Bücher für die Wissenschaft: Bibliotheken zwischen Tradition und Fortschritt ; Festschrift für Günter Gattermann zum 65. Geburtstag [Reprint 2013 ed.] 9783111502687, 9783598112058


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German Pages 572 Year 1994

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Table of contents :
Vorwort des Herausgebers
Historischer Teil. Buch- und Geistesgeschichte
On Some Manuscripts and Versions of the Anglo-Norman Manuel des Pechez
Die Bibliothek als literarisches Thema im Humanismus und in der Moderne
Die Druckerverleger des katholischen Deutschlands. Zwischen Augsburger Religionsfrieden 1555 und Westfälischem Frieden 1648
Gott, die Menschen und die Pest. Vom Umgang mit Pestkranken um 1600 am Beispiel des Fürstbistums Lüttich
Pränatales zur Erstausgabe des Nathan. Neue Untersuchungen zur Interdependenz von Autor, Werk und Drucklegung
Die Spee-Forschung seit 1950
Die Demokratische Revolution in Osteuropa und das deutsche Geschichtsbild
Bibliotheks- und Landesgeschichte Wilhelm Janssen
Bemerkungen zur Residenzbildung in Düsseldorf
Festung und Forschungszentrum. Jülicher Spiegelungen
Bibliotheca rediviva. Ein Quellenfund zur jülich-bergischen Rechtsgeschichte
Tote und "scheintote" Literatur. Miszelle zu einem bisher unbekannten Erlaß U I Nr. 43 vom 9.1.1905 von Fr. Althoff
Die ersten Jahre. Die Universitäts- und Stadtbibliothek Köln unter Klemens Löffler
Die Westdeutsche Büchereischule in Köln 1946 bis 1949. Ein Beitrag zur Geschichte der bibliothekarischen Ausbildung in Nordrhein-Westfalen
Die Inkunabeln in der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften zu Lissabon
Düsseldorfer Bibliotheken und ihre Bestände
Vom Sakramentar zum Missale. Bemerkungen zu drei liturgischen Handschriften der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf
Düsseldorfer Bibliotheken des Mittelalters und der frühen Neuzeit
Ein fürstliches Geschenk für Düsseldorfs "öffentliche Bibliotheque". Dubletten der Mannheimer Hofbibliothek
Literaturarchiv und Privatsammlung. Zur Erwerbungsgeschichte des Heinrich-Heine-Instituts, Düsseldorf
Tod und Totentanzsammlung. Oder: von einem notwendigen, aber stets mißglückenden Versuch, Wissensgrenzen zu überwinden
Bibliothekswissenschaftlicher Teil. Kultur und Politik
Der Erwerb der Handschriftensammlung der Fürstlich-Fürstenbergischen Hofbibliothek Donaueschingen
Restitution kriegsbedingt verlagerter Kulturgüter. Ein neues Kapitel zur Rückführung deutscher Bücher aus Rußland
Osteuropas Nationalbibliotheken im Umbruch
Klaus Gerhard Saur 80 Jahre Deutsche Bücher. Haben wir eine Nationalbibliothek?
Schwierige Anfänge in Frankfurt (Oder). Mitteilungen über die Entstehung einer Universitätsbibliothek
Reflections on Alma Mahler
Grenzen des Bestandswachstums in wissenschaftlichen Bibliotheken
Kooperation und Koordination
Der Arbeitskreis Bibliotheksgeschichte der IFLA. Aufgaben, Entwicklung und Ergebnisse seit 1977
Einige Gedanken zur Zusammenarbeit wissenschaftlicher Bibliotheken
Von der Arbeitsgemeinschaft der Hochschulbibliotheken zur Sektion 4 im Deutschen Bibliotheksverband
Die Nordrhein-Westfälische Bibliographie
Nomen est omen. Oder: kleine Anmerkungen zum Begriff Fachbibliotheken im System der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf
Zum Selbstverständnis von Bibliothek und Information
Informationswissenschaft als angewandte Anthropologie. Der Düsseldorfer Ansatz
Wissenschaft und Information. Der Nürnberger Trichter bleibt unerfunden
Bibliothek und Datenverarbeitung
Strategies for the further development of library networks
Verbundkonzepte im Wandel. Vom zentralen Verarbeitungssystem zur Client-Server-Architektur
Die Informationsversorgung der Hochschulen. Eine Gemeinschaftsaufgabe der Universitätsbibliotheken und der Hochschulrechenzentren
Datenbank statt Gesamtkatalog. Zur Methodik großer, mit EDV hergestellter Bestandsverzeichnisse
Sokrates in der Bewährung. 2 Jahre lokales Bibliothekssystem an der Universitätsbibliothek Augsburg
Tanz um den Katalog. Online-Kataloge zwischen Benutzerfreundlichkeit und Regeltreue
Günter Gattermann zum 65. Geburtstag
Bibliographie Günter Gattermann
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Recommend Papers

Bücher für die Wissenschaft: Bibliotheken zwischen Tradition und Fortschritt ; Festschrift für Günter Gattermann zum 65. Geburtstag [Reprint 2013 ed.]
 9783111502687, 9783598112058

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Bücher für die Wissenschaft Bibliotheken zwischen Tradition und Fortschritt

Festschrift für Günter Gattermann zum 65. Geburtstag

Herausgegeben von Gert Kaiser in Verbindung mit Heinz Finger und Elisabeth Niggemann

K· G-Saur München · New Providence · London · Paris · 1994

Gedruckt mit Unterstützung der Gesellschaft von Freunden und Förderern der Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf e.V.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Bücher für die Wissenschaft : Bibliotheken zwischen Tradition und Fortschritt ; Festschrift für Günter Gattermann zum 65. Geburtstag / hrsg. von Gert Kaiser in Verbindung mit Heinz Finger und Elisabeth Niggemann. - München ; New Providence ; London ; Paris : Saur, 1994 ISBN 3-598-11205-X NE: Kaiser, Gert [Hrsg.]; Gattermann, Günter: Festschrift ©

Gedruckt auf säurefreiem Papier Alle Rechte vorbehalten / All Rights Strictly Reserved K.G. Saur Verlag GmbH & Co.KG, München 1994 A Reed Reference Publishing Company Printed in the Federal Republic of Germany Jede Art der Vervielfältigung ohne Erlaubnis des Verlags ist unzulässig Druck: Strauss Offsetdruck, Mörlenbach Binden: Buchbinderei Schaumann, Darmstadt ISBN 3-598-11205-X

Inhalt Vorwort des Herausgebers

IX

Historischer Teil Buch- und Geistesgeschickte WILHELM G. BUSSE

On Some Manuscripts and Versions of the Anglo-Norman Manuel des Pechez

3

LUDWIG SCHRÄDER

Die Bibliothek als literarisches Thema im Humanismus und in der Moderne

21

WILFRIED ENDERLE

Die Druckerverleger des katholischen Deutschlands. Zwischen Augsburger Religionsfrieden 1555 und Westfälischem Frieden 1648

37

HANSGEORG MOLITOR

Gott, die Menschen und die Pest. Vom Umgang mit Pestkranken um 1600 am Beispiel des Fürstbistums Lüttich

61

WOLFGANG SCHMITZ

Pränatales zur Erstausgabe des Nathan. Neue Untersuchungen zur Interdependenz von Autor, Werk und Drucklegung

71

KARL-JÜRGEN MIESEN

Die Spee-Forschung seit 1950

89

WOLFGANG J. MOMMSEN

Die Demokratische Revolution in Osteuropa und das deutsche Geschichtsbild

99

Bibliotheks- und Landesgeschickte WILHELM JANSSEN

Bemerkungen zur Residenzbildung in Düsseldorf

111

GERT KAISER

Festung und Forschungszentrum. Jülicher Spiegelungen

121

ROLF GILBERT

Bibliotheca rediviva. Ein Quellenfund zur jülich-bergischen Rechtsgeschichte

129

V

HARTWIG LOHSE

Tote und "scheintote" Literatur. Miszelle zu einem bisher unbekannten Erlaß U I Nr. 43 vom 9.1.1905 von Fr. Althoff

143

SEVERIN CORSTEN

Die ersten Jahre. Die Universitäts- und Stadtbibliothek Köln unter Klemens Löffler

159

RUDOLF JUNG

Die Westdeutsche Büchereischule in Köln 1946 bis 1949. Ein Beitrag zur Geschichte der bibliothekarischen Ausbildung in Nordrhein-Westfalen

179

ROLF NAGEL

Die Inkunabeln in der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften zu Lissabon

195

Düsseldorfer Bibliotheken und ihre Bestände JOSEF SEMMLER

Vom Sakramentar zum Missale. Bemerkungen zu drei liturgischen Handschriften der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf

201

HEINZ FINGER

Düsseldorfer Bibliotheken des Mittelalters und der frühen Neuzeit

213

JÜRGEN SCHÜLER

Ein fürstliches Geschenk für Düsseldorfs it "öffentliche Bibliotheque". Dubletten der Mannheimer Hofbibliothek

237

JOSEPH A . KRUSE

Literaturarchiv und Privatsammlung. Zur Erwerbungsgeschichte des Heinrich-Heine-Instituts, Düsseldorf

261

ALFONS LABISCH

Tod und Totentanzsammlung. Oder: von einem notwendigen, aber stets mißglückenden Versuch, Wissensgrenzen zu überwinden

VI

273

Bibliothekswissenschaftlicher Teil Kultur und Politik HANS-PETER GEH

Der Erwerb der Handschriftensammlung der FürstlichFürstenbergischen Hofbibliothek Donaueschingen

283

JÜRGEN HERING

Restitution kriegsbedingt verlagerter Kulturgüter. Ein neues Kapitel zur Rückführung deutscher Bücher aus Rußland

293

KLAUS-DIETER LEHMANN

Osteuropas Nationalbibliotheken im Umbruch

305

KLAUS GERHARD SAUR

80 Jahre Deutsche Bücher. Haben wir eine Nationalbibliothek?

313

BERNHARD ADAMS

Schwierige Anfange in Frankfurt (Oder). Mitteilungen über die Entstehung einer Universitätsbibliothek ROLF SCHUURSMA

Reflections on Alma Mahler

325 343

WOLFGANG KEHR

Grenzen des Bestandswachstums in wissenschaftlichen Bibliotheken

357

Kooperation und Koordination PAUL KAEGBEIN

Der Arbeitskreis Bibliotheksgeschichte der IFLA. Aufgaben, Entwicklung und Ergebnisse seit 1977

369

ANTONIUS JAMMERS

Einige Gedanken zur Zusammenarbeit wissenschaftlicher Bibliotheken

389

DIETER STÄGLICH

Von der Arbeitsgemeinschaft der Hochschulbibliotheken zur Sektion 4 im Deutschen Bibliotheksverband

403

ROSWITHA POLL

Die Nordrhein-Westfälische Bibliographie

419

ANNEMARIE NILGES

Nomen est omen. Oder: kleine Anmerkungen zum Begriff Fachbibliotheken im System der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf

431 VII

Zum Selbstverständnis von Bibliothek und Information NORBERT HENRICHS

Informationswissenschaft als angewandte Anthropologie. Der Düsseldorfer Ansatz

445

PETER RAU

Wissenschaft und Information. Der Nürnberger Trichter bleibt unerftinden

463

Bibliothek und Datenverarbeitung LOOK COSTERS

Strategies for the further development of library networks

475

HEINZ-WERNER HOFFMANN

Verbundkonzepte im Wandel. Vom zentralen Verarbeitungssystem zur Client-Server-Architektur

483

JAN KNOP

Die Informationsversorgung der Hochschulen. Eine Gemeinschaftsaufgabe der Universitätsbibliotheken und der Hochschulrechenzentren

495

GOTTFRIED MÄLZER

Datenbank statt Gesamtkatalog. Zur Methodik großer, mit EDV hergestellter Bestandsverzeichnisse

501

RUDOLF FRANKENBERGER

Sokrates in der Bewährung. 2 Jahre lokales Bibliothekssystem an der Universitätsbibliothek Augsburg

511

ELISABETH NIGGEMANN

Tanz um den Katalog. Online-Kataloge zwischen Benutzerfreundlichkeit und Regeltreue

527

ELISABETH NIGGEMANN

Günter Gattermann zum 65. Geburtstag

545

Bibliographie Günter Gattermann

549

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

557

VIII

Vorwort

Es ist schwer vorstellbar, daß der Leiter einer großen Universitätsbibliothek nicht bisweilen von dem Alpdruck heimgesucht würde, er könne der anbrandenden Büchermassen nicht Herr werden. Für Günter Gattermann läßt sich das ex negativo durch eine Art Zwangshandlung erschließen. So vergißt er niemals, den zahlreichen Besuchergruppen seiner Bibliothek die sinnreich-vorausschauenden, von ihm schon beim Bau angeregten Erweiterungsmöglichkeiten der Stellfläche zu zeigen. Wenn nun einem Bibliothekar, dem die Sorge vor der BücherVerstopfung also täglich gegenwärtig ist, gleichwohl eine Festschrift gewidmet wird, dann mag das nicht ganz ohne ironische Pointe sein. Hinzu kommt, daß gerade die Gattung der Festschrift wieder einmal ins Gerede gekommen ist. Der Soziologe Wolf Lepenies hat sich kürzlich zur Lage der Festschrift in Deutschland verbreitet, und er sei zitiert, weil einige seiner Bemerkungen durchaus vom Empfänger dieser Festschrift stammen könnten: "Deutschland ist an der Bücherschwemme in besonderem Maße schuld, weil die dafür mitverantwortliche Festschriftenepidemie nirgends schlimmere Auswüchse angenommen hat als bei uns. Vor ein paar Wochen erhielt ich die Aufforderung, zur Festschrift eines gerade fünfzigjährigen Kollegen einen Beitrag zu liefern. In einer Zeit, da deutsche Professoren auf ein Lebensalter von 85 Jahren hoffen dürfen, wächst die Zahl der Autoren, die in ihrem Leben mindestens drei, wenn nicht sechs Festschriften erhalten, weil diese immer stärker im Fünijahresrhythmus publiziert werden. Und da jeder, der zu einer Festschrift einen Beitrag liefert, umgehend eine Festschrift auch für sich erwartet, ist deutlich, daß nur der Begriff der 'Epidemie' der Problemlage gerecht wird. Wir sollten den Anfang machen und Festschriften verbieten. (...) Ich weiß nicht, was aus dem Plan Harald Weinrichs und Wolfgang Raibles geworden ist, eine AFL, eine Anti-Festschrift-Liga, zu gründen, wo diejenigen spielen, die keine eigene Festschrift bekommen und zu keiner Festschrift (mehr) beitragen. Dies ist eine Bundesliga, die uns noch fehlt." Wir warten nun auf die Festschriften für Weinrich, Raíble und Lepenies. Nun gibt es indes Einladungen für Festschriften, die als so selbstverständlich und gemäß empfunden werden, daß an ihnen alles Eiferertum und aller Sarkasmus abprallt. Der Herausgeber dieses Bandes hat diese wohltuende Erfahrung gemacht, als er IX

einen keineswegs homogenen Kreis von möglichen Beiträgern ansprach. Bei keinem der Wissenschaftler, Bibliothekare, Verleger ein Zieren oder Zögern, keine Nachfrage, kein Erstaunen. Günter Gattermann ist in der gelehrten und im engeren Sinne bibliothekarischen Welt so angesehen, daß es geradezu als Auszeichnung der jeweiligen Zünfte begriffen wird, wenn er eine Festschrift erhält. Sein 65. Geburtstag ist für die Heinrich-Heine-Universität ein Einschnitt. Zu sehr ist er mit dem Neubau unserer Universitätsbibliothek, mit dem Aufbau und der ständigen Modernisierung einer leistungsfähigen Literaturversorgung, mit der Pflege und Restaurierung der Altbestände und mit der Präsentation unserer Universität in einer breiten Öffentlichkeit verbunden, als daß sein Ruhestand nicht als Verlust für die universitäre Gemeinschaft empfunden würde. Schließlich hat er das Ansehen seiner Universität gemehrt durch eine Fülle ehrenvoller Berufungen in nationale und internationale Gremien. Auch hat er über all die Jahre markante bibliothekspolitische Akzente in unserem Bundesland und darüber hinaus gesetzt. In der Universität ist er eine sichtbare Persönlichkeit geworden und geblieben: hochrespektiert in seiner Sachkompetenz, in seinem Denken stets nach Zukunftswegen ausblickend und daher ein gesuchter Gesprächspartner, in seinem Handeln ein Mann mit Augenmaß, ein Genie der Organisation und ein Muster an Überzeugungskraft - und vielfach bewundert in seiner Eloquenz. Die sieben Kapitel dieser Festschrift zeigen die geistigen Räume und die Handlungsfelder dieses Mannes auf. Sie sind darin auch Zeugnisse einer staunenswerten Verbindung kontemplativer und aktiver Lebensformen. Für die mannigfache Unterstützung bei der Herausgabe dieses Bandes danke ich Heinz Finger und Elisabeth Niggemann, für einen maßgeblichen Druckkostenzuschuß der verdienstvollen Gesellschaft von Freunden und Förderern der Heinrich-Heine-Universität und ihrem Präsidenten Rolf Schwarz-Schütte und für die sorgfältige verlegerische Betreuung Klaus G. Saur.

Professor Dr. Gert Kaiser Rektor der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Im Januar 1994

χ

Buch- und Geistesgeschichte

Wilhelm G. Busse

On Some Manuscripts and Versions of the Anglo-Norman Manuel des Pechez

On first sight, it may not seem feasible to present a paper which according to its title will deal with a manual giving instruction on the vices of the world, to a man in his sixties who is on the point of retiring from a safe position among the world of books, "fortified securely with ranks of letters" (as an Anglo-Saxon charter of A.D. 995 has it); and who now that he is free from the duties and troubles of his position as head of our University Library, will probably be looking out for what the world still holds in store for him, apart from books and letters. As a man of his learning and experience will need no moral advice on worldly matters, deriving from the middle ages at that, it is fortunate that the "vices" I am going to deal with do not concern things moral and spiritual (the contents of the Manuel des Pechez), but rather some of the manuscripts and versions of this Anglo-Norman handbook for confessors and laymen. With my paper, I gratefully acknowledge Günter Gattermann's interest in and furthering of things medieval, especially the preservation of manuscripts and early prints which have always been one of his major concerns. The Anglo-Norman Manuel des Pechez was evidently well-known and wide-spread in England, from about 1250 or 1260 onwards. The Manuel has long been well-known as a text of major importance in the history of language and literature: some 27 manuscripts have survived to our day; it was used as a source for English versions in verse and prose; and as far as is known today manuscripts were distributed throughout England. Despite its importance, however, the Anglo-Norman poem has not yet received the attention it deserves. Apart from two major studies by Charlton G. Laird and Emile J. Arnould, the Manuel is mostly mentioned in passing only, be it in literary histories or in contributions concerned with confessional literature.1 We do even not have a reliable modern edition of the text: Furnivall's two editions of British Library MS Harley 273 (with parts of BL MS Harley 4657) are full of mistakes; the first is not easily available, and the second presents only a selection from the text. 2 I therefore have to beg my readers' patience for the fact that I use unpublished manuscript versions in order to 1 2

The two major studies, apart from a few earlier articles, are Arnould 1940, Laird 1940. Furnivall's idea was to supplement his editions of Robert Mannyng's Middle English version of the Manuel by those lines of the French source which roughly correspond to the Middle English; he edited the Anglo-Norman text from MSS Harley 273 and 46S7 for the Roxburghe

3

WILHELM G. BUSSE

argue about their relationship; in this paper, I will restrict my discussion mainly to one version now in Cambridge University Library (CUL MS Ee.1.20), and to three others in the British Library (BL MSS Harley 4971, Royal 20.B.xiv, and Arundel 288), only occasionally adding evidence from other sources. Arnould as well as Laird saw a more or less close relationship between these four versions of the Manuel, and indeed the manscripts in question seem to bear them out. However, Arnould's and Laird's grouping of the respective versions will not stand up to close scrutiny. As is evident from his stemma of manuscripts, Arnould thought BL MSS Royal 20.B.xiv and Arundel 288 (his D and E manuscripts respectively) to be at least two steps removed from an original text; they are thegrandchildren so to speak of what he considered to be the original, "le texte primitif du Manuel" [Arnould 1940:105], though he conceded elsewhere in his study that these two grandchildren show marked dissimilarities. He further grouped BL MS Harley 4971 (his C) and CUL MS Ee.1.20 (his I), together with other manuscripts, as loosely related descendants of a conflated version which in turn is said to stem partly from Arundel 288 (E), and partly from a different family branch, especially from a text in a manuscript now in York Cathedral Library (his T, MS XVI.K.13). In short, then, his hypothetical pedigree of manuscripts shows BL Royal 20.B.xiv and Arundel 288 to be one step, if not more steps removed from BL Harley 4971 and CUL Ee.1.20, the intermediary leading to new versions or remaniements in the latter two manuscripts [Arnould 1940:106, cf. table 1 on p. 3], Implied in his construction of this stemma is a rather neat chronology in the development of a text which was copied time and again, and re-written or reorganised in a process of text production covering at least some decades; according to Arnould, Harley 4971 and Ee.1.20 therefore represent copies of a (much?) later stage in the text's development towards what he considered to be "la version 'definitive'," as for example that found in Cambridge University Library MS Mm.6.4.3 That is: in establishing the texts' relationship, Arnould proceeded on the assumption that we have a mouvance des textes from "primitif" to "définitif. " It follows,

3

4

Club, and again from Harley 273 (with variants) for the Early English Text Society: cf. Furnivall 1862, 1901-3. Arnould 1940:377-8. Because of its relative linguistic and metrical excellence, Arnould tended to dismiss the Mm.6.4 version as "tardive," the work of a later, but intelligent scribe, and to date the MS rather late (mid 14th century): "C'est sans doute le plus tardif de ceux que nous connaissons" [378]. This MS, written in one hand up to that point, contains a reference to Quarr Abbey on folio 177 (there are 262 folios in the present binding), saying "Iste liber est de armariolo monasteri! Beate Marie de Quarreria, quem qui subtraxerit, anathema sit et interminabilem Dei maledictionem incurrat. amen, amen"); it also contains references to Richard Wich, bishop of Chichester, John Godard, abbot of Newnham, and Robert Grosseteste, bishop of Lincoln, all three references pointing to the middle of the 13th century: how can we then be sure that the text is a late production, that Mm.6.4 is not a faithful copy of an earlier version, its language and metrics exhibiting the standards of a competent contemporary speaker?

On Some Manuscripts

and Versions

of the Anglo-Norman

Manuel

des

Pechez

Es

Τ C-W

I

V

Q-U

F-L-0

B-I

Μ

Κ

M V

ΑΪ I G H

N R

Table 1: Arnould's rtetnma of MSS (0=orlgbul, α, a 1 and a 2 hypothetical versions, D, E, C, I the MSS ander discussion)

Primitive Manuel

Table 2: Laird's stemma of MSS (Roy, E, H, Ar the MSS under discussion)

5

WILHELM G . BUSSE

that at least some of his arguments about the relative position of a given version in this development depend on a ruling hypothesis, namely his concept of a rather clear-cut and orderly chronology from supposed original to definitive versions. As they are sufficiently vague, the dates of the manuscripts do not play a role of any importance in the establishment of his pedigree.^ Laird, sticking to the traditional datings of the manuscripts, grouped them differently. After examining most of them, he was astonished to realize that "Certain manuscripts which were superficially similar proved upon reading to be quite different... I was forced to conclude that there was a large and perhaps complicated group of manuscripts whose character had not been suspected; furthermore, there seemed to be manuscripts which had changed their family affiliation and become composite ... In any event, it was clear that the manuscripts of the Manuel had been sufficiently numerous to encourage extensive 'correction', in fact, I should estimate that there are very few manuscripts of the Manuel which have not been contaminated" [Laird 1940:18-9],

These observations led him first to classify - like Arnould - the texts and their manuscripts according to the disposition and exclusion or inclusion of the larger units of the poem, its "books" or parts. Second, he used extensive transcripts in order to compare some passages line by line, to further subdivide or correct his first classification. Whereas Arnould considered the versions in the four manuscripts in question to be more or less closely related members of two groups in which BL MSS Royal 20.B.X1V and Arundel 288 belong to the fourth generation and BL MS Harley 4971 and CUL MS Ee.1.20 to the next, these four versions show up in three different groups in Laird's pedigree, with the implication that all existing versions belong roughly to the same generation, namely to the second half of the 13th century, or, more precisely, to its fourth quarter [1940:337, 339^0], BL Arundel 288 is said to stem from a lost "archtype" of a group II. BL Harley 4971 and CUL Ee.1.20 are said to belong to a group ΠΙ deriving from a lost "archtype" ΙΠ which, in its development, had some connections with group II, but also with group I to which BL Royal 20.B.xiv is said to belong; according to Laird, this latter version is also related with an early lost version of "archtype" II [cf. table 2 on p. 3]. Group III, this is the gist of Laird's arguments, seems to belong to the oldest tradition, while group II texts represent a younger one; group I represents expanded versions which in turn are the latest redactions of the lost "archtypes" and the original [1940:319-20, 323, 325-9]. There is then, so it seems, no direct 4

6

On the basis of various authorities, Amould dated BL Anindel 288 (E) to the third quarter of the 13th century ["c'est probablement le plus ancien de nos mss," 1940:373], Royal 20.B.xiv

On Some Manuscripts and Versions of the Anglo-Norman Manuel des Pechez

connection between three of these four versions, as they appear only to be related via ancestors which are by at least three to four generations removed from their descendants. 5 Whereas Arnould is rather silent on the assumptions with which he approached the texts and their manuscripts, Laird is outspoken enough to enable us to demonstrate that both scholars proceed on hypotheses which may not be very valid ones. For despite all his different groupings, the results of Laird's discussion are very similar to Arnould's, for the following reasons. First: both think of the text of the poem in terms of a closed unit, an "original" presented to the world of its audience as an authoritative work with a "character" of its own, from which we might eventually deduce the (anonymous) author's character, too. "Rien ne permet de mettre en doute l'authenticité des cinq premiers livres ... [et] ... d'une partie du livre VII ... Tout le reste est suspect à quelque degré" [Arnould 1940:104]. "The Manuel was originally written as a treatment of sins, as a manual for those who wished to avoid and confess sin ... The work was anonymous ... The work became popular and was an accretion point for doctrinal and devotional material ..." [Laird 1940:335].6 Second, Arnould and Laird assume that this original Manuel was gradually expanded. Whatever is different from the alleged contents of their reconstructed original thus quite naturally becomes a later addition to the original text; it further follows that despite all comparisons of line readings, the so-called addition's presence or absence in a manuscript will be the one dominant criterion according to which the pedigrees have to be reconstructed. It lies within the consequence of this assumption of a gradual expansion, that in both reconstructions of the textual history we get superficially convincing chronologies which imply a more or less long lapse of time between the original composition and its later redactions. "Nous pouvons donc, semble-t-il, conclure que la composition du Manuel des Péchés se place dans le troisième quart du XIIIe siècle

5

6

(D) to the end of the 13th [1940:371], Harley 4971 (C) and CUL Ee.1.20 (I) to the beginning of the 14th century [1940:369, 379], Without giving any reason for his change of mind, Laird grouped differently in an article deriving from and referring to his dissertation in which he included MSS S, Ph, H (= Harley 4971) from group Π in group I, seeing a very close connection especially between Harley and Arundel (which is what these two MSS actually bear out); cf. Laird 1941:122, and 103 where he simply says that line readings relate Harley "especially to Ar [= Arundel].'' The new grouping is repeated in Laird 1946. Cf. Arnould 1940, Laird 1940, 1941, 1943, 1946, all passim. For the original author's character, cf. again Amould and Laird passim, e.g. "The first [i.e. the author of the supposed original] was a pious, sober, orderly, practical, understanding, and somewhat pedestrian person, fertile in homely platitudes" [Laird 1945:304], or "Tout compte fait, malgré ses limitations et ses défauts, le modeste auteur du Manuel a bien accompli ce qu'il se proposait, il a tenu les promesses de son Prologue. Avons-nous le droit d'en exiger davantage?" [Amould 1940:289].

7

WILHELM G . BUSSE

et, très probablement, vers 1260. Cette date a le mérite de satisfaire à diverses exigences concernant l'auteur, l'origine et les sources du poème, l'élaboration du texte 'définitif ..." [Arnould 1940:256; last italics mine]. "The original was probably composed in the third quarter of the thirteenth century, and revised in the fourth quarter" [Laird 1940:340], In short, then, both Arnould and Laird imagine the textual history as a chronological (though complicated) process, in which by various remakes the "primitive" original was step by step expanded, so as to develop into the "definitive" later version(s). Many of the Manuel's texts we have today, therefore tend to be devaluated by both scholars as "contaminations" of, or "deviations" from, an original. Doubt and suspicion is thereby a priori cast on any of the "redactions" in this relationship of "original" and more or less "expanded copies," as the hypothetical "original" is at least implicitly regarded as superior to, or being invested with greater authority than, any of its descendants. It is seen as the one authoritative text: we are thus back at the first assumption, that of the text as a closed unit. Both hypotheses indeed neatly support each other. Let me return to the first of these hypotheses used to establish a chronology of the text's history and the manuscripts' relationship. To assume that any "original" composition of the Manuel des Pechez represented a kind of authoritative and closed text, may not be too valid an assumption. Write a manual of any kind, and any of its users will almost immediately criticize it, either for its lack of some important material, or for its over-abundance of details thought to be unnecessary, or for being negligent of this or that minor point, or for including things which are already available (in better form) elsewhere, or for any other reason. Arnould went a long way to demonstrate that manuals for confessors and lay people were much in demand in the English Church's reform movement about the middle of the thirteenth century [1940:1-59]. In view of the fact that the Manuel is such a manual of moral instruction, any of its educated users, the confessors, may have felt free to comment on exclusion or inclusion of greater or smaller parts of the text, and some may even have felt the urge to better what they found in their exemplar, compiling their own versions of the Manuel. The number of existing manuscripts as well as the diversity of the existing versions are further indications of an urgent demand for such handbooks: many of these versions, by the very carelessness with which their texts were written and left uncorrected, show clear signs of hasty production. Under these circumstances, any "original" text cannot have had the same kind of "authority" as, say, a biblical text or a literary work of art. Being a manual, the traditional statement in most of the Manuel's

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On Some Manuscripts and Versions of the Anglo-Norman Manuel des Pechez

epilogues - that those who find fault with it should amend it7 - may have contained a strong appeal to its users, provoking them to deal with the Manuel in a way different from that provoked by similar statements found in accomplished literary works of art. It may well be that those parts of the Manuel which Arnould, Laird and others have regarded as "authentic," represent the common core of all the manuals on the market: namely the parts or books on the fundamentals of the faith (articles of the faith, commandments, sins, sacrilege, sacraments, confession). If so, they may derive their "authority," "originality" or "authenticity" rather from the fact that they contain these fundamentals, than from any modern assumption that they may represent the "primitive version" of a lost original work. Any user of some competence in the profession may have augmented this core and changed part of it, including or excluding greater or smaller parts, some lines here and some there, just as he thought fit for his business. In other words: the Manuel evidently was, probably from the very beginning of its existence, an open text which could be expanded, reduced, reworked, or altered according to the demands of its users. It was not only an open text as far as its production is concerned; it was so, too, with regard to its reception. The Manuel is no poem to be read through from beginning to end: you dip into it here or there, you read a passage twice or even three times if need be, you listen to the same tale on various occasions; fragmented reception is an inherent part of the text itself.8 It is the very nature of the text, then, which led to - perhaps immediate - changes in the corpus, and not the mere number of manuscripts, as Laird suspected. The fact that the textual history is thought to be so complicated, the fact that there are "manuscripts which had changed their family affiliation and become composite" [Laird 1940:19], indeed seems to me to point to conclusions different from those drawn by Arnould and Laird. With regard to the Manuel des Pechez, we have to abandon, I think, the notion of neat pedigrees and orderly chronology, in favour of a working hypothesis which assumes simultaneous 'mass' production of variant texts. No "correction," then, "contamination" or "conflation," rather a series of texts with a common core adapted to pragmatic demands; no diachronic production with gradual expansion, then, rather a synchronous distribution of variant versions. With regard to the second hypothesis, that is the text's history as an orderly chronology from "primitive" to "definitive" versions, it is easy to imagine alternatives. Let me first briefly sketch what I am thinking of, and then test that hypothesis against some of the manuscript evi7

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"Si defautez y troverez/ pur Deu vus pri les amendez,/ qar peccheur suy que le compilay/ e de autre part poy de ben say ..." These are 11. 10836-9 in CUL Ee.1.20, also contained in Harley 4971 [U. 8448-9] or, e.g., CUL Mm.6.4 [11. 11527-30], BL Harley 273 [11. 11769-72], BL Harley 4657 [II. 10768-71], Princeton Taylor 1 [11. 7436-9], Bodley Greaves 51 [U. 11346-9], Bodley Hatton 99 [11. 10435-8], but lacking in Arundel 288 and Royal 20.B.xiv. In passing it should be mentioned that the fragmented collection of 37 exempla in Bodleian MS Rawlinson F 241, and of 13 in MS Stonyhurst College, proves the point.

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dence. If the Manuel is an off-shoot of the reform programme of the English Church in the middle of the 13 th century envisaged to better the instruction of confessors and their lay flock (and Arnould advanced good reasons to prove that point), there would have been a sudden demand for compilations of this kind. A greater demand for such texts of moral instruction could probably only be met with by some kind of 'mass' production of manuscripts, with simultaneous copying going on in a greater scriptorium, or neighbouring scriptoria. For the Manuel, the north of England may have been the centre of the earliest productions; if the identification of William de Waddington as canon and justice of the diocese of York is correct (whether he be the "author" of the Manuel or not), it would favour such a localisation.9 The scriptorium of a diocese in the centre of a prospering town would also be the ideal place to serve the interests of those concerned: the bishops in their effort to reform clergy and lay people;10 the chaplains of the wealthier families acting as their confessors and looking for a compilation offering a systematic approach to the teaching of the faith and of confession;11 members of the town oligarchy who may have thought the possession and instruction of such a book helpful;12 members of the landed gentry or even the aristocracy who had their own chaplain and private confessor. 13 The number of manuscripts we know of today supports the assumption that there was indeed a wide and sudden demand for the text; 9

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Cf. Sullivan 1991. Unfortunately, Sullivan cannot present much evidence to support his contention that William was a "secular canon" [155]: he is described or mentioned in the documents as canon but once (and under doubtful circumstances? [Sullivan 15S: "seem to be described as canons of Beverley" for "Testibus ... Willelmo de Widendon, G. de Bocland canonicis Beverl."]), but he appears at least ten times as miles, four times as senescallus, and four times as justice (sometimes in connection with miles), the dates ranging from 1226x1237 for "justice" and "canon," from 1226x1250 for "knight." Despite the fact that its prologue promises not to mention sins of the clergy at all, the Manuel is fUU of them, so that its teaching actually addresses clergy and lay alike. Some MSS contain Latin chapter headings, Latin notes in the margin, or the "quis-quid-ubi"formula for the use of confessors together with its Latin expositio, accompanied by an apostrophe to the lay listener which indicates tint Manuel's use by a confessor: "Vers en Latin mettrai/ sicum des mestres apris ai./ Le clerk ke vus les lirra,/ de bouche esprendre le vus putta;/ plus pleine[me]nt les putta dite/ ke je par rim ne puis esedre ..." [CUL Ee.1.20 11. 8942-7; cf. CUL Mm.6.4 11. 10075-80; BL Harley 273 11. 10367-72; BL Royal 9241-6; Bodley Greaves 51 11. 9905-10; Bodley Hatton 99 11. 9012-7; Princeton Taylor 1 11. 7406-11; BL Arundel 288 and Hatley 4971 do not contain these lines]. The passage on usury, and the exemplum accompanying it, belong to the most stable parts of the text in all the MSS of which I have transcriptions. I owe spedai thanks to Ulrike Schemmann M.A. who presently writes a doctoral dissertation on the CUL Mm.6.4 version of the Manuel, for convincing me that inclusion or exclusion of minor as well as major material may indicate different types of audiences, cleric and lay alike; that the use of French does not preclude town audiences, that indeed many passages in the text seem to point towards a reception of the text by richer town people; and finally for allowing me to use this argument prior to publication. Princeton University Library Taylor Medieval MS 1 is the one presentation copy among the MSS, written in one column only, with illustrations here and there, the historiated initial L of the prologue showing a lady who is Joan Tateshal (died 1310), wearing the arms of her father; the decoration of the manuscript leads to a dating cl260-80 (dating by private communication from Nigel Morgan, kindly passed on to me by Ian Short of the Anglo-Norman Text Society); for the manuscript, its illustrations and the Tateshals, cf. Bennett 1990 who tends to date the MS "late thirteenth century" (ibid. 172-73).

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there is of course almost no way of proving that the earliest copies which once existed were produced in one area, or even by one scriptorium. But let us imagine for a moment that a demand for a confessor's manual, together with differing interests as to the exclusion or inclusion of material and variant readings of doctrinal passages, led to a greater output of manuscripts within a short period of time: what probably would have happened, is simultaneous copying. It is not very plausible to imagine a single scribe copying from one exemplar; nor is it, I think, plausible to assume that scriptoria were not able to organize their work in a way to meet the demands of either bishop, or confessors, or audiences within a short time. Now if we do not want to assume that any scriptorium had quite a number of ready-made copies at hand, the simplest way to produce the necessary number of copies would probably have been to copy the text quire by quire, a completed quire being passed on to the next scribe (in the same or a neighbouring scriptorium) for further copying. Manuscripts could easily be multiplied in this way; if so, it may mean that many of the so-called "disturbances" which Arnould or Laird found in the different versions came into being during a process of 'mass' production, when folios or quires could quite easily get mixed up, the more so if demand from different quarters led to variant versions being ordered at roughly the same time. 14 The "composite" nature of some versions which so astonished Laird and led him to suspect that some manuscripts "had changed their family affiliation," can also be explained in a better way if we assume co-production: texts containing only the fundamentals will have been produced alongside fuller versions of the manual. Any decision of a scribe or a user to follow this or that version will have been easier when variant texts were ready at hand, during a process of simultaneous copying. It is difficult to imagine how a scribe at any given later time could have exemplars of many variant versions at his disposal, from which to produce a "composite" copy at his own or his client's discretion. If we stick to the conception of a chronological development from "primitive" to "definitive" versions, however, we need this hypothesis in order to explain the variety of existing versions: must we, then, imagine quite a number of li14 No-one has so far, at least to my knowledge, checked these "disturbances" (exclusion and inclusion of material, transposition of parts of the text in some MSS) against the quires or the folios of the existing MSS; the process of later copying may of course have blurred any indication of a correspondence between misplaced or excluded parts on the one hand, and folios or quires on the other; nevertheless, checking may be worthwhile. Only some of the MSS I have studied so far contain catchword entries at the end of quires. In a recent article, Dr. Matthew Sullivan maintains that different 'editions' of book VII (how to confess) co-existed "at the earliest known stages of the text's history" (1992:338; cf. also 343); like Arnould and Laird, Sullivan is however interested in reconstructing "the poem which William of Waddington wrote," implying that we have to assume a textual history from original to distant relatives (ibid. 344). Unfortunately, his matter-of-fact statements cannot carry much conviction, since we are again and again referred to his PhD thesis (Oxford 1990) as giving the evidence for his contentions. I have not been able to see his dissertation, nor was I able to trace his article on MSS and readers of the Manuel announced as to be published elsewhere in fn. 19 (1992:345).

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braries where variant versions were kept in store, so as to enable scribes of a later time to use these when producing their own copies, or yet another "new" version of the text? Is it not much more plausible to think that the different versions were produced at roughly the same time? Of course, this implies that "primitive" or "definitive" are not the kind of categories we can use to describe their mutual relationship. We should therefore abandon any effort at construing a neat chronology of text production; we have to study all the surviving texts in greater detail than was done by either Arnould or Laird. We therefore need editions of at least one manuscript of each of the variant versions, before we will ever be able to disentangle something of the texts' complicated history. Furthermore, we are not without evidence from the manuscripts themselves, evidence which undermines any attempt at reconstructing neat pedigrees and chronologies of textual development. In the case of the Manuel, the effort at reconstruction does indeed seem misguided, while at the same time a line-by-line comparison of the versions favours the hypothesis of a roughly simultaneous production of variant texts. Let us consider a case in point, the version contained in BL MS Arundel 288, and compare it with the other three manuscripts mentioned above. As I said earlier, Arnould thought BL Arundel 288 to be "probablement le plus ancien" of those manuscripts we have today, dating it to the third quarter of the thirteenth century [1940:373]; his comparison of the manuscripts led him to believe that Arundel 288 has to be grouped with BL Royal 20.B.xiv, while CUL Ee.1.20 and BL Harley 4971 are descended from a conflated version stemming partly from Arundel 288, and partly from a different family. Laird, let me repeat that as well, is equally definitive on the date of the manuscript: "It is clearly one of the oldest extant copies of the Manuel ..." [1940:65]. According to his findings, however, Arundel 288 has to be associated with other manuscripts in his group II, representatives of the second stage of the text's development, whereas BL Harley 4971 and CUL Ee.1.20 belong to group ΙΠ which he believes to represent the oldest tradition; BL Royal 20.B.xiv is, for him, a case apart belonging to his group I, the youngest generation of redactions.15 When one compares these four texts line by line, one is immediately struck by the very close correspondence between BL Arundel 288, BL Harley 4971, and CUL Ee.1.20; in fact, the Arundel and Harley texts are even more closely connected. As a rule, the Ee.1.20 version shares their readings; where it differs, it usually corresponds to the readings of Royal. This latter version is indeed a case apart, as it shows many original readings which find no correspondence in any of the three other manuscripts. A somewhat cursory count yields significant results: in 314 cases of dissimilar lines, the versions of IS After a line by line comparison of the Harley and the Arundel versions, I wonder how Laird could set these two MSS in two different groups, as he did in 1940:337; whereas he was uncertain as to their relationship in his dissertation [e.g. 1940:64, 83, 88], he is definitive in the ensuing article where he groups Harley 4971 and Arundel 288 as closely related: see above, fn. 5.

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Arundel 288, Harley 4971 and Ee.1.20 agree, whereas Royal 20.B.xiv is different; in another 146 cases, Arundel and Harley agree against Ee.1.20 and Royal; in 114 cases, Arundel and Harley agree with Royal, whereas Ee.1.20 has a variant version; there are yet another 61 cases where either Harley or Arundel give a version apart from the three others.16 The rest of the divergences, 11 in number, represent a negligible quantity in which either Harley and Ee.1.20 (6 cases), or Harley and Royal (2), or Arundel and Royal (2), or Arundel and Ee.1.20 (1 case) agree against the other two manuscripts.17 Let me demonstrate agreement and divergence, by quoting a sample of lines from that part of the Manuel which is considered to be the most stable in all versions, the common core of parts one to five containing the fundamentals (articles of the faith, commandments, sins, sacrilege, sacraments, confession). When explaining that Christ shed his blood on the cross in order to chastise the idle, the four versions offer the following description of an aspect of sloth: Ee.1.20 D. 340-44 partant en ad iceus chastez que longement gisent en lur lit ren fere ne voylent pur Jesu Crist coure vodrent pur fere folye mes a muster ne courent mye.

Royal 20.B.ÚT Π. 342-46 entant ad perceus chastiez ke lungement gisent en lur lit e poi veolent fere pur Jesu Crist coure vodnint pur ver folie mes a muster ne courent mie.

Arundel 288 Π. 338-42 entant ad perçuz chastiez ki tant lunges gisent en lur lit rein fere ne volunt pur Jesu Crist tapere vodreient pur lur folye mes al muster ne vunt mye.

Harley 4971 II. 314-17 entant ad lé pereçus chastié ke lungement gisent en lur lit rien fere ne voylent pur Jesu Crist tapir vodreient pur lur folye mes al muster ne vunt mye.

"Thereby he [i.e. Christ] admonished those who stay in bed until late in the morning. They will do nothing for Christ's sake; they run to do/to see follies, but they do not run to the minster [Arundel and Harley: they would like to be concealed for their folly, but do not go to the minster]."

Whereas the first two manuscripts use an argument to be found in all the versions I have analysed so far (that the lazy will run to see any folly, but not run to church), Harley and Arundel agree in saying that 16 The greater part of these cases are blunders in Arundel whose often careless scribe skipped many single lines. 17 I have considered only those parts of the texts which are present in all four MSS, discounting minor divergences such as word order, or different tenses of verbs.

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the lazy would like to be concealed (vb. tapir, taper) because of their foolishness, but do not go to church - where the use of mes, 'but,' gives somewhat awkward sense. Similar cases occur elsewhere: when the phoenix is compared to the resurrecting Christ, these two manuscripts again agree in using the verb apparailler to say that the bird provides himself with twigs to build a nest, whereas the other versions simply say that it is the bird just described who builds the nest. 18 And again, to mention but a third example, the line readings of both manuscripts agree against those of the other two when the latest craze in dress is criticized; here, Harley 4971 and Arundel 288 use the noun mulieries, perhaps derived from the verb moller, moiller, 'to adapt one's shape, to shape one's body,' in order to express the idea of new-fangled dress, whereas the other two manuscripts read "noveleries," 'new style, modern fashion. ' Ee.1.20 U. 3189-92 trop pecchunt en lur coyntises que estudiunt entur noveleries e pur estre plus regardé unt lur coyntises sovent changé.

Royal 20.B.xiv 11. 3151-54 trop pecchent en lur cointises ke estudient en noveleries e pur estre plus regardé unt lur cointises sovent changé.

Arundel 288 U. 3025-2« trop pecchent en lur cointises ki estudient en mulieries & pur estre plus regardé lur cointises unt plus sovent changé.

Harlçy 4971 U. 3042-45 trop pechent en lur queinti[s]es ki estudient en midieres e pur estre plus regardé lur queintises unt plus suvent chaungé. ^

"Those commit a grave sin with regard to their elegance who give their attention to new fashions [Arundel and Harley: who concern themselves with ?shaping their bodies] and, in order to be better taken notice of, have [more] often changed their elegant dress. "

Arundel 288 and Harley 4971 do not only share unusual readings which differentiate their versions from those in the other two man-

i s Ee.1.20 11. 473-76: "quant se sent de age grevé/ le oysel dunt ay parlé/ auci cum un ny ad formé/ de vergettes de pesses que ad trové;" Royal 20.B.xiv 11. 476-79: "kant ce sent de age grevé/ le oisel dunt vus ai parlé/ cum un ni se ad formé/ de vergettes des especes k'at trové;" Arundel 288 11. 461-64: "kant se sent de age grevé/ li oysel ad dunke aparilé/ de virgettes des especes ke ad trové/ ausi cum un ni l'ad formé;" Harley 4971 11. 438-41: "kaunt se sent de age grevé/ li oysel dunke ad apparailé/ de vergettes des especes ke ad trové/ ausi cum un ni le ad furmé." Cf. also CUL MS Gg.1.1 11. 477: "le oysel ad apareillé;" this MS, containing a fragment of 5241 lines, is Arnould's S (apart from Princeton Taylor 1 and BL Arundel 372 the only one which does not show up in his stemma), and Laird's G (in group I). 19 Again, CUL Gg.1.11. 3219 shows a similar reading: "ke estudient entre mulleres."

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uscripts;20 they also coincide so as to present a shorter text. It is true that in most of these cases the "cuts" (or, conversely, the "expansions" in the other two texts) amount to two lines only; however, there are more considerable differences, too, in the number of lines used to bring a lesson home to the audience, the differences ranging from a single line to over 100 verses, without in the least disturbing the sense or spoiling the rhyme. My next example is typical of the way in which the versions of both Arundel and Harley use fewer lines. When describing the different branches of the sin of sloth, we read the following about "peresce" in the four manuscripts (I have to quote at greater length, in order to demonstrate the differences). Ee.1.20 Π. 4228-58 un autre cunte vous voyl cunter de peresse que fet a doter quant hom vout meuz suffreyt aver que un poy pur sun vivere travailer sovent le veum avener mes mult fet nepurquant hayer ben poet suffrer la malese qui ren ne vout fere pur aver ese ceo peché ore dreyn cunté est ignavie apelé (two different lines follow in Royal) encontre ceo parout ly seynt hom si fet ly Salomon meynt hom est si denaturel qui graces ne rent a Deu de eel dé bens que franchement ly ad doné sachez ceo est un maveys peché regardés vos meyns bras & pés e tus les menbres que vus avez si de tus mester ne eyez Deu ja ne regraciez qui sovent ly merde plus grace receyvera ne dotez mie acuns sunt de si tresdur euer que a nul home ne poet g ree saver pur honur qe ly facent ou ben ceo ne freyt mye certes un chen car si bien ly fetes il vus amera e sur la mort pur vus irra ceo est apelé denaturesse

Arundel 288 D. 4050-68 de un altre pecche vus voil cunter de peresce ke fet a duter kant home veut meuz suffreit aver Ice poi pur sun vivre travailler soveant le veum avenir mes mult fet nepurquant a hir bien pu[t] suffrir sa malese ke rien ne veut suffrir pur aver sa ese

meint est si desnaturel k'il graces ne rend Deu de ciel dé biens ke franchement l'ad doné sachez ke ce est un maveis pecché

acuns sunt de si tres dur queor ke a nul home poent gré saver pur honur ke lur facent ou bien ceo ne fiet mie certes un [c]hen kar si bien lui fetes il vus amera e sur sa mort pur vus certes il irra

20 Such as mistakes common to both MSS, as e.g. in Arundel 288 1. 2153 = Harley 4971 1. 2140, where these versions clearly lack a verb and spoil the rhyme, reading "deva(u)nt Seinte Eglise" only (Ee.1.20 reads "devant qe Seint' Eglise les ad juné").

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que est un pecché encontre homesse home que comence Deu servir ... Royal 20.B.nv U. 4186-4216 un altre pecché vus voit cunter de peresce ke est a doter kant homme voit meus soffrete aver ke pur sun vivere traveller sovent le vehum avenir mes mult fet nekedent a hair ben pus soffrer ke il eit malese ke ren ne voit fere pur aver ese cest pecché drein cunté est ignavie apelé (two different lines follow m Ee.1.20) Salomon l'ad mult dampné e autre seins meintefé meinte homme est si desnaturel ke graces ne rend a Deu du cd des bens ke li ad doné e ceo est grant malveisté regardez meins bras & pés e tuz les membres ke vus avez si de tus mester ne eez ja Deu ne regraciez ke sovent le merde plus grace recevera ne dotez mie acuns sunt si dur de queor ke a nul home ne poet gié saver pur honur ke lur face u ben e en ceo sunt desnatureus plus ke chen kar si ben le fetes il vus amera e sur sa mort pur vus irra ceo pecché est desnaturesce ke est cuntre tut homesce homme ke commense Deu servir ...

home ki comence Deu servir ... Harley 4971 II. 4069-87 de un autre peché vus voil cunter de peresce ke fet a duter kaunt hume veut meuz suffreit aver ke un poi pur sun vivere travailler sovent le vehum avenir mes mut fet nepurkaunt a hair bien pus sufirir sa malheise ke bien ne pot fere pur aver hese

meint est si desnaturel ke graces ne rent a Deu du ciel dé biens ke fraunchement lui ad doné sachez ke ceo est un mauveis peché

aukuns sunt de si tres dur quer ke a nul home poent gré saver pur honur ke lur facent ou bien ceo ne freit mie certes un chen kar si bien le fetes il vus amera e sur sa mort pur vus irra

home ke commence Deu servir ...

"I will tell you another example about idleness, [the sin] which is to be feared: that is, when a man will rather suffer want than work a little for his sustenance; it happens often enough, and nevertheless is to be hated. He may well suffer misease who is not willing to do anything to be at ease! [Ee.1.20 and Royal: The sin just now mentioned is called sloth; Ee.1.20: the saint preached against it, so did Solomon. Royal: Solomon condemned it often, and other saints as well.] Many a man acts unnaturally when he does not thank God in heaven for the goods which he gave

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generously to him; know that this is a horrible sin. [Ee.1.20 and Royal: Look at your hands, arms, and feet, and all the members you have, whether you do not need them all: and yet you do not thank God. The more often you thanlr him, the more gifts and favours you will receive, do not doubt that.] Some are so hardhearted that they will be grateful to none for honours or goods received from them. Not even a dog would behave in this way: for when you treat it well, it will love you and risk its life for you. [Ee.1.20 and Royal: This sin is called ingratitude, offending against humanity.] A man who enters the service of God..."

Similar passages could be quoted from many folios of these manuscripts, always proving the same point. First, we are not dealing with lacunae in two of the manuscripts, but rather with shorter versions of the Manuel in which the explanatory lines contained in the other two texts were either left out because they were considered unnecessary, for whatever reason, or were not yet contained in any of the earlier exemplars used for these shorter versions; second, on the basis of this kind of evidence and similar evidence quoted earlier we may safely conclude that Arundel 288 and Harley 4971 are indeed very closely related. Their versions cannot belong to different generations of the textual tradition, as Arnould thought and Laird implied, when he first classified Harley 4971 as a group II text, and Arundel as belonging to group ΙΠ. In view of the fact that Arundel 288 "is clearly one of the oldest extant copies of the Manuel" dating from the third quarter of the thirteenth century [Laird 1940:65; cf. Arnould 1940:373], the close correspondence between the Arundel and the Harley texts can only be explained by assuming that the later Harley copy (beginning of the 14th century) derives from a text which co-existed with Arundel's exemplar. That is: very early already different versions existed side by side; there cannot have been a "gradual" development in an orderly chronological sequence from "original" to "definitive" versions. Within a few years, perhaps even within a year, the "archtypes" of the existing versions will have been on the market. There is yet another piece of evidence which supports the hypothesis of a synchronic production of different versions. MS Philipps 2223, olim Cheltenham and now kept in Princeton University Library as Taylor Medieval MS 1, is at least as old as the Arundel copy of the Manuel des Pechez.21 It was written as a presentation copy, though its text is far from being beyond doubt; there are many mistakes, most of them left uncorrected. It is however not so much the state of its language or the fact of its being a presentation copy, which makes this manuscript of the Manuel such an interesting representative of the whole collection. The text proper ends on folio 112 verso with line 7994, "Amen die chacun 21 See above fn. 12.

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hom." Immediately following we find additions written by the same hand, and introduced by the statement that "ees cuntes daivent entrer en le livere en divers chapitles sicum les signes serrant trové" (f. 112v). The additions, fourteen in number, amount to 2721 lines, giving a total of 10,715 for the whole text; ten of these additions are rubricated as belonging to this or that part of the Manuel ("sicum les signes serrant trové"), four of them are not. All these additions fit neatly into place: it is astonishing to see that in none of the 14 cases was there any need whatsoever to adapt them to the existing text, for example by introducing transitional lines. When the additions are compared line by line with other texts, they show some affinity to the Harley 4971 and Arundel 288 versions. In most cases, however, additions to those parts of the Taylor version which belong to the common core (a total of 1241 lines out of 2721), conform almost exactly to the line sequence and the readings of other manuscripts chosen at random for the purpose of comparison, as for example BL MSS Harley 273 (Arnould: A; Laird: A), Harley 4657 (Arnould: B; Laird: B), CUL MSS Ee.1.20 (Arnould: I; Laird: E), Gg.1.1 (Arnould: S; Laird: G) or Mm.6.4 (Arnould: H; Laird: C); these latter manuscripts include texts from different families and generations in Arnould's stemma, and from all three groups in Laird's classification of manuscripts. Furthermore, the last two additions (1480 lines of 2721, on confession and prayer) which Arnould as well as Laird considered to be later parts included in the Manuel at a later stage during the text's development, conform almost word for word, with only very few deviations, to the version contained in BL MS Harley 273 (Arnould's and Laird's A). The sequence of all fourteen additions is exactly in order, it corresponds to the order which Arnould and Laird would find in their "definitive" version. If the scribe of a very early manuscript like Taylor Medieval 1 could use for his additions a copy or copies of texts which already included material said to have come at a later stage to the corpus of the Manuel, there is only one safe conclusion to be drawn from the evidence: so-called "primitive" and "definitive" versions must have existed side by side, and at a very early time in the text's history at that. 22 It is easy to imagine how this could have come about: the fundamentals of a manual for confessors were probably immediately expanded or added to, according to the differing demands of its various users. The common core is there, in all manuscripts containing complete versions; additions to the common core can however no longer be considered as proof of the gradual development and expansion of an "authentic" text. Of course, much depends on the exact dating of the manuscripts preserved; nevertheless, the very existence of the additions in the early MS Taylor Medieval 1 seems to favour a working hypothesis which assumes 'mass' production of manuscripts and different versions at the same time. 22 Amould left a note in MS Taylor MS 1 saying that this text 'proves' his hypothesis of a 'primitive' original and later additions; he however did not consider the problems arising from the fact that "primitive" and "definitive" evidently co-existed at the same time.

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On Some Manuscripts and Versions of the Anglo-Norman Manuel des Pechez

What else can one do, in order to bring more light to the complex history of the Manuel des Pechez - if ever the one manual really existed. In the case of this handbook for confessors, I think it impossible to reconstruct what Arnould, Laird and others have considered to be the "original" text. It should be clear by now that we do not have one text: we have different texts; we do not have a definitive or authentic version: we have an open corpus which was evidently immediately adapted to different needs; we do not have the Manuel des Pechez: we have various Manuels des Pechez.13 In view of such a textual situation, it is impossible to edit a single text only of a hypothetical Manuel, and supply variant readings; any of the existing non-fragmentary versions could claim to be the "authentic" text sufficient for the business of the confessor who used it. In order to illuminate the uses to which these manuals were put, in order to understand something of the cultural climate in which these different versions were produced to better moral instruction, in order to perceive the way in which lay attitudes to moral problems were influenced and formed, in order to describe the use of French in the second half of the thirteenth century, we need editions of all main versions. Only then will we be able to reconstruct something of their history, to reconstruct the social and cultural context of the Manuels des Pechez. Editions of the different versions could indeed lead to many insights into complex social and cultural phenomena of later thirteenth century England: insights into the means and ways of textual and manuscript production; insights into the linguistic situation with reference to the use of French; insights into the state of that language, as used by English speakers; insights into the history of confession; insights into the development and teaching of social norms of behaviour; insights into the discovery and development of the conscience of the individual which gradually replaced that control of moral behaviour which was exercised by confessors and the Church. I cannot promise that the answers one might find to such problems on the basis of a closer study of the Manuels, would fundamentally change our present knowledge of these problems. Nevertheless, it is always worthwhile to attain a better and fuller understanding of the questions involved; and to this better understanding, editions and studies of the Manuels des Pechez would certainly contribute.

23 Cf., e.g., the local adaption of the Royal 20.B.xiv version which includes a tale found nowhere else, on bishop William de Blois of Worcester (died 1236). Some of the versions do not have that part of the prologue which speaks of the "pechez que tuchent religiun" and announces that sins of clerics will not be dealt with (as e.g. BL MS Harley 4971); this fact has to be related to those parts of the texts which actually mention or describe clerical misdemeanour: the amount to which such criticism is included, differs in the various versions. This creates the impression that some versions were perhaps written for confessors only, whereas others may have been intended to be used for their teaching of laymen.

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WILHELM G . BUSSE

BIBLIOGRAPHY ARNOULD 1940 Arnould, Emile Jules. Le Manuel des péchés: étude de littérature religieuse anglo-normande (XlIIme siècle). Paris 1940. BENNETT 1990 Bennett, Adelaide. "A book designed for a noblewoman: an illustrated Manuel des Péchés of the thirteenth century," in Linda L. Brownrigg (ed.), Medieval book production: assessing the evidence, Los Altos Hills 1990, pp. 163-81. FURNTVALL 1862 Furnivall, Frederick J. (ed.). Robert of Brume's "Handtyng Synne", with those parts of the Anglo-French treatise on which it was founded, William of Waddington's "Manuel des Pechiez. " Roxburghe Club. London 1862. FURNIVALL 1901-3 — (ed.). Robert of Brunne's "Handtyng Synne", A.D. 1303, with those parts of the Anglo-French treatise on which it was founded, William of Wadington's "Manuel des Pechiez. " EETS OS 119, 123. London 1901-3, repr. as one vol. New York 1975. LAIRD 1940 Laird, Charlton G. The source of Robert of Brunne's Handtyng Synne: a study of the extant manuscripts of the Anglo-Norman Manuel des Pechiez. PhD Stanford University 1940. LAIRD 1941 . "Manuscripts of the 'Manuel des Pechiez'," Stanford Studies in Language and literature (1941):99-123. LAIRD 1943 . "Palatinus Latinus 1970, a composite manuscript," MLR 38(1943):117-21. LAIRD 1945 . "[Review of ARNOULD 1940]," Speculum 20(1945):99-103. LAIRD 1946 . "Character and growth of the Manuel des Pechiez," Traditio 4(1946):253306. SULLIVAN 1991 Sullivan, Matthew. "The author of the Manuel des Péchés," Notes and Queries 38(1991): 155-57. SULLIVAN 1992 . "A brief textual history of the Manuel des Péchés" Neuphilologische Mitteilungen 93(1992):337-46.

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Ludwig Schräder

Die Bibliothek als literarisches Thema im Humanismus und in der Moderne

"Nun sage mir, ob diese Gegend nicht daliegt wie Goethes sämtliche Werke in vierzig Bänden?" - so beginnt das siebente Kapitel von Wilhelm Raabes Abu Telfan, einer äußerst pessimistischen Geschichte, die an dieser Stelle aber ein heiter-ironisches Spiel mit dem alten Topos von der Welt als Buch erlaubt. Ernst Robert Curtius hat ihn durch die Zeiten verfolgt; sein bekanntes Kapitel "Das Buch als Symbol"1 ist meines Wissens noch immer das Vollständigste, was es zum Thema gibt, auch wenn seither viel Weiteres zutage gefördert wurde2. Ich will hier nur auf einen oder zwei weitere Belege, und zwar aus der philosophischen Hermeneutik, hinweisen: die Weltgeschichte ist gleichsam das große dunkle Buch, das in den Sprachen der Vergangenheit verfaßte Sammelwerk des menschlichen Geistes, dessen Text verstanden werden soll. Die historische Forschung versteht sich selbst nach dem Modell der Philologie, deren sie sich bedient3.

Die Zeilen stammen aus Gadamers Wahrheit und Methode und bezeichnen das Vorbild, dem Dilthey gefolgt sei und das er interpretiert habe, nämlich die historische Schule: "Nicht nur die Quellen begegnen als Texte, sondern die geschichtliche Wirklichkeit selbst ist ein zu verstehender Text"4. Man sieht, daß der Topos - wenn es denn "nur" ein Topos ist - in einer universalen Bedeutung begegnen kann und auf eine verhältnismäßig moderne, nach dem von Curtius berücksichtigten Zeitraum liegende Erscheinung angewendet wird. Auch Curtius übrigens hat, unter anderem Vorzeichen, schon die Buchmetapher "in systemati1 2

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Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 21954, S. 306352. Vgl. z. B. Gisela Beutler, "Enigmas y adivinanzas sobre el libro, la pluma y otros utensilios para escribir. Estudio sobre su origen, sus metáforas y estructuras", in: Estudios de lingüistica, Filología, Literatura e Historia Cultural. Homenaje a Femando Antonio Martínez, Bogotá 1979, S. 244-282; Dietrich Briesemeister, "Die Buchmetaphorik in den Autos sacramentales", in: Iberoromania 14 (1981), S. 98-115; Javier Herrero, "La metáfora del libro en Cervantes", in: Giuseppe Bellini (Hsg.), Actas del Séptimo Congreso de la Asociación Internacional de Hispanistas (Venecia 1980), Bd. 2, Roma 1982, S. 579-584; Volker Roloff, "Lesen als 'déchiffrement' - zur Buchmetaphorik und Hermeneutik bei Marcel Proust", in: Marcel Proust. Lesen und Schreiben. Zweite Publikation der Marcel Proust Gesellschaft. Frankfurt 1983, S. 186-205. Vgl. auch J.C. Cooper, Illustriertes Lexikon der traditionellen Symbole [London 1978]. Übersetzt von Gudrun und Matthias Middell, Leipzig bzw. Wiesbaden 1986, s. v. Buch. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzilge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen % 6 5 , S. 166; vgl. S. 170. Ebda., S. 186.

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scher Funktion", zum Beispiel bei Hugo von St. Victor und Hugo de Folieto5. Ich will aber gar nicht den gedachten Katalog der Belegstellen und der Funktionen der Metaphern vom Buch erweitern, sondern ich möchte auf die Bibliothek in der Literatur zu sprechen kommen, leider zu knapp. Aber vielleicht gelingt es, an wenigen Beispielen zu zeigen, wie die Bibliothek offenbar nicht einfach eine Summe von Texten ist, so daß sich im Prinzip nichts änderte. Es scheint vielmehr, als zeige sich mit der Bibliothek, mit der Anhäufung und Anordnung von Büchern, stets etwas Programmatisches, um nicht zu sagen: Utopisches. Es versteht sich, daß Buch und Bibliothek eng zusammengehören, aber graduelle Unterschiede würde ich geltend machen, jedenfalls für die Beispiele, die in weltlichem Kontext stehen. Ich wähle solche aus der Frührenaissance, der Romantik und aus der Mitte unseres eigenen Jahrhunderts und gebe dabei zu, daß ich nicht eben über Hunderte von Belegen verfuge. Der französische Humanist François Rabelais (wohl 1483-1553) hat im zuerst geschriebenen Teil seines fünfbändigen Erzählwerkes, dem wahrscheinlich 1532 erschienenen Pantagruel, der Bibliothek des Klosters Saint-Victor in Paris ein Kapitel gewidmet. Es war eine - zu Rabelais' Zeiten noch außerhalb der Stadtmauern gelegene - große, auch zum Beispiel mit griechischen Titeln versehene Bibliothek, die Rabelais wohl aus Unmut über die Haltung der Abtei im Streit zwischen Humanisten und Sorbonne zur Zielscheibe seiner Satire macht. Rabelais gibt, das ist seine Satire, "einfach" eine Liste dort vorhandener Titel, etwa 150 an der Zahl, Titel, in deren Verballhornung er mit der ihm verhaßten Scholastik aufräumt, ohne daß ihm selbst ein weiterer Kommentar notwendig erschienen wäre - anders die Nachwelt, die natürlich ihre gewisse Mühe mit dem Entschlüsseln hat, etwa in Fällen wie "Bragueta Juris", dem "Hosenlatz des Rechtes". Es ist eine - leider oder glücklicherweise, wie oft bei Rabelais - nicht gänzlich salonfähige Formel, denn "droit" heißt sowohl "das Recht" als auch "der Aufrechte". Einfacher zu erklären dann schon "L'Apparition de saincte Geltrud à une nonnain de Poissy estant en mal d'enfant" - "Die Erscheinung der heiligen Gehl-Trud bei einer Nonne in Kindsnöten zu Poissy" - oder auch "Beda, De optimitate triparum" - "Beda, Von der Vorzüglichkeit der Kutteln oder Kaidaunen": hier ist es freilich gut zu wissen, daß Noël Beda (gestorben 1537) ein äußerst konservativer Theologe der Sorbonne war, ein gefürchteter Gegner der Humanisten, außerdem Vorsteher des Collège de Montaigu, in dem die Studenten - Erasmus hat darüber geklagt - hungerten; Beda selbst war beleibt (II,7)6. Keine weiteren Beispiele: Man ahnt, wie nicht so sehr ein isolierter Titel als vielmehr die

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Curtius, a.a.O., S. 324. François Rabelais, Pantagruel. Hsg. von Verdun L. Saulnier, Genève 2 1965 (Textes Littéraires Français), S. 37-40. Dt. nach der Übersetzung von Gottlob Regis, hsg. von Ludwig Schräder, Textbearbeitung von Karl Pömbacher, Bd. 1, München 1964, S. 169-173.

Die Bibliothek als literarisches Thema

bibliotheksmäßige Massierung von Titeln zu einem regelrechten AntiProgramm werden kann: vom Gegner bleibt wenig übrig. Derselbe Rabelais hat nicht gezögert, auch ein positives Gegenstück zu liefern. Zwei Jahre nach Pantagruel erschien Gargantua, genau genommen die Geschichte des Vaters, die denn auch in Gesamtausgaben in aller Regel an den Anfang des insgesamt fünf Teile umfassenden Werkes gestellt wird7. Ich erwähne hier nicht das humanistische Erziehungsprogramm des jungen Gargantua (übrigens ein Riese, wie Pantagruel), das dem Gedanken einer programmatischen Bibliothek mindestens nahekommt, um auf die berühmte Abtei Thélème mit einem ihrer wichtigsten Züge einzugehen. Sie wird nach einem glücklich verlaufenen Kriege gegründet, einem reinen Verteidigungskrieg, wohlgemerkt, man hatte sich böswilliger Gegner anders nicht erwehren können, behandelt die Besiegten dann aber großzügig. Die Abtei ist gar kein Kloster, sondern ein Anti-Kloster. Damen und Herren können es verlassen, wann immer sie heiraten wollen; wir haben es mit einer - höfisch geprägten - Gesellschafts-Utopie zu tun, in der Gemein- und Individualwille (θέλημα "Wille") versöhnt werden, übrigens eine seltene Sache Rabelais war Mönch bei den Franziskanern, dann bei den (bildungsfreundlicheren) Benediktinern gewesen, er wußte, was ein Kloster sein kann. Zentral sind in seiner Utopie die Bibliotheken - wiederum programmatisch-humanistisch: Depuis la tour Artice jusques à Cryere [der Palast der Thelemiten ist sechseckig, mit sechs Türmen] estoient les belles grandes librairies, en Grec, Latín, Hebrieu, Françoys, Tuscan et Hespaignol, disperties par les divers estaiges scelon iceulx langaiges Zwischen den Tünnen Arktike und Kryere waren die schönen großen Libereien in Griechisch, Lateinisch, Hebräisch, Französisch, Toskanisch, Hispanisch, nach den Sprachen in die verschiedenen Stockwerke verteilt (1,54).

Das ist der europäische Humanismus sozusagen in Reinkultur: die alten Sprachen, aber auch die eigene, samt weiteren, nicht zufällig gewählten Volkssprachen. Ganz humanistisch auch Antonio de Guevera (etwa 1475-1545), Rabelais' genauer Zeitgenosse, in seinem Werk Menosprecio de corte y alabanza de aldea - Geringschätzung des Hofes und Lob des Lebens auf dem Dorf -, in dessen XVII. Kapitel sich der folgende Rückgriff auf Lukuli als einen römischen Humanisten findet: Plutarco, contando los exercicios de Lúculo después que se retraxo a su casa, dice: "Quotidie in suam bibliothecam intrabat, velut in quoddam amœnissimum locum musarum, et ibi legendo, loquendo et disputando, tempus terebat. " Como si dixesse: "No 7

Rabelais, Gargantua. Hsg. von Ruth Calder und M. A. Screech, Genève 1970 (Textes Littéraires Français), S. 287. Dt. wiederum nach Regis, S. 132.

