber Milch enthält. Vierjährige Kinder sehen voraus, dass der Elefant enttäuscht sein wird, wenn er die Dose öffnet, aber – anders als Sechsjährige – berücksichtigen sie nicht, dass er sich, bevor er die Dose öffnet, in freudiger Stimmung befindet, da seine Erwartung, es handle sich um Cola, noch nicht enttäuscht worden ist. Im Alter von 6 Jahren sind Kinder also nicht nur in der Lage, einfache Gefühle anderer Personen korrekt zu identifizieren, sondern auch, sich quasi empathisch die Gefühle »vorzustellen«, die jene aufA
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grund einer unzutreffenden Erwartung oder einer Einbildung empfinden müssen. Weitere Beobachtungen beziehen sich auf ambivalente Gefühle. Es zeigt sich, dass Vorschulkinder damit Schwierigkeiten haben. Kurz gesagt, Kinder können solche Gefühle schon sehr früh (schon im Babyalter) haben, doch die Gefühlsambivalenz verstehen sie erst ab 7–8 Jahren (wenn nicht sogar noch später; Harris 1992, S. 115). Ein Beispiel: Fragt man ein Kind, wie es sich fühlen würde, wenn es im Zirkus von einem Clown gebeten würde, ihm zu assistieren, so antworten die Jüngsten häufig, dass sie sich darüber freuen würden; an die Angst vor einer Situation, in der sie den Blicken von Hunderten von Zuschauern ausgesetzt sind, denken sie noch nicht. Erst im Alter von 8 bis 10 Jahre bemerken die Kinder die Möglichkeit, dass man gleichzeitig zwei verschiedene, ja einander entgegengesetzte Gefühle haben kann. Diese Schwierigkeit im Umgang mit Gefühlsambivalenzen ist bei den jüngsten Kindern sicher nicht besonders erstaunlich – jedenfalls lässt sie sich im Rahmen von Piagets Theorie leicht erklären: Während der ersten Stadien der prä-operationalen Stufe gelingt es dem Kind (vgl. Abschnitt 3) noch nicht, zwei Beziehungen oder Relationen miteinander zu koordinieren. Wenn sich der Teller links vom Messer befindet, so kann er nicht gleichzeitig auch rechts von der Gabel liegen. Eine ähnliche Schwierigkeit zeigt sich übrigens bei der Kinderzeichnung: Die kleinen Künstler von 5–6 Jahren haben die Gewohnheit, Bäume rechtwinklig zum Abhang eines Berges und Kamine rechtwinklig zum Schrägdach eines Hauses zu zeichnen. Dass in diesem Alter auch die Koordination einander entgegen gesetzter Emotionen noch Probleme bereitet, ist also nicht weiter erstaunlich. Eine solche Koordination ist zwar Gegenstand von tastenden Versuchen, aber die Kinder scheitern – und so nehmen sie beispielsweise an, zwei einander entgegen gesetzte Gefühle seien eher mit aufeinander folgenden Ereignissen assoziiert als mit einem einzigen Ereignis, als ob jede Emotion für sich an ein bestimmtes Erlebnis gebunden wäre. In einfachen Fällen gelingt diese Koordination zwischen einer Emotion und einem typischen Ereignis, das diese Emotion auslöst, bereits Drei- bis Vierjährigen. 3 Doch das Verständnis der GeIm Alter zwischen 3 und 4 Jahren ist das Kind, dem man entsprechende Kärtchen zeigt, in der Lage, einfache Emotionen mit Situationen zu assoziieren, die gewöhnlich solche Emotionen hervorrufen – und umgekehrt: Erwähnt man eine Emotion, die ihm
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fühls-Ambivalenz setzt anscheinend die Fähigkeit voraus, die Beziehungen zwischen Emotionen und Ereignissen auch in komplexen Fällen miteinander korrekt zu koordinieren. Es kann nämlich Fälle geben, in denen ein Ereignis mehrere unterschiedliche, ja gegensätzliche Emotionen auslöst, ebenso wie es auch vorkommen kann, dass eine und dieselbe Emotion durch mehrere unterschiedliche Ereignisse ausgelöst wird. Diese Koordinationsfähigkeit kann erst auf der Stufe der konkreten Operationen erwartet werden. 5.2.2. Zur Entwicklung des Verstehens von Gefühlen. Das Beispiel der sozialen Gefühle Welche Emotionen empfindet das Kind im Verlaufe seiner Entwicklung und wie deutet es sie jeweils? Es geht hier um die Frage nach der Entwicklung komplexer, und das heißt hier auch: reflexiver Emotionen. Emotionen dieser Art treten bezeichnenderweise nicht vor Beginn der prä-operationalen Stufe auf. Erste Reaktionen von Eifersucht und Neid beobachtet man bei Kindern im Alter von etwa 2 Jahren – z. B. wenn ein Kind findet, die Erwachsenen investierten zu viel Aufmerksamkeit in die Pflege eines anderen Kindes (häufig eines jüngeren Geschwisters). Im Alter von 2– 3 Jahren beobachtet man erstmals Haltungen, die von Stolz bzw. Scham oder Verlegenheit zeugen (dabei ist das Kind noch weit davon entfernt zu verstehen, was Stolz, Scham oder Verlegenheit ausdrücken). Von 4– 5 Jahren an wird sich das Kind der eigenen Gefühle bewusst, eine korrekte Beschreibung dieser Gefühle kann man von ihm aber noch nicht erwarten. Es erklärt beispielsweise, Stolz sei ein angenehmes und Scham ein unangenehmes Gefühl. Diese Auskunft ist zwar richtig, aber verkürzt, denn sie lässt offen, weswegen die Scham unangenehm, der Stolz aber angenehm ist. – Etwas später charakterisiert das Kind Stolz und Scham als Freude über einen Erfolg bzw. als Trauer über einen Misserfolg (4–5 Jahre; Harris 1992, S. 94). Noch später schreibt es Stolz und Scham einem Zeugen zu, der beobachtet, wie das handeln-
bekannt ist, wie z. B. glücklich, aufgeregt, überrascht, traurig, wütend, ängstlich zu sein, so ist es fähig, eine Situation in Erinnerung zu rufen, in der es selbst entsprechende Gefühle empfunden hat; und wenn man ihm die Geschichte eines Kindes erzählt, das sich in einer bestimmten Lage befindet, so ist es fähig, die entsprechende Emotion korrekt zu benennen (Harris 1992, S. 71; Trabasso, Stein und Johnson 1981). A
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de Kind in dem, was es unternimmt, Erfolg oder Misserfolg hat: »Die Mutter«, sagt es etwa, »ist stolz darauf, dass ich auf den Baum klettern kann.« Diese Aussage bezeugt einen Fortschritt in Richtung Dezentrierung: Das Kind versteht nun intuitiv, dass Stolz und Scham sich auf den Standpunkt eines Beobachters beziehen. Aber es begreift noch nicht, auf welche Weise diese Emotionen mit der Perspektive des Beobachters verbunden sind. Stolz und Scham sind ja nicht die Emotionen des Beobachters, sondern die des Handelnden, wobei sich dieser auf den Standpunkt des Beobachters stellt und weiß, dass er dessen normativen Ansprüchen gerecht geworden ist. Es kommt noch hinzu, dass sich hinter diesen Ansprüchen eine allgemeine soziale Norm verbirgt. Der Beobachter seinerseits empfindet Scham bzw. Stolz nur insoweit, als er sich mit dem Handelnden identifiziert. Diese kurze Analyse mag genügen, um die Schwierigkeiten deutlich zu machen, die ein vollständiges Verständnis der sozialen und moralischen Emotionen auf der prä-operatorischen Stufe verhindern. Die Gefühle von Stolz und Scham enthalten nämlich die folgenden Elemente: i) Der Akteur, der Stolz oder Scham empfindet, ist selbst für seine Handlung und ihr Resultat verantwortlich; ii) Diese Handlung wird von anderen Personen geschätzt und gelobt oder umgekehrt nicht geschätzt und kritisiert; iii) Sie wird geschätzt und gelobt bzw. kritisiert, weil sie einer sozialen oder moralischen Norm (einem Standard) genügt bzw. nicht genügt. Die Bewusstmachung dieser Tatsachen setzt eine vollständige Dezentrierung voraus, die sich erst am Anfang der Stufe der konkreten Operationen einstellt.
6.
Emotionen mit komplexem kognitivem Gehalt: die Stufe der konkreten Operationen
Fasst man die Bedingungen ii) und iii) zusammen und konzentriert man sie zu einer Synthese, so kann man sagen, dass der konkrete Beobachter, der eine Handlung lobt oder kritisiert (ii), durch einen »idealen Beobachter« ersetzt wird – einen Beobachter im Sinne des »generalized other« nach George Herbert Mead (Harris 1989, Kap. 4), oder besser: des »unparteilichen Zuschauers« [»impartial spectator«] bei 236
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Adam Smith (1759). Es ist dieser ideale Beobachter, der die Norm bzw. den Standard bestimmt (iii). Das Kind, das sich nicht klar macht, dass Stolz und Scham sich auf einen »idealen Betrachter« oder, anders gesagt, dass sie sich auf eine soziale bzw. moralische Norm oder einen Standard beziehen, empfindet Stolz und Scham nur dann, wenn seine Handlung wirklich beobachtet wird (oder wenn es die Reaktion eines konkreten Beobachters antizipiert). Demgegenüber empfindet ein Jugendlicher in der Adoleszenz Stolz und Scham auch dann, wenn seine Handlung keine Zeugen hat – und zwar deshalb, weil er sich auf den idealen Beobachter bzw. auf die soziale oder moralische Norm bezieht. Dieser Bezug auf eine Norm oder einen Standard macht verständlich, auf welche Weise eine Handlung ein Gefühl des Stolzes oder der Scham hervorrufen kann, obwohl niemand sie beobachtet hat und obwohl vielleicht sogar unsicher ist, ob jemals jemand davon Kenntnis nehmen wird.
6.1. Der »Happy Victimizer« Die Emotionen spielen bei der Entwicklung des Verhaltens gemäß moralischen Überzeugungen eine entscheidende Rolle, die von der Forschung lange übersehen worden ist. Nicht nur Piaget, auch Kohlberg hat sie weitestgehend ignoriert. Kein Wunder, dass die Forschung, die an Kohlberg anknüpfte, in diesem Bereich auf Überraschungen stieß. Eine solche Überraschung ist das Phänomen des »Happy Victimizer«, das Nunner-Winkler und Barbara Sodian (1988) in den achtziger Jahren entdeckt haben. Die beiden Forscherinnen gingen zunächst von der Tatsache aus, dass die meisten Kinder im Alter von 3–4 Jahren sehr wohl wissen, dass man anderen Personen nichts wegnehmen (also nicht stehlen) und dass man ihnen nicht wehtun soll (Turiel 1983). Nunner-Winkler und Sodian legten Kindern unterschiedlichen Alters eine Reihe von Zeichnungen vor, die ein Kind zeigen, das einem anderen unbeobachtet eine Tüte süßer Mandeln aus der Anoraktasche klaut oder das seinen Kameraden von einer Schaukel stürzt. Darauf fragen sie die Kinder, welche Gefühle sie dem Dieb bzw. dem Aggressor zuschreiben würden. Zu ihrem Erstaunen antworten die Kinder unter 8 Jahren in der Mehrheit ohne zu zögern, dieser fühle sich gut, weil die Mandeln lecker seien bzw. weil er sein Ziel erreicht habe – der Platz auf der Schaukel sei frei geworden. Wie ist diese Tatsache zu deuten? A
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Wie Piaget in seinem Buch Das moralische Urteil beim Kinde (1932) beschrieben hat, hat das prä-operationale Kind den Begriff einer moralischen Norm noch nicht aufgebaut. Eine solche Norm ist unabhängig vom Willen einer Autorität, oder besser gesagt, vom Willen, den die Erwachsenen Kindern gegenüber zur Geltung bringen. Auf der anderen Seite weiß ein Kind, das die Trotzphase hinter sich gelassen hat, intuitiv durchaus um seinen eigenen, individuellen Willen, und es weiß sehr wohl, dass dieser sich manchmal deutlich von demjenigen anderer Personen unterscheidet. Außerdem ist ihm der Unterschied zwischen einem gewollten oder geplanten Handlungsergebnis und nicht intendierten Handlungsfolgen vertraut. Aber bei der Begründung moralischer Normen berücksichtigt es diese Unterscheidungen noch nicht. Diese Tatsache mag auf den ersten Blick überraschen. Zu ihrer Erklärung ist es unerlässlich, auf den Begriff der moralischen Norm näher einzugehen.
6.2. Zum Begriff der moralischen Norm Das Phänomen des »Happy Victimizer« ist vielleicht weniger überraschend, wenn man es im Lichte der folgenden Hypothese betrachtet: Eine moralische Norm ist abstrakter und allgemeiner als der Wille einer Einzelperson, die sich an einer solchen Norm orientiert. Ein Kind unter 6–7 Jahren unterscheidet noch nicht klar zwischen den konkreten Weisungen, die die Erwachsenen den Kindern auferlegen, und einer sozialen bzw. moralischen Norm. Normen sind für die Kinder letztlich von der Weisung und vom Willen der sie aussprechenden Erwachsenen noch ununterscheidbar. – An dieser Stelle lässt sich eine Analogie zum Aufbau des natürlichen Zahlbegriffs beiziehen. So wie beispielsweise die Zahl 7 abstrakter und allgemeiner ist als jede konkrete Menge, die sieben Elemente enthält – so ist auch eine moralische Norm abstrakter und allgemeiner als der Wille bzw. die Handlungsmotive all der Erwachsenen, die sich an dieser Norm orientieren. Ähnlich wie eine natürliche Zahl, stellt die moralische Norm eine Art Invariante dar, obwohl sie sich auf wechselseitige soziale Erwartungen zurückführen lässt, die sich ihrerseits sehr wohl wandeln können …
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Kasten 3: Von der Vorstellung zum Begriff: Vergleich zwischen dem Begriff der natu¨rlichen Zahl und der (moralischen) Normen Begriffliche Ebene
Die natu¨rliche Zahl 7
Ebene der Vorstellung: Eine Menge ist eine vor- Menge der Wochentage; stellungsmäßige ZusamMenge der zwischen menfassung von ElemenOstern und Pfingsten ten. liegenden Wochen; Die Weisung einer AutoMenge der antiken Weltrität bleibt konkret an wunder; eine Situation gebunden, die sich die Kinder vorMenge der Zwerge im stellen und an die sie sich Märchen »Schneeerinnern können. wittchen«
Die moralische Norm, dass Versprechen gehalten werden mu¨ssen Ermahnung der Mutter: »Du hast versprochen, also …« Erinnerung durch den Vater: »Du sollst jetzt …, weil du es versprochen hast!« Kindergärtnerin: »Der Bär ist enttäuscht, weil man ihm Cola versprochen, aber nur Milch gegeben hat«
Eine notwendige Bedingung für den Aufbau des Begriffs einer moralischen Norm ist die Fähigkeit zum Austausch von sozialen Perspektiven bzw. Standpunkten (sozialer Rollentausch). Obwohl 3- bis 4-jährige Kinder bereits intuitiv verstehen, dass man andere nicht schlagen darf, gründet sich dieses Verstehen offenbar noch nicht auf das Konzept einer moralischen Norm im engeren Sinn (obwohl dies in der einschlägigen Literatur oft anders dargestellt wird, z. B. Nunner-Winkler 2000 und 2006). Worin gründet das intuitive Verstehen der Tabus – nicht schlagen, nicht stehlen usw. – bei Drei- und Vierjährigen denn sonst? Grundlegend ist sicher die Einfühlung in das Opfer. Für ein Kind, das sich in die Haut eines Opfers versetzt, wirkt dieses Tabu einleuchtend. Die Ermahnungen durch Erwachsene dienen vor allem der Erinnerung daran, dass das Opfer leidet, wenn es geschlagen wird. Das Tabu, andere zu schlagen, kann mit den Weisungen der Erwachsenen allein nicht erklärt werden, denn diese beziehen sich auch auf Tischsitten. Schon 3- bis 4-Jährige unterscheiden aber klar zwischen Konvention und Moral. Tischsitten kann man ändern, das Tabu, andere zu schlagen, aber nicht. Auf dem prä-operationalen Niveau sind Kinder also sehr wohl in der Lage, sich zum einen in die Haut einer anderen Person zu versetA
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zen, und sie wissen zum anderen einigermaßen gut darüber Bescheid, was die Erwachsenen üblicherweise von ihnen erwarten, aber offensichtlich sind sie noch nicht imstande, diese beiden ganz unterschiedlichen Arten von sozialen Ansprüchen miteinander zu koordinieren und miteinander zu verbinden! Diese Koordinationsleistung ist aber unerlässlich für das Verständnis dessen, was eine moralische Norm mit allen ihren Implikationen darstellt. Eine moralische Norm ist eine Regel, die sich erstens darauf gründet, dass alle Betroffenen daran interessiert sind, dass alle sie einhalten; die Norm gründet also auf einer wechselseitigen sozialen Erwartung aller. Zweitens ist die Norm von einem Sanktionssystem begleitet, das jede Normüberschreitung zu ahnden erlaubt. Piaget erklärt den »einseitigen Respekt« (die »einseitige Achtung«) des Kleinkinds gegenüber dem Erwachsenen bekanntlich mit einer Synthese aus Zuneigung und Furcht. Diese Furcht ist an die Erfahrungen gebunden, die das Kind mit der Drohkompetenz einer Autorität verbindet. Es ist dieser einseitige Respekt, den das Kind, Piaget zufolge, später auf die moralische Regel überträgt. Was das Kind unter 8–9 Jahren aber noch nicht begreift, ist das andere Element im Begriff der moralischen Norm – nämlich dies, dass sich in einer sozialen Norm das allseitig reziproke Interesse an ihrer Einhaltung reflektiert.
6.3. Moralische Emotionen Nun ist das Verständnis des Begriffs einer moralischen Norm aber seinerseits eine Voraussetzung für die Einsicht in das, was die moralischen Emotionen ausmacht – Gewissensbisse, Groll und Entrüstung. Es lohnt sich, die immanente »Logik«, der diese Emotionen gehorchen, etwas näher zu betrachten. 4 Sobald ein Kind versteht, dass die Verbindlichkeit einer moralischen Norm nicht von der Anwesenheit von Zeugen abhängt, versteht es auch intuitiv, wie Schuldgefühle (Gewissensbisse) zustande kommen. Von diesem Augenblick an (und nicht früher!) urteilt es, dass das Kind, das seinem Kollegen die süßen Mandeln gestohlen oder seinen Kameraden von der Schaukel gestoßen hat, sich unwohl fühlt, weil es nun unter Über diese drei moralischen Gefühle vgl. Strawson 1962 sowie Tugendhat 1993, S. 20 ff.
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Kasten 4: Die moralischen Emotionen und die in ihnen enthaltenen Proto-Urteile Moralische Emotion Proto-Urteil Schuldgefu¨hle / Es ist schlecht / Ich fühle mich schlecht, weil ich eine schlechtes Gewissen moralische Norm, die ich gutheiße, übertreten habe Groll, Übelnehmen (»resentment«)
Es ist schlecht / Ich fühle mich schlecht, weil du eine moralische Norm, die ich gutheiße, übertreten und mich dabei verletzt hast
Entru¨stung / Empo¨rung
Es ist schlecht / Ich fühle mich schlecht, weil er/sie eine moralische Norm, die ich gutheiße, übertreten und Drittpersonen dabei verletzt hat
einem schlechten Gewissen leidet. Nach Nunner-Winkler antworten Kinder erst im Alter von 9 Jahren mehrheitlich in dieser Weise. Sittliches (bzw. moralisches) Verhalten baut also auf zwei Säulen auf: zum einen auf der Empathiefähigkeit, zum anderen auf dem Verstehen des moralischen Normbegriffs und seiner sozialen Voraussetzungen. Beide Elemente sind notwendig. Rein kognitivistische Moraltheorien haben einen doppelten Nachteil: Erstens gibt es viele Phänomene in der Ethik, für die sie keine ausreichende Erklärung bieten. Ein Beispiel ist die Tierethik: Die Forderung Peter Singers etwa, dass wir den »Interessen« höherer Tiere Rechnung tragen sollten (Singer 1979, Kap. 3 und Singer 1995), ist rational sehr gut begründet, obwohl sich der Verpflichtung, Tiere vor unnötigem Leiden zu verschonen, keine Tierrechte im engeren Sinne zur Seite stellen lassen – anders als bei den Menschenrechten, wo eine eins-zu-eins-Korrespondenz zwischen universalistischen negativen Normen (»Du sollst nicht töten!«) und einzelnen Grund- oder Menschenrechten (z. B. dem Recht auf Leben) sehr wohl besteht. Die Motivation zur Berücksichtigung der Interessen von Tieren ist ganz und gar in unserer Empathiefähigkeit verankert, und sie endet an den Grenzen dieser Fähigkeit: In höhere Wirbeltiere, insbesondere in Säugetiere und Vögel, können wir uns viel leichter einfühlen als in Reptilien oder gar in Insekten, Spinnen, Würmer … Zweitens sind die kognitivistischen Moraltheorien zwar stark in der Begründung moralischer Normen, können aber die Motivation, diese Normen zu befolgen oder eben auch nicht zu befolgen, nicht erklären. A
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Andererseits ist die moralische Motivation selbst ein komplexes Phänomen. Nunner-Winkler unterscheidet darin drei Aspekte: »die Stärke der moralischen Motivation (Welches Gewicht misst eine Person der Befolgung moralischer Normen im Vergleich zur Verwirklichung anderer Werte oder Interessen bei?), der Typus moralischer Motivation (Aus welchen Gründen befolgen Menschen moralische Normen?) und die Struktur moralischer Motivation (Wie ist die Bereitschaft zur Normbefolgung in der Person verankert?)« (Nunner-Winkler 2006, S. 29).
Normatives Wissen allein ist kein ausreichendes Motiv für moralisches Handeln, wie das Beispiel aller bewussten Regelübertretungen beweist. Wenn in Wettbewerbssituationen, etwa im Sport, viel auf dem Spiel steht, sind Menschen nicht nur leicht bereit, gegen Fairnessregeln zu verstoßen, zu foulen oder zu dopen, sondern häufig stoßen sie dabei in der Öffentlichkeit auch auf großes Verständnis … Wie relevant die Erforschung der moralischen Motivation ist, zeigt nicht erst das Phänomen des »Happy Victimizer«, sondern bereits die Beobachtung Stanley Milgrams aus den sechziger Jahren, dass Erwachsene in einer Befehlssituation zu erstaunlich brutalen Handlungen fähig sind – und zwar selbst dann, wenn sie sich bis zu einem gewissen Grad ins Opfer einfühlen und dementsprechend ein Unwohlsein verspüren. Zur Empathiefähigkeit muss das Normwissen hinzukommen. Eine wesentliche Rolle spielt dabei das Bewusstsein, dass moralische Normen auf gegenseitigen Verhaltenserwartungen beruhen und dass die Übertretung einer Norm nicht nur zu sozialer Ächtung, sondern auch – was für moralisches Verhalten wichtiger ist – zu Scham- und Schuldgefühlen beim Handelnden selbst führen (Tugendhat 1993a, Nunner-Winkler 2006).
6.4. Moralische Emotionen – moralische Zustimmung Wenn wir etwas gutheißen oder kritisieren, sind an der Basis dabei immer auch Emotionen mit im Spiel. Dies gilt auch, wenn wir eine Handlungsweise moralisch gutheißen. Es lohnt sich, den Akt des Gutheißens genauer zu betrachten, um die Rolle der Emotionen darin freizulegen. In der Philosophie gibt es zwei unterschiedliche Analysen, die miteinander konkurrieren. Die eine stammt von Adam Smith (1759), die andere von zeitgenössischen Philosophen. 242
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Smith hat am Akt der moralischen Zustimmung vier Aspekte unterschieden: »Wir sympathisieren erstens mit den Beweggründen des Handelnden; wir nehmen zweitens teil an der Dankbarkeit derjenigen, die die wohltätigen Folgen seiner Handlungen empfangen; wir beobachten drittens, dass sein Verhalten den allgemeinen Regeln angemessen gewesen ist, nach welchen jene beiden Formen der Sympathie sich gewöhnlich richten, und (…) schließlich [betrachten wir] solche Handlungen als Teile eines ganzen Systems von Verhaltungsweisen (…), welches die Tendenz hat, die Glückseligkeit des Individuums oder der Gesellschaft zu fördern« (Smith 1759, dt. Ausg. S. 545).
Smith zufolge verbirgt sich hinter der moralischen Zustimmung und Nichtzustimmung zu einer Handlungsweise ein Urteil, also ein intellektueller Akt, der sich im Wesentlichen auf die Gefühle anderer Personen bezieht. In der zeitgenössischen Philosophie (Strawson 1962, Tugendhat 1993) dominiert eine entgegengesetzte Sichtweise, der zufolge die moralische Zustimmung und Nichtzustimmung sich bereits auf der Gefühlsebene zeigen, nämlich als Entrüstung bzw. moralische Bewunderung, Groll bzw. Dankbarkeit und Schuldgefühle. Diese moralischen Gefühle gründen in einem Urteil der Nichtzustimmung bzw. Zustimmung. Der Umstand, dass ein und dasselbe Phänomen in dieser gegensätzlichen Weise rekonstruiert wird, mag eigenartig erscheinen. Gründen unsere moralischen Urteile auf Emotionen? Oder gründen unsere moralischen Emotionen auf Urteilen? Eines ist beiden Rekonstruktionen gemeinsam, nämlich dies, dass bei Akten der Zustimmung oder Nichtzustimmug Emotion und Urteil Hand in Hand gehen. Zwischen der These, dass Gefühle/Emotionen ein Proto-Urteil enthalten (Strawson 1962 und Tugendhat 1993), und der These A. Smiths, dass die Zustimmung ein auf Emotionen gründendes Urteil ist (Smith 1759), besteht letztlich also kein großer Unterschied, da bei Wertungen grundsätzlich immer beide Seiten involviert sind. Eine Emotion zu beurteilen und zu bewerten ist etwas Anderes als die Empfindung eines Gefühls oder die Einfühlung in die Emotion einer anderen Person. Die Beurteilung bzw. Bewertung von Fremdverhalten erfolgt stets aus einer gewissen Distanz und kommt von außen. Wenn wir das Verhalten oder den Charakter einer anderen Person beurteilen, koordinieren wir den Blick von innen mit einem Blick von außen. A
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Augenscheinlich gehen die Entwicklung der Empathie und der Introspektion (d. h. des Blicks ins eigene Innere) dem intellektuellen Verständnis (das den Blick von außen voraussetzt) zeitlich vorher. Die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung der Empathie einerseits und des intellektuellen Außenblicks andererseits wird von Harris bestätigt: Die Entwicklung der ersteren geht derjenigen des letzteren lange voraus. Um die Naturgesetze zu verstehen, schreibt Harris, genüge es nicht, unsere emotionalen Erfahrungen in die Natur zu projizieren: »Planetenbewegungen lassen sich nicht dadurch erklären, dass man sich vorstellt, selbst ein Planet zu sein und auf eine gegebene Menge von Anziehungskräften zu reagieren. Insgesamt betrachtet besteht also nur eine geringfügige Übereinstimmung zwischen den inneren Prozessen, die an der Konstruktion einer psychologischen Theorie von Seiten eines Kindes beteiligt sind, und den Vorgängen bei der Aufstellung wissenschaftlicher Theorien über die außerpsychologische Welt. Aus diesem Grund werden psychologische Theorien von Kindern wahrscheinlich viel früher als physikalische oder biologische Theorien aufgestellt« (Harris 1992, S. 81).
6.5. Die Entwicklung der Emotionen auf der Stufe der formalen Operationen Die Analyse der auf der Stufe der konkreten Operationen gegebenen kognitiven Instrumente lässt uns das »Funktionieren« der moralischen Emotionen zumindest teilweise verstehen. Dieses Verständnis lässt sich aber durchaus noch weiter treiben, indem wir uns der Stufe der formalen Operationen zuwenden. Wie wir gesehen haben, enthalten das schlechte Gewissen, der Groll und die Entrüstung zwei sehr unterschiedliche kognitive Elemente: (a) Wir schreiben dem Akteur, auf den sich unsere moralische Emotionen/Gefühle richten, die Verantwortung für sein Handeln zu; und (b) wir unterstellen ihm, dass er eine moralische Norm verletzt (hat). Was den Punkt (a) betrifft, so entrüsten wir uns nicht über Ereignisse, für die niemand verantwortlich ist – etwa einen natürlichen LawinenNiedergang oder den Angriff eines Haifisches auf einen badenden Touristen. Wir empören uns auch nicht über ein Kind, das etwas Schlechtes tut, wenn es die Folgen seines Handelns nicht kennt. Anwandlungen 244
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von Empörung sind auch dann unbegründet, wenn die Person, auf die sie sich beziehen, für ihr Tun nicht verantwortlich ist, sei es weil sie dazu gezwungen worden ist, weil ihre Motive psychopathologische Muster aufweisen oder sei es weil ihre Gefühlsentwicklung durch ein gestörtes soziales Milieu geschädigt worden ist. Doch dass sie unbegründet ist, bedeutet nicht, dass sich die betreffende Emotion nicht dennoch einstellen kann. So entrüsten sich Kinder (und nicht nur sie) über den Fuchs, der in den Hühnerstall eindringt oder sich über die Gänse hermacht (das Volkslied droht dem Fuchs sogar Rache an). Die Fokussierung moralischer Emotionen auf diejenigen Situationen, in denen sie wirklich begründet sind, entspricht offensichtlich einer formal operativen Leistung. Auf der formal operativen Stufe werden aber noch weitere Differenzierungen möglich. Es kommt nicht selten vor, dass Täter und Opfer einen Unrechtsakt ungleich bewerten. Das Opfer und / oder seine Zeugen messen dem erlittenen oder beobachteten Unrecht für gewöhnlich ein größeres Gewicht bei als der Akteur. Das heißt, ihr Groll bzw. ihre Entrüstung ist stärker als die Schuldgefühle des Täters. Auch das Umgekehrte ist möglich, obgleich wahrscheinlich seltener. Ein Täter kann stärkere Gewissensbisse empfinden, als Drittpersonen sie ihm zuschreiben würden. Claude Eatherly z. B., der als Militärpilot das amerikanische Geschwader beim Abwurf der Hiroshima-Bombe im August 1945 anführte, litt später unter traumatisierenden Schuldgefühlen, obwohl er nach seiner Rückkehr in die USA als Held gefeiert wurde. Der Wunsch nach Bestrafung veranlasste ihn zur Begehung lächerlicher Delikte. Das Militärgericht tat ihm aber nicht den Gefallen, ihn zu verurteilen, sondern behandelte ihn als Psychopathen und steckte ihn in ein Militärhospital, in das er zeitlebens interniert blieb (Jungk 1961). Der zweite Aspekt (b) in der Rekonstruktion der Schuld-, Grollund Empörungsgefühle betrifft den Umstand, dass eine moralische Norm verletzt worden ist. In diesem Bereich gibt es interessante Fallunterscheidungen, deren Relevanz erst auf der Stufe der formalen Operationen ins Auge sticht. Welcher »Logik« folgen Übelnehmen und Empörung? Reagieren wir auch auf einen Täter empört, von dem wir wissen, dass er selbst gute Gründe hat, sein Handeln nicht als unmoralisch zu empfinden – beispielsweise weil er sich an einem anderen Moralsystem orientiert? Oder setzt das Empörungsgefühl voraus, dass beide – Täter und Beobachter – sich an den gleichen moralischen Intuitionen orientieren? A
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Vermutlich ist es so, dass moralische Gefühle, wie Übelnehmen und Empörung (und entsprechend auch Dankbarkeit und moralische Bewunderung) sich nur dann einstellen, wenn wir annehmen können, dass der Täter bzw. die Tätergruppe sich an den gleichen Moralnormen orientieren wie wir selber. Stellt sich hingegen heraus, dass jemand, der unseren moralischen Überzeugungen zuwider handelt, gute Gründe hat, unsere moralischen Auffassungen nicht zu teilen, so erweisen sich Übelnehmen und Empörung als unfundiert. Wogegen der Fall, dass jemand gegen moralische Normen handelt, die uns viel bedeuten, die er selbst aber ablehnt, ohne dafür gute Gründe geltend zu machen, zu einer weiteren Differenzierung zwingt: Verhält sich diese Person so, weil ihre intellektuellen Kompetenzen für eine in unserem Sinn sittliche bzw. »moralische« Lebensführung nicht ausreichen, so drücken wir eher ein Auge zu, als wenn wir zum Schluss kommen, sie lehne eine bewährte moralische Norm wider besseres Wissen ab. Überlegungen wie die zuletzt angestellten sind eng an die formal operative Intelligenz gebunden. Der Einfluss der formalen Operationen auf die Emotionsdynamik ist noch nicht gründlich erforscht. – Die hier diskutierten Beispiele dürften aber ausreichen, um die Ausgangsthese, dass kognitive Dezentrierungsprozesse auf die Gestaltung unserer Emotionen einen erheblichen Einfluss haben, zu belegen. Der Erforschung der Rolle der moralischen Emotionen im postkonventionellen bzw. formaloperativen Bereich kommt gerade im Kontext multikultureller Gesellschaften eine besondere Bedeutung zu.
Literatur Helen Borke: Piaget’s view of social interaction and the theoretical construct of empathy. In: Alternatives to Piaget. Critical essays on the theory (ed. by L. S. Siegel/Ch. J. Brainerd). New York: Acad. Press 1978, p.29–42. Antonio R. Damasio: Descartes’ Error. Emotion, Reason and the Human Brain. New York: G. P. Putnam’s Son 1995. Antonio R. Damasio: Looking for Spinoza. Joy, Sorrow, and the Feeling Brain. Harcourt Inc. 2003. Paul Harris: The Development of Psychological Understandig. Oxford/New York: Basil Blackwell 1989. Zitiert nach der dt. Ausgabe: Das Kind und die Gefühle. Bern: Huber 1992. Martin L. Hoffman: Vom empathischen Leiden zur Solidarität. In: Günter Schreiner (Hg.): Moralische Entwicklung und Erziehung. Braunschweig: Westermann/Ag.Pedersen 1983, p.235–266.
