Bauarbeiter aus der DDR: Eine empirische Untersuchung über gruppenspezifische Merkmale bei Flüchtlingen und Übersiedlern der Jahre 1989 und 1990 [1 ed.] 9783428473212, 9783428073214


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German Pages 274 Year 1992

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Bauarbeiter aus der DDR: Eine empirische Untersuchung über gruppenspezifische Merkmale bei Flüchtlingen und Übersiedlern der Jahre 1989 und 1990 [1 ed.]
 9783428473212, 9783428073214

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PETER BRENSKE

Bauarbeiter aus der DDR

Sozialwissenschaftliche Schriften Heft 19

Bauarbeiter aus der DDR Eine empirische Untersuchung über gruppenspezifische Merkmale bei Flüchtlingen und Übersiedlern der Jahre 1989 und 1990

Von

Peter Brenske

DUßcker & Humblot . Berliß

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Brenske, Peter: Bauarbeiter aus der DDR: eine empirische Untersuchung über gruppenspezifische Merkmale bei Flüchtlingen und Ubersiedlern der Jahre 1989 und 1990 / von Peter Brenske. Berlin : Duncker u. Humblot, 1992 (Sozial wissenschaftliche Schriften; H. 19) Zug!.: Bochum, Univ., Diss., 1991 ISBN 3-428-07321-5 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0935-4808 ISBN 3-428-07321-5

Vorwort Vorliegende Studie ist Teil eines größeren Forschungsprojekts, an dem ich unter Leitung von Prof. Dr. Dieter Voigt (Ruhr-Universität Bochum) zusammen mit Dr. Sabine Meck, Dr. Hannelore Belitz-Demiriz, Ulrich Spiekerkötter und Kurt Schlüter beteiligt war. Ihnen allen danke ich nicht nur dafür, daß ich an diesem Forschungsvorhaben gleichberechtigt mitarbeiten konnte; ungezählte kritische Hinweise und die unschätzbaren Vorteile harmonischer (wenn auch oft erschöpfender) Teamarbeit waren für das Gelingen dieser doch sehr umfangreichen Untersuchung unerläßlich. Herrn Ulrich Spiekerkötter danke ich für Unterstützung bei der Datenerfassung, für die statistische Aufbereitung und rechentechnische Hilfe. Frau Dr. Sabine Meck und Frau Dip!. rer. soc. Sabine Gries fühle ich mich verbunden für wichtige Hinweise und Verbesserungen. Herrn Prof. Dr. Werner Voß bin ich für die Durchsicht des Manuskriptes dankbar. Last not least muß ich meinem Doktorvater - Prof. Dr. Dieter Voigt danken; ich war kein bequemer Doktorand. Ihm bin ich verbunden nicht nur für das Thema meiner Arbeit, sondern auch für ungezählte Stunden fachlichen Streits, essentielle Kritik, wertvolle Hinweise und unnachgiebige Haltung; die von ihm gesetzten Standards erwiesen sich am Ende als unerläßlich.

Mülheim, im Februar 1991

Inhalt A. Gegenstand und Methode der Arbeit ....................................................................... 11

I. Vorbereitung und Ziel der Untersuchung ......................................................... 11

11. Fragebogen und Untersuchungszeitraum .......................................................... 15 III. Die Grundgesamtheit und die Untersuchungsgruppen ...................................... 17 IV. Definition der zentralen Begriffe ...................................................................... 23 V. Auswertungsmethoden ..................................................................................... 24 B. Theoretische Grundlagen ......................................................................................... 27 I. Arbeit und Arbeiter im marxistisch-leninistischen Verständnis - kritische Reflexion ......................................................................................... 27 11. Das Bauwesen der DDR: Daten, Fakten und Definitionen ............................... 29 III. Die Persönlichkeit des Bauarbeiters - Theorie und Modelle zum prägenden Einfluß der Arbeit im Bauwesen ...................................................................... 38 C. Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR ............................................................... 45 I. Ergebnisse früherer Untersuchungen ................................................................ 45 11. Möglichkeiten und Grenzen des Erkenntnisgewinns aus Flüchtlingsund Übersiedlerbefragungen - zur Repräsentanz unserer Untersuchung ........... 52 III. Hypothesen ....................................................................................................... 54

D. Empirische Ergebnisse ............................................................................................ 57 I. Sozio-demographische Analyse der Untersuchungsgruppen ............................ 57 1. Altersstruktur der Befragten ........................................................................ 60 2. Berufsausbildung und Erwerbsquote der Befragten .................................... 63 3. Andere sozio-demographische Daten der Befragten ..................................... 64 4. Rekrutierung der Untersuchungsgruppen ..................................................... 77

11. Untersuchung der Wünsche und Motive der Flüchtlinge/Übersiedler und

ihre Vorstellungen über das zukünftige Leben in der Bundesrepublik Deutschland ...................................................................................................... 84 1. Flucht-/Übersiedlungsmotive der Befragten ................................................ 87 a) Pfad-Analyse .......................................................................................... 106 2. Wünsche der Befragten für das zukünftige Leben in der Bundesrepublik Deutschland .................................................................................. 116

8

Inhalt

3. Neue Gründe für die Übersiedlung der Untersuchungsgruppen nach Grenzöffnung ................ ............ ..... ............ ............ ....... ..... ....... ......... 123 4. Vorstellungen über das zukünftige Leben in der Bundesrepublik Deutschland ................................................................................................ 128 a) Partei präferenz der Übersiedler .............................................................. 134 III. Das Bauwesen der DDR im Urteil der befragten Bauleute (= Bauarbeiter!Baukader) .............................................................................. 1. Einsatz nach Qualifikation ....................................................................... 2. Einschätzung der Entlohnung ................................................................... 3. Kriterien der Kritik am Bauwesen der DDR ............................................. 4. Mehrschichtarbeit im Bauwesen der DDR ............................................... 5. Frauen auf den Baustellen der DDR ......................................................... 6. Einhaltung der Arbeitsschutzmaßnahmen ................................................

138 138 142 145 148 151 154

7. Ansehen des Berufs "Bauarbeiter" in der DDR aus der Sicht der Befragten.............................................. ............... .............. ............ ..... 159 8. Montage-Einsatz von DDR-Bauarbeitern im Ausland ................... .......... 163 9. Ursachen der Mißwirtschaft im Bauwesen der DDR im Urteil der Befragten ............................................................................................ 165 10. Die Rolle des FDGB im Urteil der Befragten .......................................... 181 IV. Vergleich zwischen Bauleuten (= Bauarbdter/Baukader) und anderen Arbeitern und Kadern in der Branche der Fertigungsberufe ........................... 184 1. Sozio-demographische Analyse der Befragten in der Branche der Fertigungsberufe .. ..... ....... ..... .......... ......... ..... ....... ..... ... ............ ......... ......... 186 2. Untersuchung der Motive der Befragten in der Branche der Fertigungsberufe ......................................................................................................... 195 3. Vorstellungen der Befragten in der Branche der Fertigungsberufe über das zukünftige Leben in der Bundesrepublik Deutschland ......................... 202 V. Prestige von Berufen in der DDR aus der Sicht der Befragten ....................... 212 E. Gesamtzusammenfassung ........................................ ..... ...................... .................. 233 Anlage 1 Fragebogen Flüchtlinge/Übersiedler ................ ............................................ Li teratur ....................................................................................................................... Tabellenverzeichnis ..................................................................................................... Verzeichnis der Abbildungen und Diagramme ............................................................ Personenindex .............................................................................................................. Sachindex ....................................................................................................................

239 247 259 265 267 269

Abkürzungsverzeichnis Gruppe der Bauarbeiter mit Lehre oder ohne Ausbildung 11

Gruppe der Baukader, Bauführungskräfte mit Fachschul- oder Hochschulausbildung

III

Gruppe der nicht im Bauwesen Tätigen mit Lehre oder ohne Ausbildung

IV

Gruppe der nicht im Bauwesen tätigen Kader mit Fachschuloder Hochschulausbildung

+ ++

Signifikant auf einem 5-Prozent-Niveau




größer

Beta

Pfadkoeffizient; bezeichnet die Stärke des jeweiligen ursächlichen Zusammenhangs zwischen zwei Untersuchungsvariahlcn im Pfadmodell Chi 2 -Test; sagt aus, ob die empirisch gewonnene Häufigkeitsverteilung von der vermuteten theoretischen abweicht

Chi 2

Signifikant auf einem I-Prozent-Niveau

DDR

Deutsche Demokratische Republik

df

degress of freedom (Freiheitsgrade)

DIW

Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung

FDGB

Freier Deutscher Gewerkschaftsbund Prüfgröße des H-Test.. , ist Chi 2 verteilt mit k - 1 Freiheitsgraden, wenn k die Anzahl der Stichproben ist

H H-Test

mißt, ob mindestens eine der unabhängigen Stichprobengruppen aus einer anderen Grundgesamtheit stammt

KKW

Kernkraftwerk

Ms.

Manuskript

N

Numerus (Zahl der Befragten)

ns

nicht signifikant

NVA

Nationale Volksarmee

P

Sicherheitsschwelle im Chi 2-Test

SBZ

Sowjetische Besatzungszone

SED

Sozialistische Einheitspartei Deutschlands

10

Abkürzungsverzeichnis

Stasi

Staatssicherheit; offiziell Ministerium für Staatssicherheit

Stat. Jb.

Statistisches Jahrbuch der DDR

U

Prüfgröße des U-Tests

U-Test

prüft, ob zwei unabhängige Stichproben aus der gleichen Population stammen oder nicht

VE-Betriebe

Volkseigene Betriebe

Vpn.