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passava día que no se retraía Lúculo en una gran gran libreria que tenía, en la quai él con otros y otros con 61, leyendo, disputando y platicando passavan su tiempo. " Plutarch, im Bericht über das, was Lukullus trieb, nachdem er sich nach Hause zurückgezogen hatte, sagt: "Quotidie in suam bibliothecam intrabat, velut in quoddam amœnissimum locum musarum, et ibi legendo, loquendo et disputando, tempus terebat. " Als ob er sagen wollte: "Es verging kein Tag, an dem Lukullus sich nicht in eine große, große Bibliothek zurückzog, die er besaß, in der er mit anderen, und andere mit ihm, lesend, disputierend und redend, ihre Zeit verbrachten8. Die humanistische Bibliothek ließe sich sicher weiterverfolgen, sie kommt zum Beispiel bei Baltasar Gracián (1601-1658) vor, im 16511657 erschienenen Criticón, in dessen Π. Teil ein besonderes Haus besucht wird, das "Museo del Discreto", der "Musentempel des gebildeten Mannes". Eine ganze, an den einzelnen besprochenen Bänden dann exemplifizierte Bildungstheorie steckt darin, wie der, der lange nach Derartigem gesucht hat, sich darüber äußert: ¿Qué convite más delicioso para el gusto de un discreto como un culto museo, donde se recrea el entendimiento, se enriquece la memoria, se alimenta la voluntad, se dilata el corazón y el espíritu se satisface? No hay lisonja, no hay fullería para un ingenio como un libro nuevo cada día. Welches Gastmahl ist genußreicher für einen Gebildeten ["discreto"] als eine kultivierte Bibliothek, wo der Verstand Erholung, das Gedächtnis Bereicherung, der Wille Nahrung, das Herz Weite und der Geist Befriedigung findet? Es gibt für ein Ingenium keine Schmeichelei, keinen Genuß am Mogeln im Spiel, die einem neuen Buch täglich gleichkämen9. Ich mache einen größeren Sprung, um zu jener anderen Umbruch-Situation zu gelangen, die die Romantik darstellt. War die Bibliothek des Humanismus ein Programm, eine Utopie, so war sie doch eine vorstellbare Bibliothek im "normalen" Sinne des Wortes, eben mit Regalen und Büchern - und mit verschiedenen Titeln. Bei Novalis (1772-1801), im Heinrich von Ofterdingen, ist dies anders. Er spricht weder vom Buch noch von der Bibliothek, um den Akzent auf die Unendlichkeit des Sinnes zu legen, und die Lektüre, von der bei ihm die Rede ist, ist auch

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Antonio de Guevara, Menosprecio de corte y alabanza de aldea. Hsg. von M. Martínez de Burgos, Madrid 1952 (Clásicos Castellanos. 29), S. 167. Baltasar Gracián, Obras completas. Hsg. von Arturo del Hoyo, Madrid 3 1967, S. 711 a. Zum Fortleben und zur Funktion eines weiter stark humanistisch geprägten Bibliothekstypus bei Francesca Duranti, Giorgio Bassani, Corrado Alvaro und Umberto Eco vgl. Christa Schlumbohm, "Die Bibliothek als literarisches Motiv. Zum Kulturverständnis im italienischen Roman des 20. Jahrhunderts'1 (Vortragsmanuskript).

Die Bibliothek als Uterarisches Thema

keine normale Lektüre, sondern so etwas wie eine sympathetische Intuition: Die Gewächse sind so die unmittelbarste Sprache des Bodens; Jedes neue Blatt, jede sonderbare Blume ist irgend ein Geheimniß, was sich hervordrängt und das, weil es sich vor Liebe und Lust nicht bewegen und nicht zu Worten kommen kann, eine stumme, ruhige Pflanze wird. Findet man in der Einsamkeit eine solche Blume, ist es da nicht, als wäre alles umher verklärt und hielten sich die kleinen befiederten Töne am liebsten in ihrer Nähe auf. Man möchte für Freuden weinen, und abgesondert von der Welt nur seine Hände und Füße in die Erde stecken, um Wurzeln zu treiben und nie diese glückliche Nachbarschaft zu verlassen. Über die ganze trockne Welt ist dieser grüne, geheimnißvolle Teppich der Liebe gezogen. Mit jedem Frühjahr wird er erneuert und seine seltsame Schrift ist nur dem Geliebten lesbar wie der Blumenstraus des Orients. Ewig wird er lesen und sich nicht satt lesen und täglich neue Bedeutungen, neue entzückendere Offenbarungen der liebenden Natur gewahr werden. Dieser unendliche Genuß ist der geheime Reitz, den die Begehung der Erdfläche für mich hat, indem mir jede Gegend andre Räthsel löst, und mich immer mehr errathen läßt, woher der Weg komme und wohin er gehe10. Das ist schwer ins Geläufig-Rationale zu übersetzen, auch wenn das Vokabular des Genießens dasselbe wie bei Gracián zu sein scheint. Reste von "Bibliothek", von Architektonischem, sind sicher noch da - "In den Fluren und Hallen dieser Urwelt lebt der Dichter, und die Tugend ist der Geist seiner irdischen Bewegungen und Einflüsse"11 -, aber es ist klar, daß wir uns hier in einer neuartigen Welt, mindestens vor dem Entwurf einer solchen befinden. Während die eine von zwei sich allmählich trennenden Welten, dem Rationalismus der Aufklärung folgend, immer vernünftiger wird, mit Industrie, Großstädten, Eisenbahnen, Kanälen, Banken - und bestimmt mit Bibliotheken, wird die zweite nicht einfach unvernünftig, aber sie entdeckt andere Gesetze: die der Imagination. Keiner hat es deutlicher gesagt als Charles Baudelaire (18211867) im Salon de 1859, Kap. III: La reine des facultés·. C'est l'imagination qui a enseigné à l'homme le sens moral de la couleur, du contour, du son et du parfum. Elle a créé, au commencement du monde, l'analogie et la métaphore. Elle décompose toute la création, et, avec les matériaux amassés et disposés suivant des règles dont on ne peut trouver l'origine que dans le

10 Novalis, Schriften. Hsg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel [...], Bd. 1, Dannstadt 3 1977, S. 329. 11 Ebda., S. 332.

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plus profond de l'âme, elle crée un monde nouveau, elle produit la sensation du neuf12.

Damit ist das Prinzip der Mimesis nicht begraben, aber neben ihm wird ein zweites, entgegengesetztes, legitimiert, und das hat Wirkungen auf die literarischen Bibliotheken. Bald nach Novalis im Goldenen Topf von E.T.A. Hoffmann (17661822). Man erinnert sich, was passiert: Der Student Anselmus - es gab in Dresden damals keine Universität, hier fängt es mit dem Nicht-Mimetischen schon an - hat Pech mit einem Marktweib, dessen Äpfelkorb er ungeschickt umrennt. Er erblickt, als er traurig am Elbufer seiner vielen Ungeschicklichkeiten gedenkt und "in der Einsamkeit [s]einen Sanitätsknaster" raucht, in den Zweigen eines Holunders drei in grünem Gold erglänzende Schlänglein, die sich um die Zweige gewickelt hatten, und die Köpfchen der Abendsonne entgegenstreckten.

Wider seine prosaischen Vermutungen, es sei "die Abendsonne, die so in dem Holunderbusch spielt", sind es wirklich Schlangen, und besonders eine von ihnen tut es Anselmus an. Romantischer geht es nicht: Durch alle Glieder fuhr es ihm wie ein elektrischer Schlag, er erbebte im Innersten - er starrte hinauf, und ein paar herrliche dunkelblaue Augen blickten ihn an mit unaussprechlicher Sehnsucht, so daß ein nie gekanntes Gefühl der höchsten Seligkeit und des tiefsten Schmerzes seine Brust zersprengen wollte.

Ehe der tolpatschige Anselmus und Serpentina, eben die Bewußte, zusammenkommen, um in Atlantis ein Rittergut zu bewirtschaften, passiert noch Einiges zwischen der Welt der Spießbürger und der der Geister, in die Anselmus aufgenommen werden wird, und die Bibliothek ist hierfür ein Hauptort. Es ist keine öffentliche Bibliothek, mit Fernleihmöglichkeiten und dergleichen, zum Beispiel nicht die alte Königliche oder dann Sächsische Landesbibliothek. Sondern es ist die Privatbibliothek des Archivarius Lindhorst, der mit seinen Töchtern, sie erscheinen als Schlangen, aber sie haben auch Klavierstunde, ein großes Haus führt. Anselmus kopiert bei ihm die seltsamsten Manuskripte, und zwar in einer Bibliothek, von der Anselmus und der Leser nicht immer wissen, ob sie Palmenhain oder eben Büchersaal ist; sie ist beides: Aus den azurblauen Wänden traten die goldbronzenen Stämme hoher Palmbäume hervor, welche ihre kolossalen, wie funkelnde Smaragden glänzenden Blätter oben zur Decke wölbten [...].

12 Z. B.: Charles Baudelaire, OEuvres. Hsg. von Y.-G. Le Dantec, Paris 1956 (Bibliothèque de la Pléiade. 1), S. 773.

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Die Bibliothek als literarisches Thema

Und einige Zeilen später: Anselmus erwachte wie aus einem Traum, und bemerkte nun, daß er sich in einem hohen rings mit Bücherschränken umstellten Zimmer befand, welches sich in keiner Art von gewöhnlichen Bibliothek- und Studierzimmern unterschied. [...] "Dieses", sagte der Archivarius Lindhorst, "ist vorderhand Ihr Arbeitszimmer, ob Sie künftig auch in dem andern blauen Bibliotheksaal, in dem Sie so plötzlich meiner Tochter Namen riefen, arbeiten werden, weiß ich noch nicht [...].

Ich übergehe einige der Wechselfälle - der Archivarius Lindhorst ist eigentlich der Salamander, der seinerzeit "der Lilie Tochter, die grüne Schlange" wenn nicht bürgerlich geheiratet, so sich doch mit ihr vermählt und deswegen Ärger im Geisterreich bekommen hatte und eine Weile auf die Erde muß. Die Bibliothek bleibt wichtig für des Anselmus Schicksal. Im Kapitel "Die Bibliothek der Palmbäume - Schicksale eines unglücklichen Salamanders [usw.]" passieren die merkwürdigsten Dinge. Anselmus kopiert auftragsgemäß Manuskripte, "indem es ihn immer mehr dünkte, er schreibe nur längst gekannte Züge auf das Pergament hin und dürfe kaum nach dem Original sehen". Der Archivarius führt ihn eines Tages in jenes andere Bibliothekszimmer, zu einer schwierigen Kopieraufgabe: Anselmus bemerkte, daß aus den goldnen Stämmen der Palmbäume [die die Wände schmücken] kleine smaragdgrüne Blätter herausragten; eins dieser Blätter erfaßte der Archivarius, und Anselmus wurde gewahr, daß das Blatt eigentlich in einer Pergamentrolle bestand, die der Archivarius aufwickelte und vor ihm auf den Tisch breitete.

Anselmus kopiert in Wirklichkeit die Geschichte des Salamanders selbst. Es ist nicht gerade das Manuskript des Melquíades in Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez, ein Manuskript, das die Romanhandlung schon zum Inhalt hat, aber in diese Richtung gehen die Dinge im Goldenen Topf ohne Zweifel. Die Bibliothek ist eine Bibliothek, jedenfalls manchmal, und sie ist ein verzauberter Ort, an dem Anselmus sein eigenes Schicksalsbuch kopiert, übrigens mit der Hilfe Serpentinas. Ein Tintenklecks, den er sich wider das Verbot leistet, führt zu einem heftigen Rückschlag für Anselmus, der sich "in einer wohlverstopften Kristallflasche auf einem Repositorium im Bibliothekzimmer des Archivarius Lindhorst" wiederfindet. Doch dies ist nur ein retardierendes Moment. Als Pointe setzt E.T.A. Hoffmann an den Schluß einen Brief, in dem der Archivarius Lindhorst den Erzähler selbst ins blaue Palmbaumzimmer einlädt, um mit den dort vorfindlichen Schreibmaterialien seine Geschichte zu vollenden13. 13 E.T.A. Hoffmann, Fantasie- und Nachtstücke. [...]. Hsg. von Walter Müller-Seidel und Wolfgang Krön, München bzw. Darmstadt 1961. Zitate S. 182, 183, 213-214, 224, 226, 228, 239.

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Sie ist unvermeidlich tief ironisch - Lindhorst macht sich Sorgen, ob sein mm publik gewordenes Salamander-Wesen mit seiner Beamteneigenschaft weiterhin vereinbar sei usw. -, aber das ändert nichts an der Neuartigkeit der Funktion, die die Bibliothek hier angenommen hat: Sie ist so etwas wie ein Schicksalsort. Etwas sozusagen Über-Bibliothekarisches haftet auch späteren Beispielen für das Thema an. Ich denke an die Bibliothek in Hermann Kasacks Die Stadt hinter dem Strom, ein Jenseits-Archiv, das den humanistischen Glauben an die tertia vita, an das Weiterleben im Werk, radikal außer Kraft setzt: Der Schriftsteller betrachtete mit Genugtuung die aufgereihten Bände seines Lebenswerks. Als er noch einmal eines seiner Bûcher in die Hände nehmen wollte, löste es sich in seine Bestandteile auf, das Papier zerbröckelte und zerfiel zu Staub.

Dieses - labyrinthisch angelegte - Archiv ist geradezu das Gegenteil dessen, was man normalerweise unter einer Bibliothek oder einem Archiv versteht: Es bewahrt nur vorübergehend. So wie die Verstorbenen sich in der Stadt hinter dem Strom, einer neuen Vorhölle des zwanzigsten Jahrhunderts, noch eine Zeitlang aufhalten, so findet auch im Archiv ein ständiges Aussortieren statt: "Wo das alles nur hingeht! Was nun wieder in den Katalogen gestrichen werden muß - f...]"1*. Hier ist die Bibliothek ein Ort der unabweisbaren Vergänglichkeit. Ich sagte oben, das Thema Bibliothek sei nicht dasselbe wie das Thema Buch. Das gilt meines Erachtens noch dann, wenn wie bei Jorge Luis Borges oder bei Octavio Paz - unter Berufungen auf Novalis und Mallarmé - der Textbegriff enorm universalisiert und dynamisiert wird, als sei der Unterschied zwischen unendlichem und unendlich interpretierbarem Text und Bibliothek aufgehoben. Ich verweise für Octavio Paz nur auf eine Stelle aus Los hijos del limo, wo es heißt: La idea del mundo como un texto en movimiento desemboca en la desaparición del texto único; la idea del poeta como un traductor o descifrador conduce a la desaparición del autor Die Idee von der Welt als Text in Bewegung führt zum Verschwinden des einzigen Textes; die Idee vom Dichter als Übersetzer oder Entzifferer fuhrt zum Verschwinden des Autors15.

Borges schreibt etwa in Del culto de los libros über den Koran (vgl. Sure ΧΠ, v. 1-2) nicht als bloßes Werk, sondern als Eigenschaft Gottes, oder über christliche Vorstellungen von den zwei Büchern Gottes, der Bibel und der Welt, Vorstellungen, die säkularisiert werden konnten 14 Hermann Kasack, Die Stadl hinter dem Strom. Roman, Frankfurt am Main 1960 (Erstes Suhrkamp Hausbuch), S. 232, 321. 15 Octavio Paz, Los hijos del limo. Del romanticismo a la vanguardia, Barcelona 1974, S. 107. Dt. von Rudolf Wittkopf: Die andere Zeit der Dichtung. Von der Romantik zur Avantgarde, Frankfurt am Main 1989, S. 100.

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und zum Beispiel zu Mallarmés Überzeugung führten, die Welt existiere, um in ein Buch einzugehen16. Oder Borges handelt über die schwierige Stelle I. Korinther ΧΙΠ, 12: "Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich's stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin" (Luther), um, in enger Anlehnung an Léon Bloy, zu einer "wahrscheinlichen" Erkenntnis zu kommen, die uns nicht völlig neu ist. Die Geschichte sei un inmenso texto litúrgico, donde las iotas y los puntos no valen menos que los versículos o capítulos íntegros, pero la importancia de unos y de otros es indeterminable y está profundamente escondida Die Geschichte ist ein unermeßlicher liturgischer Text, in dem die Jotas und die Punkte von gleich großer Bedeutung sind wie ganze Verse oder Kapitel; doch ist die Bedeutung der einen wie der anderen unbestimmbar und tief verborgen17.

Und doch begegnet bei Borges nicht nur der unendliche Text, sondern auch die unendliche Bibliothek. Und zwar in La Biblioteca de Babel, sicher einem der schwierigsten "Bibliotheks-Entwürfe", die es gibt, um nicht zu sagen: dies ist das Tollste, was wir auf dem Gebiet haben. Dabei ist gar nicht gesagt, daß es sich um eine Bibliothek handelt, denn der erste Satz lautet ja: El universo (que otros llaman la Biblioteca) se compone de un número indefinido, y tal vez infinito, de galerías hexagonales, con vastos pozos de ventilación en el medio, cercados por barandas bajísimas Das Universum, das andere die Bibliothek nennen, setzt sich aus einer Undefinierten, womöglich unendlichen Zahl sechseckiger Galerien zusammen, mit weiten Entlüftungsschächten in der Mitte, die mit sehr niedrigen Geländern eingefaßt sind.

Es ist unser altes Lied: Die Bibliothek ist nur zum Teil eine solche, so genau auch die architektonischen Beschreibungen sind. Man erfährt zum Beispiel etwas über die Lage der Toiletten, und es gibt kleine Räume, in denen "man im Stehen schlafen"18 kann. Da die Bibliothek identisch mit dem Universum ist, sind die Menschen, zum Beispiel das sprechende Ich, "hombres de la Biblioteca"; der Mensch gilt allgemein als "el imperfecto bibliotecario". Es scheint, als gehorche die Beschreibung der Bibliothek zwei durch- und ineinander übergehenden Antino16 Jorge Luis Borges, Otras inquisiciones. Madrid 1976 (El libro del bolsillo. 604), S. 110-115. 17 El espejo de las enigmas - Der rätselvolle Spiegel -, ebda. S. 123; Zitat aus Léon Bloy. Deutsch von Karl-August Horst nach Essays. 1952-1979, München o. J. (Gesammelte Werke. 5/Π), S. 131. 18 Wohl eine Anspielung des poeta doctus, der Borges war, auf die französische Wendung "un conte à dormir debout" - "eine übertriebene, außergewöhnliche Erzählung". Hinweis bei John Sturrock, Paper Tigers. The Ideal Fictions of Jorge Luis Borges, Oxford 1977, S. 100.

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mien: derjenigen zwischen der Meinung des Ich und anderen Auffassungen, die es referiert, und derjenigen zwischen zu vermutender Ernsthaftigkeit und subtiler Infragestellung. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit will ich wichtige Charakteristika in der Abfolge des Textes in Erinnerung rufen und diese Antinomien deutlich werden lassen. Auf die Bibliothek wird zunächst ein berühmter Satz für Gott (Allmittelpunkt und unendliche Sphäre) modifiziert angewendet: "La Biblioteca es una esfera cuyo centro cabal es cualquier hexágono, cuya circunferencia es inaccesible" (kursiv im Original) - "Die Bibliothek ist eine Kugel, deren eigentlicher Mittelpunkt jedes beliebige Sechseck ist, und deren Umfang unzugänglich ist". Die - nach Überzeugung des beschreibenden Ich unendliche, nach Meinung anderer wegen eines Spiegeleffektes nur unendlich scheinende - Bibliothek gehorcht festen Zahlenverhältnissen: Jede Wand jedes Sechseckes hat fünf Regale, jedes mit 32 gleichförmigen Büchern zu 410 Seiten zu 40 Zeilen zu "ungefähr" 80 Buchstaben - die letzte Angabe bleibt also, im Gegensatz zu allen übrigen Ziffern, inexakt. Die Rückentitel geben nicht den Inhalt der Bücher an. Die Bibliothek besteht nach der Überzeugung des Ich "ab aeterno", denn sie kann nur das Werk eines Gottes sein. Neben diesem "Axiom" lautet ein zweites, die Zahl der orthographischen Symbole betrage 25, eine Anspielung auf das hebräische Alphabet (22 Buchstaben, Komma, Punkt und Zwischenraum)19. Manche meinen, die Nachahmung jener 25 Zeichen sei zufällig, und die Bücher hätten keine Bedeutung. "Ese dictamen, ya veremos, no es del todo falaz" - "Diese Anschauung geht, wie man sehen wird, nicht völlig fehl". Auch glaubte man lange, alle die unverständlichen Bücher seien in dahingegangenen Sprachen verfaßt, ein Irrtum. Vor 500 Jahren überließ der Chef eines Sechsecks - früher gab es solche Amtsinhaber, sie wurden durch Selbstmord und Lungenkrankheiten sehr dezimiert - ein interessantes Buch einem umherziehenden Entzifferer, der es als auf Portugiesisch geschrieben diagnostizierte. Nach anderer Theorie war es jiddisch. Und weiter: Antes de un siglo pudo establecerse el idioma: un dialecto samoyedo-lituano del guaraní, con inflexiones de árabe clásico bevor ein Jahrhundert um war, konnte die Sprachform bestimmt werden: es handelte sich um einen samojedisch-litauischen Dialekt mit einem Einschlag von klassischem Arabisch.

Ich sprach oben von subtiler Infragestellung: Das zuletzt Zitierte ist natürlich der blanke Hohn. Man könnte milder sagen: das pure Spiel, aber vergessen wir nicht, wie unser Text heißt. Wir haben es mit der Bibliothek von Babylon zu tun, der Stadt der Sprachverwirrung:

19 Vgl. Adelheid Schaefer, Phantastische Elemente und ästhetische Konzepte im Erzähhverk von J. L. Borges, Wiesbaden und Frankfurt am Main 1973 (Studien zur Romanistik), S. 95.

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Die Bibliothek als literarisches Thema

Wohlauf, lasset uns herniederfahren und ihre Sprache daselbst verwirren, daß keiner des andern Sprache verstehe! (Genesis XI, 7; Luther) Ein samojedisch-litauischer Dialekt des Guaraní mit arabischen Flexionsendungen: sind das nicht die Fragmente nach der Verwirrung? Eine Analyse des Inhalts ergab ebenfalls wenig Befriedigendes: nociones de análisis combinatorio, ilustradas por ejemplos de variaciones con repetición ilimitada Begriffe der kombinatorischen Analysis, dargestellt an Beispielen sich unbegrenzt wiederholender Variationen. Hieraus schloß - man darf fragen: auf Grund welcher Regeln? - ein begabter Bibliothekar, daß einerseits die Elemente aller Bücher dieselben sind - Raum, Punkt, Komma, die 22 Buchstaben - und daß andererseits die Bibliothek "total" ist, nämlich alles enthält: Todo: la historia minuciosa del porvenir, las autobiografías de los arcángeles, el catálogo fiel de la Biblioteca, miles y miles de catálogos falsos, la demostración de la falacia de esos catálogos, la demostración de la falacia del catálogo verdadero, el evangelio gnóstico de Basílides, el comentario de ese evangelio, el comentario del comentario de ese evangelio, la relación verídica de tu muerte, la versión de cada libro a todas las lenguas, las interpolaciones de cada libro en todos los libros Alies: die bis ins einzelne gehende Geschichte der Zukunft, die Autobiographien der Erzengel, den getreuen Katalog der Bibliothek, Tausende und Abertausende falscher Kataloge, den Nachweis ihrer Falschheit, den Nachweis der Falschheit des echten Katalogs, das gnostische Evangelium von Basilides, den Kommentar zu diesem Evangelium, den Kommentar zum Kommentar dieses Evangeliums, die wahrheitsgetreue Darstellung deines Todes, die Übertragung jeden Buches in sämtliche Sprachen, die Interpolationen jedes Buches in allen Büchern. Die Regeln, nach denen ich eben fragte, haben sicher etwas mit denen zu tun, die ich oben aus Baudelaire zitierte. Sie erlauben unerhörte Kombinationen. Borges scheint aber weiter zu gehen: Er postuliert, daß die Bibliothek auch die Zukunft enthält, daß also alles Künftige (wie im Manuskript des Melquíades bei García Márquez20) bereits geschrieben und nur zu entdecken ist. Aber die Autobiographien der Erzengel, sind sie tiefernst gemeint? Man versteht die Hoffnung auf "la aclaración de los misterios básicos de la humanidad: el origen de la Biblioteca y del tiempo" - "Aufschluß 20 Vgl. Emir Rodríguez Monegal, "One Hundred Years of Solitude: The Last Three Pages", in: Books Abroad 47,3 (1973), S. 485-489.

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über die Grundgeheimnisse der Menschheit: den Ursprung der Bibliothek und der Zeit". Es kommen aber letztlich keine Antworten auf bestimmte historische Fragen heraus, sondern neue strukturelle Überzeugungen. Die Aussonderung angeblich nutzloser Bücher zum Beispiel hatte, so beklagenswert sie war, keinerlei Einfluß, denn: la Biblioteca es tan enorme que toda reducción de origen humano resulta infinitesimal die Bibliothek ist so gewaltig an Umfang, daß jede Schmälerung durch Menschenhand verschwindend gering ist. Und nun kommt die vielleicht interessanteste Strukturbemerkung: Jedes Buch der Bibliothek ist einzig und unersetzbar; aber es gibt zu jedem Buch Parallelbestände von Exemplaren, die sich nur minimal unterscheiden. Trotz dieses Reichtums gilt ein Anderes, und das berichtende Ich ist hier tief engagiert: Es muß ein Buch existieren, que sea la cifra y el compendio perfecto de todos los demás (kursiv im Original) das Inbegriff und Auszug aller ist. Auf der Suche hiernach habe er seine Jahre verbraucht, sagt der Erzähler, übrigens 1941, anderthalb Jahrzehnte bevor Borges Direktor der Nationalbibliothek in Buenos Aires, also unmittelbarer Kollege unseres Jubilars, wurde. Aber 1938 war Borges Hilfsbibliothekar in einer Vorstadt geworden 21 . - Die Suche war vergeblich, jedoch: Si el honor y la sabiduría y la felicidad no son para mi, que sean para otros. Que el cielo exista, aunque mi lugar sea el infierno. Que yo sea ultrajado y aniquilado, pero que en un instante, en un ser, Tu enorme Biblioteca se justifique Wenn Ehre, Weisheit und Glück nicht für mich sind, mögen sie es für andere sein. Möge der Himmel existieren, auch wenn mein Ort die Hölle ist. Mag ich beschimpft und zunichte werden, aber möge in einem Augenblick, in einem Sein Deine ungeheure Bibliothek ihre Rechtfertigung finden. Entgegen der Ansicht der Gottlosen ist die Bibliothek nicht oder nur scheinbar ein Chaos. Zu vermuten ist, da in ihr alles schon vorweggenommen wurde und Sprechen nur Tautologie sein kann - zu vermuten ist - analog zu jenem geheimnisvollen Buch - ein "terrible sentido" - ein "schrecklicher Sinn" -, den die Bibliothek mit all ihren geheimen Sprachen enthält. Nachdem kurz vorher Gott mit direktem "Tu" ("Deine") angeredet worden war, erfährt dies jetzt der Leser:

21 Vgl. Christian Nicaise, La BibUothique totale de Jorge Luis Borges, o. O. 1990, (L'Instant peipetuel), S. 10.

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Die Bibliothek als literarisches Thema

Tú, que me lees, ¿estás seguro de entender mi lenguaje? Bist du, Leser, denn sicher, daß du meine Sprache verstehst? Man kann die Identität von Bibliothek und Kosmos gelegentlich aus den Augen verlieren; man kann es nicht gegen Ende des Textes. Das berichtende Ich handelt hier, mit dem berühmten Terminus Montaignes, von "la presente condición de los hombres": Die Spezies Mensch, die nicht mehr lesen kann, werde untergehen, die Bibliothek werde Bestand haben. Sie - das Universum ist nämlich "ilimitada y periódica" "schrankenlos und periodisch". Der letzte Satz: Mi soledad se alegra con esa elegante esperanza Meine Einsamkeit gefallt sich in dieser eleganten Hoffnung22. Es scheint, jedenfalls mehrheitlich, zu stimmen, daß fiktive Bibliotheken mehr sind als Büchersammlungen. Borges' Bibliothek von Babylon ist sicher ein "monströses und komisches Modell des Universums"23, sie hat sicher die Eigenschaften eines Labyrinths24, und gewiß ist sie "ein durchsichtiges Symbol unserer Buchkultur"25. Mir scheint aber wichtig, daß sich dieses Universum aus unverständlichen Büchern nicht auf eine einzige Formel festlegen läßt. Die manieristische Kombinatorik wird thematisiert, aber nicht eigentlich so verwirklicht, daß ein glatter Sinn herauskäme. Zahlen - 410, 40, 80 - wurden offenbar "fixed arbitrarily by Borges since they are bound to be insignificant"26. Wir haben es nicht mit einem Rätsel zu tun, dessen Brisanz mit der Lösung verschwindet, sondern mit der ungelösten Rätselhaftigkeit dieser Welt und ihres Sinnes als dem eigentlichen Thema. "The combinations which the library contains are conspicuous by their total irresponsibility; they recognize no distinction between truth and falsehood, good and evil, sense and nonsense"27. Ein schon älteres Urteil scheint daher noch immer zutreffend zu sein, daß nämlich "die Hoffnung und die Frustration mit ihrem Gegensatz die Geschichte der 'Bibliothek von Babel' dramatisch machen"28. 22 Der Text in: Jorge Luis Borges, Ficciones, Buenos Aires 1956 {Obras Completas), S. 75-85; ich glaube auf den Einzelnachweis jedes Zitates verzichten zu dürfen. Deutsch von Karl-August Horst: "Die Bibliothek von Babel", in: Sämtliche Erzählungen, München 1970, bzw. in: Die Bibliothek von Babel, Stuttgart 1974 (Reclams Universal-Bibliothek. 9497), S. 47-57; hiernach die Zitate. Vgl. auch Fiktionen [...], Frankfurt am Main 1992 (Fischer Taschenbuch. 10581). 23 John Updike, "El autor bibliotecario", in: Jaime Alazraki (Hsg.), Jorge Luis Borges, Madrid 1976, S. 167. 24 Ana Maria Barrenechea, La expresión de la irrealidad en la obra de Borges, Buenos Aires 1967, S. 79. 25 Juan Ñuño, La filosofía de Borges, México, D. F., 1986, S. 48; vgl. Jaime Alazraki, Versiones, inversiones, reversiones. El espejo como modelo estructural del relato en los cuentos de Borges, Madrid 1977 (Biblioteca Románica Hispánica. VII. 36), S. 108. 26 John Sturrock, Paper Tigers. The Ideal Fictions of Jorge Luis Borges, Oxford 1977, S. 101. 27 Ebda., S. 102. 28 Ana María Barrenechea, a.a.O., S. 74. - Vgl. noch Eberhard Geisler, "Paradox und Metapher. Zu Borges' Kafka-Rezeption", in: Romanistische Zeitschrift fOr Literaturgeschichte 1986, S.

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Nach alledem ist vielleicht eine Schlußbemerkung angebracht. Wir tragen hier alle zu einer Festschrift für den Direktor der Universitätsbibliothek der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf bei. Es ist dank ihm eine der am besten organisierten, geführten und ergänzten wissenschaftlichen Bibliotheken, die es auf dieser Welt gibt. Sie ist groß, ohne gleich unendlich zu sein. Sie umfaßt weder die Zukunft, noch sind ihre Bände alle vom selben Format oder bieten dieselbe Anzahl Zeilen pro Seite. Auch besteht wenig Hoffnung, daß ein einziges Buch in ihr alle übrigen enthält. Geht nicht Borges, geht nicht E.T.A. Hoffmann am eigentlichen Wesen einer ordentlichen Bibliothek vorbei? Ich denke: nein. Denn auch die rationalst verwaltete moderne Universitätsbibliothek bewahrt - die unsrige auch durch ihre Architektur - etwas vom, ich sage es ruhig einmal: vom Mysterium der unzähligen Bücher. Das hat aber nun keiner so unnachahmlich zum Ausdruck gebracht wie Umberto Eco, selbst Autor eines berühmten Romans mit einer Bibliothek als Schauplatz. Aber den Namen der Rose will ich hier nicht mehr behandeln, sondern die vermutlich weniger bekannte Schrift De Bibliotheca. In ihr gibt Eco zu Beginn ein langes Zitat aus Borges, um sich dann etwa dieselbe Frage-zu stellen: "E questa una biblioteca possibile o appartiene solo a un universo di fantasia?" - "Ist dies eine mögliche Bibliothek, oder gehört sie nur in ein Phantasie-Universum?" Eco geht Bibliotheken der Antike, des Mittelalters, der frühen Neuzeit durch, "die teilweise zum Verbergen dienten, aber auch zum Bewahren und damit zum Fundemachen", um dann einen Negativ-Katalog, das Modell einer total schlechten Bibliothek zu entwerfen. Der Leser als Feind des Bibliothekars, die unerreichbare Auskunft, der Mangel an Toiletten - das sind einige Punkte des Katalogs, "e, in questo senso, la descrizione di Borges già va bene" - "und so gesehen ist die Beschreibung von Borges schon richtig". Eco - er hielt De Bibliotheca als Rede bei einem Bibliotheksjubiläum - fordert dann, Borges anders ernstzunehmen und die Bibliothek zu einem dem Menschen adäquaten Universum zu machen. Dazu gehört ein Punkt, den Eco schon vorher als Haupterlebnis beschrieben hatte und für den in Düsseldorf die von Eco zitierte entsprechende UNESCORichtlinie sicher nicht nötig war. Ich schließe mit diesem Zitat, das, wie ich denke, einen Hauch jenes Mysteriums wiedergibt: Ora, cos'è importante nel problema dell'accessibilità agli scaffali? E che uno dei malintesi che dominano la nozione di biblioteca è che si vada in biblioteca per cercare un libro di cui si conosce il titolo. In verità accade sovente di andare in biblioteca perchè si vuole un libro di cui si conosce il titolo, ma la principale funzione della biblioteca, almeno la funzione della biblioteca di casa mia e 219-243, bes. S. 229-236; Jean-Pierre Mourey, jorge luis borges. viriti et universßctionnels, Liège-Bruxelles 1988, S. 24-26; Raphael Lellouche, Borges ou l'hypothèse de l'auteur, Paris 1989, S. 211-236.

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di qualsiasi amico che possiamo andare a visitare, è di scoprire dei libri di cui non si sospettava l'esistenza, e che tuttavia si scoprono essere di estrema importanza per noi. Ora, è vero che questa scoperta può essere data sfogliando il catalogo, ma non c'è niente di più rivelativo e appassionante dell'esplorare degli scaffali che magari riuniscono tutti i libri di un certo argomento, cosa che intanto sul catalogo per autore non si sarebbe potuto scoprire, e trovare accanto al libro che si era andati a cercare un altro libro, che non si era andati a cercare, ma che si rivela come fondamentale Warum ist nun der freie Zugang zu den Regalen so wichtig? Eines der Mißverständnisse, die den allgemeinen Begriff der Bibliothek beherrschen, ist die Vorstellung, daß man in eine Bibliothek geht, um sich ein bestimmtes Buch zu besorgen, dessen Titel man kennt. Natürlich kommt es oft vor, daß man in eine Bibliothek geht, weil man ein bestimmtes Buch haben will, aber die Hauptfunktion einer Bibliothek - jedenfalls meiner privaten Bibliothek und jeder, die wir im Hause von Freunden durchstöbern können ist die Möglichkeit zur Entdeckung von Büchern, deren Existenz wir gar nicht vermutet hatten, aber die sich als überaus wichtig für uns erweisen. Gewiß kann man diese Entdeckung auch machen, wenn man den Katalog durchblättert, aber nichts ist aufschlußreicher und spannender, als eigenhändig die Regale zu durchstöbern, die womöglich alle Bücher zu einem bestimmten Thema enthalten (was man im Autorenkatalog nie hätte entdecken können), und neben dem Buch, dessentwegen man gekommen ist, ein anderes Buch zu finden, das man gar nicht gesucht hatte, aber das sich als fundamental herausstellt29.

29 Umberto Eco, "De Bibliotheca", in: Sette anni di desiderio, Milano 1983, S. 237-250; Zitate: S. 239, 240, 244. Deutsch von Burkhart Kroeber: Die Bibliothek, München 1987; S. 11, 15, 24.

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Die Druckerverleger des katholischen Deutschlands Zwischen Augsburger Religionsfrieden 1555 und Westfälischem Frieden 1648

I. Im Jahre 1571 war unter den Jesuiten der oberdeutschen Provinz eine kontroverse Diskussion um die Frage entbrannt, ob ein eigenes "Schriftstellerkolleg" gegründet werden sollte, dessen Mitglieder sich ausschließlich dem publizistischen Kampf mit dem Konfessionsgegner widmen konnten. Petrus Canisius sprach sich in einem Gutachten für eine solche Einrichtung aus; Herzog Albrecht von Bayern hatte sogar bereits zugesagt, die von den Fuggern erworbene Bibliothek einem solchen Kolleg zur Verfügung zu stellen. Innerhalb des Ordens konnte sich diese Idee indes nicht durchsetzen - auch ein Antrag auf der dritten oberdeutschen Provinzialkongregation 1575 scheiterte1. Ungeachtet dieses Mißerfolges illustriert diese Diskussion doch, wie hoch die Vorkämpfer einer katholischen Reform die Frage der publizistischen Präsenz einschätzten2. Dies ist freilich nicht weiter erstaunlich. Schließlich war bereits den Zeitgenossen der Reformationsära bewußt, wie viel der Erfolg der neuen Lehre dem Medium des Buchdruckes verdankte. Johannes Cochläus beklagte sich beispielsweise bitter darüber, daß die Drucker nur für Luther und andere Protagonisten der Reformation arbeiteten und die Werke katholischer Autoren als "... indocta & veteris barbariei triuialia scripta contemnebant ..." 3 . Ohne Nutzung des Buchdruckes indessen, dies unterstreicht das Räsonnement des Humanisten, konnte niemand die alte Kirche auf Dauer erfolgreich gegen die Reformation verteidigen. Es sei dahingestellt, inwieweit Cochläus mit seiner Bemerkung in zeitüblicher Manier übertrieben hat - neuerdings hat zum Beispiel Richard A. Crofts auf die auch in der Reformationszeit kontinuierlich hohe Produktivität altgläubiger Autoren hingewiesen4 -, wichtiger im Nachhinein

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Vgl. Bernhard Duhr, Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge, Bd. 1, Freiburg i. Brsg. 1913, S. 648ff. Weitere Beispiele ließen sich ebenfalls anfllhren. So hatten bereits 1566 Canisius und Nadal in einer Denkschrift empfohlen, daB der päpstliche Nuntius katholische Drucker und Autoren unterstützen sollte; vgl. Dieter Breuer, Oberdeutsche Literatur 1565-1650. Deutsche Literaturgeschichte und Territorialgeschichte in frUhabsolutistischer Zeit, München 1979 (=Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Beih. 11, Reihe B) S. 92. Breuer, Oberdeutsche Literatur, S. 93. Richard A. Crofts, Printing, Reform and the Catholic Reformation in Germany (1521-1545). In: Sixteenth Century Journal 16 (1985) S. 369ff; vgl. hierzu auch Mark U. Edwards Jr.,

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war, daß Cochläus es nicht bei seiner Kritik beließ, sondern sich selbst um die Gründung katholischer Offizinen bemühte. Unmittelbar auf ihn ging zum Beispiel die Ansiedlung Franz Behems in Mainz, einem der "bedeutendsten katholischen Drucker der Reformationszeit"5, zurück. Diese beiden Beispiele illustrieren die Bedeutung, welcher der durch das Medium des Buchdruckes geschaffenen Öffentlichkeit für die Selbstbehauptung der alten Kirche in und nach der Reformationsära zukam6; und sie zeigen vor allem, was die alte Kirche benötigte, um diese Öffentlichkeit beeinflussen und lenken zu können: Ein Netzwerk von Autoren und Druckerverlegern7. Hierbei bildete zweifelsohne die Existenz leistungsfähiger Offizinen eine conditio sine qua non. Daher rührt auch der historische Rang, welcher der kleinen Gruppe von Buchdruckern in den konfessionellen Konflikten des 16. und 17. Jahrhunderts zukam. Sie waren seit der Reformation eine wichtige Schlüsselgruppe in den konfessionellen Konflikten des Jahrhunderts. Darüber hinaus wirkten sie nicht nur, wie Elizabeth Eisenstein gezeigt hat, bei der Bildung einer neuen Form politischer und konfessioneller Öffentlichkeit entscheidend mit, sondern prägten nicht weniger stark die Entwicklung eines modernen Wissenschaftsverständnisses mit all seinen Folgen8. Die kleine Gruppe derjenigen Druckerverleger, die in den altgläubigen Herrschaftsgebieten des Reiches zwischen 1555 und 1648 arbeiteten, etwas genauer in den Blick zu nehmen, ihre zentralen Wirkungsorte und ihre quantitative Bedeutung herauszuarbeiten, ist das Ziel dieses Beitrags. Eine derartige zusammenfassende Darstellung scheint nicht nur geboten, weil es bislang allenfalls umfangreichere Untersuchungen zu einzelnen, bedeutenderen Druckern - gleich welcher Konfession gibt, sondern auch immer noch die These von der produktiven Inferiorität gegenüber den protestantischen Kollegen ohne genauere Belege das Bild in der Literatur bestimmt9.

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Catholic Controversial Literature, 1518-1555: Some Statistics. In: Archiv für Reformationsgeschichte 79 (1988) S. 189ff. Adolph Tronnier, Zur Lebensgeschichte des Mainzer Druckers Franz Behem. In: GutenbergJahrbuch 1938, S. 168. Grundsätzlich hierzu vgl. Erdmann Weyrauch, Überlegungen zur Bedeutung des Buches im Jahrhundert der Reformation. In: Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit, hrsg. von Hans-Joachim Köhler, Stuttgart 1981 (=SpätmittelaIter und Frühe Neuzeit, Bd. 13) S. 243fr. Die Personalunion von Drucker und Verleger war damals noch die Regel und begann sich erst im Laufe des 17. Jahrhunderts zunehmend aufzulösen. Nach Wolfgang Reuter, Zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Buchdruckgewerbes im Rheinland bis 1800 (Köln-Bonn-Dflsseldorf). In: Archiv für die Geschichte des Buchwesens 1 (1958) S. 664, hatte sich gerade im katholischen Köln der Typus des Druckerverlegers länger gehalten als in anderen Städten. Ähnlich zu Mainz Peter Baader, Das Druck- und Verlagshaus Albin-Strohecker zu Mainz (1598-1631). In: Ebda. 1 (1958) S. 531. Vgl. zusammenfassend jetzt: Elizabeth L. Eisenstein, The Printing Revolution in Early Modern Europe, Cambridge 1983. Vgl. z.B. Eisenstein, Printing Revolution, S. 171, wonach die katholischen Drucker zwar "... just as enterprising and industrious as Protestant printers ...", aber doch "... less successful in expanding their markets ..." waren.

Druckerverleger des katholischen

Deutschlands

Die Beschäftigung mit den Buchdruckern des katholischen Teiles des alten Reiches ist zudem eine notwendige Voraussetzung für eine umfassende und noch zu schreibende Geschichte der katholischen Publizistik im Zeitalter der Glaubenskämpfe10. Dabei gilt bereits für das Thema des katholischen Buchdruckes dasselbe, was Flood zur - insgesamt noch weitaus besser erforschten - Druck- und Publizistikgeschichte der Reformation anmerkte: "... l'état actuel des recherches ne permet pas encore de donner une vue globale"11. Abgesehen davon, daß die Kultur- und Konfessionsgeschichte der alten Kirche ohnehin bislang stets im Schatten der Reformation gestanden hat, hängt dies zu einem nicht geringen Teil auch mit der eigenen Komplexität des Themas zusammen12. Diese zusammenfassende Analyse beschränkt sich inhaltlich auf die altgläubigen Druckerverleger und was den Zeitraum angeht, auf die Epoche, in der die alte Kirche ihren inneren Reformprozeß verstärkte und sich zugleich erfolgreicher und offensiver gegen den Protestantismus zu behaupten und zum Teil sogar verlorenes Terrain wieder zurückzugewinnen vermochte, knapper formuliert, auf die Untersuchung der Buchdrucker der - in klassischer Terminologie - Epoche der katholischen Reform und Gegenreformation13. Es ist hierbei insonderheit zu fragen nach den regionalen Schwerpunkten des Buchdrucks und nach den Verlagerungen im Verlauf der Jahre bis 1648. Vor allem aber soll eine quantitative Auswertung der bekannten Buchdrucker katholischer Städte des Reichs einen Überblick über deren Entwicklung, über Zahl und Bestandsdauer der Offizinen, deren typologischen Unterschiede und die Mobilität der Drucker geben. Letztlich, und dies macht den eigenen Reiz einer Beschäftigung mit dieser Berufsgruppe aus, hat ein kleiner, in gewisser Weise elitärer Kreis, im Prozeß der konfessionellen und intellektuellen Entwicklung der alten 10 Bislang muB man sich immer noch auf ältere Arbeiten stützen, wie zum Beispiel auf die einschlägigen Kapitel bei Johannes Janssen, Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters, 8 Bde., Freiburg i.Brsg. 1878-1894; oder Richard Krebs, Die politische Publizistik der Jesuiten und ihrer Gegner in den letzten Jahrzehnten vor Ausbruch des dreissigjährigen Krieges, Halle 1890 (=Hallesche Abhandlungen zur Neueren Geschichte, H. 25). 11 John L. Flood, Le livre dans le monde germanique à l'époque de la Réforme. In: JeanFrancois Gilmont (Hrsg.), La réforme et le livre. L'Europe de l'imprimé (1517-V.1570), Paris 1990, S. 29. 12 Beschränkt man das Thema auf den Buchdruck im eigentlichen Sinne, so sind mit der Untersuchung der Drucker und ihrer Offizinen sowie einer quantitativen und qualitativen Analyse ihrer Produktion die Grenzen klar umrissen. Doch eine solche Begrenzung und Spezialisierung verstellt auch die Bedeutung des Themas. Denn bereits mit der inhaltlichen Auswertung der Produktion befindet man sich inmitten des geistes- und kulturgeschichtlichen Umfeldes, der theologischen, philosophischen, staatsrechlichen und konfessionellen Diskussionen der Zeit; und zusammen mit einer sozialgeschichtlichen Analyse der Autoren wie der Rezipienten hat man schon fast den Obergang zur politischen Geschichte, den Auftraggebern und Förderern der politischen und konfessionellen Debatten, erreicht. Für einen Überblick über dieses gesamte Spektrum mangelt es nun aber in der Tat an Vorarbeiten. 13 Zum Problem der Bezeichnung der Epoche vgl. nur: Ernst Walter Zeeden, Zur Periodisierung und Terminologie des Zeitalters der Reformation und Gegenreformation. Ein Diskussionsbeitrag. In: Ders., Konfessionsbildung. Studien zur Reformation, Gegenreformation und katholischen Reform, Stuttgart 1985 (=Spätmittelalter und Frühe Neuzeit, Bd. 15) S. 60ff.

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Kirche eine wichtige Rolle gespielt. Daher ist des weiteren nach dem sozialen und politischen Kontext, in dem die Drucker standen, zu fragen. Der Begriff katholischer Drucker wird im folgenden nur als formale Abgrenzung gebraucht. Er bezeichnet Buchdrucker, die in katholischen Städten tätig waren und sich nicht ausdrücklich zum Protestantismus bekannten. Über das persönliche konfessionelle Bewußtsein und Engagement sowie über das Programm der Offizinen ist damit noch keine Aussage getroffen. Fest steht aufgrund der formalen Abgrenzung nur, daß die untersuchten Drucker zum Bereich der altgläubig gebliebenen weltlichen Herrschaften gehörten und damit automatisch das drucktechnische und verlegerische Potential der intellektuellen und politischen Elite der alten Kirche bildeten.

Π.

Der Buchdruck war ausschließlich im Kulturraum der Stadt angesiedelt14. Verleger, Drucker, Autoren und Leser sowie - mit Abstrichen die politischen und kirchlichen Auftraggeber waren hier zu finden. Ausgangsbasis der Untersuchung sind somit die katholischen Städte des Reiches und die dort zwischen 1555 und 1648 tätigen Druckerverleger15. Insgesamt läßt sich in 47 Städten die Existenz einer Offizin nachweisen. Dabei gilt es natürlich lokalgeschichtliche Differenzierungen zu beachten, zumal in jenen Jahren konfessionelle Wechsellagen noch an der Tagesordnung waren. So kann zum Beispiel Oberursel erst nach seiner Rekatholisierung im Jahre 1604 zu den katholischen Druckorten gerechnet werden; und in Graz waren bis zur Berufung Georg Widmanstetters nur 14 Im Reichtagsabschied von Speyer 1570 war auch ausdrücklich festgehalten, daß nur in Reichs-, Residenz- und Universitätsstädten die Niederlassung von Buchdruckern erlaubt sei; nach Christine Petrick, Zur Entwicklung von Buchdruck und Buchhandel im deutschsprachigen Gebiet des Heiligen Römischen Reiches während des dreißigjährigen Krieges. In: Jahrbuch der Geschichte des Feudalismus 11 (1987) S. 275. Aber auch ohne diese, die Durchführung der Zensur und obrigkeitlichen Kontrolle intendierende Verordnung war es selbstverständlich, daß ein Gewerbe wie der Buchdruck auf den Kulturraum Stadt angewiesen war; vgl. nur auch Weyrauch, Überlegungen zur Bedeutung des Buches, S. 245. 15 Die hier vorliegende Untersuchung basiert im wesentlichen auf einer prosopographischen Auswertung der Druckerverleger dieser 47 Städte. Für die Sammlung der Daten wurden ausgewertet: Josef Benzing, Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet, 2. verb. u. erg. Aufl., Wiesbaden 1982 (=Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen, Bd. 12); Helmut W. Lang, Die Buchdrucker des 15. bis 17. Jahrhunderts in Österreich, Baden-Baden 1972 (=Bibliotheca bibliographica Aureliane, Bd. 42); David Paisey, German Printers, Booksellers and Publishers of the Seventeenth Century: some amendments and additions to Benzing. In: Gutenberg-Jahrbuch 64 (1989), S. 165ff. sowie ergänzend Josef Benzing, Die deutschen Verleger des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Archiv für die Geschichte des Buchwesens 18 (1977) Sp. 1077ff., wobei hier nur Verleger im eigentlichen Sinne berücksichtigt wurden, nicht aber Formschneider oder Kupferstecher. Herangezogen wurden alle Städte des Reichs einschließlich der Eidgenossenschaft, die im Untersuchungszeitraum katholisch waren oder wurden. Bikonfessionelle Städte wurden nicht berücksichtigt. In die Prosopographie aufgenommen sind diejenigen Druckerverleger, die zwischen 1555 und 1648 eine Offizin gründeten oder übernahmen oder hauptsächlich in dieser Zeit tätig waren (weshalb auch noch Druckerverleger berücksichtigt sind, die bereits vor 1555 oder noch nach 1648 tätig waren).

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Druckerverleger des katholischen Deutschlands

der protestantisch orientierten Landschaft verpflichtete Drucker tätig16, die natürlich nicht mit berücksichtigt werden durften. Dazu kam andererseits, daß in zwei Hochburgen des protestantischen Buchdruckes, in Frankfurt und Nürnberg, jeweils eine Offizin mit dezidiert katholischer Produktion ansässig war1 \ Derartige Sonderfälle muß man im Auge behalten, für einen ersten Überblick über die regionalen Zentren und die quantitative Verteilung der Drucker im Reich können sie aber vernachlässigt werden (Abb. 1). Abb. 1: Die regionale Verteilung der Drucker J555-16481S

Österreich

Den größten geschlossenen Block bildete das Rheinland mit Köln und Mainz, danach, mit ungefähr gleicher Verteilung, der oberdeutsche und österreichische Raum. Beachtenswert ist mit 6 % die Zahl der Drucker in eidgenössischen Städten wie Luzern oder Freiburg (Schweiz). Vernachlässigbar sind die Drucker in Mittel-und Ostdeutschland. 16 Eindeutig protestantische Drucker wurden bei der Ausweitung selbstverständlich nicht berücksichtigt. Zu Graz vgl. Theodor Graff, Der Stand der Forschungen zur steirischen Druckgeschichte 1559-1806. In: Biblos 23 (1974) S. 247ff.; Friedrich Kelbitsch, Die Residenzstadt Graz als Heimat des steirischen Buchdruckes. Ein Überblick über die Zeit der steirischen Frühdrucker (1559-1618). In: Innerösterreich 1564-1619. Red. von Alexander Novotny und Berthold Sutter, Graz [1967] (=Joannea: Publikationen des steiermärkischen Landesmuseums und der steiermärkischen Landesbibliothek, Bd. m.) S. 297ff. sowie immer noch Anton Schlossar, Grazer Buchdruck und Buchhandel im 16. Jahrhundert. In: Archiv für Geschichte des deutschen Buchhandels 4 (1879) S. 54ff. - Oberursel wurde 1604 rekatholisiert, weshalb nur Cornelius Sutor und Wendelin Junghen, nicht aber Nikolaus Henricus in die Auswertung aufgenommen sind; vgl. Benzing, Buchdrucker, S. 347. 17 In Frankfort waren dies Nikolaus Stein und Johann Theobald Schönwetter; vgl. Baader, AlbinStrohecker, S. 544. In Nürnberg nach Breuer, Oberdeutsche Literatur, S. 40 die Firma Georg Endter d.J. 18 Die Angaben sind als geographische Bezeichnungen, nicht als territoriale Herrschaftsbeieiche, zu verstehen. Unter Bayern werden zum Beispiel auch die geistlichen Territorien Frankens subsumiert.

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WILFRIED ENDEBLE

Die Zahl von 47 katholischen Druckstädten verdeckt freilich den Umstand, daß in einigen Orten erst nach 1600 sich der erste - und manchmal für geraume Zeit auch einzige - Drucker niederließ. Die Reichsstadt Überlingen am Bodensee ist ein Beispiel für das gescheiterte Bemühen um die langfristige Etablierung einer Offizin, andere ließen sich ebenfalls nennen19. Doch auch wenn die druckgeschichtliche Bedeutung der einzelnen Kommunen mithin sehr unterschiedlich war, so wird immerhin deutlich, daß auch das katholische Deutschland über eine ausgeprägte buchdruckerische Infrastruktur verfügte20. Wo aber waren in diesem Netz der 47 Druckorte die eigentlichen Zentren, die Hochburgen des katholischen Buchdruckes? Dies ließ sich bereits zeitgenössischen Mandaten entnehmen, wie zum Beispiel dem Verbot Herzog Albrechts V. von Bayern aus dem Jahr 1565, das allen Buchführern untersagte, "... khain Buech, weder Lateinisch noch Teutsch, in Theologischen sachen, darinnen die H. Schrift tractirt, ... auch dises oder jhenes Lehr vnd Confession, vertädiget wirdet ... ins Land [zu bringen], ... sie seyen dann in nachvolgenden ortten oder Steten getruckt worden, wie volgt. Zu München. Ingolstatt. Dillingen. Maintz. Cöln. Freyburg im Preißgaw. Inspruckh. ,.." 21 .

Diese Aufzählung wird - mit einigen Ergänzungen - bestätigt, wenn man aus dem gesamten Sample der katholischen Druckorte diejenigen selektiert, die zwischen 1555 und 1648 mindestens fünf Drucker nachweisen konnten oder in denen ohne Unterbrechung mindestens eine Offizin ansässig war. 19 Zu Überlingen vgl. die Angaben bei Benzing, Buchdrucker, S. 439 sowie Wilfried Enderle, Konfessionsbildung und Ratsregiment in der katholischen Reichsstadt Überlingen (1500-1618) im Kontext der Reformationsgeschichte der oberschwäbischen Reichsstädte, Stuttgart 1990 (=Veröffentlichungen der Kommission fllr württembergische Landesgeschichte, Reihe B., Bd. i 18) S. 352. Weitere Beispiele filr kurzlebige Unternehmungen sind die Städte Hohenems, Molsheim oder Wels. 20 Was zum Beispiel Etienne Francois, Géographie du livre et réseau urbain dans l'Allemagne moderne. In: La ville et l'innovation. Relais et réseaux de diffusion en Europe 14e-19e siècles. Etudes publiés sous la direction de B. Lepetit et J. Hoock, Paris 1987 (=Recherches d'histoire et de sciences sociales/Studies in history and the social sciences, Bd. 23) S. 64, übersieht, wenn er die Bedeutung des katholischen Buchdrucks allein aufgrund der statistischen Daten der MeBkataloge, wie sie bei Kapp/Goldfriedrich erschlossen worden sind, bewertet und damit das protestantische Übergewicht bei seiner Analyse der regionalen Schwerpunkte zu sehr betont. Auf die Problematik der Angaben der MeBkataloge hat bereits Fr. Zarncke, Erläuterungen der graphischen Tafeln zur Statistik des deutschen Buchhandels in den Jahren 1564 bis 1765. In: Friedrich Kapp/Johann Goldfriedrich, Geschichte des deutschen Buchhandels, Bd. 1: Friedrich Kapp, Geschichte des deutschen Buchhandels bis in das 17. Jahrhundert, Leipzig 1886 (ND 1970) S. 787, hingewiesen; methodisch umfassender ausgeführt bei Peter Düsterdieck, Buchproduktion im 17. Jahrhundert. Eine Analyse der MeBkataloge für die Jahre 1637 und 1658. In: Archiv für die Geschichte des Buchwesens 14 (1973) Sp. 163ff. 21 Zitiert nach: Reinhard Wittmann, Geschichte des deutschen Buchhandels. Ein Überblick, München 1991, S. 62. Nach Innsbruck werden noch die wichtigsten ausländischen Orte genannt. Bereits vier Jahre später war dasselbe Mandat nochmals erlassen worden; zitiert bei Michael Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt am Main. 1991, S. 443.

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Druckerverleger des katholischen

Deutschlands

Dies waren im Westen des Reiches nach Köln noch Mainz und Trier mit Abstrichen auch Münster - 22 , sodann im bayerischen Raum neben München und Ingolstadt noch Bamberg, Würzburg und Dillingen sowie Amberg; das dritte regionale Zentrum bildeten die österreichischen Erblande mit Wien, Graz (ab 1585) und Innsbruck. Eine ganze Reihe von Druckern wiesen noch Freiburg im Breisgau sowie Konstanz auf. Die konfessionelle Aufteilung des Reiches, so wie sie sich bis 1648 verfestigen sollte, spiegelt sich somit auch - erwartungsgemäß - in der territorialen Verteilung der zentralen Druckorte wider. Unter den angeführten Druckstädten finden sich sechs Bischofsstädte und vier Residenzstädte der bayerischen Wittelsbacher sowie der Habsburger. Dies belegt die weitgehende Identität zwischen den politischen und kulturellen Zentren der altgläubigen Territorien mit denen des Buchdruckes. Doch für ihre druckgeschichtliche Bedeutung war nicht allein der politische und kirchliche Rang als Residenz- oder Bischofsstadt entscheidend. Eine gleichermaßen wichtige Rolle spielte auch die Drucktradition vor Ort wie eine Übersicht über die Städte mit Erstdrukkern vor 1555 belegt. Mit Ausnahme von Graz sind hier alle Druckzentren vertreten. Die katholischen Druckorte besaßen mithin eine Drucktradition, die zumeist noch bis in die vorreformatorischen Jahrzehnte zurückreichte. Tab. 1: Katholische Städte mit Erstdruckern vor 1555 Amberg Bamberg Breslau Dillingen Freiburg/Brsg. Ingolstadt Innsbruck Köln Konstanz Landshut

1552 1460 1475 1489 1491 1484 1548 1464 1506 1513

Luzern Mainz München Münster Neisse Passau Salzburg Trier Wien Würzburg

1525 1445 1482 1485 1553 1480 1550 1481 1482 1479

Eine Übersicht über die Entwicklung der Erstdrucker bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes (Abb. 2) bestätigt, daß bis 1500 eine erste Welle von Druckern sich niedergelassen hatte und die Drucktradition in denjenigen Städten begründete, die noch bis 1648 die Zentren des katholischen Buchdruckes bilden sollten. Ein zweiter, in quantitativer Hinsicht noch stärkerer Schub setzte dann wieder nach 1575 ein und dauerte bis in die Anfangsjahre des dreißigjährigen Krieges fort. Offensichtlich begann in jenen Jahren eine Expansion des Buchdruckes, 22 Fast durchgehend ist auch in Düsseldorf ein Drucker nachweisbar, was indes daran lag, daB er als Hofbuchdiucker mit fester Besoldung angestellt war. Als eigenständiger Druckerverleger trat am ehesten noch hervor: Albert Buyss (1558-1595). Von den anderen Düsseldorfer Dnikkern - Jakob Bathen (1555-1557), Bernhard Buyss (1597-1618), Heinrich Ulenberg (16241629) und Christoph Ortt (1630-1650) - sind nach Benzing, Buchdrucker, S. 87f. nur wenige Drucke bekannt.

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WILFRIED ENDERLE

welche über die traditionellen Zentren hinaus neue Wirkungsorte erschloß. Hierfür mag auch, in Analogie zur Hausse protestantischer Offizinen in den Jahrzehnten der Reformation, die durch die konfessionelle Auseinandersetzung stimulierte Konjunktur der katholischen Publizistik beigetragen haben. Ebenso aber auch das Interesse von Druckern nach Gründung einer eigenen Offizin, sowie das Bedürfnis städtischer und territorialer Obrigkeiten, sich eines eigenen Druckers vor Ort für ihre Zwecke bedienen zu können23. Nicht zuletzt muß man auch auf die Gründung neuer und die Reform bestehender Universitäten sowie die Blüte späthumanistischer Kultur verweisen24. Eine präzisere Erklärung wird indes erst möglich sein, wenn detaillierteres Material zu den einzelnen Druckern vorliegen wird. Fest steht, daß die führenden katholischen Druckorte eine seit längerem etablierte Infrastruktur besaßen, daß zugleich aber in den 1570er Jahren eine breite Gründungswelle in katholischen Städten ohne Drucktradition einsetzte. Abb. 2: Die Entwicklung der katholischen Erstdruckorte 1445-1648

1475

1500

1525

1550

1575

1600

1625

1650

Inwieweit war nun mit dieser Expansion eine strukturelle Veränderung der Drucklandschaft verbunden? Zur Beantwortung dieser Frage muß man die oben angeführten Zentren des katholischen Buchdruckes in 23 Beispielhaft hierfiir ist die Laufbahn des Rottweiler Druckers Johann Maximilian Helmlin, der sich in Rottweil nur mit Unterstützung des dortigen Magistrats etablieren konnte und sich vor allem in den Jahren des dreißigjährigen Krieges nur mit amtlichen Aufträgen des Rates über Wasser halten konnte; vgl. Winfried Hecht, Das Druckereiwesen in der Reichsstadt Rottweil bis zum Ende des 17. Jahrhunderts. In: Gutenberg-Jahrbuch 1974, S. 177ff. u. 180. 24 Zum Einfluß der Jesuiten an den Universitäten vgl. Karl Hengst, Jesuiten an Universitäten und Jesuitenuniversitäten. Zur Geschichte der Universitäten in der Oberdeutschen und Rheinischen

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Druckerverleger des katholischen

Deutschlands

den Blick nehmen und ihre Bedeutung anhand der Zahl und Produktivität der dort arbeitenden Drucker bewerten (Tab. 2 und 3). Dabei wird deutlich, daß ungeachtet der Expansion der Betriebe und der Einbindung neuer Städte in das Netz der Druckorte die alten Zentren weiterhin dominierten. Bis 1648 blieb die sich bereits in der Inkunabelzeit herauskristallisierte Struktur erhalten. Erst danach setzte ansatzweise ein Verdrängungsprozeß ein. Jetzt avancierte das bikonfessionelle Augsburg zum "unbestrittenen Zentrum des katholischen Druck- und Verlagswesens" 25 , wohingegen Köln auf den zweiten Rang zurückfiel 26 . Tab. 2: Die Zahl der Drucker in den zentralen Druckorten 1555-1648 Amberg Bamberg Dillingen Freiburg/Brsg. Graz Ingolstadt Innsbruck Köln

5 6 11 14 3 9 8 93

Konstanz Mainz München Münster Trier Wien Würzburg

8 12 9 5 9 40 12

Fast 75 % aller Drucker waren in diesen 15 Städten, den primären Zentren des katholischen Buchdrucks, tätig. Die Zahlen belegen aber neben dieser Konzentration auf wenige Kommunen noch ein weiteres Charakteristikum: Die Ausnahmestellung Kölns und damit generell eine strukturelle Zweiteilung der katholischen Drucklandschaft. Denn die Zahl der Druckerverleger der beiden rheinischen Städte war fast genauso hoch wie die aller übrigen katholischen Kommunen des Reiches. Ohne die 40 Offizinen Wiens wäre die kölnische Dominanz noch krasser ausgefallen. Während in kleineren, druckgeschichtlich zweitrangigen Städten in der Regel nur ein Drucker tätig war, und diese Offizin oft nicht kontinuierlich bestand, galt für Orte wie Dillingen, Ingolstadt oder München, daß in den besten Zeiten 2 bis 3 bedeutende Offizinen gleichzeitig etabliert waren. In Köln hingegen gab es im Schnitt 13-15 gleichzeitig bestehende Offizinen von überregionaler Bedeutung und dazu noch eine Reihe kleinerer Werkstätten, die - neben ihrer eigenen, bescheidenen Produktion - im Auftrag dieser "Großdrucker" arbeiteten27.

Provinz der Gesellschaft Jesu im Zeitalter der konfessionellen Auseinandersetzung, Paderborn 1981 (»Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte, N.F. Bd. 2). 25 Wittmann, Buchhandel, S. 87. 26 Nach Wittmann, Buchhandel, S. 87, waren in Augsburg zwischen 1650 und 1750 150 Betriebe tätig, in Köln hingegen noch 93. 27 Vgl. Reuter, Zur Wirtschafte- und Sozialgeschichte, S. 647ff., der auch eine Übersicht zu den einzelnen Druckern gibt. Ferner als Gesamtdarstellung immer noch Walter Haentjes, Der Kölner Buchdruck im 16. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte der Stadt Köln im Zeitalter der Reformation und Gegenreformation, Diss, masch., Köln 1953; Severin Corsten, Die Blütezeit des Kölner Buchdrucks. In: Rheinische Vierteljahrsblätter 40 (1976) S. 130ff.

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WILFRIED BNDERLE

Für die Ausnahmestellung Kölns gibt es eine Reihe von Gründen: Die Rheinmetropole, noch vor Augsburg und Lübeck die größte Stadt des Reichs, war schon bald nach der Erfindung des Buchdruckes zur führenden deutschen Druckstadt avanciert. Köln profitierte dabei von seinen wirtschaftlichen Beziehungen, vor allem auch von seiner Rolle als Einfallstor für die Niederlande, dem neben Oberitalien am weitesten entwickelten europäischen Wirtschafts- und Kulturraum. Enge Kontakte zwischen Druckern Kölns und Antwerpens bestätigen dies28. Nur wenige Druckerverleger anderer Städte besaßen ähnlich "internationale" Verbindungen wie ihre Kölner Kollegen. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts kam hinzu, daß sich Köln auch zu einem Zentrum der katholischen Reform im Reich entwickelte29. Zum Beispiel wurde hier die erste deutsche Niederlassung der Societas Jesu gegründet. Die Universität, das Jesuitenkolleg, die engen Beziehungen zu den südlichen Niederlanden, dazu um 1600 noch die gegenreformatorischen Bemühungen der Wittelsbacher Erzbischöfe, all diese Faktoren untermauerten die führende Rolle Kölns unter den katholischen Druckorten. Nicht zuletzt gilt es zu bedenken, daß Köln unter den Zentren des katholischen Buchdruckes die einzige Reichsstadt war. Während in Bayern und Österreich die Landesherren eine bewußte, prokatholische Literaturpolitik betrieben und sich dabei auch um die Ansiedlung und Förderung von Druckern bemühten30, lag dies außerhalb der politischen Interessen der Kölner Obrigkeit. In stärkerem Maße mußten sich daher die Drukker hier an den Möglichkeiten und Grenzen des Buchmarktes orientieren und sich selbst um Beziehungen zu Autoren und - zur Verringerung des finanziellen Risikos - die Zusammenarbeit mit anderen Verlegern kümmern. Die Dominanz des Kölner Buchdrucks wird auch durch einen Blick auf die Produktivität einzelner Drucker unterstrichen. Genaue, methodisch fundierte Angaben zur gesamten Produktion der Buchdrucker im 16. und 17. Jahrhundert gibt es nicht - dies ist immer noch ein dringendes Desiderat der Forschung. Es muß daher betont werden, daß die folgenden Angaben zur Produktion in einigen Städten keinen Überblick über die Gesamtproduktion geben, sondern nur auf den Zahlen basieren, die für einige, meist bekanntere Drucker überliefert sind. Von insgesamt 129 Druckern, darunter allein 36 aus Köln, gibt es Angaben zu deren Produktion, wobei auch diese Zahlen in der Regel nicht deren gesamte Produktion erfassen dürften.

28 Vgl. zum Beispiel Reuter, Zur Wirtschafts- und Sozialeeschichte, S. 679; Isabel Heitjan, Gerwin Gymnich, Johann Busäus und ihre Nachfolger. Ein Beitrag zur Kölner Verlags- und Buchhandelsgeschichte des 17. Jahrhunderts. In: Archiv filr die Geschichte des Buchwesens S (1964), Sp. 1525 u. 1532; Haentjes, Kölner Buchdruck, S. 47. 29 Vgl. nur Franz Bosbach, Die katholische Reform in der Stadt Köln (1550-1662). Ein Beispiel fUr erfolgreiche kirchliche Erneuerung, Köln 1988 (=KöIner Beiträge - N.F., H. 14). 30 Vgl. Breuer, Oberdeutsche Literatur, S. 99.

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Druckerverleger des katholischen Deutschlands

Insgesamt haben die 129 Drucker, von denen Daten bekannt sind, 10373 Werke verlegt. Über die Hälfte hiervon stammt aus dem rheinischen Raum und insonderheit aus Köln. Dies ist auch das Faktum, auf welches es hier ankommt: Die Sonderrolle Kölns, welche durch das Indiz der überdurchschnittlichen Produktivität der Kölner Drucker nochmals dokumentiert und unterstrichen wird. Tab. 3: Die Produktion von 129 Druckern in 17 altgläubigen Städten (1555-1648)31 Braunsberg 140 Dillingen 1063 Freiburg/Schw. 148 Freiburg/Brsg. 106 Graz 157 Ingolstadt 703 Köln 3919 Konstanz 25 Linz 8

Luzern 212 Mainz 1405 Münster 236 München 307 Neisse 42 Passau 37 Straubing 157 Wien 1415 Summe 10373

Diese insgesamt beachtenswerte Produktivität der katholischen Buchdrucker sowie die ungebrochen tragfähige Infrastruktur in den traditionellen Druckorten und die Expansion in den Jahrzehnten um 1600 zeugt von einer Bedeutung, welche bei jeder Beschäftigung mit dem Thema katholischer Konfessionsbildung und Reform beachtet werden muß und die gegenüber den Aktivitäten protestantischer Drucker nicht unterbewertet werden sollte. Daher ist es notwendig, nach diesem Überblick über die altgläubigen Druckorte auf die dort tätigen Drucker selbst einzugehen.