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III. Kultur und Symbolisierung
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Kultur und Individuum Rolf Oerter
Als Piaget in seinen Publikationen Schritt für Schritt aufhellte, wie das Kind die Welt und sich selbst erkennt, trug er wesentlich zu einer Revolution in der Psychologie bei, die als kognitive Wende bezeichnet wird. Während der Behaviorismus über zwei Jahrzehnte nahezu uneingeschränkt das Feld beherrschte, befasste man sich nun mit dem Komplex, den der Behaviorismus ausgespart hatte, nämlich der Black Box. Piagets Grundgedanke war bekanntlich, dass das Kind sukzessive seine Erkenntnis über die Welt konstruiert. Für diese Konstruktionsleistungen benötigt das Kind nur drei Dinge: Assimilation, Akkommodation und Schemata bzw. Strukturen. Während Assimilation und Akkommodation Prozesse der Informationsverarbeitung darstellen, sind Schemata und Strukturen relativ feste Gebilde. Einmal aufgebaut, bleiben sie stabil und jederzeit in schweizerischer Gründlichkeit verfügbar. Auf diese Weise entstehen die Strukturen von Gegenstand, Raum, Zeit und Zahl. Das höchste Niveau der »Informationsverarbeitung« wie wir heute sagen würden, sah Piaget in den formallogischen Operationen, mit deren Hilfe man alles und jedes erkennen und konstruieren kann. Wissenschaften als höchste Instanz des Erkennens benötigen die formallogischen Operationen, aber kommen mit ihnen auch vollkommen aus. Piaget war fast ausschließlich daran interessiert, wie der Mensch erkennt und nutzte als Methode für die Lösung dieser Frage die Untersuchung der Genese von Erkenntnisprozessen. Sein Vorgehen und seine genialen Einfälle bei der Konstruktion von Aufgaben und Fragen, die er Kindern vorlegte, sind auch heute noch als einmalig anzusehen. Er hat eine Flut von Untersuchungen ausgelöst, die vor allem in der Säuglingsforschung zu gewaltigen Fortschritten in unserem Wissen über die geistige Entwicklung geführt haben. Die Prozesse der Assimilation und Akkommodation verändern nicht die Umwelt, sondern kognitive Strukturen im Individuum. Diese Erkenntnisleistung ist aber nur möglich, wenn das Individuum han250
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Kultur und Individuum
delt, manipuliert, Effekte wiederholt. Eingriffe in die Umwelt sind also auch bei Piaget entscheidend für den Erkenntnisfortschritt, ganz ähnlich wie wissenschaftliche Experimente Erkenntnisgewinn bringen, aber sie dienen nur der eigenen Erkenntnis. Was bei Piaget im Hintergrund seines Forschens und Denkens blieb, war die Frage, wie der Mensch aktiv seine Umwelt gestaltet und verändert. Will man aber den Menschen über sein Erkenntnisvermögen hinaus verstehen, so muss man ihn im Wechselverhältnis zur umgebenden Kultur zu erfassen versuchen, ihn vor allem als kulturschaffendes Wesen begreifen. Daher ist der im Folgenden dargestellte Ansatz auch Whitehead (1929) verpflichtet, dessen Bemühungen zur Überwindung einseitig subjektivistischer und objektivistischer Standpunkte auch den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen bilden. Kultur ist nicht etwas, das nachträglich nach der Evolution des Homo sapiens entsteht, sondern gehört von Anfang an zu unserer Spezies. Dies belegen schon Formen von Kultur im Tierreich, etwa bei Schimpansen, Walen, Krähen und Tümmlern (Haidle, 2008). Mensch und Kultur gehören zusammen und sind zwei Seiten der gleichen Medaille, nämlich dem Ökosystem, dem beide angehören. Dieses Ökosystem ist von Anfang an nicht nur eine natürliche Umwelt, sondern ist ausgestattet mit kulturellen Produkten, ohne die der Mensch nicht überleben könnte. Die wichtigsten Produkte sind Behausung, Kleidung bzw. Schmuck und Werkzeuge. Damit sind wir bei der Frage, was man unter Kultur zu verstehen hat. Schon 1948 hat Herskovits mehr als 50 Definitionen gesammelt und seine eigene hinzugefügt, die ich im Folgenden übernehme und zu präzisieren versuche: Kultur ist die vom Menschen gemachte Umwelt. Diese Definition scheint beim ersten Blick wesentliche Kulturmerkmale, wie Normen, kulturelles Wissen, Weltanschauungen und Sitten und Gebräuche, zu übersehen. Deshalb versuchen andere Definitionen diesen Mangel auszugleichen. So lautet eine typische Definition: (a) Kultur umfasst die Gesamtheit der erlernten Bedeutungen, die in einer Population weitverbreitet sind; (b) sie bewerkstelligt, dass Werthaltungen und soziales Verständnis von allen (mehr oder minder) geteilt werden und (c) sie führt zu Verhaltensmustern, die diese gemeinsamen Wertüberzeugungen widerspiegeln (Camilleri, 1985). Diese Definition, die dem geisteswissenschaftlichen Denken näher steht, schließt nun wiederum materielle Gegenstände, wie Werkzeuge, Maschinen, Wohnungen, Kunstwerke, Kirchen und Tempel aus. Daher benötigt A
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man ein Kulturverständnis, das beides, die materielle und die geistige Welt umschließt. Dies ist möglich, wenn man den Begriff der vom Menschen gemachten Umwelt beibehält, in ihn aber die geistige und materielle kulturelle Welt einbezieht. Sowohl materielle Gegenstände als auch Werte und Wissen sind als Gegenstände fassbar. Poppers Dreiwelten-Lehre umschließt gewissermaßen das Universum der Gegenstände einer Kultur: materielle Objekte, geistige Objekte des Wissens und der Werte sowie psychologische Objekte der Beschreibung psychischer Zustände und Prozesse (Popper, 1973). Damit wird auch deutlich, dass natürliche Objekte kulturell definiert sind. Der Mond ist für uns ein toter Himmelskörper, der um die Erde kreist. Für frühere Kulturen war er eine mit Leben und Geist erfüllte Göttin. Zum Objektbegriff hat die Philosophie viel beigetragen und vertritt wohl heute trotz vielfältigster Anschauung die Überzeugung, dass Gegenstände vom Menschen abgegrenzt sind und mit Bedeutung versehen werden. Damit sind wir wieder bei der Idee des Konstruktivismus angelangt: Alle kulturellen Gegenstände, d. h. die gesamte menschliche Umwelt, sind kulturell definiert und konstruiert. Diese Konstruktionsleistung umfasst die von Angehörigen einer Kultur hergestellten materiellen Gegenstände, die von der Kultur umgedeutete, aber auch umgestaltete Natur, das kulturelle Wissen und die kulturellen Normen und Wertvorstellungen. Sie alle sind Vergegenständlichungen in dem Sinne, dass sie uns als Objekte gegenüber stehen sowie sprachlich benannt und identifiziert werden. Natürlich führt der Gegenstandsbegriff für sich genommen hier nicht weiter, wenn wir ihn nicht dynamisieren. Unter handlungstheoretischer Perspektive, die auch schon Piaget einnahm, werden Gegenstände hergestellt, um sie zu benutzen. Dies ist bei Werkzeugen, Maschinen, Wohnungen, Gebrauchsgegenständen aller Art unmittelbar einsichtig, gilt aber für alle geistigen Gegenstände. Soziokulturelle Normen und Verhaltensweisen sollen vom Individuum verwirklicht, also in Handlung umgesetzt werden. Psychologische Begriffe wie Intelligenz und Moral verweisen auf Entitäten in uns, die unsere Kultur so konstruiert hat und die in anderen Kulturen anders gefasst werden (Intelligenz beispielsweise vorwiegend als Gehorsam in Schwarzafrika und als überlegte Bedächtigkeit in Asien). Kulturelle Gegenstände besitzen also eine Handlungsstruktur. Wiederum lässt sich das am leichtesten an Gebrauchsgegenständen zeigen. Der Trinkbecher dient zur Aufnahme von Flüssigkeit, die mit sei252
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Kultur und Individuum
ner Hilfe zum Mund geführt und getrunken werden kann. Diese Handlungsfunktion ist vom Konstrukteur in das Objekt hinein verlegt worden. Unter handlungstheoretischer Sicht präsentiert sich das Objekt stets mit einer latenten Handlungsstruktur, die sich als Formel folgendermaßen darstellen lässt: (S
)O
Das Objekt beinhaltet latent ein sich auf es beziehendes Subjekt. Dafür ist es konstruiert worden. Gleiches gilt auch für abstrakte Wissensinhalte. Sie sind immer konstruiert und strukturiert, damit andere an ihnen partizipieren können. In Schriftkulturen kann Wissen abgerufen und angeeignet werden. Aneignung ist die erste Handlung, die in Wissensbeständen steckt. Die praktische Anwendung des Wissens wäre dann das Bündel an Folgehandlungen. In schriftlosen Kulturen existiert das Wissen nur in den Köpfen der Mitglieder der Kultur, aber es wird in Form von Begriffen und Geschichten »griffig« gemacht und so zum Gegenstand, auf den sich alle beziehen können. Nun kommt das Individuum ins Spiel, das die kulturellen Gegenstände gebraucht aber auch selbst herstellt. Um die damit verbundenen Prozesse beschreiben zu können, müssen wir die Piagetschen Konzepte von Assimilation und Akkommodation durch weitere Handlungskomponenten erweitern, die in Abb. 1 in ihrer Wechselwirkung zusammengeordnet sind. Abbilung 1: Vier Grundkomponenten menschlichen Handelns im Austausch von Individuum und Kultur am Beispiel Musik Aneignung
Vergegenständlichung
Subjektivierung
Genussvolles Hören
Komponieren, Improvisieren
Objektivierung
Erkennen musikalischer Strukturen
Genaues Nachspielen und Nachsingen
Vergegenständlichung. Sie bildet die nach außen gerichtete Komponente der Handlung und führt zu Ergebnissen, die längere oder kürzere Zeit fortbestehen. Vor allem erzeugt sie die Gegenstände selbst. Vergegenständlichungen im kindlichen Spiel sind Produkte des Bauens und Malens, ebenso der Umgang mit umgedeuteten Gegenständen im Symbolspiel oder das Musizieren (im letzteren Falle verschwindet der A
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Gegenstand nach der Aktion wieder). In der Schule sind Vergegenständlichungen Schulleistungen, die in schriftlicher oder mündlicher Form vorliegen, und im Erwachsenenalter gehören zu Ergebnissen der Vergegenständlichung alle Produkte des Arbeitsprozesses, wobei neue Gegenstände als Erfindungen besonders bedeutsam für die Veränderung der Kultur sind. Erst durch die Vergegenständlichung kann das Subjekt sich als Akteur erfahren, seine Wirkung in der Umwelt erkennen und sich damit zugleich der Umwelt gegenüberstellen. So wird der Akteur zum Schöpfer und gewinnt Macht und Kontrolle über die Umwelt. Vergegenständlichung vermittelt also die emotionale Grunderfahrung von Macht und Kontrolle über die Umwelt und führt gleichzeitig zur Erfahrung der umweltzentrierten Selbsterweiterung (Selbstvergrößerung). Gegenstände, die man selbst hergestellt hat, bilden gewissermaßen entfernte Bestandteile des Selbst, man trägt ein Stück von sich in die Umwelt hinein. Diese Erfahrung und das Bedürfnis nach ihrer Wiederholung bilden eine allgemeine Grundlage für menschliches Handeln. Aneignung. Sie ist von der Umwelt (vom Gegenstand) auf das Subjekt gerichtet und hinterlässt Spuren oder Eindrücke beim Individuum, die wir als Wissen, Repräsentationen, Begriffe oder auch als geistigen oder materiellen Besitz kennzeichnen. Auch die Aneignung ist ein aktiver Vorgang, der materiell als Heranholen eines Gegenstandes (Besitz ergreifen), mental als Konstruktion oder Einordnen aufgefasst werden kann. Während beim schulischen Lernen der Aneignungsvorgang augenscheinlich ist, bleibt er im Alltag oft verborgen. Beim Kleinkind beobachten wir ihn besonders augenfällig beim Explorieren, d. h. der Erforschung von Gegenständen aller Art. Die durch Aneignung bewirkte Grundbefindlichkeit ist Sicherheit, die durch Orientierung in der Umwelt erreicht wird. Zugleich vermittelt Aneignung Selbsterweiterung in Form des Wissenserwerbs oder des Erwerbs materieller Güter. Die Grunderfahrung der Aneignung ist somit eine zweite Komponente des Individuum-Umwelt-Bezuges. Aneignung und Vergegenständlichung sind ein dialektisches Begriffspaar. Sie sind gegenläufig, gehören aber beide zusammen und ergänzen sich wechselseitig. Mit einem zweiten Begriffspaar verhält es sich ähnlich: Objektivierung und Subjektivierung. Dieses Begriffspaar wurde von Boesch (1980) in Anlehnung an Piagets Begriffe der Assimilation und Akkommodation verwendet. Im Folgenden greifen wir 254
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diese Überlegungen mit auf, modifizieren sie aber etwas im Zusammenhang mit unseren Überlegungen über das Verhältnis von Kultur und Entwicklung. Die Prozesse der Objektivierung und Subjektivierung lassen sich vom Handlungsergebnis aus am leichtesten erkennen. Objektivierung. Orientiert sich das Ergebnis der Handlung an der (vom Individuum unabhängig geltenden) Realität, so versucht der Akteur zu objektivieren. Alles Handeln, das sich an der Realität orientiert, ist Objektivieren. Dieser Prozess führt zu einer Verbesserung der Passung zwischen Wirklichkeit und Subjekt. Die Wirklichkeit ist immer die von der Kultur geschaffene Wirklichkeit, nicht eine Realität »an sich«. Die Passung geht jedoch auf Kosten des Subjekts, es muss seine Strukturen verändern, um der Realität gerecht zu werden. Es handelt sich gewissermaßen um eine zentrifugale Passung (eine Passung »vom Subjekt weg«). Die durch diesen Prozess vermittelte Grundbefindlichkeit und Emotion ist die der Existenz von Welt, unabhängig von der eigenen Person und Handlung. Objektivierend erfährt das Individuum, dass es eine Welt mit Eigengesetzlichkeit gibt, die nicht den eigenen Wünschen gehorcht. Durch diese Handlungskomponente wird also eine solipsistische Erkenntnisposition durchbrochen. Subjektivierung. Dieser Prozess gleicht das Handlungsergebnis an die subjektiven Bedürfnisse und Wissensstrukturen an. Im Vordergrund steht die subjektzentrierte oder zentripetale (zum Subjekt hin) Passung von Wirklichkeit und Selbst. Die Umgestaltung der Realität nach »eigenem« Bild und Gleichnis ist notwendig, damit das Individuum sein bisheriges Wissen und Können zu den neuen Eindrücken in Beziehung setzen kann. Ein prototypisches Beispiel für Subjektivierung im Spiel haben wir im Symbolspiel vor uns, das die Wirklichkeit an das subjektive Wissen einseitig assimiliert. Wenn also ein Kind einen Stuhl als Fahrzeug umdeutet und auf ihm sitzend Motorengeräusch imitiert, so passt es die Realität den eigenen Bedürfnissen und Zielen an. Die Grunderfahrung und -befindlichkeit der Subjektivierung ist das Heimischwerden in einer Welt, deren fremdartige oder andersartige Züge zugunsten der zum Subjekt passenden Merkmale vernachlässigt werden. Piagets Prozesse der Assimilation und Akkommodation entsprechen der aneignenden Subjektivierung und Objektivierung. Die vergegenständlichenden Prozesse bleiben bei Piaget weitgehend unbeachtet. A
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Isomorphie als Regulationsprinzip zwischen Subjekt und Kultur Piaget ging davon aus, dass das Kind mit Hilfe der konkret-logischen Operationen die Struktur der physikalischen Welt rekonstruiert, d. h. ein Weltverständnis aufbaut, das isomorph zur physikalischen Realität ist, wie sie von der Kultur konstruiert wurde. Akkommodation und Assimilation verbunden mit dem Vorhandensein von Schemata reichen aus, um dieses Weltverständnis aufzubauen. Um die andere Seite, nämlich die Formung der Umwelt durch den Menschen, erfassen zu können, war es notwendig, das Begriffspaar von Piaget zu erweitern. Verbindet man die vier Handlungskomponenten von Aneignung, Vergegenständlichung, Objektivierung und Subjektivierung mit der Perspektive, dass alles Handeln auf Gegenstände bezogen ist (Leontjew, 1977), so präsentiert sich das Subjekt nicht losgelöst von seiner Umwelt, sondern immer bezogen auf Objekte: S
O
Es ist leicht zu erkennen, dass ich mich bei dieser Formel Whitehead verpflichtet fühle, der die untrennbare Verbindung von Subjekt und Objekt als Einheit postuliert und damit gleichzeitig die Einseitigkeiten von Subjektivismus und Objektivismus überwindet. Im Alltagshandeln ist dieser Gegenstandsbezug als Umgang mit Gegenständen oder auch als Konstruktion von Gegenständen äußerlich sichtbar. Der Gegenstandsbezug existiert aber auch ohne äußeres Handeln. Jede Repräsentation von Gegenständen oder Sachverhalten, jedes gedankliche Manipulieren mit Inhalten bedeutet Gegenstandsbezug. Daher gibt es aus ökologischer Sicht nicht das reine Subjekt, sondern nur das auf Umwelt bezogene Subjekt, und für die Spezies Homo sapiens heißt das, das immer auf Gegenstände bezogene Subjekt: S(
O)
Latent bestehen also immer in der einen und anderen Form für das Subjekt Gegenstandsbezüge. Damit besteht eine Entsprechung zwischen Kultur und Subjekt. Hinter den kulturellen Gegenständen sind Akteure verborgen (S
)O
und Subjekte sind immer latent auf Gegenstände bezogen:
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S(
O)
Nun lässt sich die Wechselwirkung zwischen Kultur und Individuum exakt beschreiben. Wenn Individuen als handelnde Subjekte in ihrer Umwelt, die wir als kulturelle Umwelt definieren müssen, überleben wollen, müssen sie mit den kulturellen Gegenständen so umgehen, wie es die Kultur vorsieht. Im einfachsten Fall aus Bechern trinken, mit Messer und Gabel (bzw. mit Stäbchen) essen, die Hebelwirkung des Hammers richtig nutzen und ein Kraftfahrzeug adäquat steuern. Aber auch Wissensgegenstände verlangen genau die Handlungsstruktur, die ihre Konstrukteure vorgesehen haben. In der Mathematik müssen Operationen mit Zahlen so und nicht anders durchgeführt werden, wie es die Mathematik vorsieht. Das bedeutet: Die individuelle Handlungsstruktur ist isomorph zur kulturellen Handlungsstruktur. Genauer: Die kulturell vorgegebenen Gegenstandsbezüge sind isomorph zu den individuellen Gegenstandsbezügen. Isomorphie wird hier in Anlehnung an die Mathematik als wechselseitige Abbildbarkeit von Strukturen verstanden. Der kulturelle Gegenstandsbezug ist abbildbar in den individuellen Gegenstandsbezug und umgekehrt. Die jeweilige kulturelle Struktur bezeichnen wir im Folgenden als objektive Struktur, die individuelle Struktur als subjektive Struktur. »Objektiv« bezieht sich nicht auf die absolute Realität, sondern bezeichnet das, was in der jeweiligen Kultur als objektiv real und existent gilt. Isomorphie zwischen objektiver und subjektiver Struktur reguliert also sowohl die Kulturgenese als auch die Ontogenese. In der Ontogenese passt sich das Individuum schrittweise der Kultur an, das konstruierende Subjekt baut sukzessive zur Kultur isomorphe Handlungsstrukturen auf. In der Kulturgenese entstehen neue Handlungsstrukturen in Form von Gegenstandsbezügen, die isomorph zu individuellen Strukturen ihrer Konstrukteure sind und sein müssen. Alle kulturellen Gegenstände können immer nur menschliche Handlungsstrukturen beinhalten. Wie das Neue in die kulturelle Welt kommt, wird uns in einem späteren Abschnitt noch beschäftigen. Die Kulturgenese lässt sich zunächst beschreiben als Erweiterung und Veränderung des Universums von Gegenständen und den mit ihnen verbundenen Handlungsbezügen.
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Beispiele für den Aufbau individueller isomorpher Handlungsbezüge Im Folgenden soll die Idee von Entwicklung als Aufbau isomorpher Handlungsstrukturen an einigen Beispielen aus unterschiedlichsten Bereichen dargestellt werden. Aus strukturtheoretischer Perspektive können Aspekte der objektiven Struktur vom Individuum nur aufgebaut werden, wenn eine Basis vorhanden ist, die diesen Aufbau erlaubt. Bei Piaget war diese Basis das Schema, in das Information eingeordnet (assimiliert) und das in dieser Auseinandersetzung dann verändert wird. Vom Isomorphie-Paradigma ausgehend müsste man noch einen Schritt weitergehen und postulieren, dass es von Anfang an, d. h. von Geburt an Schemata mit Handlungsstrukturen geben muss, die isomorph zu kulturellen Handlungsstrukturen sind. Die angeborene Ausstattung müsste weiterhin weitgehend in allen Kulturen als Universalien anzutreffen sein, da der Säugling noch wenig Gelegenheit zum Erwerb (Erlernen) kultureller Strukturen hatte. Auf solchen basalen Strukturen bauen dann neue Isomorphie-Niveaus auf, die sukzessive im Laufe der Entwicklung erworben werden. Die Säuglingsforschung erbringt in der Tat Evidenz für diese Hypothese. Dies soll im Folgenden an einigen Beispielen gezeigt werden.
Mathematik Säuglinge haben einen Zahlbegriff bis 4 und verstehen innerhalb dieses Zahlenraums Addition und Subtraktion. Sie sind überrascht (längere Habituierungszeit), wenn beim Hinzufügen (oder Wegnehmen) eines Häschens ein falsches Ergebnis gezeigt wird. Der Zahlbegriff mit größeren Mengen wird, wie Piaget gezeigt hat, erst mit ca. 6–7 Jahren konstruiert, wobei die heutige Forschung allerdings ein wesentlich differenzierteres Bild zeigt, was aber für unsere Grundsatzannahme nicht von Bedeutung ist. Piaget belegt, dass das Verständnis von Zahlen ihren Umgang mit den vier Grundrechnungsarten impliziert. Am Beispiel der Mathematik wird hier deutlich, dass die individuellen Strukturen wirklich isomorph zur wissenschaftlichen Struktur sein müssen, da andernfalls falsche Ergebnisse zustande kommen. Abb. 2 verdeutlicht am Beispiel der Inversion, wie Kinder vor, während und nach dem Aufbau dieser mathematischen Struktur 258
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Abbildung 2: Inversionsverständnis von Sechsjährigen (Bisanz & LeFevre, 1990)
verfahren. Zunächst führen sie die Operationen des Addierens und Subtrahierens nacheinander aus, wie bei jeder anderen Aufgabe auch, z. B. 5 + 2 – 2. Dann beginnt die Erkenntnis, dass man nicht doppelt rechnen braucht. Die Kinder benötigen aber noch etwas mehr Zeit bei schwierigeren Aufgaben, z. 4 + 8 – 8. Schließlich wird das Inversionsprinzip auf alle Aufgaben angewandt. Aufgrund des frühen Auftretens der mathematischen Grundoperationen kann man davon ausgehen, dass sie zu der evolutionären Ausstattung des Menschen gehören. Interessant wird der Aufbau höherer mathematischer Strukturen, da diese uns nicht in der Evolution mitgegeben wurden. Hier zeigen sich in der Tat Barrieren. So treten Schwierigkeiten beim Verständnis des Bruchrechnens, des Prozentrechnens und des Funktionsbegriffes auf. Warum? Bei diesen Strukturen werden zwei Mengen quantitativ zueinander in Relation gesetzt. Schon Piaget konnte am Proportionsverständnis, das die gleiche mathematische Struktur aufweist, zeigen, dass diese Leistung das formallogische Denken benötigt. Diese letzte Stufe des Denkens ist nicht kulturell universell, sondern variiert je nach formaler Schulbildung und anderen kulturellen Bedingungen. A
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Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Kinder sukzessive mathematische Strukturen isomorph zur den Strukturen der Mathematik aufbauen. Misslingt ihnen der isomorphe Aufbau, so versagen sie in diesem Fach.
Musik Die Entwicklung musikalischen Verständnisses und musikalischer Praxis lässt sich ebenfalls als schrittweise Herstellung von Isomorphie zwischen objektiver (Musikkultur) und subjektiver Struktur darstellen. In der Musik gibt es bereits im Säuglingsalter Erkenntnisstrukturen, die isomorph zu kulturellen Strukturen sind. Wenn man davon ausgeht, dass frühe Leistungen im Säuglingsalter weniger das Ergebnis von Lernprozessen sind, sondern vorzugsweise auf die biologische Ausstattung zurückzuführen sind, dann müsste das Verständnis und die Performanz im Bereich der Musik beim Säugling Merkmale widerspiegeln, die bei allen Menschen in allen Kulturen anzutreffen sind, denn sie bilden die biologisch grundgelegten Komponenten. Einige dieser Merkmale kennt man heute bereits und vermutet auch aufgrund interkultureller Vergleiche, dass sie universell sind. Es handelt sich vorzugsweise um die nachfolgend beschriebenen Merkmale (Trehub, 2001, 2005). 1. Konturerkennen setzt vor der Erfassung der Tonalität und der Intervallrelationen ein. 2. Tonleitern mit ungleichen Tonschritten, wie unsere Dur- und Molltonleiter oder die Pentatonik können früher erfasst werden und erfahren von den Kindern eine Bevorzugung. Dies gilt auch für künstliche Tonleitern mit ungleichen Tonschritten. Diese Präferenz scheint für die in unterschiedlichsten Kulturen verwendeten Tonskalen zu gelten. 3. Bevorzugung einfacher ganzzahliger Frequenzverhältnisse. Oktave (1 : 2), Quinte (2 : 3), Quarte (3 : 4) und Terz (4 : 5) werden sowohl vom Säugling als auch im interkulturellen Vergleich bevorzugt. Die mathematischen Verhältnisse der Tonintervalle – allerdings innerhalb einer Toleranzbreite – und die neuronale Struktur scheinen eine Korrespondenz aufzuweisen. 4. Der Zweierrhythmus ist ursprünglicher als der Dreierrhythmus. Säuglinge erfassen den Zweierrhythmus leichter, und auch im 260
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Kulturvergleich zeigt sich z. B. in der Dichtung und Musik eine Bevorzugung des Zweierrhythmus. 5. Die Fähigkeit, Regelhaftigkeiten und Strukturen in der Musik zu entdecken. Die Erfassung von Regelhaftigkeiten gilt schon wegen der ihnen zugrundeliegenden Gestaltgesetze universell. Mit dieser Grundausstattung repräsentiert das Kind vermutlich universelle Züge von Musik und ist zugleich in der Lage, die kulturspezifischen Musikstile durch den sukzessiven Aufbau isomorpher Strukturen zu erfassen. Das unter Punkt 5 genannte Merkmal der Gestalterfassung hat man sowohl bei der visuellen als auch bei der auditiven Wahrnehmung gefunden. In der Musik wurden experimentell unter anderem die Gesetze der Nähe, des gemeinsamen Schicksals, der Kontinuität und der guten Gestalt nachgewiesen (im Überblick: Deutsch & Hamaoui, 2005). (Quasi-)räumliche Nähe gruppiert naheliegende Töne als zusammengehörig. Zeitliche Nähe ordnet Töne, die in kürzeren Abständen aufeinanderfolgen, zusammen. Töne mit der gleichen Klangfarbe werden als zusammengehörig wahrgenommen, weshalb man auch dann noch zwei Melodielinien, die von zwei verschiedenen Instrumenten gespielt werden, gut unterscheiden kann, wenn sie sich kreuzen (Gesetz des gemeinsamen Schicksals). Melodien mit kleinen Fehlern oder falsch gesungene Melodien werden richtig reproduziert, weil die Melodie sich als »gute Gestalt« durchsetzt. Wenn vor und nach dem Erklingen eines komplexen Akkords ein Ton, der in der Mitte des Akkords liegt, zu hören ist, so wird er als kontinuierlich im Akkord weiterklingend wahrgenommen, auch wenn er dort fehlt (Gesetz der Kontinuität, z. B. nachgewiesen von Vicario, 1982). Die Universalität der Gestaltgesetze kann kaum bezweifelt werden, da diese Gesetze zum einen bei der visuellen Wahrnehmung häufig nachgewiesen wurden, zum andern auch für Tiere gelten (bis hin zu den Elritzen). Gestaltgesetze lassen sich in enge Beziehung zum IsomorphiePrinzip bringen. Musikalische Produktion, die zum Bestandteil der Kultur wird, fußt zumindest teilweise auf Gestaltgesetzen und wird demzufolge nach den gleichen Prinzipien, d. h. isomorph vom Individuum erfasst. Gestaltgesetze bestimmen gleichermaßen objektive und subjektive Struktur, sie bilden also ein Erklärungsprinzip für Isomorphie, wobei natürlich eine Vielfalt anderer Bedingungen ebenfalls zur Isomorphie A
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zwischen Kultur und Individuum führen. Von ihnen wird noch weiter unten die Rede sein. Insgesamt lässt sich hypothetisch erwarten und auch empirisch belegen, dass im Laufe der Ontogenese musikalische Strukturen der umgebenden Musikkultur isomorph aufgebaut werden. Wie in der Mathematik steigen die individuellen Isomorphie-Niveaus zu immer komplexeren Formen auf und bewegen sich von Oberflächen- zu Tiefenstrukturen. Dabei gibt es bezüglich der ausgewählten Musikstile und des Ausmaßes der Erfassung musikalischer Strukturen beträchtliche Unterschiede. Aufgrund empirischer Untersuchungen (z. B. Dowling, 2005) vermutet man, dass sowohl Laien als auch Experten eher Oberflächenstrukturen der jeweiligen Musik verarbeiten und dass nur die intensive Beschäftigung mit einem Werk dessen tiefere Strukturen verständlich macht. Hier gilt wie überall, dass der Aufbau von Strukturen hierarchisch erfolgt und seine Richtung zudem von Oberflächenzu Tiefenstrukturen nimmt. Am Beispiel der Melodieerkennung soll die Hierarchisierung beim Aufbau isomorpher Strukturen verdeutlicht werden. Ein allgemeines Merkmal von Melodien ist ihre Kontur. Sie erfasst das Auf und Ab von Melodien ohne die genauen Intervalle beachten zu müssen. Die Kontur wird in der menschlichen Entwicklung daher auch als erstes erfasst, nämlich bereits im Säuglingsalter. Je nach Schwierigkeitsgrad von Aufgaben, die man Kindern stellt, folgt das Verständnis von Melodien auf der Intervallebene. Bei vertrauten Liedern erkennen bereits Vier- bis Sechsjährige Abweichungen bei vorgespielten Melodien, bei denen die Kontur konstant gehalten wurde. Die Tonart spielt erst später eine Rolle. Erst Neun- bis Zehnjährige erkennen Tonabweichungen, die nicht zur Tonart passen, einigermaßen sicher. Eine weitere Leistung beinhaltet die Fähigkeit, in andere Tonhöhen (Tonarten) transponierte Melodien im Vergleich zu anderen präsentierten Melodien zu identifizieren. Diese Leistung, die ebenfalls zwischen dem Alter von 6 bis 8 Jahren auftritt, entspricht der Invarianzerkenntnis bei Piaget. Invarianz ist generell als neues IsomorphieNiveau zu klassifizieren, da Strukturen als unverändert über veränderte Kontexte hinweg erkannt werden. Invarianz stellt sich übrigens nicht generell und für alle Bereiche ein, wie Piaget annahm, sondern wird zu verschiedenen Altersstufen je nach Schwierigkeitsgrad aufgebaut. So treten Invarianzurteile bei unvertrauten Melodien später oder manchmal auch bei Erwachsenen noch nicht auf. Fünfjährige, aber 262
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oft auch noch Erwachsene orientieren sich beim Transponieren an der Tonartnähe und nicht an den Intervallen. Melodien, die in (im Quintenzirkel) entfernteren Tonarten vorgespielt werden, erkennen die Kinder noch nicht als identisch. Eine weitere Invarianzleistung bezieht sich auf die Orientierung am Grundton einer Tonart, der zugleich den Ankerton bildet. Vorschulkinder wechseln beim Singen einer Melodie häufig die Tonart, während im Grundschulalter sukzessive der Grundton als Ankerton dient und die Tonart stabil bleibt. Diese »Konservation« im Sinne Piagets stellt ebenfalls das Erreichen eines wichtigen Isomorphieniveaus der abendländischen Musik dar, vor allem deshalb, weil hier eine Performanzleistung erzielt wird, die für den gemeinsamen Gesang bedeutsam ist. Schließlich sei noch auf eine Gedächtnisleistung beim Melodie-Erkennen verwiesen, die sowohl entwicklungslogisch als auch vom Isomorphie-Prinzip zu erwarten ist. Zunächst zeigt sich bei Kindern eine Überlegenheit des Gedächtnisses bei tonalen gegenüber nichttonalen Melodien: Letztere werden aber sukzessive besser ab dem Alter von 12 Jahren eingeprägt. Ein anderes Phänomen der Herstellung von isomorphen Strukturen bezieht sich auf die Übernahme musikalischer Subkulturen. Im Jugendalter beobachtet man das Phänomen der Prägung auf bestimmte Jugendmusikstile. Je nach Kohorte bevorzugt man die Musik, die man im Jugendalter gehört hat. Hier werden Hörstrukturen entwickelt, die dem jeweiligen Musikstil entsprechen. Umgekehrt entwickeln Musiker neue Stile aus einem Lebensgefühl heraus, das sie mit einer bestimmten Altersgruppe teilen. »Lebensgefühl« verbunden mit einer spezifischen Sichtweise von Welt bildet eine kognitiv-emotionale Struktur, die in solchen Subkulturen auch als objektive Struktur existiert. Dass Strukturen auch Emotionen einschließen, wird am Beispiel der Musik besonders gut deutlich. Letztlich haben aber alle subjektiven Strukturen auch einen emotionalen Anteil. Auf das Problem, wie denn Emotionen in der objektiven Struktur verankert sein sollen, kann hier nicht näher eingegangen werden.
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Isomorphie von Handlungsstrukturen im Alltag Der Isomorphie-Ansatz müsste auch und gerade für das Alltagshandeln gelten, wenn er theoretisch sinnvoll sein soll. Bei der Benutzung von Werkzeugen und Gebrauchsgegenständen aller Art ist dies evident. Die Nutzung von Trinkgefäß, Messer und Gabel, Hammer und Schraubenzieher erfolgt adäquat im Sinne des Herstellers und der kulturellen Regeln für die Nutzung von Gebrauchsgegenständen. Die Nutzung von Gegenständen kann ausgeweitet und ihr neuer Gebrauch kulturell etabliert werden. Als die Amerikaner nach 1945 zu uns kamen, lehrten sie uns neben der Demokratie auch, dass man die Beine auf den Tisch legen kann. Die Handlungsmöglichkeit des Relaxens, die der Tisch ebenfalls bietet, ist seitdem Bestandteil unserer Kultur geworden und wird vom Individuum damit auch in kulturell gebilligter Weise genutzt. Es gibt aber auch tieferliegende allgemeinere Strukturen, die Arbeit und Wirtschaft kennzeichnen. Wir haben in quasi-experimentellen Untersuchungen das Planungsverhalten auf drei Ebenen untersucht, nämlich der Ebene der eigenen Tätigkeit, der Nutzung von Werkzeug und Maschine und schließlich der Delegation. Der Grundgedanke dabei ist der folgende. Der unmittelbare Weg zur Erreichung eines Zieles ist die eigene Tätigkeit. Sie bildet nicht nur bei aktueller Zielerreichung die Basis, sondern auch in der modernen Arbeitsstruktur die Grundlage, sich den Lebensunterhalt durch eigene Arbeitstätigkeit zu verdienen. Die Nutzung von Werkzeug und Maschine als typisches Merkmal menschlicher Kultur erleichtert die Erreichung von Handlungszielen. Sie ist von Anfang an in Alltagshandlungen integriert, wird aber nicht ohne weiteres in Anspruch genommen, wenn damit ein Anfangsaufwand in Form von Planung, Strategieentwicklung und Abschätzung von Kosten verbunden ist. Wer beispielsweise im höheren Lebensalter mit Computern nicht vertraut ist, zögert, sich in die neue Materie einzuarbeiten, obwohl der spätere Nutzen groß sein kann. Selbst eine einfache Maschine wie das Fahrrad erfordert vor ihrer Nutzung eine Lernzeit. In vielen Fällen bildet somit die Nutzung von Werkzeug und Maschine ein höheres Handlungsniveau. Noch deutlicher wird dies beim Delegationsprinzip. In arbeitsteiligen Gesellschaften, wie sie die meisten Kulturen bilden, müssen Aufgaben delegiert werden. In diese Arbeitsstruktur wachsen die Individuen wie selbstverständlich hinein. 264
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Das Delegationsprinzip jedoch, das man als Individuum selber nutzen will, verlangt wiederum kognitiven und emotionalen Aufwand. Will man beispielsweise Arbeit delegieren, wie etwa bei der Einstellung eines Mitarbeiters, so sind Kalkulationen und Planungen nötig. Das damit verbundene Risiko eines Verlustes bedeutet zugleich eine emotionale Belastung. So zeigt sich in der Tat der Schritt vom Ein-MannBetrieb zur Ausweitung durch Einstellung von Mitarbeitern als etwas, vor dem man lange zurückschreckt. Wir haben die Folge Tätigkeit – Nutzung der Maschine – Delegation in Planungsaufgaben geprüft und auch entwicklungspsychologisch diese Reihenfolge gefunden (Oerter, Dreher, Dreher, 1977). Bei einer der Aufgaben ging es um die Planung eines gemeinsamen Urlaubs, zu dem tags zuvor eine Reihe von Aufgaben erledigt werden musste. Dabei konnte man ein Fahrrad, das aber erst repariert werden musste, zu Hilfe nehmen, und eine Aufgabe (von der Bank Geld abheben) delegieren. Wie zu erwarten, versuchten Jüngere die Lösung der Aufgabe ohne Nutzung von Maschine und Delegation, während mit zunehmendem Alter zunächst das Fahrrad und schließlich auch die Delegation des Bankgeschäftes eingesetzt wurden. Dennoch nutzten auch viele Erwachsene das Delegationsprinzip nicht. In Verbindung mit diesen auf Arbeit bezogenen Strukturniveaus habe ich eine andere Facette der Arbeitsstruktur untersucht, nämlich die psychischen Komponenten Fleiß und Intelligenz/Begabung (Oerter, 1986). In der modernen Arbeitsstruktur ist beides relevant, aber gerade in Wirtschaftsformen ohne Bodenschätze und natürliche Energiequellen zählen Expertise und Kompetenz. In der gesellschaftlichen Realität sind Fleiß und Kompetenz gewöhnlich kausal verknüpft: durch Fleiß gelangt man zur Kompetenz. In Ländern wie Deutschland wird Fleiß als Tugend hoch angesetzt. Andererseits kann größerer wirtschaftlicher Erfolg nur durch intelligentes Handeln erreicht werden. Schwere körperliche Arbeit wird bekanntlich wesentlich schlechter bezahlt als intelligente Arbeitsleistungen. Wie übernehmen nun Mitglieder dieser objektiven Arbeitsstruktur diesen Aspekt subjektiv in ihre Handlungsstruktur? Ich habe Altersstufen von der schulischen Kindheit bis zum Erwachsenenalter (Pädagogikstudenten) Geschichten vorgelegt, in denen zwei Akteure die gleiche Leistung vollbringen, der eine mit Fleiß, der andere mit Intelligenz. Die Probanden wurden gefragt, wen von beiden (je nach Inhalt der Geschichte), sie selbst und der Lehrer bzw. Chef höher einschätzten würde. Dabei fand sich der zu A
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erwartende Wandel. Die Kinder bewerteten den Fleiß höher, während Jugendliche und Erwachsene sukzessive die Intelligenz höher einstuften. Allerdings meinten immer noch viele Erwachsene, dass der Chef den Fleiß höher bewerten würde als die Intelligenz. Die in unserer Arbeits- und Wirtschaftsstruktur implizit enthaltene Maxime, mit möglichst wenig Aufwand möglichst viel zu verdienen, ist wohl bei der Mehrzahl der Bevölkerung nicht Bestandteil ihres Wissens oder ihrer Handlungsstruktur. Ironischerweise würde dieses Prinzip auch nicht mehr funktionieren, wenn es Bestandteil der kognitiven Struktur von allen würde.
Exkurs: Arbeitsstruktur als Graph Isomorphie zwischen objektiver und subjektiver Struktur lässt sich methodisch präzisieren, wenn man die Graphentheorie zu Hilfe nimmt. Der ursprünglich aus der Algebra stammende Begriff der Isomorphie wurde auch auf Graphen angewandt. Dort lassen sich Bedingungen angeben, unter denen zwei Graphen isomorph sind. Die moderne Arbeitsstruktur lässt sich tentativ als Graph darstellen. Die Erfassung der individuellen Struktur von Arbeit würde dann zeigen, welche Komponenten der objektiven Struktur übernommen worden sind. Die moderne (objektive) Arbeitsstruktur bezogen auf den individuellen Arbeitnehmer ist in Abb. 4 dargestellt. Das Subjekt bezieht sich über seine Fähigkeiten (im Lebenslauf erworbene Kompetenzen) auf die im Beruf anstehenden Aufgaben, tauscht dafür Geld ein, mit dessen Hilfe es nicht nur seinen Lebensunterhalt (Pfeil zum Subjekt) verdient, sondern auch für Freizeit und Familie Ressourcen zur Verfügung hat. Die Selbstverwirklichung verläuft mit unterschiedlicher Gewichtung über die Arbeit (Pfeil zu Fähigkeit und von dort zum Subjekt) zu Freizeit und Familie. Marx (Ausg. 1975) sah den Arbeiter ausschließlich als entfremdetes Subjekt, das seine Ware Arbeitskraft verkauft (Pfeil vom Geld zum Subjekt). Je nach Arbeitssituation kann in der Tat aus dem Fünf-Knoten-Graphen ein Drei-Knoten-Graph (Subjekt – Arbeit – Geld) werden. Untersuchungen an Auszubildenden und Gymnasiasten zeigten, welche Teile dieser Struktur übernommen wurden. Gymnasiasten produzierten häufiger die entscheidenden Merkmale der in Abb. 4 wieder266
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Kultur und Individuum Freizeit Familie
Subjekt
Fähigkeit
Beruf, Arbeit
Geld
Abbildung 4: Arbeitsstruktur für Berufstätige in modernen Gesellschaften
gegebenen Struktur als Auszubildende. Letztere betonten allerdings Züge der Entfremdung im Arbeitsprozess, die wiederum Gymnasiasten nicht artikulierten. Bei Auszubildenden stand der Teilgraph, der als linke Senkrechte in Abb. 4 dargestellt ist, im Vordergrund (Subjekt – Fähigkeit – Beruf): Die Realisierung eigener Fähigkeiten in der Arbeitstätigkeit, ohne die keine Befriedigung bei der Arbeit möglich ist und deren Fehlen zur Entfremdung von Arbeit führt (s. auch Oerter, 1985).
Individuelle Unterschiede und Verstöße gegen das Isomorphieprinzip Die Analyse einzelner Domänen (Bereiche) zeigt, dass in der Ontogenese isomorphe Strukturen entweder sukzessive hierarchisch, von niedrigeren zu höheren Niveaus aufsteigend, aufgebaut werden, wie in der Mathematik und in der Musik, oder dass von größeren AusA
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schnitten der objektiven (kulturellen) Struktur Teilstrukturen konstruiert werden, wie bei der Arbeitsstruktur und generell beim Erwerb von Wissen, das ja immer nur in Ausschnitten erworben wird. Mitglieder einer Kultur können niemals das gesamte Wissen ihrer Kultur erwerben. Bereits Piaget hat selektive oder partielle Isomorphie als Kennzeichen menschlicher Entwicklung dargestellt (Piaget, 1973, 1976). Das Wissen der Individuen ist selektiv, wobei Sozialisationsinstanzen wie Elternhaus, Schule und soziale Schicht bestimmend mitwirken. Immer ist aber das Individuum selbst der aktive Konstrukteur seiner Handlungsstrukturen, und immer bestimmt es selbst mit, welche Ausschnitte der Kultur es wählt. Der Aufbau isomorpher Strukturen führt wegen der selektiven Einengung auch zur Kanalisierung. Selektion bedeutet Verzicht auf Wissens- und Fertigkeitsbereiche und engt die zunächst nahezu unbegrenzten Möglichkeiten der Aneignung kulturellen Wissens ein. Schränkt man zunächst die vorhandenen Wissens- und Handlungsstrukturen auf solche ein, die isomorph zu kulturellen (objektiven) Strukturen sind, so ist die Hauptquelle individueller Unterschiede (a) in der verschieden ausgeprägten Fähigkeit der Informationsverarbeitung und des Konstruierens, (b) in den unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten zu kulturellem Wissen und (c) in der unterschiedlichen Interessenlage der Individuen zu suchen. Zieht man die vier Grundkomponenten von Handlung heran (s. Abb. 1), so liegt der Schwerpunkt des Aufbaus isomorpher Strukturen auf Prozessen der vergegenständlichenden Aneignung, die Piaget Akkommodation nennt. Die kulturelle Entwicklung basiert demgegenüber auf Vergegenständlichung. Die Akkommodation ist deswegen der entscheidende Prozess für die individuelle Konstruktion von isomorphen Strukturen, weil Assimilation (subjektivierende Aneignung) nur solange hinreicht, wie sich die zu verarbeitende Information adäquat in vorhandene Strukturen einordnen lässt. Allerdings bildet Assimilation gerade deswegen den Ausgangspunkt für Erkenntnis. Piaget hat am Beispiel von Traum und Spiel gezeigt, dass der Assimilation neben seiner Funktion als Orientierungsakt auch eine wichtige Aufgabe bei der Lebensbewältigung zukommt. Im Spiel, vor allem im Symbol- und Rollenspiel dominiert nach Piaget (1969) die Assimilation. Sie nimmt eine Schutzfunktion angesichts des massiven Sozialisationsdruckes ein, dem das Kind ausgesetzt ist. Das Kind kompensiert ihn und damit seine Schwäche, indem es die Realität im Spiel umdeutet und eine illusionäre Wirklichkeit erzeugt, in der es seine 268
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Wünsche imaginativ erfüllen und seine Ängste abbauen kann. In einer großen Zahl von Spielszenen, die wir analysiert haben, konnte diese Annahme Piagets bestätigt werden (Oerter, 1999). Interessant für das Konzept der Isomorphie als Regulationsprinzip ist, dass sich Kinder im Normalfall der Fiktion sehr bewusst sind, die sie im Spiel aufbauen. Die Verletzung der Isomorphie hat hier eine wichtige Entwicklungsfunktion, und das Kind weiß sehr wohl, dass seine Spielphantasien nicht isomorph zur objektiven Realität sind. Es deklariert seine Handlungen ausdrücklich als »Spiel« und beruhigt, wenn nötig, die beobachtenden Erwachsenen mit Bemerkungen, wie »wir spielen nur«. Gleiches gilt für das Phantasie- und Wunschdenken Erwachsener. Solange keine pathologischen Entwicklungen auftreten, dient es der Kompensation und gefährdet die Realitätssicht der Betroffenen nicht. Der Überhang an Assimilation ist bei diesen Phänomenen ein aktiver Prozess der Konstruktion abweichender Strukturen und Handlungen. Sie werden als Verarbeitung kritischer Erfahrungen erzeugt und bilden gewissermaßen im Alltag, was Künstler, Musiker und Dichter bewusst und rebellierend als neuen Beitrag für die Kultur erzeugen, wie wir im nächsten Abschnitt zeigen werden.
Kreativität Das Postulat von Isomorphie zwischen objektiver und subjektiver Struktur als Regulationsprinzip von kultureller und individueller Entwicklung legt die Kritik nahe, dass es hier letztlich um einen völligen Freiheitsverlust des Individuums gehe und die schöpferischen Kräfte des Menschen negiert würden. Diese Sichtweise wäre aber nur bei oberflächlicher Betrachtung möglich. Denn erstens ist ja Kultur immer ein kreatives Erzeugnis ihrer Mitglieder und basiert auf der schöpferischen Kraft von Menschen (Isomorphie-Richtung Subjekt Kultur); zweitens benötigen wir das Isomorphie-Prinzip zur Messung von individueller Kreativität. Sie ist definiert als neuer Beitrag eines Individuums zur Kultur. »Neu« bedeutet, dass die kreative Produktion (in unserer Terminologie »Vergegenständlichung«) bislang nicht Bestandteil der Kultur ist. Eine Definition von Kreativität ohne Rückgriff auf die Kultur ist problematisch, weil ohne diesen Bezug jede Abweichung als kreativ bezeichnet werden müsste. Kreativität bedeutet also eine Störung des Isomorphie-Gleichgewichtes zwischen Kultur und Individuum. Analog A
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zum Ungleichgewicht im Individuum, das durch geistige Aktivität des Problemlösens und Konstruierens zu beseitigen versucht wird, muss auch kulturelles Ungleichgewicht bearbeitet werden. In manchen Fällen bewirkt dies drastische Veränderungen der Kultur, wie wir sie in den letzten hundert Jahren beobachten konnten: Erfindung des Autos, des Flugzeugs, des Fernsehens, des Computers und des Handys. Es gibt auch ein Ungleichgewicht, das in kulturellen Systemen wie dem Wirtschaftssystem erzeugt wird und nach Individuen verlangt, die gemeinsam kreative Lösungen ausarbeiten. Wenn z. B. der Markt mit einer Ware gesättigt ist, müssen neue Produkte geschaffen werden. Auf diesen komplexen Zusammenhang, vor allem auf die negativen Seiten des kapitalistischen Systems kann hier nicht eingegangen werden. Aber es würde sich lohnen, wirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten unter dem Aspekt des Isomorphieprinzips zu analysieren. Zieht man neuere Ergebnisse der Kreativitätsforschung heran, so wird deutlich, wie sehr kreative Leistungen als neue Beiträge zur objektiven Struktur auf einem breiten Wissenshintergrund fußen. Wissenschaftliche Entdeckungen und technische Erfindungen verlangen eine langjährige Expertise in einer bestimmten Domäne, wie der Physik, Chemie oder Biologie. Die Expertise-Forschung nennt ca. 10 Jahre als Entwicklungsdauer für den Erwerb von hoher Expertise, d. h., dass erst einmal lange Zeit isomorphe Strukturen in einem wissenschaftlichen oder technischen Bereich erworben werden müssen, bevor neue Fortschritte kreiert werden können. Es gibt immer wieder Fälle, bei denen diese Regel nicht zuzutreffen scheint: Robert Koch, Schliemann, Fuhlrott (er erkannte die Bedeutung des Neandertaler-Fundes). In diesen Fällen entdeckten Forscher scheinbar aus dem Nichts etwas, ohne vorher Experten gewesen zu sein. Bei näherer Betrachtung stimmt dies jedoch nicht. Schliemann hat sich ein halbes Leben auf die Ausgrabung in Troja vorbereitet und den Ausgrabungsort aufgrund seiner gründlichen Kenntnis der Ilias gefunden. Analoges gilt für die übrigen Fälle. Kreative Beiträge in der Wissenschaft bauen also auf vorhandenem Wissen, dessen Struktur isomorph erworben sein muss, auf. Eine andere Form der Auseinandersetzung mit der Kultur bilden Protestbewegungen. Künstler, Schriftsteller und Musiker wenden sich gegen vorhandene Strukturen, die sie für schädlich oder falsch halten und sind, wie man gerne sagt, ihrer Zeit voraus. Gemeint ist, dass sie im Zuge ihrer Kulturkritik neue Entwürfe vorstellen und bewusst gegen isomorphe Strukturen verstoßen. Die letzten hundert Jahre sind 270
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durch permanente Gesellschafts- und Kulturkritik in Kunst, Literatur und Musik gekennzeichnet. Vieles von den Entwürfen hat Einfluss genommen und wurde zum Bestandteil der Hauptkultur, vor allem moderne Malerei und Rock- und Popmusik. Einmal als Struktur übernommen, beeinflussen sie Gruppen von Angehörigen der Kultur, die diese Strukturen bei sich aufbauen, zu Kennern werden und zugleich als Individuen die neue Kultur repräsentieren. Natürlich gibt es auch Kreativität im Alltag. Fast alle Aufgaben, die in Beruf, Freizeit, im Familienleben und in der persönlichen Identitätsentwicklung anfallen, erfordern permanent neue Lösungen. Sie halten das Zusammenleben aufrecht und sind daher ebenfalls notwendiger Bestandteil menschlicher Kultur. Diese Leistungen werden wegen ihrer Alltäglichkeit meist unterschätzt. Sie halten trotz kreativer Abweichung größere Strukturen aufrecht und sorgen für Stabilität. Auch wenn sie oft nur für kurze Dauer existieren, sind sie Bestandteil unserer Kultur und tragen mit Neuem zur ihrer Dynamik bei.