Versuchspersonen

WAO

Wissenschaftliche Arbeitsorganisation

Z

Standard-Normalvariable, Prüfgröße des z-Tests

A. Gegenstand und Methode der Arbeit I. Vorbereitung und Ziel der Untersuchung Im Sommer 1989 planten wir im Rahmen eines Forschungsprojektes eine Befragung von Leiharbeitern aus der DDR auf Baustellen in der Bundesrepublik Deutschland, um auf diesem Wege Informationen über das Bauwesen in der DDR zu erlangen. Wir konnten zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, welche historischen Ereignisse eintreten würden. Am 2. Mai 1989 setzte mit dem begonnenen Abbau des Grenzzaunes von Ungarn nach Österreich die Fluchtwelle von DDR-Bürgern aus ihrer Heimat ein. So wurde am 4. August in Bonn inoffiziell mitgeteilt, daß 150 Ausreisewillige die bundesdeutsche Botschaft in Budapest besetzt hielten. Bereits am 22. August 1989 mußte die westdeutsche Botschaft in Prag wegen Überfüllung geschlossen werden. Der erste vorläufige Höhepunkt der Ausreisebewegung lag im September 1989, als 57.000 DDRBürger über Ungarn in den Westen kamen. Damit eröffnete sich für uns eine einmalige Gelegenheit, Informationen aus und über die Situation in der DDR zu erhalten und daher Quellen zu erschließen, die vorher nur schwer zugänglich waren. Die Untersuchung ist somit nicht nur ein Dokument von geschichtlichem Wert. Sie bietet darüber hinaus der Wissenschaft und den politisch Verantwortlichen in einem nun vereinten Deutschland bei der Suche nach Antworten auf andere neue Fragen und der Lösung anstehender Probleme eine Fülle wertvoller Erkenntnisse. Die neuen Länder der Bundesrepublik Deutschland können von uns nur aufgebaut werden auf der Grundlage des Wissens um die Vergangenheit. Im Jahre 1989 kamen insgesamt 343.854 Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR in die Bundesrepublik (Diagramm 2). Damit erreichte die Zahl der Flüchtlinge/Übersiedler 1989/1990 die absolute Spitze, die noch über der des Jahres 1953 lag (Diagramm 1).

12

A Gegenstand und Methode der Arbeit

Diagramm 1

Jährliche Übersiedler-/Flüchtlingszahlen 1945 bis 1990 aus der SBZ/DDR in den Westtteil Deutschlands Anzahl

350~TT"-rrr"""rr"TT"-rrrTT,,-.rrTT,,-.rrTT,,,,rrr>

Bau Lebensweise der Arbeiterklasse eingegangenen historischen und aktuellen Erfahrungen sowie prognostischer Überlegungen" (Kulturpolitisches Wörterbuch 1978, S. 553).

Alle anderen Klassen und Schichten hätten sich in ihrem Bewußtsein an die "Arbeiterklasse" und ihre "gestählte Kampfpartei" anzunähern und in ihr aufzugehen. So werde aus der "Diktatur des Proletariats" eine echte "Volksdemokratie" . Der SED-Ideologe und Wortführer aller Soziologen in der DDR, Weidig (zit. bei Hering 1974, S. 4), belehrt seine Gefolgsleute: "Die Arbeiterklasse prägt die Existenz- und Entwicklungsbedingungen aller Individuen, den sozialen Inhalt, den konkret gesellschaftlichen Charakter der sozialistischen Persönlichkeit. Folglich ist Persönlichkeitsentwicklung in ihrem gesellschaftlichen

11. Das Bauwesen der DDR

29

Inhalt im Prinzip identisch mit der Aneignung des sozialen Wesens der Arbeiterklasse durch die Individuen."

Die Wirklichkeit war ganz anders, als die kommunistischen Ideologen behaupten. Weder gab es in nennenswertem Umfang "sozialistische Arbeiterpersönlichkeiten", noch veränderte sich der Charakter der "kommunistischen Arbeit" in die vorausgesagte Richtung. Die kommunistische Arbeit pervertierte im Stalinschen Gulag, den sozialistischen Zwangs- und Vernichtungslagern. Die Arbeiterschaft in der DDR wurde nicht zum Träger des SED-Regimesvielmehr wurde sie zur Hauptkraft, die die. kommunistische Zwangsherrschaft stürzte.

11. Das Bauwesen der DDR: Daten, Fakten und Definitionen In unserer Arbeit beschäftigen wir uns mit der Bauwirtschaft im weitesten Sinne, indem wir in unserer Befragung eine repräsentative Anzahl von allen im Bauwesen der DDR Tätigen erfaßten. Folgender Definition zur Bauwirtschaft schließen wir uns an: "Die Bauwirtschaft ist der Wirtschaftsbereich für Hoch- und Tiefbau sowie Bauinstandsetzungen, der grundsätzlich jene Betriebe umfaßt, die am Prozcß der Bauvorbereitung und Baudurchführung teilhaben. Dieser Bereich mit rund 600.000 Beschäftigten ist mit den übrigen Sektoren der Volkswirtschaft eng verflochten, denn er liefert für diese nicht nur Vorleistungen im weitesten Sinne, sondern alle zentralen Planungen der Produktion, der Infrastruktur, der Wohnungsversorgung tangieren ihn" (DDR-Handbuch 1985, S. 152).

Unter Produktion des Bauwesens verstehen wir (Stat. Jahrbuch der DDR 1989, S. 159) die "Gesamtheit der Erzeugnisse und materiellen Leistungen des Bauwesens, bestehend aus - Bauproduktion - industrieller Warenproduktion des Bauwesens - nichtindustrieller Leistungen des Bauwesens."

Wir müssen somit unterscheiden zwischen der Produktion des Bauwesens und der Bauproduktion, denn z. B. sind Projektierungsleistungen kein Bestandteil der Bauproduktion. Das Statistische Jahrbuch der DDR (1989, S. 161) untergliedert die Bauproduktion nach Bereichen in

30

B. Theoretische Grundlagen

- Bauindustrie (nach Angaben des DIW vom 12. Juli 1990, S. 378, 520 Betriebe); - Bauhandwerk (16.400 Betriebe) mit - Produktionsgenossenschaften, - privatem Handwerk; - Zwischengenossenschaftliche Bauorganisationen; - Meliorationsgenossenschaften. Diese Bereiche umfassen die Bauwirtschaft mit 584.627 Beschäftigten und einer Produktion 1988 von 37,6 Milliarden Mark nach effektiven Preisen der DDR (StaL Jahrbuch der DDR 1989, S. 161). Bauproduktion wird darüber hinaus in der Volkswirtschaft erbracht in -

Industriebetrieben, Verkehrsbetrieben, Landwirtschaftsbetrieben, in Betrieben übriger Bereiche mit einer Leistung von 10,4 Milliarden Mark.

Die privaten Leistungen der Haushalte bleiben aus der amtlichen Statistik ausgeschlossen. Zimmermann (1990, S. 13) veranschlagt die Baukapazität der DDR, die die Bauproduktion miteinschließt, 1989 sehr hoch mit 51 Mrd. Mark insgesamt, wobei 35,4 Mrd. Mark auf die Betriebe des Bauwesens entfallen, 3,5 Mrd. Mark auf das Verkehrswesen, 5,7 Mrd. auf die Landwirtschaft, 2,9 Mrd. auf die Bauabteilungen der Industrie und 4,0 Mrd. Mark auf sonstige Bereiche. Nach neuesten Berechnungen des DIW (12. Juli 1990, S.379; auf der Grundlage des Stat. Jahrbuchs der DDR 1989 und nach Angaben des Ministeriums für Bauwesen und Wohnungswirtschaft und der Bauakademie der DDR) betrug das Bauaufkommen der DDR insgesamt 1989 51,5 Mrd. Mark, was letztlich eine Bauleistung rur die Volkswirtschaft von 49,6 Mrd. Mark erbrachte. Diese Zahlen seien, so das DIW (ebd., S.377), mit den Vorjahresangaben nicht mehr vergleichbar, weil hier zum erstenmal auch die Eigenleistung der Bevölkerung mit 3,1 Mrd. Mark hinzugerechnet worden ist. Im folgenden wollen wir noch einige weitere Indices der DDR-Bauwirtschaft exemplarisch aufzeigen, ohne diese volkswirtschaftlichen Aspekte weiter zu vertiefen.

31

II. Das Bauwesen der DDR

Tabelle 4 Anteil der Wirtschaftsbereiche am Nettoprodukt der Volkswirtschaft der DDR Nettoprodukt der Wirtschaftsbereiche Jahr

in

,

Nettoprodukt nach Wirtschaftsbereichen Industrie Bauwirt- Land- und IVerkehr , IBinnen-lsonstige! und produ- schaft Forstwirt-IPost- und Ihandel Iprodu- I zierendes schaft zierende IFernmelde-1 Zwe1ge Handwerk wesen ohne Bauhandwerk

I

in,

in

,

in

,

I I

in ,

in ,

in ,

6,6

2,5

6,8

2,3

1949

100

38,4

5,6

38,3

8,6

1950

100

39,8

5,1

38,4

7,7

1955

100

46,5

5,1

28,9

7,5

10,1

1,9

1960

100

51,1

6,4

23,7

6,5

9,4

2,9

1965

100

53,9

6,8

20,7

6,3

9,1

3,1

1970

100

56,4

7,6

17,3

6,2

9,3

3,2

1975

100

58,4

7,5

14,9

6,2

9,6

3,3

1980

100

61,6

7,0

12,4

5,9

9,4

3,6

1981

100

62,0

7,1

12,2

5,9

9,3

3,6

1982

100

62,7

6,9

11,6

5,8

9,2

3,6

1983

100

63,1

6,9

11,6

5,8

9,0

3,6

1984

100

62,9

7,0

12,1

5,7

8,8

3,5

1985

100

63,3

7,1

12,0

5,6

8,7

3,5

1986

100

63,8

7,2

11,4

5,5

8,7

3,5

1987

100

64,1

7,2

11,0

5,4

8,7

3,6

1988*

100

64,9

7,4

9,8

5,4

8,8

3,6

I

I

I

* Vorläufige Zahl Quelle: Tabelle gekürzt entnommen dem Stat. Jb. der DDR 1989, S. 101.

Der Anteil der Bauproduktion am Nettoprodukt der DDR nahm zunächst von 1960 bis 1975 kontinuierlich zu, sank dann bis 1983 im Rahmen der Intensivierungsstrategie (Modernisierung statt Neubau), um danach wieder anzusteigen.