III. In den 47 katholischen Druckorten lassen sich zwischen 1555 und 1648 328 Druckerverleger nachweisen. Die Entwicklung der Neugründungen und der Übernahmen bestehender Offizinen bestätigt dabei das am Beispiel der Erstdrucker gewonnene Ergebnis, wonach bis 1625 eine kontinuierliche Expansion des Druckgewerbes mit einem Höhepunkt in den zwei Dezennien nach 1600 festzustellen ist (Abb. 3). Der dreißigjährige Krieg brachte natürlich einen Rückgang, vornehmlich bei den Neugründungen und in geringerem Maße bei den Geschäftsübernahmen 32 , zugleich wird aber auch erkenntlich, daß ein gewisser Grund31 Die Daten basieren auf den Angaben bei Benzing, Buchdrucker, die ergänzt wurden durch Reuter, Zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, zu Köln, sowie Juliane Keller, Grazer Frühdrucke 1559-1619. Katalog der steirischen Bestände, Graz 1970 (=Arbeiten aus der Steiermärkischen Landesbibliothek am Joanneum, Graz, H. 12) zu Graz und Gerhard Stalla, Der Ingolstädter Buchdruck von 1601 bis 1620. Die Offizinen Adam Sartorius, Andreas Angermaier und Elisabeth Angermaier, Baden-Baden 1980 (=Bibliotheca Bibliographies Aureliana, Bd. LXXVn.) zu Ingolstadt. 32 Vgl. allgemein hierzu Petrick, Buchdruck und Buchhandel.

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WILFRIED ENDEKLE

stock an Offizinen auch in den Kriegsjahren Bestand besaß33. Insgesamt indes wird einmal mehr bestätigt, daß der Große Krieg eine wichtige historische Zäsur darstellte, die anscheinend wesentlich dazu beitrug, daß die Entfaltung der katholischen Drucker beendet wurde. Abb. 3: Neugründungen von Offizinen und Übernahmen bestehender Offizinen 1555-164834



Rheinland



Schweiz

O Südwesten G Beyern E3 Östen-eich

Die regionale Verteilung belegt, daß die Expansion um 1600 zu einem nicht geringen Teil auf Städte im Südwesten und in der Eidgenossenschaft zurückzuführen ist, in denen in diesen Jahren sich erstmals Drucker etablierten. An erster Stelle wäre hier auf Konstanz und die beiden Freiburgs zu verweisen35. Im bayerischen und österreichischen Raum begann in diesen Jahren eine größere Diversifizierung. In Städten wie Amberg, Würzburg, Passau oder Innsbruck aber auch in Dillingen und München, wo zuvor nur ein Drucker tätig gewesen war, begann sich Konkurrenz zu etablieren36. Der Krieg unterbrach diese Entwick33 Während es zum Beispiel in den Dezennien von 1555 bis 1625 im Durchschnitt 12 Neugründungen von Offizinen, die keinen Geschäftsnachfolger hatten, gab, es sich also in der Regel um "Risikogrtlndungen" von Druckern mit geringer Kapitaldecke handelte, sank diese Rate in den Jahren bis 1645 auf 3,5 ab. Die Übernahme bestehender Offizinen oder die Gründung von Offizinen, die auch nach dem Tode ihres Gründers weitergeführt wurden, war in den zwei Dezennien zwischen 1625 und 1645 mit 24,5 sogar noch ein wenig höher als in den Jahrzehnten zuvor, wo sie bei knapp 23 im Durchschnitt lag. 34 Es wurde unterschieden zwischen Offizinen, die neu begründet wurden, und solchen, bei denen eine bestehende Offizin durch Erben oder Käufer übernommen wurde. 35 Zu Konstanz vgl. Gerhard Piccard, Zur Geschichte des Buchdrucks in Konstanz. In: Archiv für die Geschichte des Buchwesens 3 (1961) Sp. 369ff.; zu Freiburg im Breisgau Ludwig Klaiber, Buchdruck und Buchhandel in Freiburg i.Br. Ein geschichtlicher Überblick, Freiburg i.Br. 1949. 36 Daß diese Konkurrenzgründungen dabei durchaus neben bestehenden Offizinen sich gut etablieren konnten, zeigt nicht nur ein so bekanntes Beispiel wie dasjenige des Nikolaus Heinrichs in München, sondern ist zum Beispiel audi in Würzburg festzustellen, wo Ende des 16. Jahrhunderts der Bischof die Praxis, nur einen Drucker zu privilegieren, aufgab, und ab 1618

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Druckerverleger des katholischen

Deutschlands

lung, wobei aber das außerhalb der vom Krieg hauptsächlich heimgesuchten Regionen gelegene Österreich weniger betroffen war, wohingegen der bayerische und rheinische Raum, vornehmlich nach 1630, einen eminenten Einbruch erlebte. Einige der in dieser Expansionsphase gegründeten Betriebe erlangten freilich keine überregionale Bedeutung. Oft konnten sie nur als Hofbuchdrucker mit fester Besoldung und sicheren Aufträgen, wozu in Bischofsstädten neben Amtsdrucken auch noch der Kalenderdruck im Auftrag des Domkapitels kam, überleben37. Zugleich indiziert aber die durchschnittliche Dauer der Tätigkeit der Drucker, daß es sich bei der Mehrzahl der Neugründungen oder Betriebsübernahmen nicht um kurzlebige Unternehmungen handelte (Tab. 4) 38 . Auch kleinere Betriebe besaßen durchaus gute Existenzchancen, was teilweise auch darauf zurückzuführen ist, daß sie in größeren Druckorten von Aufträgen größerer Offizinen leben konnten und die Inhaber zum Teil zusätzlich als Formschneider oder Kupferstecher arbeiteten. Tab. 4: Durchschnittliche Dauer der Tätigkeit der Druckerverleger 1555-164539 Neugründungen Gesamt Geschäftsohne Nachfolger übernahmen 1555-1565 1566-1575 1576-1585 1586-1595 1596-1605 1606-1615 1616-1625 1626-1635 1636-1645

18,35 16,27 15,57 16,26 19,07 12,26 19,56 15,67 18,13

13,88 6,08 12,78 16,55 14,40 7,57 28,75 6,00 13,80

21,79 9,50 16,76 16,50 20,73 11,30 16,66 16,63 19,26

Insgesamt

16,73

14,13

16,99

Ein weiteres Indiz für die Solidität und allgemeine Konjunktur des Gewerbes bietet auch die alles in allem recht geringe Neigung der mehrerer Drucker zugleich tätig waren (Conradt Schwindtlauff, Johann Volmar und Stephan Fleischmann); vgl. F.W.E. Roth, Geschichte der Verlagsgeschäfte und Buchdruckereien zu Würzburg 1479-1618. In: Archiv für Geschichte des deutschen Buchhandels 20 (1989) S. 68; ähnlich entwickelte sich die Situation in Innsbruck; vgl. Hans Hochenegg, Vierhundert Jahre Buchdruck in Innsbruck. In: Biblos 5 (1956) S. 116f. 37 Vgl. zum Beispiel die Verhältnisse in Konstanz nach Piccard, Konstanz, Sp. 382; oder ähnlich in Würzburg bis ca. 1600; vgl. Roth, Würzbuig, S. 76f. 38 In Städten wie Braunsberg, Freiburg (Schweiz), Konstanz, Linz, Luzern, Münster, Paderborn, Pruntrut, Rottweil oder Straubing, wurde in jenen Jahren doch eine länger anhaltende Drucktätigkeit begründet. 39 Bei der Errechnung der durchschnittlichen Bestandsdauer wurde die Geschäftsführung eines Druckerverlegers, nicht aber die Bestandauer einer Offizin zugrundegelegt. Die WeiterfQhning einer Offizin durch Erben, die bei Benzing, Buchdrucker, eigens ausgewiesen sind, wurde

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Drucker, ihren Wirkungsort zu wechseln. Von denjenigen Druckern, die bereits einmal eine Offizin gegründet oder übernommen hatten, wechselten nur 17 den Ort, um eine neue Offizin zu gründen, wobei sie aber in der Regel innerhalb einer Region wechselten. Zudem waren es meist kleinere Druckstädte, die von Druckern verlassen wurden - wirtschaftliche Schwierigkeiten, zum Teil auch Probleme mit der örtlichen Obrigkeit dürften hier den Ausschlag gegeben haben -, so gut wie nie aber die großen Druckzentren. Mehrmals wechselten zum Beispiel Drucker aus Freiburg im Breisgau nach Rottweil oder nach Freiburg in der Schweiz; auch Konstanz erlebte einige Wechsel40. Johann Roessler kam aus Rorschach in seine Heimatstadt Konstanz ebenso wie einige Jahre früher Leonhard Straub d.Ä. Noch seltener kam es vor, daß ein Druckerverleger eine zweite Niederlassung gründete41. War einmal eine Offizin begründet, blieben die Inhaber mithin in der Regel ortsansässig. Eine ausgeprägtere Mobilität läßt sich hingegen wie sich aus der Sache selbst notwendig ergibt - für den Fall von Neugründungen feststellen. Vor allem bei Städten ohne Drucktradition war es selbstverständlich, daß ein Drucker von auswärts kommen mußte. Aber auch in der Druckmetropole Köln läßt sich ein kontinuierlicher Zuzug feststellen. Dabei war es typisch, daß die Neubürger meist aus der Region stammten42. Fälle, wie der Wechsel Georg Widmanstetters aus München nach Graz, Franz Behems von Dresden nach Mainz oder Heinrich von Aachens von Köln nach Würzburg waren eher die Ausnahme. Die Regel bildete die Herkunft aus dem nahen und mittleren Umland, wie gerade auch das Beispiel Kölns belegt. Insgesamt aber waren der Mobilität und der Möglichkeit, Betriebe neu aufzubauen, durch die Möglichkeiten des Buchmarktes Grenzen gesetzt, wenn auch deutlich wurde, daß dieser Markt um 1600 durchaus ausbaufähig gewesen war. Die Übernahme bestehender Offizinen, in nicht wenigen Fällen durch die Heirat mit der Witwe des Vorgängers43, stand daher auch an Bedeutung vor der kapitalintensiven Neugründung.

40 41 42

43

50

auch als eigene Geschäftsführung berechnet, wodurch insgesamt die Durchschnittswerte eher niedrig ausgefallen sind. Vgl. Piccard, Konstanz, Sp. 373ff.; Hecht, Rottweil, S. 177ff. ; Klaiber, Freiburg, S. 21ff. Balthasar Lipp, der 1598-1622 in Mainz arbeitete, gründete eine zweite Niederlassung in der Residenz zu Aschaffenburg (1620-1623). Im Falle Ambergs kamen z.B. die Drucker aus Hirschau (bei Amberg), Castell (Franken), Füllenstein (Oberschlesien) und Dillingen. Die regionale Orientierung überwog also. Auch in Köln scheint es ähnlich gewesen zu sein. Heinrich Mameranus stammte aus Mamer in Luxemburg; Walter Fabritius aus Emmerich; Maternus Cholinus aus Arlon; Gerwin Calenius aus Lippstadt; Johann Bussemacher aus Düsseldorf; Arnold Mylius aus Moers; Johann Kinckius aus Heinsberg bei Jülich und Anton Botzer aus Neuss, um nur einige zu nennen, deren Herkunftsdaten bekannt sind. Ein insgesamt sehr verbreiteter und typischer Vorgang. Pars pro toto sei hier das Beispiel Würzburg angeführt: So heiratete nach dem Tode Heinrichs von Aachen (1590) die Witwe den Faktor und Korrektor Georg Fleischmann. Nach dessen Tod war es wieder der Korrektor, Conrad Schwindtlauff, der über Heirat mit der Witwe, der zweiten Frau Fleischmanns, das Geschäft übernehmen konnte. Von 1578 bis 1629 bestand so eine Offizin, die jeweils von den Korrektoren "erheiratet" wurde. Nach Roth, Würzburg, S. 78f.

Druckerverleger des katholischen Deutschlands

Die quantifizierende Betrachtung hat somit die allgemeinen Trends bestätigt: Die Expansionsphase gegen Ende des 16. Jahrhunderts, aber auch die durchschnittlich lange und stark regional geprägte Wirkungsdauer der einzelnen Drucker. Bei dieser generalisierenden Feststellung ist freilich zu bedenken, daß sich die einzelnen Druckerverleger und Offizinen deutlich in ihrer Art und Bedeutung unterschieden. Zwischen einer marktorientiert produzierenden Kölner Großoffizin und dem kleinen Hofbuchdrucker eines Territorialfürsten bestand schließlich ein beträchtlicher Unterschied. Will man mithin über diese allgemeinen Feststellungen hinaus zu einer Typisierung und vor allem zu einer deutlicheren Hervorhebung derjenigen Drucker gelangen, welche der katholischen Drucklandschaft aufgrund hoher Produktivität ihren Stempel aufgedrückt haben, so muß man aus dem Sample der 328 Drucker nach den Kriterien der Höhe der Produktion sowie der Bestandsdauer der Offizin selektieren. Als Ergebnis einer solchen Selektion schält sich eine relativ kleine Gruppe heraus, mit der man gleichsam die buchdruckerische Elite des katholischen Reiches erfaßt hat. Eine derartige Selektion birgt selbstverständlich die Gefahr in sich, einzelne Drucker oder Offizinen zu übergehen, die in bestimmter Hinsicht einen eigenen Rang besitzen. Hier exakte Selektionskriterien zu definieren, ist sicherlich nicht möglich. Ein Drucker wie Heinrich Nettesheim in Köln besitzt gewiß aufgrund seiner volkssprachlichen Drucke eine eigenständige, druckgeschichtliche Bedeutung4*. Bei einem Überblick über die für die Buchproduktxon des katholischen Deutschlands bestimmenden Großoffizinen fällt er aber notwendig durch das Raster der Auswahlkriterien hindurch. Das Beispiel zeigt, daß im einzelnen durchaus die Vielfalt zu beachten ist, und gerade bei der nicht unbeträchtlichen Zahl katholischer Drucker auch deren kulturelle Wirkung nicht unterschätzt werden darf; daß zugleich aber auch zur Erkenntnis der wichtigsten, die Drucklandschaft dominierenden Offizinen eine Konzentration auf die produktivsten und über mehrere Besitzergenerationen bestehenden Offizinen notwendig ist. Als Ergebnis der Selektion aus dem Sample aller Drucker kommt man auf 35 Offizinen mit 75 Druckerverlegern, welche die Basis der Produktion des katholischen Teils des Reiches bildeten (Tab. 5). Das erste Selektionskriterium bildete die Höhe der Produktion - soweit sie bekannt war -, danach kam die Beständigkeit einer Offizin über mehrere Besitzergenerationen hinweg. Die folgende Übersicht enthält danach Einzeldrucker, sowie sie über 50 Drucke produziert haben, sowie die Drucker von langfristig bestehenden Offizinen, auch wenn sie in diesem Fall teilweise eine geringere Produktivität aufwiesen. 44 Vgl. Wolfgang Schmitz, Volkstümliche Literatur und 'Neueste Nachricht'. Zur Tätigkeit des Kölner Verleger Heinrich Nettesheims (ca. 1585-1603). In: Ars impressoria: Entstehung und Entwicklung des Buchdrucks. Eine internationale Festgabe für Severin Corsten zum 65. Geburtstag, hrsg. von Hans Limburg u.a., München-New York-London-Paris 1986, S. 136ff., der auf die Bedeutung Nettesheims filr den volkssprachlichen Druck hinwies.

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WILFRIED ENDERLE

Tab. 5: Tabelle der bedeutendsten katholischen Offizinen und Drukkerverleger 1555-164845 Ort

Offizin/Drucker

Dillingen:

Akad. Drucker Sebald Mayer (1550-1576) Johann Mayer (1576-1619) Kaspar Sutor (1628-1640)

Freiburg/Brsg:

Böckler Böckler, Martin (1592-1615)

Freiburg/Schw: Gemperlin/Mäß/Philot/Darbelley Gemperlin, Abraham (1585-1596) Maß, Wilhelm (1597-1605) Philot, Stephan (1606-1619) Darbelley, Wilhelm (1635-1651) Graz:

Ingolstadt:

Widmanstetter Widmanstetter, Georg (1586-1618) Widmanstetter, Ernst (1618-1635) Widmanstetter, Ferd./Franz (1635-1664) Weißenhorn/Eder/Angermaier Weißenhorn, Alex.H/Samuel (1549-1570) Weißenhorn, Alex.m. (1570-1577) Eder, Wolfgang (1578-1596) Angermaier, Andreas (1599-1617)46 Eder, Wilhelm (1617-1647)47 Sartorius/Hänlin Sartorius, David (1571-1596) Sartorius, Adam (1596-1611) Hänlin, Gregor (1617-1669)

Drucke

466 330 180

70

63 21 40 24

157

381 182

140

45 Bei den einzelnen Druckern wurde in diesem Fall die Fortführung der Offizin durch Erben bei den Jahresangaben miteingerechnet. Es ist zu beachten, daß Vorginger oder Nachfolger einer Offizin, deren Tätigkeit nicht mehr in den Untersuchungszeitraum fiel, nicht aufgeführt wurden. Die Angaben geben also keinen Überblick Ober die gesamte Bestandsdauer einer Offizin. Im Falle Dillingens wurden nicht alle Drucker der Akademischen Druckerei angeführt, sondern nur diejenigen, die eine bedeutendere Tätigkeit entfalteten. 46 Die Angabe gilt für die Jahre 1599-1613. Die Drucke der Witwe, die das Geschäft fortführte siehe dazu die folgende Anmerkung - wurden zur Offizin Wilhelm Eder dazugerechnet. 47 Die Zahl der Drucke bezieht sich aufgrund der Angaben bei Stalla auf die Jahre 1613-1621 als Elisabeth Angermayer nach dem Tode ihres Mannes Andreas Angermayer (1613) die Offizin zunächst allein, später zusammen mit ihrem Sohn aus erster Ehe, Wilhelm Eder, fortführte.

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Druckerverleger des katholischen Deutschlands

Ort

Offizin/Drucker

Köln:

Baum/CIipeus/Bütgen Baum, Dietrich (1556-1596) Clipeus, Balthasar (1596-1604) Bütgen, Konrad (1601-1636) Cholinus Cholinus, Maternus (1557-1588) Cholinus, Goswin (1588-1610) Cholinus, Peter (1609-1645) Calenius/Quentel/Krebs Calenius, Gerwin (1557-1595) Quentel, Arnold (1595-1621) Krebs, Johannes (1621-1639)

Drucke

60 150

350 85

150 181

Birckmann/Mylius Birckmann, Johann (1562-1572) Mylius, Arnold (1585-1604) Mylius, Hermann (1604-1656)

116 200 150

Gymnich/Hierat Gymnich, Johann ΙΠ. (1572-1596) Hierat, Anton (1597-1627)48 Gymnich, Johann IV. (1598-1634)

200 250 115

Lützenkirchen Lützenkirchen, Wilhelm (1586-1633) Grevenbroich Grevenbroich, Gerhard (1583-1633) Grevenbroich, Peter (1634-1648) Andreae/Wolter/Kalckhoven Andreae, Lambert (1589-1597) Wolter, Bernhard (1598-1640) Kalckhoven, Jost (1641-1669)

125

200 37 35 357 163

Brachel Brachel, Peter von (1600-1640)

120

Kinckius Kinckius, Johannes (1605-1656)

560

48 Ab 1610 Trennung Hierats von der Offizin Gmynich.

53

WILFRIED ENDERLE

Ort

Offizin/Drucker

Köln:

Botzer Botzer, Anton (1609-1628)

Drucke

60

Kraft Kraft, Heinrich (1622-1655) Egmondt

100

150

Egmondt, Cornelius ab (1622-1655) Metternich Metternich, Peter (1628-1700)

350

100

Miinnich Miinnich, Constantin (1629-1665) Friessem

280

77

Friessem, Johann Wilhelm I. (1633-1668) Luzern: Mainz:

München:

330 150 43 342 65

Lipp Lipp, Balthasar (1598-1622) Meres, Hermann (1623-1636)

200 50

Heil Heil, Nikolaus (1637-1684)

200

Berg Berg, Adam d.A. (1564-1629) Berg, Adam d.J. (1629-1634) Heinrich Heinrich, Nikolaus (1597-1654)

54

200

Bingen Andreas (1638-1668) Bingen, Hautt Hautt, David d.A. (1636-1657) Behem/Albin/Strohecker Behem, Franz (1540-1582) Behem, Kaspar (1563-1592) Brehm, Heinrich (1592-1598) Albin, Johann (1598-1621) Strohecker, Anton (1622-1631)

300

Druckerverleger des katholischen Deutschlands

Ort

Offizin/Drucker

Münster:

Raesfeldt Tzwyffel, Dietrich d.J. (1562-1580) Raesfeldt, Lambert (1590-1617) Dale, Michael von (1618-1628) Raesfeldt, Bernhard (1628-1658)

Straubing:

Wien:

Haan Haan, Simon (1619-1667) Singrenius Singrenius, Johann d.J. (1547-1562)

Drucke

25 207

78

148

Appfel/Formica Zimmermann, Michael (1553-1565) Steinhofen Kaspar (1656-1575) Appfel, Michael (1576-1590) Appfel, Johann (1588-1595) Formica, Leonhard (1588-1617) Formica, Matthäus (1617-1640) Cosmerovius, Matthäus (1640-1674)

72 94 351

Gelbhaar Kolb, Franz (1594-1602) Bonnenberger, Ludwig (1603-1616) Gelbhaar, Gregor (1616-1648)

23 11 133

Rickhes Rickhes, Michael (1628-1640) Rickhes, Matthäus (1641-1661)

119 94 32 2

49 51 10144

Ein Blick auf die Bestandsdauer der Offizinen zeigt, daß die meisten von ihnen über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg bestanden, wobei mögliche Vorgänger oder Nachfolger nicht einmal berücksichtigt sind. Diese Offizinen prägten mithin in der Tat die Buchproduktion des katholischen Reiches im konfessionellen Zeitalter. Dabei fällt auch hier auf, daß ab 1600, wie vor allem das Beispiel Kölns zeigt, eine neue Generation von Druckerverlegern, wie Friessem, Kinckius oder Münnich, neue, neben den alten Offizinen bestehende Unternehmen gründete. Erneut wird damit belegt, daß um die Jahrhundertwende ein Expansionsschub einsetzte, der, wie die Übersicht zeigt, nicht nur auf die

55

WILFRIED END ERLE

zahlreichen Gründungen kleiner, unbedeutenderer Drucker zurückging, sondern auch die Gründung bedeutender Großoffizinen einschloß. Mit diesen Personen hat man also - wenn man einmal von dem jeweiligen persönlichen Selbstverständnis absieht - zweifelsohne eine nicht unwichtige Schlüsselgruppe erfaßt, die zur bürgerlichen Elite des katholischen Reichs gehörte. Dies fand auch im sozialen Rang innerhalb der städtischen Gesellschaft, der die Drucker durchweg angehörten, seinen Ausdruck. Die großen Drucker Kölns, wie Maternus Cholinus, Gerwin Calenius, Johann Gymnich, Arnold Mylius, Peter Horst, Peter Metternich und andere, waren durchweg im Rat vertreten; einige von ihnen waren Mitglieder der Ritterzunft Windeck49. Und in anderen Städten war das soziale Prestige nicht weniger hoch: Georg Widmanstetter war zum Beispiel nur elf Jahre nach seiner Einbürgerung in Graz ebenfalls in dieses Gremium aufgenommen worden, sein Sohn Ernst wurde sogar Bürgermeister50. Das Beispiel Georg Widmanstetters, dessen Onkel ein bedeutender Orientalist und Kanzler der geistlichen Fürsten von Salzburg und Augsburg sowie König Ferdinands gewesen war, illustriert auch, daß er bereits aus einer Familie stammte, die zur intellektuellen und administrativen Elite katholischer Herrschaften gehörte51. Arnold Mylius, der Geschäftsnachfolger Johann Birckmanns in Köln, stammte aus einem Patriziergeschlecht der Stadt Moers52 - ebenfalls ein Hinweis auf den Rang der Druckerverleger und den sozialen Hintergrund führender Unternehmer. Mit der herausgehobenen sozialen Stellung ging auch wohl ein ausgeprägtes berufsständisches Gruppengefuhl einher. So lassen sich bei den Kölner Druckern in einer Reihe von Fällen enge verwandtschaftliche wie geschäftliche Beziehungen nachweisen. Verlagsgesellschaften, wie beispielsweise diejenige Johann Birckmanns mit Theodor Baum (Köln) und Franz Behem (Mainz)53, besaßen natürlich primär den Zweck ökonomischer Risikominimierung. Dies mag zum Teil auch für Heiratsverbindungen gegolten haben, zugleich indizieren die Beispiele eines Konnubiums innerhalb der eigenen Berufsgruppe aber auch eine bewußt eigenständigen Gruppenidentität54. Die Paten, die Johann Gymnich IV. 49 So zum Beispiel Gerwin Calenius, Anton Hierat, Arnold Mylius, Arnold Quentel, Johann Kinckius, Johann Krebs. Die Angaben nach Reuter, Zur Wirtschafte- und Sozialgeschichte, S. 647ff. 50 Viktor Thiel, Geschichte der Offizin Widmanstetter in Graz. In: Gutenberg-Jahrbuch 1935, S. 196. 51 Vgl. Thiel, Widmanstetter, S. 193f. 52 Nach Haentjes, Kölner Buchdruck, S. 47. 53 Vgl. Reuter, Zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, S. 647. 54 Beispiele nach Reuter, Zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, S. 647ff.: Johann Birckmann war mit Margarethe Falckenberg, der Witwe des Verlegers Kaspar Falckenberg verheiratet; Goswin Cholinus mit Sybilla Horst, der Tochter des Druckerverlegers Peter Horst, und zugleich war er Ober seine zweite Frau mit Gerhard Grevenbroich verschwägert sowie Ober seine Schwester mit Bernhard Wolter; Johann Kinckius hatte Uber seine Frau Elisabeth Gymnich Beziehungen zu dieser Druckerfamilie.

56

Druckerverleger des katholischen Deutschlands

für seine Kinder ausgewählt hatte, dokumentieren, daß er alle wichtigen Kollegen der Stadt gebeten hatte55. Fast noch wichtiger als verwandtschaftliche und ökonomische Netze waren die Verbindungen zu anderen politischen und intellektuellen Schlüsselgruppen. Bei der Hochzeit Franz Behems, des großen Mainzer Druckers, waren zum Beispiel neben seinem Schwager, dem Kanoniker und Domprediger Dr. Georg Artopoeus, der Rektor der Universität sowie weitere hohe Geistliche und kurfürstliche Beamte zu Gast56. Erzbischof, Domkapitel und Universität bildeten wichtige Bezugspunkte seiner Verbindungen. Dazu könnte man gleichrangig noch für die wichtigsten Drucker Mitglieder der Societas Jesu nennen, die zum Beispiel für Maternus Cholinus als Berater und Korrektoren tätig waren. Cholinus gab denn auch, gemeinsam mit Christoph Plantin in Antwerpen, den Katechismus des Petrus Canisius heraus. Seine engen Kontakte zu Stanislaus Hosius unterstreichen seine Einbindung in das Netz wichtiger intellektueller Repräsentanten der alten Kirche57. Diese wenigen Beispiele zeigen bereits das typische Muster des Netzwerkes, in das die altgläubigen Druckerverleger eingebunden waren: An erster Stelle stand das örtliche Jesuitenkolleg sowie die Universität, die wichtigsten Reservoirs für Autoren, Korrektoren und Vermittler von Manuskripten, daneben die Räte geistlicher und weltlicher Höfe sowie die Angehörigen geistlicher Korporationen. Zweifelsohne spielten dabei die Jesuiten - erwartungsgemäß - eine zentrale Rolle; keiner der großen Drucker in Köln, Mainz, Dillingen, Ingolstadt oder München, der nicht Angehörige der Societas zu seinen Autoren zählte. Diese Struktur gilt selbst für Drucker, denen eine vorwiegend regionale Bedeutung bescheinigt wird, wie zum Beispiel Lambert Raesfeldt in Münster. Raesfeldt, der als Geselle in Köln tätig gewesen war, kam mit auf Initiative Bischofs Ernst von Bayerns 1590 nach Münster, wo er rasch eine auch wirtschaftlich gewinnbringende Tätigkeit entfaltete. Dies verdankte er vor allem der Unterstützung durch das Domkapitel, dazu kamen offizielle Aufträge vom Münsteraner Magistrat und der Druck für das Jesuitenkolleg. Schulbücher, Kalender und amtliche Drucke bildeten das profitable Rückgrat seines Unternehmens, die dadurch zugleich aber auch die Produktion theologischer und konfessionell-polemischer Schriften ermöglichte58. Raesfeldt stellt ein typisches Beispiel für einen Drucker dar, der gegen Ende des 16. Jahrhunderts mit der beginnenden inneren Erneuerung der katholischen Kirche die Chance des

55 Vgl. Heitjan, Gmynich Sp. 1524. 56 Vgl. Tronnier, Behem, S. 177. 57 Vgl. Heinrich Schrörs, Der Kölner Buchdrucker Matemus Cholinus. In: Annalen des historischen Vereins für den Niederrhein 85 (1908) S. 152ff. 58 Vgl. hierzu Bernhard Lucas, Der Buchdrucker Lambert Raesfeldt. Ein Beitrag zur Buchdiuckërgeschichte Münsters im 16. und 17. Jahrhundert, Münster 1929.

57

WILFRIED ENDERLE

Aufbaus einer erfolgreichen Offizin wahrnahm59; und darüber hinaus auch Ausgangspunkt für Neugründungen in anderen Städten war. So hatte der Erstdrucker Paderborns, Mattäus Pontanus, zuvor wohl in seiner Offizin gearbeitet60. Diese an einigen Beispielen illustrierte Beziehungsstruktur dürfte so mit individueller Ausprägung und Intensität für die meisten Drucker gegolten haben. Es wäre interessant, diesen Beziehungsgeflechten im einzelnen nachzugehen, um mögliche Gruppen und deren Zentren unterscheiden zu können, doch fehlen hierzu die Vorarbeiten - ganz abgesehen davon, daß dies den Rahmen dieses Überblicks sprengen würde. Unbestritten ist die Dominanz der zur stadtbürgerlichen Oberschicht zählenden Großverleger. Indessen würde man die Vielfalt der Drucklandschaft verdecken, überginge man die zahlreichen kleineren, nur im regionalen Bereich wirkenden Drucker und Offizinen. Um sie wenigstens als Gruppe zusammenfassend beschreiben zu können, sei abschließend eine grobe typologische Übersicht über die in den altgläubigen Städten tätigen Druckerverleger gegeben. Hier wären zu nennen: 1.

2.

3.

4. 5.

Der Großdrucker, der in einer Stadt mit Drucktradition arbeitete, in größerem Umfang für den Markt produzierte, gute Kontakte zu Autoren und Auftraggebern besaß und zur städtischen Führungsgruppe gehörte. Der Hofbuchdrucker, der in einer weltlichen oder geistlichen Residenzstadt wirkte, ein mehr oder minder festes Einkommen bezog und mit regelmäßigen Aufträgen rechnen konnte. Mit den amtlichen Drucken verfügte er über eine sichere Basis, um eine eigene verlegerische, marktorientierte Produktion aufbauen zu können - was indes nicht die Regel war. Damit wurde dann oft auch die Grenze zum Typus des Großdruckers überschritten. Der Drucker, der in kleineren und mittleren Städten meist als einziger ohne örtliche Konkurrenz tätig war und vornehmlich für den regionalen Markt produzierte. Gerade diese Gruppe mußte am ehesten mit finanziellen Problemen kämpfen; hier war der Wechsel des Wirkungsortes mit am häufigsten anzutreffen. Der kleine, zum größten Teil unselbständig, im Auftrag der Großdrucker arbeitende Drucker in größeren Druckorten, der zugleich in bescheidenem Rahmen auf eigene Kosten produzierte. Der Gelehrtendrucker, dem unter den Druckern eine Sonderrolle zukam. Es handelte sich hierbei um humanistische Gelehrte oder Angehörige einer Universität, die nebenbei eine Offizin betrieben oder an einer Unternehmung beteiligt waren61.

59 Von der das Vermögen von über 10000 Reichstalern zeugt, das er bei seinem Tode 1617 hinterließ; vgl. Lucas, Raesfeldt, S. 9. 60 Lucas, Raesfeldt, S. 13. 61 Beispiele hierfür sind Theodor Graminäus (1569-1594), Rechtsprofessor an der Universität zu Köln und bergischer Landschreiber, oder der Humanist Heinrich Mameranus (1549-1560). Vgl. zum letzteren Emil van der Vekene, Heinrich Mameranus. Ein Luxemburger Drucker des 16. Jahrhunderts in Köln, Mainz 1973.

58

Druckerverleger des katholischen

6.

Deutschlands

Die Klosterdruckereien, die es in Muri, Salem, Tegernsee, Thierhaupten und Trier gab, und die aufgrund ihrer ökonomischen und personellen Basis ebenfalls eine Ausnahmestellung einnahmen62. IV.

Die zusammenfassende Untersuchung der 328, in 47 katholischen Städten des Reichs zwischen 1555 und 1648 tätigen Drucker hat gezeigt, daß von einer strukturellen Zweiteilung des Reiches ausgegangen werden muß. Auf der einen Seite war dies das Rheinland, wo Köln eine überragende Sonderstellung einnahm, und auf der anderen Seite der oberdeutsche und österreichische Raum. Dominierend waren jeweils diejenigen Städte, die aufgrund ihres politischen und kulturellen Ranges bereits eine längere, meist schon im 15. Jahrhundert begründete Drucktradition besaßen. Eine deutliche Zunahme der Buchdrucker zeichnete sich ab den 1570er Jahren ab. Die Gesamtzahl der Drucker ist zurückzuführen zum einen auf eine weitere territoriale Streuung - in immer mehr Städten versuchten sich Drucker zu etablieren - und zum anderen auf die Gründung von Konkurrenzunternehmen in Städten mit längerer Drucktradition. Auch wenn bei dieser Expansion berücksichtigt werden muß, daß die Bedeutung der einzelnen, neugegründeten Offizinen sehr unterschiedlich war, so wird doch deutlich, daß mit der sich intensivierenden katholischen Reform auch ein Aufschwung des katholischen Buchdruckes einherging. Richtet man das Augenmerk auf die produktivsten, meist über mehrere Besitzergenerationen bestehenden Offizinen zeigt sich, daß es im Lauf der hier untersuchten hundert Jahre nur 35 Offizinen waren, welche die katholische Drucklandschaft des Reichs dominierten. Allein 17 hatten hiervon ihren Sitz in Köln. Mit der Gruppe der Drucker, denen diese Betriebe gehörten, hat man eine kleine, aber in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzende Schlüsselgruppe des städtischen Bürgertums erfaßt, die einen wichtigen Part in dem Beziehungsgeflecht zwischen geistlichen und weltlichen Territorialherren, Beamten, geistlichen Funktionären, Jesuiten und anderen Vertretern der Elite des katholischen Reichs spielten, da sie als Multiplikatoren der Werke der zeitgenössischen katholischen Autoren und der von der katholischen Öffentlichkeit rezipierten Schriften tätig waren.

62 Vgl. Christian Seebode, Klösterlicher Buchdruck im deutschen Sprachraum vor dem dreißigjährigen Krieg. Eine historisch-bibliographische Studie zur Nachblüte des klösterlichen Schrift-, Buch- und Bibliothekswesens im 15. und 16. Jahrhundert, Diss. Würzburg 1977.

59

Hansgeorg Molitor

Gott, die Menschen und die Pest Vom Umgang mit Pestkranken um 1600 am Beispiel des Fürstbistums Lüttich Kam die Pest über eine Stadt oder einen Landstrich, dann hat sich das Leben der Bewohner plötzlich und grundlegend zum Schlechteren verändert. In kürzester Zeit starben buchstäblich reihenweise Familienangehörige, Nachbarn, Mitbürger. Die Überlebenden hatten Angst. Zu den ökonomischen Folgen fur die Familie, die Gemeinde und den Staat kamen die seelischen Belastungen durch Trauer und Leid. Über Voraussetzungen und Wege der Ansteckung hatte man um 1600 erst wenig in Erfahrung gebracht. Der Pest und anderen Infektionskrankheiten, die sich epidemisch und pandemisch verbreiteten, haftete auch aus diesem Grund etwas besonders Unheimliches und Bedrohliches an. Wie gingen die Menschen mit den Ängsten und Gefahren um? Mit welchen Maßnahmen versuchten sich Individuen und Gemeinschaften zu stärken, zu schützen, zu trösten? Am Beispiel des Fürstbistums Lüttich sollen einige Aspekte1 der Sorge um Leib und Seele beschrieben werden. Unter dem Eindruck einiger verheerender Pandemien im letzten Viertel des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts im nördlichen Mitteleuropa, von denen auch die Lande zwischen Rhein und Maas an der nordwestlichen Grenze des Reichs nicht verschont blieben, haben Staat und Kirche in Lüttich sich darum bemüht, Gefahren zu wehren und die Pestkrisen zu bewältigen. Diese Bemühungen sind aber nicht nur Folgen der katastrophalen Pandemien. Sie sind auch Belege einmal für das Bestreben des frühneuzeitlichen Staates, umfassend und durchgreifend in möglichst viele Lebensbereiche einzugreifen und zum anderen für ein neu belebtes Interesse der katholischen Kirche nach dem Konzil von Trient an intensiver sowie klar und einheitlich geregelter Seelsorge.

1

Die im engeren Sinne medizinischen Aspekte bleiben außer Betracht. Es ist auch kein Beitrag zur "Pastoralmedizin" beabsichtigt, die sich versteht als "die Summe derjenigen anatomischphysiologischen und hygienischen, pathologisch-therapeutischen Erörterungen, deren Kenntnis dem Seelsorger zur Ausübung seines Amtes nötig oder nützlich ist". C. Capeilmann, W. Bergmann, Pastoralmedizin, 19. Aufl., Paderborn 1923, S. 1. Andererseits nimmt der im folgenden als Hauptquelle benutzte pastoraltheologische Traktat des Johannes Chapeaville von 1586 (vgl. Anm. 10) die Medizin seiner Zeit immerhin zur Kenntnis, sei es, daß er medizinische Handlungen ausdrücklich und mit Begründung den Seelsoigshandlungen als nachrangig einstuft, sei es, daß er Probleme der Infektion des Seelsorgers beim Kranken- oder des GlSubigen beim Kirchenbesuch reflektiert. Somit ist zu fragen, ob Vorformen der Pastoralmedizin nicht erheblich früher anzusetzen sind, als es bei Heinrich Pompey, Die Bedeutung der Medizin für die kirchliche Seelsorge im Selbstverständnis der sogenannten Pastoralmedizin, Freiburg 1968 ( = Untersuchungen zur Theologie der Seelsorge 23), geschieht. Für freundliche medizinhistorische Hinweise danke ich A. Labisch und J . Vögele.

61

HANSGEORG MOLTTOR

Mit Pestordnungen versuchten Städte und Staaten, die Verbreitung der Pest zu verhindern oder ihre schlimmsten Folgen zu mildern.2 Medizinische Aufklärungsschriften fur Ärzte und Laien, die das zeitgenössische Wissen zusammenfaßten und praktisch nutzbar machen wollten, erschienen in großer Zahl, nicht selten auf obrigkeitliche Initiative oder mit staatlicher Förderung.3 Auch die Fürstbischöfe von Lüttich haben Pestordnungen erlassen. Die Ordnungen Gerhards von Groisbeck (1563-1580) aus dem Jahre 15724 sowie Emsts von Wittelsbach (1581-1612) von 15975 für das Fürstbistum Lüttich, von 15986 für die Stadt Lüttich sowie von 1606 für die im Fürstbistum gelegene Stadt Huy7 sollen zusammen mit einer zur Ergänzung herangezogenen Pestordnung Ernsts von Bayern vom Jahre 1606 aus dessen Kölner Kurfürstentum8 danach befragt werden, wie die Pest und das von ihr provozierte obrigkeitliche Handeln die Beziehungen zwischen den Menschen verändert haben. Die Lütticher Versuche, der Pest als körperlichem Leiden auf dem Verordnungswege Herr zu werden, unterschieden sich im Prinzip nicht von entsprechenden Versuchen in anderen Territorien. Außergewöhnlich dagegen ist das intensive Bemühen des Lütticher Kanonikus Johann Chapeaville9 um die seelische Versorgung der Pestkranken, der Sterbenden und der diesen nahe und auch weniger nahe stehenden Menschen. Von den Erlebnissen während der Pestepidemien von 1579 angestoßen, begann er mit der Arbeit an einem Tractatus de necessitate et modo ministrandi sacramenta tempore pestis, der 1586 vollendet war und im selben Jahr in Lüttich im Druck erschien.10 Während der Entstehungszeit dieses Bu2

Eine Liste von 47 europäischen Pestordnungen zwischen 1524 und 1770 bei Georg Sticker, Abhandlungen aus der Seuchengeschichte und Seuchenlehre, Bd. 1: Die Pest, 2. Teil: Die Pest als Seuche und Plage, Gießen 1910, S. 300/301. 3 Eine Zusammenstellung von 82 solcher Publikationen der Jahre 1428 bis 1771 aus dem Reich und aus Südeuropa ebd. S. 301-303. 4 Bis 1597 wiederholt erneuert. Edition im Recueil des ordonnances de la principauté de Liège, 2e série, Bd. 1, hrsg. von M. L. Potain, Brüssel 1869, S. 369-371. 5 30. August. Erneuert 1598, 1603, 1607, 1612. Abdruck ebd. Bd. 2, S. 194/195. 6 28. September. Gleichfalls öfter erneuert. Ebd. S. 225-227. 7 7. Juli. Ebd. S. 279-281. 8 1. Oktober. Druck bei J. J. Scotti, Sammlung der Gesetze und Verordnungen, welche in dem vormaligen ChurfDrstenthum Cöln ... ergangen sind, 1. Abt., 1. Teil, Düsseldorf 1830, S. 212-214. Ernst von Bayern war 1583-1612 Kurfürst und Erzbischof von Köln sowie Bischof von Freising (1566-1612), Hildesheim (1573-1612) und Münster (1585-1612). 9 So schrieb er sich selbst. In der modernen Literatur finden sich auch die Namensformen Chapeauville und de Chapeauville. 10 Weitere Drucke Mainz 1612, Köln 1625, Löwen 1637. Benutzt wurde ein Exemplar des Mainzer Nachdrucks von 1612, das laut Vermerk auf dem Titelblatt 1613 für die Bibliothek der Benediktinerabtei Rheinau (Kanton Zürich) angeschafft worden war, nach deren Auflösung 1862 in die Bibliothek der Kantonallehranstalten zu Zürich gelangte und 1991 von der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf aus dem Handel erworben wurde. 450 Seiten in 8°, Pergamenteinband der Zeit. Die Angaben über die Epidemie von 1579 und den Beginn der Arbeit sowie deren Abschluß in der Widmung für Ferdinand von Bayern, Bischof von Lüttich 1612-1650, f. 2 r/v und f. 4 v. Der Verfasser verweist auch im Text mehrfach ausdrücklich auf seine Erlebnisse 1579, u. a. S. 102, 125, 127. Auch G. Sticker (wie Anm. 2), Bd. 1, 1, S. 117, erwähnt eine Lütticher Epidemie fflr 1579. Sowohl E. Regnard (Nouvelle Biographie Générale, Bd. 9/10, Paris 1855, Sp. 685/686, hier 686) als auch H. Heibig (Biographie Natio-

62

Gott, die Menschen und die Pest

ches ist der Nordwesten des Reichs mehrfach von schweren Pestepidemien heimgesucht worden,11 bei denen Chapeaville Gelegenheit hatte, persönlich Erfahrungen zu sammeln und Berichte anderer zu verarbeiten. Chapeaville wurde am 5. Januar 1551 in Lüttich geboren.12 Nach der Schulausbildung in seiner Vaterstadt studierte er Philosophie in Köln und dann Theologie in Löwen, wo er den Grad eines Lizentiaten erwarb. Nach der Priesterweihe13 betraute ihn 1578 der Bischof von Lüttich, Kardinal Gerhard von Groisbeck, mit dem Amt eines Visitators (examinateur synodal) und verlieh ihm im folgenden Jahr eine Seelsorgspfründe als Pfarrer von St. Michael in Lüttich sowie ein Kanonikat am dortigen Petersstift. Zehn Jahre lang erfüllte er überaus sorgfältig seine Pflichten als Pfarrer. Während der Pest kümmerte er sich um die Kranken und beerdigte nachts14 eigenhändig die Toten, um die sich sonst niemand kümmerte. Nach dem Tod Gerhards von Groisbeck ernannte dessen Nachfolger Ernst von Bayern ihn 1582 zum Inquisitor. Als solcher trug er mit dazu bei, daß ein Mönch der Benediktinerabtei Stablo in einem Hexenverfahren schuldig gesprochen und an die weltliche Obrigkeit ausgeliefert wurde.15 Durch päpstliche Provision erhielt er 1587 ein Kanonikat am Domstift, bevor ihn Ernst von Bayern 1592 zum Generalvikar ernannte. Diese Funktion behielt er auch unter Ferdinand von Bayern. Er starb in Lüttich am 5. Mai 1617 an den Folgen eines Magengeschwürs. Der hervorstechende Charakterzug dieses Mannes ist sein Eifer als Inquisitor und Administrator, aber auch als Seelsorger und nicht zuletzt als Publizist. Für die Geschichtsforschung von großem praktischem Nutzen ist bis auf den heutigen Tag sein jüngstes Werk, die Gesta pontificum Tungrensium, Trajectensium et Leodiensium, deren drei Bände 1612, 1613 und 1616 in Lüttich erschienen. Außer einer kirchenrechtlichen Abhandlung über die Reservatfälle (erstmals Lüttich 1596) umfaßt sein

11

12 13

14 15

naie, Bd. 3, Brüssel 1872, Sp. 428-432, hier 428) erwähnen eine groBe Epidemie in Lattich 1581. Vgl. die Listen der Pestregionen bei Jean-Noël Bariben, Les hommes et la peste en France et dans les pays européens et méditerranéens (= Civilisations et Sociétés 35) Bd. 1, Mouton u.a. 1975, S. 411-413, 418/419. Ferner G. Sticker (wie Anm. 2), Bd. 1, 1, S. 101-127 und Annemarie Key ser, Die Pestepidemien in Deutschland im 14. - 18. Jahrhundert nach dem "Deutschen Stfidtebuch". Hamburg (Diss. med. Fak.) 1950Mschr.. Die biographischen Angaben, soweit nichts anderes vermerkt, nach H. Heibig (wie Anm. 10). Das genaue Datum ist nicht festzustellen. Weiheregister sind für das Bistum Lüttich erst ab dem 18. Jh. erhalten. B. Husquinet-Denis, Les débuts de la carrière ecclésiastique de Chapeauville. Leodium 42 (1955) S. 46: "Promu en théologie l'an 1576. L'année suivante probablement il reçut la prêtrise." Freundliche Mitteilung des Diözesanarchivars von Lattich, A. Deblon. Die Latticher Pestordnung von 1572 verbot es den Mitgliedern der Bruderschaft der Lollarden ausdrücklich, Pesttote am Tage zu bergen und zu bestatten in der Absicht, "ne espoventer les autres bourgeois". Lüttich 1572 (wie Anm.4) S. 369. Dieses Detail berichtet E. Regnard (wie Anm. 10) Sp. 686.

63

HANSGEORG MOLITOR

übriges Werk 16 nur Arbeiten zur praktischen Seelsorge, darunter ein umfangreicher Kommentar zum Catechismus Romanus17 sowie eine Summa Catechismi Romani nebst Epistola ad catechistas18, die sehr oft wiederaufgelegt wurden. Chapeaville scheint den in der nachtridentinischen Kirche oft anzutreffenden Klerikertypus zu repräsentieren, der seine Hauptaufgabe darin sah, die neu definierten theologischen und ethischen Normen einzuschärfen und zu exekutieren sowie opferbereit und hingebungsvoll selbst anzuwenden.19 Das Schloß Konflikte zwischen Romtreue und Loyalität zu seiner Lütticher Ortskirche nicht aus. 20 Die Katastrophe einer Pestepidemie stellte sowohl die ethischen und institutionellen Normen eines Gemeinwesens als auch die persönlichen Qualitäten des einzelnen radikal auf die Probe. Chapeavilles Traktat über die Seelsorge an Pestkranken beschäftigt sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen den Erfordernissen der Pestsituation und dem Verhalten des einzelnen Priesters. Ein von der Pest bedrohtes oder schon infiziertes Gemeinwesen war in Gefahr, sich aufzulösen. Was die Angst der Menschen, sich anzustecken, an Isolierung und Abschottung nicht erreichte, das bewirkten die obrigkeitlichen Anordnungen. Da die Krankheit, war sie einmal ausgebrochen, nur höchst selten geheilt werden konnte, bestand das einzig sichere Abwehrmittel darin, sich rigoros vor Ansteckung zu schützen. Das bedeutete: Je vollständiger die Isolierung des einzelnen oder einer noch gesunden Gemeinschaft, um so geringer die Gefahr und ferner, je näher die Pest gerückt war, um so radikaler mußte die Unterbrechung aller Arten von Kommunikation ausfallen. So sind die überwiegende Zahl der Bestimmungen in den Pestordnungen solche, die einzelne oder Gruppen abschotten oder ausgrenzen. Daß Reisen in infizierte Ortschaften oder Gegenden und Besuche von dort verboten werden, ist Bestandteil fast aller untersuchten Ordnungen.21 Persönliche Gastfreundschaft für Fremde, Freunde oder Verwandte, die einen Ort oder ein Haus mit Pestkranken betreten hatten, durfte es nicht mehr geben. Wer mit Pestkranken unter einem Dach gelebt hatte, mußte 16 17 18 19

Zusammenstellung bei H. Heibig (wie Anm. 10) Sp. 430-432. Lüttich 1600, 758 Seiten. Lüttich 1605. Vgl. das ausdrucksvolle Portrait von Jean Valdor aus dem Jahr 1617. LOttich, Cabinet des estampes. Abdruck Jean-Pierre Massaut, Marie-Elisabeth Henneau, Reformes. In: Liège. Histoire d'une église, Bd. 3, Strasbourg o. J. (1993), S. 19. 20 Papst Paul V. verlangte von Ernst von Bayern, eigenmächtige und römische Rechte beeinträchtigende Handlungen seines Generalvikars Chapeaville zu unterbinden. Breve vom 23. Februar 1606. Arnold Fayen, Un bref de Paul V à Ernest de Bavière, évêque de Liège, contre le vicaire-général Chapeaville. Leodium 10 (1911) S. 134/135. Am 18. März 1606 wurde der zuständige Kölner Nuntius Gaizadori von Paul V. angewiesen, die von Chapeaville im Namen seines Bischofs ausgefertigten Dispense, Bestätigungen und Verleihungen für nichtig zu erklären. Emile Schoolmesters, Un rescrit de la Nonciature de Cologne contre le Vicaire-Général Chapeaville. Ebd. 3 (1904) S. 10-12. 21 Lüttich 1572, Lüttich 1597, Lüttich 1598, Huy 1606, Köln 1606. Druckorte s. Anm. 4 und 8.

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Gott, die Menschen und die Pest

aufs freie Feld oder in isolierte Behausungen (Lüttich 1572). Das galt auch für bereits Erkrankte (Huy 1606), sofern sie nicht in ihren Wohnungen eingesperrt wurden, deren Fenster, Türen und Abflußöffnungen für mehrere Wochen geschlossen bleiben mußten (Lüttich 1572). Häuser mit Pestkranken mußten durch auffällige Zeichen (Kreuz, Strohbüschel) kenntlich gemacht werden (Lüttich 1572, 1598; Huy 1606). Wer seine erkrankten Angehörigen nicht im Stich lassen wollte, dem blieb nichts anderes übrig, als sich mit einsperren zu lassen. Er konnte das Haus erst vierzig ("quarantaine") bis fünfeig Tage nach dem letzten Todesfall dort wieder verlassen (Lüttich 1572, 1597). In Köln wurden diejenigen durch kürzere Quarantänefristen belohnt, die ihre Angehörigen sofort nach Ausbruch der Krankheit im Stich ließen. 1598 erhielten Kranke und die bei ihnen Wohnenden in Lüttich sogar Ausgang, freilich nur nachts zwischen 22 und 5 Uhr. Die Bestattung der Toten oblag besonders beauftragten Personen. Im Fürstbistum Lüttich widmeten sich Lollardenbruderschaften dieser Aufgabe. Diese Helfer durften bei ihrem Dienst keinerlei Aufsehen erregen und mußten deswegen vorzugsweise in der Dunkelheit tätig werden (Lüttich 1572, 1598). In Lüttich war jegliche ambulante Pflege von Pestkranken untersagt. Wer ein Pesthaus betrat und es wieder verließ, wurde für ein Jahr (1572) oder sogar drei Jahre (1597) ausgewiesen. Ärzte allerdings, die sich um Pestkranke kümmerten, erhielten lediglich die Auflage, sich nicht in der Gemeinde zu bewegen oder keine Kirche zu besuchen (Lüttich 1798). Die Kölner Regelungen von 1606 waren weniger scharf. Krankenwärter sollten lediglich aller Gemeinschaft mit gesunden Personen und Häusern sich möglichst enthalten.22 Die Pflicht zum Grabgeleit für Nachbarschaften und Zünfte wurde dort aufgehoben. Das Bild einer sich den kranken Menschen fast völlig verweigernden Gesellschaft wird lediglich dadurch ein wenig gemildert, daß die Pestordnungen die Kosten gemeinschaftlicher isolierter Unterbringung, auf die Dienstboten und Arme angewiesen waren, Spitälern und kirchlichen Instituten auferlegten beziehungsweise begüterte Bürger an den Kosten beteiligen wollten (Lüttich 1572, 1598; Köln 1606). Fremden Armen freilich wurde die Aufnahme verweigert. Fahrendes Volk wurde radikal ab- oder ausgewiesen. Die weithin übliche Diskriminierung von fremden Bettlern, Schaustellern und fliegenden Händlern wurde in Pestzeiten verschärft (Lüttich 1572; Huy 1606). Daß der Lumpenhandel verboten wurde, hat seine Ursache darin, daß man überzeugt war, die Pest niste sich besonders in Textilien ein (Huy 1606). Die Lütticher Ordnungen blenden die religiöse Dimension völlig aus. In den herangezogenen Beispielen finden sich keine Hinweise, aus denen man auf ein Bemühen schließen könnte, das Unglück der Pest theolo22 Scotti (wie Anm. 8) S. 212.

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gisch zu erklären und damit für die gläubigen Zeitgenossen ein wenig erträglicher zu machen. Auch fehlen Regelungen zur Seelsorge in Pestzeiten und für Pestkranke. Die Kölner Ordnung von 1606 dagegen forderte gleich zu Beginn die Seelsorger auf, die Unterthanen ... zur Gottesfurcht und zur Führung eines frommen und gottseligen Lebens ermahnen. Erkrankte sollten sich mit gottergebenem Sinn ohne Schrekken ärztlicher Behandlung anvertrauen.23 Die Geistlichen erhielten den Auftrag, die kirchlichen Heilsmittel den Kranken zuzubringen, und Letztere zu deren Empfang sich nicht in die Pfarrkirchen fuhren zu lassen.24 Wenn diese Bestimmung auch in erster Linie den Zweck verfolgte, der Ansteckungsgefahr vorzubeugen, so erinnerte der geistliche Landesherr damit immerhin auch daran, daß es in Pestzeiten auch andere als körperliche oder medizinische Bedürfnisse gab. Die einleitende Ermahnung zu Gottesfurcht und frommem Lebenswandel steht in der alten Tradition der Versuche, den Zorn Gottes zu besänftigen und ihn durch fromme Werke zu versöhnen.25 Johannes Chapeaville begründet seinen Traktat über die Sakramentenspendung in Pestzeiten nun nicht damit, daß sein Lütticher Landesherr in der Gesetzgebung die Seelsorge vernachlässigt habe. Er läßt aber keinen Zweifel daran, daß ihm die Sorge um die kranken und vor Ansteckung zu bewahrenden Körper allein nicht genügte. Er mußte den zugleich erbarmungswürdigen und erschreckenden Verfall nickt nur der Körper sondern auch der Seelen oft genug mit ansehen und stellte mit Empörung fest, daß die Kranken meist nicht nur menschlicher Hilfe und Tröstung entbehrten, sondern auch noch von ihren Seelenhirten im Stich gelassen wurden.26 Deshalb versuchte er es den Ärzten, die nach Hilfe gegen die Seuche forschten, gleichzutun und pharmaca quaedam spiritualiaP aus der Bibel, den Konzilien, den Kirchenvätern und -lehrern zu erarbeiten. Probleme bereiteten ihm nicht die prinzipielle Abkehr der Menschen von Gott. Auch war sein Anliegen nicht, im konventionellen Sinn die Pestkatastrophen als gerechte Strafen des göttlichen Richters zu interpretieren und die demütige Annahme der Strafen zu empfehlen. Er sah in erster Linie praktische Schwierigkeiten und gab sehr konkrete Hinweise und Ratschläge, mit diesen fertigzuwerden. Das Lütticher Land war auch zu Pestzeiten weder gottlos noch war die Autorität der Kirche zerbrochen. Klerus und Gläubige bezweifelten nicht im geringsten die Notwendigkeit auch und gerade dann, wenn die bürgerliche Gesellschaft zu zerfallen drohte, den Menschen die Gnadenmittel der Kirche zugänglich zu machen. Es scheint vielmehr, daß 23 Ebd. 24 Ebd. S. 214 25 Vgl. das Kapitel "Contre la colère divine: Les prières, les exercices pieux, la charité" bei J. N. Biraben (wie Anm. 14) Bd. 2 S. 63-84. 26 Tractatus f. 2 r/v. 27 Ebd. f. 3 r.

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gerade das Festhalten an kirchlichen Vorschriften die Seelsorge in Krisenzeiten gefährdete. So war in den Augen Chapeavilles neben der Flucht der Priester die Unsicherheit bezüglich der formalen Korrektheit der Sakramentenspendung das wichtigste Hindernis einer funktionierenden Seelsorge. Außerdem stellten sich auch für den Seelsorger in einer "Katastrophengesellschaft" (A. Rusinek) ganz neue Fragen. Wenn die Hierarchie der bürgerlichen Gesellschaft im Angesicht des allgegenwärtigen Todes zusammenbrach oder an Verbindlichkeit einbüßte, dann mußte die Seelsorge die Prioritäten selber setzen und sich neu auf die biblischen Maßstäbe oder was die theologische Tradition dafür hielt, besinnen. Dies ist die Aufgabe, die Chapeaville sah und der er sich stellte. Sein Traktat handelt im ersten Kapitel28 Notwendigkeit und Methode der Sakramentenspendung in Pestzeiten im allgemeinen ab. Dann folgen fünf Kapitel über einzelne Sakramente, nämlich Taufe, Buße, Eucharistie, "Letzte Ölung" und Ehe, die Sakramente, die im Leben des einzelnen und der Gemeinschaft29 besonders wichtig sind. Die literarische Form ist die des klassischen Katalogs von Quaestiones. Die Frage selbst wird ausführlich entfaltet. Die Responsio wird häufig durch eine oder mehrere, oft kritische Zwischen- und Zusatzfragen nebst Antworten ergänzt. Das Latein ist das eines gebildeten Klerikers, der aber darauf verzichtet, seine theologischen, kanonistischen und historischen Kenntnisse sowie seine Sprachfertigkeit aufdringlich zur Schau zu stellen. Die Quellenbelege in margine sind zahlreich. Auffallend häufig werden die Cánones et decreta des Konzils von Trient herangezogen. Die grundsätzlichen Fragen, ob zu Pestzeiten Sakramente gespendet werden sollten und ob alle Geistlichen ohne Ansehen des Ranges dazu verpflichtet seien, werden nachdrücklich bejaht, und da der Gute Hirte sein Leben hingibt für seine Schafe (Joh. 10, 11) ist Lebensgefahr keine Entschuldigung. Flucht vor der Pest ist für einen Pfarrer ausgeschlossen, wenn auch in ausgewählten Fällen mit Erlaubnis des Bischofs ein Vertreter eingesetzt werden kann.30 Je genauer die Fragen und Antworten auf konkrete Situationen der Seelsorge eingehen, um so deutlicher spürt man die praktische Erfahrung des Autors. Natürlich muß der Pfarrer zur Sakramentenspendung das Haus eines Pestkranken betreten, es sei denn, die Kranken können unter zumutbaren Umständen einen für den Pfarrer weniger gefahrlichen Ort aufsuchen.31 Auch durch das Fenster könne man Beichte hören und die Kommunion austeilen, wird als praktisch-realistische Lösung empfohlen. 32 28 29 30 31 32

Dieses Kapitel bildet die Quellengiundlage der folgenden Überlegungen. Unter anderem als "rites de passages". Chapeaville, Tractatus, S. 1-34. Dies ist angesichts der obrigkeitlichen Verbote freilich eine theoretische Erwägung. Chapeaville, Tractatus, S. 34-37.

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Angesichts der Not der Menschen verlieren sonst heftig verteidigte Rechtsgrundsätze ihre Gültigkeit. So darf der Bischof sogar Angehörige eines exemten Ordens oder Klosters zur Sakramentenspendung in einer Pfarrei zwingen.33 Ist sonst kein Priester zu finden, darf einer notfalls mit Geld herbeigelockt werden, was unter normalen Umständen zumindest den Verdacht der Simonie provoziert hätte.34 Auch massive Verstöße gegen die Disziplinarvorschriften für Kleriker dürfen kein Hindernis sein, wenn Pestkranke beichten oder die Kommunion empfangen wollen. So wird erörtert, ob man einen Trinker oder Konkubinarier bemühen dürfe. Das Ergebnis der Prüfung ist eindeutig positiv.35 Selbst abständige und häretische Priester dürfen unter bestimmten Bedingungen den Pestkranken Sakramente spenden.36 In kasuistischer Perfektion diskutiert Chapeaville, wer für die Seelsorge durch Sakramentenspendung für die verschiedenen Stände von Papst und Kaiser bis zum fahrenden Volk und den Studenten zuständig ist. Diese Quaestiones bieten Gelegenheit, klarzustellen, daß ohne Ansehen der gesellschaftlichen Position jeder Gläubige und ganz besonders, wenn er pestkrank ist, mit den Sakramenten versorgt werden muß. 37 In weiteren sechs Quaestiones wird allgemein und in Bezug auf einzelne Gruppen von Pestkranken38 beteuert und belegt, daß kein Priester keinem Pestkranken ein Sakrament vorenthalten darf. 39 Wenn mehrere gleichzeitig nach einem Sakrament verlangen, dann hat der Pfarrer abzuwägen. Die Kriterien, die Chapeaville dazu an die Hand gibt, lassen erkennen, wie sehr die gesellschaftliche Ordnung auch die Seelsorge bestimmte. An hervorragender Stelle40 ist der Patronatsherr zu berücksichtigen. Anderen vorzuziehen sind grundsätzlich die Pfarrangehörigen und unter diesen die Verwandten des Pfarrers. Der Vater hat Vorrang vor der Mutter. Wegen der Zahl der Fälle offensichtlich notwendig war die Festlegung, daß der Sohn des Pfarrers dem Vater und die Konkubine den Eltern hintangestellt werden müssen. Arm und Reich sollen gleich behandelt werden und der Böse verdient mehr Aufmerksamkeit als der vermeintlich Gute. In Zweifelsfällen soll der Pfarrer die Prioritätenfrage aber nicht zu skrupulös prüfen, sondern sich practice et bona fide simpliciterque procedendo entscheiden.41 Die letzten Quaestiones beschäftigen sich mit dem großen Komplex von Unklarheiten und Problemen bei der äußeren Form der Sakramen33 34 35 36 37 38

Ebd. s. 54-56. Ebd. S. 56-61. Ebd. S. 61-68. Ebd. S. 68-71. Ebd. S. 72-88. Soziale Gruppen (Knechte und Mägde), Kranke ("Irre und Tollwütige"), kirchenrechtlich Ausgegrenzte (die dem Interdikt unterliegen). 39 Chapeaville, Tractatus, S.86-101. 40 Nach dem Pfarrer selbst ("Diliges proximum tuum sicut teipsum.") und denen, die schwere Schuld ("peccatum mortale") auf sich geladen haben. Ebd. S. 103/104. 41 Ebd. S. 101-108.

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tenspendung. Natürlich fordert der Autor nachdrücklich, korrekt zu verfahren. Die Krisensituation einer Pestepedemie bekommt freilich ihr Recht. Generell gilt die Einschränkung quantum fieri potest.42 Ausdrücklich wird die Möglichkeit eröffnet, notfalls Pestkranken die Sakramente omissis ceremoniis, vel omnibus, vel aliquibus43 zu spenden. Korrektheit und Vollständigkeit sind nicht schädlich, doch gibt es bei der Seelsorge in Pestzeiten Situationen, in denen illa perfectio eine Versuchung Gottes darstellt.44 Die Leistungen der Medizin waren für Chapeaville nur von relativem Wert. Die Erfahrung mit ohnmächtigen Ärzten oder wirkungslosen Mitteln mag für seine Skepsis verantwortlich sein. Wahrscheinlicher ist aber, daß er die menschlichen Versuche, mit der Medizin den von ihm als "natürlich" und damit gottgewollt bewerteten Ablauf der Dinge zu beeinflussen, nur für gerechtfertigt hielt, wenn dadurch Anstrengungen für das Heil der Seelen nicht beeinträchtigt wurden. So lassen sich die Argumente verstehen, mit denen er begründet, warum bei in Extremfälen anstehenden Entscheidungen, ob körperlicher Versorgung oder dem Spenden der Sakramente der Vorrang gebühre, allenfalls der Nahrungsmittelaufnahme Priorität eingeräumt werden könne: "Alimentum enim est medium naturale per se ordinatum ad vitam sustendandam, non item medicina. Nec homo tenetur adhibere omnia media possibilia ad vitam conservandam, sed sufficit adhiberi media ad hoc per se ordinata. "4S Dieser praktische Ratgeber des erfahrenen Seelsorgers, durchgreifenden Administrators und eifrigen Reformers und Gegenreformators Chapeaville hatte mehrere Funktionen. Die Nachdrucke des Buchs im Reich lassen es möglich erscheinen, daß es in diesem Sinne Wirkungen zeitigte. Chapeaville wollte die Seelsorge auch für eine "Katastrophengesellschaft" sichern. Gleichzeitig ging es ihm darum, den im Tridentinum neu definierten Regeln der Kirche gerade in schlimmsten Krisensituationen Autorität zu verleihen. Wenn sich allenthalben die Beziehungen zwischen den Menschen auflösten, ja von den hilflosen Obrigkeiten radikal unterbrochen wurden, dann sollte wenigstens auf die Diener der Kirche Verlaß sein, sollten die wichtigsten Bestandteile des Seelsorgesystems zur Verfügung stehen. So wurde den einzelnen Menschen und der Gesellschaft ein Mindestmaß an Gewißheit und Orientierung garantiert. In extremis hatten aber nicht die systematischen Regeln das größte Gewicht sondern die Bedürfnisse der leidenden Menschen. Einen Widerspruch zwischen dem Anspruch der Kirche auf Regelgemäßheit und dem der Menschen auf Seelsorge gibt es für Chapeaville freilich nicht. Die Menschen sind des Heils bedürftig. Dieses zu vermitteln ist die Kirche nicht nur allgemein verpflichtet. Dieser Aufgabe hat sie ihre Ansprüche als gesetzmäßig organisierter sozialer Körper unterzuordnen. 42 43 44 45

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

S. S. S. S.

113 und 114. 126. 128. 130.

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Das ist keine neue Sicht der Dinge. Der gelehrte Theologe Chapeaville entwickelt seine Auffassung aus theologischen Texten von der Spätantike bis zu seiner Gegenwart. Er hielt es aber für notwendig, die Theologie mit der sozialen Wirklichkeit neu zu versöhnen. Das macht Chapeaville zu einem Reformator sui generis.

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Pränatales zur Erstausgabe des "Nathan" Neue Untersuchungen zur Interdependenz von Autor, Werk und Drucklegung Am 11. August 1778 schrieb Gotthold Ephraim Lessing von Wolfenbüttel aus an seinen Bruder Karl in Berlin: "Ich habe vor vielen Jahren einmal ein Schauspiel entworfen, dessen Inhalt eine Art von Analogie mit meinen gegenwärtigen Streitigkeiten hat, die ich mir damals wohl nicht träumen ließ. Wenn Du (d.i. Karl Lessing) und Moses (d.i. Moses Mendelssohn) es für gut finden, so will ich das Ding auf Subscription drucken lassen, und Du kannst nachstehende Ankündigung nur je eher je lieber ein Paar hundertmal auf einem Octavblatte abdrucken lassen, und ausstreuen, so viel und so weit Du es für nöthig hältst."1

Lessing spricht hier von nichts anderem als von seinem Schauspiel "Nathan der Weise", das seinen Ruhm bis heute mitbegründen half und in dessen Inhalt er eine Analogie zu seinen "gegenwärtigen" Streitigkeiten sah. Was war geschehen? Lessing spielt in dem zitierten Brief darauf an, daß er sich mit dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze in Auseinandersetzungen befand. Goeze hatte ihn u.a. öffentlich zur Stellungnahme aufgefordert, ob er sich noch auf dem Boden der christlichen Religion bewege2 und Lessing hatte ebenso öffentlich darauf repliziert3. Um diesem sich in Druckwerken abspielenden Schlagabtausch ein Ende zu bereiten, hatte Lessings Dienstherr als Bibliothekar in Wolfenbüttel, Herzog Karl von Braunschweig, in einem Schreiben vom 3. August 1778 angeordnet, daß "derselbe, was er fernerhin drucken zu lassen gemeinet ist, an Höchstgedachtes Sr. Durchlaucht Fürstliches Ministerium bis zu anderweiter Verordnung jedesmal zuförderst einzuschicken, hienächst aber, die hier einmal confiscirten Schriften auswärts

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Benutzt wurde das Exemplar der Subskriptionsausgabe aus dem Besitz des Goethe-Museums in Dasseldorf. Herangezogen wurden femer die Exemplare der Lippischen LB in Detmold und der Bibliothek Otto Schäfer in Schweinfurt. Frau Priv.-Doz. Dr. Ursula Rautenberg (Schweinfurt) danke ich für freundliche Auskdnfte. Briefe von und an Gotthold Ephraim Lessing. In ftlnf Bänden. Hrsg. von Franz Muncker (im folgenden zitiert als Lessing, Briefe), Bd. 2, Briefe von Lessing aus den Jahren 1772-1781, Leipzig 1907, Nr. 611, S. 285. Lessings Schwächen (1778) Nötige Antwort auf eine sehr unnötige Frage des Herrn Hauptpastor Goeze in Hamburg (1778)

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nachdrucken zu lassen, bey Vermeidung unangenehmer Verordnung sich zu enthalten habe... "4 Zwar versuchte Lessing, in einer Eingabe vom 8. August an den Herzog, diese Verfügung dahingehend zu interpretieren, daß es sich nur um eine Zensur für im Herzogtum Braunschweig zu druckende Werke handelte5, was dann natürlich prompt von der Herzoglichen Behörde in einer Antwort vom 17. August zurückgewiesen wurde6, aber ihm war schon bei der Abfassung dieser neuen Eingabe klar, daß er seinen Kampf auf einem anderen Feld fortsetzen mußte, und dieses Kampffeld war, wie der eingangs zitierte Brief an seinen Bruder Karl zeigt, sein geplantes Stück "Nathan der Weise". Lessing führte diesen Gedanken noch einmal in einem Brief an seinen Bruder vom 7. November des gleichen Jahres aus. Darin schreibt er, er habe das Stück hervorgeholt, damit er, "nach einigen kleinen Veränderungen des Plans, dem Feinde auf einer andern Seite damit in die Flanke fallen könne. " 7 Lessing traute seiner Eingabe offenbar selbst keinen Erfolg mehr zu. Denn er verfaßte den Ankündigungstext seines "Nathan" am selben Tag (8. August) und schickte ihn dann drei Tage später seinem Bruder mit der Bitte um Einleitung der Subskription, ohne noch auf die Antwort der Herzoglichen Behörde, die am 17. 8. datiert ist, zu warten. Mit diesem Brief an Karl Lessing beginnen Ausarbeitung und Drucklegung des Nathan-Schauspiels. Die einzelnen Phasen lassen sich - wenn auch nicht ganz lückenlos - an zeitgenössischen Dokumenten, vor allem Briefen, verfolgen. Sie vermitteln ein faszinierendes Bild vom literarischen Schaffen und von den einzelnen Phasen und Fragen der Drucklegung und ihren gegenseitigen Abhängigkeiten. Obwohl die Quellen (wie die Korrespondenz) seit langem bekannt und zugänglich sind, ist man dieser Frage bislang noch nicht in einer speziellen Studie nachgegangen8. Sie sei hiermit vorgelegt. 1. Vorbereitung und zeitlicher Verlauf des Drucks In der Ankündigung zur Subskription seines Stückes vom 8. August, in der deutlich die verdrießlichen Umstände anklingen, werden die Subskribenten um Rückmeldung bis Weihnachten gebeten: "so kann ich um

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Lessing, Briefe Bd. 5, Briefe an Lessing aus den Jahren 1774-1781, Leipzig 1907, Nr. 759, S. 221. Antwort auf die Eingaben Lessings vom 11. bzw. 20.Juli 1778, vgl.Lessing, Briefe Bd. 2, Nr. 599 und 601. Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 609, S. 282-283. Lessing, Briefe, Bd. 5, Nr. 762, S. 223-224. Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 617, S. 292-293, hier S. 292. Zur Lessing-Literatur vgl. Siegfried Seifert: Lessing-Bibliographie (bis 1971). Berlin und Weimar 1973; Forts. :Doris Kühles: Lessing-Bibliographie 1971-1985. Unter Mitarb. von Erdmann von Wilamowitz-Moellendorff. Berlin und Weimar 1988. Für die Literatur zur Buchgeschichte wurde die Wolfenbütteler Bibliographie zur Geschichte des Buchwesens 1840-1980, München 1991 und die fortlaufende Bibliographie zum Buch- und Bibliothekswesen BBB hrsg. v. Horst Meyer, Bad Boilstädt 1980/81ff. herangezogen.