Struktur, Variation und Abweichung Menschen sind biologische Wesen und variieren permanent in ihren Handlungen. Keine einzige Handlung wird jemals völlig identisch ausgeführt, weder bei verschiedenen Individuen noch bei dem gleichen Individuum, das eine Handlung wiederholt. Natürlich gilt dies auch und noch mehr für mentale Prozesse. Wie kann man dann von isomorphen Strukturen sprechen? Hier zeigt sich, dass der Strukturbegriff von Vorteil, ja unbedingt notwendig ist. Nehmen wir als Beispiel das Trinken aus einer Tasse. Jeder hält die Tasse anders, jeder bewegt sie unterschiedlich zum Mund und führt sie verschieden an die Lippen. Dennoch bleibt die Struktur der Handlung die gleiche, und das Handlungsziel, der Zweck der Handlung wird in jedem Falle erreicht. Ähnliches gilt für alle motorisch ausgeführten Handlungen. Sie variieren und sind niemals völlig identisch, weil biologische Wesen nicht wie Maschinen Bewegungen genau gleich ausführen können. Die Handlungsstruktur bleibt jedoch gleich, sofern sie den Kern, nämlich den Handlungszweck, erfüllt. Das Beispiel des Werkzeuggebrauchs mag zeigen, wie Handlungsstrukturen erworben werden. Kinder benutzen einen Hammer zuA
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nächst nicht seinem Zweck entsprechend, sondern einfach als Gegenstand, mit dem man manuell umgehen kann. Sodann erkennen sie die Funktion des Klopfens, nutzen aber noch nicht die Hebelwirkung des Werkzeugs und koppeln noch nicht Armbewegung mit dem Hammerstil, um die Schlagkraft des Hammers zu nutzen. Erst in einem dritten Stadium gelingt ihnen der adäquate Werkzeuggebrauch, wobei das implizite Verständnis der Hebelwirkung mit dem Erwerb der nötigen Fertigkeit einher geht. Die Handlungsstruktur wird also in drei Etappen isomorph aufgebaut. Als erstes wird der manuelle Gegenstandsgebrauch als Handlungsstruktur erkannt, sodann die äußere Form (Figur) der Handlung übernommen und schließlich die physikalische Funktion des betreffenden Werkzeugs genutzt. Analoges lässt sich für geistige Werkzeuge feststellen. Man kann zeigen, dass Lernende mathematische Strukturen nur »oberflächlich« benutzen, also Operationen mechanisch oder routinemäßig ohne Verständnis ausführen. Ein tieferes Verständnis fehlt und führt zum Versagen, wenn Aufgaben gestellt werden, die dieses Verständnis verlangen. Dies war der Fall bei der PISA-Studie. Wir müssen annehmen, dass bei der Mehrzahl der deutschen Schülerinnen und Schüler die erforderlichen mathematischen Strukturen nicht aufgebaut worden sind. An anderer Stelle habe ich gezeigt, welche mathematischen Strukturen besondere Schwierigkeiten machen (Oerter, 2008).
Interkulturelle Widersprüche und Devianz Infolge der Globalisierung und auch aus anderen Gründen stehen sich Gesellschaften gegenüber, deren kulturelle und individuelle Strukturen im Widerspruch zueinander stehen. In den meisten Fällen gründen diese Widersprüche in religiösen Überzeugungen und dem aus ihnen abgeleiteten Verhaltenskodex. Beschneidung der Frauen im Magreb, sogenannte Ehrenmorde, Selbstmordattentate sind nur die schlimmsten Auswüchse des Sachverhaltes, dass Isomorphie zu subkulturell oder auch weitreichend geltenden Strukturen konstruiert wird. Religiöse und religiös abgeleitete Handlungsstrukturen stellen Tiefenstrukturen dar, die außerordentlich schwer beeinflussbar sind. In eigenen Untersuchungen und in vielen anderen Forschungsbefunden ergab sich, dass Tiefenstrukturen, wie Glaubensüberzeugungen, bei Beeinflussungsversuchen den sogenannten Bumerangeffekt zeigen, d. h. die 272
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persönlichen tiefliegenden Wertüberzeugungen werden durch die Beeinflussung noch verstärkt. Der Gefährdung des Glaubens begegnet man mit einer stärkeren Verankerung der eigenen Überzeugung. Fundamentalistische und terroristische Überzeugungen stehen zur objektiven Struktur der westlichen Gesellschaft in Widerspruch. Wir können solche Überzeugungen nicht dulden, sofern sie unsere Gesellschaft gefährden. Umgekehrt dulden aber Fundamentalisten und Terroristen unsere Gesellschaftsordnung nicht und bekämpfen sie daher. Werden wichtige Strukturen einer Kultur nicht isomorph aufgebaut, so deklarieren wir dies oft als deviant und pathologisch. Devianz ist der allgemeinere Begriff und umfasst neben pathologischen Phänomenen auch Delinquenz und Drogengebrauch. Wir unterscheiden mit Moffitt (1993) Jugenddelinquenz und persistente Delinquenz. Jugenddelinquenz verschwindet im Gegensatz zur persistenten Delinquenz im Erwachsenenalter wieder und lässt somit vermuten, dass sie eine bewusste Abweichung darstellt, die Protest, Experimentieren und subkulturelle Bewegungen ausdrückt. Pathologische Entwicklungen bedeuten demgegenüber, dass das Individuum nicht fähig ist, die Diskrepanz zwischen eigener Struktur und kultureller Struktur zu erkennen oder in einem erträglichen Ausmaß zu verringern. Wahnvorstellungen und Halluzinationen werden als real vom betroffenen Individuum wahrgenommen, nicht aber von der die umgebende Kultur repräsentierenden Gesellschaft. Wenn allerdings die Gesellschaft oder Teilgruppen solche Wahnvorstellungen als real anerkennen, kann daraus eine Sekte oder eine Religion entstehen. Von da ab sind – und das ist wichtig festzuhalten – solche geistigen Gebilde real, so real wie Häuser und Autos. Für Philosophen stellt sich nach wie vor die Frage noch der ontologischen Existenz von Strukturen. Sind kulturelle geistige Strukturen real? Existieren sie nur in den Köpfen der Mitglieder einer Kultur? Sicherlich kommt ihnen Realität zu, aber eine Realität, die verändert werden kann und, zumindest in modernen Gesellschaften, als konstruierte Realität verstanden wird. Nur Religionen beanspruchen die absolute Wahrheit und Realität ihrer Konstruktionen. Und das ist das eigentlich Gefährliche an ihnen. Solange wir uns bewusst bleiben, dass unsere kulturellen Strukturen Konstruktionen sind, können wir sie verändern und an ihnen weiterarbeiten.
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Methodische Probleme Der Ansatz, individuelle und kulturelle Entwicklung durch das Isomorphie-Prinzip zu verzahnen enthält eine Reihe von Problemen. Logisch kann sich leicht ein Tautologie-Problem ergeben: man definiert eine Handlungsstruktur beim Individuum und versucht, die gleiche Struktur in der Kultur zu finden. Da Strukturen aber Konstruktionen und keine realen Gebilde sein können, lässt sich dieser Vorgang der Übertragung von der einen auf die andere Seite durch den menschlichen Erfindungsgeist leicht vornehmen, ohne dass ein hinreichender Bezug zur Wirklichkeit gegeben sein muss. Daher habe ich die Beispiele Mathematik und Musik ausgewählt, weil dort auch objektive Strukturen definiert sind, die unabhängig vom konkreten individuellen Wissen existieren. Auf Seiten des Individuums lassen sich unter handlungstheoretischer Perspektive Strukturen systematisieren. So sind wir dabei, die aus umfangreichen Interviews gewonnenen Aussagen zum Menschenbild mit Hilfe einer Handlungsgrammatik in Strukturen zu übersetzen und auf diese Weise die Vielfalt von Aussagen zu formalisieren und auf grundlegende Strukturen zu reduzieren. Hier fehlt das Pendant der objektiven Struktur. Wir fanden im Kulturvergleich jedoch häufig, dass die formale Struktur eines Niveaus gleichbleibt, inhaltliche Beschreibungen jedoch verschieden sind (Oerter et al., 1996). Das Niveau der autonomen Identität (Stufe IIIa des Menschenbildes) fand sich in westlichen und östlichen Kulturen gleichermaßen, jedoch wurde Autonomie unterschiedlich verstanden. In östlichen (kollektivistischen) Kulturen bedeutet Autonomie die freiwillige und bewusste Übernahme kultureller Werte, die materielle Unabhängigkeit von den Eltern und die Möglichkeit, für andere sorgen zu können. In westlichen (individualistischen) Kulturen bedeutet Autonomie den Aufbau eigenständiger Wertstrukturen und die Durchsetzung eigener Zielvorstellungen und Wünsche. Man müsste nun versuchen, individualistische und kollektivistische Kulturen sowie deren Mischungen, wie sie heute in vielfältiger Form auftreten, strukturell zu beschreiben. Ein Versuch dieser Art stammt von Markus und Kitayama (1991), die die Strukturen des »dependent und independent self« darstellen. Die Verbindung von Struktur und Inhalt erweist sich als generelles Phänomen. Die hier diskutierten Wissens- und Handlungsstrukturen bilden eine Mischung von Form und Inhalt. Die Expertise274
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Forschung hat gezeigt, dass die gründliche Kenntnis in einem Inhaltsbereich (z. B. Mathematik) wenig gewinnbringend für Kompetenzen in anderen Bereichen (z. B. Politik) ist. Die geringe Übertragungsfähigkeit kann nur mit der Verbindung von Inhalt und Struktur zusammenhängen. Doch das ist eine Frage, der man bislang noch wenig nachgegangen ist. Ein Weg der Präzisierung zur Darstellung von Isomorphie-Beziehungen zwischen objektiver und subjektiver Struktur ist die Darstellung in Form von Graphen, die wir auch bei der Analyse des Menschenbildes verwendet haben, und die oben exemplarisch dargestellt wurde (Abb. 4). Hier schleicht sich jedoch leicht der logische Fehler der Konstruktion von Graphen sowohl für kulturelle als auch individuelle Strukturen als Produkt des Wissenschaftlers und nicht als unabhängig erfassbare Größe ein.
Resümee Isomorphie von Strukturen als wechselseitiger Regulationsprozess zwischen Individuum und Kultur ist für Homo sapiens überlebensnotwendig, aber dieser Prozess wird fortlaufend begleitet durch die Generierung abweichender Strukturen, die das Spannungsverhältnis von Individuum und Kultur ausmachen. Zu starke Anpassung führt auf beiden Seiten zur Erstarrung. Die Kultur entwickelt sich nicht weiter, kann aber, sofern sie effiziente Formen der Lebensgestaltung ausgebildet hat, sehr stabil und lebenserhaltend sein. Die Yamanas auf Feuerland haben ihre Kultur viertausend Jahre nicht verändert und sie nach Ankunft der Weißen in wenigen Jahren verloren. Zu starke Abweichung der Individuen von ihrer Kultur führt ins Chaos. Für die mentale Hygiene der Menschen in unserer Gesellschaft, in der sich die Kultur rascher wandelt als der Mensch während seines Lebenslaufes, scheint eine Balance zwischen Anpassung von Handlungsstrukturen an objektive Strukturen und eine Abweichung durch Generierung neuer Handlungsstrukturen optimal zu sein. Wer sich zu sehr und uneingeschränkt anpasst, vermag dem kulturellen Wandel während seines persönlichen Lebenslaufes nicht zu folgen. Wer umgekehrt wichtige und überdauernde Strukturen seiner Kultur nicht akzeptiert, wird zum Außenseiter, gerät in Isolation und fühlt sich entfremdet.
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Struktur als Prinzip und Tatsache. Zur Methodologie der Kulturwissenschaften Christian Bermes
I.
Strukturen: Der Schlüssel zu allem?
Es kommt nicht allzu häufig vor, dass ein philosophisches Konzept die Gemüter derart bewegt, dass Publikumszeitschriften darüber berichten und das behandelte Thema gar Nationen zu spalten droht. Im Frühjahr 1969 veröffentlicht beispielsweise Der Spiegel einen Artikel zum Strukturalismus unter dem schlichten, allerdings vielsagenden und sicherlich auch werbewirksamen Titel der »Schlüssel aller Dinge«. 1 Versprochen wird eine neue Lehre, die »weder Philosophie noch Weltanschauung, sondern eine wissenschaftliche Arbeitsmethode« präsentiere, die »fast so kompliziert sei wie die Atomphysik«. Erstmals sei es nun möglich, »ideologisch neutrale und fast naturwissenschaftlich exakte Resultate« in den Geisteswissenschaften zu liefern. Allerdings scheint die von dem Autor dieses Artikels im Strukturalismus vermutete kristalline Klarheit nicht in England verstanden oder gesehen zu werden. Denn bereits sieben Jahre zuvor, im Mai 1962, erschien in der Times eine anonyme Polemik unter dem Titel The Myth of Clarity die ebenfalls die neuen Entwicklungen in Frankreich, den Durch- oder besser Ausbruch des Strukturalismus behandelt und zu dem Ergebnis kommt, dass die klassische französische Philosophie der »clarté« einem Obskurantismus gewichen sei, der im Gefolge von Roland Barthes und Jacques Lacan als freilaufenden Adepten von LéviStrauss die Geister verwirre. Schließlich, so bemerkt der angelsächsische Verfasser mit spitzer Feder, wisse sich gegenwärtig wohl ein französischer Arbeiter klarer auszudrücken als ein französischer Intellektueller. Die im Spiegel vermutete Klarheit der Strukturen als Grundlage einer exakten Methodik für die Geisteswissenschaften erscheint in
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Der Spiegel 13 (1969), 164–166.
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England nur als zwielichtiges Gespenst eines abwegigen Denkens. 2 Deutlicher lässt sich wohl nicht zeigen, wie umstritten der Begriff der Struktur, wie schwierig das Phänomen zu fassen ist. Solcherart Polemiken um den Strukturalismus ließen sich ohne Schwierigkeiten weiter ausbreiten, und sie erscheinen dreißig bzw. vierzig Jahre später als fast unverständliche Eruptionen einer vergangenen Zeit, vielleicht sogar als Folklore einer sich über die Maßen stilisierenden Wissenschaft. Doch die Auseinandersetzungen der 60er Jahre bleiben kein Strohfeuer, in den 70er Jahren werden die Diskussionen weitergeführt – und die Worte werden deutlicher, die Fronten klarer, da insbesondere jetzt eine intellektuelle Großdoktrin nicht nur politisch, sondern auch theoretisch ins Straucheln gerät – es handelt sich dabei, Sie wissen es, um die Spielart eines existentialistisch begründeten Marxismus. Bekanntlich war es Sartre, der bereits früh gegen die Strukturalisten vorging, um deutlich zu machen, dass es – wie er sich ausdrückt – »ein logischer Skandal« 3 sei, die Geschichtlichkeit menschlichen Daseins im Namen der Strukturen zu negieren. Geschichte sei, so Sartres Hinweis, nur von handelnden Subjekten aus und nicht als ahistorische Struktur begreifbar – alles andere sei eine metabasis eis allo genos. Dass Struktur, Handeln und Geschichte sich nicht ausschließen müssen, ist in jenen Tagen nicht allen aufgefallen. Ein in vielerlei Hinsicht eindrucksvolles Dokument aus dem deutschsprachigen Raum ist die 1973 von Wulf D. Hund organisierte Kampfschrift Strukturalismus. Ideologie und Dogmengeschichte, die im Namen von Hegel und Marx gegen den Strukturalismus zu Felde zieht und in den Strukturen nichts als »Fetische« erkennt. 4 »Die Strukturen sind in der Tat eine Art höchst geheimnisvoller erkenntnistheoretischer Heinzelmänner. Wer ihren Schleier lüftet, kann nur zu dem Ergebnis kommen: Auch der moderne Strukturalismus ist ein moderner Agnostizimus. Die spekulierte Kluft zwischen Idee und Materie soll auf Kosten der Materie überbrückt werden.« 5 Es seien angesichts des Hegelschen Erbes und des marxschen Testaments insbesondere die Times Literary Supplement 3.140 (4. Mai 1962), 291. Jean-Paul Sartre: Jean Paul Sartre antwortet (1966). In: Der französische Strukturalismus. Mode – Methode – Ideologie, hrsg. von Günther Schiwy (Reinbek bei Hamburg 6 1973), 208–213, hier: 213. 4 Wulf D. Hund: Strukturalismus. Ideologie und Dogmengeschichte (Darmstadt/Neuwied 1973), 18. 5 Ebd., 40. 2 3
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folgenden Merkmale, die den zeitgenössischen Strukturalismus als dogmatischen Positivismus kennzeichneten. Erstens sei der Strukturalismus ein Idealismus und leugne den Primat der Materie; zweitens entspreche dem Strukturalismus ein Theoretizismus, der die Praxis als Kern der Gesellschaft negiere; drittens stehe der Strukturalismus in der Tradition des Logischen Empirismus und expliziere vor diesem Hintergrund eine neue Metaphysik, und schließlich sei der Strukturalismus geschichtsfeindlich, da die Strukturen keiner historischen Dynamik unterliegen würden. 6 Es wäre sicherlich ein lohnendes Unterfangen, diese Diskussionen im Rahmen einer Mentalitätsgeschichte und Wissenschaftspolitik des 20. Jahrhunderts genauer darzustellen. Dies ist nun allerdings nicht mein heutiges Thema, aber es scheint mir wichtig zu sein, auf diese hitzigen Diskussionen zumindest kurz hingewiesen zu haben, denn sie zeigen mehr als sie sagen. Sie zeigen das, wie Cassirer es nennt, Drama der Bestimmung des Menschen und der Welt des Menschen. 7 Denn unter dem Namen des vergleichsweise neutral auftretenden Begriffs der Struktur geht es nicht einfach um ein bloß sachliches Problem, es geht in einem ganz eminenten Sinne um ein praktisches Problem, nämlich die Frage nach dem Menschen, dessen Selbstverständnis und seiner Wirklichkeitsauffassung. Werden Bewusstsein und Sein Ebd., 49: »Der Strukturalismus ist ein Idealismus. Eindeutig ist seine Stellung zur Grundfrage der Philosophie. Geleugnet wird das Primat der Materie. Der Strukturalismus ist entsprechend ein Theoretizismus. Die Rolle der Praxis im gesellschaftlichen Leben wird falsch eingestuft. Vorrang gebühren soll der Theorie. Sie aber hat in der Regel kontemplativen Charakter. Der Strukturalismus steht in der Tradition des logischen Empirismus. Weitergehend als dieser expliziert er eine neue Metaphysik. … Der Strukturalismus ist geschichtsfeindlich. Die Strukturen sollen keiner historischen Dynamik unterliegen.« 7 Vgl. Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in die Philosophie der Kultur (engl. 1944), übers. von Reinhard Kaiser (Hamburg 2 2007), 26: »Die philosophische Anthropologie hingegen hat [im Gegensatz zu den theoretischen Disziplinen] einen völlig anderen Charakter. Wollten wir ihre wirkliche Bedeutung und Tragweite erfassen, so könnten wir sie nicht mit epischen, sondern nur mit dramatischen Mitteln darstellen. Denn wir haben es nicht mit der friedlichen Entfaltung von Begriffen oder Theorien zu tun, sondern mit dem Zusammenprall einander opponierender geistiger Mächte. Die Geschichte der philosophischen Anthropologie ist mit den heftigsten Leidenschaften und Gefühlswallungen befrachtet. In ihr geht es nicht um ein bestimmtes theoretisches Problem, so groß seine Reichweite auch sein mag; hier steht die Bestimmung des Menschen auf dem Spiel und fordert lautstark nach einer definitiven Entscheidung.« 6
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nicht mehr einfach gegeneinander ausgespielt, sondern als strukturale Verflechtungen eines Ganzen gedacht, wird das bloße Beieinander von Gegenständen zur Einheit eines Sinns überschritten, dann wird zugleich das Bild des Menschen neu skizziert. Es kommt in einem geradezu wörtlichen Sinne zu einer Neupositionierung des Menschen, zu einer Lokalisierung, worin die Einstellung zum Sein von der Stellung im Sein abhängt. Diese Neupositionierung ist mit dem Begriff der Struktur verbunden und begründet auch seine Sprengkraft. Selbst diejenigen Konzepte, die im Namen der Struktur das menschliche Subjekt zu eliminieren versuchen wie etwa Foucault, oder, wie Deleuze es einmal ausdrückte, dieses Subjekt »zerbröckeln« wollen, gewinnen ihre Brisanz vor dem Hintergrund der Tatsache, dass es immer um die Wirklichkeit des Menschen geht. Wäre dies nicht der Fall, würden uns jene Autoren auch nicht weiter irritieren, wäre ihre Provokation selbst nicht mehr als eine Zeichnung im Sand, die mit der nächsten Welle vergeht. Der Strukturbegriff scheint mir dementsprechend kein ganz neutraler Begriff zur Erschließung einer beliebigen Wirklichkeit zu sein, er wird demgegenüber in die Philosophie und die Wissenschaften eingeführt, um eine Wirklichkeit als unsere Wirklichkeit zu begreifen. Bezogen auf Cassirer könnte man vielleicht sogar sagen, dass seine Vorliebe für die Floskel »für uns« theoretisch als »Struktur« zu begreifen ist. Man könnte auch davon sprechen, dass es unter dem Titel der Struktur um eine Resensibilisierung für die eigene und besondere Wirklichkeit des Menschen geht – denn nicht umsonst erwächst das Strukturdenken aus der Phänomenologie, die unter dem Titel der Intentionalität gleichsam die Struktur aller Strukturen verhandelt. Mit dem Topos der Resensibilisierung darf man auch die medizinische Bedeutung verbinden und sie mit einer erkenntnistheoretischen verknüpfen: Geht es doch geradezu um die Wiederbelebung einer Erfahrung, in der Sinn als Seinsordnung gedeutet wird und es darauf ankommt, diese Seinsordnung unter dem Titel der Struktur verständlich werden zu lassen. Damit ist der Begriff der Struktur ebenso mit dem Begriff der Ordnung wie dem des Sinns verknüpft. Und mir wird es im Folgenden darum gehen, dieses Verhältnis von Sinn und Ordnung zu konturieren und dessen – wie ich denke – eigene Dignität herauszustellen. Dazu werde ich in einem ersten Abschnitt auf Merleau-Ponty und Cassirer zu sprechen kommen, um das Verhältnis von Gestalt, Struktur A
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und Sinn zu klären, indem die Begriffe Prinzip und Tatsache eingeführt werden. Hier wird zudem deutlich, dass man mindestens einen Unterschied zwischen einer strukturalen Philosophie von beispielsweise Merleau-Ponty und Cassirer und einem Strukturalismus im Stile Foucaults oder Barthes machen muss. Der Unterschied ist eindeutig: Im ersten Fall ist Sinn ein Tiefenphänomen des Wirkens, im zweiten Fall eine Oberflächenerscheinung der Werke. Legendär sind Foucaults Worte, dass der Bruch der Philosophengenerationen in Frankreich sich in dem Augenblick vollzog, als klar wurde, »dass der ›Sinn‹ vermutlich nichts als eine Art Oberflächenwirkung, eine Spiegelung, ein Schaum sei, dass das, was uns im Tiefsten durchdringt« ein System oder eine Struktur ist. 8 Cassirer aber trennt nicht Sinn von Struktur, Struktur ist vielmehr ein besonderer Sinn. Der zweite Abschnitt fragt nach dem Seinsmodus und dem Erkenntnismodus von Strukturen bzw. symbolischen Formen. Es wird sich zeigen, dass hinsichtlich des Erkenntnismodus ein weiteres Begriffspaar – nämlich das Begriffspaar Wissen und Gewissheit – eine Rolle spielen muss, um die intrinsische Bedeutung von Strukturen zu begreifen. Wer von Strukturen spricht, so die These dieses Abschnitts, behandelt ein materiales Apriori der Kultur. In einem letzten Abschnitt will ich den Begriff der Gewissheit spezifizieren und andeuten, dass eine Kulturwissenschaft leerläuft, wenn sie diesen Aspekt der Struktur als Gewissheit übergeht. In diesem letzten Abschnitt geht es mir also um einen bestimmten Aspekt der kulturwissenschaftlichen Methodik. Doch erlauben Sie, dass – bevor ich zu den einzelnen Abschnitten komme – ich das Motiv, den Hintergrund und den Rahmen meiner Überlegungen nenne. Das Motiv besteht in der Befürchtung, dass den gegenwärtig geradezu explodierenden Kulturwissenschaften das Schicksal droht, das nicht nur Cassirer für eine andere Disziplin diagnostizierte. So wie man von der Psychologie ohne Seele gesprochen hat, so kann man heute von einer Kulturwissenschaft ohne Kultur sprechen. Es könnte sein, und dies ist die Befürchtung, dass die Kulturwissenschaften vergessen haben, was Kultur ist. Im Hintergrund meiner Überlegungen werden nicht nur die Philosophien Merleau-Pontys und Cassirers, sondern auch GedankengänMichel Foucault: Absage an Sartre (1966). In: Der französische Strukturalismus, a. a. O., 203–207, 204.
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ge Husserls und Wittgensteins stehen, die beide in ihren reifen philosophischen Werken darauf hingewiesen haben, dass eine erkenntnistheoretische Explikation des Wissens nicht in der Analyse eines funktionalen Wahrheitswissens aufgehen kann, sondern auf die Beschreibung von materialen Strukturgewissheiten gegründet werden muss. Bei Wittgenstein heißt es in diesem Sinne prägnant und eindeutig: »Wer keiner Tatsache gewiss ist, der kann auch des Sinnes seiner Worte nicht gewiss sein.« (ÜG § 114) Strukturen scheinen mir nun solche Tatsachen der Gewissheit (nicht des Wissens) zu bezeichnen. Damit, und das ist der Rahmen meiner Überlegungen, der hier allerdings nur angedeutet werden kann, revidiert eine strukturale Philosophie das sogenannte nachmetaphysische Denken. Es mag vielleicht ein Zufall sein, doch gleichzeitig ist es bezeichnend, dass Habermas im Zuge seines Versuchs der Etablierung einer nachmetaphysischen Philosophie oder besser Soziologie den Strukturbegriff benutzt, um sich an entscheidender Stelle von der Metaphysik abzusetzen. Es heißt bei ihm: »Die Philosophie bleibt ihren metaphysischen Anfängen solange treu, wie sie davon ausgehen kann, dass die erkennende Vernunft sich in der vernünftig strukturierten Welt wiederfindet oder selbst der Natur und der Geschichte eine vernünftige Struktur verleiht.« 9 Nachmetaphysisches Denken, so könnte man sagen, leugnet Strukturen als orientierende Seinsordnungen der Vernunft. Demgegenüber werden meine Überlegungen darauf hinauslaufen, dass eine Vernunft, die sich nicht in einer Wirklichkeit als ihrer Wirklichkeit wiederfindet, pathologisch ist. Eine bloße Verfahrensrationalität ist orientierungslos, wenn sie nicht durch Strukturen als ordnende Gewissheiten begrenzt und in diesen verankert wird. Man kann es auch mit einem Satz sagen, den ich bereits nannte: Die Struktur ist das materiale Apriori der Kultur.
II.
Von der Gestalt zur Struktur – Strukturen als Prägungen zum Sein
Es ist nicht nur dem 100. Geburtstag Merleau-Pontys im März dieses Jahres geschuldet, dass ich auf den französischen Phänomenologen zu sprechen komme. Es ist auch nicht einfach nur der sicherlich richtigen Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze (Frankfurt/ M. 1992), 42.
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Bemerkung Günther Schiwys in seinem Strukturalismus-Buch zu verdanken, dass Merleau-Ponty von mir heute an dieser Stelle angeführt wird. Macht Schiwy doch völlig zu Recht darauf aufmerksam, dass die »philosophische Autorität, deren sich Merleau-Ponty erfreute«, viel dazu beigetragen hat, »den Strukturalismus philosophisch hoffähig zu machen«. Zu denken ist dabei nicht nur an Merleau-Pontys erstes Hauptwerk Die Struktur des Verhaltens, sondern auch an seine Aufsätze zur Soziologie, Sprachphilosophie und Geschichtswissenschaft aus der Mitte der 50er Jahre. Auch komme ich nicht auf Merleau-Ponty zu sprechen, weil er dafür verantwortlich war, dass Lévi-Strauss – sozusagen der Paradestrukturalist schlechthin – an das Collège de France berufen wurde. All dies würde sicherlich rechtfertigen, von MerleauPonty hier zu sprechen, doch es bleiben Nebensächlichkeiten im Vergleich zu der tiefen Geistesverwandtschaft, die zwischen Cassirer und Merleau-Ponty aufgedeckt und auf den Begriff gebracht werden kann. Es ist vielleicht eine Übertreibung, aber es ist auch nicht ganz falsch, wenn man sagt, dass Merleau-Ponty der erste, wenn auch unbekannte, Schüler Cassirers war. Beide Philosophien setzen an die Stelle einer Konfrontation mit einer als fremd interpretierten Wirklichkeit einen Austausch, der eher einer Kommunikation gleicht, in der ein Wort das andere gibt. Und beide begreifen – um in diesem Bild zu bleiben – das Wort der Wirklichkeit als Gestalt und das Gespräch der Wirklichkeitsgestaltung als Struktur. Sowohl in Merleau-Pontys Phänomenologie als auch in Cassirers Philosophie der symbolischen Formen kommt dem Gestaltphänomen eine besondere Bedeutung zu und in beiden Gedankengängen wird die Gestalt zur Struktur hin überschritten, um die Logik der Kultur begreiflich zu machen. Piaget hat sehr deutlich darauf verwiesen, dass eine der wichtigsten Wurzeln des Strukturbegriffs in der Gestaltpsychologie zu suchen ist, wenn er explizit ausführt, dass »die spektakulärste Form des psychologischen Strukturalismus« »zweifellos die Gestalttheorie geliefert« hat. 10 Und es ist kein Zufall, dass Cassirer seinen Vortrag zum Strukturalismus in der modernen Linguistik, den er im Februar 1945 in New York vor Linguisten hielt, abschließt, indem er die Geschichte
Jean Piaget: Der Strukturalismus (frz. 1968), übers. von Lorenz Hälfiger (Stuttgart 1980), 53.
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des Gestaltbegriffs expliziert – und zwar in der Dichtung, der Philosophie und der Psychologie. In seinen Darlegungen zeigt Cassirer, dass es sich bei dem Perspektivenwechsel vom Ding zur Gestalt nicht um eine singuläre Erscheinung handelt, sondern um einen Blickwechsel, der ganz verschiedenartige Phänomene umfasst: Der Terminus Gestalt, so heißt es bei ihm, »kann uns helfen, den Zusammenhang zwischen Problemen zu sehen, die auf den ersten Blick weit voneinander entfernt zu sein scheinen.« 11 Denn mit der Gestalt ist keine Sache jenseits der Auffassung derselben gemeint, sondern – so einfach dies auch klingen mag – eine Sachauffassung. Damit ist die klassische Form der Vermittlung von Subjekt und Objekt obsolet geworden, während sich neue Interpretationsmöglichkeiten eröffnen. Hinfällig ist eine Vermittlung von Geist und Wirklichkeit in einem substantiellen Sinne wie ebenso eine Wirklichkeitserfassung als Registratur von isolierten Daten über eine schlichte ›Und-Verbindung‹ als naiv erscheint. Nichts anderes bemerkt auch Merleau-Ponty: »Wir haben … mit dem Begriff der ›Gestalt‹ das geeignete Mittel gefunden, um die klassischen Antithesen … zu vermeiden. Ganz allgemein erspart dieser Begriff uns die Alternative einer Philosophie, die äußerlich verbundene Glieder nebeneinander ordnet, und einer anderen Philosophie, die die inneren Beziehungen des Denkens in allen Phänomenen wiederfindet.« (SdV, 143) Die Gestalt ist kein Ding, dem Bedeutung zugesprochen werden muss, sie ist ebenso wenig ein Gegenstand, der einen Sinn im Subjekt verursacht – die Gestalt ist Bedeutung, und die Gestaltpsychologie fordert dazu heraus, dieses ›ist‹ oder ›Bedeutung-Sein‹ zu begreifen. Wieder in den Worten Merleau-Pontys: »Der Gestalt eignet ihr Privileg«, nicht weil sie eine »Projektion eines Inneren ins Äußere, sondern Identität des Inneren und Äußeren« ist (PdW, 85). Und natürlich meint dies nichts anderes als Cassirers Hinweis auf die symbolische Prägnanz als konkretem Ausdruck von Sinn und Sinnlichkeit. Gestalt-Sein heißt Bedeutung-Sein, und die Gestaltanalytik ist nicht von einer Ontologie der Bedeutung zu trennen. Doch sowohl Merleau-Ponty als auch Cassirer überschreiten den Begriff der Gestalt auf die Struktur hin: »Was den tieferen Gehalt der ›Gestalt‹ ausmacht … ist [die Idee] der Struktur, die unlösliche Verbin11 Ernst Cassirer: Der Strukturalismus in der modernen Linguistik (1945). In: Ders.: Geist und Leben, 346.
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dung zwischen einer Idee und einer Existenz, das kontingente Arrangement, durch das Materialien vor unseren Augen einen Sinn annehmen, die Intelligibilität in statu nascendi.« (SdV, 239) Merleau-Ponty sagt nichts anderes als Cassirer, nur Cassirer nennt dies nicht immer Struktur, sondern Form, und das Arrangement Merleau-Pontys heißt bei Cassirer Formierung, Bildung oder Gestaltung: Die symbolischen Formen der Sprache, des Mythos und der Wissenschaft, so bemerkt Cassirer, »sind nicht einfache Abbilder einer vorhandenen Wirklichkeit, sondern sie stellen die großen Richtlinien der geistigen Bewegung, des ideellen Prozesses dar, in dem sich für uns das Wirkliche als Eines und Vieles konstituiert – als eine Mannigfaltigkeit von Gestaltungen, die doch zuletzt durch eine Einheit der Bedeutung zusammengehalten werden.« Die symbolischen Formen sind – so heißt es schließlich in einer aus meiner Sicht sehr geglückten Wendung Cassirers – »Prägungen zum Sein« (ECW 11 12 , 41). Strukturen sind nichts anderes, sie sind Prägungen zum Sein, die durch die Einheit der Bedeutung zusammengehalten werden. Es ist mehr als deutlich, dass sowohl Merleau-Ponty als auch Cassirer das Dogma einer sinnfernen Wirklichkeit isolierter Dinge und Daten auf die Realität einer sinngesättigten Wirklichkeit von Gestalten hin durchbrechen, welche ihrerseits ihren vollen Seinssinn aber erst in Strukturen realisieren können. Man könnte es auch so ausdrücken: Die Gestalt als Tatsache des Sinns entfaltet sich in Strukturen als Prinzipien des Sinns. Dieses Spiel von Sinntatsachen als Gestalten und Sinnprinzipien als Strukturen spielen Cassirer und Merleau-Ponty virtuos – und zwar so, dass immer beide Seiten in Rechnung gestellt werden. Doch, so kann man natürlich fragen, in welchem Seinsmodus existieren symbolische Formen oder Strukturen?
III. Ontologische und erkenntnistheoretische Ambiguitäten: Prinzip und Tatsache – Gewissheit und Wissen Wenn man nach dem Seinsmodus der symbolischen Formen und damit der Strukturen als Prinzipien der Wirklichkeitserfahrung fragt, so Cassirer, Ernst (1995): Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Band 11: Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache (1923), hg. v. Birgit Recki, Hamburg.
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muss man nicht auf Cassirers Versuch einer Metaphysik der symbolischen Formen warten. Es reicht nämlich fast aus, Cassirers EinsteinBuch und seine dortigen Ausführungen zur Diskussion um den Feldbegriff zu studieren. Der Mathematiker Hermann Weyl kommt beispielsweise 1924 in einer Publikation mit dem Titel Was ist Materie zu folgendem Ergebnis: »Ich bin fest davon überzeugt, dass die Substanz heute ihre Rolle in der Physik ausgespielt hat. … Die Physik muss sich ebenso der ausgedehnten Substanz entledigen, wie die Psychologie schon längst aufgehört hat, die Gegebenheiten des Bewusstseins als ›Modifikationen‹ aufzufassen, die einer einheitlichen Seelensubstanz inhärieren.« 13 Auf diese und ähnliche Bemerkungen aus der neueren Physik und Mathematik kommt Cassirer nach der Publikation seines Einstein-Buches 14 immer wieder zurück. Er kann dabei auf bereits vorliegende Diskussionen um den Feldbegriff, der als Alternative zum substantiell verfassten Äther gedacht wird, zurückgreifen. So spricht Max Planck von dem Äther als dem »Schmerzenskind der mechanischen Theorie« 15 , und er gibt damit der Auffassung Ausdruck, dass die Deutung des Äthers als eines substantiellen, aus Materiepartikeln bestehenden
13 Hermann Weyl: Was ist Materie? (1924). In: Ders.: Gesammelte Abhandlungen. Bd. 2, hrsg. von K. Chandrasekharan (Berlin/Heidelberg/New York 1968), 486–493. – Vgl. ebenso Weyls früheren Beitrag Feld und Materie aus dem Jahre 1921, worin er die Ambiguität von Feld- und Substanztheorie herausarbeitet und eine Vermittlung sucht: »1. Wenn ich nicht irre, wird heute durchweg von den theoretischen Physikern das Feld als eine selbständige Realität neben der Materie anerkannt oder sogar als die einzige ursprüngliche physikalische Wesenheit betrachtet, auf welche die Materie zurückgeführt werden muß. … 2. Es ist aber nicht zu leugnen, daß die Erfahrung mit großer Deutlichkeit für einen andern Sachverhalt spricht; dafür nämlich, daß die Materie das Feld eindeutig bestimmt. Die reine Materie ist außerstande, davon Rechenschaften zu geben, es ist das aber eine Schwierigkeit, welche keineswegs der Relativitätstheorie anhaftet, sondern jeder Feldtheorie überhaupt. … Der Substanz- und der Feld-Vorstellung reiht sich als dritte diese Auffassung der Materie als eines die Feldzustände verursachenden Agens an. Sobald einmal die Bahn für sie frei gelegt ist, glaube ich, wird man die Feldtheorie, die vom neuen Standpunkt aus etwas Phantastisch-Unwirkliches bekommt, verlassen und zu ihr übergehen müssen«; Hermann Weyl: Feld und Materie (1921). In: Ders.: Gesammelte Abhandlungen. Bd. 2, a. a. O., 237- 259, hier: 240, 241, 255. 14 Ernst Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen (1921), Text und Anmerkungen bearbeitet von Reinhold Schmücker. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 10 (Hamburg 2001). Vgl. zu der uns hier interessierenden Thematik besonders das Kapitel Materie, Äther, Raum, 52–68. 15 Ernst Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, a. a. O., 64.
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Übertragungsmittels unhaltbar geworden ist. Vor diesem Hintergrund taucht der »neue« Begriff des Feldes auf, der den Begriff des Äthers zu ersetzen sucht. Doch mit diesem neuen Begriff ist nicht einfach eine neue Bezeichnung für ein altbekanntes Phänomen gefunden, es hat sich – wie Cassirer unermüdlich zu zeigen versucht – der Bezugspunkt der theoretischen Untersuchung gewandelt. Es ist nicht mehr das Kraftfeld, das sich auf die Materie stützt, es ist umgekehrt vielmehr das Feld, das dasjenige hervorbringt, was wir Materie nennen können – Hermann Weyl spricht dementsprechend vielsagend von der Materie als der »Ausgeburt des Feldes« 16 . Diese Materie ist aber nun ähnlich wie die Gestalt der Gestaltpsychologie kein einfaches Ding, kein bloßer Gegenstand, sondern ein Sinnereignis. Materie ist bestimmter Sinn, nämlich in und durch das Feld bestimmter Sinn, wie Gestalt bestimmter Sinn ist, nämlich in und durch die symbolischen Formen bestimmter Sinn. Nun liegt allerdings eine voreilige Deutung des Feldbegriffs auf der Hand, und sie spricht sich in Max Laues Bemerkung aus, dass das Feld »ein von aller Substanz unabhängiges Ding von selbständiger Wirklichkeit« 17 sei. Die Zwittergestalt des Feldbegriffs wird offensichtlich: Das Feld soll einerseits von aller Substanz unabhängig sein, andererseits aber soll ihm eine selbständige Wirklichkeit als Ding zugesprochen werden. Doch diese Unentschlossenheit der Deutung verkennt nach Cassirer die Radikalität der feldtheoretischen Betrachtungsweise: Indem sie nämlich »die Dingform der endlichen starren Bezugskörper zerschlägt«, entspricht dem Feldbegriff selbst nichts Dingliches mehr, er referiert auf keinen Gegenstand, und er vertritt auch keine Klasse von Gegenständen, er führt vielmehr »zu einer höheren Objektform, zur echten Systemform der Natur und ihrer Gesetze« 18 . Was Cassirer hier die Systemform der Natur nennt, wird er an anderer Stelle »Struktur« oder auch »symbolische Form« nennen. Das Feld, von dem hier gesprochen wird, bezeichnet keinen Bezirk von an sich bestehenden Dingen, der Ausdruck bezieht sich nicht in dem Sinne auf die Wirklichkeit, dass eine Klasse von Gegenständen untersucht wird, denen die Feldzugehörigkeit als eine Eigenschaft zuoder abgesprochen werden könnte; das Feld der Feldphysik ist vielmehr 16 17 18
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PsF III, 546. Ernst Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, a. a. O., 66. Ebd., 67.