32

B. Theoretische Grundlagen

Tabelle 5 Anteil der Wirtschaftsbereiche an den Berufstätigen der DDR Stand 30. September 1988 Wirtschaftsbereiche

in % in % in % in % in % in % in % in % in %

1949

1955

1960

1970

1975

1980

1985

1987

1988

Industrie

27,2

32,9

36,0

36,8

38,2

38,0

37,9

37,5

37,4

Produzierendes Handwerk (ohne Bauhandwerk)

8,6

6,5

5,4

5,2

3,4

3,2

3,1

3,1

3,1

Bauwirtschaft

6,5

5,6

6,1

6,9

7,0

7,1

6,8

6,6

6,6

Land- und Forstwirtschaft

30,7

22,3

17,0

12,8

11,3

10,7

10,8

10,8

10,8

Post- und Fernmeldewesen

6,1

6,5

7,2

1,7

1,8

1,6

Handel

8,5

10,9

11,6

11,0

10,6

10,3

10,2

10,3

10,3

1,2

2,3

2,9

3,2

2,9

3,0

3,0

15,5

17,5

19,0

20,1

21,0

21,3

21,4

Sonstige produzierende Zweige Nichtproduzierende Bereiche Insgesamt

12,4

15,2

1,6 1,5

1,5

100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0

Quelle: Tabelle gekürzt entnommen dem Stat. Jb. der DDR 1989, S. 112.

Seit den 80er Jahren hat der Anteil der Bauwirtschaft an den Berufstätigen der DDR kontinuierlich abgenommen. Die Anzahl der Bauleute an den befragten Flüchtlingen/Übersiedlern ist vergleichsweise überproportional hoch, wie wir später aufzeigen werden.

33

H. Das Bauwesen der DDR

Tabelle 6

Index der Produktion und der Arbeitsproduktivität Verantwortungsbereich des Ministeriums für Bauwesen Produktion des Bauwesens Insgesamt Jahr 1970 1975 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988

je Arbeiter u. Angestellter

Nettoproduktion Insgesamt

je Arbeiter u. Angestellter

1980 = 100 60 83 100 104 107 111 114 117 121 124 128

69 88 100 103 107 111 114 117 121 126 131

-

100 107 115 126 136 148 158 164 171

-

-

100 107 114 126 135 148 159 167 175

Quelle: Tabelle gekürzt entnommen dem Stal. Jb. der DDR 1989, S. 160.

Setzt man das Jahr 1980 = 100, dann wird deutlich, daß die Produktion des Bauwesens, die Bauleistung, im Verlauf der Jahre kontinuierlich angestiegen ist (Tab. 6). Schwankungen zeigen dagegen die Im'estitionen der Bauwirtschaft (Tab. 8) und das Bauvolumen (Tab. 7). Das weist auf systemimmanente Probleme hin, die insbesondere in den 60er Jahren auftraten, als man vergeblich versuchte, sich praktisch an die Reformen des Neuen Ökonomischen Systems anzupassen, sowie Anfang der 80er Jahre. Wir zeigen im folgenden die Entwicklung des Bauvolumens in der 2. Hälfte der 80er Jahre, die zunächst von einer konstanten Wachstumsrate gekennzeichnet war (Tab. 7). Betrachtet man das Bauvolumen 1989 zu Preisen von 1985, dann erhält man 50 Mrd. Mark und damit 4 Mrd. mehr als 1985 (Tab. 7). Das entspricht einer Wachstumsrate von 3 %. Doch Ende 1989 brach dieser Wachstumstrend mit der Flucht-/Übersiedlungsbewegung ab. Nach Angaben des DIW (12. Juli 1990, S. 377) verlor die Bauindustrie allein im 1. Quartal 1990 26.500 Arbeitskräfte. Unser hoher Anteil an befragten im Bauwesen Tätigen bestätigt diese Angaben.

3 Brenske

34

B. Theoretische Grundlagen

Tabelle 7 Bauvolumen in der DDR sämtlicher Wirtschaftsbereiche Bauvolumen 1 zu jeweiligen Preisen zu Preisen von 1985

Jahr

in Milliarden Mark

je Einwohner in Mark

1985

43,0

45,8 5

45,8 6

1986

45,4

47,7

2.750

47,1

2.830

1987

46,5

49,3

48,1

2.890

1988

48,0

50,9

49,6

2.980

1989

48,4

51,5

49,9

3.000

1) Bauproduktion sämtlicher Wirtschaftsbereiche 5) Einschließlich Eigenleistung der Bevölkerung beim Eigenheimbau und der Wohnungsmodernisierung 6) Ermittelt an hand der Werte für 1985, die mit dem amtlichen Index der Bauproduktion der Volkswirtschaft auf der Basis des gleichen Jahres festgeschrieben wurden Quelle: Tabelle gekürzt entnommen Heft DlW vom 12. Juli 1990, S. 378.

Tabelle 8 Anteil der Wirtschaftsbereiche an den Investitionen in der Volkswirtschaft der DDR !

IDsge- Nach Wirtaehaftabereichen

.lUIIt

Jahr 1949 ' 1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988

Industrie Bauwirt- Landu. produ- schaft und Foratzierendes wirtHandwerk schaft ohne Bauhandwerk

!

!

Verkehr, Binnen- Sonstige Nicht _1 ~arunter 1 Post'handel produzie- produzie- wohnungs-: und Fernrende rende bau I Bereiche meldeZweige ,'

wesen

in ,

in ,

in ,

in ,

in %

in %

in %

in %

100 100 100 100 100 100

43,0 43,4 42,3

0,7 0,7 0,6 2,6 2,0 3,4 3,5 2,6 2,2 1,9 1,3 1,4 1,2 1,2 1,4 2,0

11,3 11,9 14,7 12,4 14,0 13,8 12,4 10,3 10,4 10,1 9,2 8,6 7,9 7,9 7,9 8,0

13,2 13,9 13,9 10,7 9,5 8,9 10,5 8,6 8,8 7,5 7,3 8,1 9,1 9,9 8,2 7,9

1,3 1,4 3,0 2,7 4,2 4,6 3,6 3,0 2,6 2,4 2,3 2,6 2,8 2,7 2,5 2,6

0,3 0,3 0,4 0,4 0,8 2,1 1,5 1,3 1,2 1,3 1,3 1,4 1,7 1,9 2,2 2,2

30,3 28,4 25,2 24,7 17,3 18,4 21,3 22,0 22,4 22,4 22,1 22,8 22,9 21,7 20,8 19,9

100 100 100

100 100 100 100 100 100 100

46,S

52,0 48,8 47,1 52,3 52,4 54,4 56,6 55,0 54,5 54,6 57,0 57,.

I

Quelle: Tabelle gekürzt entnommen dem Stal. Jb. der DDR 1989, S. 105.

in

-

i %--r

14,4 14,7

10,0 7,4 9,8 11,5 12,0 12,1 12,9 13,7 14,1 13,1 12,2 11,3

Ir. Das Bauwesen der DDR

35

Die gesamten Bauinvestitionen für das Jahr 1989 lassen sich laut DIW (12. Juli 1990, S. 379) auf 29 Mrd. Mark beziffern. Dieser Betrag verteilt sich auf die Abnehmerbereiche wie folgt: Tabelle 9

Bauinvestitionen in der DDR 1989 nach Wirtschaftssektoren Sektor

Milliarden Mark

Wohnungsbau Industrie davon: schwerindustrie Maschinenbau Leichtindustrie übrige Industriezweige

10,2 10,0 3,5 1,7 0,8 4,0

übrige Bereiche

3,5

Landwirtschaft

2,8 1,3

Verkehrswesen Handel Bauwirtschaft Post- und Fernmeldewesen

0,7 0,4 0,1

Quelle: erstellt nach Zahlen des DIW vom 12. Juli 1990, S. 379.

Laut dem Statistischen Jahrbuch der DDR ist der Index der Produktion und der Arbeitsproduktivität im Bauwesen zwar - wie wir gezeigt haben - kontinuierlich gewachsen, ebenso stiegen die Bauleistungen konstant an, dennoch muß auch dieses Wachstum noch relativiert werden. In der DDR ist der Anteil der Baureparaturen seit den 60er Jahren mit 22 - 28 % sehr hoch, im wesentlichen handelt es sich um Altbausanierung. Laut Statistischem Jahrbuch der DDR (1989, S. 161) entfielen 16,3 Milliarden Mark auf Baureparaturen. Mit 6,3 Mrd. Mark beziffert Zimmermann (1990, S. 15) den Einsatz für Baureparaturen und die Modernisierung der Wohnbauten. Hauptträger für diese Leistungen seien die rd. 270 volkseigenen Kreisbaubetriebe mit 90.000 Beschäftigten, die 1.100 Produktionsgenossenschaften des Bauhandwerks mit 52.000 BeSChäftigten, die 15.270 privaten Bauhandwerksbetriebe mit 48.200 Beschäftigten sowie die 22.000 Bauhandwerker der Betriebe der Wohnungsbauwirtschaft (ebd.). Das DIW (12. Juli 1990, S. 379) veranschlagt gar 18 Mrd. Mark für Baureparaturen. Das erklärt die Diskrepanz zwischen steigender Bauleistung und schwankender Investitionstätigkeit bzw. schwankendem Bauvolumen. "1989 entfiel vom Bauvolumen gut die Hälfte auf Neubauten, 36vH waren Baureparaturen und gut ein Zehntel Modernisierungen (einschließlich Rekonstruktion). Charakteristisch für das Baugeschehen in der DDR ist, daß 80vH der Neubauten von der Bauindustrie erstellt werden; an der Modernisierung ist sie nur mit knapp einem Viertel

36

B. Theoretische Grundlagen

beteiligt. In diesen beiden Leistungsgruppen dominieren die 'Eigeninitiativen' der Betriebe außerhalb der Bauwirtschaft (Reparaturkolonnen) sowie Leistungen der Bevölkerung: Rund 45vH aller Maßnahmen zur Bestandspflege und -verbesserung kommen so zustande" (DIW 12. Juli 1990, S. 378).