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diese Zeit anfangen lassen, zu drucken."9 Damit war der Beginn des geplanten Drucks ungefähr abgesteckt. Lessing schickte diese Ankündigung mit dem zitierten Brief an seinen Bruder Karl, der ihm zeitlebens besonders nahestand. Karl verkehrte (u.a. als Mitarbeiter der Voßischen Zeitung) seit vielen Jahren im Hause von Lessings langjährigem Verleger Christian Friedrich Voß und hatte 1776 dessen Tochter geheiratet10. Diese engen Beziehungen zum Hause Voß sind als Hintergrund für die Drucklegung des "Nathan" von Wichtigkeit.11 Karl billigte in einem Brief vom 18.8. nachdrücklich den Plan seines Bruders : "Mache Deinen Nathan immer fertig; an Subscribenten soll es nicht fehlen"12 und einem Brief genau eine Woche später legte er dann einige Exemplare des inzwischen fertigen Drucks der Ankündigung bei.13 Über den Druck des Nathan hören wir dann erst wieder in einem Brief Lessings vom 7.November. Er antwortet auf einen Brief Karls (vom 28. Oktober), dessen Anfang uns nicht überliefert ist. Gerade die Anfangspassage hätte uns hier interessiert, da sie, (wie aus der Antwort Lessings hervorgeht), einige Vorschläge und Fragen des Verlegers Voß enthielt14. Vermutlich klang vorsichtig die Sorge nach dem Abgabetermin des Manuskripts an, denn Lessing antwortete recht entschieden: "...mein Stück ist so vollkommen fertig, als nur immer eins von meinen Stücken fertig gewesen, wenn ich sie drucken zu lassen anfing. Gleichwohl will ich noch bis Weyhnachten daran flicken, poliren, und erst zu Weyhnachten anfangen, alles aufs Reine zu schreiben, und à mesure abdrucken zu lassen, daß ich unfehlbar auf der Ostermesse damit erscheinen kann. "15 Damit war erstmals der Erscheinungstermin genannt, nämlich die Leipziger Ostermesse 1779. Die Orientierung des Erscheinungstermins auf die Buchhändlermessen hin war seit dem 16. Jh. üblich geworden. Schon in der Reformationszeit sahen die geschäftstüchtigen Verleger darauf, daß ihre neuesten Verlagsprodukte pünktlich zu den Buchhändlertreffen auf den Messen fertig vorlagen, da dann ein geschäftlicher Erfolg des Buches erheblich erleichtert wurde.16 Seit dem 9

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Seifeit Nr. 1138, abgedruckt bei Julius W. Braun: Les sing im Urtheile seiner Zeitgenossen. Zeitungskritiken, Bericht u. Notizen, Lessing und seine Werke betreffend, aus den Jahren 1747 bis 1781. Bd. 1-2, Berlin 1884-1897 (ND Hildesheim:01ms 1969) (im folgenden zitiert als Braun, Lessing), hier Bd. 2, S. 152-153. zu Karl Lessing vgl. Eugen Wolff: Karl Gotthelf Lessing. Diss. Jena 1886; Arend Buchholtz: Die Geschichte der Familie Lessing, hrsg. v. Carl Robert Lessing, Bd. 1 Berlin 1909, S. 223273; Wolfgang Milde in NDB 14, S. 346-347. Über die Beziehungen zwischen Lessing und seinem Verleger Voß vgl. Arend Buchholtz: Die Vossische Zeitung. Geschichtliche Rückblicke auf drei Jahrhunderte. Berlin 1904, S. 221-224. Lessing, Briefe, Bd. 5, Nr. 764, S. 225-226, hier S. 225. ebd. Nr. 765 v. 25.8.1778, S. 226-227. Lessing, Briefe, Bd. 5, Nr. 773, S. 232-234, dazu S. 232 A2. Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 617, S. 292-293, hier S. 292. Hans Volz: Aus der Wittenberger Druckpraxis der Lutherbibel (1522/46). In: Gutenberg-Jahrbuch 1961, S. 142-155, hier S. 147-148 mit A. 55-57; dort zahlreiche Beispiele.

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17. Jahrhundert hatte Leipzig den alten Handelsplatz Frankfurt in steigendem Maße überflügelt.17 So kam diese Planung nur den Notwendigkeiten und Erwartungen entgegen.18 Ostern lag in diesem Jahre (1779) am 4. April19, im Anschluß daran fand ab dem Sonntag Misericordias Domini (2. Sonntag nach Ostern) zwei bzw. drei Wochen die Buchhändlermesse statt20, also 1779 in der Zeit vom 18.4. - 2.5. (9.5.), so daß für den Druck höchstens ca. 4 Monate zur Verfügung standen. Nicht begeistert dürfte Voß durch die Ankündigung Lessings gewesen sein, das Stück erst nach Weihnachten ins Reine zu schreiben und dann jeweils portionsweise zur Drucklegung zu schicken. Während des Drucks wird immer wieder von Karl die Gefahr beschworen, daß es dadurch zu Verzögerungen im kontinuierlichen Ablauf kommen könnte. Lessing schickte in dem Brief an Karl vom 7.12. 21 den Anfang des Nathan, um den Platz zu berechnen, den das Drama im Druck einnehmen würde. Der Umfang dieser ersten Lieferung ist nicht genauer bezeichnet.22 Da aber die folgende Lieferung bis S. 74 ging, können wir ungefähr von der Hälfte ausgehen (S.l-36) und haben dann etwa den Umfang, den auch die folgenden Lieferungen umfassen. In diesem Brief bat Lessing ausdrücklich darum, das Manuskript Karl Wilhelm Ramler und Moses Mendelssohn zur Begutachtung vorzulegen.23 Vor allem Ramler nahm sich im folgenden auf Bitten Lessings jede Lieferung des Manuskripts vor, korrigierte sie, besonders hinsichtlich des Versmaßes, und sandte sie an Lessing zurück. Lessing prüfte die verschiedenen Anmerkungen seines Bruders, Ramlers und gelegentlich auch Moses Mendelssohns, arbeitete sie in sein Manuskript ein (so nahezu alles von

17 F. v. Schroetter: Die Verlegung der BQchermesse von Frankfurt am Main nach Leipzig. Leipzig 1904 (Volkswirtschaftliche und wirtschaftsgeschichtliche Abhandlungen 9); P. Beyer: Leipzig und Frankfitrt/Main. Leipzigs Aufstieg zur Messestadt, In: Jahrbuch fUr Regionalgeschichte 2 (1967) S. 62-86. 18 Vgl. Karls Brief vom 22.12.1778 in: Lessing, Briefe, Bd. 5, Nr. 779, S. 238:"Ungeachtet Dein Stück erst zur Ostermesse herauskommen muB, weil ein früherer Termin in vielem Betracht schädlich wäre... " 19 Hermann Grotefend: Taschenbuch der Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit. 10. erw. Aufl. hrsg. von Th. Ulrich, Hannover 1960, S. 220 und S. 171. 20 Johann Goldfriedrich, Geschichte des Deutschen Buchhandels, Bd. 2, Leipzig 1908, S. 258259. 21 Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 618, vgl. S. 294 A.l. 22 Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 619, S. 294. 23 Die Beziehungen der beiden zu Lessing sind in der Forschung sehr unterschiedlich aufgearbeitet. Zu Ramler ist hier nur zu nennen: Carl Schüddekopf: K-W.Ramler bis zu seiner Verbindung mit Lessing. Diss. Leipzig 1886 und der neuere allgemeine LebensabriB von Wilhelm Eggebrecht in: Pommersche Lebensbilder 4 (1966) S. 153-167. Dagegen gibt es zur Freundschaft mit Mendelssohn zuletzt den Tagungsband: Humanität und Dialog. Lessing und Mendelssohn in neuer Sicht. Beiträge zum Internationalen Lessing-Mendelssohn-Symposium anläfilich des 250. Geburtstages von Lessing und Mendelssohn, veranstaltet 1979 in Los Angeles. Hrsg. von Erhard Bahr, Edward P. Harris und Laurence G. Lyon. Detroit 1982 (Lessing Yearbook. Beih.).

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Ramler24) und sandte dann diese überarbeitete Fassung wieder an seinen Bruder nach Berlin, damit sie in Druck gehen könne. Es war also ein recht aufwendiges Verfahren, wobei jeder Manuskriptteil zweimal nach Berlin und dazwischen einmal nach Wolfenbüttel geschickt wurde.25 Schließlich wurden vom fertig gedruckten Text noch die Aushängebogen nach Wolfenbüttel gesandt (erstmals am 13. März), um dort die Druckfehler festzuhalten. Dieses Hin- und Hersenden konnte bei den Postverbindungen der Zeit auch mitunter recht lange dauern, so daß Lessing seinen Bruder gelegentlich bat, ihm doch die Lieferungen mit der reitenden, nicht mit der fahrenden Post zuzustellen, damit es schneller ginge. 26 Im Dezember 1778 kam das beschriebene Verfahren ans Laufen27 und Mitte Januar 1779 sandte Lessing den nun endgültig korrigierten Textanfang an Karl zurück28. In Berlin war man schon um den rechtzeitigen Erscheinungstermin besorgt, und hatte gemahnt: "Auch ist es nun bald Zeit, daß zu drucken angefangen wird. "29 Es ist daher verständlich, daß Voß das Manuskript noch am selben 24. Januar, an dem es in Berlin eintraf, an die Druckerei weiterschickte, damit sofort mit dem Druck begonnen werden konnte30: Es standen nunmehr nur noch knapp drei Monate zur Verfügung. Wenn wir den Briefwechsel Lessings mit seinem Bruder Karl hinsichtlich der Drucklegung des "Nathan" betrachten, dann fälllt auf, daß einige Briefe mit Manuskriptsendungen in beide Richtungen verlorengegangen sein müssen. 31

24 Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 633, an Ramler v. 1.2.1779:"...Sie werden finden, daß ich fast alles von Ihnen genutzt habe, einige Kleinigkeiten ausgenommen, über die wir uns mündlich leicht verstehen würden." (S. 306) Vgl. dazu auch die Bemerkung von Karl Lessing im Brief vom 24.1.1779 in: Lessing, Briefe, Bd. 5, Nr. 788 S. 247: "In Deinem Manuskript zum Drucke hast Du viele Veränderungen gemacht, die mir Voß nicht einmal Zeit gelassen durchzusehen." 25 Es versteht sich, daß Lessing natürlich in Wolfenbüttel die Reinschrift zurückbehielt, schon aus Sicherheitsgründen und um weiterarbeiten zu können. Das wird deutlich in seinem Brief v. 19. März (Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 637), in dem er schreibt: "Wenn ich das Ende des Manuskripts an Ramlern schicke, so kann es nur gleich dort bleiben; wenn Du mir seine Anmerkungen nur mit der reitenden Post schickst, auf die ich mit der nehmlichen meine zu machenden Veränderungen einsenden will" (S. 308-309). 26 Vgl. Zitat Anm. 25; zu den Postverbindungen der Zeit vgl. Klaus-Dieter Beyrer: Die Postkutschenreise. Geschichtlich« Wandel, soziale Dokumentation und literarische Wirkung des Postreiseverkehrs im Deutschland des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Diss. Tübingen 1985 (Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen Bd. 66), bes. S. 47-96 u. S. 193-235; Deutsche Postgeschichte. Essays und Bilder hrgs. von Wolfgang Lötz. Berlin 1989, bes. S. 77-122. 27 Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 623, S. 297-298. 28 Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 631, S. 304-305. 29 Lessing, Briefe, Bd. 5, Nr. 786, S. 245. 30 Lessing, Briefe, Bd. 5, Nr. 788, S. 246-247. 31 Über die Fertigstellung der einzelnen Teile des Manuskripts haben wir Kenntnis. Der Nachlaß zum "Nathan". Hs. S. 1 enthält die Daten der Versifikation für die einzelnen Aufzüge: 1. Aufzug Anfang: 14.11.1778, 2. 6. Dezember, 3. 28. Dezember, 4. 2. Februar 1779, 5. 7. März 1779.

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Schon Muncker hat in seiner kritischen Ausgabe des Briefwechsels für den Februar 1779 zwei Briefe als verloren angesetzt (Nr. 634 = ca. 1.2.1779, und Nr. 635 = ca. 2. Februarhälfte 1779), in denen die Ms.Teile S. 117-148 und 149-171 an Karl geliefert wurden32. Dagegen ist der Schluß des Nathan nicht notwendigerweise in einem eigenen Brief geschickt worden, sondern möglicherweise identisch mit dem Brief an Ramler vom 30. März. Es ist jener Teil, von dem es im Brief v. 19. März hieß, daß der Schluß in Berlin bleiben könne und Karl nur Ramlers Anmerkungen so schnell wie möglich nach Wolfenbüttel schicken solle.33 Andererseits fehlen einige Briefe mit Sendungen des druckfertigen Manuskripts nach Berlin: Bekannt ist nur, daß Lessing am 15.1. den Anfang des Ms. und am 19.3. die S. 149-171 nach Berlin geschickt hat34. Dazwischen liegen die Sendungen der Ms. (37?)-148. Da wir davon ausgehen dürfen, daß die "Flatschen", wie Lessing diese Manuskriptteile nennt, in gleichbleibendem Umfang hin und her wanderten, wofür wir verläßliche Hinweise aus der Korrespondenz haben, so liegen hier bei S.(37?)-148 drei Ms.-Lieferungen zwischen 15.1-19.3. vor. Wenn wir das zeitlich in etwa gleichen Abständen interpolieren, erhalten wir vermutliche Sendungen am 31.1., 16.2. und 4.3. Da wir aus dem Brief vom 15.1.wissen, daß Lessing auch neue Ms.-Lieferungen mit druckfertigem Material zusammengeschickt hat35, so können hiervon zwei Lieferungen, nämlich am 31.1./1.2. und 16.2./ 2. Hälfte Februar mit den bereits von Muncker interpolierten Sendungen an Karl zusammenfallen (Nr. 634 und 635). Es bleibt aber auf jeden Fall notwendigerweise mindestens ein weiterer verlorener Brief von ca. Anfang März (4.3.?). Weiterhin muß Ende März/Anfang April (Ca. 29.3.?) Ms. 172202 zur Drucklegung an Karl geschickt worden sein. Die Rücksendung nur der Anmerkungen zum Schluß (S.202ff.) erfolgte in einem Brief nach dem 13.4. /vor dem 18.4. 36 So haben wir maximal 7 Briefe Lessings, wenigstens aber 4 verlorene Briefe Lessings an seinen Bruder Karl anzusetzen, auf jeden Fall aber zwei mehr, als Muncker konstatierte. Ähnliches gilt für verlorene Briefsendungen Karls (nämlich ca. 6.2., 23.2.(=Nr. 789), 26.3. und ca. 9.4. (= Nr. 796), damit ebenfalls

32 Lessing, Briefe, Bd. 2, S. 307 Al und 2. Die Abgrenzung der Manuskriptteile (Flatschen) ist nicht ganz eindeutig. Karl Lessing spricht am 13.3. von einem "Flatschen" S. 148-172, Lessing selbst am 16.3. von einem solchen S. 172-202. Die S. 172 kann schlecht zu zwei Lieferungen gehören; wir folgen hier Gotthold Ephraim Lessing und korrigieren die andere Zahl aufS. 149-171. 33 Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 637, S. 308-310. Darin die Bemerkung "Wenn ich das Ende des Manuskripts an Ramlem schicke..."; entsprechend der Brief an Ramler v. 30.März 1779, Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 639, S. 311. In dem Brief gibt es allerdings keinen Beleg ftlr ein beigelegtes Manuskript. 34 Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 631, S. 304-305 und Nr. 637, S. 308-310 35 Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 631, S. 304. 36 Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 641, S. 314 "Auf dem zweyten beyliegenden Blatte habe ich noch einige Verbesserungen von Ramlern geschrieben, die ich Dich in der Corrector anzunehmen bitte."

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mindestens zwei mehr, als Muncker aus inhaltlichen Kriterien erschlossen hat 37 . Die Betrachtung der Drucklegung macht neue Rückschlüsse auf die Korrespondenz und ihre Fehlstellen möglich, die eine Untersuchung unter rein philologischen Aspekten so nicht ergeben hätte. Parallel vollzieht sich seit dem 24.1. der Druck des Nathan. Die Fahnenkorrektur übernimmt in der Folge Karl vor Ort.38 Am 13. März schickt Karl den ersten Aushängebogen an seinen Bruder39. Es ist nun zu spüren, wie sich das psychologische Klima allmählich wandelt. Während sich vorher in den Briefen die Besorgnis Karls spiegelt, ob sein Bruder das Stück werde fristgerecht zu Ende schreiben können und er um weitere Ms.-Seiten bittet, wobei ihn Lessing beruhigt40, sieht nun Lessing dem fortschreitenden Druck mit einiger Besorgnis entgegen und bangt um die rechtzeitige Fertigstellung zur Messe, so daß Karl besänftigend eingreifen muß. Erst als dann Anfang April weitere Aushängebogen vorliegen, sieht auch Lessing der Fertigstellung beruhigter entge-

37 Lessing, Briefe, Bd. 5, Nr. 789 (Ende Februar oder Anfang März) mit S. 247 Al und Nr. 796 (9. April) mit S. 251 A4. Muncker läßt S. 247 A.l die Zahl der verlorenen Briefe dann offen. Insgesamt vollzieht sich die Hin- und Hersendung der Platschen in folgenden Teilen: Daten in Klammem bedeuten: Briefe sind erschlossen. Durch G. Lessing nach Berlin: Durch K. Lessing zurück: nach Wolfenbüttel Zum Druck zurück nach Berlin: Durch G. Lessing nach Berlin: Durch K. Lessing zurück: nach Wolfenbüttel Zum Druck zurück nach Berlin: Durch G. Lessing nach Berlin: Durch K. Lessing zurück: nach Wolfenbüttel Zum Druck zurück nach Berlin:

Ms. 1-Í36?) 07.12. 22.12. 15.01.

Ms. (37V74 19.12. 20.01. (31.01.)

Ms. 75-116 15.01.

Ms. 117-148 (01.02.)

(06.02.) (16.02.)

(23.02.) (04.03.)

Ms. 149-171 (2.H.Febr.)

Ms. 172-202 16.03.

13.03. 19.03.

(26.03.) (29.03.)

Ms. 202ff. 30.03.? 09.04. 13./18.04.

38 Lessing, Briefe, Bd. 5, Nr. 791 v. 13.3., S. 248. 39 Lessing, Briefe, Bd. 5, Nr. 791 S. 247. Damals safi Karl, wie aus dem Brief (S. 248) hervorgeht, an der Korrektur der Lagen D und E (=S. 49-80). 40 vgl. Brief Karls v. 24.1.79 (Lessing, Briefe, Bd. 5, Nr. 788, S. 247): "Es ist mir sehr lieb, daB Du schon so weit bist. Aber traue den Setzern nicht,; sie holen Dich ein, ehe Du es Dich versiehst". Brief Lessings v. 16.3.79 (Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 636, S. 307):"Und nun wirst Du mir doch glauben, daB ich zu Ende dieses Monats gewiB fertig bin? - Aber wie es um den Druck steht, das mag Gott wissen!" Brief v. Karl Lessing v. 20.4.1779 (Lessing, Briefe, Bd. 5, Nr. 799, S. 252:) "Es thut mir recht leid, daB Du so bekümmert bist, da ich Dir doch geschrieben, daB der Buchdrucker mit Deinem Nathan gewiB fertig wird. Wenn Manuscript da ist, so kann man den Druck leicht zwingen; und so ist es auch nun."

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gen41. Lessing ist nun auch mit der Feststellung der zahlreichen Druckfehler beschäftigt, deren Verzeichnis offenbar dem fertigen Druck beigegeben werden sollte. Die genaue Zusendung der Aushängebogen ist aus dem Briefwechsel nicht zu erkennen, nur daß am 1. Mai Karl mitteilt, nun seien wohl keine Aushängebogen mehr zu erwarten, es käme wohl bald das ganze Werk. 42 In dem Brief Lessings, der nach dem 13. und vor einem weiteren am 18.4. 1779 anzusetzen ist, schickt er die Korrekturen für den Schluß des Dramas, wie aus den Zitatstellen hervorgeht (es handelt sich um Verbesserungen zum 5. Akt, 5. Auftritt V. 3375 bzw. 3485, mit V. 3849 schließt das Drama).43 Es sind Korrekturen, wie Karl am 2o. April schreibt, die nur zum Teil noch durchgehen44. Das bedeutet, der Satz des Dramenschlusses stand damals unmittelbar45 vor dem Abschluß. Der Druck (dessen letzte Druckfehleranmerkungen Lessing an seinen Bruder delegiert46) muß demnach Ende April, spätestens in den ersten Mai-Tagen vollendet gewesen sein (Karl kündigt im Brief vom 20.4. an "Ich hoffe Dir in acht Tagen gewiß das Ende des Nathans zu schicken" ( = letzte Aushängebogen). Er weiß in seinem Brief vom 1. Mai nicht genau, ob der Druck schon beendet ist)47 und vermutlich am 7. Mai kann Lessing die ersten fertigen Exemplare in Braunschweig abholen48. 2. Lessings Anteilnahme an der Gestaltung des Drucks Lessing hat, wie wir im folgenden zeigen wollen, an der Gestaltung der Ausgabe seines "Nathan" intensiven Anteil genommen. Diese Einsicht ist offenbar grundsätzlich neu, denn ein namhafter Buchwissenschaftler unserer Tage formulierte bei einem Symposium zu Ehren Lessings in Wolfenbüttel, daß "der bedeutende Autor ganz gewiß niemals oder nur ganz am Rande sein Augenmerk auf die äußere Gestalt seiner Bücher gelegt zu haben scheint. Jedenfalls sind wir nicht in solcher Richtung positiv unterrichtet, was Gotthold Ephraim Lessing anbetrifft." 49 Doch, wir sind, jedenfalls was den Nathan anbetrifft, sehr wohl unterrichtet!

41 Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 641, S. 313-314, hier S. 313: "Ich wollte schon an allem verzweifeln,... als ich endlich Deinen Brief vom 9ten dieses mit den Aushängebogen bekam, und die Möglichkeit daraus erkannnte, daß der Nathan noch so eben auf der Messe erscheinen könne. " Muncker rekonstruiert dementsprechend am 9.4. einen verlorenen Brief Karls in Bezug auf den Versand der Aushängebögen (Nr. 796). 42 Lessing, Briefwechsel, Bd. 5, Nr. 800, S. 253. 43 Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 641, S. 313. 44 Lessing, Briefe, Bd. 5, Nr. 799, S. 252-253. 45 Die genannten Verse befinden sich auf S. 239 (P8) und 245 (Q3) der Subskriptionsausgabe. Es ist das Ende des 15. und der 16. Bogen. 46 Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 642, S. 315. Es bezog sich auf Bogen 12ff.(von 18). 47 Lessing, Briefe, Bd. 5, Nr. 800, S. 253: "In ein Paar Tagen, dächte ich, müßtest Du Deine 1000 Stück richtig haben. " 48 Briefen Gleim v. 7.5.1779 vgl. Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 644, S. 315-316. 49 Hans A. Halbey: Lessing gedruckt. Glanz und Elend der Buchgestaltung. In: Buchgestaltung in Deutschland 1740 bis 1890. Vorträge des dritten Jahrestreffens des Wolfenbtltteler

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Eine intensivere Anteilnahme Lessings an der Gestaltung seines "Nathan" wird vielleicht auch dadurch erklärlich, daß er selbst, wenn auch nur kurze Zeit, in seiner Hamburger Zeit zusammen mit Bode eine Druckerei besessen hat.50 Ihr gilt, neben Lessings Plänen für den Selbstverlag, das gebündelte Interesse der Beiträge, die sich mit Lessing und dem Buchhandel beschäftigen51. Lessing beginnt seine Vorstellungen über die druckerische Gestaltung seines Nathan zu entwickeln, als er den Probedruck von zwei Oktavblättern (statt des von ihm gewünschten ganzen Bogens) in Händen hält. Er betrachtet die Qualität des Papiers und bemängelt, daß es "gar nicht das nehmliche (ist), auf welches meine Schriften bey Voß gedruckt sind, und welches ich in der Ankündigung versprochen habe."52 Karl kann ihn da in seinem Antwortbrief vom 9.1.1779 beruhigen: "Wegen des Papiers sey ohne Sorgen. Der Probedruck ist auf schlechterem gewesen, weil er nur in der Absicht gemacht war, um zu sehen, wie viel auf eine Seite ginge."53 Aber Lessing war es in seinem Brief nicht nur um die Papierqualität, sondern auch um das Format gegangen. Statt des kleinen Formats hätte er gerne zu dem von ihm auch sonst geschätzten Groß-Oktav gewechselt54, einerseits um durch den größeren Raum die Zahl der Bogen in Grenzen zu halten, denn: "statt sechzehn Bogen, auf die ich gerechnet, würde ich kaum mit einigen zwanzig reichen, wenn das Ganze so wie die Probe abgedruckt würde", andererseits um die Zeilenbrechung zu verhindern, "welches bey dem kleinen Format ein mir unerträglicher Uebelstand ist. " Karl verweist in seiner Antwort darauf: "Aber wie Du es corrigirt hast, so braucht keine Zeile abgebrochen zu werden. Man müßte auch dem Setzer nur einschärfen, daß er die Zeilen von mehreren Buchstaben dichter an einander setze" und betreffes des Formats weist er daraufhin, daß sich das Groß-Oktav nicht so gut in der Tasche tragen läßt und "Du hast auch in Deinem Avertissement versprochen, Dein Stück in dem Formate, wie Deine dramatischen Schriften, zu liefern. " Karl gelingt es offenbar mit seiner Antwort, die Bedenken seines Bruders zu zerstreuen, denn der greift diese Punkte in seinen weiteren Briefen nicht mehr auf. Allerdings läßt er sich durch den mehr oder minder deutlichen Hinweis: "Ueberhaupt läßt Dich Voß

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Arbeitskreises für Geschichte des Buchwesens 1978, hrsg. v. Paul Raabe, Hamburg 1980, S. 9-38, hier S. 9. Wisso Weiß: Lessing als Druckereibesitzer. In: Papier und Druck 32 (1983) S. 40-42. Generell immer noch nützlich für diese Fragestellung: Ernst Kundt: Lessing und der Buchhandel. Diss. Heidelberg 1909. Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 628 v. 30.12.1778, S. 300-301. Als Druckereibesitzer mit Bode legte Lessing Wert auf gute und schöne Papiere, vgl. WeiS (wie Anm.50) S. 41. In den wenigen erhaltenen Briefen an Voß aus früheren Jahren wird nur an einer Stelle auf die Papierqualität Bezug genommen, nämlich am 5. Januar 1770 (Lessing, Briefe Bd. 1, Nr. 252). Er bittet um Zusendung von Exemplaren seiner Werke und bemerkt beim Laokoon "von diesem wo möglich eins auf Holländisch Papier" (S. 312). Lessing, Briefe, Bd. 5, Nr. 783, S. 241. Schon als Teilhaber von Bode bevorzugte er Werke in großem Format (Quart), was Nicolai heftig kritisierte, vgl. Weiß (wie Anm.50) S. 41 mit Bezug auf Lessing, Briefe, Bd. 3, Nr. 230, S. 257-259, hier S. 258 (Brief Nicolais v. 14.6.1768).

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bitten, ihm die Besorgung zu überlassen, sowohl für Druck als Papier, und nur dahin zu sehen, daß bald zu drucken angefangen werden könne" (S.241), nicht beirren. In seinem Antwortbrief vom 15. Januar 1779 wählt er eine kleine Probeschrift, um die Zeilenbrechung auf jeden Fall zu vermeiden und zeigt dann genaue Vorstellung über die Gestaltung der Seite: "nur muß die Columne um eine oder zwey Zeilen länger und höher seyn; denn mit 19 Zeilen ist sie wirklich gegen die Breite zu kurz. "55 Nachdem er den ersten Aushängebogen erhalten hat, äußert er sich im Brief vom 19. März56: "Der Aushängebogen gefällt mir überhaupt ganz wohl; hat aber doch verschiedenes, was ich besser und anders wünsche" und er moniert dann eine "garstig gebrochene Zeile" und die Benutzung der falschen Schriftgröße für eine Regieanweisung. Er will sogar aus solchen Gründen das Quartblatt S. 1,2,15,16 am Ende umdrucken lassen, wozu es dann wegen der drängenden Fertigstellung offenbar nicht kommt. Dagegen sagt er nichts zu den Anmerkungen seines Bruders, der in seinem Begleitbrief die "Linien beym Anfange" und die "Schnörkelchen" monierte.57 Es sind also ästhetische, aufführungstechnische und wirtschaftliche Gesichtspunkte, die Lessing hier bei der Gestaltung seiner "NathanAusgabe" vorbringt. Es läßt sich aber gleichzeitig zeigen, daß die Drucklegung auf Lessing als Autor und die Gestaltung des Stückes Einfluß ausübte. Da ist seine Abneigung gegen gebrochene Zeilen, die oben schon mehrfach anklang. Als Ramler ihm offenbar wegen seines Versmaßes im "Nathan" Vorhaltungen macht, antwortet er ihm im Brief vom 18. Dezember:58 "Allerdings, mein lieber Ramler, bin ich Ihnen eine Entschuldigung schuldig, warum ich in dem ersten versificierten Stücke, das ich mache, nicht unser verabredetes Metrum gebraucht habe. Die reine lautere Wahrheit ist, das es mir nicht geläufig genug war ...Doch muß ich Ihnen voraussagen, daß ich sechsfüßige Zeilen nie wählen werde. Wenn es auch nur der armseligen Ursache wegen wäre, daß sich im Drucken auf ordinärem Octav die Zeilen so garstig brechen."59 Wenn wir dies mit den oben angeführten Belegstellen zusammensehen, dann wird deutlich, daß Lessings ästhetisches Empfinden vom fertig gedruckten Buch hier seine künstlerischen, poetischen Bestrebungen beeinflußte. Diese Beeinflussung wird noch an einer anderen Stelle erkennbar. Wir sahen, daß Lessing ja sein Stück während des Druckvorgangs zu 55 56 57 58 59

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Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 631, S. 304-305, hier S. 305. Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 637, S. 308-310, hier S. 309. Lessing, Briefe, Bd. 5, Nr. 791, S. 247-248. Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 622, S. 296-297. Ähnliche Gedankengänge finden sich auch bei Klopstock, z.B. in seinem Briefe v. 16.1.1751, vgl. Ludwig Sickmann: Klopstock und seine Verleger Hemmerde und Bode. Ein Beitrag zur Druckgeschichte von Klopstocks Werken mit EinschluB der Kopenhagener Ausgabe des "Messias". In: AGB XXV (Börsenblatt (FA) 17 Nr. 25a, S. 425-494, hier S. 440 mit A.126.

Pränatales zur Erstausgabe des "Nathan "

Ende brachte.60 Weil der Umfang des Stücks somit nicht von vorneherein feststand, quälte Lessing während der Bearbeitung die Frage, wie er denn den in seiner Ankündigung vorausgesagten Bogenumfang halten könnte. Deshalb war er auch so erpicht darauf, einen Probedruck zu erhalten, "damit ich ungefähr wissen kann, was so ein Bogen faßt, und ich meinen Pegasus ein wenig anhalten kann, wenn er freyes Feld sieht."61 Er stellt von nun an immer wieder Überlegungen an, wie er mit dem vorgesehenen Platz auskommen konnte. In dem genannten Brief vom 7. Dezember spricht er von "einer ziemlich starken Vorrede", die er in petto hat, falls noch Platz ist. Später (am 15.1.) bedauert er, daß er wohl kaum Platz für eine Vorrede haben würde, obwohl er darin seine neue Interpunction für die Schauspieler erklären wollte. "Auch sollte.. .noch ein Nachspiel dazu kommen, genannt der Derwisch, welches auf eine neue Art den Faden einer Episode des Stücks selbst wieder aufnähme, und zu Ende brächte. Aber auch das muß wegbleiben, und Du siehst wohl, daß ich sonach bey der zweyten Auflage mein Stück noch um die Hälfte stärker machen kann. " 62 Am 16. März zeigt er sich eher entschlossen, auf Vorwort und Nachspiel zu verzichten, weil er immer noch nicht abschätzen konnte, wie umfangreich das Stück würde63, um endlich am 19. März nach Erhalt weiterer Druckbogen festzustellen: "Da ich übrigens nun sehe, daß das Stück zwischen 18 und 19 Bogen wird, so bleibt es dabey, daß ich entweder gar keine, oder doch nur eine ganz kurze Vorrede vorsetze, und daß ich alles Uebrige unter dem Titel: der Derwisch, ein Nachspiel zum Nathan, besonders drucken lasse."64 In der Folge ist weder von Vorrede noch vom Nachspiel die Rede, weder das eine noch das andere findet sich im Druck und im Nachlaß sind nur zwei Bruchstücke der Vorrede erhalten65. Deutlich ist jedenfalls, daß der werdende Druck vom Umfang her Lessing in der Gestaltung der Dichtung selbst beeinflußte. 3. Subskription und Selbstverlag In der Ankündigung des Werkes vom 8. August verschleiert Lessing eher die Gründe dafür, warum er seinen Nathan zur Subskription stellt: "Nicht weil ich mit einem einzigen von den Buchhändlern, mit welchen ich noch bisher zu thun gehabt habe, unzufrieden zu seyn Ursache hätte: sondern aus andern Gründen."66 Wir werden nach diesen Gründen zu 60 61 62 63

vgl. die Anfänge der Verifizierung der einzelnen Teile, unsere Anm. 31. Lessing, Briefe, Bd. 2. Nr. 619, S. 294. Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 631, S. 304-305. Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 636, S. 308: "Da ich gar nicht weiB, wie viel Bogen das Stack betragen wird, so habe ich mir nun vorgenommen, ganz und gar keine Vorrede vorzusetzen; sondern diese, nebst einem Nachspiele: der Derwisch, und verschiedene Erläuterungen, auch einer Abhandlung über die dramatische Interpunction, entweder zu einem zweyten Theile, oder zu einer neuen vermehrten Auflage zurückzubehalten. ". 64 Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 637, S. 309. 65 Lessing, Werke, Bd. 16 (hrsg. von F. Muncker) S. 444-445. 66 Braun Bd. 2 S-153. Zur Subskriptionsanzeige des Nathan vgl. Reinhard Wittmann: Die frOhen Buchhändlerzeitschriften als Spiegel des literarischen Lebens. In: Börsenblatt (FA) Historischer Teil 90 v.Nr. 63 v. 8.8.1972, S. 1781-1936, hier S. 1917-1919. Zur Subskription allgemein

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fragen haben! Deutlich wird hier, daß er an keinen Verleger herantritt, sondern den Druck mit Hilfe der Subskription selbst bewerkstelligen will: "Meine Freunde, die in Deutschland zerstreut sind, werden hiermit ersucht, die Subscription anzunehmen und zu befördern. " (ebd.) Seine Freunde sollen also ein Netz bilden, für ihren Bereich die Subscription einsammeln und an ihn weiterleiten. Damit trifft er bei seinem Bruder Karl und auch bei Moses Mendelssohn auf offene Ohren: "Unser Moses... hat es Dir oft verdacht, daß Du Deine Arbeiten nicht auf diese Art genutzt. " 67 Karl verschickt die gedruckten Exemplare der Ankündigung und läßt sie auch in mehreren Zeitungen und Zeitschriften einrücken68. Lessing selbst überläßt den Versand seinem Bruder und schickt die Ankündigung nach dem, was bekannt ist, nur an Johann Joachim Eschenburg und an seine alte Freundin Elise Reimarus.69 In dem Brief an Eschenburg wird Stolz, gepaart mit Trotz spürbar: "Ich werde keinen von meinen Freunden insbesondere bitten, Subscription anzunehmen. Ich setze voraus, daß niemand etwas für mich thun muß, was ihn im geringsten incommodiret. " Bei ihm zeigt sich ein gewisser resignativer Zug, ein pessimistischer Blick in die Zukunft, der ihn am Erfolg zweifeln, ja gelegentlich verzweifeln läßt. So im Brief vom 20. Oktober 1778 an Karl: "Ich besorge schon, daß auch auf diesem Wege, auf welchem so Viele etwas gemacht haben, ich nichts machen werde; wenn meine Freunde für mich nicht thätiger sind, als ich selbst. Aber wenn sie es auch sind: so ist vielleicht das Pferd verhungert, eher der Hafer reif geworden."70 Hier wird erkennbar, daß er die Subskriptionsform zumindest auch wählt, um an Geld zu kommen, an mehr Geld, als die Verleger als Honorar gemeinhin zu zahlen bereit waren. Die finanziellen Sorgen, die ihn stark bedrücken, treten an vielen Stellen in den Briefen hervor. Da gilt seine Sorge den Stiefkindern, die ihm seine Frau Eva König hinterlassen hat, da sieht er die religiösen Auseinandersetzungen, in die er verwickelt ist, auch unter finanziellen Aspekten mit Sorge: "Noch weiß ich nicht, was für einen Ausgang mein Handel nehmen wird. Aber ich möchte gerne auf einen jeden gefaßt seyn. Du weißt wohl, daß man das nicht besser ist, als wenn man Geld hat, so viel man braucht; und da habe ich diese vergangene Nacht einen närrischen Ein-

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Reinhard Wittmann, Subskribenten- und Pränumerantenverzeichnisse als lesersoziologische Quellen. In:Buch und Leser. Vorträge des ersten Jahrestreffens des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Geschichte des Buchwesens 1976. Hrsg. von Herbert G. Göpfert, Hamburg 1977, S. 125-159. Zum Selbstverlag vgl. Gunter Berg: Die Selbstverlagsidee bei deutschen Autoren im 18. Jahrhundert. In: AGB 6 (1966), Sp. 1371-1396, über Lessing und Bode ebd. Sp. 1378-80. Lessing, Briefe, Bd. 5, Nr. 764, S. 225. Bekannt sind: Litteratur- und Theater-Zeitung. Jg.l. Berlin 1778. Nr. 35 (29.August), S. 556557; Hamburgische Neue Zeitung. Jg. 12. Hamburg 1778. Stück 148 (16.September), S. 4; Buchhändlerzeitung auf das Jahr 1778. Jg.l. Hamburg 1778. Stück 38 (18.September), S. 598-599; Gothaische gelehrte Zeitungen auf das Jahr 1778. Jg. 5. Gotha 1778. Halbjahr 2, Stück 75 (19.September), S. 624; Deutsches Museum (Jg.3) Leipzig 1778. Bd. 2, S. 384; vgl. Seifert: Lessingbibliographie Nr. 1138. Lessing, Briefe, Bd. 2 Nr. 612 v. 4.9., S. 286 und Nr. 613 v. 6.9., S. 286-287. Vgl. Heinrich Sieveking: Elise Reimarus (1735-1805) in den geistigen Kämpfen ihrer Zeit. In: Zs. des Vereins für Hamburgische Geschichte Bd. 39 (1940) S. 86-138. Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 615, S. 290.

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fall gehabt"71, eben seinen Nathan. Schließlich bittet er Karl dringlich, ihm 300 Thaler zu besorgen, das war fast sein halbes Jahresgehalt!72 "Ich brauchte aber wenigstens 300 Thaler, um mit aller Gemächlichkeit einer Arbeit nachzuhängen, in welcher auch die kleinsten Spuren der Zerstreuung so merklich werden."73 Noch am 16. März sorgt er sich um den Erfolg der Subskription: "Am Ende kann ja Voß nicht einmal so viel haben, daß nur die 300 Thaler an Moses Wessely in Leipzig davon bezahlt werden können... Du glaubst gar nicht, wie mich das bekümmert, und es wäre ein Wunder, wenn man es meiner Arbeit nicht anmerkte, unter welcher Unruhe ich sie zusammen schreibe."74 Dennoch wählt er nicht den Weg der Pränumeration, den Voß ihm im Brief vom 7. November via Karl vorschlägt: "Nur mit dem Pränumeriren möchte ich gern nichts zu thun haben. Denn wenn ich nun plötzlich stürbe? So bliebe ich vielleicht tausend Leuten einem jeden einen Gulden schuldig, deren jeder für zehn Thaler auf mich schimpfen würde. " 75 Es ist möglich, daß hier seine alte Abneigung gegen die wachsende Kommerzialisierung des literarischen Lebens sichtbar wird, die ihn gewissermaßen schon im vorherein bezahlt und damit zum Schreiben verpflichtet. Gelegentlich bricht der Trotz durch, so in demselben Brief vom 7. November an Karl, in dem er schreibt: "Ostern 1779 ist mein Stück gedruckt, und wenn auch nicht zwanzig Personen darauf subscribirt hätten - und wenn ich es für mein eigenes Geld müßte drucken lassen."76 Allein, obwohl der Zweifel lange nicht aus seinem Herzen weicht, braucht er sich keine Sorgen zu machen: die Subskription läuft gut. Die Freunde schicken ihm ihre Meldungen zu, wie z.B. Elise Reimarus 72, Herder 24, Gleim u.a. Auch Voß stellte sich in einer Ankündigung in der Litteratur- und Theater-Zeitung, Berlin, am 19. December ausdrücklich als Ansprechpartner für Subskriptionen zur Verfügung.77 Die Subskription durch den Autor, verbunden mit dem Selbstverlag, war im späteren 18. Jh. nichts ungewöhnliches. Sie waren für den freien Schriftsteller ein Zeichen für die Individualisierung seines Buches, das er unmittelbar den Rezipienten anbot, die - jedenfalls nach der Fiktion mit ihm als Autor in eine freundschaftliche Kommunikation traten. "Die Subscription ist dabei nichts anderes als die Sammelpatronage eines namentlich überschaubaren Kreises von Förderern, die ihr "Honorarium", 71 Brief an Karl v. 11.8.1778, vgl. Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 611, S. 285. 72 Er erhielt 600 Taler Jahresgehalt und freie Wohnung und Holz, wie aus einem Brief an seinen Vater vom 27.7.1770 hervorgeht, vgl. Lessing, Briefe, Bd. 1 Nr. 266, S. 328-331, hier S. 329. Zu Lessings Tätigkeit als Bibliothekar vgl. Wolfgang Milde: Studien zu Lessings Bibliothekariat in Wolfenbüttel (1770-1781). In: Lessing Yearbook 1 (1979) S. 99-125 und 2 (1970) S. 162-180; Lothar Sonntag: Lessings Bibliothekariat in Wolfenbüttel. Versuch einer kritischen Aufarbeitung zur Lessing-Ehning 1981. In: ZfB 95 (1981) S. 357-72 und 395-400. 73 Lessing, Briefe, Bd. 2 Nr. 617, S. 292-293; er erhält das Geld schließlich auf Vermittlung Karls von Moses Wessely, vgl. den Brief Karls v. 9.12.1778, Briefe Bd. 5 Nr. 775, S. 235236. 74 Lessing, Briefe, Bd. 2 Nr. 636, S. 307f. 75 Lessing, Briefe, Bd. 2 Nr. 617, S. 293 76 ebd. S. 293. 77 Seifert Nr. 1140, abgedr. Braun, S. 172.

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ihren Ehrensold, dem Dichter ohne gewerblichen Vermittler ungeschmälert zukommen lassen."78 Dies trifft auch für die Subskription des "Nathan" zu, wie Lessings oben angeführtes Bauen auf die Mitwirkung seiner Freunde verrät79. Es ist aber nicht der allein herrschende Zug, wie durch die Einschaltung des regulären Buchhandels angedeutet wird. Wir werden auf diese Frage noch zurückkommen. Warum hat Lessing seine Ausgabe in Berlin drucken lassen, wenn er es im Subskriptionsverfahren tat, warum nicht im nahen Braunschweig, wo er den Druck besser hätte überwachen können? Mehrere Gründe spielen eine Rolle: So war ihm daran gelegen, daß sein Bruder und seine Freunde Ramler und Mendelssohn das Manuskript vor der Drucklegung durchsahen. Nun hätte man dies ja auch bei einem Druck in Braunschweig vorher bewerkstelligen können. Der Druck in Berlin, respektive aus finanziellen Gründen bei Berlin,80 befreite ihn aber von den technischen Besorgungen, um die sich Karl bzw. Voß kümmerten. Entscheidender ist aber, daß er Voß den "Besitz" des Dramas "nach Abschluß der Subskription" zusagte81. Die Belieferung an die Buchhändler sollte über Voß laufen: Voß jr. hat den "Nathan" dann auf der Leipziger Buchmesse vertrieben.82 Hinzu kam die Sorge vor der Braunschweiger Zensur. Er wählt den Druck in Berlin "ungeachtet mir das Ministerium allhier verboten, auch nicht einmal auswärts etwas drucken zu lassen, was ich nicht zuvor zur Censur ihm eingesandt. Das wäre mir eben recht! Ich thue das nicht, mag auch daraus entstehen, was da will."83 Bei einem Druck im Braunschweiger Land wäre eine Umgehung der dortigen Zensur problematischer geworden. Andererseits sah Lessing auch die Berliner Zensur durchaus als Gefahr an: "Ich will doch nicht hoffen, daß mir den Censor in Berlin wird Händel machen? Denn er dürfte leicht in der Folge mehr sehr auffallende Zeilen finden, wenn er aus der Acht läßt, aus welchem Munde sie kommen, und die Personen für den Verfasser nimmt."84 Auch Voß äußerte vor Beginn der Drucklegung seine Bedenken, wie aus

78 Wittmann, Subskribenten- und Pränumerantenverzeichnisse, S. 134. 79 Die Sorge Lessings, daß seine Subskribenten ihre Exemplare durch ihn früher erhalten als die Buchhändler in Leipzig und seine entsprechende Bitte an Karl um eine bevorzugte Auslieferung mögen an diese persönliche Verbindung zwischen Autor und Leser erinnern; vgl. Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 641 v. April 1779, S. 313. 80 Brief Lessings vom 30.12.1778 an seinen Bruder Karl, Lessing, Briefe, Bd. 2 Nr. 628 : "Allerdings wäre es hiemächst wohl besser, wenn die Dnickerkosten sich in Berlin um ein Merkliches höher belaufen sollten, daB ich auswärts drucken ließe" (S. 301); ebf. Karl im Brief v. 24.1.1779, Lessing, Briefe Bd. 5 Nr. 788: "Es wird auswärts gedruckt..." (S. 246). 81 Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 617, S. 293. Voß hatte ihm offenbar ein neues Avertissement vorgeschlagen, um mit dessen Hilfe den Gewinn zu erhöhen. 82 Lessing, Briefe, Bd. 5, Nr. 799 v. 20.4.1779, S. 252. 83 Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 615 v. 20.10.1778 an Bruder Karl, S. 289. 84 Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 623, v. 19.12.1778 an Karl, S. 297-298.

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einem Brief Lessings hervorgeht85. Offenbar waren solche Befürchtungen im Falle des "Nathan" aber grundlos.86 Wie sah nun die finanzielle Seite des Unternehmens aus? Eine Abrechnung Karls wird in einem Brief als beiliegend erwähnt, ist aber offenbar nicht erhalten?87 Da wir über die zeitgenössischen Preise im Buchhandel ganz gut unterrichtet sind, können wir hier einige Rechnungen anstellen. Wie groß die Auflage war, wissen wir nicht genau, da offenbar kein Verzeichnis der Subskribenten abgedruckt wurde 88 . 1000 Subskribenten kann Lessing stolz an seinen Bruder melden.89 Am Ende braucht er neben diesen tausend Exemplaren noch weitere 200.90 Die Zahl der Subskribenten, die Karl und Voß angenommen haben, wird - trotz mehrmaliger Fragen Lessings - jedenfalls aus den erhaltenen Briefen nicht klar. Auch heißt es von Karl am 20. April, also unmittelbar vor der Fertigstellung und Auslieferung des Drucks: "Viele, und ich glaube gar die meisten, Subscribenten sind bey den Buchhändlern angekommen."91 Die Subskriptionsausgabe war so gefragt, daß gleich eine zweite Auflage gemacht werden sollte. Karl forderte seinen Bruder daher auf, gleich ein korrigiertes Exemplar der Erstausgabe nach Leipzig zu senden. 92 Wir können aufgrund der bekannten Zahlen von einer Subskriptionsauflage von mindestens ca. 2000 Exemplaren ausgehen.93 Legen wir diese Mindestzahl den Berechnungen der ungefähren Herstellungskosten in der damaligen Zeit zugrunde. Um 1780 kosteten Satz und Druck eines Bogens in tausendfacher Auflage ca. 2 + 1 1/2= 3 1/2 Reichstaler.94 Bei einer Auflage von ca. 2000 Stück und je 18 Bogen kommen wir auf 36000 Bogen und 126 Talern Satz- und Druckkosten. Ähnlich kommen wir zu den Papierkosten. Für die 36.000 Bogen brauchte die Druckerei mindestens 72 Ries Papier (1 Ries = 500 Boss Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 617, v. 7.11. 1778 an Karl, S. 293. 86 Zur Zensur in Berlin zur Zeit Friedrichs des Großen vgl. Ulrike Schömig: Politik und Öffentlichkeit in Preußen. Die Entwicklung der Zensur- und Pressepolitik zwischen 1740 und 1819. Diss. Wüizburg 1988, bes. S. 102-127; "Unmoralisch an sich". Zensur im 18. und 19. Jahrhundert. Hrsg. von Herbert G. Göpfert und Erdman Weyrauch. Wiesbaden 1988 (Wolfenbtltteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens Bd. 13). 87 Lessing, Briefe, Bd. 5, Nr. 811 vom 17.7.1779, S. 263: "Hier hast Du ein Verzeichniß, was ich auf die Subscription des Nathan eingenommen. Moses Wessely ist bezahlt. " 88 Jedenfalls ist mir in den benutzten Exemplaren keine Subskriptionsliste begegnet; R. Wittmann weist aber zu Recht daraufhin, daß man hier bei Folgerungen vorsichtig sein muß; Wittmann, Subskribenten- und Pränumerantenverzeichnisse, S. 153 A.17. 89 Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 631, v. 15.1.1779, S. 305. 90 Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 641 v. April 1779, S. 313. 91 Lessing, Briefe, Bd. 5, Nr. 799 , S. 253. 92 Lessing, Briefe, Bd. 5 Nr. 799 v. 20.4.1779, S. 252f:"Eben sagt mir Voß, daß die Buchhändler schon sehr anfingen zu bestellen, und Du daher wohl thun würdest, wenn Du ihm Deine Aushängebogen corrigirt nach Leipzig schicktest, damit der Nathan sogleich noch einmal gedruckt, und für Dich verkauft werden könnte." 93 Diese Zahl findet sich in der Literatur, ohne daß die Quellengrundlage bzw. der hypothetische Charakter geklärt ist. 94 Goldfriedrich Bd. 3, S. 96 und S. 57.

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gen, 1 Ballen= 10 Ries), also mit Makulatur ca. 7,5 Ballen. Ein Ballen Papier von durchschnittlicher Qualität kostete damals ca. 12 RTh95, bedeutet also einen Betrag von ca. 90 Rth. Die Gesamtkosten belaufen sich also auf mindestens 90+126 = 216 Rth. Wie steht es mit den Einnahmen? Diese Summe ist naturgemäß noch schwieriger zu bestimmen und hat einen noch vorläufigeren Charakter. Lessing hatte den Preis auf 1 Gr pro Bogen festgesetzt96, einen damals sehr niedrigen Preis97, also 18 Gr Gesamtpreis98. Den Verteilern der Subskriptionen gab er regelmäßig 15% Rabatt (den Freunden berechnete er gar nichts)99, Buchhändlern mußte er erheblich mehr, nämlich 1/3 Rabatt gewähren100. Wenn wir hier einmal zugrundelegen, daß von den 2000 Exemplaren die bekannten 1200 von ihm selbst mit 15% ausgeliefert wurden, die restlichen 800 mit 33% über den Buchhandel, so kommen wir auf Einnahmen von ungefähr 1165 Rth, nach Abzug der oben errechneten 216 Rth Herstellungskosten also auf einen Gewinn von ca. 950 Rth, das sind ca.l 1/2 Jahresgehälter Lessings. Auch wenn wir uns bewußt sind, daß diese Zahl nur eine sehr ungefähre und hypothetische Größe darstellt,101 gibt sie doch eine Vorstellung. Davon konnten dann die 300 Rth Schulden leicht an Moses Wessely zurückgezahlt werden, wie es dann Karl in seinem Brief vom 17. Juli meldet. Eine solche Summe, so ungefähr sie auch sein mag, wird dann sprechend, wenn wir erfahren, daß damals von den Verlegern Autorenhonorare in der Größenordnung von wenigen Talern pro Bogen gezahlt wurden. Rechnen wir nur die relativ hohe Summe von 12 Talern pro Bogen102, kämen wir beim "Nathan" nur auf 216 Rth.103 Im Verhältnis zu Klopstocks Einnahmen bei der Subskription zu seiner "Deutschen Gelehrtenrepublik" mit ca. 3.480 Subskribenten mit 3.655 Exemplaren und gut 2000 RTh Einnahmen104, nimmt sich diese Summe allerdings noch recht bescheiden aus.

95 Goldfriedrich Bd. 3, S. 57. 96 Vgl. Ankündigung, Braun, Bd. 2. S. 153. 97 Wittmann, Die frühen Buchhändlerzeitschriften, S. 1918 98 Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 641, S. 313. 99 Lessing, Briefe, Bd. 2 Nr. 648 S. 318 u.ö. 100 Vgl. die "Aufforderung zur Subskription" durch Voß vom Dezember 1778 (Lessing-Bibliographie Nr. 1139), abgedruckt bei Franz Muncker: Neue Lessing-Funde. München 1915 (Sitzungsberichte der Kgl. Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philos.-philol. u. hist. Kl. Jg. 1915, Abh. 12), S. 38-40:"Das Stück wird zur Leipziger Ostermesse ohnfehlbar fertig und in Leipzig von mir ausgeliefert werden. Von dem Preise wofür es der Verfaßer dem Publico anbietet, laße ich Ihnen bey der baaren Bezahlung 1/3 abziehen..." 101 So sind weitere Ausgaben, wie die z.T. recht hohen Frachtkosten, nicht berücksichtigt. 102 Laut Walter Krieg: Materialien zu einer Entwicklungsgeschichte der Bücher-Preise und des Autoren-Honorars. Wien etc. 1953, S. 89: "In den 1770er Jahren galt das Reichsche Durchschnitts-Bogenhonorar von 12 1/2 RT und einige Dutzend Freistücke als das beste der Zeit. " 103 Ernst Kundt: Lessing und der Buchhandel, führt aus, daß zahlenmäßige Belege für das Einkommen Lessings aus seiner literarischen Tätigkeit ziemlich dürftig sind, vgl. ebd. S. 28. 104 Helmut Pape: Klopstocks Autorenhonorare und Selbstverlagsgewinne. In: AGB 10 (1970), Sp.1-268, hier Sp.121-131. Pape interpretiert die Angaben bei Goldfriedrich, auf deren Basis die Kosten berechnet werden, anders.

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Die Frage des Schriftstellerhonorars hat uns zu einem der wichtigsten und besonders leidenschaftlich diskutierten Streitpunkte im Buchhandel des 18. Jahrhunderts gefiihrt.Der arme, von den Verlegern ausgesaugte Autor, der kümmerlich sein Leben fristet, war ebenso ein Stereotyp in der Diskussion der Zeit wie der reiche, üppig auf Kosten seiner Autoren lebende Verleger. Naturgemäß mischten sich hier Realität und Angstvorstellungen der Autoren: Nicht jedes Buch war gut absetzbar und ein Erfolg für den Verleger, nicht jeder Verleger übte halsabschneiderische Entlohnungen. Verleger wie Erasmus Philipp Reich boten ihren Autoren durchaus akzeptable Honorare105 und auch Lessing gab an, wie er ja selbst in seiner Subskriptionsankündigung schrieb, mit seinen Verlegern keine schlechten Erfahrungen gemacht zu haben. Das Ideal des freien Schriftstellers, der in seiner Tätigkeit frei ist, aber auch wirtschaftlich abgesichert, beherrscht die aufklärerische Emanzipationsbewegung. Zwischen Unabhängigkeitsideal und Zwang zum Gelderwerb konnten Spannungen auftreten, wobei sich die Frage der Existenzsicherung in aller Krassheit stellte.106 Als Abhilfe war die Idee von Selbstverlag und Subskription der Autoren als Waffe gegen ungerechtfertigte Verlegergewinne im Schwange. Klopstock hatte 1773/74 mit seiner Gelehrtenrepublik als Subskription im Selbstverlag einen beachtlichen, allerdings so kaum wiederholbaren Erfolg errungen. Lessing selbst beschäftigte sich seit längerem mit diesem Problem. In seiner Hamburger Zeit hatte er in seiner Druckerei gemeinsam mit Bode Schriftstellern eine erträglichere Plattform bieten wollen. Das Unternehmen blieb aber, wenn man so will, auch wegen der mangelnden Erfahrung in den Kinderschuhen stecken107. In dem gegenüber dem "Nathan" vielleicht etwas früheren (nach 1772) , vielleicht etwa gleichzeitigen Fragment "Leben und leben lassen" äußert er sich theoretisch zu Fragen des Buchhandels. Leidenschaftlich verteidigt er das Recht des freien Schriftstellers auch wirtschaftlich am Erfolg seines Werkes zu partizipieren: "Wie? es sollte dem Schriftsteller zu verdenken sein, wenn er sich die Geburten seines Kopfes so einträglich zu machen sucht, als nur immer möglich?" Während die Bemerkungen zum Autorenrecht am Buch und zum Nachdruck früh abbrechen, ist das Dritte Bruchstück "Projekt" relativ weit ausgeführt. Er skizziert darin Selbstverlag und Subskription. Es finden sich darin bemerkenswerte Übereinstimmungen zu seinem Vorgehen beim "Nathan", aber auch charakteristische Unterschiede. Man kann es so fassen: das Projekt erhebt Anspruch auf allgemeine Handhabbarkeit durch Veränderung der Buchhandelsstruktur, das Vorgehen beim Nathan war ein Handeln im individuellen Fall (und nur begrenzt wiederholbar). Kennzeichnend und gegen105 Hazel Rosenstrauch: Buchhandelsmanufaktur und Aufklärung. Die Reformen des Buchhändlers und Verlegers Ph. E. Reich. In: AGB 26 (1986), S. 1-129. 106 Hubert Effenberger: Studien zum EinfluB Gesellschaft und Wirtschaft auf das literarische Leben des 18. Jahrhunderts. Diss. Wien 1950, bes. S. 114-136; Wolfgang v. Ungem-Sternberg: Chr.M.Wieland und das Verlagswesen seiner Zeit. In: AGB 14 (1974), Sp. 1244-1264. 107 Wisso Weiß: Lessing als Druckereibesitzer. In: Papier und Druck 32 (1983) S. 40-42.

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über anderen Vorgehensweisen unterscheidend ist die Einbeziehung des regulären Buchhandels in das Projekt. Ihm und nur in Ausnahmefällen den Freunden des Schriftstellers als Kollekteuren soll der Vertrieb zufallen.108 Der Autor soll für seine geistige Leistung ein Drittel und für die Herstellung ein weiteres Drittel des Kaufpreises einstecken. Das letzte Drittel soll an den Buchhändler fallen, der dafür den Vertrieb regelt. Bei Lessing tritt uns der Anspruch des Autors auf die freie Verfügungsgewalt über sein Werk im geistigen wie im kaufmännischen Bereich gegenüber, "ein Anspruch, der im Prinzip durchaus noch umstritten war." 109 Es sieht so aus, als ob die Erfahrungen des Nathan-Drucks in diesen theoretischen Gedanken ihren Niederschlag gefunden hätten. Dies würde auf eine Datierung des Fragments auf um 1779 hinauslaufen. Die Einbeziehung des Buchhandels samt seiner Zentrale Leipzig in sein theoretisches Konzept zeugt von einem gewachsenen Realismus Lessings, nicht jedoch die Vorstellung, dieses Verfahren zum Prinzip zu erheben: "Wäre es nicht vielmehr zu wünschen, daß sich der ganze Buchhandel auf diese Art realisieren ließe?" (§12). Die Subskription des Nathan blieb bei Lessing ohne Nachfolge, wiewohl er das nicht ausgeschlossen hatte. So überlegte er für sein Nachspiel zum Nathan aus Platzgründen einen Separatdruck "und zwar auf dem nehmlichen Wege der Subscription, wenn ich anders sehe, daß es sich der Mühe damit verlohnt. Denn für ganz mittelmäßige Vortheile mache ich mich nie wieder auf fünf Monathe zum Sklaven einer dramatischen Arbeit."110 Sein nur eineinhalb Jahre später erfolgter Tod hat das vermutlich verhindert. In der Hamburgischen Dramaturgie hatte er für sich den Selbstverlag ausgeschlossen.111 Im Falle seines "Nathan" verfuhr er doppelgleisig: Subskription durch Freunde und durch den Buchhandel liefen parallel. Das weist daraufhin: "Er hatte die Anonymität des literarischen Marktes erkannt und unternahm keinen Versuch, sie zu umgehen oder zu überwinden."112 Er war aber allem Anschein nach zu der Vorstellung gelangt, daß trotz der Anonymität des literarischen Marktes und ihrer Unaufhebbarkeit mit Subskription und Selbstverlag ein gangbarer Weg für die Belange des Autors im Ausgleich mit dem Buchhandel gefunden werden könnte. Solchen Unternehmungen gehörte freilich nicht die Zukunft, sie blieben Episode und wurden durch die Entwicklung am Ende des Jahrhunderts historisch überholt.

108 Das paßt zu dem Verbot der Kollektor durch Nichtbuchhändler, wie es z.B. im Hzt. Braunschweig durch Herzog Karl 17SS, 1775 erneuert, erlassen worden war, vgl. Hans Widmann: Der deutsche Buchhandel in Urkunden und Quellen, Bd. 2, Hamburg 1965, S. 131-132. 109 Berg, Selbstverlagsidee, Sp.1380. 110 Lessing, Briefe, Bd. 2, Nr. 637 v. 19.3.1779, S. 309. Er ist damals immer noch etwas skeptisch hinsichtlich des Erfolgs: "Und wer weiß, wie sie noch aufgenommen wird. " 111 Lessing, Werke, hrsg. v. F. Muncker, Bd. 10, S. 221. 112 Wittmann, Die frühen Buchhändlerzeitschriften, S. 1919.

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Die Spee-Forschung seit 1950

Am 25. Februar 1591 wurde in Kaiserswerth am Niederrhein Friedrich Spee von Langenfeld geboren, der in den Jesuiten-Orden eintrat und sich einen Namen als Dichter, Theologe und Verteidiger der "Hexen" machte. Seine Dichtungen waren Kirchenlieder und die Sammlung "Trutz-Nachtigall", seine wichtigste theologische Arbeit das "Güldene Tugend-Buch", sein aufsehenerregendstes Werk aber die "Cautio Criminalis", das Buch zur Verteidigung der "Hexen". Spee starb am 7. August 1635 in Trier an der Pest, mit der er sich bei der Versorgung verwundeter Soldaten angesteckt hatte. 1991 jährte sich der Geburtstag Friedrich Spees zum 400. Male. In der Stadt Düsseldorf, in die Kaiserswerth seit 1929 eingemeindet ist, suchte man ihn auf vielerlei Weise in das Gedächtnis der Menschen zu rücken. Eine der spektakulärsten Veranstaltungen war eine Doppel-Ausstellung der 1985 gegründeten Spee-Gesellschaft in der Stadt-Sparkasse an der Berliner Allee: die in manchen Teilen neugestaltete und erweiterte, streng wissenschaftliche Spee-Schau der Stadtbibliothek Trier zum 350. Todestag 1985 und die beinah die Schalterhalle füllende, volkstümliche und anschauliche Darstellung von Spees Leben, Werk und Wirkung, konzipiert vom Verfasser dieses Beitrags und realisiert unter Mitarbeit von Andrea Bänker-Wegener (Neuss), Gisela Römer, Eckhardt Dziersk und Dr. Bernd Kortländer (alle Düsseldorf). Zu den 185 Exponaten dieses "Düsseldorfer" Teils der Spee-Ausstellung steuerte die Universitätsbibliothek Düsseldorf nicht weniger als 31 Inkunabeln, Frühdrucke und Werke des 17. Jahrhunderts bei. Als kleinen Dank für die überaus zuvorkommende und freundliche, ja liebenswürdige Unterstützung, die der Verfasser dabei durch den Leitenden Bibliotheksdirektor Professor Dr. Günter Gattermann und seine Mitarbeiter erfuhr, widmet er dem Jubilar diese kurze Zusammenfassung der Spee-Forschung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zunächst muß die Spee-Forschung früherer Jahrhunderte1 wenigstens umrissen werden. Ihren Ausgang nimmt sie beim Nekrolog2, den dem 1

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Einen Überblick vermitteln F. R. Reichert: "Friedrich Spee-Bibliographie" (im folgenden zitiert als "Reichert: Spee-Bibliographie"); in: A. Arens: "Friedrich Spee im Licht der Wissenschaften", Mainz 1984, S. 243 ff. und "Friedrich Spee-Gedichtnis", Dokumentation anläßlich des 350. Todesjahres (im folgenden zitiert als "Probst: Spee-Gedächtnis") von V. Probst, Trier 1988. - Die ungezählten Aufsitze, die die Spee-Forschung seit Jahizehnten in theologischen, historischen, juristischen und philologischen Fachzeitschriften bereichern, können hier nicht aufgezählt werden. Metropolis ecclesiae Treviricae ... Broweri et Masenii S.J. opus, emendavit, auxit, edidit Christianus deStramberg, Tomus Π, Confluentibus ... 1856; Lib. V, cap. Vffl, p. 287-289.