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als Prinzip der Untersuchung anzusehen. Es existiert nicht als Gegenstand, es entsteht durch einen konstruktiven Blick auf die Zwischenräume möglicher Gegenstände – d. h. die Interaktionen und Bezüge. »Das Feld ist nicht einfach die ›Summe seiner Teile‹ … Es ist überhaupt kein Ding, das sich in einzelne dingliche Bestandteile zerlegen lässt, es ist ein Ganzes von ›Kraftlinien‹, also … ein System von Relationen.« 19 Cassirer drückt diesen Perspektivenwechsel mit immer neuen Formulierungen aus: So sei der »Schematismus der Bilder dem Symbolismus der Prinzipien gewichen« 20 , das Dingliche könne nur noch in der »Ordnung von Ereignissen« 21 betrachtet werden, die Zusammenfassung der Gegenstände geschehe nicht mehr in der Zusammenstückung von Elementen, sondern in der Synthesis von Momenten 22 , und die Theorien handelten nicht mehr von der Darstellung einer vorausgesetzten Wirklichkeit, sondern von der Darstellbarkeit der Verfassung des Wirklichen. Nicht die Repräsentation, sondern die Repräsentierbarkeit werde mit dem Feldbegriff thematisch. Der Feldbegriff, so betont Cassirer, erscheint dann als ein »Denkmittel«, er erschließt sich innerhalb der Theorien als der »Gesichtspunkt« derselben, und er dokumentiert sich im theoretischen Geschäft als ein »Medium« eigener Art, nämlich als ein Medium, das allein die Bedeutung (nicht das bloße Vorhandensein) thematisiere. 23 In diesem Sinne bezeichnet das Feld keinen Gegenstand, sondern die Organisation von Sinnrelationen, deren Knotenpunkte gleichsam als Platzhalter für Dinge und Gegenstände angesehen werden können. Diese Ausführungen können selbstverständlich auch auf Cassirers symbolische Formen angewendet werden. Was Cassirer zum Feld sagt, gilt ebenso für den Status der symbolischen Form. Damit aber ist die Philosophie Cassirers selbst Teil einer Wissenschaftsmethodik geworden, sie steht der Kultur der Wissenschaften nicht gegenüber, sondern sie entwickelt sich aus ihr. Cassirers Philosophie ist so keine einfache
Ernst Cassirer: Kant und die moderne Biologie (1940/41), 86. PsF III, 547. 21 PsF III, 547. 22 PsF III, 552 f. 23 Vgl. zu der Verwendung des Feldbegriffs zur Anzeige einer bestimmten theoretischen Einstellung auch Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Felde, übers. von Bernd Schwibs und Achim Russer (Frankfurt/M. 2001), 288 ff. 19 20
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Darstellung der Kultur, sie ist Ausdruck der Kultur im Sinne der Selbst-Aufklärung der Kultur. Piaget bemerkte einmal zu recht, dass die »ständige Gefahr, die dem Strukturalismus droht«, darin bestehe, aus ihm eine Philosophie zu machen. Dann nämlich endet man allzu schnell in einem schlichten Realismus der Strukturen. Ähnlich kritisierte, wie wir gesehen haben, Cassirer einen Feldrealismus, wie er etwa von Max Laue vertreten wurde. Dieser Gefahr entgeht Cassirer, indem der Seinsmodus von Strukturen, Feldern oder eben auch »symbolischen Formen« klar benannt wird – es handelt sich um ein funktionales Sein: »das ›Sein‹ ist hier nirgends anders als im ›Tun‹ erfassbar.« 24 Die entscheidende Pointe scheint mir aber darin zu bestehen, dass für Cassirer Strukturen keine rein formalen Organisationsprinzipien, sondern immer auch materiale Organisationsprinzipien darstellen. Die Differenz zwischen Sein und Tun fällt nicht mit der Differenz zwischen einem formalen und einem materialen Apriori zusammen – im Gegenteil: Das funktionale Sein der symbolischen Form (oder die symbolische Formung) ist keine bloße Syntax, sie selbst ist eine Semantik. Wenn Cassirer von einem »Tun«, einer Aktivität, spricht, so kommt diesem Tun ein Inhalt zu – es ist sozusagen ein semantisch gesättigtes Tun. Der Sinnbegriff der symbolischen Formen, und damit komme ich zu dem Erkenntnismodus derselben, ist aus meiner Sicht doppeldeutig. Merleau-Ponty erläuterte dies einmal mit folgenden Worten: »Die Struktur hat, wie Janus, zwei Gesichter: Einerseits organisiert sie die Elemente, die in sie eintreten, nach einem inneren Prinzip, sie ist Sinn. Doch dieser Sinn, den sie trägt, ist sozusagen ein schwerer Sinn.« 25 Dynamisch und offen ist die Struktur durch die Relationsgesetze – sozusagen durch einen »leichten Sinn«, den Cassirer auch »Ausdruck«, »Darstellung« und »reine Bedeutung« nennt; träge und geschlossen ist die Struktur durch das Aufbauprinzip des Feldes, das einem materialen, sozusagen »schweren Sinn« folgt. 26 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Bd. 1, a. a. O., 11. Maurice Merleau-Ponty: Von Mauss zu Claude Lévi-Strauss (1959). In: Ders.: Das Auge und der Geist, a. a. O., 225–241, hier: 229. 26 Dieses Wechselspiel von »leichtem« und »schwerem Sinn« lässt sich mit Wittgensteins Ausführungen zum »Weltbild«, also zu der Logik unserer Erfahrungssätze oder unserer Kultur, in Über Gewissheit vergleichen. Voraussetzung für diesen Vergleich ist allerdings, dass Merleau-Pontys Unterscheidung nicht mit der Unterscheidung zwischen Form und Inhalt, sondern mit der Unterscheidung zwischen Dynamik und Statik 24 25
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Sprache strukturiert Wirklichkeit einerseits über darstellende Wirklichkeitsgestaltung als einem leichten Sinn; doch dasjenige, was wir in der Sprache akzeptieren können, bestimmt sich auch durch dasjenige, was wir verstehen und immer schon verstanden haben als einem »schweren Sinn«. Wer, um in der Terminologie Merleau-Pontys zu bleiben, diese Doppeldeutigkeit von »schwerem« und »leichtem Sinn« übersieht, scheint auch die Eigenart von Strukturen und symbolischen Formen nicht ganz zu fassen. Die symbolische Form des Mythos ist sicherlich durch das Ausdrucksprinzip gekennzeichnet – als einem leichten Sinn. Darin aber drückt sich immer auch ein schwerer Sinn aus, beispielsweise die Solidarität bzw. Gesellschaft des Lebens oder die Einheit des Lebendigen. Genau diesen schweren Sinn nenne ich mit Wittgenstein Gewissheit. Es handelt sich um Sinninhalte besonderer Art, die sicherer sind als jeder mögliche Beweis für sie und die jede Interaktion garantieren ohne sprachlich expliziert zu werden. Es handelt sich um materiale Überzeugungen, die fraglos sind, die nicht bezweifelt werden können, die nicht in dem täglichen Haushalt unseres Wissens einer bivalenten Logik von wahr oder falsch unterworfen werden, sondern all dies ermöglichen – aber eben als materiale Überzeugungen, oder wie ich sie nun in Anlehnung an Wittgenstein nennen möchte, als »Gewissheiten«. An einer Stelle nennt Wittgenstein die Art der Sätze, die solche Gewissheiten ausmachen »Angelsätze«: »D. h. die Fragen, die wir stellen, und unsere Zweifel beruhen darauf, dass gewisse Sätze vom Zweifel ausgenommen sind, gleichsam die Angeln, in welchen jene sich bewegen.« (ÜG § 19). Symbolische Formen scheinen mir ebenfalls diese Angeln zum Ausdruck zu bringen. Sie erlauben bei einer gewissen Stabilität das Spiel der Kultur. in Verbindung gebracht wird. Ludwig Wittgenstein: Über Gewissheit. In: Werkausgabe. Bd. 8 (Frankfurt/M. 4 1990): »Die Sätze, die dieses Weltbild beschreiben, könnten zu einer Art Mythologie gehören. Und ihre Rolle ist ähnlich der von Spielregeln, und das Spiel kann man auch rein praktisch, ohne ausgesprochene Regeln lernen.« (§ 95) – »Man könnte sich vorstellen, dass gewisse Sätze von der Form der Erfahrungssätze erstarrt wären und als Leitung für die nicht erstarrten, flüssigen Erfahrungssätze funktionierten; und dass sich dies Verhältnis mit der Zeit änderte, indem flüssige Sätze erstarrten und feste flüssig würden.« (§ 96) – »Die Mythologie kann wieder in Fluß geraten, dass Flußbett der Gedanken sich verschieben. Aber ich unterscheide zwischen der Bewegung des Wassers im Flußbett und der Verschiebung dieses, obwohl es eine scharfe Trennung der beiden nicht gibt.« (§ 97). A
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Zur erkenntnistheoretischen Stellung solcher Angelsätze wäre noch einiges zu sagen, was ich an dieser Stelle jedoch nicht vorstellen kann. Eines aber ist entscheidend. Diese Überzeugungen kennzeichnen nicht die Kultur als einen beliebigen Gegenstand, sie repräsentieren auch nicht einen austauschbaren propositionalen Wissensinhalt, den man jederzeit nach freiem Willen bezweifeln könnte. Diese Sätze und Überzeugungen regeln vielmehr den Zweifel und fallen nicht unter ihn. Damit qualifizieren sie nicht irgendetwas, sondern uns selbst. Und genau dies scheint mir die tiefe Einsicht Wittgensteins zu sein, wenn er ausführt: »Zur Verständigung durch die Sprache gehört nicht nur eine Übereinstimmung in den Definitionen, sondern (so seltsam dies klingen mag) eine Übereinstimmung in den Urteilen.« (PU § 242) In einer Kultur folgen wir nicht einfach nur gemeinsamen Regeln, wir teilen auch Überzeugungen, die – und das gilt einzusehen – als Regeln funktionieren. Eine Kulturphilosophie muss derart sowohl den leichten Sinn als auch den schweren Sinn explizieren. Dann erschließt sich das materiale Apriori der Kultur.
IV. Vom nachmetaphysischen Denken zur Kultur Dies hat selbstverständlich Auswirkungen auf die Methodik der Kulturwissenschaften, worauf ich jetzt am Schluss kurz zu sprechen komme. In seinen Studien zur Logik der Kulturwissenschaften macht Cassirer deutlich, dass der Strukturbegriff als »leitendes Prinzip« der Kulturwissenschaften dem Kausalbegriff der Naturwissenschaften zur Seite zu stellen ist: »Die Anerkennung des Ganzheitsbegriffs und des Strukturbegriffs hat den Unterschied zwischen Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft keineswegs verwischt oder eliminiert. Aber sie hat eine trennende Schranke beseitigt, die bisher zwischen beiden bestand. Die Kulturwissenschaft kann sich freier und unbefangener als zuvor in das Studium ihrer Formen, ihrer Strukturen und Gestalten versenken, seit auch die anderen Wissensgebiete auf ihre eigentümlichen Formprobleme aufmerksam geworden sind.« 27 Strukturen sind Ordnungsprinzipien der Kultur. Sie gliedern die Kultur nach Dimensionen des Sinns, sie lassen diese Sinndimensionen 27
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Struktur als Prinzip und Tatsache
als jeweilig Ganzes begreifen, und sie regeln die Transformationen innerhalb dieser Regionen. Sie bilden somit das Apriori der Kultur – doch dieses Apriori ist zugleich ein materiales Apriori, das auf Gewissheiten gründet: Wir können uns und andere nicht vollständig beschreiben und begreifen, wenn wir nicht auch den Mut aufbringen festzustellen, welche Überzeugungen wir teilen. So wenig die Identität einer Person begriffen werden kann, wenn sie auf die Reflexivität reduziert wird und von jedem Erlebnisinhalt abgesehen wird, so wenig kann der Sinn der Kultur verstanden werden, wenn die Gewissheiten des Handelns und Tuns der Kultur ausgeblendet werden. Paul Valéry meinte etwa ähnliches, als er in den dreißiger Jahren von der »Insolvenz der Vorstellungskraft« sprach, die deshalb bankrott gegangen ist, weil sie zu sich selbst kein Vertrauen mehr hatte. Cassirer gehört sicherlich nicht zu denjenigen, denen man eine solche Insolvenz unterstellen darf. Seine detaillierten Schilderungen der Geistesgeschichte sind kein Beiwerk einer reinen Philosophie, die sozusagen darunter zu finden ist, sie dokumentieren das notwendige Vertrauen in gemeinsame Überzeugungen. Allerdings ist diese Beschreibung der Gewissheiten keineswegs einfach. Im Gegenteil, Cassirer spricht von einer »Tiefenanalyse«, die man von einer »Oberflächenanalyse« unterscheiden muss, Wittgenstein spricht von einer »Tiefengrammatik«, die nicht mit einer Oberflächengrammatik zu verwechseln ist, und Merleau-Ponty spricht von einer Tiefendarstellung des menschlichen Handelns. All diesen Ansätzen ist gemeinsam, dass das, was die Kultur im Innersten zusammenhält, eine Tiefe besitzt, die reichhaltiger ist als jedes Oberflächenwissen der kulturellen Inhalte. Sie besteht aus Überzeugungen, die wir nicht als propositionales Wissen objektiveren und gleichsam zu Markte tragen können, sondern als nicht-propositionales Wissen in unserem Handeln und Tun zum Ausdruck bringen. In diesem Sinne sind wir diese Überzeugungen. Erich Rothacker verwies mit Recht darauf, dass »die dringlichste Aufgabe der Anthropologie« darin bestehe, »ihre bisherigen Begriffe vom Menschen« durch die »methodische Einstellung auf den Menschen als Kulturträger« zu ergänzen. 28 Es sei erforderlich, die philosophische Anthropologie um eine Analyse der »gelebten Weltbilder«
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zu ergänzen. 29 Diese Erweiterung kann nun nicht schlicht darin bestehen, ausschließlich Regeln der »gelebten Weltbilder« zu formulieren, es müssen auch die sie tragenden Gewissheiten zum Vorschein kommen. Die Frage ist nicht nur, wie der Mensch sich begreift, sondern als was er sich in seinem Handeln versteht. Dieses Sich-Selbst-Verstehen im Handeln erscheint so als praktische Aufgabe der Kulturphilosophie, die ohne die Hermeneutik eines materialen Aprioris nicht zu meistern ist. »Mein Leben« – so bemerkt Wittgenstein in Über Gewissheit – »besteht darin, dass ich manches anerkennen muss (mich mit manchem zufriedengebe).« (ÜG § 344) Dieser Satz ist für Wittgenstein keine Klugheitsregel, er bedeutet für ihn zugleich ein Prinzip der Kulturphilosophie. Wer versucht, die Kultur zur Sprache zu bringen, kommt am Ende nicht einfach zu einem sich selbst tragenden Wissen, sondern zu einer Überzeugung, die auf Anerkennung gründet. Es handelt sich um die Anerkennung der Lebensform des Menschen, in der er agiert, vor deren Hintergrund er zwischen Wahrheit und Falschheit unterscheidet und die sein Selbst-Verständnis nicht bloß darstellt, sondern die sein Selbst-Verständnis garantiert. Diese Anerkennung, so bemerkt Wittgenstein, hat ihren »Grund nicht in … Dummheit, oder Leichtgläubigkeit« (ÜG § 235), sondern im Leben des Menschen selbst.
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Einige ontologische Implikationen in Cassirers Konzeption der symbolischen Formung. Ernst Wolfgang Orth
Cassirers Philosophie weist zwei charakteristische Tendenzen auf, mit denen man sie näher bestimmen kann. Diese beiden Tendenzen sind durchaus nicht von vorneherein harmonisierbar; aber bei Cassirer wirken sie beide unter ein und demselben Namen, nämlich dem der symbolischen Formen oder auch der symbolischen Formung. 1 Die beiden Tendenzen möchte ich wie folgt beschreiben: Die erste Tendenz ist die eines kantianisierenden Konstruktivismus, einer Konstitutionsphilosophie, die das Wirkliche so oder so vergegenständlichend als Funktion subjektiver Erfassungsleistungen betrachtet. Dabei ist dieses Erfassen durch und durch formal und darf – weniger noch als das Erfasste – ganz und gar nicht ontologisiert werden. Das Subjekt ist hier bloße Funktion oder bloßes Fungieren korrelativ zu einer jeweiligen objektivierenden Vergegenständlichung. Musterhaft wird diese Tendenz in Cassirers früherem Werk ›Substanzbegriff und Funktionsbegriff‹ zur Geltung gebracht. 2 Man kann geradezu die Devise formulieren »vom Substanzbegriff zum Funktionsbegriff«. 3 Aber diese Tendenz ist auch noch in dem Aufsatz von 1939 aus dem schwedischen Exil »Was ist ›Subjektivismus‹ ?« am Werk. 4 Der Begriff der symbolischen Formen wird von Cassirer zunächst auf diese, eher konstruktivistische Konzeption gemünzt. Beachtlich sind dabei Beziehungen auf Pierre Duhem sowohl 1910 in Dabei ist die objektiv noematische Form und die energetisch noetische Formung allerdings auch noch zu unterscheiden. 2 Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Berlin 1910. 3 Vgl. Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit 1. Bd. (1906), Darmstadt 1974, S. 77: »Es ist die moderne Physik, die zuerst den Schritt vom Sein zur Tätigkeit, vom Substanzbegriff zum Funktionsbegriff vollzieht.« 4 Ernst Cassirer: Was ist Subjektivismus? In: Theoria. A Swedish Journal of Philosophy and Psychology Vol. V (1939), S. 111–140. 1
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›Substanzbegriff und Funktionsbegriff‹ als auch in Cassirers Einsteinbuch von 1920. 5 Die zweite Tendenz ist eine Art – wenn auch transzendentaler – Evolutionstheorie von Bedeutungen und Bedeutsamkeit. 6 Sie manifestiert sich im Urphänomen des bedeutsamen Ausdruckes, d. h. der »Inkarnation eines Sinnes«, 7 um damit die Dimension der Kultur zu eröffnen, die Subjektives objektiviert, indem sie es als personale Wirklichkeit bewährt. Sie gipfelt in der These vom Menschen als animal symbolicum. 8 De facto hat Cassirer diese beiden Tendenzen in seinem magnum opus von 1923/25/29 zusammengeführt, allerdings ohne den genauen Zusammenhang je durchzudiskutieren.9 Die an Pierre Duhem anknüpfende erste Tendenz dokumentiert sich 1910 in ›Substanzbegriff und Funktionsbegriff‹ in einem indirekten Duhem-Zitat. Cassirer schreibt dort als Charakterisierung seiner naturwissenschaftlichen Wissenschaftstheorie mit Verweis auf Duhem: »Erst wenn das rohe Faktum durch ein mathematisches Symbol dargestellt und ersetzt ist, beginnt die intellektuelle Arbeit des Begreifens, die es mit der Gesamtheit der Phänomene systematisch verknüpft«. 10 Er will auf diese Weise die Erfassung der Wirklichkeit resp. die »Richtungen« des Erfassens als Begriffsbildung im Sinne der Gesetzlichkeit einer »Reihenbildung« bestimmen. Erst 1920 wird Cassirer in seinem Einsteinbuch die Duhemstelle wörtlich zitieren und damit – beiläufig – belegen, dass dort schon – also 1906 – die Prägung ›symbolische Form‹ Ernst Cassirer: Zur Einstein’schen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen, Berlin 1920. 6 Cassirer knüpft hier gerne an Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie an, vor allem an dessen Topoi von der ›inneren (Sprach-)Form‹ und der ›genetischen Definition‹ der Sprache, wobei solche Genesis als transzendental verstanden wird. Vgl. Ernst Cassirer: Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie. In: Festschrift für Paul Hensel, Ohag-Greiz i. V. 1923, S. 105–127. 7 PhsF III, S. 109; vgl. Anm. 21. 8 Vgl. Ernst Cassirer: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), New Haven / London 1972, S. 26. 9 Zu einer entsprechenden Rezension von ›Substanzbegriff und Funktionsbegriff‹, in der die Unterbestimmtheit des Begriffs personaler, geschichtlicher Individualität kritisiert wird, vgl. Richard Hönigswald in: Dt. Lit.ztg, Jg. 33 Nr. 45 vom 9. 11. 1912, Sp. 2821–2843; Nr. 46 vom 16. 11. 1912, Sp. 2885–2902. 10 Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, l. c., S. 195. 5
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Ontologische Implikationen in Cassirers Konzeption der symbolischen Formung
zu finden ist, allerdings im Gebiet der naturwissenschaftlichen Wissenschaftstheorie: »Les faits d’expérience, pris dans leur brutalité native, ne sauraient servir au raisonnement methématique; pour alimenter ce raisonnement, ils doivent être transformés et mis sous forme symbolique.« 11 In seinem Einsteinbuch rechnet Cassirer mit vielen möglichen »Richtungen« und »Reihengesetzlichkeiten« – auch über die naturwissenschaftliche Auffassung hinaus (er beginnt sich z. B. mit der mythischen Weltauffassung zu beschäftigen 12 ). Seine philosophische Aufgabe formuliert er nun wie folgt: »Es ist die Aufgabe der systematischen Philosophie – die über diejenige der Erkenntnistheorie weit hinausgreift – das Weltbild von dieser Einseitigkeit [nämlich einer bestimmten thematischem Richtung] zu befreien. Sie hat das Ganze der symbolischen Formen, aus deren Anwendung für uns der Begriff einer in sich gegliederten Wirklichkeit entspringt – kraft deren sich für uns Subjekt und Objekt, Ich und Welt scheiden und in bestimmter Gestaltung gegenübertreten, – zu erfassen und jedem einzelnen in dieser Gesamtheit seine feste Stelle anzuweisen. Denkt man sich diese Aufgabe gelöst [!], so wäre damit erst den besonderen Begriffs- und Erkenntnisformen wie den allgemeinen Formen des theoretischen, des ethischen, des ästhetischen und religiösen Weltverständnisses ihr Recht gesichert und ihre Grenze bezeichnet. Jede besondere Form würde sich freilich in dieser Auffassung gegenüber den anderen relativieren; – aber da diese Relativierung durchaus wechselseitig ist, da keine Einzelform mehr, sondern nur deren systematische Allheit als Ausdruck der ›Wahrheit‹ und ›Wirklichkeit‹ zu gelten hätte, so würde die Schranke, die sich damit ergibt, auf der anderen Seite als eine durchaus immanente Schranke erscheinen; als eine solche, die sich aufhebt, sobald wir das Einzelne wieder auf das Ganze beziehen und im Zusammenhang des Ganzen betrachten.« 13 Der konstruktivistische, ja manchmal fast nominalistische Zug macht sich auch noch in späterer Zeit bemerkbar – außer in dem schon genanntem Aufsatz ›Was ist Subjektivismus?‹ von 1939 auch noch im ›Essay on Man‹ von 1944, soweit er Fragen der naturwissenschaftlichen Forschung behandelt. 14
11 Ernst Cassirer: Zur Einstein’schen Relativitätstheorie, l. c., S. 96 – mit Verweis auf Pierre Duhem: La Théorie physique, son objet et sa structure, Paris 1906, S. 322. 12 Seit 1922 erscheinen die ersten Arbeiten Cassirers zum ›mythischen Denken‹. 13 Ernst Cassirer: Zut Einstein’schen Relativitätstheorie, l. c., S. 119. 14 Ernst Cassirer: An Essay on Man, l. c., S. 218 ff., 222 ff.
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Demgegenüber findet Cassirer in seinen mythologischen und religionsphilosophischen Studien recht eigentlich zum Personbegriff, der zwar ganz und gar nicht am alten Substanzbegriff orientiert ist, aber auch jedem nominalistisch funktionalistischen Zugriff fern steht. Hier wären die Beziehungen Cassirers zu Leibniz und Goethe systematisch in Betracht zu ziehen. Auf jeden Fall gibt uns der zweite Band der ›Philosophie der symbolischen Formen‹, dessen Titel ›Das mythische Denken‹ lautet, nicht mehr und nicht weniger als eine Ontologie der werdenden Person an die Hand. 15 Man übersieht das allerdings gern, weil man Cassirers Darstellungen lediglich für sehr sinnfällige und gebildete Reminiszenzen an abgetane mythisch-religiöse Vorstellungen hält. Wie ernst es jedoch Cassirer mit dem religiös geprägten Personbegriff war, kann man seinem späten Aufsatz im amerikanischen Exil ›Judaism and modern political myths‹ entnehmen, wo der am monotheistischen Gottesbegriff orientierte Personbegriff zu einer kulturanthropologisch und metaphysisch gleichermaßen tragenden Größe erklärt wird. 16 Ontologie wird bei Cassirer zweifach impliziert: Einmal in der konkreten Weltlichkeit der symbolischen Formen als ›Urphänomene‹ – zum anderen in der Person als prototypischem Paradigma symbolischer Form. Eigentlich gehört beides zusammen. Ein bewusster Versuch des Zusammenschlusses dieser beiden Motive sind die Überlegungen zum ›Basisphänomen‹ oder den ›Basisphänomenen‹. 17 Die Welt der symbolischen Formen ist eine – in der symbolischen Formung sich personal einspielende – tatsächliche Genesis (genesis eis ousian – Werden zum Sein); ihre Bestimmungsaspekte sind Struktur und Funktion. 18 Soweit die Kultur das Paradigma dieser Wirklichkeit ist, lässt sie sich am besten am Beispiel der Medialität exemplifizieren, die nicht etwa nur ein Charakteristikum unserer modernen Gesellschaft ist. Es gilt generell: Kultur – die Etablierung des Menschen – ist nichts anderes als ein medialer Prozess. 19 Vgl. PhsF II, S. 185–311 (Dritter und vierter Abschnitt). Vgl. Ernst Cassirer: Judaism and modern political myths. In: Contemporary Jewish Record VII (1944), S. 115–126. Obwohl Cohen hier namentlich nicht erwähnt wird, ist doch sein religionsphilosophischer Einfluß zu erkennen. 17 Vgl. Ernst Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen. Nachgelassene Manuskripte und Texte Bd. 1, hg. von John Michael Krois, Hamburg 1995, S. 113–195. 18 Allerdings ist Funktion ein schillernder Begriff zwischen formalem Funktionalismus und schöpferisch tätiger, geistiger Energie. 19 Vgl. E. W. Orth: Die Kulturbedeutung der Medien. In: Ralf Becker / Ernst Wolfgang Orth (Hg.): Medien und Kultur. Mediale Weltauffassung, Würzburg 2005, S. 9–23. 15 16
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Ontologische Implikationen in Cassirers Konzeption der symbolischen Formung
Die neueren Medien und ihre Funktionsweisen, zum Teil auch der rasche, sinnfällige Wechsel verschiedener medialer Orientierungen, haben allerdings dazu geführt, dass in unserer Kultur das Bewusstsein für Medialität besonders sensibilisiert wird – bis hin zu einer merkwürdig unruhigen Aufmerksamkeit. Und so glaubt man gelegentlich, die Medialität, die es immer schon gab, allererst entdeckt oder gar erfunden zu haben. Ein normaler Kulturbefund scheint es zu sein, dass die Existenz der Medien in einer jeweiligen Kultur relativ verdeckt oder abgeblendet bleibt. Warum das manchmal auch anders ist, bedarf durchaus der Erklärung. Aber eine solche Erklärung oder auch Interpretation kann nur auf dem Hintergrund des immer schon geltenden Befundes von der Medialität der Kultur schlechthin gewonnen werden. Kultur ist von Hause aus Organisation von Medialität, mediale Organisation zum Zwecke der Etablierung von Sinn. Und damit sind wir bei Ernst Cassirer, der 1942 in einem seiner fünf Aufsätze ›Zur Logik der Kulturwissenschaften‹ – im schwedischen Exil erschienen – schreibt: »Erscheinen eines ›Sinnes‹, der nicht vom Physischen abgelöst ist, sondern an ihm und in ihm verkörpert ist, ist das gemeinsame Moment aller jener Inhalte, die wir mit dem Namen ›Kultur‹ bezeichnen«. (LKw., S. 43.) 20 Das ›an und in einem Physischen Verkörpertsein des Sinnes‹ ist konstitutiv für Kultur; zugleich aber beschreibt es auch das, was wir mit Medium und Medien meinen. Und so spricht Cassirer auch in derselben Aufsatzsammlung vom »Medium der verschiedenen Formwelten« (er meint damit die ›symbolischen Formen‹), »aus denen sich die Kultur aufbaut« (LKw., S. 75). 21 Solche Kultur ist der Inbegriff sinnhafter Verständigung zwischen konkreten Subjekten, die dergestalt szs. Sinn über die Zeit bringen, dabei aber auch sich selbst als Subjekte allererst etablieren und stabilisieren. Dazu eine längere Textpassage Cassirers: Die »Kultur« ist »gleichfalls [wie die »Dingwelt«] eine ›intersubjektive Welt‹ ; eine Welt, die nicht in ›mir‹ besteht, sondern die allen Subjekten zugänglich sein und an der sie alle teilhaben sollen. Aber die Form dieser Teilhabe ist eine völlig andere als in der physischen Welt. Statt sich auf denselben raum-
20 Ernst Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942), Darmstadt 1961 (= LKw) 21 Das dreibändige magnum opus ›Philosophie der symbolischen Formen‹ erschien 1923/25/29. Wir zitieren hier die Darmstädter Ausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft 1956/58/58 als PhsF I/II/III.
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zeitlichen Kosmos von Dingen zu beziehen, finden und vereinigen sich die Subjekte in einem gemeinsamen Tun. Indem sie dieses Tun miteinander vollziehen, erkennen sie einander und wissen sie voneinander [Wissensgesellschaft!] im Medium der verschiedenen Formwelten, aus denen sich die Kultur aufbaut. Den ersten und entscheidenden Schritt, den Schritt, der vom ›Ich‹ zum ›Du‹ hinüberführt, muss auch hier die Wahrnehmung tun. Aber das passive Ausdruckserlebnis genügt hierfür so wenig, wie die bloße Empfindung, die einfache ›Impression‹, zur objektiven Erkenntnis genügt. Die wahre ›Synthesis‹ kommt erst in jenem aktiven Austausch zustande, den wir, in typischer Form, in jeder sprachlichen ›Verständigung‹ vor uns sehen. Die Konstanz, deren wir hierfür bedürfen, ist nicht die von Eigenschaften oder Gesetzen, sondern von Bedeutungen. Je weiter die Kultur sich entwickelt und in je mehr Einzelgebiete sie sich auseinanderlegt, umso reicher und vielfältiger gestaltet sich diese Welt der Bedeutungen. Wir leben in den Worten der Sprache, in den Gestalten der Poesie und der bildenden Kunst, in den Formen der Musik, in den Gebilden der religiösen Vorstellung und des religiösen Glaubens. Und nur hierin ›wissen‹ wir voneinander [Wissensgesellschaft]. Dieses intuitive Wissen hat noch nicht den Charakter der ›Wissenschaft‹ … Aber dieses ›natürliche‹ Verstehen gelangt bald an seine Grenze.« (LKw., 75 f.) Cassirer beschreibt hier die Wirklichkeit der Kultur in ihrer Entwicklung, die eine Art universaler medialer Agentur der Sinnerarbeitung und der Sinnverwaltung ist. Er tut das, um die Wirklichkeit überhaupt zu erfassen – also in ontologischer Absicht. In Nachlasstexten aus den späteren 30er Jahren (unter dem Titel ›Geschichte und Mythos‹ publiziert) nennt Cassirer die »Kultur« – d. h. die Menschenwelt gegenüber der bloß animalischen – »das neue Medium, das die ›Vererbung erworbener Eigenschaften‹ ermöglicht« (vgl. Jean Lamarck). Er spricht auch von »spiritueller Fortpflanzung«, die »auf einem neuen Wege« geschehe – »nicht organisch durch ›Kinder‹ und ›Enkel‹, sondern geistig durch das Medium der Kultur« (d. h. durch die symbolischen Formen); »ja, im Grunde« sei »Kultur« »gar nichts anderes als dieser nie stillstehende, unablässige Prozess der Vererbung.- Wir können uns dies von der einfachsten technischen Errungenschaft bis hinauf zu den höchsten geistigen Ergebnissen verdeutlichen.« 22 Dabei Ernst Cassirer: Geschichte, Mythos. Nachgelassene Manuskripte und Texte Bd. 3 (hg. v. Klaus Köhnke u.a), Hamburg 2002, S. 204 f.
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Ontologische Implikationen in Cassirers Konzeption der symbolischen Formung
bleibt allerdings die Fundierung im Organischen überhaupt immer vorausgesetzt. Das bedeutet: Die Kultur ist ein permanenter Medienprozess. Diese Medialität des Sinnes, ja der menschlichen Weltauffassung und Weltstellung schlechthin hat Cassirer schon in früheren Entwürfen seiner Konzeption von ›symbolischer Formung‹ und ›symbolischen Formen‹ zum Ausdruck gebracht. So heißt es 1921/22 von den symbolischen Formen: »Sie alle [als jeweils »in sich geschlossene Welt von Bildern und Zeichen«] treten zwischen uns und die Gegenstände; aber sie bezeichnen damit nicht nur negativ die Entfernung, in welche der Gegenstand für uns rückt, sondern sie schaffen die einzig mögliche, adäquate [!] Vermittlung und das Medium, durch welches uns irgendwelches geistige Sein erst fassbar und verständlich wird.« 23 In seinem umfangreichen Essay von 1922 ›Die Begriffsform im mythischen Denken‹ spricht Cassirer von der »Arbeit des Geistes«, der die verschiedenen Ausrichtungen von Kultur bestimme: »Das eigentliche ›fundamentum divisionis‹ liegt zuletzt nicht in den Dingen, sondern im Geiste: die Welt hat für uns die Gestalt, die der Geist ihr gibt. Und weil er bei all seiner Einheit keine bloße Einfachheit ist, sondern eine konkrete Mannigfaltigkeit verschiedenartiger Richtungen und Betätigungen in sich birgt: darum muss auch das Sein und seine Klassen, seine Zusammenhänge und seine Differenzen als ein anderes erscheinen, je nachdem es durch verschiedene geistige Medien erblickt wird.« (WWS, S. 60). 24 Bei Cassirer fällt schon jene Vieldeutigkeit auf, die auch für unseren heutigen Medienbegriff charakteristisch ist. So spricht Cassirer zunächst (1921/22) von symbolischen Formen oder Medien als jeweiliger »Welt von Bildern und Zeichen«, die »zwischen uns und die Gegenstände« tritt, um diese »adäquat« [!] zu vermitteln (WWS, 176), und scheint damit eine patente Zweiteilung von selbständiger Wirklichkeit einerseits und Auffassungen derselben andrerseits zu insinuieren. 1929 jedoch – im dritten Band der PhsF – wird er präzisierend formulieren: »Das Symbolische ist vielmehr Immanenz und Transzendenz in Einem:
23 Ernst Cassirer: Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften (1921/22). In: Ders.: Wesen znd Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1956 (= WWS), S. 176. 24 Die verschiedenen geistigen Medien sind offenbar zunächst einmal die ›symbolischen Formen‹.
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sofern in ihm ein prinzipiell überanschaulicher Gehalt in anschaulicher Form sich äußert.« (PhsF III, S. 450). Er schickt dieser These die Begründung voraus: »Denn es gibt für uns keine losgelösten, an sich bestehenden anschaulichen ›Erlebnisse‹, die nicht schon mit irgendwelchen theoretischen Bedeutungsfunktionen erfüllt und ihnen gemäß gestaltet wären – wie es andererseits nichts bloß-Bedeutungsmäßiges gibt, das nicht seine Erfüllung irgendwie [!] im Anschaulichen suchen und finden müsste. Wir können ›Bedeutung‹ nicht anders als durch Rückbeziehung auf die ›Anschauung‹ erfassen – wie uns Anschauliches nie anders als im ›Hinblick‹ auf Bedeutung ›gegeben‹ sein kann. Halten wir hieran fest, so entgehen wir damit der Gefahr, dass das Symbolische unserer Erkenntnis sich in sich selber spaltet, dass es gewissermaßen in einen ›immanenten‹ und einen ›transzendenten‹ Bestandteil auseinanderbricht.« (PhsF III, 449 f.) 1942 schließlich – in ›Zur Logik der Kulturwissenschaften‹ – zieht Cassirer das Fazit: »Die Zweiteilung: Symbol oder Gegenstand erweist sich … als unmöglich, da die schärfere Analyse uns lehrt, dass eben die Funktion des Symbolischen es ist, die die Vorbedingung für alles Erfassen von ›Gegenständen‹ oder Sachverhalten ist. Mit dieser Einsicht nimmt auch der Gegensatz zwischen Wirklichkeit und Schein einen anderen Charakter und eine andere Bedeutung an. An der Kunst wird es unmittelbar ersichtlich, dass sie, wenn sie auf den ›Schein‹ schlechthin verzichten wollte, damit auch die ›Erscheinung‹, auch den Gegenstand des künstlerischen Anschauens und Bildens, verlieren würde« (LKw, S. 31) 25 Wenden wir das auf den Begriff und Befund von Medien an, so können wir sagen: Medium ist eine Funktion. 26 Normaler und bequemer Weise unterscheiden wir zwischen ›Substrat‹ und ›Bedeutung‹ (resp. ›Sinn‹). Die Bedeutung – das ist der Gehalt der Botschaft. Das Substrat sind irgendwelche sinnliche, wahrnehmbare Daten. Und dieses Substrat nennen wir dann ›Medium‹. Das mag für eine vorläufige, grobe Orientierung reichen. Als Grundlage einer Medientheorie führt es in die Irre. Denn das, was wir sinnliches Substrat nennen – z. B. der Schiefer mit Kreidestrichen usw. – ist nur dann Medium, wenn es in Bezug auf mögliches Be-deuten benutzt wird. Deshalb ist McLuhans Was hier ›Schein‹ heißt, kann man mit dem heutigen Topos der ›Virtualität‹ vergleichen. 26 Eine Einsicht, die also schon vor Luhmann gewonnen wird. 25
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Satz ›Das Medium ist die Botschaft‹ ein rhetorischer Kalauer. Siegfried Kracauer stellte schon etwas früher in seiner ›Theorie des Films‹ sachlich fest, »dass jedes Medium einen spezifischen Charakter hat, der bestimmte Arten von Mitteilungen begünstigt, während er sich gegen andere sperrt.« 27 Sinnlich-Substrathaftes in einer so oder so bedeutsamen Funktion – das ist Medialität. Medien können deshalb auch sehr verschieden und verschiedenartig sein – in der Art nämlich wie sie Bedeutsamkeit und Sinn ›implizieren‹. Medialität ist konstitutiv äquivok – wie das Sein bei Aristoteles. Es gibt immer Hinsichten der Medialität. Dass ein »überanschaulicher Gehalt [oder ›Sinn‹] in anschaulicher Form sich äußert« (PhsF III, S. 450) – das ist der symbolische oder – wie wir auch sagen dürfen – mediale Grundbefund. Cassirer nennt das die »symbolische Prägnanz.« Die symbolische Prägnanz ist die Dimension allen ›Zum Ausdruck‹ und ›Zur Geltung Kommens‹. »Unter ›symbolischer Prägnanz‹« – so führt Cassirer aus – »soll also die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ›sinnliches‹ Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ›Sinn‹ in sich fasst und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt«. Es ist »die Wahrnehmung selbst, die kraft ihrer eigenen immanenten Gliederung eine Art von geistiger ›Artikulation‹ gewinnt – die, als in sich gefügte, auch einer bestimmten Sinnfügung angehört. In ihrer vollen Aktualität, in ihrer Ganzheit und Lebendigkeit, ist sie zugleich ein Leben ›im‹ Sinn. Sie wird nicht erst nachträglich in diese Sphäre aufgenommen, sondern sie erscheint gewissermaßen als in sie hineingeboren.« (PhsF III., S. 235) Bei der symbolischen Prägnanz handelt es sich um eine Funktion, die nach Cassirer an einer bestimmten Wirklichkeit paradigmatisch zum Ausdruck und zur Geltung kommt. 28 Diese Wirklichkeit ist der Mensch selbst als lebendiger und – sozusagen – bedeutsamer Organismus. Der spätere Cassirer geht mehr und mehr von jenem wirklichen Sinn- und Medien-Befund aus, der sich mit dem Auftreten des Menschen manifestiert und der der Mensch selbst ist. Deshalb versteht sich 27 Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt 1964, 1985, S. 25 (das engl. Original erschien 1960). McLuhans These findet sich in ›Understanding Media‹ (dt.: ›Die magischen Kanäle‹) von 1964. 28 Von Goethe stammt die prägnante Formel »Die Funktion ist das Dasein in Tätigkeit gedacht«, die ich – merkwürdiger Weise – bei Cassirer bisher nicht gefunden habe. Vgl. Goethe: Sämtliche Werke (Artemis-Ausgabe) Bd. 17 (Naturwiss. Schriften 2. Tl.), S. 420 u. 714.
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seine Philosophie zunehmend als eine Art von Kultur-Anthropologie. In seinem Spätwerk ›An Essay on Man‹ nennt Cassirer den Menschen ein animal symbolicum. 29 Er könnte ihn auch animal mediale nennen. Denn er meint mit dem animal symbolicum nicht nur, dass der Mensch Symbole erfindet und einsetzt, mit Symbolen umgeht, sondern auch – wie er schon 1929 im dritten Band der PhsF hervorhebt – dass der Mensch selbst eine symbolische Form, d. h. eine mediale Wirklichkeit ist, ja sogar das Musterbild dieses Strukturverhaltes abgibt. Cassirer bemerkt mit Bezug auf die traditionelle metaphysische Unterscheidung von Leib und Seele, die er kritisiert, dass es sich bei dem, was man das »Verhältnis von Seele und Leib« nenne in Wahrheit um »das erste Vorbild und Musterbild für eine rein symbolische Relation« handle, »die sich weder in eine Dingbeziehung noch in eine Kausalbeziehung umdenken« lasse (PhsF III, S. 117). Was sich hier darstellt, ist offenbar ein sich selbst Auslegendes, das sich seinerseits nicht so sehr erklären als vielmehr nur auslegen lässt, wie Cassirer nahe legt. Die symbolische Prägnanz, die sich in der eigentümlichen Wirklichkeit des medialen Menschen manifestiert, wirkt sich nun nach Cassirer in verschiedenen symbolischen Funktionen aus. 1927 (in seinem Aufsatz ›Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie‹) hat Cassirer drei Funktionen unterschieden, die dann auch in den 3. Band der PhsF von 1929 Eingang gefunden haben. Es sind die drei Funktionen ›Ausdruck‹. ›Darstellung‹ ›reine Bedeutung‹. Daneben hat Cassirer auch andere Funktions-Triaden benutzt – wie z. B. ›einfache Nachahmung‹ (der Natur), ›Manier‹, ›Stil‹ (1921/22) oder ›mimischer‹, ›analogischer‹, (rein) symbolischer Ausdruck.30 Entscheidend ist, dass Cassirer mit dieser symbolischen Funktion – und ihren Differenzierungen – den Vorrang des Ausdruckshaft-Bedeutsamen vor dem Dinglich-Kausalen entdeckt hat und festhält. Entsprechend unterscheidet er Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung (LKw, Nr. II, S. 34 ff.). 31 Dabei wird die Dingwahrnehmung der Ernst Cassirer: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture, New Haven/London (1944) 1972; S. 26. 30 Vgl. Ernst Cassirer: Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie (1927). In: Ernst Cassirer. Symbol, Technik, Sptache (Hg. E. W. Orth / J. M. Krois), Hamburg 2. A. 1995, S. 9 ff.; PhsF III, S. 495 f.; WWS, S. 182 ff.; PhsF I, S. 134 ff. 31 Zur Rolle des Ausdrucks vgl. Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte Bd. 3, l. c. S. 196. 29
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Ausdruckswahrnehmung nicht nur entgegengestellt, sondern ihr auch unter- resp. eingeordnet. Das Dinglich-Kausale ist gleichsam ein reduktiver Modus des Ausdruckshaft-Bedeutsamen. In diesem Sinne kann Cassirer sich auf den Physiker Erwin Schroedinger beziehen, der 1935 in einem Aufsatz ›Quelques remarmarques au sujet des bases de la connaissance scientifiques‹ (›Scientia‹ März 1935) dargelegt hatte, dass die »Ausschaltung des ›Personalen‹, auch im Weltbild der Physik, niemals absolut gelingen kann, sondern dass sie nur als ein Grenzbegriff der naturwissenschaftlichen Methode anzusehen ist«.(LKw, S. 47). »Das ›Auslöschen‹« aller »Persönlichkeit« würde »nur zu einem Zero aller Erkenntnis führen« – gibt Cassirer in einem Nachlasstext aus den späten dreißiger Jahren zu verstehen 32 . Und hier werden wir auch mit dem Problem konfrontiert, um dessentwillen in der neueren Kultur Medien so auffällig werden. Es ist der Umstand, dass sie Subjektivität perfekt zu überspielen, zu ersetzten, ja überflüssig zu machen scheinen. Wenn Medien Wirklichkeiten sind, bei denen Ding- und Ausdruckswahrnehmung gleichermaßen zum Einsatz kommen können, dann sind auch einseitige Bevorzugungen des einen oder anderen Wahrnehmungstyps möglich. Dabei muss man im Auge behalten, dass Medien sehr wohl normaler Weise auch Sinn und Personales abblenden können. Wenn wir von manchen Bildern und Zeichen ›angesprochen‹ werden, so fühlen wir uns gerade nicht persönlich betroffen und zum ›Nachsinnen‹ veranlasst. Vielmehr handeln wir, z. B. wir halten bei ›rot‹ und fahren bei ›grün‹ – ohne nachzudenken (ist man versucht zu sagen). Dieses automatische und insofern eben unpersönliche Funktionieren von Medien ist eine Entlastung – wie übrigens auch die ›Methoden‹ der Wissenschaft. Sie entlasten Intelligenz. Sie scheinen sie gelegentlich geradezu zu ersetzen. Sollte solche Intelligenzentlastung am Ende gar auf deren Abschaffung, szs. ihre ersatzlose Streichung hinauslaufen? Wo das undurchschaut bleibt, kann man von einer ontologischen Pathologie sprechen, die sich in Reduktionismus und objektivistischem Naturalismus bekundet. Problematisch wird es, wenn der abgeblendete Sinn und die abgeblendete Person vollends ausgeschaltet werden und ausgeschaltet bleiben. Und das scheint der Fall in modernen Entwicklungen zu sein. Zumindest gibt es Selbstdeutungen von Medienprozessen, die darauf 32 Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte Bd. 3, l. c. S. 119. Cassirer bezieht sich hier auf die Geschichtsforschung.