Ein Sektorenvergleich (innerhalb eines Systemvergleichs; siehe Bleek 1982) zwischen dem Bauwesen der Bundesrepublik und dem der DDR vor der Wende ist zur Zeit noch außerordentlich schwierig aufgrund der unterschiedlichen Begriffe, Strukturen und Preisniveaus und vor allem der abweichenden Qualität der Leistungen. Wir schließen uns folgender Auffassung an: "Der Anteil der Beschäftigten in der Bauwirtschaft an den Gesamtbeschäftigten liegt in der DDR etwa 1 Prozentpunkt unter dem in der BRD. Die Bauproduktion je Einwohner beträgt in der DDR im Vergleich zur BRD nur ca. 70 % [ ... ]. Mit einem Anteil der Bauinvestitionen am verwendeten Nationaleinkommen von 8,9 % liegt die DDR weit unter vergleichbaren Werten in der BRD (11,2 %) und anderen Industrieländern. Hauptursache für den bestehenden Niveauunterschied ist der Rückstand in der Arbeitsproduktivität in der DDR gegenüber der BRD von durchschnittlich 25 bis 30 %" (Zimmermann 1990, S. 13).

Dabei bleiben zunächst qualitative Aspekte unberücksichtigt; der Rückstand der DDR gegenüber der Bundesrepublik ist hier noch viel größer. Tabelle 10

Vergleich der Bauproduktion der DDR mit der der Bundesrepublik Deutschland DDR Bauvolumen Bauvolumen je Einwohner Beschäftigte der Bauwirtschaft Anteil an den Gesamtbeschäftigten

0

51 Mrd. Mark

266 Mrd. DM

3.140 Mark

4.320 DM

560.000 6,5 %

1. 712.000

7,5 %

Quelle: Tabelle leicht verändert entnommen Zimmermann 1990, S. 13.

Der Baukapazität auf dem Baumarkt der DDR mit 51 Mrd. Mark steht die reale Leistungsfahigkeit des wirtschaftlichen Subsystems gegenüber. Diese mangelnde Leistungsfahigkeit wo]Jen wir u. a. in unserer Arbeit ursächlich erklären. Dabei wenden wir uns wesentlich dem menschlichen Potential zu, denn wir gehen von folgender Hypothese aus: Die LeistungsbereitschaJt jedes

11. Das Bauwesen der DDR

37

einzelnen bedingt die volkswirtschaftliche Gesamtleistung (Voigt/Meck 1984). Je geringer die Leistungsmotivation, desto größer die Arbeitszurückhaltung. Gerade im Bauwesen der DDR ergibt sich somit ein folgenschwerer Circulus vitiosus. Die geringe Arbeitsproduktivität und die Leistungszurückhaltung der einzelnen lag mitbegründet in den völlig unzureichenden Lebensbedingungen in der DDR. Im Wohnungsbau der DDR z. B. wirkten sich somit die menschlichen Faktoren doppelt aus: wurde hier stümperhaft gearbeitet, unterstützte das noch mehr die ohnehin mangelhaften ökonomischen Voraussetzungen für die Bauproduktion und verschlechterte weiterhin die Lebensbedingungen. Zimmermann (1990, S. 13 ff.) sieht folgende wirtschaftlichen Faktoren als Ursachen für die geringe Produktionsleistung des DDR-Bauwesens: - den großen Rückstand im Grad der Mechanisierung und der Arbeitsteilung; - den hohen Verschleißgrad der Werkzeuge, Maschinen und Materialien und letztlich der Gebäude mit 68 %; - das beträchtliche Defizit an hochwertigen Baumaterialien; - die einseitige Orientierung auf den Betonbau und die Plattenbauweise. "In der DDR wird der Zustand der Bauwerke nach vier Kategorien klassifiziert!. Für den Bereich der Industrie wird angegeben, daß ein Fünftel der Bausubstanz in die Kategorien 3 und 4 fällt... Für Hoch- und Tiefbauten im Bereich der Infrastruktur und der Dienstleistungen ist das Bild noch weitaus ungünstiger als für die Industrie. Beispielsweise wird angegeben, daß die Hälfte der Lagt:rgebäude des Großhandels und 30vH der Verkaufsstellen des Einzelhandels in die Zustandsstufen 3 und 4 fallen. Bei den Krankenhäusern werden 17vH genannt" (DIW vom 12. Juli 1990, S. 380).

Noch schlechter ist die Situation im Tiefbau (ebd., S. 381): Gut die Hälfte des gesamten Netzes der Wasserwirtschaft hätten die normale Lebensdauer überschritten. Von den 7.560 Städten der DDR verfügten nur 1.035 über eine zentrale Kläranlage. Ein Fünftel aller Fernverkehrsstraßen, 43 % der Autobahnen und 2/3 der kommunalen Straßen entsprachen dem Bauzustand 3 und 4. Zusammenfassend können wir von folgenden Hypothesen ausgehen:

- Je miserabler die Lage der DDR-Bauwirtschaft in den letzten Jahren, desto schlechter auch die Arbeitsbedingungen im Bauwesen der DDR und desto größer letztendlich die Zahl der Abwanderungen von Fachkräften oder auch ungelernten Arbeitern im Flüchtlings- und Übersiedlerstrom 1989/90.

1 Amtliche Klassifizierung nach Bauzustand: 1 = gut erhalten; 2 = geringe Schäden (Verschleiß 6 - 25vH); 3 schwerwiegende Schäden (Verschleiß 26 - 5OvH); 4 nicht mehr nutzbar...

=

=

38

B. Theoretische Grundlagen

- Je schlechter die ArbeiJsbedingungen, desto größer die Arbeitsunzufriedenheit und desto geringer die Leistungsmotivation und die Arbeitsproduktivität der Arbeitnehmer. - Je geringer die Leistungsmotivation jedes einzelnen, desto geringer auch die gesamtwirtschaJtliche LeistungskraJt und desto schlechter die Lebensbedingungen für die Individuen. Voigt (1973) stellte bereits in früheren UnterSUChungen fest, daß das Bauwesen der DDR trotzdem eine große Anzahl von Arbeitswilligen anzog. Wir wollen uns im folgenden der Frage zuwenden, wie sich die Gruppe der Bauarbeiter von anderen Arbeitern unterscheidet und warum die Arbeit auf den Baustellen in der DDR prägend und anziehend wirkte.

III. Die Persönlichkeit des Bauarbeiters - Theorie und Modelle zum prägenden Einfluß der Arbeit im Bauwesen Wir gehen von der Annahme aus, daß sich die Bauarbeiter (Gruppe I) von den anderen befragten Arbeitern (Gruppe III) in ihren Merkmalen unterscheiden, sowohl als SampIe insgesamt als auch speziell in der Branche der Fertigungsberufe (siehe Kap. 4.4). Unsere Ergebnisse suggerieren geradezu, daß die Arbeit auf dem Bau die dort tätigen Menschen prägte. Für uns ergibt sich daraus eine der zentralen Forschungsfragen: Beeinflußte die Arbeit im Bauwesen/auf dem Bau in der ehemaligen DDR die Persönlichkeit der Individuen oder aber werden besondere Persönlichkeiten, die sich in spezifischen Merkmalen von anderen Menschen unterscheiden, durch das Bauwesen angezogen? Für die "Soziologie" im real existierenden Sozialismus war nur eine Antwort möglich. Im Sinne von Marx und Engels ist es die Arbeit bzw. die Tätigkeit als übergeordnete Kategorie, die die Persönlichkeit des einzelnen formt (siehe Meck 1986). Marx schrieb, daß sich der Mensch erst durch die Arbeit verwirkliche. Letztendlich sei alles Geistige nur aus dem Materiellen zu erklären. "Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens. Das Vorstellen, Denken, der geistige Verkehr der Menschen erscheinen hier noch als direkter Ausfluß ihres materiellen Verhaltens" (Marx 1961. Bd. 3, S. 26).

III. Die Persönlichkeit des Bauarbeiters

39

Auch in der marxistisch-leninistischen Psychologie ist die Entwicklung des menschlichen Bewußtseins eine Folge der (Arbeits-)Tätigkeit (siehe Leontjew 1977; Meck 1986, S. 60): "Somit sind eine äußere und innere Form der Tätigkeit zu unterscheiden. In der äußeren Form aktiver Auseinandersetzung mit der Umwelt, die sich historisch durch die Bildung der menschlichen, auf Arbeit beruhenden Gesellschaft entwickele, entständen die inneren psychischen Tätigkeiten, wobei z. B. durch Veränderung der psychischen Widerspiegelung das Bewußtsein als Folgeerscheinung entstehe. Leont'ev unterscheidet weiterhin verschiedene konkrete Tätigkeitsformen, die je nach dem Gegenstand, auf den sie gerichtet sind, getrennt werden. Gegenstand beinhalte dabei Motiv und Ziel. Die zentrale menschliche Tätigkeitsform sei die Arbeit."

Deshalb mußte die Psychologie im real existierenden Sozialismus Persönlichkeit als Folge gesellschaftlicher Prozesse erklären. "Da der Mensch kein abstraktes Wesen, sondern stets ein 'ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse' ist (Marx, MEW, 3, 6), kann jede P. nur im Zusammenhang mit den sozialen, politischen sowie den geistigen und kulturellen Bedingungen verstanden werden, unter denen sie sich entwickelt. Das Antlitz der P. wird weitgehend durch diese Bedingungen, vor allem durch die Klasseninteressen und die psychische Eigenart der betreffenden Klasse, geprägt, nicht aber durch die Entwicklung einer vom materiellen gesellschaftlichen Leben und der natürlichen Existenz des Menschen unabhängigen 'geistigen Natur' des Menschen, wie der --> Personalismus, eine subjektiv-idealistische, agnostizistische und betont religiöse Form der imperialistischen Philosophie, behauptet" (Kleines Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie 1979, Stichwort "Persönlichkeit").