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verstorbenen Friedrich Spee ein Ordensbruder, der aus Jülich stammende niederrheinische Landsmann Jakob Masen (1606-1681), widmete; er hatte als Novize zwei Jahre mit dem Bibel-Professor Spee im selben Kolleg in Trier gelebt. Der als Dichtungstheoretiker hervorgetretene Masen strich im Nachruf die Nächstenliebe Spees in der Kriegs- und Pestzeit heraus und zählte am Ende des Nekrologs jene Hauptwerke des Verstorbenen auf: "Cautio Criminalis", "Güldenes Tugend-Buch" und "Trutz-Nachtigall". Vom protestantischen, um die Einheit der Kirchen sehr bemühten Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) erfuhr das Spee-Gedenken weitere Aufmerksamkeit, da der Philosoph der deutschen Aufklärung in Briefen und Aufsätzen3 immer wieder das "Güldene Tugend-Buch" und die "Cautio Criminalis" pries. Auch der protestantische Rechtsphilosoph Christian Thomasius (1655-1716) rühmte die "Cautio Criminalis" in verschiedenen Arbeiten4, bevor der Jesuit Hermann Joseph Hartzheim (1694-1763) in seinem berühmten Kölner Gelehrtenlexikon5 den Ordensbruder, aus den Annalen des Trierer Kollegs als Quelle, würdigte. Etwa sieben Jahre später lobte ein anderer Kölner Jesuit, Friedrich von Reiffenberg (1719-1764), Spee in seiner Geschichte der Niederrheinischen Ordensprovinz6. Im Vordergrund standen bei all diesen Würdigungen das asketisch-priesterliche Wirken und das mutige Verhalten Spees in den Prozessen gegen "Hexen". Das vorige Jahrhundert bemühte sich - nach mehreren von JesuitenZensoren bearbeiteten Ausgaben der "Trutz-Nachtigall" (Köln 1649, 1654, 1660, 1664, 1672, 1683, 1709) - erstmals wieder um die Dichtung Friedrich Spees, wie Vorworte zu Auswahl- und Gesamtausgaben der "Trutz-Nachtigall"7 im Deutsch der Romantik zeigen. Von kriti3 4 5 6

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Reichert: Spee-Bibliographie, S. 252 f. und Probst: Spee-Gedächtnis, S. 12 ff. Reichert: Spee-Bibliographie, S. 264 f. Bibliotheca Coloniensis ... Cura & studio Josephi Hartzheim ... Coloniae Augustae Agrippinensium, Sumptibus ThomaeOdendall... Anno MDCCXLVQ p. 87 s. Historia Soc. Jesu ad Rhenum inferiorem, Tomus I, Coloniae 1764, Tomus Π inéditas: Elog. P. Spe. Als Quelle nennt Reiffenberg Aufzeichnungen des Paters Johannes Lambertz, "qui id ex traditione antiquorum se olim hausisse testatur". Über P. Lambertz vergleiche J. Hartzheim "Bibliotheca Coloniensis" (wie Anmerkung 5), p. 185. Zum Beispiel "Friedrich Spees Auserlesene Gedichte". Herausgegeben von I. H. von Wessenberg. Zürich 1802. Auch abgedruckt in: Sämmtliche Dichtungen von I. H. v. Wessenberg. Zweiter Band. Stuttgart und Tübingen 1834. Oder: "Trutznachtigall". Eine Auswahl geistlicher Volkslieder nach Friedrich Spee und einigen anderen. In "Poetisches Taschenbuch fUr das Jahr 1806" von Friedrich Schlegel. Berlin 1806, S. 125-256. Oder: "Des Knaben Wunderhorn". Alte deutsche Lieder, gesammelt von L. A. v. Arnim und C. Brentano. Erster Band. Heidelberg 1806. Oder: "Truz-Nachtigall" von Friedrich Spée. Herausgegeben von P. L. Willmes. Köln 1812. Oder: Spee, Friedrich: "Trutz Nachtigal, ein geistlich-poetisch Lustwäldlein. Wörtlich treue Ausgabe, vermehrt mit den Liedern aus dem güldenen Tugendbuch desselben Dichters" . Herausgegeben von C. von Brentano. Berlin 1817. Auch verbessert abgedruckt, aber in einem Brentano gegenüber wiederum aktualisierten Neuhochdeutsch, in: "Trutznachtigall. Von P. Friedrich Spee S.J.". Nebst den Liedern aus dem Güldenen Tugendbuch desselben Dichters. Nach der Ausgabe von Klemens Brentano kritisch neu herausgegeben von A. Weinrich. Freiburg im Breisgau 1908. Oder: "Trutz-Nachtigall von Friedrich Spee ..." . Mit Einleitung und Erklärungen von B. Hüppe und W. Junkmann. Coesfeld und Münster 1841. Oder: "TrutzNachtigal von Friedrich Spe". Herausgegeben von G. Balke. Mit leichten Abweichungen in

Die Spee-Forschung seit 1950

scher Textarbeit im heutigen Sinn kann aber bei all diesen Ausgaben nicht geredet werden; vielmehr muß die Forschung als ersten kritischen Versuch den von Gustave Otto Arlt8 von 1936 ansehen; sein entscheidender Mangel freilich war, daß er sich ganz auf den zensierten Erstdruck (Köln 1649) stützte und leider nicht auf die von Spee selbst zum Druck vorbereitete Abschrift in der Trierer Stadtbibliothek. Die eigentliche historisch-kritische Ausgabe der "Trutz-Nachtigall" blieb daher der Arbeit9 von Theo G. M. van Oorschot vorbehalten, der sie im A. Francke Verlag Bern 1985 editierte, nachdem er bereits 1968 im Kösel Verlag München das "Güldene Tugend-Buch"10 herausgebracht hatte. 1992 folgte im A. Francke Verlag Tübingen und Basel die historisch-kritische Ausgabe der "Cautio Criminalis"11, ebenfalls herden Fußnoten auch abgedruckt in: "Das deutsche Kirchenlied des 16. und 17. Jahrhunderts". Herausgegeben von E. Wolff in: "Deutsche National-Litteratur". Historisch kritische Ausgabe ... herausgegeben von J. Kürschner. 31. Band. Stuttgart (1894); diese Wolffsche Ausgabe wurde reprographisch nachgedruckt Tokyo 1973. Oder: "Friedrich Spee. Lied und Leid". Auswahl aus "Trutznachtigall", "Güldenem Tugendbuch", "Kirchenliedern" und "Cautio Criminalis". Ausgewählt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von W. Bondzio, Berlin 1961. 8 Trutznachtigall von Friedrich Spee. Mit Einleitung und kritischem Apparat herausgegeben von G. O. Arlt. Halle 1936; unverändert nachgedruckt Halle 1967. 9 Friedrich Spee: "Trutz-Nachtigall", herausgegeben von Theo G. M. van Oorschot. In: Friedrich Spee: "Sämtliche Schriften". Historisch-kritische Ausgabe. Erster Band. Bem 1985 (im folgenden Spee, TN). Auch abgedruckt, ohne kritischen Apparat, bei Reclam, Stuttgart 1985. 10 Friedrich Spee: "Güldenes Tugend-Buch", herausgegeben von Theo G. M. van Oorschot. In: Friedrich Spee: "Sämtliche Schriften". Historisch-kritische Ausgabe in drei Bänden, herausgegeben von Emmy Rosenfeld. Zweiter Band. München 1968 (im folgenden: Spee, GTB). - Dieser Ausgabe parallel erschien van Oorschots Dissertation "Friedrich Spees Güldenes TugendBuch" . Nijmegen 1968. Band I ist identisch mit dem Band der historisch-kritischen Ausgabe von S. 9 bis S. 668; Band Π bringt die "Text- und Entstehungsgeschichte", die Abhandlung "Die Theologie des Güldenen Tugend-Buchs" und die Kapitel "Die Quellen", "Methodik und Aufbau des .Güldenen Tugend-Buchs", "Einfluß des .Güldenen Tugend-Buchs' auf Denken und Dichten der späteren Zeit", "Zum Stil des .Güldenen Tugend-Buchs' ", "Einige biographische Notizen", "Bibliographie" und "Register"; van Oorschot merkt zum Nachwort der historisch-kritischen Ausgabe des "Güldenen Tugend-Buchs" an: «Um dieses Nachwort nicht mit einem allzu ausführlichen wissenschaftlichen Apparat zu belasten, wurde fast durchgehend auf genaue Hinweise auf die benutzten Quellen verzichtet. Diese findet der Leser in meiner Dissertation "Friedrich Spees .Güldenes Tugend-Buch'. Mit textkritischem Apparat, Anmerkungen und einer literarhistorischen Abhandlung", Nijmegen 1968.» 11 Friedrich Spee: "Cautio Criminalis", herausgegeben von Theo G. M. van Oorschot mit einem Beitrag von Gunther Franz. In: Friedrich Spee: "Sämtliche Schriften". Historisch-kritische Ausgabe. Dritter Band. Tübingen und Basel 1992 (im folgenden: Spee, CC). Der Wechsel vom Kösel Verlag München über den Francke Verlag Bern zum Francke Verlag Tübingen und Basel ergibt schon ftlr sich die "abwechslungsreiche" Entstehungsgeschichte der historisch-kritischen Ausgabe eines katholischen Barockautors. - Der lateinischen Fassung der CC (nach der zweiten Auflage 1632) sind zwei alte Obersetzungen in reprographischem Nachdruck angehängt: (Hermann Schmidt:) "Cautio Criminalis. Seu de processibus contra sagas liber. / Das ist / Peinliche Warschawung" ... Franckfurt am Mayn / Bey Anthoni Hummen. Anno MDCXLIX und Johann Seiffert: "Gewissens-Buch: Von Processen Gegen die Hexen" ... Bremen / In Verlegung Jost Köhlers / Buchhändelers. Gedruckt bey Jacob Köhler. 1647. - Eine Übersetzung ins moderne Deutsch lieferte J.-F. Ritter: "Cautio Criminalis oder Rechtliches Bedenken wegen der Hexenprozesse" in "Forschungen zur Geschichte des deutschen Strafrechts. Band 1". Weimar 1939. Bisher scheint sich noch niemand Gedanken darüber gemacht zu haben, wie diese die deutsche Obrigkeit wegen menschenschSnderischer Vergehen anklagende Schrift des Jesuiten auf dem Höhepunkt des Dritten Reichs eine rechtshistorische Reihe eröffnen konnte. Ritters Übersetzung wurde München 1982 bei dtv unverändert nachgedruckt, Einleitung und Anhang faßte Ritter neu.

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KARL-JÜRGEN MIESEN

ausgegeben von Theo G. M. van Oorschot mit einem Beitrag von Gunther Franz. Bis auf die Bände mit Briefen12 und Kirchenliedern13 Friedrich Spees liegt der Forschung in der kritischen Ausgabe der Hauptwerke jetzt endlich eine ideale Arbeitsgrundlage vor. Licht in das von "Hexen"-Legenden verschattete Leben Spees brachten im vorigen Jahrhundert als erste die Jesuiten J. B. Diel und B. Duhr14. Es Schloß sich - nach verschiedenen Kurzviten Spees in der Art von Heiligenlegenden, die die Spee-Forschung bis heute begleiten, für diese selbst aber selten von Belang sind - in den zwanziger/dreißiger Jahren in verstreuten biographischen Arbeiten15 der Kölner Studienprofessor Joseph Kuckhoff an, der 1936 sogar eine großangelegte Biographie im Manuskript16 fertigstellte, deren Veröffentlichung aber wohl den damals in Deutschland kirchenfeindlichen Umständen zum Opfer fiel. Dennoch lassen die von Kuckhoff bereits vorgelegten Arbeiten eine vielleicht auf den neuesten Forschungsstand gebrachte, erweiterte Ausgabe seiner Spee-Biographie reizvoll und wünschenswert erscheinen. Mit Kuckhoff wird man den Anbrach einer Spee-Forschung ansetzen müssen, die auch heutigen Kriterien standhält. Während des Dritten Reichs (1933-1945) freilich herrschte ein Vakuum in der Spee-Forschung, wenn man davon absieht, daß die Natio-

12 Verstreut erschienen einige Briefe Spees bereits in Zeitschriften ("Stimmen aus Maria Laach", "Historisches Jahrbuch im Auftrag der Görresgesellschaft", "SPEE-POST") sowie in Biographien. 13 Bereits erschienen ist M. Härting: "Friedrich Spee. Die anonymen geistlichen Lieder vor 1623". Berlin 1979. Theo G. M. van Oorschot hat an dieser Edition mitgewirkt; er scheint aber heute nicht mehr mit all ihren Ergebnissen zufrieden zu sein. Eine kritische Sichtung von Kirchenliedern Spees versuchten vor Häiting bereits W. Bäumker in "Das katholische deutsche Kirchenlied in seinen Singweisen von den frühesten Zeiten bis gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts". Zweiter Band. Freiburg im Breisgau 1883, und J. Götzen in "Neues Ober Friedrich von Spee und das deutsche Kirchenlied" in "Musica sacra" 61, 1928, S. 356-360. Götzen hatte bereits 1911 die Kutzbiographie "Friedrich Spee" in der Festschrift "Das Marcellengymnasium in Köln 14S0-1911. Bilder aus seiner Geschichte." Köln 1911 geliefert. 14 J. B. Diel (anonym): "Friedrich von Spee und sein Wirken. Eine Lebensskizze". In: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland. 1871, S. 329-345; 413-430; 516-531. - Derselbe: "Friedrich von Spee". Eine biographische und literarhistorische Skizze. (Sammlung historischer Bildnisse, 9). Freiburg 1872. - Derselbe: "Friedrich Spe". Zweite umgearbeitete Auflage von B. Duhr. Freiburg im Breisgau 1911. - B. Duhr: "Zur Biographie des P. Friedrich Spe." In: Historisches Jahrbuch 26, 1905. S. 327-333. - Derselbe: "Friedrich Spe". In: Derselbe: "Geschichte der Jesuiten deutscher Zunge". Band 2, Teil 2. Freiburg 1913. S. 745-766. - Während sich Diel vorrangig für den Dichter Spee interessierte, stand bei Duhr stets der Priester und Anwalt der "Hexen" im Vordergrund. Siehe auch B. Duhr: "Die Stellung der Jesuiten in den deutschen Hexenprozessen". In: Vereinsschriften der Görresgesellschaft 3, Köln 1900. S. 59-66. 15 J. Kuckhoff: "Friedrich Spee und das Tricoronatum". In: Dreikönigsgymnasium Köln, Jahrbuch 1929. S. 4-6. - Derselbe: "Wer war Friedrich Spee, und was bedeutet er für uns?". In: Leuchtturm 28, 1934/35. S. 130-132. - Derselbe: "Die Geschichte des Gymnasium Tricoronatum". Köln 1931, an vielen Stellen (siehe Register). 16 J. Kuckhoff: "Friedrich Spee. Die Geschichte seines Lebens nach den Quellen dargestellt". Vergleiche Anmerkung 1 des Kuckhoff-Aufsatzes "Friedrich Spee und seine Zeit" in A. Arens: "Friedrich Spee im Licht der Wissenschaften". Mainz 1984. S. 15-20.

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nalsozialisten nicht vor dem absurden Versuch haltmachte, Friedrich Spee vor den Karren ihrer Kirchenkritik17 zu spannen. Auch in den ersten Nachkriegsjahren ruhte die Spee-Forschung, aber nicht die Erinnerung an den aufrechten frühen Verfechter der Menschenrechte. Zeugen wie Spee, die fur deutsche Anständigkeit standen, waren gefragt. In Köln zuerst wagte sich ein schmales Bändchen ans Licht der Öffentlichkeit, eine "Trutz-Nachtigall"18, die nur sieben, teils gekürzte Texte brachte; mindestens genauso wichtig schien dem Herausgeber die hübsch zu lesende, fromme Spee-Legende von Reinhold Schneider zu sein. Erbaulich auch die Würdigung von Karl Schwarz "Friedrich Spee. Ein deutscher Dichter und Seelsorger" 19 , die ein Jahr später in Düsseldorf erschien. Wesentlich umfangreicher fiel die Spee-Schrift von Isabella Rüttenauer20 aus; sie stützte sich auf die Spee-Forschung vergangener Jahrzehnte (Duhr, Kuckhoff, Götzen) und ließ weiter die frommen Legenden ranken, ohne sie als solche zu kennzeichnen. Die Spee-Forschung, die dann anhob, ging in jenen Jahren freilich nicht in Deutschland vonstatten. Drei grundlegende Werke erschienen von einem Dänen, einem Niederländer und einer zwar aus Deutschland stammenden, aber in Italien lebenden Forscherin. 1954 kam in Kopenhagen Eric Jacobsens Arbeit "Die Metamorphosen der Liebe und Friedrich Spees ,Trutznachtigall' " 2 1 heraus, eine bis heute nicht ausgeschöpfte Quelle voll Deutungsideen. Im selben Jahr erschien des Jesuiten Hugo Zwetsloot grundlegende Darstellung22 der "Cautio Criminalis", ein epochales Werk zur Geschichte der Hexenprozesse überhaupt. 1958 brachte die in Italien lebende und lehrende Germanistin Emmy Rosenfeld ihr Spee-Buch23 heraus, aus dem heute noch viele ihren philologischen Honig saugen. Sie gab auf Jahre hinaus auch mit weiteren sprachwissenschaftlichen Arbeiten24 in der Spee-Forschung den Ton an. Diese 17 G. Franz: "Ergänzungen" (zur vierteiligen Serie K.-J. Miesen: "Das Spee-Bildnis im Lauf der Jahrhunderte. Bestandsaufnahme. 4. Teil". In: SPEE-POST, Zeitschrift der Friedrich-Spee-Gesellschaft, Jahrgang 2, Heft 2, Dezember 1991, S. 29 f.). 18 F. von Spee "Die Trutz-Nachtigall". Auswahl mit einem Essay von Reinhold Schneider. Herausgegeben von R. Jardon. Köln 1947. 19 K. Schwarz: "Friedrich Spee. Ein deutscher Dichter und Seelsorger". Düsseldorf 1948. 20 I. Rüttenauer: "Friedrich von Spee". 1591-1635. Ein lebender Märtyrer. Freiburg im Brdsgau 1951. 21 E. Jacobsen: "Die Metamorphosen der Liebe und Friedrich Spees .Trutznachtigall' ". In: "Studien zum Fortleben der Antike. 1" (Danske Historisk-filologiske Meddelelser, bind 34, nr. 3) Kobenhavn 1954. 22 H. Zwetsloot S.J.: "Friedrich Spee und die Hexenprozesse. - Die Stellung und Bedeutung der Cautio Criminalis in der Geschichte der Hexenverfolgungen." Trier 1954. 23 E. Rosenfeld: "Friedrich Spee von Langenfeld. Eine Stimme in der Wüste. " Berlin 1958. 24 E. Rosenfeld: "Probleme der Spee-Forschung". In: Germanisch-Romanische Monatsschrift. N.F. 5, 1955, S. 115-128. - Dieselbe: "Theologischer Prozefi. Die Rintelner Hexentrostschrift - ein Werk von Friedrich von Spee". In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 29, 1955, S. 37-56. - Dieselbe: "Neue Studien zur Lyrik von Friedrich Spee". Milano-Varese 1963. - Dieselbe: "Friedrich Spee von Langenfeld (1591-1635)". In: Rheinische Lebensbilder, Band 2. Düsseldorf 1966. S. 125-141. - Dieselbe: "Auffindung einer neuen Handschrift / Abschrift der Trutznachtigall von Friedrich Spee von Langenfeld in Münster aus dem Jahr 1638". In: Miscellanea di studi di Β. Tecchi, Roma 1969, S. 116-124. - Dieselbe: "D .Theologischer Prozeß' di Friedrich Spee von Langenfeld". In: Istituto Lombardo,

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Internationalisierung stellte die Forschung auch im Inland vor einen viel bedeutsameren Hintergrund als bisher. Emmy Rosenfelds vielfältige Arbeiten machten Spee vor allem für die zeitgenössische Germanistik hoffähig. Auch die biographische Forschung nahm sich erneut des Jesuiten an. Zunächst erschien Karl Kellers Büchlein25 über Spee, viele Einzelheiten seines Lebens aufgreifend, ausführlicher ausmalend, neu deutend. 1977 kam die wertvolle, auf den wissenschaftlich abgesicherten Erkenntnissen fußende Biographie26 Joachim-Friedrich Ritters heraus, des Mannes, der 1939 die zeitgenössische Übersetzung von Spees "Cautio Criminalis" angefertigt hatte. Ausführlich benutzte er Quellen aus den Jesuiten-Akten in Hildesheim und Paderborn und erschloß so ein in manchen Zügen neues Spee-Bild. Am 16. Oktober 1980 erzielte die archäologische Forschung einen bemerkenswerten Erfolg: In der Krypta der Jesuitenkirche zu Trier wurden die Gebeine des dort vor 345 Jahren in Eile begrabenen Paters aufgefunden. Der von Spee faszinierte Trierer Domkapitular Anton Arens hatte die Ausgräber so unverdrossen wie unermüdlich dazu gedrängt. Er ließ das Gewölbe erneuern, die Gebeine Spees in einen antiken Steinsarg betten und eine Verehrungsstätte errichten, wie sie einem Heiligen zukommt. Darüber gab eine Broschüre27 Auskunft, die die Persönlichkeit des Verehrten in vielen Facetten würdigte. Die Auffindung dieses Grabs aber gab der gesamten Spee-Forschung erneut einen gewaltigen Auftrieb. In Trier bildete sich ein Spee-Arbeitskreis, der eine würdige Feier des 1985 anstehenden 350. Todestags anstrebte. Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen - Germanisten, Theologen, Historiker, Juristen - taten sich zusammen, um Friedrich Spees Leben und Werk ins neue Licht der Wissenschaften28 zu setzen. Die Ausstellung, die die Stadtbibliothek Trier Spee zum Jubiläum widmete, war das umfassendste und würdigste Gedenken, das dem Jesuiten bis dahin zuteil geworden war. Bleibendes Zeugnis der Bemühungen des Trierer Spee-Arbeitskreises ist auch der hervorragende Katalog29, den dieselben Wissenschaftler und einige, die noch dazustießen, erarbeiteten. Wichtig schließlich auch die Trierer Dokumentation anläßlich des 350. Todesjahrs unter

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Academia di lettere e scienze morali e storiche 106, 1972, S. 844-905. - Dieselbe: "Die Straßburger Handschrift der .Tnitz-Nachtigal' von Friedrich Spee von Langenfeld". In: Studi di letteratura religiosa tedesca. In: Memoria di Sergio Lupi (Biblioteca della Rivista di storia e letteratura. Studi e testi, 4.) Firenze 1972. K. Keller: "Friedrich Spee von Langenfeld (1591-1635). Seelsorger, Dichter, Humanist". Kevelaer 1968. J. F. Ritter: "Friedrich von Spee. (1591-1635). Ein Edelmann, Mahner und Dichter". Trier 1977. A. Arens (Hrsg.): "Friedrich Spee von Langenfeld - Zur Wiederauffindung seines Grabes im Jahre 1980". Trier 1981. "Friedrich Spee im Licht der Wissenschaften", vergleiche Anmerkung 1. "Friedrich Spee: Dichter, Seelsorger, Bekämpfer des Hexenwahns; zum 350. Todestag". Katalog der Ausstellung der Stadtbibliothek Trier (herausgegeben von der Stadtbibliothek Trier. Ausstellung und Katalog: G. Franz. Unter Mitarbeit von A. Arens ...). Trier 1985.

Die Spee-Forschung seit 1950

dem Titel "Friedrich Spee-Gedächtnis"30, die alle Äußerungen über den Jesuiten sammeln wollte, ein - wie sich herausstellte - wohl unmögliches Unterfangen. Auch anderen Orts gab es 1985 Spee-Aktivitäten. Im italienischen Trient wurde an der neugegründeten "Facoltà di Lettere" der "Università di Trento" das Arbeitsgespräch "Friedrich von Spee: Jesuit, Dichter und Bekämpfer des Hexenwahns" gehalten. Unter Leitung von I. M. Battafarano diskutierten die Referenten die geistige Biographie Spees, seine Mystik, seine Lieder, seine "Cautio Criminalis"; sie sprachen über Spees Drucker in Köln, Wilhelm Friessem, über die Leibnizsche SpeeRezeption und den Einfluß des Barockpoeten auf die Romantik. Eine Veröffentlichung Battafaranos31 gibt Zeugnis von der vielseitigen Tagung. In Hildesheim versuchten Lehrer eine schulgemäße Anleitung über Spee und veröffentlichten ein höchst schätzenswertes Unterrichtswerk 32 . Ein ansprechend aufgemachtes Spee-Liederbuch33 mit Texten und den Noten von Erstausgaben und anderen frühen Editionen der Kirchenlieder und der "Trutz-Nachtigall" erschien in Paderborn. Auch die Jesuiten suchten ihren Jubilar mit einer Würdigung34 in der Herausgeberschaft von M. Sievernich S.J. in ein zeitgemäßes Licht zu stellen. In der Geburtsstadt Spees, in Kaiserswerth, wo Spees Gedächtnis immer hochgehalten worden war, erwachte im 350. Todesjahr der Wunsch, eine Friedrich-Spee-Gesellschaft zu gründen. Die Düsseldorfer Oberstudienräte Dr. H. J. Weiers und G. Dengel gaben den Anstoß dazu; beteiligt waren der Kaiserswerther Heimat- und Bürgerverein, SpeeFreunde aus Düsseldorf, Falkenhagen, Köln, Trier und anderen Orten. Am 350. Todestag Spees, am 7. August 1985, wurde diese Gesellschaft in Kaiserswerth ins Leben gerufen. Leider spalteten sich bald die Trierer Mitglieder ab und gründeten eine eigene Gesellschaft. Dennoch arbeiten beide Gesellschaften in vielen Projekten zusammen. Die Gründung der Düsseldorfer Gesellschaft brachte einen Aufschwung der SpeeForschung auch am Niederrhein. Kraftvoll wurden die Planungen auf den 400. Geburtstag, den 28. Februar 1991, vorangetrieben. Vom Verfasser dieses Beitrags erschien ein journalistischer Reisebericht zu den Lebens- und Wirkstätten Friedrich Spees35, und von Karl Keller kam, völlig umgearbeitet, die Biographie36 erneut heraus. Diese beiden letzteren Bücher sind nicht unbedingt der Wissenschaft zuzurechnen, auch 30 vergleiche Probst "Spee-Gedächtnis11 (wie Anmerkung 1) 31 I. M. Battafarano (Hrsg.): "Friedrich von Spee - Dichter, Theologe und Bekämpfer der Hexenprozesse". Gardolo di Trento 1988. 32 R. W. Keck (Hrsg.): "Friedrich Spee von Langenfeld (1591-1635). Sieben didaktische Versuche zu einem dramatischen Leben". Hildesheim 1985. 33 D. Rost und J. Machalke (Hrsg.): "Mein Herz will ich dir schenken". Die schönsten Lieder von Friedrich Spee. Paderborn 1985. 34 M. Sievernich S.J. (Hrsg.): "Friedrich von Spee. Priester - Poet - Prophet". Frankfurt am Main 1986. 35 K.-J. Miesen: "Friedrich Spee. Priester, Dichter, Hexen-Anwalt". Düsseldorf 1987. 36 K. Keller: "Friedrich Spee von Langenfeld (1591-1635)". Leben und Werk des Seelsorgers und Dichters. Geldern 1990.

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wenn sie selbstbewußt mit einigen, von der Forschung übersehenen Hinweisen und Tatsachen aufwarten. Auch die SPEE-POST37, Zeitschrift der Friedrich-Spee-Gesellschaft, unter der Redaktion des Verfassers, suchte strenge Wissenschaft und lesbare journalistische Mitteilung miteinander in Einklang zu bringen. Der reinen Forschung entsproß im Jahr des 400. Geburtstags wiederum das sorgfältige Werk von Martina Eicheldinger38, eine philologisch-theologische Untersuchung des "Güldenen Tugend-Buchs" und der "Trutz-Nachtigall". Auf die "Cautio Criminalis" hingegen zielte vornehmlich die in Paderborn entstandene Arbeit über Spees politische Theologie39. Vielfältige Gesichtspunkte der Wirkungsgeschichte Spees in seiner Liederdichtung untersuchte ein Symposion40 der EichendorffGesellschaft in Ratingen bei Düsseldorf. Didaktischen Zielen unterworfen waren hingegen wiederum im Jubiläumsjahr drei Arbeiten, deren bedeutendste das "Spee-Lesebuch"41 der Düsseldorfer Friedrich-Spee-Gesellschaft darstellt. Gefragt allerdings werden muß, ob wirklich das "Güldene Tugend-Buch" ins aktuelle Hochdeutsch42 übersetzt werden sollte; wen das Werk interessiert, der liest es auch gern und mit viel Gewinn in der Speeschen Sprache. Gerechterweise muß gesagt werden, daß die Einführung von A. Arens zum Besten gehört, das über das Meditationsbuch Spees geschrieben wurde. Gänzlich mißlungen hingegen ist leider die Spee-Texte-Auswahl43 von W. Freund in aktuellem Hochdeutsch, in dem vor allem die Lieder Spees ihre sprachliche Anmut und ihren barocken Charme völlig verlieren. Das beweisen auch die immer wieder erneuerten und dadurch schamlos verschandelten Kirchenlieder des Jesuiten. Diese Lieder betrifft auch die musikhistorisch unschätzbar wertvolle photomechanische Wiederveröffentlichung des "Psalterium Harmonicum" mit Spee-Liedern, das 1642 der Kölner Jesuit Jakob Gippenbusch zum Druck gegeben hatte; das letzte bekannte Exemplar dieses Drucks ist nämlich seit 1956 verschollen; es gab nur noch photographische Aufnahmen davon.

37 Es erschienen vier Nummern der SPEE-POST: 1990 1 und 2; 1991 1 und 2. Das Erscheinen der Zeitschrift wurde abgebrochen, da die Spee-Gesellschaften Düsseldorf und Trier künftig ein wissenschaftliches Spee-Jahrbuch herausbringen werden. 38 M. Eicheldinger: "Friedrich Spee - Seelsorger und poeta doctus". Die Tradition des Hohenliedes und Einflüsse der ignatianischen Andacht in seinem Werk. Tübingen 1991. 39 D. Brockmann, P. Eicher (Hrsg.): "Die politische Theologie Friedrich von Spees". München 1991. 40 E. Grunewald, N. Gussone (Hrsg.): "Von Spee zu Eichendorff. Zur Wirkungsgeschichte eines rheinischen Barockdichters". Berlin 1991. 41 W. Bröcker, G. Dengel, D. Kunze, Theo G. M. van Oorschot, H. J. Weiers (Hrsg.): "Friedrich Spee von Langenfeld (1591-1635) - Lesebuch". Langwaden 1991. 42 F. Spee: "Güldenes Tugend-Buch". Auswahl, Bearbeitung und Einführung von A. Arens. Einsiedeln, Freiburg 1991. 43 F. von Spee: "Lyrik & Prosa". Ausgewählt und eingeleitet von W. Freund. Paderborn, München, Wien, Zürich 1991.

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Die Spee-Forschung seit 1950

Die Trierer Friedrich-Spee-Gesellschaft hat dieses wichtige Werk 44 der Forschung wieder zugänglich gemacht. Die jüngsten Arbeiten45 der Spee-Forschung vereinigen die Vorträge, die auf dem Düsseldorfer und auf dem Trierer Symposion zum 400. Geburtstag gehalten wurden. Hier werden wiederum mannigfache EinzelAspekte der Spee-Forschung beleuchtet. Eine psychologische Untersuchung der Frage, was den Jesuiten befähigte, in Krieg- und Pestjahren in so hervorragender Weise als Mystiker, Dichter und Aufklärer weit über das Barock hinaus beispielgebend in unsere Zeit hineinzuragen, stellt eine "innere Biographie"46 Theo G.M. van Oorschots dar; ein biographisches Lesevergnügen bietet die Arbeit47 des Journalisten und Theologen Christian Feldmann.

44 "Psalteriolum haimonicum Sacraium Cantilenarum ...". Coloniae Agrippinae Apud Petrum Grevenbruch Anno 1642. (Photomechanischer Nachdruck. Mit einem Nachwort zu Eigenart, Inhalt und Wirkungsgeschichte von Rudolf Ewerhart.) 45 Th.G.M. van Oorschot, M. Gerlach: "Friedrich Spee (1591-1635)". Düsseldorfer Symposion zum 400. Geburtstag. Neue Ergebnisse der Spee-Forschung. Bielefeld 1993. - "Friedrich Spee zum 400. Geburtstag". Kolloquium der Friedrich-Spee-Gesellschaft Trier. Herausgegeben von G. Franz. Paderborn 1993. 46 Th.G.M. van Oorschot: "Friedrich Spee von Langenfeld - Zwischen Zorn und Zärtlichkeit". In der Reihe "Persönlichkeit und Geschichte". Band 140. Zürich 1992. 47 Chr. Feldmann: "Friedrich Spee - Hexenanwalt und Prophet". Freiburg 1993.

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Die Demokratische Revolution in Osteuropa und das deutsche Geschichtsbild

Noch vor wenigen Jahren hätte niemand vorauszusagen gewagt, daß die schleichende Erosion des sowjetischen Empire schon so bald akut zum Ausbruch kommen und, was mehr ist, zum Zusammenbruch des marxistisch-leninistischen Systems fuhren würde, ohne daß es darüber jedenfalls bislang zu nennenswertem Blutvergießen gekommen ist. Auch die westliche Politik hatte sich darauf eingestellt, daß das sowjetische System trotz seiner chronischen Krisenanfälligkeit und seiner wirtschaftlichen Rückständigkeit noch auf lange hinaus Bestand haben werde. Im Grunde war dieses selbst in wesentlicher Hinsicht auf den Dualismus der beiden großen rivalisierenden Weltsysteme der westlichen, marktwirtschaftlich orientierten Demokratie und des sog. realen Sozialismus, wie dies in der ehemaligen DDR hieß, eingestellt und bezog einen guten Teil seiner Legitimität von eben diesem Dualismus: Die Entgegensetzung zum System des realen Sozialismus mit seiner chronisch unzulänglichen Güterversorgung, seinem oppressiven Herrschaftssystem und seiner bürokratischen Herrschaftsstruktur genügte, um im Westen eine radikale Linke überhaupt nicht ernstlich Fuß fassen zu lassen. Vielmehr gewann hier die Tendenz die Oberhand, sich den eigenen Frieden und die relative Stabilität der Weltordnung durch Konzessionen an die bürokratischen Herrschaftssysteme zu sichern, zuweilen auf Kosten der freilich zahlenmäßig zunächst schwachen Widerstandsbewegungen in Osteuropa. Gewiß, der beständige wirtschaftliche Konkurrenzdruck, mit dem das System des bürokratischen Sozialismus sich konfrontiert sah, hat zu dessen fortschreitender innerer Dekomposition ebenso beigetragen wie die konsequente Sicherheitspolitik des Westens, die der sowjetischen Nomenklatura nicht den Ausweg offen ließ, gegebenenfalls ihr Heil in einem auswärtigen Kriege zu suchen. Aber die demokratische Revolution in Osteuropa war zum wenigsten das Werk des Westens. Sie war in erster Linie das Werk jenes kleinen Häufleins von polnischen, ungarischen, tschechischen und schließlich auch russischen Dissidenten, die in einem zähen und für sie selbst verlustreichen Ringen den bürokratischen Sozialismus so lange bloßstellten, bis seine innere Unwahrheit und Hohlheit nicht länger übersehen werden konnte. Von einem bestimmten Punkt an waren diese Regime auch mit Terror und Gewalt nicht mehr zu behaupten, obschon es an deren reichlichen Gebrauch gewiß nicht gefehlt hat, wie wir mit immer größerer Bestürzung den täglich neuen Enthüllungen über die Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes in der ehemaligen DDR entnehmen können.

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Die Dissidentenbewegungen haben die posttotalitären Regime in Osteuropa einfach nur deshalb überwinden können, weil sie sich dafür entschieden, auch auf die Gefahr persönlicher Verfolgung hin "in der Wahrheit zu leben", wie dies Vaclav Havel so eindrucksvoll gesagt hat. Nicht konspirative Tätigkeit und schließlich die Anwendung von revolutionärer Gewalt hat diese Regime gestürzt, sondern die Tatsache, daß eine wachsende Zahl vornehmlich von Schriftstellern, Künstlern, Theologen, Menschen, die wir gemeinhin als Intellektuelle bezeichnen, sich entschieden, das bestehende Lügensystem herauszufordern und die Öffentlichkeit dazu zu zwingen, schrittweise den wirklichen Problemen und den schweren Mängeln des herrschenden Systems des realen Sozialismus ins Auge zu sehen, statt sich weiterhin, vornehmlich über den Weg des geringsten Widerstandes, der Herrschaft der Lüge zu unterwerfen. Die westlichen Medien haben dabei geholfen, der Kritik der Dissidentenbewegungen zusätzliche Resonanz zu verschafffen, aber für sich genommen hätten sie an den Verhältnissen nichts entscheidendes ausrichten können. Es bedurfte der Charta 77 und der entsprechenden Erklärungen der zahlreichen Gruppen der Bürgerbewegungen und dann schließlich der Massendemonstrationen, um diese Regime davon zu überzeugen, daß auch mit brutaler Repression nichts mehr zu retten sei. Insofern ist die demokratische Revolution in Osteuropa wirklich in erster Linie eine legitime Erbin des liberalen Denkens, das die europäischen Gesellschaften seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts immer stärker geprägt hat und heute den Kern unseres politischen Denkens bildet, oft freilich bereits für so selbstverständlich gehalten wird, daß wir uns dessen gar nicht mehr bewußt sind. Insoweit darf man in den Entwicklungen der letzten Jahre, die zur Befreiung der osteuropäischen und südosteuropäischen Völker vom Joch des Kommunismus gefuhrt haben, die Erfüllung einer ursprünglich utopischen Idee sehen, die erstmals in der französischen Revolution und den Befreiungsbewegungen gegen die autokratische Fürstenherrschaft des 18. Jahrhunderts hervorgetreten ist und in der Durchsetzung des demokratischen Prinzips zumindest in weiten Teilen des Globus ihren konkreten Niederschlag gefunden hat. Aus deutscher Perspektive muß mit einem gewissen Bedauern festgehalten werden, daß die Deutschen in der DDR an diesem großen demokratischen Umwälzungsprozeß nur zu einem geringen Teil mitgewirkt haben. Das politische System der DDR legte auch während jener Umbruchperiode in Ostmitteleuropa, die überall die Zurückrollung und schließlich die Beseitigung der kommunistischen Herrschaft brachte, in Polen, in Ungarn, in der Tschechoslowakei, zunächst eine hohe Stabilität an den Tag, obschon kundige Beobachter auch hier Risse im Gebälk des Staatsgebäudes auszumachen vermochten. Ich möchte die Verdienste der Bürgerbewegungen in der ehemaligen DDR in keiner Weise herabmindern; es war mutig und risikoreich für sie, einem offenbar noch bemerkenswert intakten Staatsapparat entgegenzutreten. Aber ihre Wirksamkeit blieb lange Zeit auf marginale Gruppen der Gesellschaft, vor-

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nehmlich im Umkreis der evangelischen Kirche, beschränkt, und auch wenn dieser ein bleibendes Verdienst zukommt, der Protestbewegung überhaupt ein Forum geschaffen zu haben, welches für die Staatssicherheit nicht ohne ein zusätzliches Risiko erreichbar war, wird heute deutlicher, daß die Kirchenleitungen sich vielfach bemüht haben, die Protestbewegungen in ein eher ungefährliches Fahrwasser zu lenken. Jedenfalls muß festgehalten werden, daß die Verhältnisse in der ehemaligen DDR erst zu einem Zeitpunkt definitiv in Bewegung gerieten, als im übrigen Ostmitteleuropa die demokratischen Kräfte schon gesiegt hatten. Ohne die Politik Gorbatchovs, der von der Maxime ausging, daß eine weitere Auftechterhaltung des sowjetischen Empires mit Gewalt nicht mehr aussichtsreich, viel zu aufwendig und für das Verhältnis der sich aus der Eiseskälte eines bürokratischen Sozialismus herauslösenden UdSSR zu den westlichen Staaten schädlich sein werde, wäre das SED-Regime vermutlich noch eine ganze Weile an seinem Platz geblieben, obschon die Zeichen der Zeit fraglos darauf verwiesen, daß es damit zu Ende ging. Schon im Frühjahr 1989 meinte ein mir persönlich bekannter Soziologe, der, wie die in der DDR etablierte empirische Soziologie überhaupt, dem Regime sehr nahestand und institutionell beim ZK angesiedelt war: "Gewalt gegen die Bürger können wir nicht mehr anwenden; wir müssen sie überzeugen. " Aber die Erosion des SED-Regimes verlief schleppend, und die Anstöße dazu kamen zum weitaus grösseren Teil nicht aus oppositionellen Kreisen; nicht am Widerstand breiterer Schichten der Gesellschaft, auch nicht an jenem der Arbeiter ist das SED-Regime zugrunde gegangen, sondern an seiner eigenen Inkompetenz, an der zunehmenden Vergreisung der Führungsschicht, an der Unfähigkeit, die verfügbaren Erkenntnisse über den Zustand der Gesellschaft und die Stimmung in der Bevölkerung umzusetzen. Erst nachdem die Sowjetunion ganz offensichtlich dem SED-Regime die Waffenhilfe für den Fall von Unruhen versagt und Honecker darauf hingewiesen hatte, daß weitreichende Reformen nötig seien - "Wer zu spät kommt, den bestraft die Geschichte" -, gaben die Bürgerbewegungen und dann schließlich die Massendemonstrationen dem Regime den Rest. Es brach klaglos und schließlich ohne jeglichen ernsthaften Widerstand des Staatsapparats zusammen. Für uns Deutsche bedeutet dies, daß die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands nicht in erster Linie das Werk der Deutschen selbst gewesen, sondern uns gleichsam von außen geschenkt worden ist. Gewiß, die Verdienste der Bürgerbewegungen, die beherzt daran gingen, das Regime an zentralen Punkten seiner bisherigen Machtstellung herauszufordern, sollen nicht gering eingeschätzt werden, auch nicht die Massenflucht von Bürgern der ehemaligen DDR über Ungarn und die Tschechoslowakei in die Bundesrepublik oder die Massendemonstrationen in Leipzig, Ost-Berlin und in anderen großen Städten der ehemaligen DDR, die damals noch Gefahr liefen, niederkartätscht zu werden. Aber eine große revolutionäre Massenbewegung mit klaren Zielen, die

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aus eigener Kraft das Regime in die Knie gezwungen hätte, gab es ebensowenig wie eine revolutionäre konstituierende Nationalversammlung, aus der dann vielleicht mit etwas größerer Geschwindigkeit ein geeintes Deutschland hervorgegangen wäre. Statt dessen träumten die Bürgerbewegungen und mit ihnen große Teile der Intelligenz weiterhin davon, daß es vielleicht möglich sein könnte, nunmehr in der ehemaligen DDR auf demokratischer Grundlage eine wahrhaft sozialistische Ordnung aufzubauen, während das Übergangsregime Modrow und die einstweilen noch existierende SED daran gingen, möglichst viel von staatlichem Besitz in die private Verfügung der alten Führungseliten zu verlagern, mit bedenklichen Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage. Man hätte sich dies alles schneller, entschiedener und mit größerem Engagement auch der Bürger der alten Bundesrepublik ablaufend vorstellen können. Dem steht freilich als großer Pluspunkt gegenüber, daß hier eine friedliche Umwälzung, wenn schon nicht eine Revolution im eigentlichen Sinne des Wortes, vonstatten gegangen ist. Und dies wiegt eine Menge Nachteile auf, vor allem, daß wir bis heute mancherlei Geburtsfehler bei der Vereinigung der beiden deutschen Staaten mit uns mitschleppen müssen. Der Weg vom Fall der Mauer im November 1989 bis zur staatsrechtlichen und völkerrechtlichen Vereinigung der beiden deutschen Staaten am 3. Oktober 1990 war langwierig und verschlungen und hätte gewiß abgekürzt werden können, statt, wie viele immer noch argumentieren, weiter in die Länge gezogen zu werden. Denn die Probleme, die sich mit dem Zusammenschluß dieser beiden so unterschiedlichen Wirtschaftsgebiete ergaben, wären durch eine Verzögerung der Vereinigung um kein Jota geringer geworden; nur daß der Exodus nach Westen die ehemalige DDR noch weiter eines Teils ihrer dynamischsten Bevölkerungskräfte und ihres potentiellen Führungspersonals entblößt haben würde. Insoweit haben wir allen Anlaß, den 3. Oktober 1990 als einen historischen Tag zu feiern. Freilich sollten wir uns eingestehen, daß mit der Herstellung eines einheitlichen Staatsverbandes und mit der Weichenstellung zugunsten der sozialen Marktwirtschaft in den östlichen Bundesländern die Probleme keineswegs gelöst sind. Vielmehr wird immer deutlicher, daß die innere Einigung der Nation der staatsrechtlichen erst noch nachzufolgen hat, und daß in dieser Hinsicht noch ein sehr steiniger Weg vor uns liegt. Zum ersten liegt offen zutage, daß die volle wirtschaftliche Integration der östlichen Bundesländer in das westliche marktwirtschaftliche System noch eine beträchtliche Zeit in Anspruch nehmen wird, wenn auch am Ende davon eine ganz erhebliche Stärkung der Wirtschaftskraft und des Volkswohlstands in ganz Deutschland zu erwarten steht. Die anfangliche Erwartung im Westen wie im Osten, daß die Angleichung der ehemaligen DDR an das westliche Lebensniveau ohne große Opfer möglich sein werde, erwies sich als eine Lebenslüge, und teilweise mag diese gar taktisch bedingt gewesen sein. Vielmehr kam es mit dem Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft, über deren Zustand im Westen viel102

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fach falsche Vorstellungen herrschten, obwohl man alles hätte wissen können, zu einer Verschärfung der Differenzen im Wohlstandsniveau, und dies ist auch jetzt noch so, bedingt unter anderem durch das Wegbrechen der osteuropäischen Märkte. Wichtiger ist, daß sich die mentalen Einstellungen in den beiden Teilen Deutschlands immer noch in erheblichem Maße unterscheiden. Die Menschen in den westlichen Bundesländern vergessen häufig, daß mehr als vierzig Jahre des Lebens in einem System des bürokratischen Sozialismus Folgen auch für die Lebenseinstellung eines jeden einzelnen gehabt hat. Im Westen haben wir die Entwicklung eines marktorientierten, dynamischen, zuweilen aggressiven kapitalistischen Systems vergleichsweise langsam und schrittweise erfahren; es gab Zeit, sich daran anzupassen. Nicht so im Osten; hier gilt es, sich von heute auf morgen auf das westliche System der individuellen Konkurrenz im Markt, bei nur bescheidenen Absicherungen gegen Fehler und Scheitern, einzustellen. Dies ist keine Frage der menschlichen Qualitäten und Fähigkeiten, sondern eine der Mentalitäten. Es waren zu einem erheblichen Teil die Flüchtlinge aus der damaligen DDR, welche das deutsche "Wirtschaftswunder" der 50er und 60er Jahre zustande bringen halfen unter Bedingungen, die vergleichsweise günstiger waren als die heutigen, in einer stagnierenden Weltwirtschaft. Im übrigen haben wir im Westen keinerlei Anlaß zu besonderer Selbstzufriedenheit. Nicht wenige neigen dazu, in den Umwälzungen der letzten Jahre vor allem den Triumph des Systems der sozialen Marktwirtschaft gegen alle seine Widersacher, natürlich insonderheit den zentralistisch gesteuerten, bürokratischen Staatskapitalismus zu sehen. Es steht außer Frage, daß das westliche marktorientierte Industriesystem sich den verschiedenen Varianten des Sozialismus marxistisch-leninistischer Spielart als turmhoch überlegen erwiesen hat; aber dies als solches hat nicht ausgereicht, eine wirkliche Wende in Osteuropa herbeizuführen. Und wie sich absehen läßt, wird die Einführung dieses Systems als solches auch nicht genügen, um den osteuropäischen Gesellschaften auf kurze Frist zu einem Leben in Wohlstand und Frieden zu verhelfen. Im Westen Deutschlands bildet der Stolz auf die wirtschaftliche Leistung der Deutschen in den letzten Jahrzehnten eine wesentliche Komponente des Nationalbewußtseins; dieser hat ältere Einstellungen und Verhaltensweisen zurückgedrängt, wenn auch nicht ganz beseitigt. Die Übernahme des westlichen Systems der parlamentarischen Demokratie verlief problemlos, und die Öffnung der Gesellschaft gegenüber westlichen Wertidealen und Lebensformen ist ein wesentliches Element der deutschen nationalen Identität, soweit es die Bürger der alten Bundesrepublik angeht. In den östlichen Bundesländern ist die Lage wesentlich differenzierter. Die Bürger wußten zwar viel über die Bundesrepublik, die in ihren Augen unter anderem auch deshalb attraktiv war, weil sie gleichsam das Tor zum Westen darstellte, aber eine eigentliche Ein-

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Übung von westlichen Lebensformen und Lebensidealen hat es verständlicherweise nie gegeben. Mehr noch, hier legte sich die Ideologie des Marxismus-Leninismus über ein noch relativ traditionalistisches, nationalistisches Verständnis des Wesens der deutschen Nation, ohne sich mit diesem intensiver auseinanderzusetzen; die negativen Traditionen des älteren deutschen Nationalbewußtseins repräsentierte für die SEDOberen und auch für die diesen weithin hörigen, staatlich besoldeten Historiker und Politologen allein die angeblich imperialistische und protofaschistische alte Bundesrepublik. So blieb Fremdenfeindlichkeit, insbesondere Polenhaß und zuweilen auch Antisemitismus, virulent am Leben und tritt heute vielfach in bestürzender Weise an die Oberfläche. Die Vorgänge in Hoyerswerda und Rostock und jüngsthin in Sachsenhausen haben das Menetekel eines aggressiven, fremdenfeindlichen deutschen Nationalismus, den wir schon definitiv überwunden glaubten, wieder wachwerden lassen. Und radikal nationalistische Strömungen flackern nun auch in der Bundesrepublik vielerorts auf, wohl, weil nun, nach dem Ende des ideologischen Gegensatzes der Weltsysteme, welches die Sorge, daß die Bundesrepublik zur Erhaltung der Freiheit auf ihre mächtigen westlichen Bundesgenossen werden zählen müssen, hat verblassen lassen, manche Leute, die nichts dazu gelernt haben, meinen, alles sagen und tun zu können. Insgesamt sind diese xenophoben Ausbrüche jedoch Randphänomene, die zwar das deutsche Ansehen in der Welt ernstlich beeinträchtigen, aber die freilich in sich uneinheitliche, vielfach gebrochene nationale Identität der Deutschen, als eines im Grunde bereits post-nationalen Volkes, als solche nicht tangieren. Sie sind allerdings beunruhigende Symptome einer viel allgemeineren Orientierungslosigkeit, die sich eingestellt hat, nachdem die festen Koordinaten entfallen sind, die durch die Polarisierung des Weltsystems in einen kommunistischen und einen westlich-demokratischen Block gegeben waren. Die krisenhafte Entwicklung des wirtschaftlichen Systems hat ein konstitutives Element der nationalen Identität der Deutschen in den westlichen Teilen Deutschlands geschwächt; in den östlichen Bundesländern fehlte dies ohnedies, und der erhoffte Wohlstand läßt zudem auf sich warten. Andererseits ist Verfassungspatriotismus nicht genug, um ein dauerhaftes Bewußtsein wesentlicher Gemeinsamkeit politischer Großgruppen zu begründen. Was not tut, ist eine weitsichtige, gleichsam historische Orientierung, die von dem Wissen darum ausgeht, daß die Deutschen nur deshalb wieder eine politische Zukunft gewonnen und ihre Einheit zurückerhalten haben, weil sie aus der Katastrophe des Nationalsozialismus gelernt haben und mit ihrer eigenen Vergangenheit kritisch ins Gericht gegangen sind. Heute sind wir aufgefordert, dies zu vollenden durch eine nüchterne, unbefangene Aufarbeitung der Geschichte der ehemaligen DDR und ebenso der alten Bundesrepublik, die sich stets der Tatsache eingedenk ist, daß Deutschland nur dann, wenn es mit seinen Nachbarn in Ost und West in Frieden lebt und die großen territorialen Verschiebungen nach

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dem Ende des Zweiten Weltkrieges als unwiderrufliches Schicksal zur Kenntnis nimmt, im Rahmen der europäischen Staatengemeinschaft eine wichtige Rolle in der Welt wird spielen können. Dies bedingt nicht nur die Gewinnung der inneren Einheit der Nation, sondern erfordert auch, auf unsere Nachbarn im Osten, denen wir ja nicht zuletzt die Beseitigung des SED-Regimes verdanken, in fairer Weise zuzugehen. Vor allem aber gilt es, eine neue, weltoffene Form des Nationalbewußtseins zu finden, welche sich von den Velleitäten des integralistischen Nationalismus der Vergangenheit, der mit Gewalt einen ethisch und kulturell homogenen Nationalstaat schaffen wollte, ja mehr noch die gewaltsame Eindeutschung ethnischer Minderheiten forderte, ein für alle Mal befreit. Wenn es gelingen soll, ein geeintes Deutschland inmitten eines freien, wirtschaftlich erfolgreichen Europa auf Dauer zu sichern, dann erfordert dies vor allem die Begründung eines unbefangenen Verhältnisses zu den ethnischen Minderheiten innerhalb der eigenen Grenzen und die Bereitschaft, Toleranz gegenüber unterschiedlichen kulturellen Traditionen zu pflegen. Die deutsche Geschichte zeigt, daß der wirtschaftliche und kulturelle Aufstieg des deutschen Reichs seit 1880 nicht zuletzt der Mitwirkung von ethnischen Minoritäten bzw. Zuwanderern aus dem Osten und Süden Europas zu verdanken ist: Der polnischen Sachsengänger im Osten und der polnischen und masurischen Bergarbeiter im Ruhrgebiet, der italienischen Bauarbeiter im Elsaß und an vielen anderen Orten des sich rapide entfaltenden industriellen Systems, und nicht zuletzt der Juden, deren Beitrag zur deutschen Nationalkultur schwerlich überschätzt werden kann. Die kulturelle Identität der Deutschen ist durch das Zusammenwachsen mit diesen Minoritäten eher gestärkt als geschwächt worden. Liberalität und Selbstbewußtsein, dies, so scheint es, sollten die Deutschen in stärkerem Maße entwickeln als bisher, und sich damit der Wiederherstellung der deutschen Einheit würdig erweisen. Wir sollten nicht vergessen, daß sie sich in erster Linie der demokratischen Revolution in Ostmitteleuropa verdankt, an der die Deutschen wenn überhaupt, dann nur nur einen höchst bescheidenen Maß Anteil gehabt haben. Und wir sollten das moralische Potential nicht verspielen, das dies erst möglich gemacht hat, nämlich der Wille zu nationaler Selbstbestimmung in Freiheit, welche auf die große demokratische Tradition seit der französischen Revolution zurückgeht und mit der Idee der unveräußerlichen Menschenrechte untrennbar verbunden ist. Insgesamt finden wir uns nach dem Ende des sowjetischen Imperialismus und des dualistischen Weltsystems, in dem die Vereinigten Staaten als unbestrittene Vormacht des Westens sowohl in politischer wie in wirtschaftlicher Hinsicht eine hegemoniale Position einnahmen, in eine Situation zurückgeworfen, in der sich viele alte Probleme abermals stellen, wenn auch in neuen Formen. Im Vordergrund steht der erneute Ausbruch der explosiven Dynamik des Nationalismus, von dem wir schon geglaubt hatten, daß er einer vergangenen Periode der Geschichte angehöre. Offenbar können wir nicht länger davon ausgehen, daß die äl-

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teren Nationalismen relativ konfliktlos schrittweise in übernationale Ordnungen überführt werden können, wie dies in Westeuropa schon teilweise gelungen ist. Hier liegt eine der großen Zukunftsaufgaben unserer Gegenwart. Insbesondere die deutsche Politik ist dazu aufgerufen, hier ihren Einfluß geltend zu machen, um neue Formen transnationaler politischer Ordnungen zu finden, die gleichwohl die kulturelle Eigenständigkeit der betroffenen Völker gewährleisten. Damit eng verbunden ist die Frage, wie sich unter den neuen Verhältnissen eine stabile Weltordnung wird vorstellen lassen. Wir hatten uns sehr daran gewöhnt, die Initiative in dieser Hinsicht in erster Linie den Supermächten zu überlassen; nun sind auch die mittleren Mächte, und damit letzten Endes auch die Bundesrepublik gefordert, sich hier zu engagieren, statt sich, wie das lange der Fall war, hinter dem "großen Bruder" jenseits des Atlantiks zu verstecken. Vorläufig wenigstens verspricht die Aussicht, dies im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft zu tun, keine wirkliche Lösung des Problems. In mancher Hinsicht wird man im historischen Rückblick sagen müssen, daß die alte Tradition des Staatshandelns im Rahmen des europäischen Mächtesystems, beziehungsweise des Weltstaatensystems, die viele auf der Linken als eine höchst altertümliche Form außenpolitischen Handelns anzusehen sich gewöhnt hatten, eine Renaissance auf einer geringfügig höheren Ebene erfahren hat. Im übrigen zeichnet sich ab, daß mit dem Ende der imperialistischen Beherrschung der Länder und Regionen der außereuropäischen Welt und dem Abschluß der Dekolonisation, die ja heute bis auf insignifikante Reste vollzogen ist, sich das Verhältnis der Industriestaaten zu den Völkern der Dritten Welt keineswegs weniger explosiv gestaltet. Im Gegenteil, hier schlummern die großen Probleme der Zukunft. Eine Reflexion auf die vergangenen Jahrzehnte seit dem Eintritt Europas in die säkulare Krisenperiode, die mit dem Ersten Weltkrieg begann, vermag uns die große Verantwortung vor Augen zu führen, vor der wir heute stehen. Es geht darum, nicht bloß das eigene Haus in Ordnung zu bringen, was nach den verwüstenden Auswirkungen von mehr als vierzig Jahren SED-Regime - sowohl in ökonomischer wie in moralischer Hinsicht schwer genug ist, sondern auch an der Rekonstruktion Ostmitteleuropas im Sinne demokratischer ebenso wie marktwirtschaftlicher Grundsätze aktiv mitzuhelfen. Im übrigen wird es notwendig sein, auch den sozialen Problemen unser Augenmerk zuzuwenden, die inmitten unserer eigenen westlichen industriellen Gesellschaften in neuen Formen auferstehen; die Tatsache, daß es nunmehr an einer politisch ernstzunehmenden Herausforderung seitens des Sozialismus fehlt, sollte nicht Anlaß zu falscher Beruhigung sein. Im übrigen wird es wichtig sein, sich unserer eigenen, so umstrittenen Geschichte, und nicht zuletzt auch jener des MarxismusLeninismus und seiner politischen Ausformungen bewußt zu bleiben. Denn es wäre fatal, wenn wir die jüngere deutsche Geschichte einfach wieder beim deutschen Kaiserreich beginnen und die Irrungen und Wir-

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rangen des letzten Dreivierteljahrhunderts ausblenden würden, für die wir und andere Völker, nicht zuletzt die Juden, aufs Bitterste bezahlt haben, aus denen wir aber andererseits in großem Maße gelernt haben. Unser Geschichtsbewußtsein wird nach dem Ende der Epoche der totalitären Regime mit ihren gigantischen Verbrechen und Verirrungen eine neue Qualität annehmen müssen. Dabei aber wird die Frage, wie dies alles möglich gewesen ist, ebenso bedeutsam sein wie das Wissen darum, wie schwer die Wege waren, an deren Ende unsere gegenwärtige freiheitliche Ordnung steht und wie prekär diese in einer Welt voller Spannungen, Konflikte und nahezu unlösbarer wirtschaftlicher Probleme immer noch sind. Angesichts des sich stetig verschärfenden Wohlstandsgefälles zwischen Nord und Süd, welches dasjenige zwischen West und Ost noch beträchtlich an Dramatik übertrifft, stehen uns große Zukunftsprobleme ins Haus, die in Gestalt einer ständig zunehmenden Wanderungsbewegung in die westlichen Industrieländer schon jetzt einen langen Schatten auf unsere Zukunft werfen. Diese Probleme könnten dann auch die so glücklich erreichte demokratische Ordnung in den fortgeschritteneren Industriestaaten ernstlich gefährden in Verbindung mit dem Problem der neuen Armut, welche neuerdings auch in Europa, inmitten der affluence, in der wir heute leben, zunehmend ihr häßliches Angesicht zeigt.

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Bibliotheks- und Landesgeschichte

Wilhelm Janssen

Bemerkungen zur Residenzbildung in Düsseldorf

Düsseldorf hat in der frühen Neuzeit seine typische Eigentümlichkeit und Existenzform als Residenzstadt gefunden1. Dieser Charakter hat die Stadt bis in das 18. Jahrhundert geprägt und danach in der Abwandlung zur Verwaltungsstadt seine zeitgemäße Fortsetzung bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus gefunden, bevor dann die industrielle Entwicklung ihr die - durchaus ergriffene - Chance gab, sich in eine industriell bestimmte, wirtschaftszentrale Großstadt zu verwandeln. Dabei hat sich manches aus der voraufgegangenen Epoche der Stadtgeschichte erhalten: unter anderem der Anspruch, ein Mittelpunkt europäischen Ranges in der Kultur- und Kunstwelt zu sein. Es hat allerdings seit der Gründung 1288 mehr als 300 Jahre gedauert, bis der Stadt der Aufstieg zur Residenzstadt gelungen ist, nicht weil sie sich in ihrem Bereich gegen aussichtsreiche Konkurrenz hätte durchsetzen müssen, sondern schlichtweg deshalb, weil damals erst die gewandelten Formen der Landesherrschaft, modern gesprochen: des "Staatsaufbaus und der "Staats"regierung, eine Residenzbildung möglich und notwendig machten. Das ist zu erläutern. I. Im Jahre 1595 forderten die herzoglichen Räte, die für den geistesund gemütskranken Herzog Johann Wilhelm von Jülich-Kleve-Berg die Regierung führten, die Stadt Düsseldorf auf, dem jungen Herrscher noch vor den übrigen Landständen zu huldigen, und begründeten diese Forderung damit, daß sich in Düsseldorf das fürstliche hofleger archivimi, cantzley, hofgericht, artillerie und Munition befände2. Hätten sie noch hinzugefügt, daß sich Johann Wilhelms Vater Wilhelm auch in der Düsseldorfer Marienkirche und nicht in den traditionellen Grabeskirchen seiner Vorfahren väterlicherseits, der Klever Stiftskirche bzw. dem Kartäuserkloster auf der Grave-Insel bei Wesel, oder mütterlicherseits,

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2

Zur Düsseldorfer Stadtgeschichte: H. Weidenhaupt (Hrsg.), Dusseldorf. Geschichte von den Ursprüngen bis ins 20. Jahrhundert, 4 Bde., Düsseldorf 1988/90. - Allgemein zur Frage der Residenzstadt neuerdings E. Ermen, Residenzen - Gegenstand und Aufgabe neuzeitlicher Städteforschung, in: K. Andermann (Hrsg.), Residenzen. Aspekte hauptstädtischer Zentralität in der frühen Neuzeit bis zum Ende der Monarchie (Oberrhein. Studien 10), Sigmaringen 1992, S. 189-198. E. Wisplinghoff, Vom Mittelalter bis zum Ende des Jülich-Klevischen Erbfolgestreits (ca. 700 - 1609), in: H. Weidenhaupt (Hrsg.), Düsseldorf (wie Anm. 1) I, Düsseldorf 1988, S. 197.

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dem Altenberger Dom, habe begraben lassen3, so wären so ziemlich alle Merkmale beisammen gewesen, die jiingsthin Klaus Neitmann bei seinem Versuch zusammengestellt hat, eine Antwort auf die Frage zu finden, was denn nun charakteristisch für eine spätmittelalterliche Residenz gewesen ist4. Es kann also kein Zweifel sein, daß am Ausgang des 16. Jahrhunderts Düsseldorf zur unbestrittenen Residenz-Hauptstadt des fünfgliedrigen Länderverbundes Jülich-Berg-Ravensberg-Kleve-Mark avanciert war5. Das ist um die Jahrhundertmitte noch keineswegs der Fall gewesen, setzt doch die Hofordnung von 1534 noch voraus, daß der leger [von Zeit zu Zeit] verruckenn wurcfi, der Hof also noch mobil war, wenngleich wohl nicht mehr in jener exzessiven Weise, wie sie noch für das 15. Jahrhundert bezeugt ist. So sind uns z.B. Reisepensum und Reisetempo des Herzogs Gerhard von Jülich-Berg (1437-1475) für das Jahr 1446 aus einer erhaltenen Rechnung über die Kosten seiner Hofhaltung bekannt7. Er hat in diesem Jahr mit seinem Hofstaat mindestens 15 Mal den Aufenthaltsort gewechselt: von Bensberg über Benrath, Burg an der Wupper, Angermund, Beyenburg, Blankenberg wiederum nach Benrath, Beyenburg und Blankenberg, dann noch einen Abstecher ins Jülicher Land nach Bergheim und Hambach zurück nach Bensberg, das im 15. Jahrhundert die bevorzugte Wohnburg der jülich-bergischen Herzöge gewesen ist. Wenn diese bei ihrem Zug von Burg zu Burg über das Land und durch die Wälder das Bedürfnis verspürten, städtische Atmosphäre zu erleben, dann nützte es wenig, wenn sie ihre eigenen kleinen Städtchen wie Lennep, Wipperfürth, Radevormwald, Kaster oder etwa Düsseldorf aufsuchten, dann mußten sie vielmehr nach Köln gehen, so wie es Herzog Gerhard im August 1446 für vier Tage getan hat. Noch sein Sohn Wilhelm IV. (1475-1511) ließ 1481 seine Hochzeit mit der Kurfürstentochter Sibylle von Brandenburg in Köln ausrichten8. Daß die Vermählung seines Urenkels Johann Wilhelm als hochrangiges gesellschaftliches Ereignis 1585 in Düsseldorf geradezu zelebriert worden ist9, macht den Aufstieg der neuen Residenzstadt in diesen 100 Jahren sinnfällig.

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H. P. Hilger, Grabdenkmäler der Häuser Jülich, Kleve, Berg, Mark und Ravensberg, in: Land im Mittelpunkt der Mächte. Die Herzogtümer Jülich-Kleve-Berg, 3Kleve 1985, S. 181-208. K. Neitmann, Was ist eine Residenz? Methodische Überlegungen zur Erforschung der spätmittelalterlichen Residenzbildung, in: P. Johanek (Hrsg.), Verträge und Forschungen zur Residenzfrage (Residenzforschung 1), Sigmaringen 1990, S. 11-43. Zu den "Vereinigten Herzogtümern" W. Janssen, Kleve-Mark-Jülich-Berg-Ravensberg 14001600, in: Land im Mittelpunkt (wie Anm. 3), S. 17-40. Th. J. Lacomblet, Archiv für die Geschichte des Niederrheins V, Düsseldorf 1865/66, S. 108. E. Wisplinghoff, Der beigische Heizogshof um die Mitte des 15. Jahrhunderts. Dargestellt nach der Hofhaltungsrechnung des Jahres 1446/47, in: Düsseldorfer Jahrbuch 57/58, 1980, S. 21-46. O. R. Redlich, Die Hochzeit des Herzogs Wilhelm IV. von Jülich-Berg mit der Markgräfin Sibilla von Brandenburg am 8. Juli 1481 in Köln, in: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins 37, 1904, S. 270-301. E. Rümmler, Die Düsseldorfer Hochzeit im Jahre 1585, in: Land im Mittelpunkt (wie Anm. 3), S. 167-180.

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Bemerkungen zur Residenzbildung in Düsseldorf

So unruhig und mobil uns die Hofhaltung des Herzogs Gerhard heute erscheinen mag, im Vergleich zu der hektischen Reiseherrschaft seines Nachbarn und Zeitgenossen, des Kölner Erzbischofs und Kurfürsten Dietrich von Moers (1414-1463), war sie von bemerkenswerter Schwerfälligkeit und Langsamkeit. Dietrich hat in den 13 Monaten zwischen dem 1. Februar 1421 und dem 28. Februar 1422 nicht weniger als 60 Mal (!) den Aufenthaltsort gewechselt10. Die Gründe für diese doch recht beschwerliche und unzuträgliche Art der Herrschaftsausübung dürften zum einen in praktisch-ökonomischen Erwägungen zu suchen sein, die auch noch im 16. Jahrhundert eine Rolle spielten11; denn angesichts der unterentwickelten "Infrastruktur" und des so primitiven wie kostspieligen Transportwesens der Zeit war es in der Regel günstiger, wenn der Verbraucher sich zu den Verbrauchsprodukten bewegte als umgekehrt. Fürst und Hofstaat aßen nach dem Selbstversorgungsprinzip die in einer Burg gesammelten Vorräte aus den herzoglichen Einnahmen der Umgebimg auf und zogen nach deren Verzehr zur nächsten Burg weiter. Rentabel war ein solches Verfahren allerdings nur solange, als die Begleitung des Fürsten relativ klein war. Für ein höfisches Gefolge von 130 Personen, das man für Herzog Gerhard errechnet hat, traf das schon nicht mehr zu. Zu seinem Unterhalt reichte eine primitive Vorratswirtschaft nicht mehr aus. Man mußte dazukaufen, d.h. auf den Markt gehen, und der war in verkehrsgünstig gelegenen Städten zweifellos am leistungsfähigsten. Die mit der Versorgung eines relativ großen "Hofes" gegebenen "logistischen" Probleme drängten zu einer städtischen Residenz. Wenn man trotzdem so lange an der "Reiseherrschaft" festhielt, gab es dafür einen anderen, in der Herrschaftsform und -struktur liegenden Grund. Solange der Fürst seine Regierung im Prinzip persönlich ausübte, konnte er nicht darauf verzichten, in allen Teilen seines Herrschaftsgebietes regelmäßig präsent, erreichbar und sichtbar zu sein. Herrschaft wurde weitgehend noch sinnenhaft-konkret, nicht abstrakt erlebt. Die Mobilität des Herrschers hatte insofern eine herrschaftslegitimierende Funktion. Das mußte sich ändern, sobald unter dem Druck der komplexer werdenden sozialen und politischen Verhältnisse die persönliche durch eine bürokratische Herrschaftsausübung abgelöst wurde. Die angeführte Hofordnung von 1534 markiert auf dem Weg von zahlreichen Aufenthaltsorten zu einer Residenz eine Zwischenstufe. Sie spricht von den gewoinlichen hofflegerenn12 und gibt damit zu erkennen, daß sich der ursprünglich weitgespannte Kreis der residenzfähigen Orte inzwischen per consuetudinem auf einige wenige Lokalitäten eingeengt hatte. Immerhin war um diese Zeit Düsseldorf noch nicht Residenz in jenem exklusiven Sinn, daß der fürstliche Hof hier und nirgends anders 10 Archiv für die Geschichte und Statistik des Vaterlandes I, Bonn 1785, S. 207-258. 11 Lacomblet, Archiv V (wie Anm. 6), S. 108, 110. 12 Ebenda S. 107.