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hinauslaufen. Jedoch – wenn man von solchen ›Selbstdeutungen‹ spricht, hat man dem Personalen wiederum einen Rest von Beteiligung eingeräumt! Der Ent-Sinnungs- und Ent-Personalisierungs-Prozess wird beispielsweise greifbar in einer charakteristischen Bedeutungsverschiebung des Informationsbegriffes (zumal wenn sie undurchschaut bleibt) – von der Bedeutung ›sinnvoller Gehalt‹ zu derjenigen von ›Impuls‹ oder ›Stimulans‹. In dem letzteren Modell vermitteln Medien nicht mehr an Personen Sinn. Vielmehr werden Personen als Organismen durch Impulse gesteuert und unterhalten, d. h. in Zustände versetzt, die ihrerseits nur noch organisationstechnisch beschrieben werden können (Sinnhaftes und Personales werden verleugnet oder ins Irrationale verwiesen). Eine merkwürdige Möglichkeit der Entwicklung scheint sich einzustellen: durch hoch elaborierte Technik, durch moderne Medientechnik wird die personale Wirklichkeit auf die Funktionsweise eines vormenschlichen Organismus heruntergestuft, der im System des Organischen aufgehoben – vernetzt – ist, ohne sich von persönlichen Fragen nach Sinn behelligen lassen zu müssen. Das sind Vorstellungen, die auf ihre Weise allerdings schon in früheren Kulturen immer wieder einmal thematisch geworden sind. 33 Demgegenüber muss man darauf hinweisen, dass Medien lesbar sein und bleiben müssen, d. h. also nicht nur oder gar ausschließlich automatisch wirken dürfen. Vor allem dürfen wir nicht auch noch das Lesen selbst in dem Modell einer Automatik von Impuls und Steuerung untergehen lassen. Lesen ist die Leistung einer lebendigen Energie. Lesbarkeit ist szs. der Merkposten für die tatsächlich zu vollziehende und nicht simulierbare Aufgabe personaler, verständiger Sinnerfassung. Sinnorganisation hat dieser personalen Verständigung zu dienen. Nun könnte man sagen: ›Lesbarkeit‹ und ›Lesen‹ sind eher meditative, ja passive Momente. Es kommt auf Handeln und Tätigkeit an. Aber auch wenn es um menschliches Handeln und menschliche Tätigkeit geht (die Cassirer immer positiv hervorhebt), stellt sich die Frage nach dem Sinn, der in solchem Tun und Handeln originär impliziert ist und wirkt. Sieht man von solchem Sinn gänzlich ab, dann zerfällt uns das Phänomen des Handelns und des Tuns unter den Augen und es bleibt bloßes dingliches Geschehen zurück. etwa in Magie und Hexerei – in der Anwendung von Zaubermitteln (z. B. Zaubertränken) zur Steuerung menschlichen Verhaltens, Fühlens und Denkens, gleichsam die Automatisierung und Mechanisierung des Eigensten und Intimsten einer Person.
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Auf das ›Lesen‹ als durch und durch lebendiges Sinn-Verstehen kann also nicht verzichtet werden. Die Lesbarkeit der Medien zu erhalten, ist für das Überleben menschlicher Kultur und Personalität ebenso konstitutiv wie für die Bewährung von Wirklichkeit. Lesen ist Ontologie. Die Lesbarkeit als Lesemöglichkeit überhaupt setzt nicht nur objektive, manifeste Überliefertheit, szs. Speicher und Speicherkapazität voraus. Sie erfordert vielmehr die lebendige Energie lebendiger Personen, die lesen können und die immer wieder – auch in Zukunft – lernen können zu lesen, um damit den Sinn zu organisieren, den wir Kultur nennen. »Kultur« wird – wie Cassirer 1939 in einem Essay schreibt – »sein und fortschreiten, sofern die formbildenden Kräfte, die letzten Endes von uns selbst aufzubringen sind, nicht versagen oder erlahmen«. 34 Cassirer hat bereits die wichtige und unhintergehbare Bedeutung des Lesens gerade für die Epoche forcierter Medialität erkannt. Indem er die konstitutive Rolle des ›Scheins‹ am Beispiel der Kunst über das im engeren Sinne Ästhetische hinaus einsichtig macht (vgl. LKw, S. 31), ermöglicht er einen Begriff von Virtualität, der die Verdinglichung vermeidet. Die sogenannten virtuellen Welten, die heutzutage der Computer generiert, sind zwar für technische Modellbildungen – vor allem auch heuristisch – von höchstem Nutzen, aber sie sind keine Leseleistungen. Sie drohen Vorgang und Resultat des Lesens eher zu verdinglichen, indem sie den Sinn- und Bedeutungsraum der Lektüre in unausweichlicher Verbindlichkeit zu bebildern oder auch sonst graphisch zu bestimmen suchen. Diese technisch sozusagen fertig gemachte Virtualität müsste in einem erneuten Leseakt wieder gelesen werden, um den freien Raum der Bedeutsamkeit allererst zu eröffnen; denn der Sinn aller Medialität – sozusagen ihre ontologische Pointe – ist, sich geistig etwas vorschweben lassen zu können, die Wirklichkeit und sich selbst als Möglichkeit zu erfahren.
34 Ernst Cassirer: Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie (1939). In: Ernst Cassirer. Erkenntnis, Begriff, Kultur (Hg. Rainer A. Bast), Hamburg 1993, S. 260.
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Die Kategorie »Symbol« gehört zu den markantesten Leitbegriffen des 20. Jahrhunderts. Dies gilt gleichermaßen für die Philosophie wie für die Einzelwissenschaften. Durch den »linguistic turn« in der Philosophie wie den »cultural turn« in den sog. Geisteswissenschaften drängt das mit der Kategorie Symbol verbundene Wortfeld zunehmend in den Vordergrund der Diskurse. 1 Das Spektrum der Wortschöpfungen von »symbolischer Form« über »Symbolismus« und »Symbolisierung« bis hin zu »Symbolsystem« markiert allerdings eine semantische Unschärfe. Dies hängt einerseits mit der Frage nach dem Eigenwert und Status des Symbolischen zusammen. Die Forderung nach der philosophischen Eigenständigkeit einer Semiologie, dem Sprachgebrauch des Strukturalismus folgend, bzw. einer Semiotik in Gefolge der Zeichentheorie von Charles S. Peirce jenseits der cartesianischen Dichotomie von Subjekt und Objekt gehört zur Signifikanz gegenwärtiger Philosophie. Auf der anderen Seite ist aber das Symbolische nicht losgelöst von der Frage nach seiner Zuordnung zur subjektiven Erkenntnis wie zur objektiven Wirklichkeit. Die Triade von Ontologie, Epistemologie und Symboltheorie verweist konstitutiv auf die Problemstellung eines Megaparadigmas für die Philosophie wie die Wissenschaften. Das Ternar der Leitkategorien Struktur, Prozess und Symbol scheint prima vista den Referenzautoren Jean Piaget, Alfred N. Whitehead und Ernst Cassirer eindeutig zuzuordnen zu sein. Zur Programmatik eines Megaparadigmas gehört es jedoch, die strukturellen Interferenzen und Isomorphien aufzuzeigen, die bei aller Differenz der Ansätze in ihrer konzeptionellen Homologie die Konstituentien des
Vgl. auch zur Internationalität und Interdisziplinarität der Problemstellung etwa: Nelson Goodman, Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols, Indianapolis 2 Aufl. 1976; Tzvetan Todorov, Théories du symbole, Paris 1977, Dirk Hülst, Symbol und soziologische Symboltheorie, Untersuchungen zum Symbolbegriff in Geschichte, Sprachphilosophie, Psychologie und Soziologie, Opladen 1999.
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Megaparadigmas darstellen. Für den Entwicklungspsychologen Piaget ist die Struktur ja eine genetisch-prozessuale, 2 für den Kosmologen Whitehead der Prozess nicht ohne »strukturierte« Realität zu denken. 3 Die Offensichtlichkeit der wechselseitige Verwiesenheit von Struktur und Prozess in den Ansätzen von Piaget und Whitehead gewinnt durch die Einbindung der Philosophie Cassirers und seines Denkens des Symbolischen eine neue Dimensionalität. Wie die Leitkategorien »Struktur« und »Prozess« gehört auch die Kategorie des Symbolischen zur Signatur innovatorischen Denkens im 20. Jahrhundert und scheint womöglich geeignet zu sein, die cartesianischen Grabenkämpfe zwischen Realismus und Idealismus, zwischen Erkenntnistheorie und Ontologie zu überwinden. Darin liegt das Paradigmatische des Symbolischen. Bisher ist der Kategorie des Symbolischen in den Konzeptionen von Piaget und insbesondere von Whitehead nicht in gleicher Weise Aufmerksamkeit zuteil geworden. Dies liegt an der eindeutigen Dominanz der Philosophie der symbolischen Formen von Ernst Cassirer, nicht nur im Hinblick auf den Umfang der Publikationen von Cassirer selbst, sondern auch unter Berücksichtigung der Sekundärliteratur. Da die Symboltheorie von Cassirer und Piaget bereits Gegenstand vergleichender Untersuchungen gewesen ist, 4 sind die folgenden Überlegungen auf die Verhältnisbestimmung der Symbolansätze von Whitehead und Cassirer fokussiert. Im Anschluss an eine bibliographische Genese des Symboldenkens (1.) liegt der Schwerpunkt auf der bisher kaum beachteten Bedeutung des Symbolischen in der MetaphySiehe hierzu Reto Luzius Fetz, Struktur und Genese. Jean Piagets Transformation der Philosophie, Bern/Stuttgart 1988 sowie ders., Zur Genese ontologischer Begriffe: Für eine Verbindung Whiteheadscher und Piagetscher Ansätze, in: Harald Holz/Ernesto Wolf-Gazo (Hg.), Whitehead und der Prozeßbegriff/Whitehead and The Idea of Process. Beiträge zur Philosophie Alfred North Whitehead auf dem Ersten Internationalen Whitehead-Symposion 1981/Proceedings of The First International Whitehead-Symposium 1981, Freiburg/München 1984, 220–239. 3 Siehe Hans-Joachim Sander, Natur und Schöpfung – die Realität im Prozeß. A. N. Whiteheads Philosophie als Paradigma einer Fundamentaltheologie kreativer Existenz, Würzburg 1991. 4 Vgl. Reto Luzius Fetz, Genetische Semiologie? Symboltheorie im Ausgang von Ernst Cassirer und Jean Piaget, In Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 28 (1981), 434–470; sowie ders., Nachahmung, Spiel und Kunst. Fragen einer genetischen Ästhetik, in. Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 29 (1982), 489–508. Fetz bezieht sich hier auf Piagets Schrift: La formation du symbole chez l’enfant. Imitation, jeu et rêve; image et représentation, Neuchâtel/Paris 1945. Ebenso Franz Riffert, Whitehead und Cassirer, Frankfurt am Main 1994, bes. 264–286. 2
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sik Whiteheads (2.), die mit dem Ansatz Cassirers kontrastiert wird (3.), um abschließend den konzeptionellen Beitrag des Symboldenkens für das anvisierte philosophisch-wissenschaftliche Megaparadigma in nuce anzuzeigen (4.).
1.
Zur bibliographischen Genese des Symboldenkens
Die im Zentrum der folgenden Überlegungen stehende Zuordnung der Kategorien Symbolisierung und Realität und der damit angezielte Vergleich zwischen dem kosmologischen Denken des Spätwerks von Whitehead und Cassirer scheinen bereits entschieden. Der Philosoph der symbolischen Formen heißt Ernst Cassirer, das Hauptwerk Alfred N. Whiteheads trägt, wenn auch nicht ausschließlich, den programmatischen Begriff »Reality« im Titel. Es stellt sich nicht zuletzt grundsätzlich die Frage, ob ein Vergleich zwischen so unterschiedlichen Autoren und ihren Werken überhaupt möglich ist. Whitehead selbst kennt das Werk Cassirers nicht. Inwieweit er durch Susanne K. Langer, die sich in ihrer in den Jahren 1924 bis 1926 bei Whitehead erarbeiteten Dissertation A logical Analysis of Meaning (Radcliff College 1926) zur symboltheoretischen Bedeutungstheorie auch auf die bis dato vorliegende Philosophie der symbolischen Formen bezieht, auf diese aufmerksam gemacht wurde, lässt sich nicht definitiv bestimmen. Cassirer nimmt zwar namentlich Bezug auf Whitehead, allerdings nur auf den Whitehead der Principia mathematica, jenes Versuchs einer abschließenden logischen Begründung der Mathematik, die der frühe Whitehead gemeinsam mit Bertrand Russell verfasst hat. 5 Ernst Cassirer fasst die Idee einer Philosophie der symbolischen Formen nach eigenen Angaben bei einer Straßenbahnfahrt 1917. 6 Der Topos »symbolische Form« taucht erstmals im Titel von Vorträgen der Bibliothek Warburg 1921/1922 Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften auf. Zu dieser Zeit arbeitet Whitehead in London an seiner Naturphilosophie und zugehörigen Wahrnehmungstheorie. Es entstehen Werke wie An Enquiry concerning Siehe Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen III, Darmstadt (Sonderausgabe) 1994, 345. 6 Vgl. Dimitry Gawronsky, Ernst Cassirer: His Life and his Work. A Biography, in: Paul Arthur Schilpp, The Philosophy of Ernst Cassirer, New York 21958, 1–37. 5
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the principles of natural Knowledge 1919, The Concept of Nature 1920 und The principles of Relativity with Applications to physical science 1922. Die damalige Aktualität der Einsteinschen Relativitätstheorie hat Cassirer bereits ein Jahr zuvor in Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen bearbeitet. Die Auseinandersetzung beider Denker mit der Relativitätstheorie verweist auf die Isomorphien in den erkenntnistheoretischen Fragestellungen. Ohne einen Rückbezug auf die moderne Naturwissenschaft verliert die Philosophie ihre Bedeutung. Damit stellen beide nicht nur die neuzeitliche Erkenntnistheorie humescher und kantscher Prägung, sondern auch das Konzept der traditionellen Substanzmetaphysik prinzipiell in Frage. Der dritte Band der Philosophie der symbolischen Formen widmet sich als Phänomenologie der Erkenntnis gerade den Wissenschaften. Ob aber eine Phänomenologie der Erkenntnis als symbolische Form, die für Cassirer explizit ja keine Metaphysik der Erkenntnis sein will, letztlich ohne Metaphysik auskommt, wird zu fragen sein. Der vierte projektierte Band der Philosophie der symbolischen Formen, die Metaphysik der symbolischen Formen, bleibt unvollendet. Whiteheads 1922 erschienenes Werk zur Relativitätstheorie schließt – mit Cassirer formuliert –, dessen Londoner Arbeiten zur Phänomenologie der Erkenntnis der Natur ab. Whitehead transformiert sein Denken in eine relativistische Metaphysik, die nach seiner Übersiedelung 1924 in die USA erarbeitet wird und in Process and Reality. An Essay in Cosmology 1929 seinen Höhepunkt erreicht. In Process und Reality wird das Relativitätsprinzip der Physik zu einem allgemeinen metaphysischen Prinzip. In der vierten Kategorie der Erklärung wird dies folgendermaßen formuliert: »That the potentiality for being an element in a real concrescence of many entities into one actuality is the one general metaphysical character attaching to all entities, actual and non-actual; and that every item in its universe is involved in each concrescence. In other words, it belongs to the nature of a ›being‹ that it is a potential for every ›becoming‹. This is the ›principle of relativity‹.« 7 Zu Cassirer wie Whitehead gehört nicht nur die Einbeziehung der modernen Wissenschaften in die Philosophie, sondern auch die konsAlfred North Whitehead, Process and Reality. An Essay in Cosmology. Corrected Edition. Ed. by David Ray Griffin and Donald W. Sherburne, New York/London 1979, 22.
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truktive Auseinandersetzung mit der Kultur. »Die Kritik der Vernunft wird damit zur Kritik der Kultur. Sie sucht zu verstehen und zu erweisen, wie aller Inhalt der Kultur, sofern er mehr als bloßer Einzelinhalt ist, sofern er in einem allgemeinen Formprinzip gegründet ist, eine ursprüngliche Tat des Geistes zur Voraussetzung hat. Hierin erst findet die Grundthese des Idealismus ihre eigentliche und vollständige Bewährung.« 8 Insbesondere Goethe und seine kulturphilosophische Überlegungen, mit denen sich Cassirer bereits 1916 in Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte beschäftigt hat, haben den kantianischen Rahmen Cassirers in Richtung Kulturphilosophie erweitert. 9 Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, die 1923 zur Sprache, 1925 zum mythischen Denken und 1929 zur Phänomenologie der Erkenntnis in seiner Hamburger Zeit in drei Bänden vorgelegt wird, macht das explizit, was, folgt man etwa Ernst Wolfgang Orth, implizit im Denken Cassirers schon immer angelegt ist und worin er sich von seinen neukantianischen Lehrern unterscheidet, nämlich die Grundlegung einer Philosophie der Kultur und philosophischen Kulturkritik. 10 Auch Whiteheads ausgearbeitete Metaphysik in Process and Reality setzt kulturphilosophische Arbeiten voraus wie Science and Modern World von 1925 und Religion in the Making von 1926. Ein Jahr später 1927 – Cassirer beendet in diesem Jahr die Arbeit am dritten Band seiner Philosophie der symbolischen Formen –, hält Whitehead drei Vorlesungen an der Universität von Virginia, die unter dem Titel »Symbolism. Its Meaning and Effect« im gleichen Jahr erschienen sind. Rolf Lachmann hat dieses kleine Werk übersetzt und unter dem Titel »Kulturelle Symbolisierung« im Jahr 2000 herausgegeben. Der deutsche Titel bahnt eine Interpretationsschiene an, die in Symbolism. Its Meaning and Effect nicht gänzlich abgedeckt ist. Es geht nicht primär um kulturelle Symbolisierung. Die kulturphilosophische Analyse des Symbolbegriffs bzw. des Konzepts der Symbolisierung oder des Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen I, Darmstadt (Sonderausgabe) 1994, 11. 9 Vgl. hierzu Barbara Naumann, Philosophie und Poetik des Symbols. Cassirer und Goethe, München 1998. 10 Vgl. hierzu Ernst Wolfgang Orth, Zur Konzeption der Cassirerschen Philosophie der symbolischen Formen. Ein kritischer Kommentar, in: Ernst Cassirer, Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927–1933, hg. von Ernst Wolfgang Orth und John Michael Krois, Hamburg 1985, 165–201. 8
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synonym verwendeten Begriffs des Symbolismus erfolgt erst in der dritten, abschließenden Vorlesung »Use of Symbolism«, die sich mit der kulturellen Rolle der Symbolisierung befasst. Die kulturelle Symbolisierung bildet vielmehr die Anwendung einer viel tiefer liegenden naturphilosophischen bzw. metaphysischen Grundlegung der Symbolisierung. 11 Die späte Übersetzung von Symbolism. Its Meaning and Effect ist nicht zuletzt ein Indiz dafür, dass dieses Buch in der bisherigen Whiteheadforschung kaum eine Rolle gespielt hat. Bereits bei seinem Erscheinen war die Resonanz eher negativ und gering. Unter Heranziehung weiterer Schriften des Whiteheadschen Spätwerkes ergibt sich jedoch ein konsistenteres Bild seiner Philosophie der Symbolisierung. Zu berücksichtigen sind das letzte Kapitel von Religion in the making von 1926 sowie das erste Kapitel von Adventures of Ideas von 1933 und der erste Teil von Modes of thought von 1938. Whiteheads Konzept der Symbolisierung gehört nicht zuletzt zum Gesamtkonzept seiner in Process and Reality erarbeiteten Metaphysik. In zweiten Teil seiner Kosmologie, der die Diskussion und Anwendung des spekulativen Schemas und seiner Kategorien beinhaltet, folgt nach dem siebten Kapitel »The subjectivist Principle« das achte Kapitel »Symbolic Reference«, dem sich dann das neunte Kapitel über »The Propositions« anschließt. Das achte Kapitel ist eine Fortführung dessen, was Whitehead in Symbolism. Its Meaning and Effect eingeführt hat. Susanne K. Langer hat ihr Hauptwerk von 1942 »Philosophy in a New Key. A Study in the Symbolism of Reason, Rite and Art« ihrem Lehrer Alfred N. Whitehead gewidmet und rekurriert für ihr dezidiert realistisches Programm einer symboltheoretischen Bedeutungslehre in Wissenschaft, Kunst und Religion auch ausdrücklich auf Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Gegenüber der deutschen Interpretationslinie, die Cassirers Kulturphilosophie bis heute der idealistischen Transzendentalphilosophie zuweist, wird dieser in der anglophonen Welt von Beginn als realistische Konzeption gedeutet. 12 Die Auseinandersetzung mit der Frage des Symbolischen gehört zur philosophischen Grundlagendiskussion der 1920er Jahre. Der termino11 Siehe hierzu Rolf Lachmann, A. N. Whiteheads naturphilosophische Konzeption der Symbolisierung, in: Zeitschrift für Philosophie 54 (2000), 196–217. 12 Vgl. etwa Carl H. Hamburg, Symbol and Reality. Studies in the Philosophy of Ernst Cassirer, Den Haag 1956, sowie Thomas Knoppe, Die theoretische Philosophie Ernst Cassirers. Zu den Grundlagen transzendentaler Wissenschafts- und Kulturtheorie, Hamburg 1992.
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logisch und disziplinär eng begrenzte Rahmen einer »symbolischen Logik« seit dem 19. Jahrhundert wird hier grundsätzlich erweitert. Für den anglophonen Bereich ist weiterhin insbesondere Charles Kay Ogdens und Ivor Armstrong Richards Grundlagenwerk The Meaning of Meaning. A Study of the Influence of Language upon Thought and of the Science of Symbolism von 1923 zu nennen. Die terminologische Nähe zu Whiteheads Denken ist evident, wenngleich dieser auf das Werk von Ogden und Schubert nicht explizit Bezug nimmt. Dem mentalistischen Konzept von The Meaning of Meaning, insofern es nur einen indirekten Bezug zwischen Symbol und Objekt vermittelt durch den Gedanken gibt, erteilt Whitehead jedoch eine generelle Absage. »It is a mistake to think of words as primarly the vehicle of thoughts.« 13 Ob die Interpretation der Philosophie der symbolischen Formen als realistische Bedeutungslehre zutreffend ist, wird zu klären sein.
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Whiteheads Diskussion des Symbolischen beginnt mit seiner Lehrtätigkeit in Harvard und der Ausarbeitung seines metaphysischen Spätwerkes, das die naturphilosophischen Arbeiten in einen Gesamtrahmen einbettet, dem eine Reihe von kulturphilosophischen Werken korrespondieren. Der 63jährige trifft in Amerika auf eine breite Diskussion metaphysischer Fragen im Kontext empiristischer und pragmatischer Philosophiekonzepte. Hierzu gehören etwa William James Essays in Radical Empiricism von 1912, Samuel Alexanders Space, Time and Deity von 1920 und George Santayanas Scepticism and Animal Faith von 1923. Letzteres Werk wird im Vorwort zu Symbolism. Its Meaning and Effect ausdrücklich erwähnt. Für seine eigene Symbolkonzeption dürfte die Arbeit seines Harvarder Kollegen Ralph Morton Eaton von 1925 Symbolism and Truth. An Introduction in the Theory of Knowledge, die eine symboltheoretische begründete Erkenntnistheorie beinhaltet, von weitreichender Bedeutung gewesen sein. 14 Alfred North Whitehead, Process and Reality. An Essay in Cosmology. Corrected Edition. Ed. by David Ray Griffin and Donald W. Sherburne, New York/London 1979, 182. 14 Vgl. Rolf Lachmann, Einleitung, in: Alfred North Whitehead, Kulturelle Symbolisie13
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Whiteheads Spätwerk ist gekennzeichnet von der Überwindung aller neuzeitlichen und auch vorneuzeitlichen Dichotomien in der Wirklichkeitsauffassung. Seine megaparadigmatische Relevanz liegt darin, die Bifurkation von Objekt und Subjekt, von Natur und Geist, von Welt und Gott, von Wissenschaft und Philosophie, Kunst und Religion, von quantitativen Tatsachen und ihrer qualitativen Bewertung, von Konkretheit und Abstraktion, von Erfahrung und Rationalität, von Einheit und Vielheit, von Sein und Werden zu überwinden. Anstelle der in Philosophie und Wissenschaft gängigen Reduktionismen tritt eine funktionale Zuordnung dieser polaren Größen. Die elementarste metaphysische Einheit seiner Wirklichkeitsauffassung, das actual entity lässt sich in seiner Struktur funktional von diesen vermeintlichen Antagonismen her analysieren. »The many become one, and are increased by one. In their natures, entities are disjunctively ›many‹ in process of passage into conjunctive unity.« 15 Die Kategorie des Elementaren zeigt an, dass aus vielen objektiven Daten vergangener actual entities ein neues subjektives actual entity entsteht, das als Superjekt selbst wieder Moment eines neuen actual entity wird. Das, was ein actual entity ist, zeigt sich darin, wie es prozessual geworden ist. Jedes actual entity ist eine Tatsache für sich, hat aber einen Wert und Bedeutung für das ganze Universum. Die Analyse des Strukturprozesses 16 eines actual entity zeigt die ontologische Einheit eines funktionalen Zusammenhangs von Objektivtät, Subjektivität und Superjektivität. Der Strukturprozess eines actual entity ist ontologisch ein Erkenntnis- bzw. Erfahrungs- und Wahrnehmungsprozess. Von Whitehead her gesehen, müsste die von Cassirer getroffene Unterscheidung von Metaphysik von Erkenntnis und Phänomenologie der Erkenntnis als unzulässige Abstraktion kritisiert werden. Whitehead unterscheidet zwei grundsätzliche Wahrnehmungsmodi. Zum einen den Modus der »präsentativen Unmittelbarkeit« rung, herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Rolf Lachmann, Frankfurt am Main, 7–55, hier: 26–27. 15 Alfred North Whitehead, Process and Reality. An Essay in Cosmology. Corrected Edition. Ed. by David Ray Griffin and Donald W. Sherburne, New York/London 1979, 21. 16 Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf die Strukturkonzeption von Heinrich Rombach, einem Autor, dessen Relevanz für das anvisierte Megaparadigma noch aufzuzeigen wäre. Vgl. etwa Heinrich Rombach, Strukturontologie. Eine Phänomenologie der Freiheit, Freiburg/München 1971. A
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(presentational immediacy), zum anderen den der »kausalen Wirksamkeit« (causal efficacy). Die ersten beiden Kapitel von Symbolism. Its Meaning and Effect sind diesen beiden Modi der Wahrnehmung gewidmet. Der Modus der präsentativen Unmittelbarkeit nimmt das sensualistischen Konzept der Sinneswahrnehmung auf und modifiziert dieses. Mit ihm hat sich Whitehead bereits in seinen naturphilosophischen Arbeiten beschäftigt. »Presentational immediacy is our immediate perception of the contemporary external world, appearing as an element constitutive of our own experience. In this appearance the world discloses itself to be a community of actual things, which are actual in the same sense as we are.« 17 Zur präsentativen Unmittelbakeit gehört also, dass die Sinnesdaten vom wahrnehmenden Subjekt und seinen räumlichen Relationen zu den wahrgenommenen Objekten abhängen, dass die gleichzeitige Welt ausgedehnt und voller weiterer individueller oder sozialer Wirklichkeiten ist. Der Wahrnehmungsmodus der präsentativen Unmittelbarkeit ist jedoch höheren Organismen und vor allem dem Menschen vorbehalten, weil sie mit Sinnesorganen ausgestattet sind. Er liefert Erkenntnis über die gegenwärtige Welt, die als ausgedehnt wahrgenommen wird. Die präsentative Unmittelbarkeit verweist auf eine Form der Objektivierung von Wirklichkeit in einem Subjekt aufgrund ihrer räumlichen Gleichzeitigkeit. Zu der gleichzeitigen Umgebung eines wahrnehmenden Subjekts zählen auch die körperlichen Organe, die die Wahrnehmungen vermitteln. Wahrnehmung steht also nicht der Wirklichkeit gegenüber, sondern ist Teil der Wirklichkeit. Dieser metaphysische Zusammenhang der Wirklichkeit wird noch deutlicher beim zweiten Wahrnehmungsmodus. Ausgehend von der Kategorie des Elementaren besteht eine durchgängige Relationalität zwischen allen actual entities. Dieser zweite und viel elementarere Wahrnehmungsmodus ist der der »kausalen Wirksamkeit«. Kausalität ist weder eine Gewohnheit des Denkens, wie es Humes Sensualismus behauptet, noch eine Kategorie des Denken wie bei Kant, sondern bezeichnet ontologisch den funktionalen Zusammenhang der Wirklichkeit. Der Modus der kausalen Wirksamkeit macht deutlich, dass die Sinnesdaten nicht nur präsentisch in einem räumlichen Bezug gegeben sind, sondern intrinsisch, ontologisch in ihrer wechselseitigen Abhän17
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gigkeit und Bezogenheit. Der Modus der kausalen Wirksamkeit zeigt die Konformität der Vergangenheit an die Gegenwart durch deren Objektivierung. »There can be no useful aspect of anything unless we admit the principle of conformation, whereby what is already made becomes a determinant of what is in the making. The obviousness of the pragmatic aspect is simply the obviousness of the perception of the fact of conformation.« 18 Dieser ursprüngliche Modus ist konstitutiv für die gesamte Wirklichkeit. Der Wahrnehmungsmodus der kausalen Wirksamkeit ist metaphysisch weitreichender als der Modus der präsentativen Unmittelbarkeit, der ausschließlich für höhere Lebewesen, wie den Menschen, zutrifft. Whitehead resümiert: »One part of our experience is handy, and definite in our consciousness; also it is easy to reproduce at will. The other type of experience, however insistent, is vague, haunting, unmanageable. The former type, for all its decorative sense-experience, is barren. It displays a world concealed under an adventitious show, a show of our own bodily production. The latter type is heavy with the contact of the things gone by, which lay their grip on our immediate selves.« 19 Der Charakter der kausalen Zuordnung, der Konformität des Vergangenen in seiner ontologischen Bedeutung für das im Entstehen Begriffene zeigt für Whitehead die philosophische Bedeutung des Pragmatismus und seiner realistischen Wirklichkeitsauffassung. Die Kausalität der Wirklichkeit ist eine ursprünglichere Erfahrung als die unmittelbare Repräsentation. Kausale Wirksamkeit und präsentative Unmittelbarkeit sind die beiden reinen Wahrnehmungsweisen. Es gibt jedoch eine dritte Wahrnehmungsweise, die Whitehead als »symbolischer Bezug« (symbolic reference) kennzeichnet. Der symbolische Bezug resultiert aus einer Wechselbeziehung der beiden reinen Wahrnehmungsmodi. Whitehead veranschaulicht dies am Beispiel der Wahrnehmung eines Stuhles. Zunächst sehen wir nur unmittelbar eine in der Regel farbige Gestalt. Die meisten von uns, wenn wir nicht etwa Künstler sind, würden diese farbige Gestalt aber als einen Stuhl bezeichnen. »Symbolism from sense-presentation to physical bodies is the most natural and widespread of all symbolic modes.« 20 Alfred North Whitehead, Symbolism. Its Meaning and Effect, New York 1985, 46. Alfred North Whitehead, Symbolism. Its Meaning and Effect, New York 1985, 43– 44. 20 Alfred North Whitehead, Symbolism. Its Meaning and Effect, New York 1985, 4. 18 19
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Symbolisierung geschieht im Bezug der beiden Wahrnehmungsmodi. Die symbolische Referenz wird in Process and Reality daher als gemischter Wahrnehmungsmodus bezeichnet. Die grundsätzliche Funktion der symbolischen Referenz für sein metaphysisches Bedeutungskonzept fasst Whitehead folgendermaßen zusammen: »The failure to lay due emphasis on symbolic reference is one of the reasons for metaphysical difficulties; it has reduced the notion of ›meaning‹ to a mystery.« 21 Im symbolischen Bezug geht es somit um die Frage der Bedeutung dessen, was symbolisiert wird. Als gemischter Wahrnehmungsmodus muss es gemeinsame Grundlagen beider reiner Modi geben, die konstitutiv für den symbolischen Bezug sind. Dies ist zunächst der gemeinsame geometrische Ort. Dieser wird für die präsentative Unmittelbarkeit direkt und deutlich wahrgenommen, für die kausale Wirksamkeit jedoch indirekt und undeutlich. Die zweite Grundlage hängt mit dem Konzept von »zeitlosen Gegenstände« in Whiteheads Metaphysik zusammen. Solche zeitlosen Gegenstände sind etwa Farben. Es muss eine Identität eines solchen zeitlosen Gegenstandes in beiden reinen Wahrnehmungsmodi geben. Während die reinen Wahrnehmungsweisen der präsentativen Unmittelbarkeit und der kausalen Wirksamkeit nicht des Irrtums fähig sind, wird dies in der gemischten Wahrnehmungsweise des symbolischen Bezugs möglich. Dies hängt damit zusammen, dass der symbolische Bezug zu einer späteren Phase des Wahrnehmungsprozesses gehört, die mit größerer Freiheit versehen ist. Insofern menschliche Wahrnehmung fast ausschließlich im Modus der symbolischen Referenz geschieht, gehört Irrtum zum Menschsein. Dies betrifft nicht zuletzt für die Sprache als zentraler menschlicher Ausdrucksform des Symbolischen zu. Das Vertrauen in die Sprache als adäquater Ausdrucks von Aussagen, gehört zu den philosophischen Denkgewohnheiten, die es nach Whitehead aufzugeben gilt. Dem Wahrnehmungsmodus der kausalen Wirksamkeit sind wir durch die objektiven Gegebenheiten der Vergangenheit ausgesetzt, die in der Erfahrung vage und unkontrolliert sind. Durch die präsentative Unmittelbarkeit gewinnt die gegenwärtige Wahrnehmung eine gewisse Klarheit und Begrenztheit. Whiteheads metaphysische Konzeption Alfred North Whitehead, Process and Reality. An Essay in Cosmology. Corrected Edition. Ed. by David Ray Griffin and Donald W. Sherburne, New York/London 1979, 168.
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der Wahrnehmung kann hier nur grob angedeutet werden. Für die Frage der Symbolisierung ist sie jedoch von grundlegender Relevanz. »Symbolic reference between the two perceptive modes affords the main example of the principles which govern all symbolism. The requisites for symbolism are that there be two species of percepta; and that a perceptum of one species has some ›ground‹ in common with a perceptum of another species, so that a correlation between the pair of percepta is established.« 22 Der symbolische Bezug kann zwar von jeder der beiden reinen Wahrnehmungsmodi ausgehen und in die andere münden, es ist jedoch in der Regel so, dass die Wahrnehmungsgegenstände der kausalen Wirksamkeit (die reaktive Phase) im Modus der präsentativen Unmittelbarkeit ergänzt werden. Die Wahrnehmungsgegenstände der reaktiven Phase bilden die »Gattung der Symbole«, die im Wahrnehmungsprozess in die »Gattung der Bedeutungen« mündet. Die Symbole als objektive Daten erhalten im Wahrnehmungsprozess durch das wahrnehmende Subjekt ihre Bedeutung. Den Übergang von Symbol zur Bedeutung definiert Whitehead als symbolische Referenz. Er muss hergestellt werden. Die Sprache eignet sich besonders aufzuzeigen, wie symbolische Referenz geschieht. Der Klang eines Wortes wird in der präsentativen Unmittelbarkeit gehört. Erst wenn dieses Wort in Bezug gesetzt wird zu Geschehnissen im Leben des Sprechenden, wird ein symbolischer Bezug hergestellt. Solche gemeinsamen Grundlagen, die zu einem symbolischen Bezug führen, ergeben sich aus gemeinsamen Strukturelementen der beiden Gattungen »Symbole« und »Bedeutungen«. Überschneidungsmöglichkeiten der beiden Wahrnehmungsmodi sind nötig, um einen symbolischen Bezug zu gewährleisten. Dabei sind für Whitehead gerade auch die Sinnesorgane von entscheidender Bedeutung in ihrer kausalen Wirksamkeit. Den Bezug stellt jedoch das wahrnehmende Subjekt her. Das Wort »Wald« kann die Erinnerung an Wälder hervorrufen. Der Erinnerung an einen Wald kann auch das Wort »Wald« ins Gedächtnis rufen. Symbole und ihre Bedeutungen sind umkehrbar. In der Regel stehen uns die sprachlichen Symbole zur Verfügung, um einen symbolischen Bezug zur Realität herzustellen und ihnen somit 22 Alfred North Whitehead, Process and Reality. An Essay in Cosmology. Corrected Edition. Ed. by David Ray Griffin and Donald W. Sherburne, New York/London 1979, 180.
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Bedeutung zu geben. Sprachliche Kommunikation funktioniert daher in einer doppelten Referenz. Auf der Seite des Sprechers zwischen den Dingen und den Worten, auf der Seite des Hörers zwischen den Worten und den Dingen. Im letzten Kapitel von Symbolism. Its Meaning and Effect wendet Whitehead sein Konzept des symbolischer Bezugs auf die menschliche Gesellschaft und Kultur an. Er konstatiert zunächst den Wildwuchs des Symbolischen. Die Begrenzung des Symbolischen gehört zur Aufgabe jeder Gesellschaft, die ihre Symbole ihrer gesellschaftlichen Struktur anzupassen hat. Der feudale Gesellschaftsstruktur des Mittelalters verlangt gleichermaßen eine Symbolisierung wie die der Demokratie. Prägnant definiert Whitehead Symbolisierung als Ausdruck. »Mankind, it seems, has to find a symbol in order to express itself. Indeed ›expression‹ is ›symbolism‹.« 23 Der Zweck der Symbolisierung ist die Steigerung der Wichtigkeit derjenigen gesellschaftlichen Gegebenheiten, die symbolisiert werden. Kulturell-gesellschaftliche Symbolisierung gelingt nicht, wenn dieser Rückbezug auf die kulturellen Tatsachen verloren geht. »The self-organization of society depends on commonly diffused symbols evoking commonly diffused ideas, and at the same time indicating commonly understood actions. 24 Die Selbstorganisation der Gesellschaft hängt von allgemein verbreiteten Symbolen ab, die allgemein verbreitete Vorstellungen hervorrufen und zugleich allgemein verständliche Aktionen anzeigen. Symbole müssen daher theoretisch, d. h. in ihrer realen Bedeutung, begründet werden können und praktisch handhabbar sein. Das Konzept der Symbolisierung Whiteheads verbindet realistischen und pragmatischen Anspruch. Der Rückbezug verbleibt allerdings in einer gewissen Vagheit, die zum Symbolischen als Mischmodus gehört. Whitehead unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen instinktiver Aktion, Reflexhandeln und symbolisch konditioniertem Handeln. Instinktive Aktionen sind Reaktionen von Organismen, deren Wahrnehmung aus reiner »kausaler Wirksamkeit« besteht. Reflexhandeln ist ein Rückfall bei solchen Organismen, die symbolisch konditioniertes Handeln ausüben können. Reflexhandeln ist abhängig von der reinen präsentativen Unmittelbarkeit. Demgegenüber definiert Whitehead symbolisch konditioniertes Handeln. »Symbolically condi23 24
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tioned action is action which is thus conditioned by the analysis of the perceptive mode of causal efficacy effected by symbolic transference from the perceptive mode of presentational immediacy.« 25 Die Kategorie der symbolischen Transferenz verweist auf den Handlungsaspekt, dass symbolischer Bezug hergestellt und geleistet werden muss. Die menschliche Sprache ist für Whitehead ein künstlicher Symbolismus, der auch in ein Reflexhandeln zurückfallen kann, wenn die Bedeutung des sprachlichen Symbols verlorengeht. Nicht zuletzt besteht in der Sprache daher eine gewisse Vagheit der Symbolisierung, ohne dass der Bedeutungsaspekt aus dem Blick gerät. Die ästhetischen Implikationen, die Whitehead daraus zieht, können hier keine weitere Berücksichtigung finden. 26 Insgesamt lässt sich jedoch festhalten, dass der dritte Teil von Symbolism. Its Meaning and Effect die metaphysischen Grundlagen des Symbolkonzepts voraussetzt. Dies betrifft nicht nur die unterschiedlichen Wahrnehmungsmodi, sondern auch die zentrale metaphysische Kategorie, die Kategorie des Elementaren. »Thus symbolism, including the symbolic transference be which it is effected, is merely one exemplification of the fact that a unity of experience arises out of the confluence of many components. This unity of experience is complex, so as to be capable of analysis.« 27 Daher ist der von Lachmann vorgeschlagene Titel der Übersetzung Kulturelle Symbolisierung von Symbolism. Its Meaning and Effect in seiner kulturphilosophischen Zuspitzung zu einseitig. Whiteheads Symbolkonzeption sowohl in Symbolism. Its Meaning and Effect wie in Process and Reality stellt den Begriff der Bedeutung in den Vordergrund. Deren referenztheoretische Begründung bedarf des metaphysischen Realismus. Abschließend soll an zwei Beispielen deutlich gemacht werden, dass die symboltheoretischen Überlegungen durchgängig im Spätwerk Whiteheads präsent sind. Neben der Kategorie der Bedeutung operiert Whitehead auch mit der Kategorie des Ausdrucks. Diese spielt in Religion in the Making eine größere Rolle als in den späteren Arbeiten. Religiöse Erfahrung, die ja von Relevanz für eine umfassende Metaphysik ist, bedarf des Ausdrucks. Ausdruck wird sogar als Sakrament bezeichnet. Die sprachliche Form des religiösen Ausdrucks ist das DogAlfred North Whitehead, Symbolism. Its Meaning and Effect, New York 1985, 80. Vgl. hierzu Reto Thaler, Kosmologie und Dichtung. Zum Verhältnis von Philosophie und Literatur bei Alfred North Whitehead, Bern u. a. 2001, bes. 169–255. 27 Alfred North Whitehead, Symbolism. Its Meaning and Effect, New York 1985, 86. 25 26
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ma, das die Sozialform von Religion ermöglicht. Es basiert jedoch auf einer religiösen Tatsache. Ohne diesen Rückbezug auf die grundlegende Erfahrung besteht die Gefahr des Dogmatismus. Religiöser Dogmatismus ist ein Exempel für gesellschaftlichen Dogmatismus, der mit der Symbolisierung geschehen kann, wenn der Bezug zur geschichtlichen Wirklichkeit verloren geht. Dass Whitehead sich bis ins hohe Alter hinein mit symboltheoretischen Problemstellungen befasst, zeigt sich auch im letzten größeren Werk Modes of Thought von 1938. Die ersten drei Vorlesungen, die Whitehead nach seiner Emeritierung in Harvard 1937 am Wellesley College gehalten hat, tragen die Überschriften Bedeutsamkeit (importance), Ausdruck (expression) und Verstehen (understanding). Das symboltheoretische Anliegen bildet einen kaum beachteten roten Faden im Werk von Whitehead. Darauf wollten die vorliegenden Ausführungen in wenigen Grundzügen aufmerksam machen. Der zugegebenermaßen schnelle Parforceritt durch Whiteheads Konzept der Symbolisierung hat zu zeigen versucht, wie Symbolisierung und Realität metaphysisch zuzuordnen sind. Erst aufgrund der metaphysischen Rahmenkoordinaten lässt sich die Leitkategorie »Symbol« weiterführend kulturphilosophisch verwenden. Zusammenfassend lässt sich Whiteheads Konzeption nach dieser vorgeschlagenen Interpretationslinie als »symbolischer Realismus« charakterisieren.