Die Arbeit der einzelnen diente in der DDR vor der Wende letztendlich dem Ziel, das Machtmonopol der damaligen FührungSkaste der SED zu erhalten (vgl. Mainz 1982). Damit fielen ihr drei Grundfunktionen zu (Voigt 1986, S.77): 1. Sicherung und Erweiterung der Prcx.luktion,

2. Erziehung sozialistischer Persönlichkeiten, 3. Einbindung des "Staatsvolkes" in ein streng kontrolliertes und organisiertes Regime; Erschöpfung und Disziplinierung der Menschen. Die Erziehung der Bürger im Sinne des sozialistischen Bewußtseins sollte in den Arbeitskollektiven erfolgen. "Das Arbeitskollektiv ist die einzige Kleingruppe, in der die Einheit von produktiver und persönlichkeitsbildender Funktion praktiziert werden kann. Aus dieser sozialen Doppelfunktion des Arbeitskollektivs erwächst somit seine überragende Bedeutung für

40

B. Theoretische Grundlagen

die Entwicklung der sozialistischen Lebensweise sowohl im gesamt gesellschaftlichen Maßstab als auch im individuellen Lebensvollzug" (Kahl/Wilsdorf/Wolf 1984, S. 51).

Soweit das offizielle, ideologische Postulat, wonach eindeutig die Arbeit die "sozialistische" Persönlichkeit hätte schaffen müssen. Wenden wir uns nun der westlichen Persönlichkeits forschung und unseren Ergebnissen zu. Aus der Sportwissenschaft ist uns die Problematik der wechselseitigen Beziehung zwischen sportlicher Betätigung und Persönlichkeit bekannt (siehe u. a. Voigt 1991; Bierhoff-Alfermann 1986, S. 129 ff.). Während die Sozialisationshypothese davon ausgeht, daß Sport die Persönlichkeit beeinflusse (Sport = unabhängige Variable, Persönlichkeit = abhängige Variable), besagt die Selektionshypothese, daß die Persönlichkeit nicht nur über die Wahl der Sportart, sondern auch über die Art der Ausübung und den sportlichen Erfolg mitentscheide. Wir wollen im folgenden versuchen, eine ähnliche Hypothesenbildung auch für unser Phänomen der Arbeit zu entwickeln. Voigt (1973, S. 156) belegt in seinem Buch über Montagearbeiter - das ist eine besondere Gruppe von Bauarbeitern - zunächst, daß es sich hier um Persönlichkeiten mit Standesbewußtsein und differenzierten Merkmalen handelt. l "Monteure (Industriebauarbeiter) unterscheiden sich von anderen Arbeitern durch ihre spezifische Tätigkeit und den damit verbundenen sozial-kulturellen Habitus. Sie rekrutieren sich aus allen Wirtschaftszweigen und beenden die Montage früher oder später meist mit dem Wechsel in stationäre Betriebe."

In seiner Untersuchung nähert sich Voigt (1973, S. 156) also eher der Selektionshypothese an, das heißt, er geht davon aus, daß bereits ganz bestimmte Typen zum Bau streben: "Industriebauarbeiter besitzen ein ausgeprägtes Standesbewußtsein, das durch die Bedeutung der Investitionsvorhaben und den Mangel an Fachkräften erhöht wird. Es gelang der SED nicht, diese Haltung ideologisch zu fundieren.

In der Arbeitsmotivation der Monteure sind keine ideologischen BeweggrüJ'!de enthalten. Die meisten Arbeiter gingen auf Montage, um mehr zu verdienen, aus jugendlichem Erlebnisdrang und dem Wunsch nach interessanter Arbeit bzw. guter Berufsausbildung. Wegen Familie und Wohnung wechseln sie in der Regel nach einigen Jahren wieder in stationäre Betriebe" (ebd., S. 156).

1 Siehe hierzu weiterhin: Blücher (1959), Fürstenberg et al. (1969), Hoppock (1935), Kern/Schumann (1973 a!b), Levenstein (1912), Popitz et al. (1964,1967), Sarel (1975 (1958]), Sombart (1906), Werner et al. (1980).

IlI. Die Persönlichkeit des Bauarbeiters

41

Dennoch ist auch in VOigts (1973) Ausführungen nicht zu verkennen, daß sowohl die gesellschaftlichen als auch die bauspezifischen Bedingungen wiederum auf die Persönlichkeit der einzelnen zurückwirkten. Der Bauarbeiter wurde in der DDR ideologisch aufgewertet. Die Quellen dafür liegen weiter zurück; schon in der Sowjetunion wurde der Aufbau des Sozialismus mit der Durchführung der großen Bauvorhaben gleichgesetzt (l..enin: Kommunismus ist Sowjetmacht + Elektrifizierung). Die Symbole des Bauens finden wir auch in der sozialistischen Literatur. Deutlich wird das zum Beispiel in Bert Brechts Gedichten zum 17. Juni, in denen es heißt: "Eisen Im Traum heut Nacht Sah ich einen großen Sturm. Ins Baugerüst griff er Den Bauschragen riß er Den eisernen, abwärts. Doch was da aus Holz war Bog sich und blieb" (Brecht 1964, S. 16). "Die Kelle Im Traum stand ich auf einem Bau. Ich war Ein Maurer. In der Hand Hielt ich eine Kelle. Aber als ich mich bückte Nach dem Mörtel, fiel ein Schuß Der riß mir von meiner Kelle Das halbe Eisen" (Brecht 1967, S. 1015).

Der Bau symbolisiert hier den Aufbau des Sozialismus, der Maurer die Arbeiterklasse schlechthin. Offizielle Losungen wie "Ich bin Bauarbeiter, wer ist mehr?" sollten die Bauberufe aufwerten genauso wie eine relativ gute Bezahlung. Das hohe Standesbewußtsein der Bauarbeiter, auf das VOigt (1973, S. 156) hingewiesen hat, war aber nicht ideologisch fundiert, sondern folgte aus den ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen, wie zum Beispiel aus der Bedeutung des WOhnungs- und Industriebaus oder aus dem Facharbeitermangel. Messing (1981, S. 405) schreibt in seinem Buch über Bauarbeiter in beiden Teilen Deutschlands:

42

B. Theoretische Grundlagen

"Die Montagearbeiter in der DDR entsprechen ebensowenig den utopischen Vorstellungen der SED wie die Situation der Montagearbeiter in der Bundesrepublik der von F. Engels (1964/3 [1844/1845]) beschriebenen Lage der arbeitenden Klasse im 19. Jahrhundert gleicht. Weder das eine noch das andere Modell wird der Gegenwart gerecht. Der Bauarbeiter in der DDR ist kein Kommunist und der in der Bundesrepublik kein Revolutionär. Das Verhalten beider Gruppen ist kaum von Ideologien und kollektiven Zielen geprägt, sondern hauptsächlich von ihrer konkreten Arbeit und Umwelt, vom Zwang, den Lebensunterhalt verdienen zu müssen und der Suche nach persönlichem Glück."

Halten wir fest, daß zum einen bestimmte Persönlichkeitstypen zum Bau streben; insbesondere für Montagebauarbeiter können wir das als bestätigt ansehen. Wir wollen nun der Frage nachgehen, welche Faktoren zum anderen anziehend vom Bau ausgehen und somit auf die Motivlage der Arbeiter zurückwirken. Es würde den Rahmen der Arbeit sprengen, wollten wir ausführlich darstellen, welche Bedingungen die individuelle Berufswahl beeinflussen (siehe u. a. hierzu: Fürstenberg et al. 1969; Kern/Schumann 1973 a/b; Levenstein 1912; Popitz el aJ. 1964,1967; Sombart 1906). Lazarsfeld (1931) sah berufliche Auswahlentscheidungen als Prozeß, der weder durch "Berufung" noch durch einfaches "Nachahmen" zu erklären sei. Vielmehr wirkten solche Faktoren wie Arbeitsmarktsituation, eingeengte Handlungsmöglichkeiten oder andere wirtschaftliche Zwänge. Jaide (1961) betonte die "primitiven Begierden" bei der Berufswahl, die "Gewohnheitsprägungen" und "vorübergehende Quasibedürfnisse". Schelsky (1972) wertete bereits das Motiv des Geldverdienens als sehr wiChtig für die Berufsvorstellungen einzelner. Erstaunlich ist, daß Voigt (1973, S. 62), obwohl er den Montagearbeitern Standesbewußtsein zusprach, feststellen mußte, wie wenig der ausgeübte Beruf seiner Befragten dem erwünschten entsprach.

III. Die Persönlichkei t des Bauarbeiters

43

Tabelle 11

"Als Sie aus der Grundschule kamen, hatten Sie sicher einen Berufswunsch? Üben Sie diesen Beruf jetzt aus?" n 1

11 Antwort

abs.

%

abs.

Insgesamt %

abs.

%

Nein, einen anderen

480

79,1

262

86,2

742

81,5

Ja, ich übe ihn jetzt aus

121

19,9

24

7,9

145

15,9

6

1,0

18

5,9

24

2,6

607

100,0

304

100,0

911

100,0

Unklar Total

Chi 2 = 19,54; df= 1, P < 0,001 1 Gruppe I bezeichnet Facharbeiter der Lohngruppe 5 - 7 Gruppe 11 bezeichnet Hilfsarbeiter bis Lohngruppe 4. Quelle: Voigt 1973, S. 62.

Brose (1983) untersuchte den berufsbiographischen Erwerb von Handlungsmustern bei Industriearbeitern im Zeitraum 1972 bis 1974. Dabei ermittelte er auch die Berufseinmündungsverläufe und -motive von im Bauwesen Tätigen. Er stellte fest, daß "distributive Zuweisungs- und Zwangsmechanismen" mit 44,4 % der Nennungen am stärksten für diese Berufsgruppe zum Tragen kamen. Unter diesen Mechanismen sind zu verstehen: spezielle Interessen, aber nur völlig andere Lehrstellen vorhanden; Versagen in Tests; soziale Zwänge, sozialer Druck, Arbeitsamt; historische Situation!Nachkriegssituation; geographische/lokale Bedingungen. Auch bei VOigt (1973) wurde bereits das materielle Motiv der Montage-Arbeiter aus der DDR herausgestellt. "Das ausgeprägte materielle Denken der Arbeiter wird durch Sonderläden auf den Baustellen und westliche Einflüsse stimuliert" (ebd., S. 159). "Qualifizierung assoziierten Monteure mit höherer Lohngruppe ... " (ebd., S. 157).

Von Messing (1978,1981) wird dieses Ergebnis bestätigt. Auf die Frage, warum sie auf Montage gegangen seien, antworteten die befragten IndustrieArbeiter wie folgt: Für 70,7 % der DDR-Arbeiter (Facharbeiter und Helfer N 911) war der wichtigste Grund, mehr Geld zu verdienen bzw. die Auslösung. Demgegenüber gaben das 63,3 % der Bundesdeutschen (N 1.952) an (Messing 1978, S. 62).