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seinen dauernden Aufenthalt genommen hätte. Zu stark war noch der von der gewohnten Reiseherrschaft ausgehende Traditionsdruck. II. Bevor die Frage einer ortsfesten Stabilisierung der territorialen Zentralbehörden in der Stadt diskutiert wird, muß zunächst ins Bewußtsein gerufen werden, daß das Problem der Residenzbildung in einem Verbund prinzipiell gleichgewichtiger Territorien mit jeweils ausgeprägtem, durch die Landstände institutionell getragenen regionalen Sonderbewußtsein13 anders gelagert war als in relativ homogenen Territorien. Wenn die Räte 1595 von Archiv und Kanzlei sprechen, so ist zunächst zu klären, was sie damit konkret gemeint haben. Wahrscheinlich dachten sie an die neuen, mit dem Hof verbundenen Zentralbehörden für den gesamten fürstlichen Herrschaftsbereich14. Auf dieser Ebene waren Hofhalt und Landesregierung nicht voneinander zu trennen. Es ist allerdings nicht auszuschließen, daß sie lediglich die für das Doppelterritorium Jülich-Berg eingerichteten "Behörden" im Auge hatten, die wohl schon in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts mehr oder weniger fest in Düsseldorf angesiedelt waren, und denen entsprechende "Behörden" für Kleve-Mark mit dem Sitz in Kleve entsprachen. Diese "Zentralen" in Kleve und Düsseldorf waren das Ergebnis eines früheren Entwicklungsstadiums in der Genesis des "Gesamtstaates". Um 1500 übte der Fürst die Regierung im Grundsatz persönlich mit Hilfe seiner Räte aus, wobei er bei der Auswahl und der Zusammensetzung seines Rates teils nach Belieben verfahren konnte, teils sich einer landständischen Mitbestimmung beugen mußte. Ein solcher ständisch bestallter und kontrollierter Rat war 1486 in Kleve etabliert worden15. Er repräsentiert den Typus des beständigen Rates, beständig in doppeltem Sinne eines festumrissenen und kontinuierlich in gleicher Zusammensetzung arbeitenden Mitgliederkreises wie der Ortsfestigkeit. Als Ergebnis landständischer Forderungen und als zu weitgehend selbständiger Führung der Regierungsgeschäfte bestimmtes Organ bedurfte dieser Ratstyp der schriftlich fixierten vertraglichen Basis, in der die Kompetenzen umschrieben und die Geschäftsordnung geregelt waren. Der "beständige Rat", dem die Kanzlei als ausführendes Organ untergeordnet war, mußte dem Zweck seiner Einrichtung nach behördliche und bürokratische Strukturen annehmen, um funktionsfähig zu sein. Gemessen am sog. "Regiment" in Kleve war der herzogliche Rat in Jülich-Berg locker gefugt, ganz der 13 W. Janssen, Kleve-Mark-Jülich (wie Anm. 5), S. 27f. 14 Dazu und zum folgenden K. Sallmann, Organisation der Zentralverwaltung von Jülich-Berg im 16. Jh., in: Düsseldorfer Jahrbuch 17, 1902, S. 44f.; vor allem W. R. Schleidgen, Kanzleiwesen, in: Land im Mittelpunkt (wie Anm. 3), S. 99-108. 15 K. Schottmüller, Die Organisation der Centraiverwaltung in Cleve-Mark vor der brandenburgischen Besitzergreifung im Jahre 1609, Leipzig 1897, S. 84-88; dazu Th. Ilgen, Quellen zur inneren Geschichte der rheinischen Territorien (Publikationen der Gesellschaft für Rheini-

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Bemerkungen zur Residenzbildung in Düsseldorf

fürstlichen Sphäre zugeordnet und noch so mobil wie der Landesherr selbst. Auch die Kanzlei, mit 3 - 4 Leuten besetzt, war bis 1500 noch an den Hof gebunden, mit dem sie durchs Land zog16. Gemeinsam war beiden Räten und Kanzleien, denen in Kleve wie in Jülich-Berg, daß sich in der zweiten Hälfte des 15. Jh., wie in Kurköln schon einige Jahrzehnte vorher, der Kanzleichef unter dem Titel eines Kanzlers zum führenden Beamten der Zentralinstanz, zu einer Art Erstem Minister, entwickelt hatte und daß dieses Amt wie andere wichtige Ratspositionen mit Rechtsgelehrten besetzt war. Hier hatte Jülich-Berg gegen Ende des Jahrhunderts den Vorsprung Kleves, in dessen Rat bürgerliche Juristen seit Herzog Adolfs Zeiten in der ersten Hälfte des 15. Jh. eine erhebliche Rolle spielten, aufgeholt. Bei der Vereinigung von Kleve-Mark mit Jülich-Berg 1521 existierte also für jedes Doppelterritorium eine eigene Zentralverwaltung (Kanzler, Rat, Kanzlei und Landrentmeister als zentraler Kassenbeamter) durchaus unterschiedlichen Charakters. Die Aufgaben, die Herzog Johann ΠΙ. zu lösen hatte, waren hinsichtlich der Regierung in JülichBerg, Rat und Kanzlei bürokratisch zu verfestigen und zu organisieren, und schließlich den Versuch zu wagen, eine neue zentrale Regierungsund Verwaltungsinstanz für sein gesamtes Herrschaftsgebiet über den Regierungen der beiden Landesteile oder an ihrer Stelle zu etablieren. Der erste Anlauf zu einer solchen Verwaltungsorganisation oberhalb der Lokalebene ist 1534 gemacht worden17, ein Jahr nach der großen Kirchenordnung und Kirchenvisitation und im selben Jahr wie der Erlaß der Polizeiordnung18. Das verweist auf den inneren Zusammenhang dieser Maßnahmen. Damals wurde ein Hofrat eingerichtet, der aus den am Hof anwesenden Räten gebildet werden sollte, zu welcher Anwesenheit einer der beiden Kanzler und je einer der drei Hofmeister und Marschälle sowie jeweils noch mindestens zwei Räte aus Jülich-Berg und Kleve-Mark verpflichtet waren. Man hat mit Recht festgestellt, daß dieses Gremium weniger eine neue Institution als eine von den beiden Landesregierungen besetzte Ratsdeputation gewesen ist, in der die regionalen Sonderungen noch der zentralisierenden Funktion widerstrebten. Andererseits wies dieser in seiner personellen Zusammensetzung fluktuierende Hofrat mit täglichen festen Sitzungsterminen, sachlicher Aufteilung der Geschäfte auf die Räte, kollegialer Beschlußfassung und Führung von Sitzungsprotokollen durchaus behördliche Formen auf und stellte insofern mehr als ein lockeres Ensemble fürstlicher Ratgeber dar.

sehe Geschichtskunde 38). Herzogtum Kleve. I. Ämter und Gerichte. H2, Bonn 1923, ND Düsseldorf 1978, S. 86f. Nr. 93. 16 Schleidgen, Kanzleiwesen (wie Anm. 14), S. 104f. 17 Hofordnung von 1534: Lacomblet, Archiv V (wie Anm. 6), S. 103-116. 18 O. R. Redlich, Jtllich-Beigische Kirchenpolitik am Ausgang des Mittelalters und in der Reformationszeit I, Bonn 1907, ND 1986, Nr. 240, 244, 246, 249; Π, Bonn 1911, ND 1986, passim; J. I. Scotti, Sammlung der Gesetze und Verordnungen, welche in dem Herzogthum Cleve und in der Grafschaft Mark ... ergangen sind. I, Düsseldorf 1826, Nr. 39.

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Nachdem der Versuch gescheitert war, durch einen Verzicht auf die Besetzung des klevischen Kanzleramtes den jülich-bergischen Kanzler Johann Gogreve (1531-1553) zum Kanzler für alle Vereinigten Lande zu machen und in seiner Person neben der des Fürsten selbst die Regierungs- und Verwaltungsgeschäfte zu zentralisieren (also eine Art von Erstem Minister zu kreieren), kehrte man zum bereits 1534 in den Grundzügen entwickelten Modell des Verwaltungsaufbaus zurück. Man beließ die Regierungen in beiden Landesteilen, von denen die jülichbergische jetzt fest in Düsseldorf installiert wurde, als "bleibende" Räte und Kanzleien, richtete darüber aber am Hof einen "folgenden" Rat und eine "folgende" Kanzlei ein, in denen jene Geschäfte behandelt wurden, an denen der Fürst selbst beteiligt zu werden wünschte, die ohne ihn nicht entschieden werden konnten oder die einfach direkt an den Hof herangetragen wurden. Wie 1534 wurden die "folgenden Behörden" personell aus den "bleibenden" besetzt, und zwar in permanentem Wechsel und Austausch, was sicherlich eine Verlegenheitslösung war, doch dem Gesichtsfeld und Informationsstand der Ratsmitglieder zugute kam. Den "bleibenden" Räten und Kanzleien oblag die selbständige Erledigung der Routineangelegenheiten, der alltäglichen Verwaltungsarbeit. Durch eine innere Differenzierung nach Kompetenzbereichen suchten sie die dafür günstigste Strukturform zu gewinnen. Hinsichtlich des zweifellos komplizierten Behördenaufbaus begegnen wir in den sogenannten Vierlanden also verschiedenen Stufen der "Zentralität", die durch ihre jeweilige Abhängigkeit oder Unabhängigkeit vom Hofe bestimmt war, der seinerseits in einem solchen dynastisch vermittelten Territorienkomplex eine größere Rolle als sonst spielt, wenn es gilt, Residenzen und Hauptstädte zu ermitteln. Die im 16. Jahrhundert fest etablierten Ratskollegien und Kanzleien in Düsseldorf und Kleve in bezug auf den Hof und die dort befindlichen Räte und Kanzlisten als "Mittelbehörden" zu klassifizieren, würde nämlich nicht nur der Kompetenzverteilung zwischen diesen Gremien, sondern auch den inneren Bauprinzipien und dem politischen Selbstverständnis dieser monarchischen Länderunion widersprechen. Bei verfassungsstrukturell komplizierten Verhältnissen dieser Art genügt es deshalb nicht mehr, den Blick allein auf die lokale Verstetigung der Zentralbehörden zu richten, wie es noch Hans Patze als heuristisches Prinzip gefordert hatte19. Allerdings dachte Patze dabei auch nicht an die Situation des 16., des eigentlichen residenzbildenden Jahrhunderts, sondern ausschließlich an das Spätmittelalter, dem in Deutschland unter dieser Fragestellung doch kaum mehr als eine vorbereitende Bedeutung zukommt. Am Niederrhein jedenfalls stellte das 15. Jahrhundert noch eine Phase des Übergangs zwischen der mobilen und persönlichen Herrschaftsausübung durch den Landesherrn einerseits und der 19 H. Patze - G. Streich, Die landesherrlichen Residenzen im spätmittelalterlichen Deutschen Reich, in: Blätter filr deutsche Landesgeschichte 118, 1982, S. 209.

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Bemerkungen zur Residenzbildung in Düsseldorf

Ausbildung von immer fester werdenden Verwaltungsinstitutionen andererseits dar, die den Landesherrn bei der neuen Form der Herrschaft durch Verwaltung teils unterstützten, teils - je länger je mehr - ersetzten, und die durch ihr zunehmendes apparatives Gewicht Reisehäufigkeit und Reiseradius des Fürsten und seines Hofes allmählich einschränkten, mit der deutlichen Tendenz zur stabilitas loci. Die immer komplexer werdenden Aufgaben der Landesverwaltung erforderten eben zunehmend eine vorausplanende, kontinuierliche, differenzierte und koordinierte Behandlung der Geschäfte. Dies wiederum drängte nach ortsfesten Verwaltungsinstitutionen. Dieser Notwendigkeit mußte sich dann auch der Fürst mit seinem Hof anpassen, sofern er persönlichen Einfluß auf die Regierung auch in alltäglichen Angelegenheiten behalten und an der gewachsenen Einbindung der Landesverwaltung in den Hof festhalten wollte. III. Wie ist es dazu gekommen, daß diese Residenzbildung im Doppelherzogtum Jülich-Berg, zu dem später noch Kleve-Mark kommen sollte, auf Düsseldorf zugelaufen ist? Als diese Stadt 1288 gegründet wurde, sollte sie als fester Platz am Rhein die offene Westgrenze der Grafschaft Berg sichern und als Stützpunkt am Rhein zu gegebener Zeit einen Zugriff auf die Hauptverkehrsader Deutschlands ermöglichen (Zollerhebung!). Sie war als Großburg konzipiert und mit Wirtschaftsprivilegien zum Unterhalt der als Burgbesatzung fungierenden Bürgerschaft ausgestattet. Die geistliche Überhöhung dieser aus höchst weltlichen Motiven angelegten Stadt fiel mit der zögerlichen Umwandlung der Pfarrkirche St. Lambertus in ein Kollegiatsstift20 recht kümmerlich aus, denn mit sechs Kanoniker stellen kam man dabei auf nicht mehr als eine halbe "Normalbesetzung", für welche die Zwölferzahl der Apostel den Maßstab abgab. Hundert Jahre vegetierte die Stadt mit ihren 400 - 500 Einwohnern dahin, bis es dem 1380 zum Herzog und Reichsfürsten erhobenen Grafen Wilhelm I. (1360-1408) in den Sinn kam, die Standeserhöhung durch den Ausbau eines repräsentativen Herrschaftszentrums, einer Residenz, augenfällig zu machen. Daß er dabei ausgerechnet auf das an der Peripherie seines Herzogtums gelegene Düsseldorf verfiel, kaum nur mit der Faszination erklärt werden, die der Rhein als Tor und Öffnung zur weiten Welt ausübte. Herzog Wilhelm erweiterte die Stadt 1384 und 1394 in zwei Schüben nach Süden hin bis zur heutigen Wallstraße und schuf damit Platz für ungefähr 1.100 Einwohner innerhalb der Mau20 W. R. Schleidgen (Beaib.), Urkundenbuch des Stifts St. Lambeitus/St. Marien in Düsseldorf I (Publikationen der Gesellschaft f. Rheinische Geschichtskunde 66), Düsseldorf 1988, S. Vf.; Wisplinghoff, Vom Mittelalter (wie Anm. 2), S. 301ÍT.

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ern21. Das zeitübliche Konzept, die Neustadt als völlig eigenständige Kommune neben der Altestadt anzulegen, hat sich auf die Länge gesehen nicht durchsetzen können. Ebenso bedeutsam wie die Stadterweiterung war die Ausstattung des Lambertusstifts mit 10 weiteren Kanonikerstellen sowie einigen Stiftsdignitäten und seine Umformung in ein sogenanntes Residenzstift, das dazu bestimmt war, durch feierlichen Gottesdienst das höfische Leben geistlich-festlich zu erheben, das Gedenken der Herrscherfamilie zu zelebrieren und außerdem noch der Versorgung der leitenden fürstlichen Verwaltungsbeamten zu dienen22. Durch den Erwerb zahlreicher Reliquien für die Stiftskirche gelang es dem Herzog, die Stadt zu einem zeitweilig sehr besuchten Wallfahrtsort zu machen, was nicht nur der wirtschaftlichen Prosperität der Bürger zugute kam, sondern auch - salopp ausgedrückt - die zeitübliche Form der Werbung für die Stadt war, um sie europaweit bekannt zu machen. Mit der Anlage einer Stadtburg, in der für 1382 eine Kanzleistube nachgewiesen ist23, dokumentierte er seine Absicht, künftig in Düsseldorf Hof zu halten und von hier aus sein Land zu regieren. Ob er auch daran gedacht hat, über sein Lebensende hinaus in Düsseldorf zu bleiben, d.h. sich in der Stiftskirche begraben zu lassen, steht dahin. Die Stiftsüberlieferung behauptet, er läge in der dortigen Fürstengruft 24 , doch seine Grabplatte in dem Hauskloster und der Grablege der bergischen Fürsten, in Altenberg25, läßt Zweifel daran aufkommen. Vielleicht hängt dies auch mit Herzog Wilhelms schwerer Niederlage gegen Kleve-Mark 1397 vor den Mauern der Stadt Kleve zusammen, die seine Herrschaft wanken ließ, sein Land finanziell ruinierte und das Ende der Förderung Düsseldorfs als Residenzstadt bedeutete. Vielleicht läßt sich dieser Abbruch einer relativ frühen Residenzbildung auch als Verzicht auf einen "unzeitgemäßen" Versuch interpretieren, für dessen Gelingen damals noch die wesentlichen Voraussetzungen fehlten: eine von der Person des Fürsten losgelöste starke landesherrliche Gewalt und eine sie stützende hinlänglich differenziert organisierte moderne Zentralverwaltung. Beides war - wie der landständisch gestützte Aufstand der Söhne gegen den Vater26 und auch die primitiven Kanzlei- und Verwaltungstechniken belegen - um 1400 noch nicht gegeben. Dagegen konnte die Tatsache, daß Düsseldorf infolge der Vereinigung von Jülich und Berg 1423 aus seiner Randlage in eine zentrale Po-

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Wisplinghoff, Vom Mittelalter (wie Anm. 2), S. 179, 210. Ebenda S. 304-307; Schleidgen, Urkundenbuch St. Lambertos (wie Anm. 20), S. Vllf. Wisplinghoff, Vom Mittelalter (wie Anm. 2), S. 190. Schleidgen, Urkundenbuch St. Lambertos (wie Anm. 20), S. VIH. Hilger, Grabdenkmäler (wie Anm. 3), S. 199. K. Strauven, Die Gefangennahme Herzogs Wilhelm von Berg durch seinen Sohn ... am 28. November 1403, in: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins 15, 1879, S. 227-240.

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sition innerhalb des neuen Doppelherzogtums gerückt war, offenbar nicht ankommen. Wilhelms Nachfolger nahmen - wie gesehen - das herrscherliche Wanderleben wieder auf. Erst um die Wende zur Neuzeit knüpfte man dann - unter dem Druck der Verhältnisse - an die Bestrebungen des ersten bergischen Herzogs wieder an. Unter seinem Urenkel Herzog Wilhelm IV. (1475-1511) scheint sich zunächst die landesherrliche Verwaltung fest in Düsseldorf niedergelassen zu haben27, während der Fürst mit seinem Hof noch weiterhin regelmäßig den Aufenthaltsort wechselte. Voraussetzung dafür war, daß sich die zentralen landesherrlichen Verwaltungsinstitutionen - Rat, Kanzlei, Rentmeisterei - inzwischen behördlich so verfestigt hatten, daß sie den größten Teil der Geschäfte selbständig und eigenverantwortlich erledigen konnten. An dieser Situation - ortsfeste Verwaltung, mobiler Hof - hat sich auch unter den Herzögen aus dem Hause Kleve-Mark (seit 1511) zunächst nichts geändert, obwohl eine solche Trennung zu Unzuträglichkeiten führte, solange der Fürst Wert darauf legte, nicht ganz von der täglichen Regierungsarbeit ausgeschlossen zu sein. Am Ende des 16. Jahrhunderts hat man dann die Konsequenzen gezogen und Hof sowie Regierung in Düsseldorf zusammengeführt. Diese Entwicklung ist zweifellos dadurch vorangetrieben worden, daß Herzog Wilhelm der Reiche ( + 1592) in den letzten Regierungsjahren körperlich nahezu unbeweglich und geistig schwer behindert, allenfalls noch sporadisch regierungsfähig war, während sein dem Irrsinn verfallener Sohn für jegliche Regierungstätigkeit ausfiel und unter Kuratel stand28. Die letzten 20 Jahre seiner Existenz stand der Länderverbund unter einem Räteregiment. Diese Regierungsform wie der Zustand der "regierenden" Fürsten verlangten nach einer festen Residenz. Dabei sprachen für Düsseldorf und gegen Kleve, das als Konkurrent hätte auftreten können, die bessere Verkehrsanbindung am Rhein, die relativ günstige Lage inmitten des Territorienverbundes Jülich-Kleve-Berg-Mark, das für die Unterbringung von Hofstaat und Verwaltungspersonal benötigte ausgedehnte Stadtareal und die mit 3.500 - 3.700 Einwohnern im städtischen Kernbereich größere Bevölkerungszahl sowie die stärkere Wirtschaftskraft, die sich darin dokumentierte, daß Düsseldorf 1487 zum größten Steuerzahler unter den herzoglichen Städten aufgerückt und 1595 der Herzog bei 70 Düsseldorfer Bürgern mit 33.000 Talern verschuldet war 29 . Es waren - nebenbei bemerkt - die gleichen Gründe, die zur selben Zeit das am Rhein gelegene Bonn als kurkölnische "Residenz- und

27 Schleidgen, Kanzleiwesen (wie Anm. 14), S. 105. 28 Zu den Herzögen Wilhelm V. (1539-1592) und Johann Wilhelm (1592-1609) vgl. G. Hövelmann, in: Land im Mittelpunkt (wie Anm. 3), S. 393, 431f. 2 9 Wisplinghoff, Vom Mittelalter (wie Anm. 2), S. 211, 216.

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WILHELM JANSSEN

Hauptstadt" gegen das zunächst favorisierte Brühl obsiegen ließen.30 Düsseldorf begann schon bald, sich seines Ranges zu rühmen, und nannte sich selbst "Residenz- und Hauptstadt", wäs 1638 die jülich-bergischen Stände zu einem Protest veranlaßte, in dem sie der Stadt die Selbstbezeichnung "Residenzstadt" verbieten lassen und nur den Titel "Hauptstadt" zubilligen wollten31, der der Stadt noch heute wert und teuer ist. Damals aber meinte "Hauptstadt" im Rahmen des landständischen Systems die landtagsfähige Stadt im Gegensatz zur landtagsunfähigen "Unterstadt"; Hauptstädte in diesem Sinne gab es in Jülich und Berg je vier. Residenzstadt aber war und blieb Düsseldorf allein, was man ihr zwar neiden, aber nicht mehr streitig machen konnte.

30 E. Ennen, in: D. Höroldt / M. van Rey (Hrsg.), Geschichte der Stadt Bonn. ΠΙ: Bonn als kurkölnische Haupt- und Residenzstadt (1597-1794), Bonn 1989, S. 20f. 31 K. Müller, Unter pfalz-neuburgischer und pfalz-bayerischer Herrschaft (1614-1806), in: Weidenhaupt (Hrsg.), Düsseldorf (wie Anm. 1) H, Düsseldorf 1988, S. 16.

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Gert Kaiser

Festung und Forschungszentrum Jülicher Spiegelungen Für die Festschrift Günter Gattermann und hoffentlich zu seinen Ehren ist hier ein vor wenigen Wochen gehaltener Vortrag1 in Aufsatzform umgearbeitet, der das aus doppeltem Grund womöglich nicht verträgt. Zum einen, weil sich der Vortrag an eine heiter-sympathetisch zuhörende Festversammlung richtete, und das ist bekanntlich etwas anderes als der kritische Adressat und das Publikum einer Festschrift. Zum andern und zuvörderst aber, weil der Vortrag ein etwas heikles intellektuelles Experiment war, angestoßen durch allerlei lose Gespräche mit Joachim Treusch, dem Vorstandsvorsitzenden des Forschungszentrums Jülich2 und Ernst Pöppel, Vorstandsmitglied ebenda: nämlich Ähnlichkeiten nachzuspüren zwischen zwei auf den ersten Blick völlig inkommensurablen "Einrichtungen" - der Festung Jülich und dem Forschungszentrum Jülich. Anlaß war das Jülicher Pasqualini-Jahr 1993, wodurch das 500. Geburtsjahr von Alessandro Pasqualini, des Erbauers von Stadt und Festung, gefeiert wurde - und die Neigung der KFA Jülich, sich in irgendeiner Weise daran zu beteiligen. Aus dem halben Scherz wurde unter der Hand mehr: In dem Augenblick nämlich, als sich einige Ähnlichkeiten herausstellten, die nicht mehr leichthin als Zufall abzutun waren, die aber - weil durch keinerlei Kausalität verknüpft - nach irgendeiner Erklärungs- und Verstehenstheorie verlangten. Es wird sich zeigen, ob der geneigte Leser diesen Erklärungsnotstand ebenfalls verspürt. Zur Einführung sind einige Bemerkungen zum Thema Festungsbau und zur Festung Jülich vonnöten. Der europäische Ruhm dieser Festung gründet bekanntlich in dem Umstand, daß dieser Ort einer der ersten im mittleren und nördlichen Europa war und einer der wenigen blieb, der eine große europäische Architekturbewegung grandios verwirklichte: die Kombination nämlich von Renaissance-Festungsbau und Idealstadt. So hat das 1993 gefeierte Gedenken an den großen Alessandro Pasqualini3 in Jülich seinen gemäßen Ort.

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Festvoitrag zum Jahresempfang 1993 des Forschungszentrums Jülich am 29.10.1993 in der Zitadelle Jülich Bis vor vier Jahren "Kemforschungsanlage Jülich GmbH" geheißen, seither "Forschungszentrum Jülich GmbH". Gleichwohl wurde die alte und international eingeschliffene Abkürzung "KFA" beibehalten Eva Brües, Die Baumeisterfamilie Pasqualini - Stand der Forschung, in: Land im Mittelpunkt der Mächte. Die Herzogtümer Jülich, Kleve, Berg. Ausstellungskatalog des Städtischen Museums Haus Koekkoek Kleve und des Stadtmuseums Düsseldorf, Kleve 1984, S. 297-304

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GERT KAISER

Die Kunst des Festungsbaus ist, wie man weiß, die architektonische Antwort auf einen technologischen Sprung - die Entwicklung der Feuerwaffen, besonders dann der Artillerie im Laufe des 15. Jahrhunderts. Auch die stärksten Stadt- oder Burgmauern halten der Feuerkraft der Geschütze nicht mehr stand. Vor allem in Italien kommt es zu einer fieberhaften Welle von Festungsbauten. Denn Italien hat ein traumatisches Erlebnis hinter sich: der französische Karl VÜI. nimmt 1494 auf einem einzigen rauschhaften Feldzug die ganze noch mittelalterliche Festungslandschaft bis nach Unteritalien ein. Unter den Einschlägen seiner neuen und weitreichenden Artillerie bersten die stolz-aufragenden, aber eher dünnen Befestigungsmauern der Städte und Burgen. Das Mittelalter ist zu Ende. Und es entwickelt sich eine ganz neue Art der Befestigung. Die Fortifikationen, wie sie jetzt heißen, werden niedriger, geduckter, sorgsam gestaffelt, mit schwerbewaffneten Schanzen, mit freiem Schußfeld für die eigenen Geschütze, teils runde, teils schiffsbugartige Bastionen - und sogleich hat die neue Architektur nicht nur einen militärischen Zweck, sondern auch einen künstlerischen Anspruch. Das Sternendesign der Festungen wird durchaus als kosmologische Metapher verstanden, auch wenn es sich ganz praktischen Anforderungen dankt: der Frage nämlich, wie man das seitliche Feuer der Artillerie-Schießscharten ausnutzen kann - und zwar so, daß sich keine toten Winkel bilden, in denen sich der Angreifer bergen könnte. In einer Arbeit über "Renaissance Fortification" stellt der Nestor der englischen Kunstgeschichte, Sir John Rigby Haie, angesichts der machtvollen italienischen Festungsbauten des 15. und 16. Jahrhunderts die Frage: "They are important, but are they, can they be, beautiful? Are they a proper concern for a historian of art, or should they be left to that perhaps drabber figure, the chronicler of engineering?"4 Natürlich kommt er zum Schluß, daß Festungen Kunstwerke sind, um sie für den Kunsthistoriker zu retten. Der "chronicler of engineering" ist dabei allenfalls für Hilfsdienste gut. Das ist das hochgemute Urteil einer Kunstgeschichte, die gar nicht merkt, daß sie sich an einer falschen Frage aufhält. Die Frage stellt sich so nicht, ob das hohe Kunst oder nur mindere Technik sei. Immerhin haben Bruneleschi, Giotto, Vasari, Leonardo Fortifikationen geplant und gebaut. Das Auseinanderfallen von Kunst und Technik ist eine Erfahrung der Neuzeit. Für das Mittelalter und erst recht für die Renaissance gilt, was Jean Mignot von der Mailänder Dombauhütte 1399 so formulierte: "Ars sine scientia nihil est" - Kunst ohne Wissenschaft ist nichts. Die Balance von Numerus, Pondus und Mensura, von Zahl, Gewicht und Maß ist nicht nur die

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J. R. Haie, Renaissance Fortification, Art or Engineering, Norwich 1977

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Kunsttheorie der Architektur, sondern auch der Literatur, der Musik und der bildenden Kunst.5 In Deutschland hat sogar Albrecht Dürer in seinen späten Lebensjahren (1527) ein Traktat mit dem Titel "Etliche underricht / zu befestigung der Stett / Schlosz / und flecken" verfaßt, eine Arbeit, die aber offenbar einflußlos blieb - die Italiener hatten auch auf diesem Feld die Nase vorn. Um so folgenreicher wurde eine Arbeit des Straßburger Festungsbaumeisters Daniel Specklin, nämlich seine "Architectura von Festungen", die 1589 erschien, also rund vierzig Jahre nach dem Beginn Pasqualinis in Jülich. Specklin ist angetan von der Jülicher Anlage. Er bespricht sie ausführlich in seiner Arbeit. Indessen wurmt ihn offenbar, daß eine italienische Architektenfamilie Stadt und Festung gebaut hat, sodaß er ihren Namen unterschlägt und nörglerisch die möglichen Schwachstellen der Festung sucht und aufschreibt. Seine kritischen Notate werden zwanzig Jahre später zu einem Akt des Hochverrats, wenn die Festung genau nach seiner Anleitung eingenommen wird. Die Festung Jülich, deren Architektur in Hartwig Neumann6 und Jürgen Eberhardt7 kongeniale Erforscher und Kommentatoren gefunden und die in der schönen Pasqualini-Ausstellung des Stadtgeschichtlichen Museums8 eine weithin sichtbare Würdigung erfahren hat, sie ist ein genauer Beleg, wie sehr sich Architektur und Bauwesen mit den Wissenschaften und den Künsten verschränken. Aus hoher Entfernung, die freilich den Menschen vorenthalten blieb, war Jülich ein prächtiger Stern. Und beim Näherkommen hatte der fünfeackige Stern eine viereckige Krone, die Zitadelle. Eine vollkommene Verwirklichung eines Einfalls der schönsten aller Künste, der Geometrie, die zugleich aber das elementare Regelbuch der Architekten war. Das Fünfeck ist schon der Antike ein Symbol des Menschen. In der Tradition von Vitruv, des antiken Gründervaters der Architektur, stehen jene häufigen Darstellungen anthropomorpher Geometrie: der Mensch mit den ausgestreckten Armen und Beinen. Das Ende der vier Extremitäten bildet bisweilen ein Quadrat, so bei Leonardo da Vinci, oft auch zusammen mit der Kopfspitze ein Fünfeck, ein Pentagramm, nach dem auch der Grundriß der Festung Jülich entworfen und gebaut ist - und man deshalb auch vom "Jülicher Pentagon" spricht. Das ist kosmisches Denken in der Renaissance: das Universum ist im Menschen und seiner Lebenswelt vielfältig gespiegelt - und die Schönheit und Stimmigkeit der Geometrie verbürgt die Spiegelung. 5 6 7 8

Dazu unter anderen Hubertus Günther (Hrsg.), Deutsche Architekturtheorie zwischen Gotik und Renaissance, Darmstadt 1988 Besonders eindrucksvoll: Hartwig Neumann, Stadt und Festung Jülich auf bildlichen Darstellungen, Bonn 1991 Jürgen Eberhardt, Jülich, Idealstadtanlage der Renaissance. Die Planungen Alessandro Pasqualinis und ihre Verwirklichung, Köln 1978 (= Landeskonservator Rheinland, Arbeitsheft 25) Vgl. auch den informativen Katalog von Marceli Perse, Alessandro Pasqualini - die italienische Renaissance am Niederrhein, Jülich 1993

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GERT KAISER

Militärisch ist der Festungsbau vom 16. bis ins 19. Jahrhundert ein gigantischer Wettlauf des Hasen mit dem Igel - zum alleinigen Nutzen der Architekten und der Bauindustrie. Kein Festungsbau, so modern und vorausschauend er auch konzipiert war, der nach seiner Fertigstellung noch wirklich gegen die inzwischen rasant weiterentwickelte Artillerie oder im 19. und 20. Jh. gegen die neuen militärischen Taktiken - geholfen hätte. Ein Szenario der Evolution. Hinzu kommt, daß Festungen auf fast magische Weise den Krieg anziehen. Als Festungen sind sie zwanghafte Herausforderungen für jeden Feldherrn. Alle Festungen und Mauern, ob sie nun die Große Chinesische sind oder die "Maginotlinie" oder der "Atlantikwall" - sie sind immer zuerst symbolische Provokationen weit mehr als militärische - und daher wird ihnen niemals ausgewichen. Und so war es wohl noch die symbolische Kraft der Zitadelle, die den militärisch völlig sinnlosen Bombenangriff im November 1944 auf Jülich provozierte und die Churchill bewog, sich als Feldherr vor der Zitadelle fotografieren zu lassen. *

Ich notiere im folgenden einige der angekündigten Auffälligkeiten, die sich ergeben, wenn man den Blick zwischen den beiden einzigen Jülicher Großereignissen von europäischem Rang hin und her schweifen läßt: zwischen dem Bau der barocken Idealstadt Jülich und dem Bau der Kernforschungsanlage Jülich, dem heutigen Forschungszentrum Jülich. Zu Auffälligkeiten werden die Beobachtungen auch nur deshalb, weil sie einander auf dem engen Raum eines niederrheinischen Provinzstädtchens begegnen. Ohne diese örtliche Bezogenheit wären sie keiner Erwähnung wert. Ein wirkliches Wagnis aber wird unser Unternehmen, wenn man sich anschickt, diese Auffälligkeiten deuten zu wollen. Folgt man den hergebrachten Grundsätzen der Deutungskunst, muß man sogleich die Waffen strecken. Zu weit liegen die Phänomene zeitlich auseinander, zu unscharf ist das jeweilige tertium comparationis. Anderseits: wenn hier wie dort die Fünfzahl eine tragende Rolle spielt, wenn deutliche Beziehungen zwischen dem Geist einer Idealstadt und der Idee einer Großforschungseinrichtung sich herstellen - um nur zwei der Auffälligkeiten zu nennen -, wie soll man das "verstehen"? Man könnte am Ende auf höchst gewagte Gedanken einer historischen Selbstähnlichkeit verfallen. So wie sich dem mathematisch geschulten Betrachter in der belebten und unbelebten Natur - einem Baum, einem Blumenkohl, aber auch dem Verlauf einer Küstenlinie - Strukturen der genauen Wiederkehr und Selbstähnlichkeit offenbaren,9 so sollten auch in der Geschichte derartige Strukturen sich finden? Das Prinzip also, das in dem Apfelmännchen der Mandelbrot-Menge sein anschauliches Sinnbild gefunden hat, es solle auch in der chaotischen Geschichte walten? 9

Die beste Einführung, die ich kenne, stammt von Heinz-Otto Peitgen, Bausteine des Chaos: Fra letale, Berlin 1992

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Festung und Forschungszentrum

Oder - ein wenig tiefer gehängt - es wäre eine Struktur unserer Wahrnehmung des komplexen Lebens, also ein Feld für Konstruktivisten und Hirnforscher? Hoffentlich ist es kein zu schweres theoretisches Gepäck für die leichte Wanderung, die wir vor uns haben. Erwähnt wurde die tragende Rolle der Fünfzahl. Für die Stadtbefestigung ist sie offenkundig durch ihren Grundriß, das sogenannte "Jülicher Pentagon" - zugleich ein kosmisches Symbol, das als sogenanntes astrologisches Diagrammm eine Beziehung zwischen Mensch und Universum spiegelt10 - für das Forschungszentrum hat sie sich erst in den letzten Jahren aus einem komplexeren Aggregatzustand herausentwickelt, freilich mit einer zwingenden Logik, oder sollen wir sagen: Natürlichkeit? Die neue Forschungs-Struktur der KFA bündelt die vielfältigen Aktivitäten und Vorhaben zu fünf großen Forschungsschwerpunkten: Lebenswissenschaften, Umweltvorsorgeforschung, Energietechnik, Informationstechnik sowie Struktur der Materie und Materialforschung11 und der Mensch steht im Mittelpunkt, so heißt es in der Selbstdarstellung und so ist es graphisch sehr glücklich dargestellt. Das ist die Pentagramm-Struktur der heutigen KFA, das sind die fünf großen Forschungsbastionen. Natürlich hat keiner der Re-Organisatoren der KFA-Struktur an das Jülicher Pentagon gedacht. Sie ergab sich einfach - und wurde wohl erst vom nachträglichen Blick wahrgenommen. Aber sie ist offenkundig. Im übrigen: das Pentagramm hat alte symbolische Kräfte: in der Antike war es das Zeichen für Gesundheit und späterhin, seit dem Mittelalter, ist es extrem nützlich zur Abwehr oder Beherrschung von Dämonen. Auch Faust entdeckt erstaunt, daß sich damit der Dämon bändigen läßt - und muß am Ende diese Illusion teuer bezahlen. Die Festung Jülich ist eine Antwort des 16. Jahrhunderts auf einen technologischen Quantensprung, nämlich die Erfindung der Explosivstoffe und ihrer militärischen Anwendung. Und ebenso ist die KFA der fünfziger Jahre eine Antwort gewesen auf einen zunächst nur militärisch genutzten Quantensprung: die Entdeckung der Kernspaltung. So wie der Festungsbau eine Leittechnologie seiner Zeit ist, in der zahlreiche Wissenschaften und Künste integriert sind zu dem Zweck, den Menschen Schirm zu bieten gegen eine neue Fähigkeit des Menschen zur Selbstzerstörung - so ist die Kerntechnik als große Leittechnologie begrüßt und gesehen worden, eine Leittechnologie zu dem Zweck,

10 Henricus Cornelius Agrippa, De occulta philosophia, 1533; gefunden bei Haie, a.a.O., S. 48 11 Jahresbericht 1993, S. 79

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die menschliche Fähigkeit zur globalen Selbstzerstörung umzulenken in eine Produktivkraft des Friedens und des bürgerlichen Wohlstands. Die Spiegelung macht noch nachdenklicher, wenn wir sehen, daß beide so verheißungsvollen Leittechnologien, der Festungsbau und die Kerntechnik, in kürzester Zeit zu einer Art Saurier-Technologie wurden oder doch zu werden drohen. Der Festungsbau nach dem Grundsatz: immer dicker, immer größer, immer teurer bis hin zu den FestungsMonstrositäten noch unseres Jahrhunderts. Und die Kerntechnik, die, mit einem Milliardenaufwand gefördert und betrieben, nun ziemlich nutzlos in der niederrheinischen Landschaft steht. Daß die KFA dabei auf die intelligentere Variante gesetzt hat, muß festgehalten werden und eben deshalb ist wohl das letzte Wort über Nutzen oder Nutzlosigkeit noch nicht gesprochen. Aber weiter in unserem Motiv: Ist es nicht eine seltsame Spiegelung, daß eine Groß-Forschungseinrichtung, die die Gesetzmäßigkeiten der Materie in mathematisch-exakter Weise zu ergründen und zu nützlicher Verwendung zu bringen sucht, sich ausgerechnet in einer ländlich-abgelegenen Stadt wiederfindet, die als sogenannte Idealstadt konzipiert und gebaut ist - und das heißt, so die herrschende Definition, "in einer Stadt, die in idealer Weise und gleichsam mathematisch-exakter, gesetzmäßiger Form die materiellen und ideellen Wünsche"12 ihrer Zeit erfüllen soll? Wer diesen merkwürdigen Zusammenhang zu sehen bereit ist, den wird nicht (oder eben sehr) wundern, daß das zweite große Kernforschungszentrum Deutschlands in Karlsruhe gebaut wurde - ebenfalls einer in "mathematisch-gesetzmäßiger Form" errichteten Idealstadt. Und gewiß ist: keiner der Förderer, Planer und Erbauer der beiden Kernforschungsanlagen hat diesen Zusammenhang je gesehen oder erwogen. Daß ein derartiges Zusammentreffen von Kernforschungsanlage und Idealstadt zur selben Zeit gleich zweimal - und nur dort - geschieht, ist so extrem unwahrscheinlich, daß sich der Gedanke einer historischen Prädestination herandrängt. Und dann, ja dann wären auch die übrigen Spiegelungen von tieferer Bedeutung. Einer Idealstadt liegt stets eine hochgemute Gesellschaftsutopie zugrunde, eine Utopie, die meist in rabiater Weise verwirklicht wird. In Jülich ging das wohl so weit, daß die mittelalterliche Stadt - in einer Art neronischer Nachfolge - Mitte des 16. Jahrhunderts von ihrem herzoglichen Herren in Brand gesetzt und völlig zerstört wurde, um die neue Utopie möglichst rein erstehen zu lassen. Die Gesellschaftsutopie der fünfziger und sechziger Jahre unseres Jahrhunderts war ebenfalls groß, pragmatisch und weltbeglückend zu12 Georg Münter, Idealstädte. Ihre Geschichte vom 15.-17. Jahrhundert, Berlin 1957, S. 7; zitiert bei Hanno-Walter Kruft, Städte in Utopia, Die Idealstadt vom 15. bis zum 18. Jahrhundert zwischen Staatsutopie und Wirklichkeit, München 1989, S. 10

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gleich: jene Jahre sind fasziniert von der großen Energie-*Utopie. Will heißen: Die Entwicklung unserer Welt, die Verwandlung von Armut in globalen Wohlstand - das war eine Frage der unerschöpflichen und der billigen Energie. So waren die großen Alten der Energie-Debatte zugleich Visionäre. Und die glühende Überzeugung, die Menschen in eine bessere Zukunft zu führen - und sei es mit der Entschlossenheit derer, die es besser wissen - diese Überzeugung ist den Vätern der KFA ebenso eigen wie dem Erbauer von Jülich. Um noch einen Augenblick dem Motiv der Utopie nachzuhängen, das Idealstadt wie Forschungszentrum prägt. Die KFA ist - wie alle angewandte Forschung - viel radikaler der Utopie verschrieben als sie selber weiß oder wenigstens zugibt. Denn gerade Angewandte Forschung sucht die Möglichkeit von Wirklichkeit - so wie die Utopie die konkrete Möglichkeit von Wirklichkeit ist. Ganz anders die Grundlagenforschung, die sich, ihrem Selbstverständnis nach, der prinzipiell folgenfreien Erkenntnis des Seienden und nicht des Möglichen verschreibt. So ist die Verwirklichung zweier großer Zukunftsvisionen: die ideale Stadt und, wenn man so sagen darf: die ideale Energie - so sind diese Visionen zweimal an den Wiederaufstieg eben dieses Städtchens Jülich gebunden - und jedesmal, nachdem es in rauchendem Schutt lag: in den fünfziger Jahren des sechzehnten Jahrhunderts ebenso wie in denen des zwanzigsten. Seit die Gründungsgeschichte der KFA nun in der gehaltvollen und schönen Arbeit von Bernd Rusinek wenigstens zum Teil vorliegt13, ist es ein leichtes, den oben angeführten Beobachtungen von "Spiegelungen" eine Fülle weiterer hinzuzufügen. Vor allem, wenn man den Blick hin- und hergehen läßt zwischen den Pasqualinis und dem Jülicher Herzog Wilhelm dem Reichen auf der einen Seite und den politischen und administrativen Akteuren der KFA-Gründung auf der anderen Seite, werden die Entsprechungen zahlreich und vielfältig. Aber es ist paradox: sie werden nicht überzeugender. Im Gegenteil: Die Fülle der trivialen Ähnlichkeiten tendiert dazu, die nichttrivialen zu entwerten. Offenbar gehört zum Begriff der Ähnlichkeit und Kommensurabilität - ob in Historie oder Mathematik -, daß die Sachverhalte eine hinreichend komplexe Struktur haben müssen, um mit Aussicht auf Einsicht aufeinander bezogen werden zu dürfen.

13 noch im Manuskript, das ich einsehen durfte

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Rolf Gilbert

Bibliotheca rediviva Ein Quellenfund zur jülich-bergischen Rechtsgeschichte

I. Die Vorgeschichte Am 19. Februar 1623 heiratet im niederrheinischen Brüggen Johann Friedrich von Schaesberg (21.12.1598 - 17.02.1671) die noch nicht 15jährige Ferdinanda von Wachtendonk. Mit dieser Eheschließung faßt ein prominentes Adelsgeschlecht aus dem maasländischen Raum Fuß in der obergeldrischen Ritterschaft. Ferdinanda von Wachtendonk entstammt nämlich einer alten geldrischen Adelsfamilie und bringt als Erbtochter das adlige Haus und Gut Krickenbeck mit sechs Höfen sowie Haus Broek bei Wankum mit in die Ehe.1 Durch die Heirat entstehen so für das Haus Schaesberg nicht nur politisch bedeutsame verwandtschaftliche Bindungen, auch der beträchtliche geldrische Besitz mit der wehrhaften Wasserburg Krickenbeck als Zentrum verstärkt sein politisches Gewicht und macht es landtagsfähig für die geldrische Ständevertretung in Roermond. Mehr als 360 Jahre prägen von nun an die Schaesbergs die wechselvolle Geschichte von Schloß Krickenbeck. Geographisch und geopolitisch markiert der Ort Krickenbeck vom 17. bis zum 19. Jahrhundert einen Schnittpunkt territorialer Interessen von Frankreich, Spanien, den Niederlanden und den deutschen Mächten, später vor allem Preußen. Nahe Venlo gelegen, in der Nachbarschaft umgeben von alten Städten wie Goch, Geldern, Wachtendonk und Straelen spiegeln die Familiengeschichte und die Bauhistorie des Schlosses im Kleinen die großen Linien des Werdens Europas wider.2 Krickenbeck, urkundlich erstmals 1104 als Name eines Dynastiegeschlechts erwähnt, Mitte des 13. Jahrhunderts am Platz des heutigen Schlosses als spätmittelalterliche Burg bezeugt, hat sich durch das Auf und Nieder von mehr als 800 Jahren Baugeschichte als außerordentlich "vitales" (Gert Kaiser) Monument erwiesen. Brände und Zerstörungen, Umbauten und Wiederaufbauten, architektonische und fimktionale Neukonzeption zeigen den Bau in immer neuen Formen. So stammt denn auch die heutige Gestalt des Schlosses aus jüngerer Zeit: nach einem

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Ferdinandas verstorbener Vater war Arnold von Wachtendonk, kurfürstlich kölnischer Rat und Amtmann von Kempen. Vgl. auch Leo Peters, Geschichte des Geschlechtes von Schaesberg, 2. Auflage, Nettetal 1990, S. 16f., S. 87f. Die enge Verknüpfung der sieben Stationen der Bauhistorie mit der familiengeschichtlichen Entwicklung skizziert Gert Kaiser, Schloß Krickenbeck - Biographie eines niederrheinischen Schlosses, Düsseldorf 1991.

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ROLF GILBERT

großen Brand läßt Heinrich Graf von Schaesberg Krickenbeck im Stil der Neo-Renaissance in den Jahren 1902 - 1904 neu wiedererrichten. Das zwanzigste Jahrhundert bringt zwei weitere Zaesuren: nach dem 2. Weltkrieg nutzt die gräfliche Familie das Schloß nicht mehr selber, schließlich steht es seit 1969 leer und verfällt baulich über einen Zeitraum von fast zwanzig Jahren.3 Der "rapide und erschreckende Anstieg der Verfallsgeschwindigkeit"4 führt dazu, daß das Schloß von Bauexperten und den Konservatoren des Rheinischen Amtes für Denkmalpflege schon beinahe aufgegeben und statt als "Baudenkmal" als "Ruine" rubriziert wird. Gleichsam in letzter Minute wird mit der Westdeutschen Landesbank ein neuer Nutzer gefunden. Die in Düsseldorf domizilierende Großbank hat Krickenbeck als Standort ihrer zukünftigen Akademie und als Zentrum der betrieblichen Bildungsarbeit ausgewählt. 1989 erwirbt die Bank das Schloß von der Familie des Grafen Schaesberg und restauriert es in einer Bauzeit von 2 1/4 Jahren in enger Zusammenarbeit mit dem Landeskonservator in Nordrhein-Westfalen. In einer selten glücklichen Symbiose gelingt es dabei, Ziele und Ideale des Denkmalschutzes und ftinktionale Forderungen an den Betrieb einer Bildungsstätte zu vereinen. 5 Beinahe idealtypisch verfolgt die Konzeption der Restaurierung und Rekonstruktion eines alten zerstörten Adelssitzes einen ganzheitlichen Ansatz: die noch erhaltene Bausubstanz wird sorgsam geschützt und konserviert, das Verfallene detailgetreu wieder aufgebaut. Parallel zum baulichen Prozeß verläuft die behutsame Gestaltung der Räume mit Dekor, Kunst und Mobiliar. Ein mutiger Schritt ist dabei die Entscheidung für die Wiedereinrichtung einer Schloßbibliothek. Sie zeugt nicht zuletzt vom gesamtheitlichen Denken, das den Wiederaufbau begleitet. Legitimiert ist sie auch durch die Tatsache, daß im alten Krickenbecker Schloß zweifelsfrei eine klassische Adelsbibliothek existierte.6 3 4 5

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Harald Herzog, Schloß Krickenbeck, in: Denkmalpflege im Rheinland, 1988, S. 1-8; ders., Schloß Krickenbeck - Ende und Neuanfang, in: Denkmalpflege im Rheinland, 1989, S. 23-26. Ulrich Stevens, Verfall und Wiederbelebung aus Sicht des Denkmalschutzes, in: Schloß Krickenbeck, 2. Auflage, Düsseldorf 1992, S. 40. Otto Lindner, Helmut Roettig, Uwe Klasing, Symbiose zwischen Restaurierung und moderner Nutzung, in: Schloß Krickenbeck, 2. Auflage, Düsseldorf 1992, S. 43-54 ausführlich zu den besonderen bautechnischen und restauratorischen Schwierigkeiten aus Sicht der Architekten. Vgl. auch Rolf Gilbert, Schloß Krickenbeck 1987 - 1992, Fünf Jahre einer vielhundertjährigen Historie, in: Heimatbuch des Kreises Viersen 44, Viersen 1992, S. 131-140. Emst Tode, Chronik der Retersbeck-Schaesberg, Görlitz 1918, S. 55, spricht von der "Krickenbeeker Bibliothek". Peten, a.a.O., S. 84, vermutet, daß "Tode die Bibliothek des Schlosses Krickenbeck zur Verfügung stand. " Tode, a.a.O., S. 63 "in der Bibliothek zu Krickenbeck befindet sich ein alter Foliant M. Hieronym Hennings, Theatrum Genealogicum, Magdeburg, Ambros Kirchner, 1598". Der Verfasser selbst konnte Teile dieser Bibliothek in Schloß Tannheim, dem württembergischen Sitz der Familie, 1990 einsehen; der Schwerpunkt lag bei Werken historisch-politischer Thematik des 18. und 19. Jahrhunderts.

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Bibüotheca rediviva

Der praktischen Umsetzung gehen modellhafte Überlegungen voraus. Unter tatkräftiger Mithilfe der Leitung der Bibliothek der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf wird mit Vertretern des Bauherrn ein Katalog von Themenbereichen, Epochen und Autoren erarbeitet, der die Grundlage für eine intensive dreijährige Such- und Sammeltätigkeit bildet.7 Verschiedenste Quellen - Händler, Auktionen, Nachlässe - verhelfen schließlich dazu, daß am Tag der Eröffnung, dem 24.06.1991, sich eine neue "alte" Schloßbibliothek mit rund 1.300 Bänden aus dem 15. bis 19. Jahrhundert präsentiert. Der Wahlspruch über dem Eingangsportal des Schlosses - angebracht 1904 nach dem Wiederaufbau des abgebrannten neugotischen Gebäudes von 1861 - lautet "Ex flammis maior et pulchrior exorta": übertragen läßt sich dies Neu-Erstehen auch auf die "bibüotheca rediviva" von Krickenbeck. Thematisch orientiert an noch existierenden, vergleichbaren Privatbibliotheken adeliger Provenienz, ist der Bogen der vertretenen Werke weit gespannt. Lexika, zeitgenössische Belletristik, Kriegshistorie, Jagd, Haus- und Landwirtschaft, Jura und Staatswissenschaft, Geschichte und Geographie sowie Theologie bieten das Spektrum der thematischen Breite. Einen besonderen Schwerpunkt findet die Bibliothek in Büchern mit wirtschaftsgeschichtlichen, -wissenschaftlichen und -politischen Themen sowie zur Numismatik des 16. - 20. Jahrhunderts: dies zum einen begründet darin, daß die Schaesbergs als Kanzler und Statthalter am Hof von Düsseldorf auch für die Finanzen des Herzogtums Jülich-Berg verantwortlich zeichneten8, zum anderen, daß damit auch eine inhaltliche Affinität zum heutigen Nutzer des Schlosses, einer Bank, sichtbar wird. Ein zweites Sammelgebiet ergibt sich naturgemäß aus dem lokalen Standort: niederrheinische Regionalgeschichte sowie die Historie des niederländischen Raums bilden einen speziellen Sektor, belegen auch hier, daß sich historische Entwicklungen nicht nur in "großer" Schlachten- und Diplomatiegeschichte, sondern oftmals viel spürbarer und in der konkreten Auswirkung sichtbarer im intimen Rahmen von Orts- und Landesgeschichte vollziehen.9 7 8 9

Ein besonderer Dank gilt an dieser Stelle Herrn Leitenden Bibliotheksdirektor Prof. Dr. Günter Gattermann und Herrn Bibliotheksdirektor Dr. Heinz Finger, Leiter der Abteilung "Alte Drucke" an der Universitàts- und Landesbibliothek Düsseldorf. Seine Gattin adressiert Briefe an Johann Friedrich Π. von Schaesberg (1663/64 - 1723) unter anderem mit dem Titel "grand président des finances" (Peters, a.a.O., S. 182); vgl. auch Kaiser, a.a.O., S. 112f. Beispielhaft hier aufgeführt Lodovico Guiccardini: Description des touts les Pais-Bas, autrement appelées la Germanie inférieure, ou Basse-Allemagne. Antwerpen: Plantin, 1582 sowie Joh. Isacius Pontanus: Historiae Gelricae libri XIV. Amsterdam: J. Janssonius 1639 und Hugo Grotius: Annales et Historiae De Rebus Belgicis. Amsterdam: Joannis Blaeu 1658. (Aile aus dem Besitz der Salm-Reifferscheidt-Dyckschen Bibliothek) sowie Georg Forster, Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich, Bd. 1-3, Berlin: Vossische Buchhandlung 1791, 1794.

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Als "partes pro toto" hier nur einige Titel, die als Belege für den o.g. Themenkatalog gelten können: nebeneinander stehen bei den Lexika die vollständigen Ausgaben des "Zedier" und der "Encyclopédie"10, bei den historischen Werken das "Theatrum Europaeum" wie auch Werke Rankes, Treitschkes und Mommsens.11 Die deutsche Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts ist vertreten durch seltene Ausgaben wie die Gedichte der Droste-Hülshoff und eine Goethe-Gesamtausgabe mit "Musculus" aus den Jahren 1828 - 1835.12 Unter den staats- und wirtschaftswissenschaftlichen Titeln fallen auf: -

-

Thomas Hobbes: Elementa Philosophica de cive. Amsterdam: Elzevir 1657; Frans van Mieris: Histori der nederlandsche Vorsten. s'Gravenhaage 1732; Jean Jacques Rousseau: Discours sur l'origine et les fondamens de l'inégalité parmi les hommes. Amsterdam 1755 (Dazu: J. R. Carli: von der physischen, moralischen und bürgerlichen Ungleichheit der Menschen, Eine Abhandlung über die Schrift des Rousseau: Sur l'origine et les fondamens de l'inégalité parmi les hommes. Wien 1793); Jacques Necker: De L'Administration Des Finances De La France. 1785; Johann Friedrich Pfeiffer: Lehrbegrif sämmtlicher oeconomischer und Cameralwissenschaften. Mannheim 1779.13

II. Ein Quellenfund

Beim Aufbau der Bibliothek wurde 1991 in einem Düsseldorfer Antiquariat ein voluminöser Band aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in braunem Rindsleder über Pappe gebunden 4° erstanden. Der Buchrücken trägt den Titel "Gülich-Bergische Lands Ordnung". Es handelte sich um ein thematisch zusammengestelltes Konvolut von insgesamt 14 verschiedenen Abhandlungen, Texten und Edikten, hauptsächlich zu juristischen (Zivil-, Verwaltungs- und Strafrecht) und rechtsge10 Großes vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste, Band 1 - 64 mit Nachtragsbänden 1 - 4 , Halle und Leipzig: Johann Heinrich Zedier 1732 - 1754. Encyclopédie ou Dictionnaire Raisonné Des Sciences, Des Arts Et Des Métiers, Tome 1 - 17. Paris/Neufchastel: 1751 - 1765, M. Diderot, M. D'Alembert Supplément à l'Encyclopédie, Tome 1 - 5 . Amsterdam: 1776/1777. Recueil De Planches Sur Les Sciences, Les Arts Libéraux Et ... Méchaniques, Tome 1 - 1 1 . Paris: 1762 - 1772. 11 Theatrum Europaeum, oder Ausführliche und Warhafitige Beschreibung aller und jeder denkwürdigen Geschichten ... so sich vom Jahr ... 1617 biB ... 1718 zugetragen haben; Theil 1 21. Frankfurt a.M.: Merians Erben 1643 -1738. 12 Goethes Werke, Vollständige Ausgabe letzter Hand, Bd. 1 - 55, Stuttgart und Tubingen: Cotta 1828 - 1833, sowie: Inhalt und Namenverzeichnisse über sämmtliche Goethe'sehe Werke, Carl Th. Musculus/Dr. Riemer. Stuttgart/Tübingen: Cotta 1835. Annette Freiin von Droste-Hülshoff, Gedichte, Stuttgart und Tübingen: Cotta 1844. 13 Unter den numismatischen Werken das "New Münz Buch, Darinnen allerley groß und Kleine/Silbeme und Goldene Sorten/...fUrgestellt werden...", München, Adam Berg, 1597 sowie die mehrbändige Ausgabe Gerard van Loon, Beschryving Der Nederlandsche Historipenningen, Bd. I - X. s'Gravenhaage/Amsterdam: 1723 - 1861.

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schichtlichen Themen der jülich-bergischen Politik des 16. bis 18. Jahrhunderts. Den quantitativen Schwerpunkt dieses Konvoluts bildet die Jülich- und Bergische Rechts-Lehen - Gerichtsschreiber Brächten - Policey - und Reformations Ordnung des Durchlauchtigsten Fürsten und Herrn Herrn Wilhelms, Herzogen zu Gülich, Cleve und Berg, Grafen zu der Marek und Ravensperg, Herrn zu Ravenstein etc. Neben anderen Constitutionen, Edicten und Erklärungen etlicher Fälle, wie es derenthalben in beyden Fürstenthumen Gülich und Berg gehalten, geurtheilt und erkannt werden soll Jetzund aus gnädigstem Befelch des auch Durchlauchtigsten, Großmächtigen Churfiirsten und Herrn JOHAN WILHELMS Pfalz-Grafen bei Rhein, des Heil. Röm. Reiches Ertz, Schatzmeisters und Churfiirsten, in Bayern, zu Gülich, Cleve und Berg Herzogen, Grafen zu Veldentz, Sponheim, der Marek, Revensperg und Mörß, Herrn zu Ravenstein etc. Aufs neu übersehen, mit Fleiß corrigirt, und Jedermänniglichen zum Besten wiederum in Truck gebracht Mit zweyen nützlichen Registern Düsseldorf, gedruckt und verlegt bey der Wittib Tilm. Libor. Stahl, Churfiirstl. Hof-Buchdruckerei im Jahr 1751 (164 Seiten, 15 Seiten Register, "Blattweiser") sowie angebunden Gülich- und Bergische Policey-Ordnung... sampt anderen Ordnungen und Edicten, wie sich Ihrer Fürstl. Gnaden Ambt-Leuthe und Befehlshabere in Bedienung Ihrer Ämter zu verhalten Düsseldorf: Stahl 1751 (78 Seiten, 13 Seiten Register) und "Zusatz einiger Ordnungen und Befelchen, Edicten und Recessen... " Düsseldorf O.J., (30 Seiten, 24 S., 8 S.) 133

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Die jüngsten Publikationen des Gesamtbandes stammen aus dem Jahr 177314, die älteste datiert aus 1723. 15 Bibliophiles Interesse weckte neben der guten Erhaltung die Tatsache, daß es sich um ein offenbar wenig benutztes Kanzlei-Arbeitsbuch handelt, in Form eines durchschossenen Exemplars, mit Leerblättern alternierend zum gedruckten Corpus von insgesamt 776 Druckseiten. Bis auf sehr wenige Ausnahmen (4 Blätter) sind die Leerblätter unbeschrieben. 16 Beim genauen Durchblättern fanden sich im letzten Drittel des Bandes zwei handschriftliche Texte, geschrieben von der Hof-Kanzlei und gezeichnet mit dem Namen des damaligen Kanzlers "Graf von Schaesberg", beide gerichtet an Kurfürst Carl Theodor. 14 Medirinalordnung und Instruction, Düsseldorf, 8.6.1773. 22 Seiten. 15 General- und Universal-RechU-Ordnung, C. V. Jacob Becker. Cölln: bey Heinrich Rommerskirchen, Buchhändler unter den fetten Hennen, 1723, 80 Seiten. 16 Die weiteren Titel lauten: 1) Historia Juris Civilis Juliacensium et Montensium... Consiliario intimo, causanim feudalium Directore, Aulici Judicii Commissario et Ducatis Archivi Custode D. MELCHIORE VOETS. JCto Dusseldorpii: Suhl 1762 (104 S., 6 S. Index) Hier abgedruckt auch der "Textus Ordinationis" (Ordnung des gerichtlichen Proceß) von 1556/57 und 1562/64 von Wilhelm, Herzog zu Jülich, Cleve, Berg sowie... das "Edictum von wegen der Appellationen, von den Hauptgerichteren, an das Hofgericht zu Düsseldorf mit den Bestimmungen aus den Jahren 1561, 1578 sowie 1653/54 (Hofgerichts-Ordnung). 2) Tractatus de Jure Revolutions... Cap. BeschluB von Succession 88 Dafi nach altem Herkommen und Gebrauch der Fürstenthumben Gülich und Berg die Güter fallen und erben sollen hinter sich an die nächsten Erben, daher sie kommen. D. Melchior Voetz, J.C. Dusseldorpii: Stahl 1743 62 + 6 Seiten, 44 S. 3) Observatio de ordinatione feudali Wilhelmi, Juliae, Cliviae, Montium Ducis, I - XVI, O.O.U.J., 44 Seiten. 4) Tractatio de usufructo consuetudinario Julia-Montensi, Joannes Christianus Schütz, J.U.L. Dusseldorpii, Suhl 1731 26 Seiten + 2 S. Register Daran angebunden: Revisions Edict vom 07.12.1747 handschriftlich (1 beidseitig beschriebenes und 1 einfach beschriebenes Blatt) Anschreiben an den Kurfürsten vom 08.06.1748 (1 beidseitig beschriebenes Blatt) 5) Edikt Carl Theodors zur Veräußerung von Erbgütern, Düsseldorf 5. September 1755, 9 Seiten. 6) General-Verordnung Carl Theodors zur Landes-Canzley und ProceB-Ordnung, Schwetzingen 12.07.1769 10 Seiten. 7) Ober-Appellations Gerichte-Ordnung, Schwetzingen 12.07.1769, 11 Seiten. 8) Am Ende des Konvoluts folgen zwei Texte, die über den engeren Rahmen der jülichbergischen Region hinausgehen. Es sind zwei Verordnungen des Kurfürsten Maximilian Friderich von Königsegg, Erzbischof zu Köln, zum Erbrecht bzw. zu den formalen Vorschriften der TesUmenU-Ab&ssung: Churfürstliche EdicUl-Verordnung zum Erbrecht, Bonn 02.09.1774, 1 Blatt. 9) Maximilian Friderich, Erzbischof zu Cöln, Edikt über Erbschaft und TesUment, Bonn 12.05.1767, 7 Seiten.

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Es ist schon erlaubt, in diesem Fall von einer glücklichen "trouvaille" zu sprechen, da auf Umwegen der durch Graf Johann Wilhelm von Schaesberg diktierte Text des 18. Jahrhunderts den Weg zurück in das niederrheinische Schloß der Familie findet. Die beiden Texte sind ein zweiseitiges "Revisions Edict vom 7. Dezember 1747" und ein einseitiges Schreiben an den Kurfürsten zum Appellationsrecht vom 8. Juni 1748.17 Beide Texte sind ein beredtes Beispiel für die administrativen und rechtlichen Belange, um die sich Schaesberg als jülich-bergischer Kanzler zu kümmern hatte.

III. Die Texte

Revisions=Edict de 7 m â = xbris 1747. Von Gottes Gnaden Carl Theodor Pfalzgraf etc.etc. Was unseres in Gott ruhenden Großherrn Schwiegervaters (Durchlaucht) und Liebd(en) für eine gnädigste Verordnung wegen der interdirender remediorum revisionis18, restitutionis in integrum, et nullitatis interim 17 t e n April. 1727 in Truck zu erlaßen g(nädi)gst veranlaßet worden, dessen errinnert ihr euch annoch unt(erthäni)gst; wie aber solcher seithero theils stricte nicht nachgesetzet worden, theils auch dabey verschiedene Fälle sich nicht deutlich exprimirt befinden, mithin wir uns hierunter, und auf beschehene verschiedene Thagen unt(erthäni)gste relation zu höchsten Händen erstatten..., so laßen wir es zuvore in so weit, und nach Maaßgab des folgenden bey obbe(meld)str g(nädi)gster Verordnung bewenden, doch gehet annebens Anlaß

17 Der Text des Revisions Edikts, allerdings ohne die einleitenden Bemerkungen und den SchluB, sowie sprachlich in den angeführten 8 Artikeln der Revisions-Ordnung leicht gekürzt und überarbeitet bei J. J. Scotti, Sammlung der Gesetze und Verordnungen... in den... Herzogtümern Jülich, Cleve und Berg..., 1. Theil, Düsseldorf 1821, S. 422 - 423, Nr. 1644 (Den 7. Dec. 1747 - A.H.). Der Text des Schaesbergschen Schreibens vom 08.07.1748 an den "Serenissimus Elector" dort nicht wiedergegeben. 18 Vgl. Zedier, a.a.O., Band XXXI, Sp. 541 zum Stichwort Remedium appellationis und Sp. 937 - 945 s.v. Revision; Zedier definiert das "Remedium revisionis" als Rechtsmittel... vermöge welcher jemanden vergönnt wird, wider das in Sachen seiner gefällten Urtheil oder Bescheid eines Richters, wodurch er sich zwar beschwert zu sein vermeynet, von welchen man aber dennoch nicht apelliren kann, Ansuchung zu tun, daB solches, nach wiederholter fleißiger Durchlesung und Erwägung derer deshalber ergangenen Akten, reformiert oder in einem besseren Stand gebracht werden möge (Sp. 944). Zedier weiter "...ist die Revision auch in der Pfalz ... in dem Clevischen ... als ein ordentliches suspensivisches oder aufhaltendes Rechts-Mittel üblich" (Sp. 939).

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höchsthändiger rescripti unsere fernere g(nädi)gste Verordnung dahin, daß fürs Künftige l m o zu denen Fällen, so die Streitsache bey unserem Hofrath geändiget, und der succumbirende Theil ein weiteres remedium, als da seyend revisionis, restitutionis, aut nullitatis ergreifen würde, über die zu einführung der Beschwerde bestimmte Zeit von 30 Tagen keine weitere Zitationes, noch mehrere, dann ein Correferens verstattet: sonsten aber dann bereits dessfalls ergangene g(nädi)gsten Verordnungen gehorsamst nachgelebet werden sollen, würde nun 2^° die Hofraths Urtheil in revisionis, oder einem anderen ergriffenen Rechtsmittel bestätiget, so soll dem succumbirenden Theil kein weiteres remedium zu statten kommen, es seyen dann, es könte sich derselbe ad restitutionem in integrum ex capite noviter repertorum hinlänglich qualificiren. solte aber 3 t l 0 statt der revision gleich Anfangs das remedium restitutionis ergriffen, die restitutio aber abgeschlagen worden seyen, so soll super denegatâ restitutione in integrum annoch die revision gestattet werden. Gleicher Gestalten stehet auch 4 t 0 dem impetrato frey sich dieser Rechtsmittelen auf die nemliche Art zu bedienen, im Fall da die revisorie, oder andere Urtheil zu seinem Nachtheil ausfallet. Wären nun 5 t 0 die remedia geändiget, oder sonsten drey gleich= lautende Urtheile nacheinander ergangen, so bliebe kein weiteres remedium übrig, sondern wäre dem triumpfirenden Theil unverzüglich zu seinem judicato zu verhelfen, dahero auch 6 t 0 in dem Fall, da der impétrant in revisorio wiederum succembiret, demnägst ex capite novitér repertorum restitutionem in integrum gesuchet, selbige aber abgeschlagen worden, keine weitere revision contrá denegatam restitutionem zugelaßen werden mag. Wenn nun 7 m o impétrant in revisorio wiederum succumbiren, oder die gesuchte restitutio in integrum abgeschlagen worden, mithin in secundâ et ulteriori instantiâ zwey 136

gleichlautende Urtheile nacheinander ergangen, der succumbent aber ein neues remedium juris ergreifen wolte, und könte, so soll daßselbe sine effectu suspensivo nur quoad effectum revolutivum können eingeführet werden. Gleichwie wir dann auch 8 V 0 denen jenigen remediis, welche nach Verlauf des in der revision, oder anderer remediorum vorgeschriebenen Zeit ex capite minorennitatis, nullitatis etc. etc. annoch eingeführt werden wollen, und können den effectum suspensivum hiemit ausdrücklich benommen haben wollen. Und wir unverhalten euch diese unsere fernere g(nädi)gste Verordnung zur Nachricht, auch des Euch hiebey, daß ihr solche zu den litigirenden Vortragen, advocaten, Procuratoren, uns sollicitanten Kundenschaft, und künftig straffer unt(erthäni)gster Nachachtung üblicher Maßen Verkünden, und soin geschehen, inner 14. Tagen Zeit anhero unt(erthäni)gst einberichten sollet. DDorffd. 7 e m xbris 1747. Aus höchstgemelter Ihrer Churfürstl. (Durchlaucht) sonderbahrem g(nädi)gsten Befehl Graf von Schaesberg (vidit) Sieger. Serenissimus Elector! Demnach ihrer curfiirstl. Durchlaucht höchste Person um gestattung des remedii Supplicationis fast mit beständigem memoralisieren von diesem oder jenem Theile angegangen wurden, und davon hierunter Anlaß Special Rescripti vom 27. Maji jüngst dero gnädigsten Willensmeinung ein für allemal dahin gerichtet zu seyn gnädigst erclärent habend, daß weilen Dero nach= gesetzten Dicasteriis die untadelhafte Justizpflege auf ihren Gemeinden stets eingebunden liegt, auch dann gemeinen Rechten sowohl, als Landesverfaßungen noch hinlängliche remedia juris abhanden seyend, mittels welcher der beschwert zu seyn vermeinender Theil sein Gerechtsam zu bewirken ausreichenden Weg findet, welchen ein anderweites remedium Supplicationis

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nach zusetzen deweniger Grand hat, als höchstdie= selbe und dasjenige, so bei dero Dicasteriis nach der Rechtsordnung einmal entschieden, bei höchstdero ministerial Conferenz abermals beurtheilen zu laßen, einen besonderen Senat niederzusetzen, nicht gedenken; Also wird höchstgedacht ihrer Kurfürstl. Durchlaucht gnädigste Willensmeinung Jeder männiglich mit dem Anfang hierdurch ohnverhalten, daß der, oder diejenige, so dagegen, entweder selbst, oder durch ihren Advocaten vorzugehen sich erkühnen werden, nicht nur ohne Resolution zurückgewiesen, sondern auch nach Ermächtigung der Sache mit einer empfindlichen Ahndimg ohnfehlbar angesehen werden sollen. Urcund unseres hervorgedruckten Hofcanzlei Secret Insiegels Düsseldorf den 8 t e n Junius 1748. Aus ihrer churfürstl. (Durchlaucht) sonderbahrem gnädigsten Befehl (vidit)

Graf von Schaesberg Sieger

L.S. IV. Der historische Kontext Am 08.06.1716 stirbt Johann Wilhelm, Kurfürst von der Pfalz und Herzog zu Jülich und Berg. Unter seiner Ägide hatte sich die Hinwendung der Schaesbergs zum Düsseldorfer Hof und ihr Aufstieg an die Spitze der jülich-bergischen Administration vollzogen. Johann Friedrich II. von Schaesberg (1663/64 - 18.8.1723) durchlief in rascher Folge einen beeindruckenden ÄmterCursus, war für den Kurfürsten auf diplomatischem Gebiet, als Finanzminister und verantwortlich für die großen Bauprojekte in Düsseldorf, Bensberg und Heidelberg tätig. Mit Jan Wellems Tod begann das Ende der Hofhaltung in Düsseldorf. Auch Schaesberg, der erst 1715 zum Statthalter von Jülich-Berg ernannt worden war, bekam dies zu spüren. Jan Wellems Nachfolger, Karl Philipp von der Pfalz (1716 - 1742), bestätigte rasch die von Schaesberg geäußerte Vermutung, der Tod des Kurfürsten werde "vielleicht fatale Veränderung" nach sich ziehen. 19

19 Zitiert nach Peters, a.a.O., S. 192.

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Düsseldorf führte von 1716 an ein Dasein als "Nebenresidenz".20 Es behielt zwar die für Regierung und Verwaltung der niederrheinischen Herzogtümer zuständigen Behörden, wie den Geheimen Rat, die Hofkammer und den Hofrat, jedoch begann bereits im Juli 1716 der massive Abbau von Behörden und Ämtern. "Verödet stand das Schloß, in dem nur noch die wenigen, unerläßlichen Beamten, darunter auch ein Hofkaplan, in beschaulicher Ruhe ihres Amtes walteten", so die beinahe elegische Zustandsbeschreibung von Friedrich Lau.21 Die Verlegung des Hofs nach Mannheim brachte auch ein drastisches persönliches Revirement mit sich. Schaesberg wurde 1716 zunächst aller seiner Ämter entsetzt.22 Erst am 26.03.1721 wurde er wieder in das Amt des jülich-bergischen Statthalters eingesetzt. Vier Jahre später, am 03. Mai 1725, erfolgte die Ernennung seines Sohnes Johann Wilhelm (22.11.1696 05.11.1768) zum jülich-bergischen Geheimen Rat. 1730 wurde durch kurfürstliches Dekret bestimmt, daß Johann Wilhelm von Schaesberg mit "beybehaltung dessen geheimen raths rangs dero hiesigen hofraths dicasterium beständig besuchen und in abwesenheit dero praesidenten darinnen das praesidium führen solle. " 2 3 Am 10. Oktober 1731 schließlich wurde Schaesberg nach dem Tod des Reichsgrafen Johann Ludwig Heinrich von Goltstein24 von Karl Philipp zum Kanzler der Herzogtümer Jülich und Berg und zum kurpfálzisch geheimen Rat ernannt. Er war damit faktisch Statthalter des Kurfürsten in Düsseldorf und bestimmte maßgeblich für 37 Jahre die Grundzüge der jülich-bergischen Politik mit. Der Tod Karl Philipps hatte 1742 keine Auswirkungen auf seine Position, vielmehr bestätigte ihn der neue Kurfürst Karl Theodor am 15.01.1743 von Mannheim aus als "Kurpfälzischen und jülich-bergischen geheimen Rat, Kanzler von Jülich und Berg, Ritter des Ordens Sancti Huberti und Amtmann von Brüggen und Dahlen. " 2S

20 Klaus Müller, Unter pfalz-neuburgischer und pfalz-bayrischer Herrschaft (1614 - 1806), in: Düsseldorf, Geschichte von den Ursprüngen bis ins 20. Jahrhundert, hrsg. von H. Weidenhaupt, 2. Auflage, Düsseldorf 1990, S. 27ff. 21 Friedrich Lau, Geschichte der Stadt Düsseldorf, Bd. 1, Von den Anfängen bis 1815, Düsseldorf 1921, S. 46. 22 Zu den Hintergründen Peters, a.a.O., S. 193. 23 Kreisarchiv Kempen, Gräflich von Schaesberg'sches Haus und Familienarchiv, Archivteil Tannheim, AT 430, zitiert nach Peters, a.a.O., S. 207. Am 8. März 1730 wird Johann Wilhelm zum Vizepräsidenten des Hofratsdikasteriums ernannt. 24 Ludwig Heinrich von Goltstein-Breil war ein Schwager Johann Wilhelms, er hatte dessen Schwester Anna Maria Luisa am 2.2.1714 geheiratet. Zu Herkunft und EinfluB der Goltsteins Günther Elbin, Düsseldorf und die Lande zwischen Maas und Rhein, München 1989, S. 63f. 25 AT 452 bei Peters, a.a.O, S. 208; vgl. dort auch Anm. 18.