3.
Cassirer und die Philosophie der symbolischen Formen
Die Kennzeichnung des whiteheadschen Symbolkonzepts als symbolischer Realismus kontrastiert gewollt zu Cassirers Selbstverständnis seiner Philosophie als »symbolischer Idealismus«. Diese Selbstcharakterisierung verdeutlicht entgegen der breiten anglophonen Interpretationslinie die Kohärenz des idealistischen Gesamtduktus dieser Philosophie. Cassirers Konzeption soll in aller gebotenen Kürze unter den Titelkategorien Symbolisierung und Realität in den Blick genommen werden. Cassirer will wie Whitehead den Dualismus zwischen Materie und Form, Objekt und Subjekt, Leben und Geist überwinden. Sie sind keine für sich bestehenden Größen, sondern funktional aufeinander verwiesen. »Für die Philosophie, für die denkende Betrachtung des Seins, kann daher niemals das Leben selbst, vor und außerhalb aller Geformtheit, das Ziel und die Sehnsucht der Betrachtung bilden; son322
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dern für sie bilden Leben und Form eine untrennbare Einheit. Denn erst durch die Form und ihre Vermittlung nimmt die bloße Unmittelbarkeit des Lebens die Gestalt des Geistes an.« 28 Dieses Fazit in Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, mit dem Cassirer den für sein Denken grundlegenden Topos der symbolischen Form noch vor dem Erscheinen des ersten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen einführt, zeigt an, dass Cassirer die funktionale Bezogenheit von Leben und Geist hierarchisch zuordnet und nicht wechselseitig, wie es das Prinzip der Relativität bei Whitehead erforderlich macht. Es geht um die geistige Formation des Lebens. Wie Whitehead befasst sich Cassirer mit dem Themenfeldern Sprache, Mythos und Erkenntnis. Bei Cassirer sind sie jedoch nicht im Rahmen einer einheitlichen Metaphysik eingebunden und einander zugeordnet, sondern exemplifizieren je unterschiedlich das Programm der symbolischen Formen, das auch für die Technik oder die Kunst auszuführen wäre. Dieses Programm hat Cassirer noch 1938 in seinem späten Aufsatz Zur Logik des Symbolbegriffs verteidigt, und kulturanthropologisch in Essay on Man wie staatsphilosophisch in The Myth of the State in seinen letzten Jahren in den USA weitergeführt. Wie lässt sich nun das Verhältnis des Symbolischen zur Realität bei Cassirer fassen? Im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen bestimmt Cassirer den Symbolbegriff folgendermaßen. »Wir dagegen haben dem Symbolbegriff von Anfang an eine andere und weitere Bedeutung gegeben. Wir versuchten mit ihm das Ganze jener Phänomene zu umfassen, in denen überhaupt eine wie immer geartete ›Sinnerfüllung‹ des Sinnlichen sich darstellt; – in denen ein Sinnliches, in der Art seines Daseins und So-Seins sich zugleich als Besonderung und Verkörperung, als Manifestation und Inkarnation eines Sinnes darstellt.« 29 Diese Passage könnte man durchaus im Sinn einer realistischen Zuordnung von Symbol und Wirklichkeit verstehen. Mythos, Sprache und Erkenntnis sind dann die Formen wie diese Sinnerfüllung von statten geht. Allerdings bleibt in dem »wie immer gearteten« Moment der Sinnerfüllung ein umfängliches Moment der nicht konkreti-
28 Ernst Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, in: ders., Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt (Sonderausgabe) 1994, 171–200, hier: 200. 29 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen III, Darmstadt (Sonderausgabe) 1994, 109.
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sierbaren Vagheit. Ist die Sinnerfüllung etwas, das dem Sinnlichen noch zukommt, in dem die Sinnerfüllung zur Vollendung gelangt. Und wie verhalten sich die je unterschiedlichen Sinnerfüllungen von Sprache, Mythos und Erkenntnis. Cassirer hat ja nicht nur die Trias der symbolischen Formen eingeführt, sondern auch die Trias von Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktion herangezogen. Ernst Wolfgang Orth bezeichnet diese Trias als einer der »funktionalen Konstanten« im Werk Cassirers. Ausdruck, Darstellung und Bedeutung sind jedoch generelle Kategorien einer Philosophie des Symbolischen. Der Begriff Ausdruck und insbesondere der Begriff Bedeutung spielen – wie gesehen – auch im Symbolkonzept Whiteheads ja eine tragende Rolle. Für Cassirer bewegt sich Kultur und ihre Entwicklung zwischen der »Welt des Ausdrucks« und der »Welt der Bedeutung«. 30 Während die Ausdrucksfunktion grundlegend für die symbolische Form der Sprache ist, gehört die Bedeutungsfunktion zur Konstruktion der Phänomenologie der Erkenntnis, speziell in den Bereich wissenschaftlicher Erkenntnis. 31 Dem Gewicht der Phänomenologie der Erkenntnis im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen korrespondiert die Relevanz der Bedeutungsfunktion. »Die Eigenart und der spezifische Sinn der reinen Bedeutungskategorie, durch welche die ›Beziehung der Vorstellung auf ihren Gegenstand‹ konstituiert wird, lässt sich nicht dadurch verständlich machen, dass man ihr irgendwelche Seinsbestimmungen – mag es sich nun um Bestimmungen der Kausalität oder um solche der Gleichheit oder Ähnlichkeit zwischen Dingen oder um Verhältnisse des ›Ganzen‹ zum ›Teil‹ handeln – unterschiebt. Statt auf irgendwelche Eigenschaften gegebener Dinge, statt auf das Bild einer schon vorhandenen Wirklichkeit, muss man hier vielmehr
Vgl. Ernst Cassirer, Form und Technik, in: ders., Ernst Cassirer, Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927–1933, hg. von Ernst Wolfgang Orth und John Michael Krois, Hamburg 1985, 39–91, hier: 86. 31 Cassirer hat eine eindeutige Zuweisung der drei Funktionen zwar abgelehnt und jeder symbolischen Form gleichermaßen zugeordnet; allerdings bleibt die Priorisierung der Ausdrucksfunktion für die Sprache und der Bedeutungsfunktion für die Erkenntnis nicht unplausibel. Vgl. Ernst Cassirer, Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie, in: ders., Ernst Cassirer, Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927–1933, hg. von Ernst Wolfgang Orth und John Michael Krois, Hamburg 1985, 1–21, hier: 11. 30
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auf die reinen Bedingungen der Setzbarkeit einer ›Wirklichkeit‹ überhaupt zurückgehen.« 32 Damit wird eine metaphysische Bedeutungskonzeption, wie sie bei Whitehead vorliegt, abgelehnt. Stattdessen geht es bei der Symbolisierung darum, den geistigen Bedeutungsgehalt an ein konkret sinnliches Zeichen zu vermitteln. Darin liegt die »Energie des Geistes«. Als Beispiel für seine Konzeption der symbolischen Formen verwendet Cassirer etwa die Linie. Im Wahrnehmen einer skizzierten Linie wird ein Bedeutungsgehalt zugewiesen. Darin besteht die »symbolische Prägnanz«, die die Linie als mathematische Funktion, als religiöses Ornament oder als ein anderes symbolischen Zeichen auffasst. Dem voraus geht die symbolische Formung des Geistes, der solche symbolische Formen zur Verfügung stellt. Symbolisierung ist damit letztlich geistige Formung, eine geistige Objektivierung von Ich und Welt, die in den unterschiedlichen symbolischen Formen je unterschiedlich gestaltet wird. »Die Philosophie der symbolischen Formen will keine Metaphysik der Erkenntnis, sondern eine Phaenomenologie der Erkenntnis sein. Sie nimmt dabei das Wort ›Erkenntnis‹ im weitesten und umfassendsten Sinne. Sie versteht darunter nicht nur den Akt des wissenschaftlichen Begreifens und des theoretischen Erklärens, sondern jede geistige Tätigkeit, in der wir uns eine ›Welt‹ in ihrer charakteristischen Gestaltung, in ihrer Ordnung und ihrem So-Sein aufbauen.« 33 Cassirer bleibt damit einer transzendentalphilosophischen Grundlegung der Kulturphilosophie verhaftet. Whitehead hätte demgegenüber gerade die metaphysische Bezogenheit der Erkenntnis, wie sie etwa im Modus der kausalen Wirksamkeit zum Tragen kommt, herausgestellt. Ihn hätte nicht nur die symbolische Prägnanz der Linie interessiert, sondern er hätte sich die Frage gestellt, wie es dazukommt, dass jemand eine solche Linie zeichnet. Ausdruck und Bedeutung werden nicht transzendental, sondern prozessual realistisch konstituiert. Sie sind keine geistigen Operationen losgelöst von ihrer Bezogenheit zur Wirklichkeit. Whitehead und Cassirer gehen zwar in ihrer Ablehnung der traditionellen Metaphysik gemeinsame Wege. Ihr Symbolkonzept basiert jedoch auf grundsätzlich anderen Denkvoraussetzungen. Whitehead 32 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen III, Darmstadt (Sonderausgabe) 1994, 380. 33 Ernst Cassirer, Zur Logik des Symbolbegriffs, in: ders., Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt (Sonderausgabe) 1994, 201–230, hier: 208.
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konzipiert das Symbolische im Gesamt einer Neuorientierung der Metaphysik. Cassirer hat seine Philosophie der symbolischen Formen als »Prolegomena zu einer künftigen Kulturphilosophie« verstanden. Dass beide Denker dem Symbolischen einen konzeptionellen Stellenwert zuweisen, dokumentiert die paradigmatische Funktion des Symbolbegriffs. Die Differenz zwischen dem symbolischen Realismus Whiteheads und dem symbolischen Idealismus Cassirers, die nicht zuletzt im Begriff der Bedeutung zu Tage tritt, zeigt die Spannbreite, innerhalb derer die Philosophie des Symbolischen verhandelt werden kann. Die Kategorie des symbolischen Bezugs bei Whitehead beinhaltet eine referenztheoretische Bedeutungslehre. Demgegenüber verweist die Kategorie der symbolischen Prägnanz auf eine ausdruckstheoretische Konzeption der Bedeutung bei Cassirer. Der erste Band der nachgelassenen Manuskripte und Texte Cassirers trägt den Titel Zur Metaphysik der symbolischen Formen. Inwieweit dies zu einer Korrektur des symbolischen Idealismus und seiner transzendentalphilosophischen Grundlagen führt, wäre zu diskutieren. Dies kann in diesem Kontext allerdings nicht mehr unternommen werden. Es steht jedoch zu vermuten, dass Cassirers expliziter Rückgriff auf die Begrifflichkeit Goethes einer Überwindung der Transzendentalphilosophie eher hinderlich ist. 34
4.
Symbol als Leitkategorie eines neuen Paradigmas
Bei aller Differenz der beiden Ansätze ist die tragende Rolle des Symbols in seinen verschiedenen Wortprägungen für ein Megaparadigma in Philosophie und Wissenschaften evident. Die Philosophie Whiteheads macht darauf aufmerksam, dass es der Philosophie um eine realistische Konzeption gehen muss. Dies intendiert nicht zuletzt im Kontext einer umfassenden Metaphysik eine Überwindung der bis heute prägenden Dichotomie von Natur und Kultur in der Philosophie wie den Wissenschaften. Transzendentalphilosophisch ist eine solche Überwindung bei Cassirer zwar im Blick, aber um den Preis der Aufrechterhaltung des Idealismus. Dieser lässt sich nach meiner Auffassung Vgl. hierzu Reto Luzius Fetz und Sebastian Ullrich (Hg.), Lebendige Form. Zur Metaphysik des Symbolischen in Ernst Cassirers »Nachgelassenen Manuskripten und Texten«, Hamburg 2008.
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gerade im Hinblick auf die beiden anderen Leitkategorien »Struktur« und »Prozess« nicht mehr aufrechterhalten. Cassirers Denken eröffnet den Blick für die Pluralität der symbolischen Formen, deren diachrone wie synchrone Valenz letztlich nur im Zusammenspiel der Philosophie mit den Wissenschaften ausgelotet werden kann. Weiterhin könnte die Darstellungsfunktion der Sprache und ihrer sprachlichen Mittel eine denkerische Perspektive ausleuchten, die sich bei Whitehead so nicht findet und auch über das Denken Cassirers hinausgeht. Wenn mit dem Symbolbegriff eine eigene Semiologie oder Semiotik verbunden ist, wird es unumgänglich, den Symbolbegriff in Auseinandersetzung mit dem Zeichenbegriff zu klären. Trotz seines pragmatischen Hintergrunds bleibt die Zeichentheorie von Peirce im Denken Whiteheads ohne offensichtliche Wirkung. Alois Andermatt hat in der peirceschen Semiotik allerdings eine Weiterführung der Philosophie der symbolischen Formen gesehen, gerade weil darin dem Zeichenprozess eine eigenständige Rolle zugewiesen wird. Andermatt hält kritisch zwar fest: »Bedeutung wird nicht in einem Zeichen- oder Symbolprozess generiert, sondern transzendentalphilosophisch als Bedingung der Möglichkeit von Objektivierung vorausgesetzt. Im Begriff der symbolischen Form kommen daher zwei unterschiedliche Ansätze zur Austragung, ein semiotischer Darstellungsprozess sowie ein transzendentalphilosophische Züge aufweisender Strukturalisierungsprozess.« 35 Der Zusammenhang von Symbolisierung und Realität hat nach meiner Auffassung für die Frage nach einem neuen Megaparadigma Struktur, Prozess, Symbol eine diskursive Priorität, 36 auch unabhängig von einer semiotischen Fortführung und Erweiterung. »Philosophy will not regain its proper status until the gradual elaboration of categoreal schemes, definitely stated at each stage of progress, is recognized as its proper objective. There may be rival schemes, inconsistent among themselves; each with its own merits and its own failures. It will then 35 Alois Andermatt, Semiotik und das Erbe der Transzendentalphilosophie. Die semiotischen Theorien von Ernst Cassirer und Charles Sanders Peirce im Vergleich, Würzburg 2007, 116–117. 36 Vgl. zur Diskussion des Strukturbegriffs sowie des Begriffs der Genesis bei Cassirer Ernst Wolfgang Orth, Zur Konzeption der Cassirerschen Philosophie der symbolischen Formen. Ein kritischer Kommentar, in: Ernst Cassirer, Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927–1933, hg. von Ernst Wolfgang Orth und John Michael Krois, Hamburg 1985, 165–201, bes. 190–191.
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be the purpose of research to conciliate the differences. Metaphysical categories are not dogmatic statements of the obvious; they are tentative formulations of the ultimate generalities.« 37 Der vorliegende Beitrag hat die Metaphysik Whiteheads mit der Transzendentalphilosophie Cassirers38 nicht versöhnen können. In der Weiterführung der unterschiedlichen Perspektiven auf die gemeinsame Problemstellung von Struktur, Prozess und Symbol liegt die Herausforderung des neuen Megaparadigmas.
Alfred North Whitehead, Process and Reality. An Essay in Cosmology. Corrected Edition. Ed. by David Ray Griffin and Donald W. Sherburne, New York/London 1979, 8. 38 Zu Cassirers Symbolkonzeption vgl. die Studie von Sebastian Ullrich, Symbolischer Idealismus. Selbstverständnis und Geltungsanspruch des Symbolischen, Hamburg 2009. 37
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IV. Einzelwissenschaftliche Fragestellungen
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Die Relevanz der Philosophie von Alfred North Whitehead für ein tieferes Verständnis physiologischer Vorgänge Gernot Falkner und Renate Falkner
Mit der vorliegenden Schrift wird versucht, Ideen von Alfred North Whitehead in die Sprache der Biologie zu übersetzen, um mit Hilfe dieser Ideen zu einem tieferen Verständnis physiologischer Vorgänge zu kommen. Ein derartiges Vorhaben erscheint sinnvoll, weil in den vergangenen 30 Jahren die wissenschaftliche Arbeit in vielen biologischen Teildisziplinen durch das reduktionistische Methodenrepertoire der Molekularbiologie geprägt worden ist. Dies hat dazu geführt, dass wesentliche Aspekte der vielfältigen Erscheinungsformen des Lebendigen vernachlässigt wurden und eine holistische Betrachtung der Dialektik zwischen Organismen und ihrer Umwelt eine wissenschaftliche Randerscheinung blieb. Die dadurch verursachten Erklärungsdefizite der gegenwärtige Biologie, auf die in der nachfolgenden Sektion kurz eingegangen werden soll, rechtfertigen eine Suche nach neuen und systemtheoretisch orientierten Konzepten, die den Zusammenhang zwischen Erfahrung und Selbstkonstitution eines Organismus zum Ausgangspunkt wissenschaftlicher Untersuchungen machen. Obwohl die Bedeutung einer derartigen Systemtheorie für viele biologische Disziplinen wie Neurobiologie, Ökophysiologie oder Ethologie offensichtlich ist, hat sie in die gegenwärtige biologische Mainstream-Forschung kaum Eingang gefunden. Ihre mangelnde Akzeptanz lässt sich damit erklären, dass die Beziehung zwischen Erfahrung und Selbstkonstitution eines Organismus nicht mit mechanistischen Denkmodellen behandelt werden kann, die für die Mehrheit der Molekularbiologen noch immer relevant sind. Hier könnte die organismische Philosophie von Alfred North Whitehead, die einen ganz neuen Zugang zu zentralen Fragen der Biologie eröffnet, einen Denkanstoß für die Entwicklung einer zeitgemäßen Biologie liefern.
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Die Relevanz der Philosophie von Alfred North Whitehead
1.
Die Unzulänglichkeiten einer molekularbiologischen Erklärung physiologischer Phänomene
Die Biologie versteht sich bekanntlich als Teil der Naturwissenschaft und die Physiologie orientierte sich im 20. Jahrhundert an den Idealen der klassischen Experimentalphysik, die auf mechanistischen Denkmodellen basiert. Die klassische Experimentalphysik besteht jedoch aus einem Katalog von Handlungsanweisungen, die bei Beobachtern dieser Handlungen (unabhängig von Ort und Zeit) zu immer gleichen Erfahrungen führen. Demgemäß versuchte man in der Physiologie das Verhalten der Organismen auf reproduzierbare biochemische oder physikalisch-chemische Vorgänge zurückzuführen. Dies hatte allerdings zur Folge, dass die Kreativität einer natura naturans ausgeblendet wurde und die Physiologie als übergreifende Disziplin, die sich mit schöpferischen Aspekten einer funktionellen Integration des gesamtorganismischen Geschehens beschäftigt, praktisch zu existieren aufhörte. Die Schwäche des mechanistischen Denkmodells in der Physiologie wird durch das Postulat verursacht, dass lebende Systeme durch lokalisierbare Zustände definiert sind und dass Veränderungen dieser Zustände Gesetzen der Dynamik oder Bewegungsgleichungen gehorchen. Damit sollte jede Veränderung eines lebenden Systems aus den Kräften zu begreifen sein, die auf seine Zustände einwirken. In konsequenter Anwendung dieses Denkmodells hat man zunächst versucht, das Verhalten von lebenden Systemen aus der Wirkung physikalischer Kräfte auf die Komponenten (Moleküle, Ionen) des jeweiligen Systems herzuleiten. Dies war aber bei komplexeren Vorgängen nicht zielführend und dieser Ansatz wurde dahingehend modifiziert, dass man unter Verwendung eines problematischen Kausalitätsbegriffs postulierte, dass die gestaltenden Kräfte, die auf ein lebendes System einwirken, von einem omnipotenten Genom ausgehen. Auf der Basis dieses Postulats wurde zunächst versucht, das Zustandekommen der verschiedensten ›Phänotypen‹, wie sie häufig unter Missachtung der differentiellen Gencharakterisierung der mendelschen Genetik bezeichnet werden, mit der Funktion von Genen zu korrelieren. Da aber die Genexpression bei Vielzellern ein ungeheuer komplexer Vorgang ist, bei dem unterschiedliche Ablesevorgänge ein- und derselben DNA-Sequenz die Voraussetzung für zelluläre Differenzierungen bilden, ist es nötig, auch die Proteine zu charakterisieren, die zu einem bestimmten Zeitpunkt exprimiert werden; man versucht daher, in einer Ergänzung A
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von ›functional genomics‹ durch ›proteomics‹ und andere ›Omics‹ neben den Proteinen auch die Stoffwechselprodukte dieser Proteine zu analysieren, wobei man hofft, organismusspezifische Unterschiede in der genetischen Disposition als Ursache für pathologische Phänotypien auszumachen. Bei der Analyse dieser Komponenten verwendet man allerdings einen vom Materialismus geprägten Substanzbegriff, wobei man annimmt, dass es zwischen den Komponenten eines lebenden Systems nur äußere Beziehungen gibt, so dass keine dieser Komponenten die anderen zu ihrer Existenz benötigt. In Übereinstimmung mit dieser Vorstellung praktizierte man schon in der Biochemie, der Vorläuferin der Molekularbiologie, eine fragmentierende Untersuchungsstrategie, mit der die Eigenschaften der Komponenten in isoliertem Zustand festgestellt wurden, in dem eine Beziehung zu einem organismischen Ganzen nicht mehr existierte. Das dabei entstehende Bild beruht auf einer durchgängigen Objektivierung, bei der nicht in Erwägung gezogen wird, dass die Organismen selbst als Subjekte ihre eigenen Objektivierungen vornehmen. Diese auf ›Außenbetrachtung‹ angelegte Forschungsstrategie war bisher wenig erfolgreich bei der Beantwortung der Frage, wie ein Organismus, dessen Bestandteile im Stoffwechsel ständig umgebaut werden, in diesem Prozess eine bestimmte Form aufrecht erhält (oder in einer geordneten Weise verändert). Ganz offensichtlich wird dieser Umbau durch ein koordinierendes Prinzip gesteuert, das als ideeller Sollwert in den verschiedenen Entwicklungsphasen die einzelnen Stoffwechselprozesse so aufeinander abstimmt, dass der Organismus nicht außer Form gerät. Hier darf man mit Whitehead postulieren, dass die Selbstkonstitution des Organismus von einem ›ideal of itself‹ (Whitehead, 1929/1978, S. 85) geleitet wird. Die Gene können die Rolle eines koordinierenden Prinzips nicht übernehmen. Dies wird besonders einsehbar bei der Morphogenese niederer Pflanzen (z. B. die Spindelform bei Ankistrodesmus), bei denen die Form durch die Anordnung der Zellwand bestimmt wird, die sich aber außerhalb der Zellmembran befindet. Bleibt im Verlauf des Wachstums eine gewisse Form erhalten, dann muss die Neu-Synthese der Zellwand an jeder einzelnen Stelle mit der Synthese an allen anderen Stellen koordiniert werden, und wie dies vor sich geht, ist völlig ungeklärt. Dies lässt sich auch nicht im Rahmen des mechanistischen Denkmodells aufklären, weil hier eine ganze Reihe von Prozessen (Zellwandbiosynthese, Vergrößerung der Zellmembran, Verlängerung der Zytoskelettfilamente, 332
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etc.), die gleichzeitig ablaufen und daher wirkursächlich unabhängig voneinander bleiben, ganz offensichtlich in einer inneren Beziehung zueinander stehen. Darüber hinaus verursacht das mechanistische Denkmodell Probleme bei allen Phänomenen, bei denen eine Interaktion des Organismus mit seiner Umgebung behandelt wird. So ist bei ökologischen Untersuchungen, bei denen das Verhalten einer Organismengemeinschaft untersucht wird, der beobachtende Ökologe, der ja auch ein Organismus ist, Teil der jeweils vorhandenen Organismengemeinschaft und müsste sein eigenes Beobachtungsverhalten in die Untersuchung mit einbeziehen. Das macht er üblicherweise nicht, weil er damit eine ›Selbst-Gödelisierung‹ (Koutroufinis, 1996) in Gang setzen würde. Er müsste nämlich dann nicht nur seine Beobachtung, sondern auch die Beobachtung seiner Beobachtung berücksichtigen, dann die Beobachtung der Beobachtung seiner Beobachtung, und so fort. In ähnliche Probleme sollte auch eine objektivistische Neurobiologie kommen. In diesen Fällen erlaubt der molekularbiologische Ansatz nicht einmal eine Unterscheidung zwischen einem Organismus und seiner Umwelt, da die Moleküle keine Beschriftung tragen, aus der zu entnehmen ist, zu welcher dieser beiden Regionen sie gehören. Eine sich an Strukturen orientierende Betrachtung greift zu kurz, da Mikroorganismen im Interaktionsgeschehen mit ihrer Umwelt aus Prozessen bestehen, die weit in ihre Umgebung hineinreichen und aus denen unser hochentwickelter Sinnesapparat durch einen Vergleich langsamer mit rascheren Abläufen aus ersteren Strukturen konstruiert. Aus diesem Grund kann die Molekularbiologie auch nichts darüber aussagen, ob ein Organismus an seine Umwelt angepasst ist oder nicht. Dies macht vulgärdarwinistische Ideologien, die mit der Annahme operieren, dass die Evolution komplexerer Lebensformen auf einer Selektion besser angepasster Organismen beruht, resistent gegenüber Widerlegungen durch die gegenwärtige Mainstreambiologie. Auf Grund dieses Defizits kann der molekularbiologische Ansatz auch nicht beantworten, wie der Organismus sich selbst von seiner Umwelt unterscheidet, was die Voraussetzung dafür ist, dass er in einem ständigen Fluss struktureller Veränderung mit sich selbst identisch bleibt (einmal abgesehen davon, dass auch das Genom eines Organismus ständig umgebaut wird und daher nicht einmal die biologische Identität des Individuums von einer Konstanz der Erbanlagen hergeleitet werden kann). Die Frage nach einem organismischen Selbst wird daher von der gegenwärtigen MolekularA
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biologie ausgeblendet. Hier begnügt man sich mit »Selbstorganisationsmodellen« der Physik und physikalischen Chemie, die allerdings eine Selbstorganisation ohne Selbst liefern, wie schon Koutroufinis (1996) ausgeführt hat; sie beinhalten nicht, wie ein Organismus seine Umwelt gestaltet, damit er sich in ihr selbst erhält. Probleme verursacht auch der von der gegenwärtigen Biologie verwendete Zeitbegriff, der sich von der klassischen Physik herleitet und der gewisse Analogien zum materialistischen Substanzbegriff aufweist. Genauso wie ein Organismus als beliebig teilbar in Komponenten vorgestellt wird, wird auch die Zeit als eine Abfolge von Augenblicken begriffen, die unabhängig voneinander existieren, wobei jedem Augenblick eine bestimmte organismische Struktur zugeordnet wird, die durch eine entsprechende molekulare Anordnung definiert ist. Die Veränderung von einer molekularen Anordnung zur anderen sollte dann Trajektorien zwischen diesen Manifestationen folgen. So gesehen müsste natürlich jede biologische Veränderung reversibel sein und aus diesem Grund kann der Prozess des Alterns von einer objektivistischen Biologie nur mehr als Degeneration begriffen werden. Außerdem gibt es da noch das Problem, dass sich auf den Trajektorien immer nur Strukturen befinden. Wenn man nach der eigentlichen Veränderung dieser Strukturen sucht, wird man auf den infinitesimalen Zeitabschnitt dt verwiesen, der allerdings einen abstrakten Grenzwert darstellt, der nicht wirklich existiert. Daher kann diese Betrachtungsweise Veränderungen lebender Systeme nicht erklären, wie schon Bergson festgestellt hat. Schließlich ist eine objektivistische Beschreibung biologischer Veränderungen mit Hilfe von Trajektorien zwischen definierbaren Zuständen auch deshalb problematisch, weil bei biologischen Prozessen Subsysteme häufig völlig umgebaut werden und in dieser Periode als für den Organismus sinnvolle Entitäten praktisch nicht existent sind (dies ist natürlich eine Konsequenz des vorhin erwähnten Problems, dass die Molekularbiologie keine Theorie der Organismen zu liefern imstande ist; sie kann daher nicht angeben, wann Manifestationen eines Subsystems an ein organismisches Ganzes angepasst sind und wann nicht).
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2.
Die Beziehung zwischen Erfahrung und Selbstkonstitution als Ausgangspunkt einer prozessbiologischen Physiologie
Zur Lösung dieser Probleme benötigt man ein Selbstorganisationskonzept, das den gesamten Entstehungsvorgang eines Subsystems als eine mit einem organismischen Erfahrungsakt verknüpfte Entstehungseinheit fasst, bei der (als eine physiologische Manifestation der whiteheadschen ›actual entities‹) die Komponenten dieses Subsystems so aufeinander abgestimmt werden, dass das entstandene Ensemble unter den gegebenen Bedingungen ein Überleben des Organismus gewährleistet. Dies macht die Entstehungseinheiten zur Basis eines organismischen Werdens (becoming), wobei gilt: »›becoming‹ is the transformation of incoherence to coherence, and in each particular instance ceases with this attainment« (Whitehead, 1929/1978, S. 25). Dieser Vorgang führt zu einem innerorganismischen Beziehungsgefüge, weil in einem nächsten Schritt die in diesem Prozess entstandenen Subsysteme ebenfalls aneinander angepasst werden, was einen permanenten Umbau der vorher entstandenen Subsysteme erforderlich macht, aber zur Folge hat, dass dabei immer größere Einheiten in Hinblick auf eine kohärente Funktionsweise in dem momentan erfahrenen Milieu integriert werden. Das oben erwähnte ›koordinierende Prinzip‹ ergibt sich aus dieser Konzeption einer Entstehungseinheit. Es kann naturgemäß nicht in den wirkursächlichen Beziehungen zwischen entstandenen Subsystemen gefunden werden, da bei diesem Koordinationsvorgang die Ergebnisse vorangegangener Entstehungseinheiten in Hinblick auf eine individuelle Vollendung hin umgestaltet werden. Auch wenn dieser Prozess nie zu Ende kommt, da auf Grund des gleichzeitig ablaufenden Wachstums oder Alterns die Subsysteme immer wieder von neuem aneinander angepasst werden müssen, erfordert er eine finalursächliche Betrachtungsweise. Die Deutung von ›actual entities‹ als ›adaptive Ereignisse‹. Inspiriert von Whitehead’s Konzeption der ›actual entities‹ lässt sich somit ein Organismus als eine strukturierte Gesellschaft von Entstehungseinheiten begreifen, die in einem kreativen Zusammenwirken darauf ausgerichtet sind, in einem Organismus potentiell aufeinander abgestimmte Subsysteme hervorzubringen. Die dabei ablaufenden Prozesse stellen eine Differenz zwischen Organismus und seiner Umwelt her, bei der sowohl die Umwelt des Organismus als auch der Organismus selbst immer wieder von neuem erzeugt wird. Die Umwelt sind dabei A
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immer Ergebnisse vorangegangener Entstehungseinheiten (hier wird also die Umwelt in den Organismus hineingenommen und als wesentlicher Teil des Organismus als elementares Wahrnehmungssubjekt begriffen, wie schon Whitehead ausführte: »In principle, the animal body is only the more highly organized and intermediate part of the general environment for its dominant actual occasion, which is the ultimate percipient« (Whitehead, 1929/1978, S. 119). Eine Entstehungseinheit wird ausgelöst durch eine Umweltänderung, die als Abweichung von einem organismusspezifischen Idealzustand erfahren wird, der ein ›ideal of itself‹ repräsentiert (dabei wird ein Begriff von Erfahrung verwendet, bei dem von allem abstrahiert wurde, was die Erfahrung höherer Organismen auszeichnet). Entstehungseinheiten führen zu einer kreativen Neukonstituierung der Subsysteme, bei der ein Zustand angestrebt wird, in dem sich der Organismus unter den jeweiligen Umweltbedingungen möglichst optimal verwirklichen kann. Für eine Prozessbiologie besteht daher ein Organismus nicht aus vergleichsweise festen Komponenten mit wechselnden Eigenschaften, sondern aus ineinander verwobenen Prozesseinheiten, aus denen die Komponenten immer wieder von neuem so erzeugt werden, dass dabei der Organismus mit sich selbst identisch bleibt. Eine einzelne Entstehungseinheit wird damit zu einem kreativen Elementarereignis, das nicht weiter in Untereinheiten zerlegbar ist und in dem das entstandene Subsystem einen spezifischen Beitrag bei der jeweiligen Manifestation des Organismus leistet, mit der der Organismus sich selbst einen Ausdruck verleiht. So gesehen ist schon ein niederer Organismus aus verschiedenen Zentren der Erfahrung zusammengesetzt, die sich abwechselnd gegenseitig ihre Ausdrucksweise auferlegen. Auf diese Weise kommt Whitehead zur physiologischen Basis von Empfindungen, die eine Molekularbiologie nicht berücksichtigen kann: »Feeling (in the sense here used), or prehension, is the reception of expressions. Thus the animal body is composed of entities, which are mutually expressing and feeling. Expressions are the data for feeling diffused in the environment; and a living body is a particularly close adjustment of these two sides of experience, namely, expression and feeling.« (Whitehead, 1938/1966, S. 23) In diesem Prozess lassen sich die Entstehungseinheiten nicht lokalisieren, sondern nur die daraus entstandenen Subsysteme, mit denen ein Organismus sich selbst eine äußere Form gibt. Für die Physiologie stellt sich damit die Aufgabe einer biochemischen Charakterisie336
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rung dieser Erfahrungszentren, die die Manifestation vergangener Erfahrungen ›empfinden‹ und dabei einen organismischen Konstituenten hervorbringen, der dann wieder von nachfolgenden Erfahrungszentren empfunden wird. Diese Aufgabe muss natürlich auch für Mikroorganismen zu bewältigen sein, die ja überschaubarer als vielzellige Organismen sind. Bei einer Lösung dieses Problems muss man berücksichtigen, dass Entstehungseinheiten Träger einer inner-organismischen Informationsverarbeitung sein sollen, bei der aus den kleineren Einheiten größere Einheiten in einer Weise entstehen, die eine wesensähnliche Integration auf den verschiedensten Organisationsniveaus gewährleistet. Nur dann ist das Selbstorganisationsmodell von Whitehead auf alle Manifestationen des Lebendigen anwendbar. Diese Art einer Selbstorganisation ist im Grunde nur möglich bei einer Concrescence von energiekonvertierenden Subsystemen, bei der eine funktionelle Integration naturgemäß wieder ein größeres energiekonvertierendes System hervorbringt, in dem dann die Subsysteme in koordinierter Weise operieren. So kommt es bei jedem dieser Koordinationsvorgänge zu einem Fortschreiten von Getrenntheit zu Verbundenheit: »The many become one and are increased by one« (Whitehead, 1929/1978, S. 21). Zum Verständnis der funktionellen Integration von Subsystemen sollen hier kurz ihre biochemischen Eigenschaften beschrieben werden. Die adaptiven Eigenschaften von Energiekonvertern. Energiekonvertiende Subsysteme katalysieren den Energiefluss durch die Zelle und dienen so der Aufrechterhaltung des Stoffwechsels. Ein einfaches energiekonvertierendes Subsystem ist eine sogenannte Protonenpumpe, bestehend aus einem Protein, das über eine Membran unter Verwendung des universellen zellulären Energieträgers ATP einen pHGradienten aufbaut oder mit Hilfe eines pH-Gradienten ATP bildet. Der Energieträger ATP treibt dann alle möglichen Arten von energieverbrauchenden biochemischen Reaktionen, die ihrerseits wieder auf der Aktivität von energiekonvertierenden Subsystemen beruhen. Komplexere energiekonvertierende Subsysteme, die selbst wieder aus vielen kleineren Energiekonvertern zusammengesetzt sind, stellen das respiratorische und das photosynthetische Elektronentransportsystem dar, die ihrerseits einen Protonenstrom über eine Membran hervorbringen, der die Energie für die ATP-Bildung liefert. Aber auch die Biosynthese des Cytoskeletts und die Signalübertragung, die die komplexe Proteinbiosynthese reguliert, werden von energiekonvertierenA
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den Subsystemen aufrechterhalten. Ihr ständig wechselndes, aber immer wieder von neuem koordiniertes Zusammenwirken ist die Voraussetzung dafür, dass eine Zelle, die selbst ebenfalls wieder als Energiekonverter betrachtet werden kann, sich unter sich ändernden Umweltbedingungen in unterschiedlicher Zusammensetzung autopoietisch (Maturana und Varela, 1980) hervorbringt. Die adaptive Beziehung zu Umweltänderungen ist eine Folge der interdependenten Dynamik dieser Koordinationsvorgänge. Die inner-organismische Informationsverarbeitung, die die Selbst-Identität und Selbst-Verschiedenheit (self-identity and self-diversity, Whitehead, 1929/1978, S. 25) des Organismus in seiner jeweiligen Umgebung zum Inhalt hat, sollte daher in der gegenseitigen Anpassung der energiekonvertierenden Subsysteme sichtbar werden. Der gemeinsame Energiefluss, der vom Zusammenspiel der jeweils vorhandenen energiekonvertierenden Subsysteme bestimmt wird, gewährleistet die substanzielle Basis für einen inneren Zusammenhang der Entstehungseinheiten. ~X
X
A
B
Abb. 1: Vereinfachtes Schema eines Energiekonverters
Deutet man Entstehungseinheiten als adaptive Ereignisse, von denen energiekonvertierende Systeme betroffen sind, so muss man jedem Anpassungsvorgang eine interpretierende und eine interpretierte Manifestation zuordnen können. Diese beiden Manifestationen, die als adaptiver Operationsmodus und als adaptierter Zustand bezeichnet werden sollen, können an Hand eines einfachen energiekonvertierenden Subsystems veranschaulicht werden. Es besteht aus zwei miteinander verknüpften biochemischen Reaktionen, bei denen die eine die Energie liefert, die die zweite bei ihrem Ablauf konsumiert (Abb. 1). Dabei wird die Umwandlung einer energiereicheren Verbindung ~X zu einer energieärmeren Verbindung X mit der energieverbrauchenden Reaktion von A zu B gekoppelt. Über variable Kopplungsgrade zwischen diesen beiden Flüssen kann die Energieumwandlung auf den 338
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Stoffwechselbedarf so eingestellt werden, dass stationäre Zustände mit einer für diesen Kopplungsgrad optimalen Effizienz eingestellt werden. Energiekonverter haben die Tendenz, in einen stationären Zustand minimaler Entropieproduktion überzugehen, bei dem sie mit optimaler Effizient arbeiten (für eine verständliche Darstellung dieser Problematik, siehe Prigogine und Stengers, 1985). Für jede Konzentration von A gibt es in einem bestimmten physiologischen Zustand nur einen Kopplungsgrad, bei dem dies der Fall ist (Kedem und Kaplan, 1965). In energetisch optimalen Zuständen sind die Stoffflüsse linear abhängig von den involvierten Triebkräften (Stucki et al., 1983). Wenn die Konzentration von A sich ändert, steigt die Energiedissipation und ein neuer energetisch günstiger adaptierter Zustand kann nur erreicht werden, wenn der Kopplungsgrad in einem adaptiven Operationsmodus neu adjustiert wird. Zu diesem Zweck muss der Energiekonverter umgebaut werden. In der Umbauphase, die dem oben beschriebenen adaptiven Operationsmodus entspricht, hängen die Flüsse nicht-linear von den jeweiligen Triebkräften ab und zeigen dabei ein scheinbar chaotisches Verhalten. Dieses energetische Verhalten ermöglicht eine energetische Charakterisierung von adaptierten Zuständen: adaptiert ist demnach ein Mikroorganismus an eine bestimmte Umgebung, wenn er in dem jeweils eingestellten Kopplungsgrad mit optimaler Effizient operiert. Die kausale Wirksamkeit einer Umweltänderung auf einen Organismus besteht daher in einer Abweichung von einem stationären adaptierten Zustand, und die damit verbundene Zunahme der Entropieproduktion wird nach Whitehead als ›Deformation‹ empfunden. In Übereinstimmung mit Whiteheads ›organismischer Philosophie‹ repräsentiert der adaptive Operationsmodus eine ›subjektive‹ Manifestation, bei der die Ergebnisse vorangegangener Entstehungseinheiten in Hinblick auf eine organismische Neukonstituierung (in einem ›feeling‹) ›interpretiert‹ werden. Mit ›Interpretation‹ ist gemeint, dass bei einer Neukonstituierung Umweltbedingungen antizipiert werden, die für den Organismus potentiell favorabel sind. Der daraus resultierende adaptierte Zustand stellt einen Abschluss dieses Konstitutionsprozesses dar, bei dem eine Komponente des zellulären Phänotyps entstanden ist, mit der sich der Organismus verwirklicht (›expression‹). Zwischen den beiden Manifestationen eines adaptiven Ereignisses existiert demnach so etwas wie eine ontologische Differenz, mit deren Hilfe adaptive Ereignisse von den ständig ablaufenden physiologischen Veränderungen unterschieden werden können. A
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Die Kommunikation einer Gesellschaft von Energiekonvertern. Ein Stoffwechselweg kann mehrere energiekonvertierende Subsysteme beinhalten. In diesem Fall beeinflusst eine durch die Änderung der stationären Substratkonzentration A bewirkte adaptive Rekonstruktion des ersten energiekonvertierenden Subsystems (EC1) die stationäre Konzentration des Produkts B. Dies führt konsequenterweise zu einem Umbau der nachfolgenden Subsysteme (Abb. 2). Auf diese Weise kommt es zu einer vektoriellen Propagation von intrazellulären Deformationen in Form von Erregungszuständen (strains, Whitehead, 1929/ 1978), bei der aus der Art der Stoffwechseländerung und ihrer organismus-spezifischen Interpretation Informationen von einer Prozesseinheit auf die nächste in einem dem Wesen des Organismus entsprechenden Ineinander übertragen werden (in Whitehead’s Terminologie: »Occasion B prehends occasion A as an antecedent subject experiencing a sensum with emotional intensity. Also B’s subjective form of emotions is conformed to A’s subjective form. Thus, there is a vector transmission of emotional feelings of a sensum from A to B. In this way B feels the sensum as derived from A and feels it with an emotional form also derived from A. This is the most primitive form of feeling of causal efficacy. In physics it is the transmission of a form of energy.« Whitehead, 1929/1978, S. 315)). Der Übergang von einem adaptierten Zustand in den nächsten benötigt eine bestimmte Zeit. Ein nachfolgendes energiekonvertierendes Subsystem kann sich nur auf das vorangegangene einstellen, wenn dieses seinen Umbau abgeschlossen hat. Der adaptive Operationsmodus hat daher eine definierte zeitliche Ausdehnung, kann aber nicht in unabhängig existierende Untereinheiten geteilt werden. »If you abolish any part, then that whole is abolished« (Whitehead, 1929/1978, S. 288). ~X
A
X
~Y
B
C
EC1
Y
~Z
D
E
Z
F
EC2
EC3
Abb. 2: Interaktion zwischen drei Energiekonvertern
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Da der nachfolgende zelluläre Umbau die vorher angepassten Energiekonverter potentiell beeinflusst, müssen sich diese von neuem anpassen, was wiederum strukturelle Veränderungen in den anderen Energiekonvertern nach sich zieht. Auf diese Weise steht die ›Gesellschaft‹ adaptiver Prozesse in einem Kommunikationszusammenhang, der kontinuierlich fortgesetzt wird, da die Zelle als Folge des Stoffwechsels wächst oder altert und sich dabei die energetischen Voraussetzungen laufend ändern. Diese Kommunikation besteht aus einem zeitlichen und räumlichen Nexus von Anpassungsakten, die mit individuellen Erfahrungsakten des Organismus einhergehen. Dabei pflanzt sich die Erregung zellulärer energiekonvertierender Subsysteme wellenartig in alle möglichen Richtungen durch den Organismus fort und dieser (für einen externen Beobachter) scheinbar chaotische Vorgang induziert alle Arten von transkriptionalen, translationalen und posttranslationalen Modifikationen, die naturgemäß nur dann im nachfolgenden Konstitutionsprozess eine Stabilisierung erfahren, wenn daraus wieder ein kohärentes Zusammenwirken mehrerer Subsysteme hervorgeht.