44

B. Theoretische Grundlagen

"Vergleicht man die Ergebnisse zu dieser Frage in fünf Ländem, so fällt auf, daß gerade die Arbeiter eine besonders hohe Geldorientierung zeigen, bei denen nach der kommunistischen Ideologie neue politisch-moralische Antriebskräfte zu elWarten wären; mit fast 71 % der Befragten in der Kategorie 'Mehlverdienst' hat die DDR vier kapitalistische Länder überholt" (ebd., S. 59).

Betrachtet man zudem die geringe Professionalisierung in den Bauberufen, so scheint der Persönlichkeitstypus eines Bauarbeiters in Frage zu stellen zu sein. Auch wir haben an anderer Stelle auf die Berufsvielfalt und das Auftreten fachfremder Berufe im Bauwesen der DDR hingewiesen. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Messing (1978, S. 58): "Der Arbeitskräftebedarf auf den Großbaustellen hat in der Bundesrepublik wie in der DDR zu relativ niedrigen Eingangsvoraussetzungen in den Bau- und Montageberufen geführt. Damit wurde nicht nur eine weitere Professionalisierung dieser Berufsgruppen verzögert, sondern vor allem in der Bundesrepublik das Selbstbild vom selbständigen erfahrenen Montageexperten beeinträchtigt. Vermutlich haben sich daraus im Zusammenhang mit dem hohen Ausländeranteil, der eine prestigearme Arbeit signalisiert - negative Rückwirkungen auf die Attraktivität der Bauberufe ergeben."

Zusammenfassend ist also festzustellen: Untersuchungen u. a. von VOigt (1973) haben ergeben, daß sich - hier speziell Montagearbeiter - Bauleute in spezifischen Persönlichkeitsmerkmalen und Motiven von anderen Arbeitern unterscheiden. Das hieße, daß ein bestimmter Persönlichkeitstypus zur Montagearbeit strebe, der sich zum Beispiel durch Flexibilität, Standesbewußtsein, Abenteuerlust etc. auszeichnet. Was Voigt (1973) indes für die relativ kleine Zahl von Montagearbeitern feststellt, dürfte nur eingeschränkt und abgeschwächt für die große Menge der Bauarbeiter schlechthin zutreffen. Industriernontage im Sinne von Voigt (1973) und Messing (1978/1981) bedeutet Extrembedingungen; die Ergebnisse haben wenn überhaupt - dann nur tendenziell Gültigkeit für das gesamte Bauwesen. Andererseits lassen aber die große Vielfalt unterschiedlicher fachfremder Berufsträger, die im Bauwesen arbeiten, der finanzielle Anreiz, der von ihm ausgeht, sowie andere gesellschaftliche und ökonomische Zwänge die Bauberufe für viele aus vielfaltigen Gründen als attraktiv erscheinen, so daß aus dieser Sicht die Sozialisationshypothese (Bau = unabhängige Variable, Persönlichkeit = abhängige Variable) zum Tragen käme. Das hieße, daß die Arbeit auf dem Bau bestimmte Persönlichkeitsmerkmale - zum Beispiel materielle Orientierung - erst hervorriefe. Wir lassen die Frage zunächst unbeantwortet, werden aber im Verlaufe der Untersuchung, zum Beispiel mit Hilfe der Pfad-Analyse, das Problem wieder aufgreifen und zu lösen versuchen.

C. Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR I. Ergebnisse früherer Untersuchungen Der Sonderforschungsbereich 186 der Universität Bremen unter Leitung von Professor Schumann untersuchte im Zeitraum von März 1983 bis März 1986 die berufliche und soziale Integration von DDR-Zuwanderern in der Bundesrepublik. 2.500 Fragebögen wurden nach dem Zufallsprinzip verschickt, die Adressen gewann man aus den Akten des Notaufnahmelagers Gießen. Der Rücklauf betrug 40 %, die Ausfälle sind durch die Anonymität der Befragung und Verweigerungen zu erklären (siehe unveröff. Ms. Schumann et al. 1990). Als ein Hauptergebnis konnten die Bremer Wissenschaftler festhalten, daß eine geringe Korrelation zwischen der beruflichen Integration und den anderen Bilanzierungswerten bestand; der Beruf sei nur ein Faktor, der die positive Beurteilung der sozialen Integration erkläre. Einen bedeutenden Raum nehmen auch in dieser Untersuchung die Motive ein, wobei politische und wirtschaftliche Gründe die Hauptursachen der Abwanderung darstellten (siehe Tab. 12). Es zeigt sich eine Übereinstimmung mit unseren Ergebnissen.

c. Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR

46

Tabelle 12 Konstellationen der Ausreisemotive von DDR-Zuwanderern Motive nach Häufigkeit der alleinigen Nennungen B

A

1

Motive in % der Befragten

1 2 3 4

C

-

5 6 7 8

9 10 11 12 13

5

-

11

8

-

-

8

-

10 11 12

-

10

Heirat

74 %

10 %

Mitgereist

48 %

3 %

Familienzusammenführung

39 %

19 %

sonstige private Gründe

35 %

10 %

Diskriminierung

31 %

15 %

Opposition

31 %

6 %

sonstige pOlitische Gründe

21 %

5 %

politische Gründel Meinungsfreiheit

17 %

54 %

-

8 %

11 %

-

10

berufl. Entwicklungsmöglichkeiten 8 %

9 %

-

5

11

wirtschaftliche Gründe

3 %

23 %

-

-

Kindern bessere Zukunft bieten

2 %

6 %

-

Reisen

2 %

25 %

-

2 3 4

5 6 7

8

9

12

13

Kreativitätschancen

Quelle: Schumann et al. 1990, S. 4.

5

-

-

-

-

-

-

6

5

-

-

-

-

9 10 11

13

9

13

11

8

13

12 8

13

10

-

-

13

8

9

13 11

L Ergebnisse früherer Untersuchungen

47

Der Bremer Fragebogen umfaßte 90 Fragen, von denen wir beispielhaft einige anführen: "Sehen Sie Ihre jetzige berufliche Stellung im Vergleich zu Ihrer beruflichen Stellung in der DDR (vor evtl. Veränderungen durch Stellen eines Ausreiseantrages) eher als Auf- oder Abstieg?" "Sind Ihre engeren Bekannten/Freunde überwiegend ehemalige DDR-Bürger oder Bundesbürger?" "Wie lange brauchten Sie, um sich einzuleben?" "Fühlen Sie sich im neuen Wohnort schon heimisch?" "Haben Sie schon einmal bereut, in die Bundesrepublik gekommen zu sein?" "Haben sich Ihre in der DDR entstandenen Wünsche, Vorstellungen, Erwartungen über Ihr Leben in der BRD erfüllt?"

Der, wie es Schumann et al. (1990, S. 16) nennen, Bilanzierungsindex zu "eingelebt/heimisch" soll abschließend zu dieser Zusammenfassung der Bremer Untersuchung (rab. 13) wiedergegeben werden. Es zeigt sich, daß die überwiegende Mehrheit der Übersiedler sich zum Zeitpunkt der Befragung in der Bundesrepublik gut bis sehr gut eingelebt hatte. Tabelle 13 Bilanzierungsindex - eingelebt/heimisch (von DDR-Übersiedlern) (N 889) sehr schlecht schlecht mittelmäßig weitgehend gut sehr gut Quelle: Schumann et al. 1990, S. 16.

1,3 % 1,0 % 2,4 % 7,5 % 38,9 % 48,8 %

48

C. Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR

Die psychische und körperliche Gesundheit van Übersiedlern aus der DDR im Jahr nach der Übersiedlung untersuchte ein Forschungsteam der Freien Universität Berlin (Schwarzer/Jerusalem 1990). Mehr als 1.000 Übersiedler haben den umfangreichen Fragebogen bearbeitet, der psychometrische Skalen und Gesundheitsindikatoren enthält. Die Wissenschaftler erwarteten in der Analyse differentielle Effekte, wobei die einen gesund und optimistisch sein könnten, die anderen dagegen depressiv und kränklich. Worin sich diese beiden Gruppen in anderen Merkmalen unterscheiden, ist gegenwärtig noch nicht erfaßt. Professor Volker Range, Bergische Universität Wuppertal, führte, teilweise gemeinsam mit Dr. Anne Köhler von Infratest München, verschiedene Untersuchungen zur Problematik der Ausreise aus der DDR durch (Köhler/Ronge 1984,1985; Köhler/Hilmer 1986; Range 1985,1990; Hilmer!Köhler 1989; Köhler 1990). Zunächst wurde die Ausreisewelle 1984 für eine Befragung genutzt. Dazu verteilte man Ende März/Anfang April 1984 im Notaufnahmelager Gießen 2.000 Fragebögen an erwachsene Übersiedler (Rücklaufquate 25 %). Die Repräsentanz sollte hinsichtlich der Fragebogenempfanger für die Übesiedlerwelle schlechthin geIten, was aus unserer heutigen Sicht fraglich erscheint. In der Übersiedlergruppe im Frühjahr 1984 waren mittlere arbeitende Jahrgänge überrepräsentiert, das formale Bildungsniveau entsprach damals dem der erwachsenen DDR-Bevölkerung (Köhler/Range 1984, S. 1281). Über die von Range et al. (1984) aufgedeckten Motive gibt Tabelle 14 Auskunft:

49

I. Ergebnisse früherer Untersuchungen

Tabelle 14

Ausreisegründe und -motive· (von DDR-Übersiedlern) Motive

- in % der Übersiedler gesamt Bez. Dresden

fehlende Meinungsfreiheit

71

71

politischer Druck

66

62

beschränkte Reisemöglichkeiten in andere Länder

56

68

schlechte Versorgungslage

46

59

fehlende oder ungünstige Zukunftsaussichten

45

46

verwandtschaftliche Beziehungen zu Bundesbürgern "Familienzusammenführung"

36

31

"einen neuen Anfang machen"