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Diese Bestätigung kann durchaus als ein Zeichen gewollter politischer Kontinuität in der kurfürstlichen Politik in Jülich-Berg gedeutet werden. Insgesamt ist jedoch die politische Bedeutung der Kanzlerschaft Johann Wilhelms als eher bewahrend-verwaltend denn bewegend und verändernd einzustufen. Das kurfürstliche Desinteresse an Düsseldorf unter Karl Philipp und die nicht nur geographische Distanz unter Karl Theodor 26 führten dazu, "daß die Düsseldorfer Regierung unter Schaesberg ein recht selbstgenügsames Dasein gefristet hat. " 2 7 Diese Art der Politik hatte aber auch ihre positiv soliden Seiten: "Es war ein Segen für die niederrheinischen Lande..., daß die lässigen und nichts weniger als vortrefflichen Regierungsmaximen der Günstlinge Karl Theodors durch tüchtige und charakterfeste einheimische Beamte entweder völlig ausgeschaltet oder wenigstens gemildert wurden. " 2 8

V. Die Entwicklung des Gerichtswesens Die Organisation und Weiterentwicklung des jülich-bergischen Gerichtswesens - vor allem die schon im 16. Jahrhundert praktizierte Appellation an den Landesherrn - vollzog sich im wesentlichen im 17. und 18. Jahrhundert. Wolfgang Wilhelm hatte für Berufungen 1614 einen Hofrat eingerichtet. Aus diesem gingen 1668 der Geheime Rat und der Hof- oder Justizrat hervor. 29 Fälle der außergerichtlichen Rechtsprechimg wurden von den Räten des Hofrats entschieden, während die von den Schöffengerichten einkommenden Revisionen von den Hofgerichtskommissaren bearbeitet wurden. 1747 wurde dieses sogenannte Hofgericht aufgelöst; die meisten Appellationen gingen an den nach einem einfacheren Verfahren arbeitenden Hofrat.

26 Von den Bewohnern Düsseldorfs heiß ersehnt, siedelte Karl Theodor zwar am 15. Oktober 1746 nach Düsseldorf über, blieb aber nur bis zum September 1747. Peter Fuchs, Karl (IV.) Theodor, in: NDB, Bd. 11, Berlin 1977, S. 257, schreibt von den trotz dreier Besuche K's zumeist verwaisten Schlössern in Düsseldorf. Max Braubach, Rheinische Geschichte - Vom westfälischen Frieden bis zum Wiener Kongreß (1648 - 1815), in: Rheinische Geschichte, Bd. 2, Neuzeit, Hrsg. F. Petri, G. Droege, 2. Auflage, Düsseldorf 1976, S. 280, "Eine eigene Stimme besaßen die größeren weltlichen Fürstentümer am Niederrhein ... nicht mehr. Karl Theodor ... ist in seiner langen Regierungszeit dreimal, 1746/47, 1755 und 1758 in Jülich Berg gewesen, in Düsseldorf regierten Statthalter, die politischen Entscheidungen aber wurden ... in Mannheim ... getroffen. " 27 Peters, a.a.O., S. 209. 28 Lau, a.a.O., S. 53. Zu diesen Männern gehörte auch Johann Ludwig von Goltstein, der Sohn des verstorbenen Statthalters und Neffe Johann Wilhelms. Goltstein war seit 1740 wirklicher Hofrat zu Düsseldorf und wurde 1757 jülich-bergischer Hofkammerpräsident. 29 Vgl. Anm. 16.1; Siehe hierzu Müller, a.a.O., S. 131 -137, "Die Entwicklung des Gerichtswesens"; Ausführlich dazu Karl-Heinz Jansen, Die Entwicklung des Düsseldorfer Gerichtswesens vom 16. bis 19. Jahrhundert, in: Düsseldorfer Jahrbuch 49. 1959, S. 50 - 142; Zu den Aufgaben von Hofrat und Hofgericht ebda. S. 77f.

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Die gerichtliche Revisionsordnung vom 17. April 172730 war ein Schritt in dieser Entwicklung. Die erweiterte und geänderte Fassung des Revisions-Edikts von 1747, dessen Entwurf hier vorgestellt wurde, stellte eine weitere Etappe auf dem Weg bis 1769 dar. Für die Urteile von Hofrat und Hofgericht war der Geheime Rat Revisionsinstanz. Darüber hinaus konnten noch die Reichsgerichte angerufen werden. 1764 erlangte aber Karl Theodor die völlige Unabhängigkeit seiner niederrheinischen Besitzungen von der Reichsjustiz ("Privilegium de non evocando"), so daß er mit dem Oberappellationsgericht 1769 ein eigenständiges oberstes Revisionsgericht begründen konnte. 31 Mit dem Datum des 12.7.1769 schließt sich der Kreis dieser historischen Miniatur: der gedruckte Text der "G.(ülich) und B.(ergischen) Oberappellations-Gerichtsordnung" findet sich in unserem Buch ganze 44 Seiten nach den handschriftlichen Texten Schaesbergs aus 1747/48 wieder (11 Seiten, Titulus I - IV). 32 Johann Wilhelm von Schaesberg hat diesen Schlußpunkt der von ihm wesentlich mitgetragenen Reform nicht mehr erlebt - er starb am 05.11.1768. Statthalter wurde nun sein Neffe Johann Ludwig von Goltstein. Ausgefertigt wurde die Urkunde über das Oberappellationsgericht von Karl Theodor "selbsthändig bezeichnet" in "Schwetzingen den 12ten Julii 1769". VI. Conclusio "Habent sua fata libelli"33 - Die sicher nicht alltägliche Allianz zwischen Denkmalschutz und praktiziertem bibliothekarischen Wissen und Engagement hat nach rund 250 Jahren den Weg eines Buches von seiner Entstehung, seiner Nutzung zurück zum angestammten Platz vollenden lassen. Dies Buch konnte mithelfen, Familiengeschichte wie Landesgeschichte zu interpretieren und Wiederaufleben zu lassen. Es fügt sich so

30 Scotti, a.a.O., S. 322 - 324, Nr. 1286. Auf den dortigen Text bezieht sich auch der Anfangsvermerk Schaesbergs vom 7. Dezember 1747, in dem kritisch bemerkt wird, die Bestimmungen der Revisions Ordnung seien nicht immer strikt befolgt, auch nicht immer deutlich "exprimirt". 31 Wie wichtig die Justizpflege fUr Karl Theodor war, wird auch in der frühen Darstellung durch Felix Joseph Iipowsky, Karl Theodor, Churfllrst von Pfalz-Bayern, Herzog zu Jülich und Berg, Leben und Thaten, Sulzbach 1828, deutlich (S. 40-42, § 30 "Verbesserte Justiz"). 32 Scotti, a.a.O., S. 373, Nr. 2036 gibt nicht den ganzen Text wieder, sondern bietet nur folgende Zusammenfassung "Gerichts Ordnung für das, nach Erwirkung des kaiser!. Privilegii illimit. dé non appellando, in den Herzogtümern Jülich und Berg errichtete OberAppellations-Gericht. Über dessen Zusammensetzung aus einem Presidenten und elf Räten in zwei Senaten, über die Natur der bei demselben rechtsgültig anzubringenden Sachen und über die Art, wie diese Beratungen geschehen müssen, über das prozessuale Verfahren bei demselben, und über die Amtsobliegenheiten der Vorsitzer des Ober-Appel.-Gerichtes werden ausführliche Vorschriften erteilt." 33 Terentianus Maurus, De litteris, syllabis et metris, Vers 1286. ("Bücher haben ihre Schicksale").

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ROLF GILBERT

ein als kleines geistesgeschichtliches Monument in die größere Hülle des baugeschichtlichen niederrheinischen Denkmals. Derjenige, dem diese Festschrift gewidmet ist, wird gewiß zustimmen, daß dieser gewichtige Band des 18. Jahrhunderts aus der Residenzstadt Düsseldorf damals und heute genutzt und durchgelesen wurde. Er ist somit eine rühmenswerte Ausnahme, wenn wir Lichtenbergs Sentenz zum guten Ende anfuhren: "Schreibt man denn Büchern bloß zum Lesen? oder nicht auch zum Unterlegen in die Haushaltung? Gegen eins, das durchgelesen wird, werden Tausende durchblättert, andere tausend liegen stille, andere werden auf Mauslöcher gepreßt, nach Katzen geworfen, auf andern wird gestanden, gesessen, getrommelt, Pfefferkuchen gebacken, mit andern werden Pfeifen angesteckt, hinter dem Fenster damit gestanden."34

34 G. Christoph Lichtenberg, Aphorismen, E 308, zitiert nach: G. Chr. Lichtenberg, Auswahl von F. Sengte, Stuttgart 1991, S. 60. Im weitesten Sinne ein geistiger Vorläufer dieses Lichtenberg-Zitats ist Plinius: "Nullus est liber tarn malus, ut non aliqua parte prosit. " (Kein Buch ist so schlecht, daß es nicht doch einen Nutzen hätte). Plinius, Briefe, 3, 5, 10.

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Hartwig Lohse

Tote und "scheintote" Literatur Miszelle zu einem bisher unbekannten Erlaß U I Nr.43 vom 9.1.1905 von Fr. Althoff Das Thema ist so aktuell wie vor 90 Jahren. Ebenso tendiert die Neigung der Bibliothekare, sich damit ernsthaft zu befassen, damals wie heute gegen Null1. Bestenfalls geben sie spöttische Bemerkungen zu Protokoll, wie Josef Staender, der Bonner Direktor, der im Entwurf seines Antwortschreibens von "scheintoter" Literatur spricht. Oder sie reagieren gereizt mit dem Vorwurf, hier solle Zensur ausgeübt werden, wie beim Magazingutachten des Wissenschaftsrates von 1986 2 . Und damals wie heute ist der Ausgangspunkt der Aktivitäten der Unterhaltsträger (also der Länder) zur Reduzierung des Zuganges und der Bestände an solcher angeblich "toten" Literatur ein rein fiskalischer: Es fehlen die Mittel, um ständig neue Magazine zu bauen, man wollte und will Platz (und damit Geld) sparen. Ginge es hier tatsächlich nur um das Geld für die Büchermagazine, wäre die Zurückhaltung der Bibliothekare verständlich. Denn bisher hat sich immer noch Platz gefunden, um weniger gebrauchte Literatur unterzubringen, und sei es in alten Fabrikgebäuden oder ehemaligen Studentenmensen. Nach Meinung des Autors geht es jedoch um wesentlich mehr, nämlich die Aufgabe des Bibliothekars, durch Selektion einen 1

2

Eine Ausnahme von dieser Regel entdeckte der Verf. erst sehr spät, den Aufsatz von Georg Leyh "Tote Literatur in den Bibliotheken", den er im Börsenblatt, Frankfurter Ausgabe vom 25.1.1949 veröffentlichte (Wiederabdruck in: Aus vierzig Jahren Bibliotheksarbeit. Kleine Schriften. Wiesbaden: Harrassowitz 1954, S. 176-179). Doch als Leyh diese Zeilen schrieb, war er 72 Jahre alt und im Ruhestand. In seinem Aufsatz verweist Leyh nicht nur auf Goethe, Leibniz, Lessing und Lichtenberg als Kronzeugen für die Forderung, tote Literatur aus persönlichen Büchersammlungen und öffentlichen Bibliotheken zu entfernen (S. 177), sondern auch auf den von Erman erwähnten Hermann Diels, der den Bibliotheken "den ernsthaften Rat gab, den alten Ballast kurzerhand in laufenden Autodafes zu beseitigen". Leider gibt Leyh nicht an, woher er dieses Zitat hat, ob es in einer Veröffentlichung von Diels nachzuschlagen ist oder ob er es in einem Brief gelesen hat. Desungeachtet bestätigt er damit die Behauptung Ermans, bei der Abfassung des Erlasses vom 9.1.05 sei Althoff der Berliner Altphilologe Diels behilflich gewesen, so jedenfalls habe es ihm Milkau mitgeteilt. Daß Leyh die damals wie heute von den meisten Bibliothekaren gerne gebrauchte Ausrede, eigentlich gäbe es in unseren Bibliotheken überhaupt keine tote Literatur, kategorisch zurückweist - "Das ist graue Theorie" - versteht sich fast von selbst, ebenso, daß die Bibliothekare, die nach Leyh kamen, sich nicht nach seiner Devise gerichtet haben, daB "weit mehr als bisher eine scharfe und sachliche Kritik an den neuen Zugang gelegt werden mufi" (S. 179). Wer hörte damals schon auf Georg Leyh? Hätte er gewuBt, was heute alles an bedrucktem Papier produziert und in den Magazinen aufbewahrt wird, wären seine Warnungen gewiB noch sehr viel schärfer und kategorischer ausgefallen. So u.a. Paul Raabe: Den Bibliotheken endlich geben, was sie benötigen. In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel. 42, 1986, hier etwa S. 2867: "Man denke nur an die Indizes verbotener Bücher der Kirche ... ".

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HARTWIG LOHSE

qualitätsvollen Bestandsaufbau zu treiben, der den aktuellen und zukünftigen Interessen der i.d.R. universitären Benutzerschaft optimal gerecht zu werden vermag. Und da die Selektion in den Erwerbungsarten Tausch und Geschenk, den Hauptquellen der heute sogenannten "Grauen Literatur", nicht durch die quantitativen Beschränkungen des Erwerbungsetats erzwungen wird, ist sie sozusagen freiwillig: Soll das Buch (die Zeitschrift), das die Bibliothek "Nichts" kostet - außer Platz, den Bearbeitungskosten und ggf. einen Einband - eingestellt werden oder nicht, ist zu erwarten (abzusehen), daß es die Bibliothek auf Dauer bereichert oder nicht? Aber da er mit dieser seiner Meinung, daß es um mehr geht als nur um den Platz, allein auf weiter Flur steht, ja nicht einmal Gegenwind spüren konnte auf provokative Äußerungen, etwa zur Behandlung des Zuganges Tausch und Geschenk oder zur Reduzierung der Zahl abzuliefernder Dissertationen3, die doch angeblich das Ergebnis der Forschung an unseren Universitäten sind, will er sich als Ruheständler nicht mehr in solche aktuellen Fragen einmischen, sondern sich auf die Geschichte beschränken. Es ist auch daraus zu lernen, wenn man es denn will. Die Anregung zu diesem Aufsatz verdanke ich Wilhelm Erman (1850-1932), dem Bonner Bibliotheksdirektor von 1908 bis 1920. In seinen "Erinnerungen", die in Kürze veröffentlicht werden (das Typoskript befindet sich in der Handschriftenabteilung der UB Bonn, Nachlaß Erman), formuliert er im Zusammenhang mit der von ihm für verhängnisvoll gehaltenen Berufung von Adolf Harnack zum Generaldirektor der damaligen Berliner Königlichen Bibliothek im Nebenamt wie folgt: "Ende 1903, noch vor Begründung des Beirats, hatte Harnack sofort nach seiner Ernennung (1.10.1905, d. Verf.) zum Generaldirektor Althoff einen sehr bedenklichen Vorschlag unterbreitet und zwar nach Milkaus Mitteilung gemeinsam mit Diels4. Danach sollte im Interesse der Raumersparnis aus allen öffentlichen Bibliotheken die "tote Literatur" ausgeschieden und in dem leerstehenden Schloß zu Celle beigesetzt werden, zunächst zur Aufbewahrung, später wohl zur Vernichtung. Dieser unglaublich törichte Plan eines Bücherkiichhofes wurde von den meisten Bibliotheksdirektoren, deren Gutachten Althoff einforderte, so vernich3

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So etwa in dem Aufsatz "Zur qualitativen Bedeutung des Zugangs Tausch/Geschenk an den Universitätsbibliotheken der BRD". In: Mitteilungsblatt. Verband der Bibliotheken des Landes NW, N.F., Jg. 37, 1987, S. 155-171 oder in dem Aufsatz "Die Arbeitsgemeinschaft der Hochschulbibliotheken (AGH), die Kultusministerkonferenz (KMK) und der Tausch mit Dissertationen". In: Mitteilungsblatt. Verband der Bibliotheken des Landes NW, N.F., Jg. 41, 1991, S. 120-134. Fritz Milkau war zu dem Zeitpunkt Direktor der UB Greifswald, jedoch gelegentlich als Hilfsarbeiter im Berliner Kultusministerium eingesetzt. Daher dürften seine Detailkenntnisse in dieser Angelegenheit stammen, auch zur angeblichen Beteiligung von Hermann Diels (18481922), der lange Jahre Professor fllr klassische Philologie in Berlin war.

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Tote und "scheintote"Literatur

tend kritisiert, daß Althoff ihn schleunigst wieder verschwinden ließ. Das Vertrauen in den neuen uns aufgebürdeten Leiter wurde durch dieses Debut nicht gerade vermehrt" (S. 343). Soweit Erman, der natürlich als Direktor der preußischen UB Breslau (von 1901 bis 1907) gleichfalls von Althoff zur Abgabe eines Gutachtens aufgefordert worden sein muß. Doch zwischen diesem Ereignis und der Abfassung seiner "Erinnerungen" liegen etwa 15 Jahre, er mag die genaueren Umstände nicht mehr im Gedächtnis gehabt haben.5 Auch dem modernen Bibliothekar sind ja solche Pläne einer Konzentration minderwichtiger Literatur in Speicherbibliotheken, zu welchem späteren Zweck auch immer, nicht ganz unbekannt, wie damals u.a. von Bibliothekaren angeregt, von einer zentralen Institution beabsichtigt oder "empfohlen", vernichtend kritisiert und rasch vergessen. Aber nicht das war es, was den Schreiber stutzig werden ließ. Vielmehr hatte er bei der Abfassung eines Besprechungsaufsatzes zu einem ausgezeichneten Werk eines jungen Kollegen zum Thema Deutscher Gesamtkatalog6 mit nicht geringem Erstaunen gelesen, daß Friedrich Althoff im Oktober 1904 die Geschäftsstelle des Gesamtkataloges gefragt hatte, ob man nicht "zur Vereinfachung" (gemeint war natürlich Beschleunigung) der Arbeiten am GK "Teile der älteren Bücherbestände in der Königlichen Bibliothek und den Universitätsbibliotheken als wertlos ausscheiden könne". 7 Und da beide Termine, Herbst 1904 und Ende 1905, relativ nahe beieinander liegen, konnte man zumindest nicht ausschließen, daß sich Erman, rund 15 Jahre später, um ein Jahr vertan hat, also den Brief an die Geschäftsstelle des GK und den "unglaublich törichten Plan eines Bücherkirchhofes" für ein und dasselbe gehalten hat. Doch er hat es nicht! Um das festzustellen, bedurfte es weniger als einer halben Stunde. Denn wenn es im Laufe des Jahres 1905 einen "Plan" Althoffs zur Zen5

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7

Liest man allerdings, was Erman an Milkau unter dem 21.1.05 schrieb (Briefentwurf in der Slg. Darmstädter, Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, 2b 1890 42), also nur 2 Wochen nach Eingang des Erlasses, dann kommen erste Zweifel, ob sich Erman bei seiner Terminierung "geirrt" hat: "Ermutigend filr die Arbeit auf dem bibliothekarischen Gebiet ist nun freilich die letzte bezügliche Lebensäufierung aus dem Ministerium nicht. Wie ist es nur möglich, daß der neueste Erlaß Uber die in Aussicht genommene Vernichtung wertloser Bücher das Licht erblicken konnte?" Der Besprechungsaufsatz erschien u.d.T. "Vom Deutschen zum Westdeutschen Gesamtkatalog. Kritische Gedanken zur Wiederaufnahme der Diskussion über ein zentrales Thema bibliothekarischer Kooperation anhand neuer Publikationen" in dem Sammelband "Tagesförderungen wissenschaftlicher Bibliotheken in kritischer Diskussion", Frankfiirt/Main usw.: Lang 1991, S. 218-234; das Werk des jungen Kollegen Bernd Hagenau "Der Deutsche Gesamtkatalog. Vergangenheit und Zukunft einer Idee" erschien 1988 bei Hanassowitz (Wiesbaden) in der Reihe "Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen" als Band 27. Hagenau zitiert nach Pick, Richard: Steffenhaben und Harnack. Eine bibliotheksgeschichtliche Parallele. Göttingen 1940, hier S. 54ff. Dort wird der Vorgang um jenes Schreiben Althoffs eingehend geschildert, was Fick keine Mühen gekostet haben dürfte, da er seit 1.1.04 Vorsteher der Geschäftsstelle des GK war.

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tralisierung (und späteren Vernichtung) minderwichtiger Literatur gegeben haben und wenn er (Althoñ) in diesem Zusammenhang die Gutachten der Direktoren der Königlichen Bibliothek und der 10 preußischen Universitätsbibliotheken eingefordert haben sollte, dann mußte dazu ein offizieller Erlaß (oder eine Verfugung, wie es in der damaligen Verwaltungssprache hieß) vorliegen, auch in der preußischen UB Bonn. Die Vermutung trog nicht. Ein kurzer Blick in die Akte "Allgemeine Verwaltung" (1901-1920), die - wie alle anderen Akten der Bibliothek von der Gründung 1818 an - in der Handschriftenabteilung aufbewahrt wird, ließ einen Erlaß finden, mit der Unterschrift von Fr. Althoff, allerdings, entgegen der Zeitangabe Ermans, mit einem Datum vom Anfang und nicht vom Ende 1905, genau vom 9. Januar 1905! Die zeitliche Festlegung Ermans, mit der er mühelos die "Schuld" für jenen Plan Althoffs dem neuen Generaldirektor Adolf Harnack, dessen Berufung er für falsch und schädlich hielt, in die Schuhe schieben konnte, mag Absicht gewesen sein oder Zufall, sie ist in unserem Zusammenhang unwesentlich, auch wenn man gerne wüßte, wer denn wohl Friedrich Althoff bewogen haben mag, innerhalb von rd. drei Monaten (Schreiben an den Vorsteher der Geschäftsstelle des GK vom 10. Oktober 1904, Erlaß vom 9. Januar 1905) in der gleichen Sache (wertlose Bücher, die entweder nicht zu katalogisieren und/oder nicht auf Dauer aufzubewahren sind) zweimal tätig zu werden. Daß er zweimal gescheitert ist, versteht sich angesichts der Tatsache, daß er die Bibliothekare gefragt hatte, was sie denn von seinen Vorschlägen hielten, fast von selbst. Doch nun zu jenem Erlaß und vor allem zu seinem weiteren Schicksal, eine Frage, die zu beantworten fast ebenso interessant ist wie die Antwort auf die Frage, was eigentlich die deutschen Bibliothekare um die Jahrhundertwende unter "toter Literatur" verstanden und was sie von ihrer Verbringung in einen Speicher oder gar ihrer späteren Vernichtung hielten. Der Erlaß datiert vom 9. Januar 1905, trägt das Aktenzeichen U I Nr.43 und ist gerichtet an 1) den Herrn General Direktor der Königlichen Bibliothek, hier 2) die Herren Direktoren der Universitätsbibliotheken - unter Umschlag der Herren Universitäts-Kuratoren -und lautet wie folgt: "In der Königlichen Bibliothek zu Berlin sowohl wie in den Universitätsbibliotheken wird ein unverhältnismäßig großer Teil der zur Verfügung stehenden Büchermagazine durch veraltete, unbenutzte Literatur, insbesondere durch ältere Dissertationen, Programme, Lehrbücher, populäre Literatur ohne wissenschaftlichen Wert, Natur- und Reisebeschreibungen und dergleichen garnicht mehr oder kaum noch benutzte Werke in Anspruch genommen. Bei den immer mehr steigenden Anforderungen bezüglich der Bibliotheksgebäude und den immer erheblicher werdenden Bau- und

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Tote und "scheintote" Literatur

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HARTWIG LOHSE

Verwaltungskosten erscheint mir die Aufbewahrung toter Bücher solcher Art in den Hauptmagazinen der Bibliotheken nicht mehr angängig. Außerdem wird durch sie die Übersichtlichkeit und schnelle Bereitstellung der wirklich benützten Bücher wesentlich erschwert und der wahre Wert der vorhandenen Bücherschätze in unliebsamer Weise verschleiert. Ich beabsichtige deshalb Maßnahmen zu treffen, welche dahinzielen, daß Bücher der bezeichneten Art nicht länger die Hauptbibliothek belasten sondern einstweilen in einen zu diesem Zweck einzurichtenden Bücherspeicher eingestellt und hier bei erheblich verbilligter Aufbewahrung und vereinfachter Verwaltung noch solange untergebracht werden, bis ihre gänzliche Wertlosigkeit erwiesen und daher ihre Vernichtung vorzunehmen ist. Euer Hochwohlgeboren ersuche ich, mir binnen vier Wochen Angaben darüber zu machen, ein wie großer Teil des dortigen Bücherbestandes nach Ihrer ungefähren Schätzung den beabsichtigten Maßnahmen unterliegen würde. Im Auftrag Althoff

Der Erlaß liegt dem Verfasser in 3 identischen Fassungen vor, aus dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Abt. Merseburg, hier Rep. 92, Nachlaß F. Althoff, ferner aus den Universitätsbibliotheken Bonn und Göttingen. Es handelt sich also nicht um ein Phantom. Allerdings läßt der Umstand, daß sich das Merseburger Exemplar im Nachlaß Althoff befindet und nicht dort, wo es eigentlich hingehört, nämlich in den Beständen des Ministeriums für die geistlichen usw. Angelegenheiten, schon darauf schließen, daß es auch in der preußischen Verwaltung um die Jahrhundertwende nicht immer so preußisch zuging, wie man heute annehmen möchte, daß mithin Erman mit seiner Formulierung, Althoff habe den Plan "schleunigst verschwinden lassen", so ganz unrecht nicht haben kann. Vielleicht war er ja auch durch Milkau von den näheren Umständen informiert worden, der sich, ungeachtet seiner direktorialen Aufgaben in Greifswald, zeitweise im Ministerium in Berlin befand. Liest man den Inhalt des Erlasses oder schreibt ihn gar mit eigener Hand für das Manuskript nieder, dann muß man ob der unverhohlen geäußerten Absicht späterer "Vernichtung" einigermaßen entsetzt sein. Welcher Bibliothekar mag Althoff einen solchen Rat gegeben haben? Andererseits ist es kaum vorstellbar, daß Althoff und seine Mitarbeiter ohne Mithilfe von Bibliothekaren, derer sich auch die Geschäftsstelle des Wissenschaftsrates 80 Jahre später bei der Abfassung der sog. "Magazinempfehlungen" bediente, auf Kategorien wie "ältere Dissertationen" oder "Programme" (gemeint sind die damals sehr verbreiteten und 148

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auch wissenschaftlich nicht selten interessanten Schulprogramme) oder "Lehrbücher" oder "populäre Literatur ohne wissenschaftlichen Wert" (wie kam die überhaupt in preußische Universitätsbibliotheken, außer auf dem Wege des Pflichtexemplars?) oder "Reisebeschreibungen" (sie gehören zu einem der wirklich interessanten Altbestände der Bonner UB) von sich aus gekommen sind, die "den wahren Wert der Bücherschätze in unliebsamer Weise verschleiern". Schon aus dieser Aufzählung von vernichtenswerten Bücherbeständen ist zu schließen, daß der gelehrte Theologe und hochgebildete Wissenschaftler Harnack der Berater nicht gewesen sein konnte, wie Erman, in welcher Absicht auch immer, meint, ganz abgesehen davon, daß er erst am 2.10.1905 sein Amt antrat. Wenn er es aber nicht war, dann ist jede weitere Suche nach dem Urheber (oder Anreger) zwecklos, wäre reine Spekulation, es sei denn, man würde in den Akten konkrete Hinweise finden. Doch wie schreibt Milkau in seinem Nachruf auf Erman: "Wie mager aber sähe unsere Bibliotheksgeschichte aus, wenn sie allein auf die Akten angewiesen wäre".8 Wie nun haben die betr. Bibliotheksdirektoren und ihre Kollegen, soweit diese beteiligt wurden, auf jene Vorschläge der vorgesetzten Behörde in Berlin reagiert, mit denen der wahre Wert der Bücherbestände zu entschleiern wäre oder mit denen "die Kosten der Drucklegung des GK" vermindert werden könnten? In Sachen GK können wir das sehr schön bei Richard Fick nachlesen, dem die Akten der Geschäftsstelle vorlagen. Daß der Vorsteher der Geschäftsstelle des GK, und das war Fick seit dem 1.4.1904, sehr souverän geantwortet hat, kann man nicht sagen. Er ist auf wenige Einzelbeispiele eingegangen, so auf einen Druck aus dem Jahr 1722, vorhanden in der UB Halle "Eigentliche Abbildung und glaubwürdige Nachricht von einem sehr abentheuerlichen Vogel, welcher sich 1719 den 2. December in Gotha antreffen lassen", den er nicht gewagt hätte, ohne Kenntnis des Inhalts als "völlig wertlos" zu bezeichnen, er "könne eine für den damaligen Zustand von Gotha sehr wichtige Notiz enthalten" usw. Das ist eine der klassischen bibliothekarischen Ausreden in solchen Fällen, mit dem Nachteil behaftet, nicht widerlegbar zu sein. Sehr zurecht hingegen hat Fick auf den hohen Zeitaufwand hingewiesen, der für die notwendige Einzelprüfung und ggfls. die Aussonderung erforderlich wäre, ein Argument, das nicht nur dem Bibliothekar auf Anhieb einleuchten muß. Abschließend verweist er auf die Diskussion in den USA zum Thema "tote Literatur" und hält die dort erhobene Forderung für "besonders beachtenswert", es solle "beim Ankauf und bei der Entgegennahme von 8

Damit dürfte er Recht haben, doch daß die persönliche "Erinnerung11 nicht zur Exaktheit der Bibliotheksgeschichte beitragen muB, beweist der hier zu behandelnde Fall wohl mehr als deutlich. Der Nachruf befindet sich im ZfB, Jg. 56, 1933, hier S. 32.

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HARTWIG LOHSE

Geschenken und Tauschexemplaren scharf ausgesondert werden".9 Doch was die Verwirklichung dieser Forderung an den wissenschaftlichen Bibliotheken anbetrifft, damals wie heute, so kann ich nur literarisch antworten: Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Und wie sieht es mit dem nur gute drei Monate später ergangenen Erlaß aus, in dem die Direktoren zur Stellungnahme innerhalb von 4 Wochen aufgefordert werden? Den Verf. hätten ja eigentlich Ermans Worte, Althoff habe nach den "vernichtenden" Kritiken der meisten Direktoren (was übrigens in dieser Kraßheit nicht stimmt, wie noch nachzuweisen sein wird), den Plan "schleunigst wieder verschwinden lassen", stutzig machen müssen, aber wie sollte er sich ein solches "Verschwinden" in der preußischen Hochschulverwaltung von 1905 vorstellen? Überhaupt nicht, daher schrieb er an das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Abteilung Merseburg, nannte Datum und Aktenzeichen des ihm in Bonn vorliegenden Erlasses und bat darum, ihm die Kopien der Antworten der preußischen Bibliotheksdirektoren zuzusenden. Die Antwort aus Merseburg lautete wie folgt: "Den von Ihnen gesuchten Erlaß vom 9.1.1905 konnten wir in der Akte Rep. 92, Althoff A I Nr. 187/1 ermitteln. Eine Xerographie liegt als Anlage bei. Negativ verliefen leider unsere Recherchen nach Antworten auf diesen Erlaß von den einzelnen Bibliotheksdirektoren. Weder in den Akten des Bestandes Rep. 76 (Ministerium der geistlichen usw. Angelegenheiten) über die Bibliotheken an den einzelnen preußischen Universitäten noch in den entspr. Akten über das Bibliothekswesen im Nachlaß Althoff konnten diesbezügliche Unterlagen ermittelt werden".

Soweit Merseburg mit seiner glaubhaften, gleichwohl unfaßlichen Antwort.10 Hatte Althoff die Berichte, wenn sie denn überhaupt an ihn gelangt waren, tatsächlich real verschwinden lassen? Um zu prüfen, ob es überhaupt Berichte gegeben hat, wandte sich der Verf. im Oktober 1992 mit gleichlautenden Schreiben an die mit dem Erlaß gemeinten Bibliotheken (ohne Breslau und Königsberg) und bat um Suche nach dem Erlaß, der ja ganz eindeutig durch Datum und Aktenzeichen gekennzeichnet war, sowie um Antworten resp. um Entwürfe von Antworten, wie in Bonn ein solcher von Staender vorliegt. 9 Alles nach Pick: Steffenhagen und Harnack, a.a.O., S. 55f. 10 Am 28.10.93 erreichte den Verf. die Nachricht, daß sich in den nunmehr in Berlin befindlichen Merseburger Akten im Rep.76, Vd, Sekt. 1 ein Faszikel 21 befindet mit dem Titel: Die Siteren resp. unwichtigen Druckschriften in den Bibliotheken (Sept. 1904-1922). Darin sind sowohl der ErlaB vom 9.1.1905 aufbewahrt als auch die Antworten aller preußischen Universitätsbibliotheken, darunter die ausführlichsten von W. Erman, dem damaligen Breslauer Direktor. Die Auskunft verdanke ich Herrn Dr. W. Schochow. Da zum Zeitpunkt 28.10. der Aufsatz bereits im Druck war, lassen sich leider diese übrigen Antworten nicht mehr einarbeiten. Schwer verständlich bleibt an dem Vorgang, daß in Merseburg dieses umfangreiche und zeitlich genau einzugrenzende Faszikel nicht gefunden werden konnte.

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Tote und "scheintote " Literatur

Das Ergebnis der Aktion sei nachfolgend vorgestellt. Man mag es nun als überraschend, nach Ermans Bemerkung vom "Verschwinden" als zu erwarten oder auch als niederschmetternd bezeichnen; auf gar keinen Fall jedoch entspricht es dem Standard, den man gemeinhin an die preußische Verwaltung um die Jahrhundertwende anzulegen gewohnt ist. 1.

Die Staatsbibliothek zu Berlin teilte unter dem 20.11.92 mit: "Zu dem Althoffschen Erlaß UI Nr.43 betr... teile ich mit, daß er im Jamiar 1905 bei der KB (Königlichen Bibliothek) eingegangen ist, angemahnt wurde die Stellungnahme am 20.3. (U I Nr.408) und noch einmal am 26.6. (UI Nr. 1288). Am 10. Juli ist dann der Bericht der KB an das Ministerium abgegangen. Die Originalakten sind aber - leider - verloren". Ein halbes Jahr hat also der Generaldirektor Wilmanns, unmittelbar vor seiner Pensionierung, für eine Antwort benötigt. Die Feststellung des Abganges des Berichtes an das Ministerium ist insofern wichtig, als damit feststeht, daß zumindest ein Bericht das Ministerium erreicht haben muß. Denn die Königliche Bibliothek war dem Ministerium direkt unterstellt, im Gegensatz zu den Universitätsbibliotheken, deren Berichte stets über den Kurator gingen und die in diesem Falle theoretisch also auch in den jeweiligen Kuratorien hätten "verschwinden" können. Auch die Tatsache, daß die KB zweimal gemahnt wurde, läßt den Schluß zu, daß die Berichte der Bibliotheksdirektoren vollständig nach Berlin geschickt wurden und ihr späteres Schicksal sich dort vollzogen hat.

3.

Halle schreibt unter dem 5.10.92: "Für Ihren Brief danken wir Ihnen. In unserem Bibliotheksarchiv ist in den Akten zwar der von Ihnen genannte Erlaß vorhanden, jedoch keine Antwort auf diese Verfügung Althoffs". Schon hier, wie bei späteren Fällen, stellt sich die Frage, wie es möglich ist, daß kein Bericht gefertigt wurde, zumal die KB Berlin zweimal gemahnt wurde?

4.

Von der UB Marburg wurde der Verf. an das Hessische Staatsarchiv verwiesen, das mitteilt (20.11.92), die UB habe "leider ihre Altbestände (an Akten, d. V.) weitgehend vernichtet; was bei uns liegt, reicht nicht bis in Ihre Zeit. " Wenn das Staatsarchiv weiter schreibt, es sei wenig wahrscheinlich, daß eine Abschrift des nach Berlin durchlaufenden Vorganges "anzufertigen als notwendig erschien", so ist dem entgegenzuhalten, daß, wie in Bonn und Göttingen, allein die äußere Form des Berichtes des Bibliotheksdirektors es verbot, ihn so nach Berlin zu schicken und insofern der handschriftliche Bericht des Di151

HARTWIG LOHSE

5.

rektors in den Akten des Kuratoriums vorliegen müßte. Doch die gibt es eben leider im Hessischen Staatsarchiv aus der Zeit nicht mehr, vielleicht sind sie ja auch, wie bei der UB, vernichtet worden. Der in den Bonner Bibliotheksakten erhalten gebliebene handschriftliche Entwurf einer Antwort des Direktors Josef Staender (Ia, Allg. Verwaltung, 1901-1921) lautet wie folgt: "K.UB.Bsch. (Bezugsschreiben?) auf Verf. v. 9. d. Monats. 12. Februar 1905. Bei Erledigung d. Verf. vom 9. d. Monats habe ich mir die Schwierigkeiten nicht verhehlen dürfen, die einer einwandfreien Feststellg. der befohlenen? (die letzten Buchstaben waren nicht zu lesen) Angaben im Wege stehen. Wirklich tote Bücher kennt im Allgemeinen nur der Spezialforscher für das von ihm besonders gepflegte Fach, der Bibl. kann feststellen, daß ein Buch Jahrzehnte nicht ausgeliehen ist, es kann sich aber dabei um Scheintote handeln, die mit den Toten zu beseitigen ein Unglück wäre. Im Oktober vorigen Jahres waren es vierzig Jahre, seit ich zum ersten Assistenten der hiesigen B. ernannt wurde, ich darf mir daher ein Urteil über den hiesigen Bücherbestand erlauben: Bei der Schätzung des Umfanges der beabsichtigten Maßnahme möchte ich nicht unter 5 und nicht über 10 Prozent gehen. St. "

Der Erlaß wurde am 17.1. vom Kurator an den Direktor geschickt, m.d.B., den geforderten Bericht bis zum 15.2. einzureichen. Jener Bericht Staenders stimmt in seiner Prozentangabe (510) etwa mit den Angaben der UB Göttingen (2 %) überein, doch das ist eine durch nichts belegte grobe Schätzung. Lediglich Witz ist dem Rheinländer Staender mit seiner Bemerkung von der "scheintoten" Literatur zu bescheinigen. Leider ließ sich auch für Bonn die Frage nicht klären, ob der Bericht durch den Kurator nach Berlin geschickt worden ist, da die entsprechenden Akten alle 1944 beim Brand der Universität vernichtet worden sind. 6.

Wie fast nicht anders zu erwarten, teilte die UB Münster unter dem 31.1.93 mit: "Sämtliche Akten der Universitätsbibliothek Münster und ihrer Vorgängerorganisationen sind bei den verheerenden Luftangriffen auf Münster 1943-1945 verbrannt oder anderweitig vernichtet worden". Auch die Suche im Archiv der Universität war leider vergeblich, weder der Erlaß noch ein Bericht des Direktors konnten gefunden werden.

7.

Besonders erfreulich für den Autor war die rasche Antwort der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, die Kopien des Berichtsentwurfes des damaligen Direktors Dr. Pietschmann enthielt, ferner vier Listen mit Signaturen solcher Bücher, die für die Aktion infrage kämen, dazu Bandangaben.

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Der Berichtsentwurf geht leider auf inhaltliche Fragen nicht ein, sieht man von 950 Bänden Hannoverscher Zeitungen ab, doch die Tatsache der Nennung von Zahlen (ca. 10 000 Bände) und Signaturen auszuscheidender Bücher läßt schon auf das generelle Einverständnis des Bibliothekars mit der beabsichtigten Maßnahme schließen. Er hat folgenden Wortlaut: "Güttingen, den 26. Januar 1905 Euer Exzellenz Habe ich die Ehre, in Befolgung des Erlasses vom 9. Januar 1905 U I Nr.43 gehorsamst zu berichten, daß nach ungefährer, jedoch aus genauer Zählung innerhalb einzelner Fächer sich ergebender Schätzung im ganzen etwa 10 000 Bände den beabsichtigten Maßnahmen unterliegen würden, das wäre nicht ganz 2 Prozent des Bücherbestandes. Eingerechnet sind 950 Bände Zeitungen Hannoverschen Verlages, die wegen ihrer eventuellen Bedeutung für Ortsgeschichte und ähnliche Interessen aufbewahrt, jedoch nur in starkes Packpapier eingeschlagen und in einem Raum untergebracht werden, der sich zum Büchermagazin an sich wenig eignet.. Der Direktor Pietschmann"

Soweit der erhaltene Bericht des Direktors, der sich als Entwurf in der Handschriftenabteilung der Bibliothek befindet und als Kopie der textlich unveränderten Reinschrift im Archiv der Universität Göttingen (Kuratorialakte 4 Vd 1, Nr. 109), dem ich, wie auch der Bibliothek selbst, für die Hilfe ganz außerordentlich dankbar bin. Aus einem Vermerk des Kurators Dr. Höpfher, der sich gleichfalls in den Kuratorialakten befindet, geht eindeutig hervor, daß der Bericht Pietschmanns urschriftlich am 30.1.1905 (also nur 3 Wochen nach Ausfertigung des Erlasses!) an das Ministerium geschickt und daß von ihm eine Kopie gefertigt wurde. Damit ist, neben der Königlichen Bibliothek Berlin, zumindest in einem zweiten Fall nachweisbar der erbetene Bericht nach Berlin gelangt und man muß davon ausgehen, daß das bei den anderen Bibliotheken in gleicher Weise, wenn auch kaum mit einer derartigen Sorgfalt und Geschwindigkeit, geschehen ist. Danach ist man versucht zu sagen, um 1900 lag Preußen in Göttingen! Und welche Bücher haben die Göttinger Kollegen auf Anweisung ihres Direktors nun vorgeschlagen? Ohne Frage liegt ein Teil der Antwort im Text der Anweisung, die glücklicherweise ebenfalls erhalten ist:

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HARTWIG LOHSE

"Königliche Universitäts-Bibliothek

Göttingen, den 20.Januar 1904 (mit dem Datum war P. noch im alten Jahr!)

In Umlauf gesetzt zur gefälligen Kenntnisnahme Diejenigen Herren Kollegen, welche mit der Führung der Kataloge beschäftigt sind, ersuche ich, etwaig für die beabsichtigten Maßnahmen geeignete größere Partien des Bestandes hierunter gefälligst in Vorschlag zu bringen. Besonders in Betracht kommen würden Reihen unveränderter oder unwesentlich veränderter Auflagen ein und desselben Werks, namentlich von Schul- und von Lehrbüchern und Elementarwerken. P." Keine Rede also von älteren Dissertationen oder Programmschriften oder von Natur- und Reisebeschreibungen, wie sie in Althoffs Erlaß aufgeführt werden, sie sind denn auch in den 4 großen Bogen mit Signaturen und Bandzahlen, die sich ebenfalls beim Vorgang in der Handschriftenabteilung der Göttinger Bibliothek finden ließen, nicht auszumachen. Dafür umso mehr Schul- und Lehrbücher sowie Elementarwerke. In den Signaturlisten werden insg. 1865 Bände aufgeführt, vor allem aus den Signaturgruppen Ling. III-VIII, Poet. Germ., Didact., Math., Phys., Chem., Botan., Zool., Hist. nat. und Astronom. Dazu kommen 950 Bände Zeitungen, also insg. 2850 Bände, die Pietschmann dann wohl von sich aus auf 10 000 hochgerechnet hat, da mit den genannten Signaturgruppen nur ein Bruchteil der mehrere hundert Gruppen umfassenden Gesamtsystematik erfaßt wurden. Soweit die quantitative Seite. Die Ermittlung der Buchtitel erfolgte bei einem Besuch in Göttingen ohne Schwierigkeiten über den alten systematischen Bandkatalog (RK), allerdings konnten aus Zeit- und Platzgründen nur Stichproben gemacht werden. Dabei stellte sich heraus, daß jene Schul- und Lehrbücher sowie Elementarwerke überwiegend aus Verlagen des ehemaligen Königreiches Hannover stammten, besonders den Verlagsorten Hannover, Braunschweig, Hildesheim, Osnabrück und selbst Göttingen, es sich also um quasi Pflichtexemplare handelte, die nach alter Gewohnheit nach Göttingen geschickt wurden und gewiß nicht in das Erwerbimgsprofil einer berühmten Universitätsbibliothek paßten, so das "Kleine Liederbuch für Volksschulen ... Hannover 1879 (Poet. Germ. I 5236523614) oder "Deutsche Gedichte für die Mittel- und Oberstufen höherer Mädchenschulen", Hannover 1895 (Poet. Germ I 4952-49527) in diversen Auflagen oder "Erstes Hilfsbuch beim Unterricht in der deutschen Sprache", Hannover 1832-1863 (Ling. VII 1755).

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Tote und "scheintote " Literatur

Neben den Elementarbüchern für die deutsche Sprache werden auch solche für Griechisch, Latein, Englisch und Französisch aufgeführt, z.T. mit Verlagsorten außerhalb Hannovers, die also entweder gekauft worden oder als Geschenk gekommen sind, so z.B. eine "Vollständige griechische Grammatik", Berlin 1730 (Ling. ΠΙ 705) oder "Graeca grammaticae rudimenta", Eton 1778 (Ling. III 8786) oder "Anleitung zur Teutschen Sprachkunst", München 1765 (Ling. VII 1524). In den naturwissenschaftlichen Fächern finden sich gleichfalls zahlreiche Hannoversche Verlage, so der "Leitfaden beim Unterrichte in der Naturlehre", Hannover 1838 (Phys. I 6112 u. 6113) oder "Physikstunden, angeschlossen an die Erscheinungen des täglichen Lebens", Hannover 1890 (Phys. I 6408), aber auch, etwa in der Astronomie, nicht wenige Bücher mit anderen deutschen Verlagsorten und aus dem 18. Jh., so "Von den Weltkörpern. Zur gemeinnützigen Kenntnis. Mit Kupfern.", Leipzig 1772 (Astronom. I 1671) oder "Populäre Sternkunde", Weimar 1799 (Astronom. I 1734) oder "Gemeinnützige Unterhaltungen über die Himmelskörper", Bern 1785 (Astronom 1 1708). Ein durchgehendes Auswahlprinzip läßt sich, trotz der vielen Bücher mit Hannoverschen Verlagen, bei dieser Stichprobe nicht erkennen. Aber war das angesichts der sehr vagen Anweisung des Direktors und der Individualität von immerhin 16 Beamten, die die Kenntnisnahme des Erlasses und der Anweisung durch ihre Unterschrift bestätigt haben, wirklich zu erwarten? Daß alle in der Stichprobe erfaßten 65 Titel (z.T. in zahlreichen Auflagen) wenig gebraucht waren, läßt sich bejahen, ebenfalls die Tatsache, daß man um 1900 den wissenschaftsgeschichtlichen Wert solcher Bücher noch nicht erkannte. Fragen muß man sich, warum diese Bücher denn überhaupt in der berühmten Göttinger Bibliothek eingestellt wurden und warum der Direktor in seinem Bericht nicht auf die mit einer Aussonderung verbundenen großen Probleme hingewiesen hat. Soweit jene einzige nachweislich gründliche und rasche Reaktion der angeschriebenen 11 preußischen Bibliotheken auf die Initiative Althoffs, die gleichwohl kaum Rückschlüsse zuläßt, wie die Bibliothekare in ihrer Gesamtheit über den Plan eines "Bücherkirchhofs" (so Ermans bissige Formulierung) dachten. Daß Althoff dennoch kapitulierte, läßt deutlich werden, wie wenig durchdacht sein Plan war. Aber auch darin unterscheiden wir uns heute kaum von der damaligen Zeit, oder wo ist nachzulesen, daß den "Empfehlungen" des Magazingutachtens von 1986 konkret und vor allem spürbar gefolgt wurde? Ich komme damit rasch zum Ende. Kiel (8) ließ telefonisch wissen, daß Unterlagen nicht gefunden werden konnten, Greifswald (9) teilte schriftlich mit, daß "der größte Teil der Akten noch ungeordnet und unerschlossen in den Räumen unseres Hauses lagert" (Schreiben vom 28.10.92) und die UB Berlin (11) teilte telefonisch mit, daß, wie in Kiel, keinerlei Unterlagen gefunden werden konnten. 155

HARTWIG LOHSE

Nach Königsberg (10) hatte der Verf. nicht geschrieben, was sollte er auch für eine Antwort erwarten? Doch nach Abschluß des Manuskripts kam ihm der Zufall zu Hilfe. Bei einem Besuch in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin entdeckte er bei der systematischen Durchsicht des brieflichen Nachlasses von Wilhelm Erman, der sich geschlossen in der Slg. Darmstädter befindet und glücklicherweise sorgfältig erschlossen ist, einen Brief des Königsberger Direktors Karl Boysen (seit 1899) an Erman mit Datum vom 6. März 1905 (2 b 1881 35), in dem er das Problem des Althoff-Erlasses anspricht. Dieser Brief, der sich bis zu Ermans Tod in seinem Besitz befand, ist ein weiterer Hinweis darauf, daß er sich mit seiner zeitlichen Festlegung des Erlasses (Ende 1905) eigentlich nicht "geirrt" haben kann. Zu unserem Thema enthält er die folgenden Sätze: "Von dem Bibliothekskirchhof in Celle hatte ich schon in Marburg von Roediger (Johannes Roediger, Direktor der UB Marburg seit 1887) gehört und konnte mir schon auf der Fahrt meine Antwort überlegen, wie vergnügt war ich aber, als ich diese Arbeit schon erledigt vorfand. Kollege Kochendörffer (Karl Kochendörffer, Oberbibliothekar an der UB Königsberg seit 1899) hatte in feiner Weise dem Ministerium die Absurdität des Plans klar zu machen versucht, indem er an Friedr. d. Großen Wort über die Nibelungen erinnerte, solche Scharteken sind keinen Schuß Pulver wert, sie mögen in der großen Bibliothek ihre Zeit abwarten, und daß trotzdem der Germanistik neue Wurzeln nationaler Kraft erwachsen seien. Er habe also doch mit der Vernichtung veralteter Lit. seine Bedenken etc. Dieser Erlaß ist glaube ich nicht sehr gefährlich, weil er zu monströs ist. Wer ihn aber ausgeheckt hat? Ein Bibliothekar wohl schwerlich, auch wohl nicht Herr Kästner, der hätte wohl nicht gewagt, sich in Widerspruch zu allem Hergebrachten zu setzen. Gehört habe ich in Berlin nichts darüber, aber wer? Ich kann nur vermuten is ipse potentissimus".11

Soweit die Antwort der UB Königsberg. Daß der Vergleich mit dem Nibelungenlied angesichts der in dem Erlaß genannten Kategorien besonders originell ist, kann man, wie auch bei Fick's Hinweis auf den "Abentheuerlichen Vogel in Gotha", wahrlich nicht behaupten, aber man weiß natürlich auch nicht, ob sie in diesem Wortlaut nach Berlin gegangen ist. Ob die Kritiken aller 11 Direktoren wirklich so "vernichtend" waren, wie Erman meint, wird sich angesichts der geschilderten desolaten Quellenlage wohl nie mehr feststellen lassen. Von Göttingen kann man das jedenfalls nicht behaupten, aber auch Bonn und Königsberg haben 11 Leider ließ sich der genannte Kästner wegen der Kürze der Zeit nicht ermitteln, mit "dem Mächtigsten" kann er eigentlich nur Althoff selbst gemeint haben.

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eher moderat reagiert. Doch das ist für den Bibliothekar von heute eigentlich unwesentlich. Er kann nur daraus lernen, daß er fiskalischen Erwägungen zur Einsparung von Geld (für Bauten) auf Dauer nur dann wirksam begegnen kann, wenn er selbst realistische und eindeutige Vorstellungen vom Erwerbungsprofil seiner Bibliothek hat, also von ihrer wahren - und nicht ihrer idealisierten - Aufgabe für das Gros ihrer Benutzer. Solange er jedoch nach der Devise handelt, zumindest bei den Erwerbungsarten Tausch und Geschenk, jedes Buch könne irgendwann einmal gebraucht und müsse daher eingestellt werden, entgegen der Devise des Wissenschaftsrates, es solle nur das eingestellt werden, was man auch kaufen würde12, muß er sich in der Defensive befinden und sich auch noch sagen lassen, Graue Literatur solle möglichst nach 5 Jahren makuliert werden13. Eine wirkliche Änderung, so fürchte ich, wird nur dann eintreten, wenn eines vermutlich nicht zu fernen Tages wirklich "gespart" werden muß. Doch dann geht es an die Substanz, dann werden wir auch nicht mehr genügend Mittel bekommen, um Bücher und Zeitschriften im bisherigen Umfang zu kaufen und dann gibt es Platz genug, um Minderwichtiges in Hülle und Fülle einzustellen. Dann brauchen Bücherkirchhöfe nicht mehr geplant zu werden, wie vor 90 Jahren.

12 Wissenschaftsrat. Empfehlungen zum Magazinbedarf wissenschaftlicher Bibliotheken. Köln 1986, hier S. 30. 13 Wissenschaftsrat. Stellungnahme zur Bibliotheksversorgung der FU Berlin. Berlin 1990, hier S. 32: "Sogenannte Graue Literatur sollte weitgehend nach fünf Jahren makuliert werden".

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Die ersten Jahre Die Universitäts- und Stadtbibliothek Köln unter Klemens Löffler Am 1. Juli des letzten Kriegsjahres 1918 übernahm Dr. phil. Klemens Löffler die Leitung der Stadtbibliothek Köln und trat damit die Nachfolge des am 31. Mai 1915 in den Ruhestand getretenen Prof. Dr. jur. Adolf Keysser an1. Die seit Ende des Jahres 1897 in einem neugotischen Gebäude am Gereonskloster untergebrachte Bibliothek war also mehr als drei Jahre ohne Direktor gewesen. Das könnte daran gelegen haben, daß man während der schweren Kriegszeit in Köln dringlichere Sorgen hatte, als es die Wiederbesetzung der Stelle des Bibliotheksdirektors eine war. Oder sollten sich die Stadtväter die Suche nach dem Nachfolger für den rührigen Keysser derart schwer gemacht haben, daß darüber Jahre hingingen? Wie dem auch sei, Löffler trat an die Spitze einer Institution, die sich in den letzten Jahrzehnten gut entwickelt hatte und neben anderen vergleichbaren Einrichtungen im Deutschen Reich durchaus bestehen konnte2. Sie besaß ca. 285.000 Bände, und es arbeiteten an ihr noch zwei Wissenschaftler mit dem Titel "Stadtbibliothekar", der als Historiker des Kölner Frühdrucks hervorgetretene Dr. phil. Otto Zaretzky und der Germanist Dr. phil. Joseph Götzen, der sich der rheinischen Geschichte annahm und seit 1912 eine laufende Kölnische Bibliographie veröffentlichte3. Außerdem gehörten zum Personal zwölf weitere Mitarbeiter vom Stadtsekretär bis zum Heizer und Hilfsdiener. Was das wissenschaftliche Niveau angeht, brauchte sich Löffler vor dem gebildeten kölnischen Publikum und - was wahrscheinlich wichtiger war! - auch nicht vor seinen beiden neuen Kollegen zu verstecken4. Er hatte ein ausgedehntes Studium der Fächer Geschichte, Germanistik und Geographie hinter sich und promovierte nach Ablegung des Staatsexamens 1904 in Halle mit einem Thema zur mittelalterlichen Kirchengeschichte Westfalens. Im folgenden Jahr legte er die bibliothekarische Fachprüfung ab und kam über die Preußische Staatsbibliothek und die 1 2

3 4

Alexandra Habermann u.a., Lexikon deutscher wissenschaftlicher Bibliothekare 1925-1980. Frankfurt a.M. 1985, S. 156-158 und 200. Adolf Keysser, Mitteilungen über die Stadtbibliothek in Coeln 1602-1902. Fahrer für ihre Benutzer. 4., bis 1905 weitergeführte Aufl. Coeln 1905; Hanns Michael Crass, Bibliotheksbauten des 19. Jahrhunderts in Deutschland. München 1976, S. 57-59. Das Jahrbuch der Deutschen Bibliotheken war eine der wichtigsten Grundlagen für den hier vorgelegten Aufsatz. Habermann, Lexikon (wie oben Anm. 1) S. 98 und 392. Franz Flaskamp, Klemens Löffler. Sein geistes- und kirchengeschichtliches Verdienst. Mit Bibliographie. Li: Jahrbuch des Vereins fQr Westfälische Kirchengeschichte 61, 1968, S. 141151. Während Löffler im Jahr seines Todes (1933) einige Nachrufe erhielt, die sich mit seiner Bedeutung als Wissenschaftler befassen, blieb er in den bibliothekarischen Fachzeitschriften ohne eine Würdigung.

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UB Breslau 1909 wieder an die UB Münster i.W., wo er schon sein Volontariat abgelegt hatte und nun bis zu seiner Berufung nach Köln blieb. Noch als Student hatte er begonnen, wissenschaftliche Untersuchungen zur westfälischen Kirchengeschichte zu veröffentlichen. Er wandte sich dann auch Themen der Buchdruckgeschichte und des Schreibwesens der Fraterherren zu. Durch seine Edition der Schriften des evangelischen Theologen Hermann Hamelmann (1526-1595) war er auch mit der Reformationsgeschichte vertraut. Seine wissenschaftlichen Leistungen dürften ihn den Kölnern ebenso empfohlen haben wie auch die Tatsache, daß er nur wenige Jahre jünger als Zaretzky und Götzen und als gebürtiger Eichsfelder (* 30. Januar 1881 in Steinbach) auch noch katholisch war. Löffler dürfte in der Erwartung an den Rhein gekommen sein, daß ihm die Leitung der nach damaligen Vorstellungen gut mit Personal ausgestatteten Bibliothek Zeit und Gelegenheit lassen werde, weiterhin wissenschaftlich tätig zu sein. Er ließ darin ungeachtet der unruhigen Zeitläufte keine Unterbrechung eintreten und erwies auch dem Genius loci seine Reverenz, indem er sich neben den weiterhin bevorzugten westfälischen Themen auch solchen mit kölnischem Bezug zuwandte5. Aber das Schicksal hatte es anders über ihn beschlossen: mit dem ruhigen und für andere Geschäfte nur forderlichen Posten eines Stadtbibliothekars wurde es nichts. Löffler geriet vielmehr in den Trubel einer Bibliotheksneugründung sozusagen "aus dem Stand heraus" und mußte sich mit Problemen und Verhältnissen herumplagen, an die er gewiß bei seinem Wechsel nach Köln nicht gedacht hatte und für die er von den Kölner Verantwortlichen nicht ausgesucht worden war. Seit längerem gab es Bestrebungen, die am 1. Mai 1901 begründete Kölner Handelshochschule auszubauen und zu erweitern6. Es war vor allem deren Studiendirektor, Prof. Dr. Christian Eckert (1874-1952), der mit Nachdruck und Hartnäckigkeit dafür eintrat. Das am 26. Oktober 1907 bezogene Hochschulgebäude im Römerpark (Claudiusstr. 1) erhielt bereits 1914 einen Erweiterungsbau, der durch die Zunahme der Studentenzahlen und die 1912 gegründete Hochschule für kommunale und soziale Verwaltung nötig geworden war. Auch während des Ersten Weltkrieges wurden die Erweiterungspläne nicht zu den Akten gelegt, Eckert trat vielmehr am 16. März 1915 mit einer neuerlichen Denkschrift an die Öffentlichkeit; die Stadtverordnetenversammlung bewilligte am 6. März 1918 die Mittel für ein Forschungsinstitut für Sozialwissenschaften an der Handelshochschule. Die Waffen schwiegen noch keine zwei Monate, da trat Oberbürgermeister Konrad Adenauer (18765

6

Hier ist vor allein seine Kölnische Bibliotheksgeschichte im Umriß, 1923, zu nennen (Flaskamp, oben Anm. 1, Nr. 51 der Bibliographie). Nicht bei Flaskamp berücksichtigt sind die beiden Veröffentlichungen Löfflers über das Kölner Fraterherrenhaus Weidenbach in den Annalen des Historischen Vereins fllr den Niederrhein 102, 1918, S. 99-128 und 103, 1919, S. 1-47. Sie waren so etwas wie eine Huldigung an die Stadt, der er hinfort zu dien«) beabsichtigte. Nicht von ungefähr erhielt er noch 1918 den Titel eines Professors verliehen. Matthias Weber, Die Alte Universität zu Köln. Köln 1982; Kölner Universitätsgeschichte. Bd. 2. Köln, Wien 1988, S. 176-182, 272-300; Bd. 3, S. 8-10.

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1967) mit einer Denkschrift hervor, welche die Neugründung einer Universität forderte. Mit Ausdauer und diplomatischem Geschick gelang es Adenauer und Eckert, ihre Vorstellungen in Berlin akzeptabel zu machen und sie auch gegen die beträchtlichen Schwierigkeiten in Köln selbst durchzusetzen. Zu den Argumenten gehörte etwa die Forderung, nach dem Fortfall der Universität in Straßburg müsse nun ein neues geistiges Bollwerk gegen die Siegermächte errichtet werden. Was dem Kultusminister in Berlin die Zustimmung zu einer neuen Universität in Köln nicht zuletzt ermöglichte, war die Bereitschaft der Stadt Köln, die gesamten Unterhaltskosten zu tragen. Gegen ein derart schlagkräftiges Argument blieben auch die Bedenken der Ministerialbürokratie und die Einsprüche der Universität Bonn schließlich wirkungslos. Am 29. Mai 1919 wurde der Universitätsvertrag zwischen der Stadt Köln und dem Land unterzeichnet. Mit einem Festakt im Gürzenich fand am 12. Juni desselben Jahres die Eröffnung statt. Der Lehrbetrieb wurde mit einem "Zwischensemester", das vom 22. September bis zum 20. Dezember 1919 währte, mehr oder weniger im alten Rahmen aufgenommen. Es gab zunächst nur eine Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche und eine Medizinische Fakultät; letztere nahm ihre Arbeit als Nachfolgeeinrichtung der 1904 eröffneten Akademie für praktische Medizin auf. Bis zur Gründung der Juristischen und der Philosophischen Fakultäten im folgenden Jahr hatte die Errichtung der Universität bibliothekarisch noch keine spürbaren Konsequenzen. Für beide Fakultäten gab es bereits Bibliotheken. Gleichzeitig mit der Handelshochschule war deren Bibliothek 1901 gegründet worden. Sie hatte sich zu einer respektablen Größe von ca. 80.000 Bänden entwickelt und wurde von dem energischen Dr. phil. Georg Witzel (1881-1964) geleitet, dem vier Hilfskräfte zur Seite standen7. Der Universitätsvertrag erwähnt in Zusammenhang mit den wissenschaftlichen Instituten, welche die Stadt Köln der neuen Universität zur Verfügung stellen müsse, auch diese Bibliothek zusammen mit sechs Seminarbibliotheken, die sämtlich zur Handelshochschule gehörten8. Den Medizinern stand die seit 1908 existierende Büchersammlung der Akademie für praktische Medizin zur Verfügung, die am 1. Januar 1920 Dr. phil. Gottfried Kricker (18861972) als Leiter übernahm9. Sie hatte einen Bestand von rund 20.000 Bänden und war organisatorisch noch deutlich unterentwickelt. Für die Situation zur Zeit der Universitätsgründung ist die Darstellung der Bibliotheksverhältnisse im Vorlesungsverzeichnis des "Zwischensemesters" 1919 charakteristisch. Unter der Überschrift "Bibliotheken und Sammlungen" liest man dort: "Bis zur Neuordnung des Bibliothekswesens der Universität durch Erstellung eines Neubaus und Zusammenfassung der wissenschaft7 8 9

Habermann, Lexikon (wie oben Anm. 1) S. 388. Kölner Universitätsgeschichte (wie oben Anm. 6) Π, S. 336-339. Habermann, Lexikon (wie oben Anm. 1) S. 171.

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liehen Bibliotheken von Köln stehen drei räumlich getrennte, aber durch Arbeitsgemeinschaft verbundene Bibliotheken zur Verfügung: 1. die Universitätsbibliothek, 2. die Bibliothek der Akademie fur praktische Medizin, 3. die Stadtbibliothek. " Den Studierenden werden die Bestandsgrößen der drei Bibliotheken genannt, und sie erfahren weiter, die Stadtbibliothek habe mit der "UB", d.h. der Bibliothek der ehemaligen Handelshochschule, folgende Arbeitsteilung vereinbart: Am Gereonskloster werde man sich der Fächer Philosophie und Pädagogik, Sprachen und Literaturen sowie der Geschichtsforschung annehmen. Bestellungen könnten an jedem der drei Standorte aufgegeben werden. Die Bücher würden dann "mit größter Beschleunigung" beschafft und von der besitzenden Bibliothek in Köln herangeholt und dem Besteller ausgehändigt. Damit war die vereinbarte Arbeitsgemeinschaft im wesentlichen beschrieben. Die Stadtbibliothek rangierte bescheiden an dritter Stelle, den dekorativen Titel "Universitätsbibliothek" überließ sie "bis zur Neuordnung des Bibliothekswesens" der erstgenannten Bibliothek an der Claudiusstraße. Mit diesem Namen erscheint die Bibliothek der Handelshochschule auch im Jahrbuch der Deutschen Bibliotheken für 1920 (Jahrgang 14), wo allerdings die Stadtbibliothek als älteste und größte Institution zuerst genannt wird. Von einer Arbeitsgemeinschaft ist hier keine Rede. Das Vorlesungsverzeichnis für das Sommersemester 1920, das vom 15. April bis zum 1. August währte, hat den die Bibliotheken betreffenden Text ohne Änderungen aus dem vorhergehenden Verzeichnis übernommen. Wie es scheint, sahen die leitenden Bibliothekare in Köln keinen Anlaß, an den bestehenden Verhältnissen viel zu ändern. Daß man in der Claudiusstraße ebensowenig wie in der Lindenburg kein Interesse daran hatte, die bisherige Selbständigkeit zu verlieren und in einer größeren Einheit aufzugehen, kann man verstehen. Beide waren auch ohne große organisatorische Änderungen in der Lage, ihren neuen Aufgaben, die im wesentlichen die alten blieben, nachzukommen. Am Gereonskloster mochte man glauben, mit der Bekundung, sich für die wichtigsten geisteswissenschaftlichen Fächer stark zu machen, das Seine zur Lösung der heraufziehenden schwierigen Probleme inbezug auf die bibliothekarische Versorgung der jungen Universität getan zu haben. Die Philosophische Fakultät wurde erst am 1. April 1920 gegründet. An ihr studierten zunächst nur 274 Personen. Die Tausendergrenze wurde erst im Wintersemester 1923/24 knapp und kurzfristig erreicht10. Dagegen studierten im Sommersemester 1920 schon mehr als 2.000 junge Leute an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät. Löffler scheint unter diesen Umständen keine Eile gehabt zu haben, die Stadtbibliothek 10 Kölner Universitätsgeschichte (wie oben Anm. 6) ΠΙ, S. 293.