3.
Weitergehende Spekulationen auf prozessphilosophischer Basis
In einem gerichteten Vorgang, in dem sich eine Zelle unter ständig wechselnden äußeren Bedingungen immerzu erneuert, wird in der hier präsentierten Interpretation Whiteheads organismischer Philosophie ein in energetischer Hinsicht nicht optimal angepasster Zustand vom Mikroorganismus als eine Art von Spannung erfahren. Sie bestimmt das vielfältige Kommunikationsgeschehen und wirkt auf Grund des einheitlichen Energieflusses auf jedes energiekonvertierende Subsystem der Zelle ein. Wenn dies der Fall ist, dann fungiert der angestrebte spannungsfreie Zustand einer innerweltlichen Stabilität als regulatorisches Prinzip, das die Identität des Organismus in einem ständig ablaufenden Fluss struktureller Veränderungen aufrecht erhält und im ›ideal of itself‹ reflektiert wird. Nach dieser Vorstellung beeinflusst die jeweilige Spannung die Art, Geschwindigkeit und den Umfang der verschiedenen adaptiven Operationsmodi und dient auf diese Weise dem organismus-spezifischen ›defining characteristic‹ (Whitehead, 1933/1967), das die gegenseitige Anpassung der Subsysteme begleitet. Die SpanA
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nung reflektiert so die ›Ingression‹ (Whitehead, 1929/1978, S. 23) einer antizipatorischen Empfindung für einen unter den gegebenen Bedingungen möglichen Zustand einer innerweltlichen Harmonie, auf dessen Erreichen ein Anpassungsprozess ausgerichtet wäre. Gleichzeitig gewährleistet die jeweilige Spannung das wesenhafte Ineinander der adaptiven Ereignisse, da sie eine potentielle Abweichung von einem angestrebten Idealzustand (z. B. auf Grund einer ungeeigneten Antizipation in einem vorangegangenen adaptiven Ereignis) widerspiegelt und eine Korrektur in einem nachfolgenden Anpassungsschritt erlaubt. Auf diese Weise kann eine Prozessbiologie die Existenz von Gedächtnis und Lernfähigkeit des Organismus schon auf zellulärer Ebene begründen. Der Übergang von einem adaptierten Zustand in den nächsten via einem adaptiven Operationsmodus verläuft somit in drei Phasen: Erstens, Perzeption einer Umweltänderung durch einen in der Vergangenheit gebildeten adaptierten Zustand. Zweitens, subjektive Interpretation dieser Umweltänderung im Licht vorangegangener Erfahrungen. Drittens, Rekonstruktion dieser Subsysteme gemäß dieser Interpretation, die von einen »ideal of itself« geleitet wird. Natürlich sind diese drei Phasen interdependent, da jede von ihnen Teil eines adaptiven Ereignisses ist und den gesamten Prozess benötigt. Auf diese Weise lässt sich eine Brücke zwischen physiologischer Anpassung und der Erfahrung einer organismisch-spezifischen Umwelt schlagen und die Analogien zwischen beiden Phänomen erklären: Wie jede Erfahrung in einem erfahrungsgeschichtlichen Kontext steht, so hängt jede Anpassung von vorherigen Anpassungen ab. Wie jede Anpassung danach strebt, einen adaptierten Endzustandes zu erreichen, in dem der Organismus auf die jeweils interpretierte Umwelt abgestimmt ist, so ist jede Erfahrung in gewisser Weise von hermeneutischen Intentionen geleitet. Im Zusammenspiel von Erinnerungen und Intentionen entscheidet der Organismus, in welchem Ausmaß einer Änderung seiner Umwelt »has significance for itself« (Whitehead, 1929/1978, S. 25). Diese theoretischen Spekulationen können nur dann das Verständnis der Physiologie vertiefen, wenn man nachweisen kann, dass die Energiekonversion die oben beschriebenen Eigenschaften aufweist. Bei einer experimentellen Untersuchung eines Anpassungsgeschehens ist ein Experimentator mit einer grundsätzlichen Problematik konfrontiert: Adaptive Operationsmodi entziehen sich einer objektiven Charakterisierung, da in diesem Modus Informationen über die jeweilige 342
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Umwelt verarbeitet werden. Da aber die verwendeten experimentellen Bedingungen ebenfalls einen Informationsinhalt darstellen, der verarbeitet wird, hängt hier das Ergebnis des Experiments von dessen Durchführung ab (Falkner et al., 1996; 2000). Dies dürfte wohl eine Behandlung adaptiver Prozesse durch eine objektivistische Mainstream-Biologie bisher verhindert haben. Trotz dieser Einschränkung ist eine Charakterisierung der adaptiven Operationsmodi sinnvoll, weil der Response auf das Fluktuationsmuster der experimentell vorgegebenen Stimuli Einblick in die organismische Vorgeschichte liefert. Objektivieren lassen sich nur die an konstante experimentelle Bedingungen adaptierten Zustände mit den traditionellen physiologischen Untersuchungsmethoden. Um diesen prinzipiellen Unterschied zwischen adaptierten Zuständen und adaptiven Operationsmodi in einem experimentellen Protokoll zu berücksichtigen, muss ein derartiges Protokoll drei Aspekte adaptiver Ereignisse beinhalten: (i) Subjektivität der untersuchten Prozesse auf Grund der Versuchsführung und einer Abhängigkeit von der Vorgeschichte; (ii) zelluläre Differenzierung auf Grund von Umweltvorgängen; (iii) das Zellgedächtnis, das bei nachfolgenden Anpassungsprozessen nachweisbar ist. Am Beispiel der komplexen Anpassung des Phosphataufnahmesystems von Blaualgen an ambiente Phosphatfluktuationen konnte unter Berücksichtigung dieser drei Kriterien tatsächlich gezeigt werden, dass bei diesen Organismen die Erfahrung distinkter Phosphatfluktuationsmuster im nachfolgenden Wachstumsprozess ein unterschiedliches Aufnahmeverhalten zur Folge hat (Falkner et al., 2006). Da in diesem Fall die Fähigkeit zur Verarbeitung und Weitergabe von Informationen über Umweltänderungen auf einem kommunikativen Zusammenspiel zweier energiekonvertierender Subsystem beruht (Plaetzer et al., 2005), ist zu erwarten, dass die hier gemachten Beobachtungen in ähnlicher Weise bei anderen adaptiven Phänomenen auftreten, bei denen die organismische Erfahrung mit Selbstkonstitutionsvorgängen verknüpft ist.
Literatur Falkner G., Wagner F., & Falkner R. (1996): The bioenergetic coordination of a complex biological system is revealed by its adaptation to changing environmental conditions. Acta Biotheoretica, 44, 283–299. Falkner R., Priewasser M. & Falkner G. (2006): Information processing by Cyano-
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Whiteheads Bedeutung für die Entwicklung der soziologischen Systemtheorie Thomas Schwinn
Systemtheoretisches Denken ist schon im 19. und am Anfang des 20. Jh. im Diskurs der noch jungen Disziplin »Soziologie« identifizierbar. Meist zog man hier eine Analogie zwischen dem biologischen Organismus und dem »Gesellschaftskörper«. Aber erst der amerikanische Soziologe Talcott Parsons (1902–1979) macht den Systembegriff in der Soziologie hoffähig, entwickelt ihn zu einem ernst zu nehmenden Konzept. Er war einer der produktivsten Sozialwissenschaftler des 20. Jahrhunderts sowohl gemessen an der Anzahl seiner Schriften als auch seiner Schüler. Er hatte eine enorme paradigmen- und schulenbildende Bedeutung innerhalb unseres Faches. Die Systemtheorie ist neben der Handlungstheorie heute eines der beiden großen Paradigmen der Soziologie. Um die begriffliche und konzeptionelle Weichenstellung Parsons hin zu einer Systemtheorie zu verstehen, muss man die Hintergrundphilosophie freilegen, an der er sich orientiert. Soziologische Theorien sind in der Regel nicht determiniert aber doch angeleitet durch entsprechende Referenzphilosophien. Die mit Abstand wichtigste Bezugsphilosophie für Parsons war die von Alfred N. Whitehead. 1 Dafür lässt sich zunächst ein wissenschaftsgeschichtliches Argument anführen. Parsons hatte sich intensiv mit dem europäischen sozialwissenschaftlichen Gedankengut beschäftigt und an der Universität Heidelberg 1927 promoviert. Freilich genügte dieses Vertrautsein mit dem europäischen Denken nicht, um sich als junger Soziologe in Harvard, wo er Zeit seines Lebens wirkte, zu etablieren und sich insbesondere gegen die dominante Figur Pitrim Sorokin, ein russischer Emigrant, durchzusetzen. In dieser Situation lag es für den jungen Sozialwissenschaftler nahe, auf das in Harvard Angebotene und Reputierte zurückzugreifen, da diese Universität eine Spitzenstellung in Wissenschaft und Philoso-
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Schwanenberg 1970; Wenzel 1988; Schwinn 1993. A
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phie unter den amerikanischen Universitäten inne hatte. Whitehead war dort eine herausragende Figur. Der Verweis auf den universitären Kontext reicht allein nicht aus, um die Bedeutung Whiteheads für Parsons zu rechtfertigen. Entscheidend ist ein theoretisch-systematisches Argument. Whitehead arbeitete an Problemen, die auch für Parsons von grundlegender Bedeutung waren: Das Dilemma zwischen Idealismus und Positivismus, die Verhältnisbestimmung von Teil und Ganzem, von Einheit und Ordnung, der Versuch den Dualismus von Geist und Natur zu überwinden, der in ein einheitsmethodologisches Programm münden sollte. Die Lösung dieser Dilemmata bot ihm die europäische Theoriegeschichte nicht, dafür war eine andere, neue Theoriesystematik erforderlich. Parsons hat ausdrücklich zwischen Theoriegeschichte und Theoriesystematik unterschieden. Die Whiteheadsche Philosophie dient ihm als theoretischer Entwurf, mittels dessen er das theoriegeschichtliche Material rekonstruierte.
Whiteheads Philosophie Im folgenden werde ich Whiteheads Position insoweit widergeben und entwickeln, als sie in Parsons’ Sozialtheorie eingeht und Aufschluss darüber verspricht. Whitehead versteht seine Philosophie als Kritik der Abstraktionen. »Wir können nicht ohne Abstraktionen denken; deshalb ist es von äußerster Wichtigkeit unsere Abstraktionsweisen sehr sorgfältig zu überprüfen«. 2 Mittels dieser wird die Wirklichkeit nur unter einem bestimmten Aspekt erfasst. Der Erfolg der Wissenschaften resultiert aus der bewussten Konzentration auf eine bestimmte Gruppe von Abstraktionen. Der wesentliche Vorteil liegt darin, dass man es nicht mehr mit der ganzen komplexen Wirklichkeit, sondern nur noch mit einigen wenigen und dafür klar fassbaren Zügen zu tun hat. Die dadurch erzielte Vereinfachung schafft Übersichtlichkeit in unserem Denken. Das abstrahierende Vorgehen der Wissenschaften hat jedoch seine Nachteile. 3 Hier setzt Whiteheads Kritik an den traditionellen Wissenschaften an. Dadurch, dass man seine Aufmerksamkeit immer nur auf 2 3
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Whitehead 1988, S. 75; vgl. Lucas 1990, S. 81 ff. Fetz 1981, S. 20 ff.; Rust 1987, S. 47 ff.
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eine bestimmte Gruppe von Abstraktionen richtet, verliert man den Rest der Wirklichkeit aus dem Blick. Whitehead weist am Beispiel der Naturwissenschaften nach, dass hier die Tendenz besteht, die Existenz dieses Rests jenseits der eigenen Kategorien zu leugnen. Die abstrakten Kategorien werden mit der gesamten konkreten Wirklichkeit identifiziert. Whitehead nennt diese Substitution des konkreten Wirklichkeitsganzen durch partielle Kategorien den »Trugschluss der unzutreffenden Konkretheit« 4 (fallacy of misplaced concretness). Den grundlegenden, die moderne Philosophie und Wissenschaft in verhängnisvoller Weise bestimmenden Trugschluss der unzutreffenden Konkretheit, sieht Whitehead in Descartes Spaltung von Geist und Materie. 5 Dieses Denkschema liegt am Ursprung der neuzeitlichen Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften. Die Naturwissenschaft nahm sich der materialistischen Natur und die Philosophie des denkenden Geistes an. In dem Maße, in dem sich erstere der objektiven Wirklichkeit bemächtigte, zogen sich die Geisteswissenschaften auf das denkende Subjekt zurück. Der cartesianische Dualismus führt geradewegs zur Theorie einer materialistischen, mechanistischen Natur, die ihre Parallele und Entsprechung im menschlichen Geist als dem rechnenden und überwachenden Betrachter des Naturmechanismus hat. 6 Die neuzeitliche Philosophie hat in der Folge zwischen drei Extremen geschwankt 7 : Die Dualisten erkennen Materie und Geist als gleichbegründet an. Das Streben nach Einheit geschieht nur um den Preis eines radikalen Reduktionismus und führt zu den beiden Spielarten von Monismus. Für den Idealismus besteht die Natur nur noch in der Veranschaulichung der Denkprozesse. Umgekehrt reduziert der Materialismus das Denken des Subjekts auf einen Zustand der Materie. Nach Whitehead kranken alle diese Denkrichtungen am gleichen Übel: Sie kommen über den cartesianischen Ansatz nicht hinaus. Die Wirklichkeit wird in abstrakte Kategorien gezwängt, wobei zwangsläufig ganze Dimensionen ausfallen müssen – alles was durch das Raster dieser Schemata fällt. Den von Descartes gesetzten Dualismus zu überwinden, gehört zu den zentralen Aufgabenstellungen der Whiteheadschen Philosophie. 8 Die Grundlegung eines neuen Kategoriensystems 4 5 6 7 8
Whitehead 1988, S. 66. Whitehead 1988, S. 167 ff., 184, 225 f.; vgl. a. Wiehl 1971, S. 21; Wiehl 1990b, S. 211 f. Fetz 1981, S. 37, 46. Parsons’ Kant-Kritik folgt diesem Denkmuster. Whitehead 1988, S. 72. Wiehl 1971, S. 21 ff.; Wolf-Gazo 1980, S. 18; Rust 1987, S. 174. A
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hat die Funktion, für die tradierten Gegensätze von Natur und Geist, von Geschichte und Natur, von Unorganischem und Organischem eine kohärente Theorie zu entwickeln. Whiteheads eigenen Anstrengungen zur Auflösung des bewusstseinsphilosophischen Dualismus liegt die Leitvorstellung oder das Paradigma des Organismus zugrunde. Dessen Grundkategorien sind Prozess und Relation. Er geht davon aus, dass es nur eine Gattung von Wesenheiten gibt. Nicht Dinge, sondern Geschehnisse oder Ereignisse stellen die ursprüngliche Realität dar. 9 Die Organismusphilosophie rückt von der Vorstellung eines statisch-passiven Vorhandenseins ab; einer Dauer, welche die Einheiten für die Zeit ihres Bestehens unverändert lässt. Sie bestehen überhaupt nur als Werdeprozess; sie sind ihr Werden. Der Relationsbegriff besagt, dass die Natur nicht mehr als ein Nebeneinander innerlich unzusammenhängender Materieteilchen, sondern als ein Geflecht organisch ineinander verwobener Ereignisse zu verstehen ist. Das ganze Universum ist eine Einheit, ein einziger Komplex wechselseitig aufeinander bezogener und einander bedingender Prozesse. Für die Organismusphilosophie besteht das Bezogensein eines Geschehnisses aus inneren Relationen. 10 Diese konstituieren, was das Ereignis an sich ist, denn jede Beziehung geht in dessen Wesen ein. Ohne diese Beziehungen wäre das Ereignis nicht dasselbe. Dies hat zur Konsequenz, dass das Ganze konstitutiv für die Teile ist, denn das »innere Bezogensein ist der Grund, aus dem sich ein Geschehnis nur genau da finden lässt, wo es ist und wie es ist – das heißt in genau einer abgegrenzten Beziehungsmenge«. 11 Wäre ein Einzelwesen in einen anderen Beziehungspunkt oder ein anderes Beziehungsnetz eingespannt, wäre auch sein Wesen ein anderes. Es dürfen daher auch keine Teile wegfallen oder umgruppiert werden, ohne dass sich das Ganze und damit seine Einheiten verändern. Dies ist die Grundvorstellung von Whiteheads Organismusbegriff. Er nennt solche Zusammenhänge Gesellschaft (dieser Begriff ist nicht eingeschränkt auf soziale Phänomene). Deren Ordnung besteht in dem Vorhandensein eines gemeinsamen Formelementes, das bestimmend in jedes einzelne Geschehnis eingeht. Diese gemeinsame Whitehead 1988, S. 124 f.; Wiehl 1971, S. 24 f.; Fetz 1981, S. 85, 113 ff. Whitehead 1988, S. 126, 148 f. 11 a. a. O., S. 148. 9
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Form ist das definierende Charakteristikum einer Gesellschaft. Es wird gewissermaßen von Geschehnis zu Geschehnis vererbt, in den genetischen Beziehungen reproduziert, die die einzelnen Geschehnisse miteinander verbinden. Dieses Formprinzip stellt die übergreifende Idee einer Gesellschaft dar. Das Problem der Ordnung und die Konstitution des Subjekts verweisen beide auf den für die Whiteheadsche Philosophie zentralen Begriff des zeitlosen Objekts. Ordnung verlangt immer die Ausrichtung der Ereignisse auf ein Sinnziel. Diese Sinnelemente nennt Whitehead »ewige Objekte«. Gegebenes verweist immer auf Mögliches, es ist verwirklichte Möglichkeit: Verwirklichung einer Möglichkeit unter Ausschluss aller anderen. Die Kategorie der »Möglichkeit« ist für Neuheit erforderlich, ohne die die Welt erstarren würde. Die Wirklichkeit kann sich nur entwickeln, wenn ihr durch die Möglichkeiten Raum gegeben wird. Eine solche Möglichkeit bezeichnet Whitehead als ewigen Gegenstand oder zeitloses Objekt. Jedes existierende Einzelwesen ist eine verwirklichte Möglichkeit, die in den zeitlosen Objekten grundgelegt ist. Sie sind die Formen, die dem Wirklichen seine Ordnung und Bestimmung geben. Der metaphysische Status der zeitlosen Objekte ist der einer allgemeinen unbedingten Potentialität, die sich ohne jeden Bezug zur zeitlichen Welt verstehen lässt. Das Zeitlich-Aktuelle erwächst durch seine Teilhabe an den ewigen Objekten. Als Möglichkeiten halten sie potentiell Neues bereit und eröffnen dadurch ein Werden allen Seins. Die ewigen Objekte sind das zentrale Scharnier zwischen Struktur und Prozess. Whitehead denkt sich die Evolution als einen Prozess, der auf unterschiedliche Weise von ewigen Objekten und Welt getragen wird. Eine unbegrenzte und abstrakte Kreativität könnte nichts zuwege bringen. 12 Die Schöpfung überlebt nur, weil der Kreativität eine Ordnung auferlegt ist. In einer solchen Form, einem zeitlosen Objekt, erhält die Energie oder Kreativität ein sie steuerndes Ziel. Die eigentliche Kraft liegt in den Weltdingen selbst, in der Energie, die den physischen Prozess vorantreibt. In diese zweipolige Konzeption von Whiteheads Metaphysik lässt sich unschwer das für Parsons’ Theorie zentrale kybernetische Modell integrieren. Die ewigen Objekte als die Ordnungsprinzipien bereitstellenden, aber energieentbehrenden Komponenten
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einerseits, die Wirklichkeit selbst, als Energieträger und Wirkursache, der jedoch die steuernden Prinzipien fehlen, andererseits. Im Folgenden werde ich Parsons’ Subjekt- und seine Sozialtheorie vor dem Hintergrund des bisher Dargelegten skizzieren.
Parsons’ Subjekttheorie Whiteheads Kritik am bewusstseinsphilosophischen Dualismus und dessen Überführung ins organizistische Schema bietet den Leitfaden für Parsons’ Theorie. Die Organismusphilosophie zerlegt das Seiende, einschließlich der Subjekte, in Letzteinheiten und begreift alle Phänomene als Kompositionen bzw. Relationen dieser Grundbausteine. Dies ist auch Parsons’ Analysestrategie. Das über Thomas Hobbes eingeführte zentrale Problem sozialer Ordnung hat in Parsons’ Werk nur noch den Namen mit ihrem Ursprung gemein. In den klassischen politischen und ökonomischen Theorietraditionen war das Individuum das Atom, das Letztelement der Theorie, und Ordnung das mehr oder weniger problematische Resultat der Auseinandersetzungen der Individuen. Das organizistische Denken ermöglicht es Parsons, Sozialtheorie auf radikal neue Art und Weise zu denken. Er löst den Handlungsbegriff vom Individuum ab und unterläuft damit die traditionelle Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft. 13 Der Aktor ist selbst ein Ordnungstypus des Handelns, der einen spezifischen Relationsmodus aufweist. 14 Für Parsons ist daher das Ordnungsproblem von Beginn an nicht auf das Problem der sozialen Ordnung begrenzt. Letztere ist nur ein Problemaspekt in einer allgemeinen Ordnung des Handelns (ja der Natur überhaupt), die sowohl subjektiv wie objektiv aufgelöst werden kann. Parsons transformiert die traditionelle Individuum-Gesellschaft-Dichotomie durch eine radikale Steigerung des sozialtheoretischen Auflösungsvermögens. Whitehead ersetzt den Subjektbegriff durch den Ausdruck Superjekt, als das Darüberliegende, das Resultat des Werdensprozesses. Der traditionelle Ausdruck Subjekt, als das Zugrundeliegende, verfehlt diesen Sachverhalt. »Für Kant taucht die Welt aus dem Subjekt auf; für die Parsons 1968, S. 72, 355, 367, 737 f.; Wenzel 1988, S. 68 f., 175; Schwinn 1993, S. 245 ff. 14 Parsons 1968, S. 747. 13
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organizistische Philosophie taucht das Subjekt aus der Welt auf – eher ein ›Superjekt‹ als ein ›Subjekt‹.« 15 Niklas Luhmann 16 schlägt für Parsons eine ähnliche Sichtweise und Sprachregelung vor: »Der Handelnde ist, obwohl Parsons diese Terminologie übernimmt, im strengen Sinne kein Subjekt … seiner Handlung. Eher müsste man zur Verwirrung europäischer Gemüter sagen: Das Handlungssystem ist das Subjekt des Handelnden.« Parsons’ analytische Strategie zerlegt das Handlungssubjekt und lässt es aus der sozialen Ordnung entstehen. Der theoretische Bezugsrahmen ist so angelegt, dass Handlungen nicht vom verstehenden Subjekt her entwickelt werden, wie etwa bei Max Weber, sondern von vornherein als in soziale Systeme eingebettet verstanden werden. Das System ist der Konstrukteur der Handlung. Die Sozialpsychologie hat nach Parsons die Aufgabe, Soziologie und Psychologie zu integrieren. Im Mittelpunkt stehen jene Prozesse, die das Individuum in das soziale System eingliedern, genauer: Prozesse, die das Biologische mit dem Kulturellen integrieren 17 , und dadurch den Dualismus von Natur und Geist überbrücken. Das neugeborene Subjekt bringt auf seiner Seite das konditionale Prinzip in den Sozialisationsprozess ein, das Kultursystem das steuernde oder richtungweisende. Parsons geht also von einem zweipoligen Prozess aus. 18 Auf der einen Seite steht der biologische, in der Vererbung fundierte Aspekt des Menschen. Er liefert die Energie des Organismus, ist für seine Impulse, Triebe und Wünsche verantwortlich. Dieses »individuelle« oder konditionale Element repräsentiert die kreative, aber zugleich auch zentrifugale Tendenz des Subjekts. Andererseits ist der Mensch ein Wesen, das dazu neigt, metaphysische Interpretationen der Welt zu entwickeln und eine moralische Verpflichtung gegenüber letzten Werten zu empfinden. 19 Diese Beziehung des Menschen zum Normativen stellt das ordnungsgebende und kontrollierende Element des Subjekts dar. »The chaos of the ›individual‹ element in human conduct is unmoral. It is given ›form‹, is capable of issuing in order, in so far as it is brought into relation with a normative system.« 20 Wie werden nun die Werte in das Subjekt eingeschleust? Parsons 15 16 17 18 19 20
Whitehead 1984, S. 174. 1980, S. 7 Schwanenberg 1970, S. 222 ff. Parsons 1968, S. 377, 385; vgl. Camic 1989, S. 79 ff. Parsons 1934/35; SSA, S. 668. Parsons 1968, S. 385. A
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teilte wohl Whiteheads Skepsis 21 gegenüber der Überschätzung der Kognitionen. Er wertet die Emotionen auf. Sie sollen den dualistischen Graben zwischen Physiologisch-Organischem und Mentalem überbrücken. In diesem Sinne liest und übernimmt Parsons die Freudsche Theorie. Der menschliche Organismus ist mit der Fähigkeit ausgestattet, Objekte in positiver oder negativer Weise mit Affekt zu besetzen. Dieses Vermögen nennt Parsons »Kathexis«. Über die Kathexis wird der Organismus mit dem Objekt verbunden bzw. in Beziehung gesetzt. 22 »Die Kathexis holt gewissermaßen dem Subjekt das ›Objekt als eine Quelle der Gratifikation‹ heran und überbrückt motivational den descartesschen Graben zwischen Subjekt und Objekt; sie macht den Anfang der Interaktion.« 23 Die Balance von bedürfnisbefriedigenden und bedürfnisversagenden Bindungen liefert der sozialen Ordnung den Einstieg in das Subjekt. Dies ist ein Prozess der zunehmenden symbolischen Organisierung von Affekt, Parsons spricht hier von »expressivem Symbolismus« 24 . Zwei Aspekte lassen sich bei diesem analytisch unterscheiden: die energetische oder motivationelle Dimension und die kognitiv steuernde. Beide greifen ineinander und werden durch den übergeordneten Wertekomplex integriert. 25 Sozialisation ist ein Prozess zunehmender Generalisierung der symbolisch organisierten Affekte. Das Kind generalisiert, gemäß der psychoanalytischen Theorie, von der lustvollen Kathexis des primären Objekts der Mutterbrust zur Kathexis des komplexeren sozialen Objekts der Mutter bis hin zu Systemen von Objekten und Objektbeziehungen und reziproken Interaktionsmustern sozialer Beziehungssysteme. 26 Parsons spricht dabei von »emotionaler Kommunikation«. 27 »It is crucial that what is communicated is not only understanding of motives in the cognitive sense, but is mutuality of affective meanings.« 28 Überwiegen zwar auf den frühen Sozialisationsstufen diese Wiehl 1990a, S. 11; Wiehl 1990b, S. 215. Parsons et al. 1959a, S. 10; Parsons et al. 1959b, S. 69. 23 Schwanenberg 1970, S. 231. Parsons 1968, S. XVIf. Parsons (1977b) zählt die Freudsche Theorie zu jenen modernen Entwicklungen, die an einer Vermittlung des von Whitehead kritisierten cartesianischen Dualismus von Geist und Materie arbeiten. 24 Parsons 1968b, S. 44; Parsons 1953, S. 33 ff., 59. 25 Parsons et al. 1959b, S. 88 f.; Wenzel 1988, S. 190. 26 Parsons 1968 d, S. 114 ff., 132 ff. 27 Parsons 1953, S. 38; Parsons 1968b, S. 37, 40. 28 Parsons 1953, S. 38. 21 22
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emotionalen Aspekte der Kommunikation, so hält Parsons an der affektiven Dominanz gegenüber der kognitiven Dimension auch für die erwachsene Person fest. 29 Durch die affektuelle Orientierungsdimension wird das Handeln »tiefer« gelegt, in den symbolisch strukturierten Motivationshaushalt der Person. Die soziale Ordnung ist damit von der Gefahr befreit, den je wechselnden Augenblickskonstellationen von Zweck-Mittelkalkulationen ausgeliefert zu sein. 30 In Parsons’ Sozialisationstheorie lässt sich daher eine Dominanz des affektuell-normativen Moments gegenüber dem kognitiven feststellen. »Verinnerlichung eines kulturellen Musters heißt nicht nur, dieses als ein Objekt der äußeren Welt zu kennen; es bedeutet seine Eingliederung in die eigentliche Struktur der Persönlichkeit als solcher. Das heißt, dass das kulturelle Muster mit dem affektiven System der Persönlichkeit integriert werden muss.« 31 Für Parsons ist »die soziokulturelle Umgebung nicht nur die Grundlage einer speziellen Komponente der menschlichen Persönlichkeit …, sondern auch die Grundlage ihres im menschlichen Sinne innersten Kerns.« 32 Das Subjekt wird organisch in den sozialen Zusammenhang eingegliedert. »Das Kind wird, nach einer Metapher, durch die Tatsache der Geburt in den sozialen Teich geworfen, wobei der Vergleich dahingehend zu interpretieren ist, dass die Wellen, die es auslöst, nicht von ihm ausgehen, sondern auf es zulaufen. Sie versinnbildlichen die sukzessiven Inputs in sein Persönlichkeitssystem, die Sozialisierungsanforderungen und -hilfen, die ihm bereitgestellt werden. Das Kind wird so gewissermaßen in das dynamische Gewinde des Gesamtsystems aufgenommen.« 33
Parsons’ Sozialtheorie Whiteheads organizistische Philosophie ermöglicht Parsons die Einführung des Systemkonzepts in die Soziologie. Dessen Grundgedanke 29 Schwanenberg 1970, S. 235. Parsons unterscheidet sich von der orthodoxen Psychoanalyse darin, dass er den Symbolismus nicht expressiv-triebhaft, sondern kulturellnormativ interpretiert (vgl. Parsons 1968b, S. 34) und dadurch die Verknüpfung von Soziologie und Psychologie ermöglicht. 30 Schwanenberg 1970, S. 213; Wenzel 1988, S. 191, 196. 31 Parsons 1968b, S. 39. 32 Parsons 1968d, S. 101 f.; vgl. a. Parsons 1979, S. 17; Schwanenberg 1970, S. 242. 33 Schwanenberg 1970, S. 238.
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ist, dass Selbstorganisationsfähigkeit nicht auf menschliche Subjekte beschränkt ist. Soziales hat eine vom Subjekt nicht ableitbare Ordnungsfähigkeit. Diese Grundidee inspiriert auch die neuere Systemtheorie von Niklas Luhmann, der sie von Parsons übernimmt, bei dem er studiert hat. Die traditionelle Vorstellung, von der sich Parsons absetzt, fokussiert auf den menschlichen Akteur und dessen Handlungsvermögen. Das traditionelle Grundmodell geht von einem subjektiv antizipierten Ziel aus, das durch rationalen Mitteleinsatz in ein Handlungsresultat überführt wird. Soziales ist in dieser Perspektive das aggregative Produkt einer Vielzahl von Akteuren und die entsprechende Erklärungsstrategie zielt darauf ab, Soziales auf das Handeln der Akteure zurückzuführen. Selbstorganisationsfähigkeit sitzt nur an einer einzigen Stelle, beim menschlichen Subjekt. Anders Parsons, er dezentriert das Subjekt. Man darf nicht bei einer singulären Handlung beginnen und ihre aggregative Aufsummierung als adäquate soziologische Analyse verstehen. Handeln ist bei Parsons immer, qua Definition, systemisch, folglich muss beim Handlungszusammenhang angesetzt werden. Bei einer singulären Handlungseinheit zu beginnen, hieße der »fallacy of misplaced concreteness« anheimzufallen. Die Ziele, die ein Akteur verfolgt, können Mittel für die Ziele anderer Akteure sein und umgekehrt. Ziele verweisen wiederum auf Werte, sind in diesen fundiert und diese grenzen zudem mögliche Mittel ein. Parsons begreift Handlungen als die Knoten eines Geflechts, in denen eine Vielzahl von Fäden momentan zusammenlaufen, um dann wieder auseinanderzulaufen und sich in verschiedene andere Knoten zu verzweigen. 34 Handlungen sind zu Ketten in einem Handlungsnetz verknüpft. »But here it is necessary to take account of the undoubted fact that actions do not take place separately each with a separate, discrete end in relation to its situation, but in long, complicated ›chains‹ so arranged that what is from one point of view an end to which means are applied is from another a means to some further end and vice versa; and so on through a great many links in both directions. Moreover, it is a necessary implication of the analytical starting point that any concrete act may constitute a point of intersection of a number of such chains so that the same act is at the same time in different respects a means to several different ends. […] Or, to change the figure, the total complex
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Parsons 1968, S. 741.
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of means-end relationships is not to be thought of as similar to large number of parallel threads but as a complicated web (if not a tangle).« 35 Der Begriff eines Netzes von Handlungen ist Whiteheads Konzept des Nexus nachgebildet. Parsons selbst spricht vom »organicism of systems of action.« 36 Handlungen sind Ereignisse, die sich selbst in der Relationierung zu anderen Handlungen konstituieren. Dies ist durch die Netzmetapher ausgedrückt. Die Handlungsketten dieses Netzes sind dabei zwischen zwei Polen oder Umwelten aufgespannt. 37 In »Richtung« von den Mitteln zu den Zielen kommt man früher oder später zu letzten Zielen (ultimate ends), die nicht mehr Mittel für weitere Ziele sein können, sondern die um ihrer selbst willen verfolgt werden. In der anderen »Richtung«, von den Zielen zu den Mitteln, stößt man irgendwann ebenfalls auf letzte Mittel und Bedingungen, die einfach hinzunehmen sind. Die Beziehungen der letzten Ziele einer Vielzahl von Handlungsketten variieren nicht beliebig. Die den Handlungsketten Richtung gebenden letzten Werte sind untereinander in einem kohärenten System integriert. 38 Dies gilt für das Wert- und Handlungssystem eines einzelnen Menschen, wie für das einer Vielzahl von Individuen. Whitehead versteht die Natur nicht als ein Nebeneinander innerlich unzusammenhängender Materieteilchen, sondern als ein Geflecht organisch ineinander verwobener Ereignisse. Sind es bei ihm die ewigen Objekte, so bei Parsons die Werte oder letzten Ziele, die als Formelemente die Handlungsprozesse anleiten. Die Wiederholung derselben Wertform in aufeinanderfolgenden Handlungen lässt sich als ein strukturierter Prozess verstehen. Whiteheads Organismusbegriff erlaubt mikroskopische und makroskopische Ebene ineinander zu überführen. Das Einzelereignis und die Ordnung seiner Verknüpfungen sind nur zwei Aspekte desselben organischen Zusammenhangs. Auf diese Weise verknüpft auch Parsons mikroskopische und makroskopische Ebene. Die Handlungseinheit deckt die Mikroperspektive ab, die Makroperspektive das soziale System, als die Verknüpfung mehrerer Handlungseinheiten. Auf beiden Ebenen hat das Wertelement die relational-integrierende Funktion. 35 36 37 38
a. a. O., S. 229; vgl. a. S. 739 ff. a. a. O., S. 739, 31 f. a. a. O., S. 230 f. a. a. O., S. 231 f. A
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Die Konstitution bzw. innere Relationierung der Handlungseinheit gehorcht demselben regulativen Wert wie die Verknüpfung mehrerer Handlungseinheiten zu Systemen. Die Ordnung des Handelns kann daher subjektiv wie objektiv, mikroskopisch wie makroskopisch aufgelöst werden. In diesem Zusammenhang wird auch deutlich, wie man die auch von Whitehead verwendeten Begriffe von Mikro- und Makrokosmos zu verstehen hat. Es ist natürlich nicht so, dass eine Handlungseinheit, ein Subsystem oder Persönlichkeitssystem eine identische Kopie des umfassenden Systems darstellt. Vielmehr trägt jedes Subsystem den Index seiner Stellung in der Matrix des übergreifenden Systems. Homologie meint daher nicht Widerspiegelung des Allgemeinen im Besonderen und umgekehrt, sondern Indexikalität im Sinne der Zugehörigkeit zu einer übergreifenden Matrix, die das Verhältnis von Partikularem und Universellem definiert. 39 Die Mikroeinheit erfasst den Gesamtzusammenhang auf selektive Weise und reproduziert damit den sozialen Nexus an einer bestimmten Stelle.
Analytische Konsequenzen Dieses Verständnis des Sozialen hat Konsequenzen für die dafür erforderliche Analysestrategie. Wenn soziale Zusammenhänge organische oder systemische Qualitäten besitzen, ist ihre mechanistische Zergliederung ausgeschlossen. Das Systemische ist durch den Whiteheadschen Begriff der »inneren Relationiertheit« gekennzeichnet. Die Beziehungen sind dem Bezogenen immanent. »The very definition of an organic whole is as one within which the relations determine the properties of its parts.« 40 Die Teile können daher nicht mehr in einem konkreten Sinne vom Ganzen isoliert werden, ohne ihre Eigenschaften zu verlieren. Der Begriff Teil erhält in einem solchen Zusammenhang einen abstrakten, fiktiven Charakter. Entsprechend können auch die Eigenschaften des Ganzen nicht durch direkte Generalisierung aus den Eigenschaften der Teile oder Einheiten gewonnen werden. In der Relationierung der Teile oder Einheiten entstehen emergente Eigenschaften. Die organische Verfasstheit der Realität erfordert daher eine 39 40
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Parsons et al. 1959b, S. 109, 180; Parsons et al. 1953b, S. 173; Parsons 1973, S. 37. Parsons 1968, S. 32.
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ihr adäquate Analytik. Die Verflochtenheit der Wirklichkeit muss in der Verflochtenheit der diese Wirklichkeit darstellenden Begriffe zum Ausdruck gebracht werden. 41 In der mittleren und späten Schaffensperiode glaubt Parsons, dies mit dem bekannten AGIL-Schema erreicht zu haben: Structure of the Human Condition as System Grace Faith
TELIC SYSTEM
i
Ultimate Ground (B)
Ultimate Order (B)
Social System
Cultural System
Ultimate Agency (B)
Ultimate Fulfillment (B)
Personality System
Behavioral System
Material Basis for Living Systems
H2O (H) Water (H) Inert Matter (W) Water (G)
Oxygen (H) Regulation (H) Information (W) Air (G)
Adaptive Capacity Fitness of the Environment
i
of Biological Systems
Motivational Organization
g HUMAN ORGANIC SYSTEM a
Oxydation (H) Carbon (H) Complexity (H) Metabolism (H) Energy (W) Matter as Fuel (W) Fire (G) Earth (G) (Nitrogen – Wald)
Energy
g
Organic
g
Nature
Ordering of
PHYSICO-CHEMICAL SYSTEM
a
g
Pheonotypical Organism
Ecological Adaptation
Breeding Population
Genetic Heritage
Teleonomic Organization
1 A
of Nature
Intelligibility
a
a
I 1
ACTION SYSTEM
i
Symbolic Organization
Grounding of Meaning for Action
L 1
1 G
i (B) – Robert N. Bellah (H) – L. J. Henderson (W) – Norbert Wiener (G) – Greek philosophers
aus: Parsons 1978a, S. 382 41
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Nach Parsons gelingt mit diesem System analytischer Elemente die mikroskopische wie makroskopische Auflösung von sozialer Ordnung sowie ihr geordneter Anschluss an die nicht-sozialen Phänomenbereiche. »We suggest that the scheme [AGIL, T. S.] advanced here is in its fundamentals applicable all the way from the phenomena of ›behavior psychology‹ on pre-symbolic animal and infantile levels, to the analysis of the largest scale social systems. The main key to this scope of applicability lies in the fact that it is possible to treat what, on one level is a system, on the next ›higher‹ level as a point of reference, that is a ›particle‹ or system-unit in a larger system.« 42 Eine weitere Erwartung Parsons’ wird durch Bezug auf Whitehead verständlich. Beide gehen von der Vorstellung eines durchgehenden organizistischen Kontinuums der Wirklichkeit aus. Realität ist eine einzige und durchgängige, von den physischen über die biologischen bis hin zu den sozialen und geistigen Gegebenheiten; es gibt keinen Plural der Realität. 43 Letztendlich kann es daher auch nur eine einzige Theorie geben. 44 Für Parsons ist daher Konvergenz das Reife- und Gütekriterium für wissenschaftliche Theorien, der Beweis, dass die eine Wirklichkeit richtig getroffen wurde. Dies erlaubt es zugleich, von wissenschaftlichem Fortschritt zu sprechen. In der Klassifizierung von drei großen theoretischen Systemen und der Möglichkeit ihrer Integration »into a coherent body of knowledge« manifestiert sich Parsons Glaube an eine einzige übergreifende Theorie 45 : Natur, Handlung und Kultur. Naturwissenschaften, Sozialwissenschaften und Kultur- oder Geisteswissenschaften bearbeiten verschiedene Aspekte oder Ebenen des organizistischen Kontinuums, müssen aber letzten Endes in ein einziges theoretisches System überführt werden. Mit dem AGIL-Schema glaubte Parsons dies erreicht zu haben.