28

28

ungünstige berufliche Entwicklungsmöglichkeiten

21

21

* "wesentlicher Grund"; Mehrfachnennungen möglich Quelle: Köhler!Ronge 1984, S. 1282 Zu den Erwartungen der Abwanderer im Hinblick auf das zukünftige Leben in der Bundesrepublik äußerten sich die Wissenschaftler (ebd., S. 1284 f.): - Die politischen Erwartungen seien untergeordnet gewesen; Übersiedler erwarteten ein westlich-freies Land, in dem die Lebenschancen vom Individuum selbst bestimmt werden könnten; - 70 % der Befragten glaubten, daß die Arbeitsbedingungen in der Bundesrepublik besser sein würden. - Die Hoffnung, einen Arbeitsplatz zu finden, habe sich mit der Dauer des Aufenthalts im Westen und der Zeit der Arbeitslosigkeit verändert, der Optimismus habe dem Pessimismus schnell Platz gemacht. - Ein Teil der Zuwanderer habe zum Zeitpunkt der Befragung bereits eine Wohnung besessen. Ansonsten hätten sich die Übersiedler während der ersten zwei Wochen in der Bundesrepublik eher pessimistisch gezeigt, dann habe sich das Verhältnis zwischen Angst und Erwartung ausgeglichen. Eine weitere Untersuchung von Köhler und Ronge (1985), die mit Infratest durchgeführt wurde, maß die Reaktionen der Bundesdeutschen auf die Übersiedlerwelle aus der DDR 1984. Erfaßt wurden in einer repräsentativen münd4 Brenske

50

C. Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR

lichen Mehrthemenbefragung rund 2.000 Deutsche ab 14 Jahren in Privathaushalten. Die Wissenschaftler verstanden ihr Forschungsvorhaben - vorsichtig formuliert - als einen Test für die Wiedervereinigung. Damals herrschte, bei einer relativ großen Unkenntnis des Übersiedlerproblems, eher eine negative Stimmung, allerdings mit einem 50%igen Anteil an ambivalenten "teils-teils"Meinungen. Die im folgenden zitierte, 1985 gestellte Prognose des Wissenschaftlerteams läßt sich heute bereits an der Wirklichkeit überprüfen (Köhler/Ronge 1985, S. 59): "1. Eine materielle, egoistische Haltung ist bei der Bundesbevölkerung weit verbreitet, und sie schlägt auf das Verhältnis zu den 'Brüdern und Schwestern' von 'drüben' durch, wenn es ernst wird mit den 'sozialen Kosten einer Wiedervereinigung'. Der das Verhältnis von hüben nach drüben weithin prägende 'Distanzhumanismus' hält den Anforderungen der Wirklichkeit wahrscheinlich nicht stand.

2. In das Verhältnis zu den anderen Deutschen in der DDR mischt sich zunehmend, vor allem bei der Nachkriegsjugend ohne gesamtdeutsche Erfahrungsbasis, eine humanitäre Perspektive, die die nationale Orientierung verdrängt - und überraschenderweise vielleicht, unter Test gestellt, handlungswirksamer ist als letztere. Ob diese Orientierung aber am traditionellen, politischen Wiedervereinigungsprogramm festhalten wird, ist eher fraglich. Denn, wie das postmaterielle Wertsyndrom zeigt, fällt der Nationalstaat sozusagen zwischen einer eher sozial kleinräumlichen (regionalen, kommunalen) und einer tendenziell weltbürgerlichen Bezugsperspektive hindurch."

Ein Trendvergleich zur Einstellung der Bundesbürger fand dann im Mai/Juni 1985 statt (KöhlerJHilmer 1986). Eine weiterführende Integrationsstudie maß im Gegensatz zu den Bremer Forschern (Schumann et al. 1990) eher negative Integrationsaspekte. Mit der neuen Ausreisebewegung 1989 starteten Hilmer/Köhler (1989) eine weitere Befragung in der Zeit vom 29. August bis 11. September 1989 in den zentralen Notaufnahmelagern Gießen und Rastatt. 560 Fragebögen zum Selbstausfüllen wurden an erwachsene Übersiedler ausgegeben; der Rücklauf betrug 537 auswertbare Fragebögen. Schon damals ließ sich feststellen: Junge Menschen, überwiegend Männer, mit hoher beruflicher Qualifikation verließen zu diesem Zeitpunkt die DDR. Über die Motive, die 1989 ermittelt wurden, gibt Tabelle 15 Auskunft:

51

I. Ergebnisse früherer Untersuchungen

Tabelle 15

Ausreisegrunde und -motive· (von DDR-Übersiedlem) Vergleich 1984 und 1989 (N 537) Ausreise Motive

1984

1989

fehlende Meinungsfreiheit

71

74

beschränkte Reisemöglichkeit

56

74

sein Leben nach eigenen Vorstellungen gestalten

%

nicht erhoben

%

72

fehlende oder ungünstige Zukunftsaussichten

45

69

politischer Druck/Bevormundung und Gängelung durch den Staat

66

65

schlechte Versorgungs lage

46

56

Familienzusammenführung

36

28

ungünstige berufliche Entwicklungsmöglichkeiten

21

26

* "wesentlicher Grund"; Mehrfachnennungen möglich Quelle: HilmerjKöhler 1989, S. 1385.

Abschließend wollen wir noch die von den Wissenschaftlern ermittelten Vorstellungen der Abwanderer über das zukünftige Leben in der Bundesrepublik in Tabellenform wiedergeben. An der Spitze der von den Befragten geäußerten Erwartungen für das Leben im Westen stand eindeutig mit großem Abstand der Wunsch nach einem höheren Lebensstandard. Realistisch schätzten die FlüchtIinge/übersiedler die Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche ein. Mehr als die Hälfte glaubte, sich in der Bundesrepublik beruflich fortbilden zu müssen. Die Zahl (N 537) der Befragten von Hilmer/Köhler (1989) erscheint uns für die Gesamtheit der Flüchtlinge/übersiedler nicht repräsentativ. In der Tendenz erkennen wir aber bei den Motiven und Wünschen eine relative Übereinstimmung mit unseren Ergebnissen.

52

C. Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR

Tabelle 16

Erwartungen an das Leben im Westen (von Flüchtlingen und Übersiedlem; N 537) Übersiedler und Flüchtlinge Alter Es rechnen "bestimmt" bzw. "wahrscheinlich ..

Gesamt

%

%

92

95

mit Schwierigkeiten, einen geeigneten Arbeitsplatz zu finden

26

mit beruflicher Verschlechterung

40 Jahre Westreise u. älter ja nein %

%

95

89

92

92

17

24

49

40

21

26

15

25

45

40

21

damit, sich beruflich fortbilden zu müssen

72

75

75

56

73

72

mit Schwierigkeiten bei der Wohnungs suche

81

83

81

83

84

80

mit Schwierigkeiten, einen Freundes- und Bekannenkreis aufzubauen

37

42

37

38

47

34

mit einem deutlich höheren Lebensstandard als in der DDR

%

unter 25-30 25 Jahre Jahre

%

Quelle: Hilmer/Köhler 1989, S. 1388.

11. Möglichkeiten und Grenzen des Erkenntnisgewinns aus Flüchtlings- und Übersiedlerbefragungen - zur Repräsentanz unserer Untersuchung Unsere Befragung bezieht sich auf eine nach dem Zufallsprinzip gebildete Stichprobe von Flüchtlingen und Übersiedlern aus der DDR und ist somit repräsentativ für die Grundgesamtheit der DDR-Flüchtlinge und -Übersiedler der Jahre 1989 und 1990. Darüber hinaus bleibt die Aussagefcihigkeit unserer Ergebnisse eingeschränkt. Ein Rückschluß auf die Grundgesamtheit der DDR-BeVÖlkerung bedarf sorgfältiger Prüfung. Wir können die Hypothese aufstellen, tkJß sich die Merkmale und Einstellungen der Übersiedler im Zeitverlauf immer mehr denen der DDR-Bevölkerung vor der Vereinigung Deutschlands angeglichen haben.

11. Möglichkeiten und Grenzen des Erkenntnisgewinns

53

Das ist auf die große Anzahl an Migranten zurückzuführen, aber auch auf das geringere Risiko und die größere Bequemlichkeit bei der Übersiedlung nach Grenzöffnung. Aus Sperrbrechern wurden "gewöhnliche" Bürger. Der Anteil an Extremgruppen ging zurück. Bei den Flüchtlingen und auch bei einem Teil der Übersiedler dürfte es sich um die fachliche und menschliche Elite der DDR gehandelt haben. Nach der Wende haben überdies viele "Linientreue" das Gebiet der DDR verlassen, um im Westen unterzutauchen. Dadurch dürfte sich die Zusammensetzung der Übersiedlergruppe auch in Richtung Gesamtbevölkerungsstruktur der DDR verändert haben. Voigt/Belitz-Demiriz/Meck (1990, S. 738) stellten für den Zeitraum bis zur 3. Phase nach Grenzöffnung hinsichtlich der Frage der Generalisierung unserer Ergebnisse fest: "F1üchtlinge/Übersiedler (10.10.89 - 14.3.1990) aus der DDR sind kein repräsentatives Abbild der DDR-Bevölkerung! Bei ihnen scheinen alle Extreme mehr ausgeprägt. Sie weichen wohl in allen erfaßten Werten mehr vom Mittelwert ab als der Durchschnitt der DDR-Einwohner."