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stärker an die Universität zu binden und aus seiner isolierten Position hinauszutreten. Das Kuratorium der Universität hatte aber von Anfang an weitergehende Pläne und wollte es nicht bei einer bloßen Arbeitsgemeinschaft bewenden lassen. Am 28. Juli 1919 bekundete es sein Einverständnis damit, daß die Stadtbibliothek mit der Universitätsbibliothek, d.h. der Bibliothek der Handelshochschule, vereinigt werde. Die aus der Vereinigung hervorgehende neue Institution sollte den Namen "Stadt- und Universitätsbibliothek" - also wie die unter ähnlichen Umständen entstandene Frankfurter UB - erhalten und unter "gemeinsamer Oberleitung" stehen11. Die Stadt Köln ließ sich mit einem entsprechenden Vorgehen Zeit und gab erst am 14. Mai 1920, nachdem durch Gründung der Philosophischen Fakultät Handlungsbedarf verursacht worden war, ihre Einwilligung zu den Plänen der Universität12. Folgerichtig stellt das Vorlesungsverzeichnis für das Wintersemester 1920/21 nicht mehr drei selbständige Einrichtungen, sondern die in drei Abteilungen gegliederte "Universitäts- und Stadtbibliothek" vor. Auch das Jahrbuch der Deutschen Bibliotheken, das 1922 "nach einer Pause von zwei Jahren" wegen der Zeitumstände "inhaltlich gekürzt und äußerlich vereinfacht" erschien, berichtet entsprechend. Es gliedert aber die Eintragung dreifach und macht auch die statistischen Angaben und die Aufzählung des Personals in drei Blöcken. Dabei ist es bis zur räumlichen Vereinigung der Abteilungen I und II im Jahre 1934 geblieben. Über die Abteilung III ("Medizinische") ist bis in die Gegenwart immer getrennt berichtet worden. Damit ist der weiterlebende "Separatismus" der Abteilungen noch heute zu spüren. Die Zeitgenossen haben sie nicht nur gemerkt, sondern darunter gelitten und sich bei jeder Gelegenheit lauthals darüber beklagt. Sie scheinen die Schuld an den vor allem für die Philosophische Fakultät unbefriedigenden Zuständen in erster Linie Klemens Löffler angelastet zu haben, der zum Leiter der Gesamtbibliothek bestellt worden war. Wir werden uns zu fragen haben, ob die Vorwürfe gegen Löffler berechtigt waren und ob er es wirklich an Kraft und Willen hat fehlen lassen, aus den räumlich getrennten und auf Selbständigkeit bedachten Teilbibliotheken, die nur dem Namen nach Abteilungen waren, eine funktionierende Einheit zu bilden. Es sollen dabei auch die zweifellos 11 Universitätsarchiv Köln (UAK), Zugang 332/1: Beschlußbuch des Kuratoriums vom 14.7.1919 bis 15.11.1924; vgl. Kölner Universitätsgeschichte (wie oben Anm. 6) ΙΠ, S. 13. 12 Das Datum (ohne Quellenangabe) bei Werner Krieg, Die Universitäts- und Stadtbibliothek. In: Die Universität zu Köln 1919-1969. Basel 1969, S. 149-153. Es wird bestätigt durch eine Nachricht in der Kölner Universitäts-Zeitung 2, Nr. 3, vom 29. Mai 1920, wonach sich das Kuratorium der Universität und die städtische Deputation für Archiv und Stadtbibliothek über die Vereinigung der Universitätsbibliothek und der Stadtbibliothek unter ihrem heutigen Namen geeinigt haben. Den Nachweis verdanke ich meinem Kollegen Privatdozent Dr. Wolfgang Schmitz. Nach freundlicher Mitteilung des Historischen Archivs der Stadt Köln vom 12.1.1993 sind die AusschuBprotokolle fllr den fraglichen Zeitraum nicht mehr erhalten, so daß ein völlig eindeutiger Nachweis nicht geführt werden kann.

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vorhandenen Erfolge nicht übersehen und die übertriebenen Forderungen einzelner Hochschullehrer beim Namen genannt werden13. Es wird leicht übersehen, daß die auf dem Papier mit zwei knappen Verwaltungsakten gegründete ÜB unter juristischem Gesichtswinkel ein recht komplexes Gebilde war. Auf Bitten der Professorenschaft äußerte sich zu diesem Thema am 4. Januar 1922 der geschäftsführende Vorsitzende des Kuratoriums, Prof. Christian Eckert14. Er betonte, daß die preußischen Universitätsbibliotheken dem Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung bzw. seinem Vertreter am Ort, dem Kurator, unterstünden. Sie seien daher "von den Universitäten unabhängig"; diese versuchten jedoch, über Bibliothekskommissionen einen gewissen Einfluß auf die Geschäftsführung an den Bibliotheken zu nehmen. In Köln seien aber nur die Abteilungen II und ΠΙ dem Kurator unterstellt, die Abteilung I sei nach wie vor eine städtische Einrichtung, über die der Oberbürgermeister zu bestimmen habe. Das Kuratorium könne nur dadurch in einem gewissen Rahmen mitreden, daß es eine (neugeschaffene) Stelle des wissenschaftlichen Dienstes besolde und Mittel aus dem Universitätsetat für die Buchbeschaffung bereitstelle. Im übrigen sei die Universität "auf das seither stets bewiesene Entgegenkommen des Direktors der Universitäts- und Stadtbibliothek" angewiesen. Tatsächlich seien seit der Gründung aus den für die Abteilung I bewilligten Mitteln große Anschaffungen getätigt worden, welche insbesondere der Philosophischen Fakultät zugutegekommen seien. Eckert war sichtlich bemüht, die Verhältnisse positiv darzustellen und Konflikten vorzubeugen. Das wird auch aus seiner Bemerkung deutlich, man könne "über die Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit dieser Kommissionen (d.h. der Bibliothekskommissionen) geteilter Ansicht sein. " Es waren in erster Linie Vertreter der Philosophischen Fakultät, die mit der bibliothekarischen Versorgung unzufrieden waren und über eine Bibliothekskommission auf eine Besserung hinwirken wollten. Auf Antrag des Dekans dieser Fakultät, des Historikers und Politikers Prof. Dr. Martin Spahn (1875-1945), befaßte sich der Senat am 27. Juli 1921 mit der Gründung einer aus drei Herren zu bildenden "Vorkommission"15. Mit "Rücksicht auf die von der Philosophischen Fakultät betonte Unzulänglichkeit der Universitäts- und Stadtbibliothek" solle die Möglichkeit untersucht werden, eine Bibliothekskommission der Universität "neben der städt. Kommission" - gemeint ist die "Deputation für die Bibliotheksverwaltung", mit der Verwaltung und Stadtverordnetenversamm13 Die Würdigung bei Habermann, Lexikon (wie oben Anm. 1) S. 200 ist fraglos zu positiv, während die dort genannte Zuwachszahl des Bestandes (100.000) zu niedrig ist. Abgewogener äußert sich Gerhart Lohse, Die Bibliotheksdirektoren der ehemals preußischen Universitäten und Technischen Hochschulen 1900-1985. Köln, Wien 1988, S. 105. 14 UAK Zugang 28, Nr. 383, Bl. 15. Für eine vorlagengetreue Kopie des die Bibliothekskommission betreffenden Aktenbandes, der mir beim Ausscheiden aus dem aktiven Dienst zum 31. Dezember 1985 aberreicht wurde, habe ich dem Leiter des Archivs, Prof. Dr. Erich Meuthen, und der Sachbearbeiterin, Frau Gerda Schütz, sehr zu danken. 15 UAK Zugang 28, Nr. 383, 1-3.

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lung der Stadt Köln Einfluß auf die Geschäftsführung der Stadtbibliothek nahmen - ins Leben zu rufen. Nach einigem Hin und Her kam es am 5. Juli 1922 im Senat zu einem Beschluß über die Bildung und Zusammensetzung einer Bibliothekskommission16. In ihr waren die Juristische und die Medizinische Fakultät mit je einem Angehörigen, die beiden anderen Fakultäten mit je zwei vertreten. Von den Vertretern der Philosophischen Fakultät mußte einer die mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer lehren. Den Vorsitz übernahm der Rektor. Der Aufgabenkatalog ist, wie nicht anders zu erwarten, ziemlich allgemein und praxisfern gehalten. So sollte die Kommission eine "dauernde Fühlung zwischen den Leitern der 3 Bibliotheksabteilungen untereinander und dem Lehrkörper" herstellen. Sie sollte weiterhin die Universitätsinteressen gegenüber der städtischen Deputation für die Bibliotheksverwaltung vertreten. Sie sollte den "Ausbau der Fakultäten mit dem Ausbau der Bibliotheken in Einklang" bringen und "Einfluß auf die Bücherbeschaffung und Katalogisierung" gewinnen. Schließlich sei die Kommission zur Entgegennahme von Wünschen da. Unzuständig erklärte sich die Kommission ausdrücklich für Gründung und Angelegenheiten von Seminar- und Institutsbibliotheken. Den drei die Abteilungen leitenden Bibliothekaren wurde der Senatsbeschluß zur Kenntnis gebracht, sie gehörten insgesamt der Kommission mit beratender Stimme an. Bei den Beratungen über die Bildung der Kommission waren sie jedoch nicht herangezogen worden. Während sich Witzel und Kricker mit einer stillschweigenden Kenntnisnahme begnügten, reagierte Löffler in einer für ihn sehr charakteristischen Art und Weise, die für die Zukunft nichts Gutes ahnen ließ. Er bestätigte den Eingang der "Bestimmungen betr. die Bibliothekskommission" am 13. Juli 1922 und fährt dann fort: "Ich muss mir aber meine Stellung von Fall zu Fall vorbehalten, da ich mich nicht für befugt halten kann, irgendetwas von den Verwaltungsgrundsätzen der Bibliothek und meiner Dienstanweisung an eine Instanz abzutreten, die in dem Organisationsplan der Universitätsbibliothek nicht vorgesehen war und von deren Gründung und Absichten wohl anderen, aber nicht mir Kenntnis gegeben ist."

Der harsche Ton des Schreibens wird noch durch das Fehlen einer Höflichkeitsformel am Schluß unterstrichen. Löffler war offensichtlich nicht gewillt, sich in erster Linie als Bibliothekar der Universität zu fühlen und entsprechend zu handeln, sondern zog sich hinter seine Dienstanweisungen als Stadtbibliothekar zurück. Auch die strikte Weigerung, von den bisherigen Verwaltungsgrundsätzen, die nur die der Stadtbibliothek sein konnten, etwas preiszugeben, war nicht geeignet, ihm in der Professorenschaft Freunde zu gewinnen. 16 UAK Zugang 28, Nr. 383, 27 und 35-42.

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Man wird ihm nicht übelnehmen dürfen, daß er aus der juristischen Zwitterstellung der Abteilung I Kapital zu schlagen versuchte, und ein geschicktes Ausspielen der doppelten Zuständigkeit hätte durchaus für die Bibliothek von Nutzen sein können. Aber das lag Löffler nicht, wie ihm auch jedes diplomatische Geschick abging. Er scheint vielmehr auf offene und versteckte Verweigerung gesetzt zu haben. Dafür gibt es viele Anzeichen. Als die junge Universität ein Alter von fünf Jahren erreicht hatte, brachte sie eine Schrift heraus, die über das Geleistete Rechenschaft ablegen sollte 17 . Löffler erhielt Gelegenheit, darin die Universitäts- und Stadtbibliothek vorzustellen (S. 164172). Er nutzte die gebotene Möglichkeit vor allem, um auf die schwierige Situation der Abteilung I, der Stadtbibliothek, hinzuweisen. Ausdrücklich betont er, daß die große Entfernung zwischen der Universität und der für die Versorgung der geisteswissenschaftlichen Fächer zuständigen Stadtbibliothek große Schwierigkeiten verursache, denen man mit einem Autodienst beizukommen suche. Bei der Abteilung I werde an einem "örtlichen Zentralkatalog" gearbeitet, "und an Abteilung II sind bereits größere Abschnitte einer Katalogabschrift von Abteilung I abgegeben worden". Neben den richtigerweise nicht verschwiegenen Mängeln hätte er sicher gutgetan, die gute Versorgung der drei nichtphilosophischen Fakultäten durch die beiden gut ausgestatteten und benutzerfreundlich gelegenen Abteilungen II und ΙΠ herauszustellen. Die apologetische Grundtendenz des Berichtes ist unverkennbar, und sie kehrt auch in dem fünf Jahre später veröffentlichten Bericht aus Anlaß des zehnjährigen Bestehens nahezu unverändert und teilweise wortgetreu wieder18. Besonders ins Auge fällt, daß Löffler selbst 1929 die unter seiner Oberleitung stehende Universitäts- und Stadtbibliothek immer noch als eine, wenn auch enge Arbeitsgemeinschaft verstanden haben möchte. Das mußte Wasser auf die Mühlen der aus Professorenkreisen von Jahr zu Jahr lauter werdenden Kritik sein! Wie zu erwarten, kamen die Beanstandungen nicht zuletzt in der Bibliothekskommission zur Sprache. Allerdings war die Häufigkeit, mit der die Kommission zu Sitzungen zusammentrat, nicht geeignet, die in den für sie erlassenen Grundsätzen genannten Ziele zu erreichen; wie sich auch die Bibliothekare nicht über unangemessene Eingriffe in ihre Tätigkeit beschweren konnten. Wenn die erhaltene Akte über die Bibliothekskommission eine vollständige Dokumentation von deren Tätigkeit darbietet - und es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln -, dann trat sie in den Jahren 1923 bis 1929 nur fünf Mal zusammen. In den letzten Jahren von Löfflers Direktorat erhielt der Rektor auf seine Umfragen, ob eine Sitzung der Kommission von den Mitgliedern gewünscht werde, nur negative Antworten.

17 Die Universität Köln im ersten Jahrfünft nach ihrer Wiederaufrichtung 1919-1924. Köln 1925. 18 Universität Köln 1919-1929. Köln 1929, S. 285-292.

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Die Protokolle der Kommissionssitzungen lassen erkennen, daß man, wenn man schon zusammenkam, auch tatsächlich die Benutzerseite tangierende Punkte erörterte. Da ging es etwa um die zeitweilige Auslage der laufenden Zeitschriften, die von der Abteilung I abonniert waren, in der Claudiusstraße oder um Fragen des auswärtigen Leihverkehrs. Beifällig akzeptierte die Kommission im Juni 1929 auch das "Abkommen über eine Arbeitsgemeinschaft der Universitätsbibliotheken Bonn und Köln", das am 5. Dezember 1928 zustandegekommen war 19 . Es ging da einmal um einen täglichen Autofahrdienst zur Beschleunigung des Leihverkehrs und zum anderen um eine Abstimmung der beiderseitigen Beschaffungspolitik. Der UB Bonn wurden die Veröffentlichungen des romanischen und niederländischen Kulturkreises überlassen, während sich die Kölner auf diesem Gebiet zurückhalten und nur das unbedingt Notwendige anschaffen sollten. Sie übernahmen es, "Werke und Zeitschriften des angelsächsischen Kulturkreises" im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten zu erwerben. Gewiß, derartige Abmachungen sind leichter zu treffen, als im Tagesbetrieb auch durchzuhalten. Löffler scheint von diesem Abkommen wenig oder nichts gehalten zu haben. Er überließ es seinem Stellvertreter, dem "Ersten Bibliotheksrat" Witzel, Abkommen und Ausführungsbestimmungen zu unterzeichnen. Nur wenige Tage nach der Kommissionssitzung übte Löffler grob formulierte Kritik an der abgestimmten Beschaffung mit der UB Bonn und der angeblich schwankenden Einstellung der Kommission dazu20. Auch wenn aus den Akten nicht alle Einzelheiten der unerquicklichen Auseinandersetzungen deutlich werden, so spürt man doch, daß Löffler sich in eine ausweglose Lage manövriert hatte. Mangelndes Fingerspitzengefühl und ungeschicktes Vorgehen bewies Löffler auch in einer Sitzung der Kommission vom 11. Juli 1927, als er sich - grundsätzlich zu Recht - gegen das Ansinnen einiger Professoren zur Wehr setzte, ihnen Inkunabeln zur Benutzung mit nach Hause zu geben. Er lehnte jede Herausgabe, auch die von seinem Kollegen Witzel vorgeschlagene Uberbringung durch einen zuverlässigen Boten in die Räume der Abteilung Π kategorisch ab und machte sich nicht die Mühe, seine Haltung verständlich zu machen21. Schließlich brach der Rektor die Behandlung des Tagesordnungspunktes ab, "da eine Verständigung bei dem ablehnenden Verhalten Prof. Löffler's nicht möglich erscheine". Wenn Löffler in dieser Sache auch Sieger geblieben war, so hatte er doch einen Pyrrhussieg errungen. Wie sehr sein Ansehen in Professorenkreisen gesunken war, geht aus einem Brief des Juristen Prof. Dr. Hans Carl Nipperdey (1895-1968) vom 8.

19 UAK Zugang 28, Nr. 383, Bl. 111-113. 20 UAK Zugang 28, Nr. 383, BI. 121-122. 21 UAK Zugang 28, Nr. 383, Bl. 92-94.

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November 1928 an den Rektor hervor22. Unter Bezugnahme auf eine Eingabe Löfflers vom 22. Oktober des Jahres (nicht bei den Akten) faßt der Professor zusammen: "Ueber die Unfähigkeit des Herrn Löffler bestand schon im vorigen Jahr in der Bibliothekskommission (d.h. bei der Sitzung vom 11. Juli 1927) nur eine Meinung". Auch der Philologe Prof. Dr. Joseph Kroll (1889-1980) beschwerte sich am 17. September 1928 bei dem Kölner Bürgermeister Dr. Max Berndorff (1878-1948) über Löffler und ging mehr in die Einzelheiten23: "Prof. Löffler hat leider in keiner Weise das Zeug zu einem leitenden Manne, er verzettelt sich in Kleinigkeiten und sogar in Kleinlichkeiten, er hält sich fortgesetzt an Formalitäten, anstatt in das Wesen einer Sache einzudringen. Es fehlt ihm durchaus die Fähigkeit, Gegensätze auszugleichen und zu den Personen, mit denen er zusammenarbeiten muß, überhaupt in ein erträgliches Verhältnis zu kommen. "

Wir können hier darauf verzichten, die weitere Entwicklung des Falles Löffler zu verfolgen, da dies schon von Hans-Gerd Happel in einem allerdings etwas überraschenden Zusammenhang geschehen ist 24 . Es sei nur in Erinnerung gerufen, daß schließlich ein ausführliches Gutachten des Direktors der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt a.M., Prof. Dr. Oehler (1878-1948), der Universität die Handhabe bot, auf die Entfernung Löfflers aus dem Amt hinzuwirken. Es ist wichtig zu wissen, daß Oehler sein Urteil im November 1932 abgab, daß also politische Umstände keine Rolle gespielt haben. Der plötzliche Tod Löfflers am 17. März 1933 löste das Problem dann in überraschend glimpflicher Manier. Es soll hier nur noch eine Angelegenheit aus dem Dunkel der Vergessenheit hervorgeholt werden, weil sie zu dem widersprüchlichen Bild des Mannes einige neue Linien hinzufügt. Am 12. Juni 1928 stellte er die Bibliothekskommission vor die Frage, wie sie sich zu einer Abtretung der Rheinischen Abteilung von Abteilung I an das Rheinische Museum der Stadt Köln stelle25. Er regte auch an, die an der Universität lehrenden Historiker als besonders Betroffene dazu um Stellung zu bitten. Die Akten geben keine Auskunft über die von Löffler für einen derart schwerwiegenden Schritt vorgebrachte Begründung. Wer sich aber ein wenig mit der Geschichte der Kölner Stadtbibliothek auskennt, der 22 UAK Zugang 28, Nr. 383, Bl. 118; vgl. Hans-Gerd Happel, Die Universitäts- und Stadtbibliothek Köln im Dritten Reich. In: Die Universitätsbibliotheken Heidelberg, Jena und Köln unter dem Nationalsozialismus. Hrsg. von Ingo Toussaint. München usw. 1989, S. 294. 23 Happel, Universitàts- und Stadtbibliothek (wie vorherige Anm.), S. 295. Angeschrieben wurde mit Bürgermeister Berndorff (nicht Bemsdorffl) wohl der in der städtischen Deputation für die Stadtbibliothek mitwirkende Beamte der Stadt. Vgl. Robert Steimel, Kölner Köpfe. Köln-Zollstock 1958, Sp. 55. 24 Happel, Universitäts- und Stadtbibliothek (wie oben Anm. 22) hat seiner Darstellung der NSZeit ein Kapitel "Die Universitäts- und Stadtbibliothek Köln vor der Übernahme des Direktorats durch Hermann Corsten" (S. 292-296) vorangestellt. 25 UAK Zugang 28, Nr. 384.

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kann über einen solchen Vorschlag nur den Kopf schütteln. War es doch eines der wichtigsten Anliegen von Löfflers Vorgänger im Amt, Prof. Dr. Adolf Keysser (1850-1932), gewesen, der Stadtbibliothek durch eine intensive Sammeltätigkeit und die Veröffentlichung von einschlägigen Katalogen zu regionaler Bedeutung zu verhelfen26. Wenn die Stadtbibliothek Köln unter ihresgleichen hervorragte, dann war es vor allem wegen der Fülle der hier zusammengebrachten Rhenensien. Und das wollte Löffler wirklich kurzerhand preisgeben? Wie es scheint, griff Löffler bei diesem Schachzug eine etwa zwei Jahre alte Anregung des Wirtschaftshistorikers Prof. Dr. Bruno Kuske (1876-1964) auf, die Rheinische Abteilung mit dem Rheinischen Museum und dem Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchiv zu vereinigen. Kuske hatte den Eindruck, daß in einem derartigen Schwerpunkt die Literatur zur Geschichte, Wirtschaft und Kultur der Rheinlande besser gepflegt werde als von dem offenbar wenig interessierten Löffler. Aber nun hatten sich die Voraussetzungen völlig geändert, und Kuske rückte von seinem damaligen Vorschlag in aller Form wieder ab. Er legte dem Rektor gegenüber ausführlich die gegen den Vorschlag sprechenden Argumente dar und gab in einem getrennten Schreiben auch einige Hintergrundinformationen, die einiges Licht in die Zustände am Gereonskloster werfen. Es sei bekannt, daß Löffler zu seinem Kollegen Götzen, dem die Rhenensien anvertraut waren, von Anfang an ein schlechtes persönliches Verhältnis habe. Dieser habe darum das Verlangen, von Löffler wegzukommen und eine gewisse Selbständigkeit zu gewinnen. Daß Löffler dieses Intrigenspiel mitmachte, muß sehr verwundern. Wollte man alle Personalprobleme auf diese merkwürdige Art und Weise lösen, kämen große Teile unserer Bibliotheken niemals zur Ruhe! Mit Ausnahme von Prof. Dr. Gerhard Kallen (1884-1973), der die rheinische Geschichtsforschung in Köln vertrat und hier ein Konkurrenzunternehmen zum Bonner Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande witterte, wurde Löfflers Vorschlag von allen Historikern mehr oder weniger scharf abgelehnt. Wie es der Zufall will, ist der letzte Vorgang des Aktenfaszikels, der von einem Antrag Martin Spahns eröffnet wird, von ebendemselben, aparterweise auf Briefpapier des Deutschen Reichstages - Spahn war Reichstagsabgeordneter - geschrieben. Er schreibt: "Ihre (d.h. des Rektors) Nachricht muß ich wohl so verstehen, dass statt des endlichen Aufbaus einer für unsere Universität ausreichenden Bücherei die Zergliederung der schon bestehenden städtischen Bücherei bevorsteht. Die rheinischen Bestände bedeuten für uns Historiker und unsere Studienaufgabe die wichtigste Abteilung der jetzigen Bücherei. Ich möchte sie dringend bitten, 26 Keysser, Mitteilungen (wie oben Anm. 2), S. 20-23: Die Abteilung für Geschichte und Landeskunde der Rheinprovinz; vgl. Detlev Hellfaier, Bibliographien zur Geschichte und Landeskunde der Rheinlande. Köln 1981, S. 17 und 39.

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Magnifizenz, und kann mir nichts anders denken, als dass die Kollegen derselben Meinung sind, die zu Ihrer Kenntnis gekommene Nachricht zu einer neuen dringenden Vorstellung wegen der Unhaltbarkeit der unerträglichen Zustände in unserem Bibliothekswesen zu benutzen, nicht nur mit der Absicht, die rheinischen Bestände bei den anderen zu behalten, sondern um doch noch endlich den Aufbau einer wirklichen Universitätsbücherei durchzusetzen. "

Als dann auch noch Witzel in einem Schreiben vom 16. Juli 1928 die Übernahme der das Rheinland betreffenden wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Veröffentlichungen aus Raummangel und wegen ihrer fehlenden systematischen Erschließung "vorläufig" ablehnen mußte, verlief die Angelegenheit im Sande. Immerhin hatte sie den beiragten Historikern die Gelegenheit geboten, ihre Unzufriedenheit mit der Universitäts- und Stadtbibliothek beredt zum Ausdruck zu bringen. Wir werden uns nun zu fragen haben, ob diese mehr oder weniger vernichtenden Urteile tatsächlich begründet waren und ob hier nicht einfach - möglicherweise aus Verärgerung über Löffler - ein Vorurteil gehegt und Zustände beklagt wurden, die entweder nicht zu ändern waren oder die es so gar nicht mehr gegeben hat. Daß den starken Worten der Professoren nicht unbedingt und ohne weiteres zu trauen ist, dazu sollte uns ein Bericht des Geschäftsführenden Vorsitzenden des Kuratoriums, Professor Eckert, an den Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 19. April 1929 mahnen 27 . Der Bericht war mit Erlaß vom 25. Februar des Jahres angefordert worden und wahrscheinlich durch eine Beschwerde über die Kölner UB notwendig geworden. Der Tenor des Schriftstückes ist nüchtern und um ein abwägendes Urteil bemüht; er verrät, daß nicht alle Verantwortlichen der Kölner Universität über die dortigen Bibliotheksverhältnisse so negativ dachten, wie es in den zitierten Passagen zum Ausdruck kam. Man darf wohl auch davon ausgehen, daß Eckert dem von allen Seiten angegriffenen Löffler wohlwollte und ihm zu helfen suchte. Es ist wohltuend zu lesen, daß der Bericht differenziert und nicht von der Universitäts- und Stadtbibliothek einfach als Ganzem ausgeht, sondern die Leistungsfähigkeit der einzelnen Abteilungen untersucht. Von der Abteilung II sei zu sagen, daß sie auf einer hervorragenden Grundlage aus der Zeit der Handelshochschule aufbaue, was die Wirtschaftsund Sozialwissenschaften angehe. Die Fächer würden in einer Art und Weise bibliothekarisch versorgt "wie sonst nirgends in Westdeutschland". Bei den Fächern Mathematik und aus dem übrigen naturwissenschaftlichen Bereich seien die Vorbedingungen nicht so günstig gewesen. Bei der Abteilung II, die für diese Gebiete ebenfalls zuständig war, 27 UAK Zugang 28, Nr. 383, Bl. 114-117.

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seien aber nach dem Ende der Inflation, d.h. seit 1924, die vom Kuratorium großzügig bewilligten Mittel dazu genutzt worden, alle wichtigen Neuerscheinungen und Zeitschriften zu beschaffen, sowie die wesentlichen Lücken zu schließen. Das werde auch von vielen Hochschullehrern ausdrücklich anerkannt. Ebenso erfreulich sei die bestandsmäßige und bauliche Entwicklung der Abteilung ΙΠ. Die in den Städtischen Krankenanstalten, der Lindenburg, untergebrachte medizinische Fachbibliothek habe bei Annahme der augenblicklichen Entwicklung noch Stellraum für 15 bis 20 Jahre. Am größten sei der Rückstand bei den nicht zur Mathematik und den Naturwissenschaft gehörigen Fächern der Philosophischen Fakultät gewesen. Aber auch hier gehe die Lückenergänzung zügig voran. Im letzten Jahr habe man sich der Klassischen Philologie mit Nachdruck angenommen. Es sei gelungen, "wenigstens die wichtigsten Ausgaben und Werke der letzten Jahrzehnte zu beschaffen. Die Suche nach vergriffenen Werken wurde mit gutem Erfolg fortgesetzt. " Das Kuratorium habe die finanziellen Notwendigkeiten gebührend berücksichtigt und in den Jahren 1924 bis 1928 insgesamt für Bibliothekszwecke 530.500 Mark bewilligt. Diese Mittel gliederten sich in 369.300 Mark ordentliche Gelder sowie ausdrücklich zur Lückenergänzung und für außerordentliche Zwecke 58.600 Mark besondere Bewilligungen. Abschließend kommt der Bericht auf die Arbeitsgemeinschaft zwischen Bonn und Köln zu sprechen, die "durch die verständnisvollen Verhandlungen des Bonner Direktors Dr. von Rath und des Kölner I. Bibliotheksrates Dr. Witzel getätigt werden konnte. " Sie habe sich bewährt und beweise, daß die beiden rheinischen Universitäten ihre Aufgaben "in wechselseitiger Ergänzung" zu erfüllen trachteten. Auch wenn man unterstellt, daß ein vom zuständigen Minister angeforderter Bericht seiner Natur nach in rosigen Farben angelegt sein dürfte, wird doch erkennbar, daß die pauschalen Verurteilungen der Bibliotheksverhältnisse an der Universität zu Köln so nicht stimmen können. Es wurden dabei wesentliche Gesichtspunkte vernachlässigt; ob aus Unkenntnis oder aus bösem Willen, sei dahingestellt. In ihrer Aufbauphase war die Universitäts- und Stadtbibliothek Köln mehr als ausreichend mit Mitteln versorgt. Das belegt auch die im Jahrbuch der Deutschen Bibliotheken veröffentlichte Bibliotheksstatistik. Diese bestätigt auch im wesentlichen das, was Löffler in seinem Rechenschaftsbericht von 1929 über die finanzielle Lage seiner Bibliothek gesagt hat28: "Die bewilligten Mittel waren, absolut genommen, reichlich; der Kölner Bibliotheksetat steht seit längerer Zeit an zweiter Stelle

28 Löffler, Universitäts- und Stadtbibliothek (wie oben Anm. 18), S. 287-288.

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hinter dem der großen Preußischen Staatsbibliothek, ist also der größte von allen Universitätsbibliotheken. " Gemeint ist doch wohl: in Preußen. Im Rechnungsjahr 1926/27 hatte allerdings Köln mit 153.008 Mark Gesamtaufwendungen (davon 98.939 Mark für Bücher und Zeitschriftenbeschaffung) den zweiten Platz hinter der UB Göttingen mit 166.814 (davon für Bücherbeschaffung 115.742 Mark). Die Nachbar-UB in Bonn verfügte zur selben Zeit nur über Gesamtmittel in Höhe von 116.109 Mark (davon 72.057 Mark für Buchbeschaffung). Am Ende von Löfflers Dienstzeit, im Haushaltsjahr 1931/32, hatten die beiden rheinischen Universitätsbibliotheken mit ca. 100.000 Mark Gesamtaufwendungen gleichgezogen. Der Geldgeber dürfte in der Zeit der großen Wirtschaftskrise davon ausgegangen sein, daß der eigentliche Aufbau beendet und eine Bevorzugung der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln nicht mehr gerechtfertigt sei. Man darf jedenfalls unterstellen, daß die Kölner Bibliothekare von den ihnen zur Verfügung stehenden reichen Mitteln einen vernünftigen Gebrauch gemacht haben. Wer den Bestand der Kölner UB durch den täglichen dienstlichen Umgang etwas näher kennt, wird den Kollegen der 1920er Jahre seine Achtung für das Geleistete nicht versagen können. Man hat auch alles daran gesetzt, für eine UB wesentliche Veröffentlichungen wie Dissertationen und Akademieschriften früherer Jahre, die in der Stadtbibliothek verständlicherweise fehlten, nachträglich zu beschaffen. Die Deutsche Bücherei in Leipzig überließ den Kölnern wahrscheinlich auf deren Ansuchen - die seit 1913 gesammelten Universitätsschriften29. Wie die Erfahrungen der 1970er Jahre, als in Nordrhein-Westfalen fünf neue Gesamthochschulbibliotheken gegründet wurden, bestätigt haben, bereitet die schnelle und trotzdem gründliche Bearbeitung der großen Zugänge besondere Schwierigkeiten. Löffler vergißt in seinen beiden Rechenschaftsberichten nicht, darauf hinzuweisen. Bei der Abteilung I waren große Teile nicht in einem systematischen Katalog verzeichnet, die Kataloge hatten ein unglücklich gewähltes Großformat (9,5 χ 14,5 cm) und waren ungesichert30. Seit 1920 wurden wenigstens die Neuzugänge auf Zetteln internationalen Formats nach den Regeln für die alphabetischen Kataloge der preußischen Bibliotheken (PI) aufgenommen, wobei nach Möglichkeit die Berliner Titeldrucke übernommen wurden. Die gegenseitige Mitteilung von neuerworbenen Titeln zwischen den Abteilungen I und II war zwar beschlossene Sache, aber sie scheint nicht recht funktioniert zu haben. Ein noch von Keysser 1913 begonnener Kölner Zentralkatalog, mit verkürzter Titelaufhahme und 29 Löffler, Universität- und Stadtbibliothek (wie oben Anm. 18), S. 289. In der Zeit von Löfflers Direktorat wuchs der Gesamtbestand der Kölner UB von 408.000 Bänden (1920) auf 736.000 Bände (1933), er hat sich also annähernd verdoppelt. Zum Jahr 1933 meldete die UB Bonn ca. 620.000 Bände. 30 Josef Tiwisina, Die neueren Kataloge der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln. Köln, Ass.Arbeit für den Dienst an wissenschaftlichen Bibliotheken 1950 (Maschinenschrift), S. 26-33.

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auf großformatigen Zetteln, blieb immer ein Torso und wurde um 1930 stillgelegt. Man sollte bei der Beurteilung dieser Pakten bedenken, daß vor allem die Abteilung I vor der Doppelaufgabe stand, ungenügende ältere Kataloge zu reformieren und große Mengen an Neuzugängen schnell und zügig zu bearbeiten. Die Umarbeitung der verschiedenen Kataloge und die Einarbeitung der beiden alphabetischen Nachweise ineinander ist erst nach der räumlichen Vereinigung im Jahre 1934 nachdrücklich betrieben worden und hat dann auch noch Jahre gedauert. In seinem Rechenschaftsbericht von 1929 beklagt Löffler, das Personal habe im großen und ganzen nur für die Bewältigung der laufenden Arbeiten ausgereicht31. "Die vielen Rückstände ließen sich nur dadurch erledigen, daß alle Kräfte angespannt wurden, und daß über manche Schönheitsfehler vorläufig hinweggesehen wurde." Was daran ein wenig befremdet, ist der Umstand, daß die betreffenden Passagen beinahe wörtlich auch schon in dem Bericht von 1924 stehen! Auch beim Personal wurde jedoch auf die neuen Aufgaben Rücksicht genommen. Die Abteilung I erhielt bereits 1920 eine von der Universität getragene zusätzliche Stelle des höheren Dienstes, die mit einem Aussenseiter, dem Kölner Fernkaufmann und Island-Sammler Heinrich Erkes besetzt wurde32. Dieser bewährte sich als Fachreferent für ausländische Sprachen und Literaturen ausgezeichnet. Durch die von ihm eingebrachte große Island-Sammlung erhielt die junge UB einen Schwerpunkt, den man hier am Rhein eigentlich kaum erwarten sollte und der sie neben die auf diesem Gebiet bedeutende UB Kiel als gleichgewichtige Partnerin stellte33. Aus heutiger Sicht möchte man bemängeln, daß die Abteilung I mit Joseph Götzen bereits einen Spezialisten für das Nordische in ihren Reihen hatte, während andere wichtige Fächer ganz ohne Fachmann auskommen mußten. Götzen wandte sich dann auch bevorzugt der Rheinischen Abteilung zu; mit seiner seit 1912 im Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins veröffentlichten "Bücher-und Zeitschriftenschau" (bis 1935) legte er den Grund für die nach dem Zweiten Weltkrieg von Hans Blum besorgte "Kölnische Bibliographie", die unter Nutzung der reichen Bestände der Universitäts- und Stadtbibliothek bis auf den heutigen Tag erscheint34. Zum Stab der Fachreferenten bei der Abteilung I kam 1925 noch ein Bibliothekar (seit 1928: Bibliotheksrat) hinzu. Für einige Jahre nach 1928 verfügte die Abteilung noch über einen "wissenschaftlichen Hilfsarbeiter". Im Jahr 1932, auf dem Höhe31 Löffler, Universitäts- und Stadtbibliothek; (wie oben Anm. 18), S. 291. 32 Habermann, Lexikon (wie oben Anm. 1), S. 71; Stefan Eitz, H. Erkes (1864-1932). In: Naturwissenschaften und Naturwissenschaftler in Köln zwischen der alten und neuen Universität (1798-1919). Hrsg. von Martin Schwarzbach. Köln, Wien 1985, S. 255-265; Severin Corsten, Untersuchungen zum Buch- und Bibliothekswesen. Frankfurt a.M. usw. 1988, S. 197-203. 33 Olaf Klose, Islandkatalog der Universitäts-Bibliothek Kiel und der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln. Kiel 1931. 34 Hellfaier, Bibliographien (wie oben Anm. 26), S. 59-61.

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punkt der Wirtschaftskrise, mußte sie mit insgesamt vier wissenschaftlichen Bibliothekaren auskommen. Die Abteilung II, welche bei Gründung der Universität sehr knapp mit Personal ausgestattet war, wurde seit 1921, wo sie einen wissenschaftlichen Bibliothekar und einen dito Hilfsarbeiter erhielt, noch einmal (1925) mit einem Bibliothekar versehen. Auch bei den Bibliothekaren des (heute) gehobenen Dienstes und ihren Hilfskräften kam es zu beachtlichen Personalvermehrungen, die allerdings nicht alle über die Wirtschaftkrise hinweg gehalten werden konnten. Jedenfalls hatte man 1928 in Köln insgesamt eine Personalausstattung erreicht, die der anderer preußischer Universitätsbibliotheken entsprach. In seiner Stellungnahme zu dem die Rheinische Abteilung betreffenden Vorschlag Löfflers beschwerte sich der Vertreter der Neueren Geschichte, Prof. Dr. Johannes Ziekursch (1876-1945), vor allem über die räumliche Zweiteilung der für sein Fach wichtigen Bestände (soweit überhaupt vorhanden!) und die der Benutzungseinrichtungen mit ihren Hilfsmitteln35. Es hänge von der "Willkür des katalogisierenden Beamten ab", wo ein bestimmtes Buch in die Bestände eingereiht werde, beklagt er sich und fährt fort: "Bei vielen Büchern lässt sich also gar nicht vorausberechnen, in welcher Bibliothek, dem Gereonskloster oder der Universität, sie zu suchen sind. Wer ferner als Historiker rechts- und verfassungsgeschichtliche, staatsrechtliche, volkswirtschaftliche und historische Litteratur(!) gleichzeitig mit einer Reihe von Nachschlagewerken und fremdsprachlichen Léxica benutzen will, kommt über die Schwierigkeiten der räumlichen Trennung zwischen den im Gereonskloster und den in der Universität aufgestellten Büchern kaum hinweg. "

Tatsächlich waren die Historiker und alle historisch ausgerichteten Fächer, die unweit der Universität in der Maschinenbauschule (Ubierring 48), der Kunstgewerbeschule (Ubierring 40) und anderen großen Gebäuden ein Unterkommen gefunden hatten, von der zwiespältigen Bibliothekssituation besonders betroffen. Es muß andererseits befremden, daß Ziekursch mit keinem Wort auf die Versuche zu sprechen kommt, diesen aus der örtlichen Situation geborenen Problemen organisatorisch beizukommen, z.B. durch Nachweis der Neuzugänge an beiden Standorten oder die Beförderung der Bestellungen durch einen Autodienst. Wir sollten auch nicht aus den Augen verlieren, daß den Kölnern damals nicht nur häufig verkehrende, sondern auch noch billige Straßenbahnen zur Verfügung standen.

35 UAK Zugang 28, Nr. 384, Bl. 1-3 (Schreiben vom 15.6.1928).

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Wie es um die "Akzeptanz" der Abteilung I bestellt gewesen ist, sollte man den Benutzungszahlen entnehmen können. Dabei ist allerdings immer in Betracht zu ziehen, daß am Gereonskloster auch die Bürger der Stadt versorgt wurden. Diese aber werden in der Statistik nicht eigens ausgewiesen. Für die Studierenden wenig attraktiv muß der Lesesaal der Abteilung I gewesen sein. Er war für den Bedarf einer Stadtbibliothek konzipiert und konnte unmöglich für die wachsenden Studentenzahlen auf die Dauer ausreichend sein36. Für eine schnelle Recherche oder das Nachschlagen in einem Lexikon lohnte sich der weite Weg in der Regel nicht. Da ging man lieber in den im Universitätsgebäude untergebrachten Lesesaal, auch wenn dieser nicht speziell auf die Bedürfnisse der historischen und sprachlichen Fächer hin bestückt war. Im Rechnungsjahr 1931/32 benutzten den Lesesaal am Gereonskloster insgesamt 27.964 Personen (Studierende und "Bürger der Stadt"); den Lesesaal in der Claudiusstraße suchten zur gleichen Zeit 121.016 Studierende auf. Das sind im Tagesdurchschnitt 96 bzw. 420 Benutzer. An diesem Mißverhältnis konnte wenig geändert werden. Durch den Einzug der beiden Abteilungen in das 1934 in Betrieb genommene neue Universitätsgebäude war dieses Problem auf besonders benutzerfteundliche Manier gelöst. Die Universitäts- und Stadtbibliothek bezog nämlich nicht, wie urspünglich geplant, ein eigenes Gebäude in der Nähe der Universität, sondern wurde im Hauptgebäude, auf mehrere Stockwerke verteilt, untergebracht. Das war vom bibliothekarischen Standpunkt aus in mancher Hinsicht unbefriedigend, für die Benutzer dagegen kann man sich kaum eine bequemere Lösung vorstellen! Anderes Gewicht kommt den Zahlen der bei der Abteilung I einlaufenden Bestellungen zu. Sie sind ein zuverlässiges Kriterium dafür, in welchem Umfang die Bestände der ehemaligen Stadtbibliothek von den Studierenden in Anspruch genommen wurden. Auch hier ist unter allen Umständen zu berücksichtigen, daß ein nicht unbeträchtlicher Teil der Bestellungen von städtischen Benutzern herrührte. Bedenkt man das, so legt die Statistik den Schluß nahe, daß bis etwa 1926 von einer einigermaßen ins Gewicht fallenden Benutzung durch die Studierenden der Universität keine Rede sein kann. Die Zahl der bei der Abteilung I einlaufenden Bestellungen schwankt in den Jahren 1920 bis 1926 um 25.000 und ist keineswegs durch eine stete Aufwärtsentwicklung gekennzeichet37. Wenn man dann erfährt, daß die Zahl der Bestellungen 1919/20, als es noch gar keine Philosophische Fakultät gab, auch schon bei 24.392 lag, dann kommt man nicht um die Annahme herum, daß bis 36 Die Größe des Lesesaals kann in einem Plan und einer Photographie bei Keysser, Mitteilungen (wie oben Anm. 2), Tafeln hinter S. 10 und 18, kontrolliert werden. Über die genaue Anzahl der Arbeitsplätze schweigen die Quellen. 37 Löffler, Universitäts- und Stadtbibliothek (zwei Berichte, wie oben Anm. 17 und 18), S. 168 bzw. 292. Die Zahlen entsprechen im großen und ganzen den Angaben in der Betriebsstatistik des Jahrbuchs der Deutschen Bibliotheken.

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in die Mitte der 1920er Jahre die überwiegende Zahl der Bestellungen nicht von Angehörigen der Universität gekommen ist 38 . Damit korrespondieren auch die Zahlen der bei der Philosophischen Fakultät Studierenden39. Erst im Sommersemester 1926 war mit 1.145 Immatrikulierten die Tausendergrenze endgültig überschritten; wobei man zu bedenken hat, daß auch die Mathematiker und Naturwissenschaftler damals zur Philosophischen Fakultät gehörten. Diese aber wurden von der Abteilung Π versorgt. Vom Rechnungsjahr 1926/27 an, als die Zahl der Bestellungen bei der Abteilung 127.249 betrug, ging es dann spürbar aufwärts: 1927/28 - 35.404 Bestellungen 1928/29 - 37.844 Bestellungen 1930/31 - 56.621 (davon 67 % positiv erledigt) 1931/32 - 67.256 (davon 63 % positiv erledigt) Die Steigerung der frühen 1930er Jahre ist auch deshalb so bemerkenswert, weil sie der Tendenz bei den Studentenzahlen entgegenläuft. Diese erreichen im Wintersemester 1930/31 mit 1.934 "Philosophen" einen einstweiligen Höhepunkt, sanken dann aber bis zum Wintersemester 1932/33 auf 1.376. Es kann also nicht mehr übersehen werden, daß auch die Abteilung I ausgerechnet seit der Zeit, als die universitätsinterne Kritik an der bibliothekarischen Versorgung mehrfach aktenkundig geworden ist, ihrer Aufgabe von Jahr zu Jahr besser genügte und von den Benutzern auch akzeptiert wurde. Die Abteilung II hat überhaupt keinen Anlaß zu negativer Beurteilung gegeben. Sie wurde jedoch von Personen, die es eigentlich besser hätten wissen müssen, bei den pauschalen Beschwerden mit einbezogen. Aus heutiger Sicht darf gesagt werden, daß die Kölner Bibliothekare unter Klemens Löffler in Anbetracht der schwierigen Nachkriegsverhältnisse und der praktisch ohne eine Vorlaufzeit erfolgten Gründung der UB ausgezeichnete Arbeit geleistet und die Grundlagen für die heutige Bedeutung der Kölner UB gelegt haben. Man kann ihnen jedoch den Vorwurf nicht ersparen, daß sie noch partikularistischem Denken verhaftet waren und es an einer wirklich solidarischen Zusammenarbeit allem Anschein nach häufig haben fehlen lassen. Zuerst kam für sie nur zu oft die Abteilung und dann erst die Gesamtbibliothek. Sie haben es auch versäumt, sich nach außen hin, insbesondere auch den Hochschullehrern gegenüber, ins rechte Licht zu setzen, ihre durchaus erbrachten Leistungen geschickt "zu verkaufen"

38 Die von der Stadtbibliothek Köln fflr 1912/13 gemeldete Zahl von 37.615 Bestellungen paßt so wenig zu den Angaben der Zeit nach dem Weltkrieg, daß man von einer von Keysser gehandhabten Zählweise ausgehen muß, die sich von der seines Nachfolgers wesentlich unterscheidet. 39 Kölner Universitätsgeschichte (wie oben Anm. 6) m , S. 293.

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Die ersten Jahre

und Verständnis für die durch den Neuanfang und die besonderen Kölner Verhältnisse verursachten Schwierigkeiten zu wecken. Die Hauptschuld an diesem Versagen auf dem Felde der (heute sogenannten) Public Relations, aber auch bei der nicht immer ausreichenden Zusammenarbeit der an ihrer alten Selbständigkeit hängenden Bibliothekare geht zweifellos auf das Konto des Direktors. Es wäre seine Aufgabe gewesen, hier für Abhilfe zu sorgen. Aber ihm scheint jegliches Integrationsvermögen gefehlt zu haben, wie er auch durch sein ungeschicktes Auftreten und seine mangelnde Kooperationsbereitschaft den Gremien der Universität gegenüber viel Porzellan zerschlagen hat. Für das Erscheinungsbild der Universitäts- und Stadtbibliothek in der Öffentlichkeit war das schädlich und band viele Kräfte an unnötige Auseinandersetzungen. Klemens Löffler war zweifellos ein Gelehrter von Format und sicher auch ein sachkundiger Bibliothekar, wie ihn die Zeit sich vorstellte. Er mochte sich auf seine Charakterstärke und den oft gezeigten "Mannesmut vor Fürstenthronen" etwas zugute halten. Als Direktor einer unter mißlichen Umständen erst zu schaffenden großen Bibliothek war er jedoch - daran kommt auch eine noch so gutwillige Einschätzung nicht vorbei - fehl am Platze.

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Rudolf Jung

Die Westdeutsche Büchereischule in Köln 1946 bis 1949 Ein Beitrag zur Geschichte der bibliothekarischen Ausbildung in Nordrhein-Westfalen Die Geschichte der bibliothekarischen Ausbildung in Deutschland ist trotz des gewachsenen Interesses an der Bibliotheksgeschichte der neueren Zeit bislang eher stiefmütterlich behandelt worden. Rudolf Joerden und Adolf von Morzé haben sich vor über zwanzig Jahren letztmals ausführlich mit der Ausbildung der Bibliothekare an den Öffentlichen Bibliotheken befaßt1, der Beitrag zur Ausbildung des gehobenen und höheren Dienstes an wissenschaftlichen Bibliotheken ist noch einmal zehn Jahre älter und hätte längst einer Neubearbeitung bedurft2. Wer sich informieren will, ist auf die historischen Rückblicke der einzelnen Ausbildungsinstitutionen angewiesen, die bei verschiedener Gelegenheit für Stuttgart, Berlin (West und Ost), Frankfurt am Main, Hamburg, München und Köln seit 1965 erschienen sind3. Die bibliothekarische Ausbildung in Köln, begonnen 1928, läßt sich in vier Abschnitte gliedern; in jeder Epoche steht der geänderte Name der Institution für die geänderte Aufgabenstellung: 1928 bis 1944: Westdeutsche Volksbüchereischule, 1946-1949: Westdeutsche Büchereischule, 1949-1981: Bibliothekar-Lehrinstitut, seit 1981: Fachhochschule für Bibliotheks- und Dokumentationswesen. Während die Entwicklung bis 1944 in einem Bericht von Maria Steinhoff nachgelesen werden kann und die des Bibliothekar-Lehrinstituts von Wilma Klompen in zwei Aufsätzen ausführlich dokumentiert ist, blieb das "Zwischenglied", die Westdeutsche Büchereischule, recht unbekannt. Nur Erika Landsberg 1

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Morzé, Adolf von: Beruf und Ausbildung 1893-1933 und 1945. In: Handbuch des Büchereiwesens. Bd. 1, Wiesbaden 1973, S. 861-938; Joerden, Rudolf: Beruf und Ausbildung nach 1945. In: Ebda. S. 939-1008. - Für den Zeitraum 1945-1965 vgl. jetzt: Jung, Rudolf: Die bibliothekarische Ausbildung 1945-1965. In: Entwicklung des Bibliothekswesens in Deutschland 1945-1965. 6. Jahrestagung des WolfenbOtteler Arbeitskreises für Bibliotheksgeschichte. Wiesbaden 1993, S. 199-219. Leyh, Georg: Der Bibliothekar und sein Beruf. In: Handbuch der Bibliothekswissenschaft. 2. Aufl., Bd. 2, Wiesbaden 1961, S. 1-113. Wiegandt, Herbert: Aus der Chronik der Fachhochschule [Stuttgart]. In: Bibliothekswissenschaft, Musikbibliothek, Soziale Bibliotheksarbeit. Festschrift für Hermann WaBner. Wiesbaden 1982, S. 15-31; Holzhausen, Hans-Dieter: Von der Bibliotheksschule zum Universitätsinstitut. Grundzüge der Entwicklung der Berliner bibliothekarischen Ausbildungsstätte von 1930-1980. In: Ebda., S. 48-61; Beiträge zur Geschichte der Berufsausbildung im Bibliothekswesen der DDR. Leipzig 1979; Richardt, Rosemarie: Zwanzig Jahre bibliothekarische Ausbildung in Frankfurt am Main. In: ZfBB 12 (1965), S. 232-237; Propach, Elisabeth: Die Ausbildung des Nachwuchses in Hamburg. In: Hamburger Öffentliche Bücherhallen 18991949. Hamburg 1949, S. 97-109; Bibliothekarische Ausbildung in Hamburg 1945-1990. Hamburg 1990; Hacker, Rupert: Die bibliothekarische Ausbildung in Bayern 1946-1988. In: Bibliothekslandschaft Bayern. Festschrift für Max Pauer. Wiesbaden 1989, S. 199-247; Jung,

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hat sich 1973 dieser dreieinhalb Jahre angenommen4. Daß die Zeit von 1946 bis 1949 bislang so unbekannt geblieben ist, hängt nicht zuletzt mit der unbefriedigenden Aktenlage zusammen; in einer Zeit, in der es auf die Initiative jedes einzelnen ankam und in der die heute zur Verfügung stehenden Kommunikationsmittel (Telefon und Briefverkehr) nicht reibungslos funktionierten, ist sehr viel in Gesprächen entschieden worden. In den Akten hat sich davon oft wenig niedergeschlagen, gelegentlich findet sich eine Einladung zu einer Sitzung, ein Protokoll darüber ist aber meist nicht angefertigt worden. Von den damals Beteiligten ist der hier zu betrachtende Zeitraum als Übergang, als etwas Halbfertiges angesehen worden, eben als "Praehistorie", die mit der Gründung des Bibliothekar-Lehrinstituts im Februar 1949 ihren Abschluß fand. Vielleicht bedarf es erst eines gewissen zeitlichen Abstands, um diesen Zeitraum in seiner Besonderheit zu würdigen. I. Bei genauer Betrachtung dieser Epoche zeigt sich, daß das Datum "8. Mai 1945" nur sehr äußerlich zur Kennzeichnung eines Neubeginns dienen kann. Die letzten Kriegshandlungen und die unmittelbar auf ihr Ende folgenden Wochen brachten zwar das öffentliche Leben zeitweise zum Erliegen, doch mit der Neuordnung der Kommunen mußte an die Zeit vor dem 8.5.1945 angeknüpft werden. Dies galt auch für die bibliothekarische Ausbildung. Mit Erlaß des Reichserziehungsministers vom 17.10.1944 war die Westdeutsche Volksbüchereischule zum 1.11.1944 geschlossen worden 5 , die Anwärterinnen6, die am 1.4. bzw. 1.10.1943 oder am

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Rudolf und Ingeborg Konze: Sechzig Jahre bibliothekarische Ausbildung in Köln. Eine Bibliographie. Köln 1989. Steinhoff, Maria: Rudolf Reuter und die Westdeutsche Volksbüchereischule. In: Im Dienste der Erwachsenenbildung. Festgabe für Rudolf Reuter. Osnabrück 1961, S. 159-168; Klompen, Wilma: Das Bibliothekar-Lehrinstitut des Landes Nordrhein-Westfalen von 1949 bis 1974. In: Bibliothekarische Ausbildung in Theorie und Praxis. Köln 1975, S. 1-31; Dies.: Das Bibliothekar-Lehrinstitut des Landes Nordrhein-Westfilen in Köln von 1974 bis 1981. In: Buch und Bibliothekswissenschaft im Informationszeitalter. Internat. Festschrift für Paul Kaegbein. München 1990, S.45-58; Landsberg, Erika: Ein Stück "Praehistorie" des Bibliothekar-Lehrinstituts in Köln. In: Bibliotheksarbeit heute. Festschrift für Werner Krieg. Frankfürt a. M. 1973, S. 81-91. Das Rundschreiben des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 2.10.1944 und der EinzelerlaB für die Westdeutsche Volksbüchereischule vom 17.10.1944 befinden sich in Kopie in dem Rückblick von Maria Steinhoff "Gründung und Entwicklung der Westdeutschen Volksbüchereischule 1928-1944", den sie Werner Krieg zum 65. Geburtstag 1973 überreicht hatte. In das maschinenschriftliche Manuskript sind die beiden Originale der o.a. Erlasse eingelegt, die sich bis dahin im Besitz von Maria Steinhoff befunden haben. Das Manuskript wurde vor kurzem im Nachlaß von Werner Krieg gefunden und von Frau Lotte Krieg an den Verfasser dieses Beitrages übergeben. Die Bezeichnung schwankt. In den offiziellen Schreiben werden sie nach dem Sprachgebrauch der Prüfungsordnung von 1930 "Anwärterinnen für den Dienst an volkstümlichen Büchereien" genannt, in Schreiben der Westdt. Volksbüchereischule und der Westdt. Büchereischule ist analog von Schülerinnen bzw. Schülern die Rede. Die Bezeichnung "Studierende" scheint erst

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Die Westdeutsche Büchereischule in Köln 1946 bis 1949

1.10.1944 zur Ausbildung angenommen worden waren und ihr Praktikum ganz absolviert oder es gerade angefangen hatten, wurden "für den Einsatz in der Rüstungsindustrie oder zu anderen unmittelbar kriegswichtigen Aufgaben bereitgestellt". Der Vorsitzende des Reichsprüfungsamtes hatte zwar im November 1944 Pläne für eine vorzeitige Prüfung im Herbst 1945 entwickelt, doch hörte das dem Reichserziehungsminister unterstellte Reichsprüfiingsamt am 8. Mai 1945 auf zu existieren. Am 1.1.1946 war Erika Landsberg von der Stadt Köln mit der Wiedererrichtung der Büchereischule betreut worden7. In einem persönlichen Schreiben von Leo Schwering, 1945/46 Direktor der Volksbüchereien der Stadt Köln, vom 20.12.1945 an Erika Landsberg ist von der "Wiedererrichtung der Volksbüchereischule" die Rede, er bittet sie, bis zum 3.1.1946 (!) einen Stundenplan aufzustellen und zu klären, "welche Fächer als Prüfungsfächer in Frage kommen"8. In einer Sitzung am 23.2.1946, wohl der ersten der neuen Büchereischule, wurden sämtliche Fragen behandelt, die einer sofortigen Lösung bedurften: 1. Merkblatt der Schule für die Ausbildung zum Dienst an Volksbüchereien, 2. Begleitendes Rundschreiben an die Ausbildungsbüchereien, 3. Einbau des Ausbildungszweiges für den mittleren Dienst an wissenschaftlichen Bibliotheken, 4. Besprechung der Prüfungskommission für die Übergangsprüfung, 5. Verkehr und Aussprache mit Hamburg9. Diese Tagesordnung darf wohl als das Arbeitsprogramm für die nächsten Monate gelesen werden. Die Büchereischule verfügte zu diesem Zeitpunkt über einen nebenamtlichen Direktor, Johannes Langfeldt übernahm dieses Amt mit seiner Ernennung zum Direktor der Volksbüchereien der Stadt Köln, eine Studienleiterin, Erika Landsberg, eine hauptamtliche Lehrkraft, Elisabeth Greulsberg, und eine Sekretärin. Das Sekretariat befand sich in einer Zweigstelle der Volksbücherei (Antwerpener Straße 27, dies war auch die offizielle Anschrift), Unterrichtsräume wurden im Hauptgebäude der Universität zur Verfügung gestellt. Nach der Wiedererrichtung der Bibliotheksschulen fielen diesen ganz selbstverständlich die Aufgaben zu, die zuvor zu denen des Prüfungsamtes gehört hatten: die Auswahl der Bewerber, die Zuweisung an die Praktikumsbibliotheken und die Durchführung der Prüfungen. Die Auswahl der Bewerber erfolgte durch die "Prüfungskommission für

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nach Gründung des Bibliothekar-Lehrinstituts aufgekommen zu sein (vgl. ErlaB des Kultusministeriums vom 22.11.1949 im Amtsblatt des KM 2, 1949/50, S. 29). Landsbelg, Erika (Anm. 4) S. 82. Leo Schwering an Erika Landsbelg, Köln, 20.12.1945. Im Besitz von Erika Landsbelg, der ich dafUr danke, daraus zitieren zu dtlrfen. Für die hier behandelte Zeit haben sich in der FHBD zwei Aktenordner erhalten, einer mit "Westdeutsche Büchereischule", der andere mit "Kultusministerium 1947-1949" beschriftet. Bei dem erstgenannten Ordner handelt es sich offensichtlich um die Handakten von Hermann Corsten. Die Aktenstücke werden im folgenden als FHBD, Akten WDB und FHBD, Akten KM zitiert. - Die Einladung zur Sitzung am 23.2.1946 in: FHBD, Akten WDB.

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volksbibliothekarische Ausbildung" (später: Prüfungsausschuß für das Volksbüchereiwesen), die aus Vertretern der Westdeutschen Büchereischule und der Hamburger Büchereikurse bestand, d.h. den Vertretern der beiden Ausbildungseinrichtungen in der Britischen Zone. Die Auswahl der Bewerber ist später von den beiden Fachausschüssen des Zonenerziehungsrats übernommen bzw. auf Vorschlag des Prüfungsausschusses bestätigt worden, dem Fachausschuß für das Volksbüchereiwesen und dem Fachausschuß Wissenschaftliche Büchereien10. Der Zonenerziehungsrat (ZER) hatte sich im September 1946 aus der Konferenz der Schulreferenten gebildet und sich am gleichen Tag eine Verfassimg gegeben, in der die Bildung von Fachausschüssen vorgesehen war. Die beiden bibliothekarischen Fachausschüsse sind Ende 1946 / Anfang 1947 entstanden, der Fachausschuß Wissenschaftliche Büchereien wurde erst im Juni 1947 vom ZER bestätigt11. Die bei den beiden Bibliotheksschulen eingegangenen Bewerbungen wurden bei der Sitzung der Prüfungskommission bzw. des Fachausschusses für das Volksbüchereiwesen behandelt, dabei erfolgte die Festlegung der Praktikumsbibliothek12. Dies setzte voraus, daß arbeitsfähige Praktikumsbibliotheken in ausreichender Zahl zur Verfügung standen. Bei der zuvor erwähnten ersten Sitzung der Westdeutschen Büchereischule am 23.2.1946 stand ein Rundschreiben an die Ausbildungsbüchereien auf der Tagesordnung13. Zwei Entscheidungen waren zu diesem Zeitpunkt bereits getroffen worden, daß die Ausbildung wieder auf drei Jahre ausgedehnt und daß die Preußische Bibliotheksprüfungsordnung vom 24.9.1930 angewandt wird 14 . Praktikumsbibliotheken waren laut Merkblatt vom Juni 1946 in Nordrhein-Westfalen die Öffentlichen Büchereien in Aachen, Düsseldorf, Duisburg, Essen, Hagen, Köln, Krefeld, Mülheim, Münster und Wuppertal. Im Merkblatt 10 Zum Fachausschufi Wissenschaftliche Büchereien vgl. Tiemann, Hermann: Bericht über die Tätigkeit des Fachausschusses "Wissenschaftliches Büchereiwesen" beim Zoneneiziehungsrat der Britischen Zone. In: Nachrichten für wiss. Bibliotheken 1 (1948) S. 2-6. 11 Zum Zonenerziehungsrat s. Pakschies, Günter: Umerziehung in der Britischen Zone 19451949. Weinheim 1979, S. 203-214, 231-234. - Zum Fachausschuß für das Volksbüchereiwesen der britischen Zone s. die Berichte in: Mitteilungsblatt / Arbeitsausschuß für den Deutschen Büchereiverband Nr. 5 (April 1947) und Nr. 6/7 (Juli 1947). 12 Erhalten hat sich das Protokoll der Sitzung vom 15.10.1947, FHBD, Akten WDB. 13 Erhalten sind zwei Entwürfe, vom März und vom April (?) 1946, und mehrere Exemplare des hektographierten Merkblattes vom Juni 1946. Das "Rundschreiben an die Volks- und Einheitsbüchereien der Nordrheinprovinz" ist mit dem Begleitschreiben der Studienleiterin (Erika Landsberg) vorhanden, datiert vom 14.3.1946, FHBD, Akten WDB. 14 Die Prüfungsordnung vom 24.9.1930 regelte die Prüfung für den mittleren Dienst an wissenschaftlichen Bibliotheken und für den Dienst an volkstümlichen Büchereien (ZfB 47, 1930, S. 642-649; Jahrbuch der deutschen Bibliotheken 21/22, 1931, S. 297-305). Durch Erlaß vom 11.5.1938 war die Ausbildung auf zwei Jahre verkürzt worden (Die Bücherei 5, 1938, S. 367368). Eine eigene APO für den mittleren Dienst an wissenschaftlichen Bibliotheken wurde am 29.2.1940 erlassen (Jahrbuch der deutschen Bibliotheken 31, 1940, S. 230-244), die zwei Jahre Ausbildung vorsah. Zu einer eigenen APO für den Dienst an Volksbüchereien ist es bis 1945 nicht mehr gekommen. - Die Entscheidung über die Ausbildungsdauer und die Anwendung der Prüfungsordnung von 1930 war bei der Zonentagung der Volksbüchereien (28.6. bis 1.7.1946) in Hamburg von den Vertreterinnen der Büchereischulen Köln, Hamburg und Stutt-

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Die Westdeutsche Bächereischide in Köln 1946 bis 1949

wird auf die Studiengebühren (RM 150,- pro Semester) und die Kosten für Unterrichtsmaterial (RM 40,- pro Halbjahr) hingewiesen. Wichtig in diesem Merkblatt war der Hinweis auf eine Übergangsregelung für die Weiterführung der Ausbildung für alle diejenigen, die ihre Ausbildung vor dem 1.10.1946 begonnen hatten. Unterschieden wurde dabei zwischen den Anwärterinnen, die ihr Praktikum 1943 oder 1944 begonnen hatten und es ganz oder nur teilweise zu Ende führen konnten, und den Anwärterinnen, die das Praktikum im Frühjahr oder Herbst 1945 begonnen hatten. Beiden Gruppen wurde das in der Prüfungsordnung vorgesehene halbjährige Praktikum in einer wissenschaftlichen Bibliothek erlassen. Die Tätigkeit der Büchereischulen begann also 1946 mit Prüfungen bzw. mit Vorbereitungskursen für die Prüfungen der sogen, "überständigen" Anwärter und Anwärterinnen. II. Die erste Prüfung fand am 25.6.1946 statt, ihr unterzogen sich sechs Anwärterinnen und zwei Anwärter. Es handelte sich durchweg um Anwärter und Anwärterinnen, die 1943 ihre Ausbildung begonnen hatten und am 1. Oktober 1944 mit dem theoretischen Teil die Ausbildung hätten fortsetzen sollen, das Examen wäre dann im September 1945 erfolgt. Da die Büchereischulen Köln, Stuttgart und Berlin zum 1.11.1944 geschlossen worden waren, wurden die Anwärter zum 1.10.1944 der Büchereischule in Leipzig zugewiesen, da sie als einzige geöffnet blieb. Einem Schreiben von Heinz Dähnhardt (Vorsitzender des Reichsprüfungsamtes) an Rudolf Reuter vom 31.8.1944 ist zu entnehmen, daß die Offenhaltung der Leipziger Schule auf eine persönliche Initiative von Joseph Goebbels zurückging15. Mehrere Praktikantinnen haben dort jedoch keine Prüfung abgelegt, sie sind im Januar / Februar 1945 in ihre westdeutschen Heimatstädte zurückgekehrt, bevor Leipzig von den sowjetischen Truppen eingenommen wurde. Die Prüfung selbst, d.h. der zeitliche Rahmen, die Themen der Hausarbeit und der Klausuren sowie die Zusammensetzung des Prüfungsausschusses sind von der Büchereischule geregelt worden, zusammengefaßt in einem "Vorschlag zur Abnahme der Prüfung für den Dienst an Volksbüchereien für bereits ausgebildete Schüler der Westdeutschen Büchereischule". Adressat des "Vorschlags" war das Oberpräsidium der Nord-Rheinprovinz; der Vorsitzende des Prüfungsausschusses, Johannes Langfeldt, fungierte als Vertreter der Provinzial-Regierung. Die Themen der Hausarbeit wurden am 5.4.1946 ausgegeben, Abgabetermin der gart getroffen worden. Vgl. Mitteilungsblatt / Arbeitsausschuß filr den Deutschen Bttchereiverband Nr. 1 (Aug. 1946), S. 3f. 15 Köln, Hist. Archiv, Nachlaß Rudolf Reuter, Akte 145.

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drei maschinenschriftlichen Exemplare war der 20.5. Die drei zur Wahl stehenden Themen waren denkbar unpolitisch und hätten in der gleichen Formulierung auch schon Jahre früher gestellt werden können. Am 12.6. war der Klausuraufsatz vorgesehen (Thema: Aufgabe und Bedeutung des Buchkartenapparats für die Ausleihe in der Volksbücherei), für den 13.6. Katalogisierung und Abfassimg eines Geschäftsbriefes mit dem freilich höchst aktuellen Thema: "In einer wieder zu eröffnenden Volksbücherei fehlen die Fenster in Ausleihe und Arbeitsraum. Glas ist zu bestellen". (Ein Prüfling bestellte Glas für 9 Fenster in der Größe 3 χ 1,50 m, was den Korrektor zu der Anmerkung veranlaßte: Etwas viel Glas.) Die mündliche Prüfung am 25.6.1946 erstreckte sich auf fünf Prüfiingsfächer ("Volksbildungswesen, Schrifttumskunde und Buchwesen", "Allgemeine Volksbüchereikunde und Leserkunde", "Verwaltungslehre der Volksbücherei", "Bücherkunde der schönen Literatur" und "Bücherkunde des belehrenden Schrifttums und Bibliographie") und blieb damit hinter den 10 bzw. 11 Fächern der Prüfungsordnung von 1930 zurück. Verständlich war, daß die in ihr vorgesehenen Fächer wie "Staatsbürgerkunde, Bevölkerungskunde" und "Büro- und Kassenwesen" entfielen; die eigentlichen bibliothekarischen Fächer hatte man auf ein vertretbares Maß reduziert und sie teilweise umgeordnet16. Dem Prüfungsausschuß gehörten Johannes Langfeldt als Vorsitzender, die beiden hauptamtlichen Lehrkräfte, Erika Landsberg und Elisabeth Greulsberg, und Carl Jansen und Joseph Peters als nebenamtliche Dozenten bzw. Vertreter von Ausbildungsbüchereien an, sowie Hermann Corsten. Neben den nachgeholten Prüfungen liefen die Vorbereitungen für den ersten regulären Lehrgang (um den damals verwendeten Terminus zu gebrauchen). Die Büchereischule ist im Frühjahr 1946 hinsichtlich des Beginns dieser ersten Ausbildung nach dem Kriege recht optimistisch gewesen. In den beiden Entwürfen (vom März und April) zu dem zitierten Merkblatt ist der Termin "1. Oktober 1946" angegeben, im Rundschreiben an die Ausbildungsbüchereien der Nord-Rheinprovinz wird der 1. April 1947 genannt. In dem gemeinsamen Merkblatt (Juni 1946) beider Büchereischulen wird dann darauf hingewiesen, daß die Hamburger Büchereikurse am 1. Oktober 1946, die Kölner Büchereischule am 1. April 1947 beginnen sollen. Dieser erste reguläre Lehrgang hat dann, wie in der Prüfungsordnung vorgesehen, 1 1/2 Jahre Praktikum (ein Jahr Volksbücherei, ein halbes Jahr wissenschaftliche Bibliothek) absolviert und ab 1. Oktober 1948 eineinhalb Jahre die Westdeutsche Büchereischule besucht, die zum Zeitpunkt der Prüfung (März 1950) bereits im Bibliothekar-Lehrinstitut aufgegangen war 17 .

16 Ergebnisse der Prüflingen in BuB 1 (1948/49) S. 139 und Mitteilungsblatt NW 1 (1948/49) Nr. 1, S. 6. 17 Die Angaben in: "Lehrgänge und Abschlußprüfungen an der Westdeutschen Büchereischule seit Kriegsende" in: Mitteilungsblatt NW 1 (1948/49) Nr. 1, S. 6 sind insofern mißverständlich, als für den Lehrgang 1948/50 nur die Zeit der theoretischen Ausbildung angegeben ist.

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Die Westdeutsche Bächereischule in Köln 1946 bis 1949

Bevor jedoch dieser erste reguläre Lehrgang zur Büchereischule kam, mußten noch zwei Überganslehrgänge organisiert werden. Wenige Tage nach dem ersten Examen begann am 1. Juli 1946 der erste Lehrgang, der diesen Namen auch verdiente, er befand sich zwei Semester lang an der Büchereischule, die Prüfung erfolgte vom 28.-30.4.194718. Der 1.7.1946 war für die Westdeutsche Büchereischule auch insofern ein bedeutendes Datum, da sie an diesem Tag mit Genehmigung der englischen Militärregierung wieder eröffnet wurde19. Dieser zweisemestrige Lehrgang (1.7.1946 - 30.4.1947) bestand aus 19 Teilnehmern, 16 Frauen und 3 Männern. Die meisten von ihnen hatten zwischen 1940 und 1942 Abitur gemacht, zwei sogar bereits 193320, die männlichen Teilnehmer waren erst nach Kriegseinsatz in ein Praktikum gekommen, auch bei den weiblichen Teilnehmern spiegelten sich die Zeitläufte in den persönlichen Biographien. Eine Teilnehmerin hatte vom 1.4. bis 1.9.1944 ihr Praktikum in Freiburg (Br.) begonnen, es vom 8.1. bis 31 auswählen und Eingabetaste drücken Eingabe

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