Metaparadigma und die Frage nach dem Subjekt Soziologische Theorien, die sich an Referenzphilosophien orientieren, übernehmen von diesen auch gewisse Schwächen und Probleme. In der Parsons et al. 1953a, S. 106 f.; vgl. a. Parsons et al. 1953b, S. 168 ff., 192 f. Schwanenberg 1970, S. 40 f., 82 f. 44 a. a. O., S. 78 f., 82 f.; Savage 1981, S. 88. 45 Parsons 1968, S. 762 ff. Parsons erwähnt in diesem Zusammenhang Freyers Unterscheidung in Natur-, Wirklichkeits- und Logoswissenschaft. 42 43
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Auseinandersetzung der beiden großen Paradigmen der Soziologie, der Handlungs- und der Systemtheorie, wird letztere wegen ihres mangelnden Subjekt- und Akteurbezugs kritisiert. Parsons’ Systemtheorie hat sich immer wieder mit dem nicht unberechtigten Vorwurf einer »oversocialized conception of man« 46 konfrontiert gesehen. Schwanenbergs 47 Diagnose ist zuzustimmen, dass Parsons’ Theorie die Last der Erklärung an die Analytik des Systems abgibt. Seiner Sozialisationsund Interaktionstheorie geht es um die soziale Objektivierung des Subjekts, d. h. um den Übergriff der Ordnung auf das Subjekt. Der subjektive Übergriff auf die Ordnung, die ordnungsgestaltende Kraft des Subjekts, ist in Parsons’ Theorie nicht vorgesehen. Das ermöglichte ihm die Konstruktion einer imposanten Ordnungstheorie, aber nur auf Kosten einer zufrieden stellenden Handlungs- und Subjektkonzeption. Das System hat den Primat gegenüber dem Subjekt und die soziale Ordnung weitet sich subjektiv ungebrochen auf die Akteure aus. Sinnverstehende, hermeneutische Fragen spielen in seinem Werk daher keine Rolle. Diese Schwächen der parsonschen Systemtheorie lassen sich auf entsprechende Defizite in Whiteheads Philosophie zurückführen. In seiner Kritik an der Subjekt- und Bewusstseinsphilosophie schießt er über sein Ziel hinaus. 48 Sein Programm des Zurückholens des Menschen in die Natur, der naturhaften Genese des Menschen, führt zu einem Pansubjektivismus. 49 Seine Naturalisierung des Subjekts und der Subjektivierung der Natur lässt die charakteristischen Grenzen zwischen beiden verschwimmen. 50 Auf diese Weise kommt ein Zuviel an Subjektivität in die Welt, was zugleich ein Zuwenig für den Menschen bedeutet. Whitehead sieht die Schwierigkeit und zugleich Notwendigkeit, die Einheit des Subjekts in seiner Philosophie unterzubringen. »Das Personenhafte am Menschen hat sich bei unserer Behandlung des menschlichen Erlebens zu einer genetischen Beziehung zwischen menschlichen Erlebensvorgängen verdünnt. Aber die Einheit der menschlichen Person ist eine Tatsache, um die man nicht herumkommt. […] Jede philosophische Betrachtungsweise wird irVgl. z. B. Wrong 1961 1970, S. 237, 222. 48 Vgl. Rapp 1990. 49 Wiehl 1990b, S. 212; Rapp 1990, S. 166. 50 Wiehl 1971, S. 58: »Whiteheads Theorie der Wirklichkeit ist eine Theorie der Subjektivität.« 46 47
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gendwie die Identität der Person erklären müssen. In irgendeinem Sinne gibt es einfach eine Einheit im Leben des Menschen, die sich von seiner Geburt bis zu seinem Tode erhält. Die beiden modernen Philosophen, die die Vorstellung einer sich gleich bleibenden substantiellen Seele am konsequentesten verworfen haben, sind Hume und William James gewesen. Aber auch ihnen stellte sich das Problem, vor dem hier die Organismus-Philosophie steht: eine adäquate Erklärung für die unbezweifelbare Einheit der Person zu finden, die sich durch alle Wechselfälle des Lebens hindurch erhält.« 51 Die Ubiquität der Elementarereignisse führt dazu, dass deren komplexere Formen nur durch die Teilhabe an den ewigen Objekten geistig aufgefangen werden. Nach Whitehead ist die Identität aller Wesen im Geschehensstrom durch die ewigen Objekte garantiert. Es ist unklar, worin das Spezifische des menschlichen Subjekts besteht. Der Kontinuität und Einheit, Form und Richtung garantierende Faktor ist in Whiteheads Philosophie immer das Reich ewiger Objekte. Wie deren Name schon sagt, sind sie zeitlos und statisch. Sie können durch die Subjekte nicht konstituiert, verändert oder modifiziert, sondern lediglich exemplifiziert werden. Es kann nur das vollzogen werden, was ein für allemal schon festgelegt ist. Es gibt keine Wechselwirkung zwischen realen und ideellen Prozessen; soziologisch gesprochen: immer nur den Ideenbezug des Handelns, nicht aber den Handlungsbezug der Ideen. Nun könnte man einwenden, dass das Reich der ewigen Objekte zwar feststehe, andererseits aber so mannigfaltig sei und dadurch Auswahlmöglichkeit und Kreativität ermögliche. Dem widerspricht jedoch Whiteheads Vorstellung der inneren Relationen. Die ewigen Objekte stellen eine ›endliche, unselektive und systematisch vollständige Beziehungsmenge‹ zur Verfügung. 52 Das Reich der Ideen besteht also nicht aus einer Ansammlung von lose oder überhaupt nicht verbundenen ideellen Partikeln, die individuell gewählt und zusammengestellt werden könnten, sondern sie existieren nur als vernetzte Zusammenhänge und nur als solche können sie in die empirischen Ereignisse eingehen. 53 Diese Konzeption kann die subjektive, ordnungsbildende Kreativität Whitehead 1971, S. 341 f. Whitehead 1988, S. 192. 53 Die ewigen Objekte – soziologisch: die kulturellen Ideen – können nur einen Direktions- und Ordnungswert haben, wenn sie nicht beliebig variieren. 51 52
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der Akteure nicht richtig fassen, sie lässt immer nur eine Einflussrichtung zu: »von oben nach unten«. Das Ganze ist konstitutiv für die Teile, und dieses Ganze ist in den ewigen Objekten fest- und grundgelegt. Gemäß dem Diktum der inneren Relationiertheit ist das Subjekt immer schon nahtlos mit dem intersubjektiven Geschehen verzahnt. Whitehead kann daher das Subjekt kategorial nicht als eine eigenständige Größe einführen, dessen Kreativität bleibt folglich eine unausgewiesene Behauptung. »… das so notwendige Zurückholen des Menschen in die Natur kann die Differenz von Ich und Welt nicht aufheben. Das Einordnen unserer intellektuellen Leistungen in unsere körperliche Verfassung und in unsere vorbewusste und nichtrationale Welterfassung ist notwendig, um der rationalistischen Überzeichnung entgegenzutreten, die der konkreten Lebenserfahrung offenkundig widerspricht. Gleichwohl bleibt das Ich mit seiner Identität eine begrifflich nicht auflösbare und praktisch nicht hintergehbare Urgegebenheit, die bei allen Akten einer Person immer implizit mitgegeben ist [… und] deshalb auch kategorial als eigenständige Größe auftreten sollte.« 54 Die moderne Philosophie hat den Blick auf die erfahrungs- und erkenntniskonstituierende Funktion und Stellung des Subjekts gelenkt und wir können angesichts dieser »Unhintergehbarkeit des Subjekts« nicht auf einen Zustand der objektbezogenen Unbefangenheit zurückgehen. 55 In der Soziologie hat die Systemtheorie von Parsons mit we54 Rapp 1990, S. 167. Korrekturen müssten an der für menschlich-soziale Zusammenhänge strengen inneren Relationiertheit ansetzen, d. h. vom Organizismus abrücken und die Immunität des Idealen, seine äußere Bezogenheit, gegenüber dem Realen aufheben; vgl. hierzu Hall 1963. Lucas (1990) verweist auf die Kontroverse um interne und externe Relationen in England (Bradley, Moore, Russell), die er als den Ursprung der Spaltung der Philosophie ausmacht. »Die Auseinandersetzung über interne und externe Relationen ist darum historisch von einiger Bedeutung, weil man sie mit gutem Grund als den Beginn der Spaltung der Philosophie in eine vornehmlich sprachanalytisch ausgerichtete Form des Denkens in Großbritannien und Nordamerika und eine eher dialektisch, phänomenologisch oder hermeneutisch ausgerichtete Form des Philosophierens kontinentaleuropäischer Prägung sieht« (S. 73 f.). Vgl. a. Horstmann 1984. Die Soziologie sollte sich durch diese Alternative nicht auf falsche Wege locken lassen. Es ist ein höchst unbefriedigender Zustand, entweder mit einem externen Relationsmodell, in dem die Beziehungen für die Identität der Relata unwesentlich sind, oder mit einem internen Relationsmodell, für das die Beziehungen der Relata zur Gänze konstitutiv für ihre Identität sind, arbeiten zu müssen. Ein für die Soziologie interessanter Beziehungsbegriff liegt jenseits dieser Alternative. 55 Rapp 1990, S. 166. Am prägnantesten und konsequentesten vertritt Dieter Henrich (vgl. 2007) eine subjektphilosophische Linie; vgl. a. Frank (1986).
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nigen Ausnahmen 56 keine orthodoxen Nachfolger gefunden und eine Weiterentwicklung erfahren. Parsons’ Schüler haben sich entweder auf einen stärker akteurstheoretischen Weg begeben 57 oder wie Niklas Luhmann 58 eine andere systemtheoretische Konzeption entwickelt. Auch für Luhmann ist die Systemtheorie, wie für Parsons, eine Supertheorie oder ein Megaparadigma, das für alle Phänomenbereiche gültig ist – die Grundidee hat er von der Biologie übernommen. Der Unterschied zu Parsons liegt jedoch darin, dass Luhmann die verschiedenen Phänomenbereiche nicht durch innere Relationen verbunden sieht. Sein autopoietisches Systemmodell arbeitet mit der System-Umwelt Unterscheidung. Es gibt keinen direkten in- und output zwischen Systemen, sondern für jedes System sind alle anderen Systeme Umwelt. Alle Umwelteinflüsse können nur nach systeminternen Kriterien und Operationsmodi verarbeitet werden. Gemäß der Autopoiesis Idee kann Äußeres nur über die systemeigenen Filter Einfluss gewinnen. Direkte Einwirkung, Steuerung und Abhängigkeiten zwischen Systemen sind daher ausgeschlossen. Das gilt für alle Systemverhältnisse: für die Beziehung Gehirn – Denken, für das Verhältnis Subjekt – soziales System und für die Beziehungen der verschiedenen sozialen Systeme untereinander. Während Parsons in Anlehnung an das Whiteheadsche Modell das menschliche Subjekt weitgehend mit dem Sozialen verfugt, nimmt es Luhmann radikal wieder heraus. Subjekte sind personale Systeme, die in der Umwelt der sozialen Systeme sich bewegen. Weder tragen und konstruieren die Akteure die sozialen Systeme, noch formen und beeinflussen diese jene auf direkte Weise. Eine weitere Modellannahme von Parsons lässt Luhmann fallen: die idealistische Fundierung des Systemgeschehens in den kulturellen Werten bzw. ewigen Objekten. Jedes soziale System und Subsystem verfügt über seinen eigenen kulturellen Code und diese sind nicht in einem übergreifenden Reich der Ideen grundgelegt und abgestimmt, sondern folgen ihrerseits der Dynamik sozialer Systeme. Talcott Parsons ist der große Theoriebaumeister der Soziologie im 20. Jahrhundert. Er hat eine imposante Theoriearchitektonik entwickelt, die die Phänomenbereiche der Natur- und Geisteswissenschaften miteinbezieht. Dass sie kaum Nachfolger gefunden hat und heute 56 57 58
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Münch 1988. Z. B. Alexander 1983. 1984; 1997.
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nicht mehr zum verbreiteten Analyserepertoire des Fachs zählt, sollte eine Warnung vor einer allzu schnellen Konstruktion eines Metaparadigmas sein. Die moderne Einsicht der Unhintergehbarkeit des erkennenden und erfahrenden Subjekts lässt sich nur bei Strafe des wissenschaftsgeschichtlichen Vergessens objektivistisch unterlaufen. Trotz der Brüche im systemtheoretischen Denken tradiert sich eine Grundidee von Parsons zu Luhmann: das soziale Geschehen besitzt eine vom menschlichen Subjekt unabhängige Konstruktions- und Ordnungsfähigkeit. Diese These kommt aus der Philosophie Alfred North Whiteheads.
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Die Relevanz von Prozess-, Struktur- und Subjektdenken für die Gestaltung der räumlichen Umwelt Martin Prominski
Die Gestaltung der räumlichen Umwelt baut in Deutschland auf Jahrzehnte alten Paradigmen auf, die durch eine scharfe, dualistische Trennung zwischen Natur und Kultur (oder Objekt und Subjekt) bestimmt sind. Beispielsweise trennt das Baugesetz zwischen besiedeltem und unbesiedeltem Raum (BauGB § 34, § 35) und weist der Gestaltung in diesen beiden Bereichen völlig unterschiedliche Kriterien zu. Oder das Naturschutzgesetz gibt der Natur aus physiozentrischer Perspektive einen Eigenwert (§ 1 BNatSchG), was dazu führt, dass kulturelle Tätigkeiten – Handlungen des Menschen – als negative Eingriffe gewertet werden. Diese Paradigmen haben zudem statischen Charakter, da sie ihre Bewertungen immer an einem Status Quo als Vorbild orientieren, den es möglichst zu bewahren gilt. Diese alten Paradigmen führen aus meiner Sicht zu funktionalen Fehlentwicklungen und ästhetisch fragwürdigen Ergebnissen. Ein neues Paradigma, das Struktur, Prozess und ein reformiertes subjektivistisches Prinzip in den Mittelpunkt rückt, könnte zu einer sinnvolleren, nachhaltigeren Gestaltung der räumlichen Umwelt führen. Im Folgenden skizziere ich die Problematik des alten Paradigmas und die Möglichkeiten eines neuen Paradigmas an zwei Themen, die für die Gestaltung der räumlichen Umwelt eine große Rolle spielen: Landschaft und Ökologie. Für beide werden zunächst das traditionelle Verständnis und seine Folgen beschrieben, anschließend wird gezeigt, wie ein neues Verständnis aussehen könnte und was es konkret für die Gestaltung der räumlichen Umwelt bedeuten würde. Auf Basis dieser beiden Themenfelder Landschaft und Ökologie folgt abschließend eine zusammenfassende Einschätzung, was das in diesem Band entwickelte, auf Whitehead, Cassirer und Piaget aufbauende Megaparadigma für die zukünftige Gestaltung der räumlichen Umwelt bedeuten könnte. 366
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Die Relevanz von Prozess-, Struktur- und Subjektdenken
Landschaft Unter Landschaft wird im allgemeinen Sprachgebrauch die grüne Natur draußen vor der Stadt verstanden. Gerhard Hard fasste dieses Verständnis auf Basis mehrerer sprachpsychologischer Tests folgendermaßen zusammen: »Eine Landschaft (…) ist still, schön, ländlich, grün, gesund und erholsam, harmonisch, mannigfaltig und ästhetisch. Sie ist zudem immer noch von einem Schwarm arkadischer Assoziationen umgeben: Glück, Liebe, Muße, Frieden, Freiheit, Geborgenheit, Heimat …« (Hard 1991) Diese Bedeutung, bei der Landschaft das Gegenteil der vom Menschen geprägten Stadt ist, hat sich in vielen Jahrhunderten entwickelt und hat weitreichende Folgen für den heutigen Umgang mit Landschaft. Diesem Verständnis liegen ganz bestimmte Entwicklungen der westlichen Kultur zu Grunde, die Joachim Ritter in seinem Aufsatz »Landschaft« von 1963 beschrieben hat. Bis zu Beginn der Neuzeit spricht Ritter noch von einer untrennbaren Verbindung von Mensch und Natur, beide waren eingebunden in einen göttlichen, kosmischen Zusammenhang. Durch die ab der Renaissance entwickelten, objektivierenden Methoden der Wissenschaft wurde eine Distanzierung von der Natur möglich – Mensch und Natur, Subjekt und Objekt wurden zwei getrennte Sphären. Das bedeutete einerseits eine neue Freiheit, andererseits wurde diese Trennung von der Natur auch als Verlust empfunden, und als Kompensation wurde der ästhetische Blick auf Natur als Landschaft quasi »erfunden«. Dazu ist nach Ritter aber eine umruhende Natur notwendig, das heißt eine nicht vom Menschen angeeignete Natur. In dieser umruhenden Natur kann mit dem landschaftlichen Blick wieder ein Zusammenhang von Mensch und Natur erfahren werden. Dieses ästhetische Verständnis von Landschaft als Szenerie wurde insbesondere in der romantischen Landschaftsmalerei perfektioniert und ist seitdem eng an ein ideales, statisches Bild gekoppelt, das so und nicht anders bestehen bleiben soll. Der Philosoph Werner Flach nennt dieses Verständnis »den nach einer langen Vorbereitung am Ende des 18. Jahrhunderts etablierten und seither befestigten Kerngedanken der modernen Landschaftsvorstellung« (Flach 1986: 12) Es ist deutlich geworden, dass der ästhetische Landschaftsbegriff auf einem dualistischen Verständnis Mensch versus Natur gründet. Er legt die Basis für das Landschaftsverständnis beispielsweise im Naturschutzgesetz, wo dann bauliche Tätigkeiten des Menschen in der LandA
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schaft als »Eingriff« in einen – vermeintlich – idealen Zustand bewertet werden. Seit langem regt sich Kritik an dieser Auffassung von Landschaft. Der Paderborner Philosoph Rainer Piepmeier bezweifelte schon 1980 in seinem Text »Das Ende der ästhetischen Kategorie ›Landschaft‹« die Trennung von angeeigneter und umruhender Natur: »Die ästhetische Funktion des ländlichen Gefildes als der freien Natur ist (…) vergangen, wenn das Gefilde Gegenwart wurde als flurbereinigte Traktorenlandschaft oder auch als Erholungslandschaft, die ja bereits angeeignete Natur ist. Damit ist prinzipiell die für Ritters Landschaftskonzept grundlegende Trennung von Stadt und Land als Landschaft aufgehoben. Das Moment des ›Hinausgehens‹ hat die Möglichkeit seiner Realisation verloren.« (Piepmeier 1980: 34) Piepmeier fordert deshalb eine »umwendende Neuorientierung« und entwickelt eine Definition von Landschaft, die nicht von einer Vorstellung idealer Natur abhängt, sondern den Prozess der Naturaneignung thematisiert und zur Kenntnis nimmt, dass Natur inzwischen umfassend zum »Artefakt« geworden ist: »Landschaft ist der durch menschliche Arbeit und menschliches Handeln angeeignete Raum menschlichen Lebens. Es ist der natürliche Raum, in dem der Mensch lebt und der die Natur umfasst, von dessen Ressourcen er lebt.« […] Sie umfasst den gesamten Raum menschlichen Lebens, der als Produkt menschlicher Tätigkeit immer wieder neu gestaltet werden muss zur »Entfaltung menschlicher Möglichkeiten« (ebd.: 38 f.). Noch deutlicher in der Ablehnung einer Unterscheidung in technische, bebaute Umwelt und grüne Natur als Landschaft wird der Umwelthistoriker Rolf Peter Sieferle. Die seit der Industrialisierung einsetzenden Modernisierungsprozesse haben dazu geführt, dass heute alles Landschaft ist: »Der Gegensatz von Stadt und Land war für die agrarischen Zivilisationen von konstitutiver Bedeutung. Dieser Gegensatz löst sich in seiner überkommenen Form nun auf und zum Teil verkehrt sich die Topik von Stadt und Land, von Urbanität und Provinzialität in ihr Gegenteil. (…) Die Stadt ist ruhig, auf dem Land ist es laut. (…) Das Land ist geschäftig, pragmatisch, traditionslos; die Stadt ist beschaulich, träge und schützt ihre Denkmäler. Schließlich ist die Stadt naturfreundlich, während das Land die Natur hasst und bis zur Ausrottung verfolgt.« (Sieferle 1997: 192 f.) Landschaft hat heute durchgehend Artefaktcharakter – ob Natur368
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Die Relevanz von Prozess-, Struktur- und Subjektdenken
schutzgebiete oder Gewerbegebiete, alle sind Konstrukte. Zur Überraschung mancher deutet Sieferle diese Tatsache positiv und ihre Akzeptanz als geradezu notwendig für die Gestaltung der Zukunft: »Nur wenn wir heute Abschied nehmen vom Mythos dessen, was den Romantikern noch ›Natur‹ war, können wir zu einer sinnvolleren Gestaltung unserer Umwelt gelangen.« (Sieferle 1997: Klappentext) Mit diesem kurzen Abriss zum Landschaftsbegriff wollte ich deutlich machen, dass es ein altes, wirkungsmächtiges Paradigma des ästhetischen oder szenischen Landschaftsbegriffs gibt, die aktuellen Entwicklungen aber nach einem neuen Paradigma rufen. Im Folgenden möchte ich die Problematik des alten Verständnisses und die Möglichkeiten eines neuen Verständnisses an einem Beispiel zeigen.
Die Landschaft rund um den Flughafen »Berlin-BrandenburgInternational« Seit dem Hauptstadtbeschluss 1991 herrschte in Berlin Konsens, dass ein neuer Flughafen die begrenzten Kapazitäten der drei bestehenden Flughäfen Tempelhof, Tegel und Schönefeld ersetzen muss. Nach langen und schwierigen Standortdebatten wurde 1996 entschieden, den bestehenden Flughafen Schönefeld zum neuen Großflughafen »BerlinBrandenburg-International« (BBI) auszubauen. Ein Teil des umfangreichen Planungsprozesses ist ein »Landschaftspflegerischer Begleitplan«, in dem der oben beschriebene Auftrag des Bundesnaturschutzgesetzes umgesetzt wird, den Eingriff des Flughafens in den Naturhaushalt auszugleichen. Große Teile der aktuell meist landwirtschaftlich genutzten Flächen gehen zukünftig für die Gebäude und Betonflächen des Flughafens verloren. In der Methodik des landschaftspflegerischen Begleitplans wird nun zuerst der Biotopwert der vorhandenen Landschaft berechnet. Ziel ist es, den »Gesamtwert« der Landschaft zu erhalten, und da die verwandelten Flächen des neuen Flughafens aus Sicht des Naturund Landschaftsschutzes wertlos sind, muss es in der umliegenden Landschaft zu Aufwertungen kommen. Zu diesem Zweck werden beispielsweise geringwertige Flächen wie Äcker gekauft und zu hochwertigen Biotopen wie Feuchtgebieten umgestaltet. Im Falle des BBI ist ein weitverstreutes Mosaik »veredelter« Biotopflächen entstanden (vgl. Abb. 1). Dieses Ergebnis, dass die Landschaftsplanung als sektorale A
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Abbildung 1
Fachplanung der Gesamtplanung abringen konnte, ist nicht schlecht – es muss jedoch gefragt werden, ob nicht durch eine Handlungsweise mehr erreicht werden kann, die weniger auf Gegenüberstellung, sondern vielmehr auf Integration setzt. Das aktuelle Vorgehen geht von einem Naturhaushalt aus, in dem »Wegnahmen« durch irgendwelche »Zugaben« ausgeglichen und damit ein »altes« Gleichgewicht bewahrt werden kann. Dieses Verständnis orientiert sich an dem, was ist, und versucht es zu erhalten – ein statischer, historisierender Ansatz. Wie wäre es stattdessen, den »Eingriff« als neuen Bestandteil des Landschaftshaushaltes zu akzeptieren, der irreversible Rückkopplungseffekte auf die anderen Bestandteile hat und damit völlig neue Möglichkeiten für die Landschaft bewirkt? Ausgleichsflächen würden sich in diesem Verständnis nicht am Gewesenen orientieren, sondern zusammen mit den anderen Elementen der Landschaft zu einem Gefüge mit neuen Eigenschaften weiterentwickeln. Auf den Flughafen BBI bezogen versucht ein derartiger Ansatz, den Flughafen nicht nur als Störenfried zu sehen, sondern als Ausgangspunkt einer noch unbekannten, zeitgenössischen Landschaft, die 370
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Die Relevanz von Prozess-, Struktur- und Subjektdenken
für Bewohner, Erwerbstätige und Besucher gleichermaßen schön und attraktiv ist. Ziel wäre eine neue Landschaftsstruktur jenseits von Natur-Kultur-Dualismen, die sich evolutionär entwickelt. Am Beispiel eines Hauptstudienprojekts im Studiengang »Landschaftsplanung« an der TU Berlin (2000/2001; Konzeption und Durchführung Martin Prominski und Angelika Schnell) soll der Entwurf einer solchen, neuen Landschaft rund um den Flughafen gezeigt werden. Nach einer ausführlichen Analysephase bekamen die Studierenden für die Aufgabe »Landschaftsgenerator BBI« ein imaginäres Programm von 3000 Hektar Gewerbe und 500 Hektar Wohnen, das in der größeren Umgebung des Flughafens integriert werden sollten. Diese Größen wurden aus dem Vergleich mit anderen Flughäfen für einen Entwicklungszeitraum von mehreren Jahrzehnten als realistisch angesehen. Angesichts der unvorhersagbaren ökonomischen Entwicklung war ein Entwurfsgerüst gefragt, das Prozesse einerseits in bestimmte, gestaltete Bahnen lenkt, andererseits flexibel auf unterschiedliche Dynamiken reagieren kann, was in Szenarien gezeigt werden sollte.
Entwurfsbeispiel »Bandgewebe« Diese Arbeit der Studentinnen Susanne Hainer, Anja Knoth, Sigrun Langner und Katrin Staiger verfolgte die Strategie, für die vom Programm geforderten Nutzungen Gewerbe, Wohnen und ökologische Ausgleichsflächen ein festes, dem Charakter der jeweiligen Nutzung angepasstes Infrastrukturband zu definieren, an das sie angelagert werden können. Die vorgeschlagenen, strukturierenden Bänder haben einen stark geschwungenen Verlauf (vgl. Abb. 2), was zwei Vorteile bietet: einerseits werden die Bänder sehr lang und können damit problemlos das notwendige Programm unterbringen, andererseits bieten die Schwünge viel Kontaktfläche mit dem Kontext. Der Verlauf der Bänder ist nicht willkürlich, sondern wurde im ersten Arbeitsschritt anhand von Kriterien definiert: Für jede der drei Nutzungen wurden die abstoßenden beziehungsweise anziehenden Orte in der existierenden Kulturlandschaft identifiziert, um dann entlang der anziehenden Orte den optimalen Korridor für die Infrastrukturlinie zu markieren. A
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Ausgleichsband (Abb. 3) Als Ausgleichsmaßnahme für den Eingriff des Flughafens entsteht ein kombinierter Rad- und Fußweg, der entlang bestehender und neu zu entwickelnder Naturschutz- und Erholungsflächen geführt wird. Kontakt mit Gewerbe, Flughafen oder Straßen wird vermieden.
Gewerbeband (Abb. 4) Dieses Band orientiert sich an bestehender Infrastruktur wie Bundesstraßen, Autobahnen, Bahnlinien und dem Flughafen, während es bestehende Biotope meidet. Sein Zentrum bildet eine vierspurige Straße.
Wohnband (Abb. 5) Bestehende Wohngebiete sowie die Nähe zur offenen Landschaft bzw. Wäldern bestimmen den Verlauf dieses Bandes. Aufgrund von Lärmschutzrestriktionen ist ein großer Teil des Gebietes von möglicher Wohnbebauung ausgeschlossen, weshalb das Wohnband in zwei getrennte Bänder geteilt wurde. Die Wohnbebauung wird entlang einer zweispurigen Straße errichtet. Auf diese Weise erhält jedes Band eine eigene Wegetypologie, entlang derer nur die jeweilige Nutzung gestattet ist. Im »Hinterland« der jeweiligen Bänder dagegen gibt es keine Nutzungsvorgabe – hier können sich je nach Nachfrage die Nutzungen flexibel anlagern bzw. vermischen, wie in den Szenarien dargestellt wird (vgl. Abb. 6). Für die Kreuzungsbereiche zweier Bänder sind Regeln aufgestellt, welche Nutzung durchgehen darf bzw. welche unterbrochen werden muss: Ausgleich hat grundsätzlich Vorrang, Wohnen hat Vorrang vor Gewerbe. Ergänzt werden die drei Nutzungsbänder durch das Band einer Tramlinie, die das Gebiet für den öffentlichen Nahverkehr erschließt und das mit den bestehenden S- und Regionalbahnhaltestellen verknüpft wird.
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Dieser Entwurf, der die Ausgleichsflächen als unverzichtbaren Bestandteil des Gesamtkonzeptes integriert, erlaubt vielfältige Erfahrungsmöglichkeiten: Man kann sich endlos in einer geordneten, monofunktionalen Schleife bewegen, man kann ständig zwischen den Typologien wechseln, und wenn man die »klaren« Bänder Richtung Hinterland verlässt, befindet man sich in einem typischen, suburbanen Gemisch. Gleichzeitige Verwebung und Konfrontation schaffen eine ganz eigene Ästhetik dieser Landschaft. Es soll betont werden, dass dieser studentische Beitrag eine Vielzahl von Parametern nicht berücksichtigen brauchte. Insbesondere die oben kritisierten Vorgaben der aktuell gültigen Bau- und Naturschutzgesetze sind mit derartigen integrativen Projekten kaum in Einklang zu bringen. Aber auf diesen Gebieten werden aktuell von renommierten Fachleuten dringend Neuerungen gefordert, die neue Lösungen einer integrierenden Landschaftsarchitektur möglich machen könnten: »Gesetzgebung, Verwaltung und Praxis scheinen sich in Sachen Naturschutz und Landschaftsentwicklung so sehr in Sackgassen verfahren zu haben, dass ein breiter Neuanfang erforderlich ist. Der Neuanfang muss ansetzen an einer Begrifflichkeit, die den Verhältnissen angemessen ist. Der Neuanfang muss sich fortsetzen in der Ausbildung, in der zumindest Landschafts- und Stadtplanung mit je eigenen Schwerpunkten zu einem Studiengang integriert werden müssen – mit einer globalen Perspektive auf die Probleme der Welt – und sich nicht zuletzt niederschlagen in einer anderen Gesetzes- und Richtlinien-Systematik. Ein Neuanfang muss sich z. B. niederschlagen in der Novellierung eines Baugesetzbuches, das Bauen als Umweltanreicherung begreift, und einer Nutzungsverordnung, in die Natur und Landschaftsplanung integriert sind. Und nicht zuletzt müssen Verwaltung und freiberufliche Praxis aus ihrer einseitig auf Schutz und vermeintlichen Ausgleich ausgerichteten Einstellung zu einer offenen Haltung finden, die die Stadtlandschaft als zu entwickelnde Einheit begreift, einer Einheit, zu der auch Siedlung und Stadt gehören.« (Neumann/Sieverts 1997: 47) Das im Beispiel »Bandgewebe« oder in Neumann und Sieverts Kritik deutlich werdende Verständnis von Landschaft hebt die auf der cartesischen Substanzmetaphysik aufbauende dualistische Trennung zwischen Natur und Kultur auf. Es orientiert sich nicht an einem statischen, durch die Natur vermeintlich vorgegebenen Gleichgewicht, sondern an einem strukturgenetischen, entwicklungsoffeneren Ansatz 376
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und kann damit direkt in Bezug gebracht werden mit dem in diesem Band von Fetz entwickelten strukturationistischen Paradigma. Bevor ich das umfassend diskutiere, möchte ich noch einen zweiten, wesentlichen Begriff für die Gestaltung der räumlichen Umwelt auf seine aktuelle und zukünftige Bedeutung hin beleuchten.
Ökologie Der kulturelle Einfluss des Menschen auf Natur und Landschaft ist inzwischen an jedem Fleck der Erde vorhanden, wie beispielsweise die Auswirkungen des Klimawandels auch in entlegensten Gegenden belegen. Auf die Ökologie übertragen würde das bedeuten, dass der Mensch mit seinen Handlungen aktiv in die Forschungen einbezogen werden müsste. Die Realität sieht allerdings anders aus. Eine Ende des letzten Jahrzehnts im Auftrage der EU durchgeführte, umfangreiche Studie zum Stand der Ökosystemforschung stellte fest: »Das dominierende Paradigma in der Ökosystemforschung kommt aus den Naturwissenschaften und versucht, Ursache-Wirkungsbeziehungen für komplexe, systemische Modelle aufzustellen. Ein essentielles Merkmal der meisten Forschungen auf diesem Gebiet ist die klare Trennung von Subjekt und Objekt, vom Beobachter und dem System. Ökologische Systeme werden zumeist als natürliche Systeme verstanden, für die welche menschliche Aktivitäten einen Eingriff darstellen. Menschliches Verhalten mit seinen komplexen psychologischen, sozialen, ökologischen und politischen Bedingungen wird gewöhnlich nicht als Teil des Systems gesehen. Veränderungen im menschlichen Verhalten werden als Externa betrachtet.« (Schleicher-Tappeser, R./ Strati, F. 1999: 47) Ursache für diese Externalisierung des Menschen ist das traditionelle Ökologieverständnis sein. Nach Eisenhardt et al. (1995: 218 ff.) trennt es zwischen ›natürlichen‹ und ›künstlichen‹ Systemen. Erstere zeichnen sich durch ein hohes Maß an Stabilität und Harmonie aus und gelten daher als Positivum. Als das Künstliche wird der Mensch betrachtet. Er ist zwar irgendwie Teil des Systems, aber nicht integriert, denn im Grunde wird er für die Entwicklungsprozesse nicht benötigt. Vielmehr ruft er Störungen in den Naturprozessen hervor. Diese werden in der traditionellen Ökologie als lineare, auf einen Endzustand A
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(Klimax) zielende Entwicklung verstanden. Der Klimax ist im Gegensatz zu den vorhergegangenen Stadien stabil und gilt als Idealzustand, weil alle Bestandteile des Ökosystems optimal aufeinander abgestimmt und eingespielt – im Gleichgewicht – sind. Es kommt daher zu gleichsam normativen Fixierungen dieser idealen Gleichgewichtszustände (hier zeigen sich deutliche Parallelen zum Natur- und Landschaftsverständnis des Bundesnaturschutzgesetzes, z. B. der Eingriffs- und Ausgleichsregelung – siehe oben). Im Gegensatz dazu steht die »Neue Ökologie« oder »Kritische Ökologie« (Eisenhardt et al. 1995: 226 ff.). Sie erkennt den Menschen als einen der wichtigsten Faktoren der meisten Ökosysteme an und trifft keine idealisierende Unterscheidung in ›natürliche‹ und ›künstliche‹ Systeme. Weiterhin kritisieren diese Theorien eine Orientierung am »ökologischen Gleichgewicht«, das einen idealen Zustand darstellt. Statt einer gradualen, geordneten und vorhersagbaren Folge von Entwicklungsstadien hin zum Klimaxstadium betonen diese neuen Theorien die Bedeutung von Störungen. Diese sind nicht als Ausnahme eines ansonsten geordneten Ablaufes zu betrachten, sondern wichtig für hohe Biodiversität. Diese Störungen können in ihrer Frequenz, Intensität oder räumlichen Ausdehnung vom Menschen gestaltet werden. Er verlässt damit die Zuschauerposition und wird aktiver Mitspieler innerhalb der wechselwirkenden Elemente der Ökosysteme.
Fazit Ökologie Analog zur Landschaft ist das aktuelle Verständnis von Ökologie dominiert von einem klassischen, cartesischen Paradigma. Auf beiden Feldern regt sich starke Kritik an diesen Vorstellungen und es gibt eine Vielzahl neuer theoretischer Ansätze, von denen ich oben einige beschrieben habe. Aus meiner Sicht sind diese neuen, adäquateren Verständnisse von Landschaft und Ökologie notwendig, um zu einer nachhaltigeren Gestaltung unserer räumlichen Umwelt zu kommen. Aktuell stammen diese neuen Ideen allerdings aus verschiedenen Kontexten mit jeweils eigenen Logiken, was ein kohärentes Verständnis erschwert. Um ihre Durchschlagskraft zu stärken fehlt ihnen noch eine überzeugende Einbindung in ein übergeordnetes, wissenschaftstheoretisches oder philosophisches Paradigma. Das in diesem Band vorgeschlagene, auf Whitehead, Cassirer und 378
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Piaget aufbauende Megaparadigma könnte diesen »Anker« bieten, was ich im Folgenden an den drei von Fetz vorgeschlagenen konstitutiven Aspekten darstellen möchte.
Ausblick: Prozess, Struktur, Subjekt und die Gestaltung der räumlichen Umwelt Wie können die durch ideale Bilder und das Anstreben festgeschriebener Zustände geprägten aktuellen Vorstellungen von Landschaft und Ökologie überwunden werden? Die Aufrechterhaltung dieser statischen Gleichgewichtszustände, beispielsweise eine aufgrund ihrer hohen Biotopwertzahl als Ausgleichsmaßnahme festgesetzte Feuchtwiese, ist aufwendig und nicht nachhaltig. Gleichzeitig sind sie wenig flexibel für Veränderungen, sei es das Eindringen von nicht erwünschten Pflanzenarten oder neue Nutzungsideen des Menschen. Letztere würden im Sinne des Naturschutzgesetzes wieder einen neuen Eingriff darstellen, der festgesetzte Wert der Landschaft würde sich verringern. Damit zeigt sich auch für Landschaft und Ökologie der von Fetz festgestellte »Common sense«, der bestimmte Zustände, ein »Sein« an erste Stelle stellt, und Prozesse – das Wirken – an zweite Stelle: »Für den Common sense ist das Sein das Erste und das Wirken ein Zweites. Um zu wirken, muss man existieren. Die scholastische Ontologie hat das dadurch zum Ausdruck gebracht, dass sie das esse, den Seinsakt, als actus primus, das agere, den Wirkakt, als actus secundus bezeichnet hat.« (Fetz oben S. 41) Ein konsequentes Prozessdenken im Sinne Whiteheads würde das statische Verständnis der räumlichen Umwelt im wahrsten Sinne des Wortes »undenkbar« werden lassen. Nach Whitehead steht kein Zustand (oder »Sein«) einer Landschaft oder eines Ökosystems im Vordergrund, sondern ihr kontinuierliches Werden. Natur besteht nicht aus Materie einerseits und Bewegung andererseits, sondern Prozesse und die Relationen zwischen verschiedenen Prozesseinheiten sind entscheidend: »Die Natur ist ein Schauplatz für die Wechselbeziehungen von Aktivitäten. Alle Dinge sind im Wandel, die Aktivitäten und die Wechselbeziehungen.« (Whitehead in Rust 1990: 130) Auch Cassirer betont die Bedeutung von Prozessen, wenn er sagt: »Wir müssen, um den Aufbau und Sinn der Kultur zu verstehen, eine Metaphysik des Prozesses setzen« (In: Krois 1995: 240). Fetz zeigt auf, A
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wie Cassirer dieses Prozessverständnis in Bezug zur Gestaltung setzt: »Jeder Gestaltungsprozess weist aber selbst auf die Gestaltkraft einer vorgängigen Form zurück. So kommt Cassirer zur Unterscheidung zwischen forma formans und forma formata, die nicht absolut, sondern relativ zu sehen ist: Was als forma formata am Ende des Gestaltungsprozesses einer forma formans steht, kann selbst wiederum in seiner Verjüngung als forma formans den Anfang eines neuen Gestaltungsprozesses bilden.« (Fetz oben S. 48) Für die Gestaltung der räumlichen Umwelt bedeutet eine derartige Haltung, die geformte Gestalt immer schon als formende Gestalt mitzudenken und kein ideales Ziel anzuvisieren. Hier kommt der Begriff der Struktur ins Spiel, denn jede Gestaltung hat die Setzung einer Struktur zur Grundlage. Aber diese Struktur darf nicht als statisches Pendant zum Prozess verstanden werden. Strukturen sind immer nur Momentaufnahmen, die sich durch Wechselwirkungen mit der Umwelt kontinuierlich verändern. Ein Kohlweißling hat eine bestimmte Grundstruktur, die sich aber je nach Lebensort ändert – mal ist er weißer, mal grauer. Diese hohe Bedeutung von Relationalität bedeutet für die Gestaltung der räumlichen Umwelt das Entwerfen von Strukturen, die flexibel auf Änderungen reagieren können – siehe oben das Beispiel »Bandgewebe«. Struktur und Prozess sind also eng gekoppelt, was Fetz im Sinne von Piaget als »genetischen Strukturalismus« beschreibt. Das in diesem Band vorgeschlagene Prozess- und Strukturdenken braucht aber notwendig auch ein Subjektdenken, dass die traditionellen, dualistischen Vorstellungen von Mensch versus Natur sprengt. Fetz spricht vom reformierten subjektivistischen Prinzip, nach dem es nicht mehr den Mensch und die Dinge gibt, sondern Mensch und Dinge werden als unauflösbares Relationenfeld gesehen, dass sich in kontinuierlicher Entwicklung befindet. Dieses gilt bis in die kleinsten Teilchen, wo es keine abtrennbaren Dinge gibt, sondern aktive Quanten »bilden Kraftfelder um sich, agieren und interagieren mit ihrer Umwelt.« (Fetz oben S. 38) Whitehead erfindet den neuen Terminus »subject-superject«, wo das Subjekt durch den Veränderungen bedingenden, ständigen »Austausch« mit der Umgebung immer wieder über sich hinaus weist, also Super-ject wird. Damit löst Whitehead eines der aus seiner Sicht größten Probleme der westlichen Philosophie und Wissenschaft auf, die Zweiteilung der Natur (»bifurcation of nature«) in Subjekt und Objekt, Mensch und Natur. Auf dieser Basis kann Natürliches und Künstliches nicht mehr getrennt werden, was produktiv 380
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für neue Verständnisse und die Gestaltung von Landschaft und Ökologie ist. Wie soll ein menschlicher Eingriff in die Natur bewertet werden, wenn diese Natur schon unauflöslich mit der Kultur verschmolzen ist? Oder wo hört der vom Menschen geprägte Innenbereich auf, wo beginnt der Außenbereich der Natur – können bzw. sollen wir diese Grenze noch ziehen? Abschließend möchte ein innovatives Projekt aus der Gestaltung der räumlichen Umwelt im Sinne des Megaparadigmas mit seinen eng verknüpften Aspekten Prozess, Struktur und Subjekt interpretieren. Es handelt sich um den Wettbewerbsbeitrag »Emergent Ecologies – Cultivating a landscape of endless possibility« des Landschaftsarchitekten
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James Corner für die Nachnutzung eines ehemaligen Militärflughafens in Toronto aus dem Jahr 2000. Die Wettbewerbsauslobung verlangte eine Struktur für die Transformation des Geländes, die gleichzeitig eine Offenheit für zukünftige Veränderungen zulassen sollte, und sie forderte ausdrücklich eine Auseinandersetzung mit der Vielschichtigkeit heutigen ökologischen Denkens, um »new ecologies« zu schaffen. Corner schlug zwei strukturgebende Elemente vor, die miteinander verknüpft sind (Abb. 7): Die »Circuits« sind fünf Rundwege mit unterschiedlichem Charakter und Breiten zwischen 20 und 120 Meter. Sie leiten und konzentrieren die Aktivitäten der Besucher. Die »Through-Flows« sind der eigentliche Beitrag zur Schaffung neuer ökologischer Strukturen. Sie sind Flächen mit unterschiedlicher Neigung, durch die das auf dem Gelände gesammelte Oberflächenwasser geleitet wird. Je nach Bodeneigenschaften und Neigungsgrad wird das Wasser unterschiedlich lange gehalten. Dieses Wassermanagement schafft im Gelände trockene und feuchte Bereiche, auf denen im Laufe der Jahre durch Sukzession vielfältige Biotope wie Moore/Sümpfe, Gehölzbestände und Steppen entstehen können (Abb. 8). In diesem Konzept wird also eine Struktur entwickelt, die ganz bewusst nicht fertig ist, sondern Prozesse geradezu benötigt, um sich zu einem immer attraktiveren Park zu entwickeln. Diese Akzeptanz von Ungewissheit – denn die genaue Entwicklung der Pflanzen- und Tierwelt innerhalb der Felder ist nicht vorhersehbar – ist in der Gestaltung noch eine sehr seltene Haltung. Auch eine Trennung zwischen Natur und Kultur macht bei diesem Park keinen Sinn: Die technischkonstruktiven Setzungen der »Circuits« und »Through-Flows« sind unmittelbar verschmolzen mit den natürlichen Prozessen, die sie in Gang setzen. Alle Elemente des Parks, seien es Menschen, Tiere, Pflanzen oder Asphalt, werden zu »subject-superjects«, die in ihren kontinuierlichen Wechselwirkungen immer wieder neu über sich hinausweisen. Dieses innovative Parkkonzept hat den Wettbewerb zum Downsview Park nicht gewonnen. Den ersten Preis erhielt der Beitrag »Tree City« des Teams um Bruce Mau und Rem Koolhaas, die stark mit klassisch-romantischen Bildern arbeiteten und fast ausschließlich die statischste, introvertierteste Form – den Kreis – nutzten. Projekte wie »Emergent Ecologies«, die Struktur, Prozess und Subjekt in den Vordergrund stellen, sind noch die Ausnahme und selten mehrheitsfähig. 382
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Es muss noch viel Denk- und Überzeugungsarbeit geleistet werden, und hier liegt die Chance des Megaparadigmas. Kann es so formuliert, so verdichtet werden, dass die zehntausende Menschen in Deutschland, die sich mit der Gestaltung der räumlichen Umwelt beschäftigen, zur Basis ihrer Arbeit machen können? Fakt ist, dass momentan noch ein begriffliches Vakuum herrscht. Wenn wir, wie viele Kritiker fordern, eine prozessorientierte, flexiblere Landschaftsgestaltung entwickeln wollen, und wenn wir Landschaftsgestaltung als einen Hybrid zwischen vormaligen Antagonisten wie Architektur und Landschaft, Kultur und Natur, Kunst und Ökologie verstehen wollen, dann bietet das Megaparadigma ein starkes theoretisches Fundament und kann damit einen Beitrag zur nachhaltigen Gestaltung unserer räumlichen Umwelt leisten.
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