Wir können also festhalten, daß im Zeitablauf eine Generalisierung unserer Daten auf die Gesamtbevölkerung der DDR eher möglich wurde, aber insgesamt (methodisch) zu hinterfragen bleibt. An dieser Stelle wollen wir einige weitere Punkte zur Methodenkritik an unserer Arbeit hinzufügen. - Aufgrund des Zeitdrucks, unter dem wir bei der Erstellung des Fragebogens standen - wir verfügten nur über wenige Tage, da wir nicht absehen konnten, wie lange der Flüchtlingsstrom anhalten würde -, wurde unser Instrumentarium zwangsläufig einfach strukturiert. - Derselbe Zeitdruck führte dazu, daß der Fragebogen nur kurz getestet werden konnte; es wurden keine Pre-Tests durchgeführt. - Die Gefahr des "response-sets", des Antwortens im Sinne einer Erwartungshaltung, ist durch den Fragebogen durchaus gegeben, wurde aber durch die Befragung der Flüchtlinge und Übersiedler kurz nach Ankunft im Lager wieder aufgefangen. Unsere Untersuchung diente auch als Ventil für emotionale Staus der Migranten. Die Ehrlichkeit der Antworten wurde durch zahlreiche längere Kommentare und Bemerkungen in den Fragebögen, die viele äußerten, bestätigt. - Einige Fragenformulierungen blieben unklar. Zum Beispiel hätte die Ausgrenzung derer, die nur kurz im Bauwesen tätig waren, deutlicher erfolgen müssen. - Die Aufgaben, die wir uns mit der Erhebung gestellt hatten, veränderten sich durch die politischen Ereignisse im Zeitverlauf. Unsere erste Zielsetzung,

54

C. Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR

Informationen aus der DDR zu erhalten, die bis zur Wende nicht zugänglich waren, mußte nach Öffnung der Grenze erweitert werden. Einstellungsfragen an die Übersiedler über das zukünftige Leben in der Bundesrepublik wurden nun zusätzlich gestellt. Damit paßten wir unser Instrumentarium der Dynamik der aktuellen Prozesse an. Die Befunde gewinnen so zusätzlich an Wert. Allerdings hatten wir den Fragenkatalog zum Bauwesen nicht erweitert; dieser Kritik wollen und müssen wir uns stellen.

IH. Hypothesen 1. Wir gehen zunächst von zwei Annahmen aus: 1.1 Flüchtlinge unterscheiden sich in ihren Merkmalen von den Übersiedlern (Analyse im zeitlichen Ablauf). 1.2 Im Bauwesen Tätige unterscheiden sich von ihren Vergleichsgruppen (Gruppenanalyse: Bauarbeiter vs. andere Arbeiter; Baukader vs. andere Führungskräfte). 2. Je später nach Grenzöjfnung die Übersiedlergruppen befragt wurden, desto mehr glichen sie sich in ihren Merkmalen dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung der ehemaligen DDR an. Oder umgekehrt: Flüchtlinge und Übersiedler in den ersten Phasen nach Grenzöffnung sind kein repräsentatives Abbild der DDR-Bevölkerung. 3. Die Arbeiterschaft in der ehemaligen DDR war der Träger des Umsturzes, denn: Je miserabler die wirtschaftliche Lage, desto schlechter die Arbeitsund Lebensbedingungen; desto größer Arbeitsunzufriedenheit und Leistungszurückhaltung; desto folgenschwerer der circulus vitiosus und desto größer die Abwanderung von Fachkräften. 4. Auf das Bauwesen übertragen: Je schlechter die wirtschaftliche Ausgangslage, desto belastender die Arbeitsbedingungen, desto größer die Zahl der flüchtenden/übersiedelnden BauleUle (Arbeiter und Kader). 5. Zur Bestimmung des Typus "Bauarbeiter" konkurrieren zwei Hypothesen: SelekJionshypothese: Die Persönlichkeitsstruktur bestimmt die Entscheidung, zum Bau zu gehen. SozilllisoJionshypothese: Die Arbeit im Bauwesen formt bestimmte Persönlichkeitsausprägungen. 6. Wir gehen davon aus, daß sich die Bauarbeiter sowohl in ihrer sozio-demographischen Zusammensetzung als auch in ihren Motiven und Einstellungen von den anderen Arbeitern unterscheiden.

III. Hypothesen

55

Bei den Baukadern konstatieren wir eher eine Übereinstimmung mit der Vergleichsgruppe der übrigen Kader. 7. Folgende Hypothese stellen wir dem Vergleich voran: Je jünger, desto eher ledig, desto mobiler und freiheitsliebender, desto häufiger die Neigung, einen Bauberuf (Arbeiter!) zu ergreifen (Selektionshypothese mit den intervenierenden Variablen Alter, Geschlecht, Familienstand). 8. Je schlechter die materiellen Zustände im Bauwesen (Versorgungslage, Arbeitsorganisation etc.), desto größer die Arbeitsunzufriedenheit, desto stärker die Kritik an den Arbeitsbedingungen, aber auch an den wirtschaftlichen Verhältnissen (Annäherung an die Sozialisationshypothese: die Arbeit auf dem Bau in der DDR bestimmt Einstellungen und Motive). 9. Bauarbeit prägt die Lebensumstände. Wir gehen davon aus, daß die Kritik der Bauarbeiter am Lebensstandard anders ausfällt als in der Vergleichsgruppe. Weiterhin glauben wir, daß die persönliche Unfreiheit durch das mobile Leben nicht so stark empfunden wurde. 10. Berufsprestige spiegelt die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR Wir gehen davon aus, daß sich unsere Untersuchungsgruppen in ihrer Einschätzung hochsignifikant voneinander unterscheiden, denn: Je geringer die Bildung, desto größer ideologische Einflüsse auf Einstellungen und Werturteile. Dem entgegengesetzt wirkt: Je niedriger Bildungsgrad und sozÜJle Lage, um so unwahrscheinlicher und weniger wirksam werden die Bemühungen zur Unterdrückung der eigenen Meinung in Kommunikationsprozessen. Je höher die Bildung, desto stärker die Abneigung gegen das offizielle Werte- und Machtsystem, das die politischen Berufe in der ehemaligen DDR verkörpert haben.

D. Empirische Ergebnisse I. Sozio-demographische Analyse der Untersuchungsgruppen 1. Bei der Analyse der sozio-demographischen Daten ergeben sich zwei Betrachtungsweisen: einmal der Vergleich der Untersuchungsgruppen untereinander, zum zweiten die Analyse der Daten im Zeitverlauf. Bei beiden Vorgehensweisen ist zu vermuten, daß sich Unterschiede in den Merkmalen messen lassen. Wir gehen von zwei Annahmen aus: 1. Die Bauarbeiter (Gruppe I) unterscheiden sich in ihren sozio-demographischen Daten hochsigni[zkant zum einen von den Baulauiern (Gruppe //) sowie zum anderen von den anderen Arbeitern und Angestellten mit gleicher Berufsausbildung (Gruppe 1//), während sich die Führungskräfte des Bauwesens (Gruppe II) zwar auch von den Bauarbeitern (Gruppe 1) abgrenzen, aber den Ausprägungen der anderen Kader (Gruppe IV) eher ähneln.

2. Die Flüchtlinge unterscheiden sich insgesamt von den Übersiedlern, die sich wiederum differenziert in die einzelnen Phasen einordnen lassen. Das Ganze wirkt sich dementsprechend auf die Einteilung unserer Gruppen aus. Der Anteil aller in der Bauindustrie Tätigen - sowohl Fachschul- und Hochschulkader als auch Bauarbeiter - an allen von uns befragten Flüchtlingen/Übersiedlern ist überproportional hoch. Zum Vergleich: nach dem Statistischen Jahrbuch der DDR 1989 betrug der Anteil der Bauleute an der berufstätigen Gesamtbevölkerung in demselben Jahr 6,6 %, der Anteil der im Bauwesen Tätigen (Gruppe I und 11) an den Flüchtlingen/Übersiedlern beträgt dagegen im Zeitablauf 19,8% - vor Grenzöffnung (10.10.89 - 08.11.89) 20,4% - in der 1. Phase nach Grenzöffnung (09.11.89 - 30.11.89) 26,6%

- in der 2. Phase nach Grenzöffnung

(14.12.89 - 31.01.90)

- in der 3. Phase nach Grenzöffnung - nach der Volkskammerwahl

(01.02.90 - 14.03.90) wiederum 20,2% 16,9 % (20.03.90 - 23.04.90)

- vor der Währungsunion

(30.04.90 - 30.06.90)

17,0%

58

D. Empirische Ergebnisse

bzw. er beträgt insgesamt bei 1.331 Bauleuten (:: Bauarbeiter/Baukader) unter 6.586 Flüchtlingen/Übersiedlern 19,9 %, wobei sich diese Gesamtzahl dadurch von der der insgesamt erhobenen Stichprobe (N 6.821) unterscheidet, daß sie durch die Variable "Berufsausbildung" berechnet wurde. Tabelle 17 Verteilung der Untersuchungsgruppen im Zeitverlauf vor Grenzöffnung

1. Phase nach Grenzöffnung

2. Phase nach

Grenz-

öffnung

3. phase nach Grenzöffnung

nach der Volkskanunerwahl

vor der

Währungsunion

Befragte (10.10.89- (09.11.89- (14.12.89- (01.02.90- (20.03.90- (30.04.9008.11.89 )

30.11.89)

N 1.118

in ,

N

613

in ,

31.01.90) N

766

in ,

14.03.90) N 2.057

in ,

23.04.90) N

878

in ,

(30.06.90)

,

N 1. 154

in

I

16,0

17,6

23,6

18,4

15,8

14,9

II

3,8

2,8

3,0

1,8

1,1

2,1

III

51,9

59,2

56,S

63,1

61,2

64,7

IV

28,4

20,4

16,8

16,7

21,9

18,3

Total

100,0

100,0

99,9

100,0

100,0

100,0

Chi2

= 123,21988

elf = 15

P = 0,0000 ++.

In der 2. Phase nach Grenzöffnung lag der Anteil der Bauarbeiter an den Flüchtlingen/Übersiedlern am höchsten, sank dann kontinuierlich ab, um in den letzten beiden Phasen den tiefsten Punkt zu erreichen. Die im Bauwesen tätigen Kader kamen am stärksten vor Grenzöffnung sowie in den beiden Phasen danach in den Westen. Die Gruppe III verzeichnet ihren höchsten Anteil vor der Währungsunion bzw. in den letzten drei Erhebungsphasen insgesamt. Eine Parallele finden wir bei den Kadern; auch Gruppe IV verzeichnet ihren höchsten Anteil vor Grenzöffnung, zeigt dann aber einen unregelmäßigen Verlauf.

1. Sozio-demographische Analyse der Untersuchungsgruppen

59

Diagramm 3

Anteile der Untersuchungsgruppen im zeitlichen Ablauf % 70 60

50

~

9,2

.--

~6,5

-

Gruppe ~3,t

64,7 61,2.---

~11I(N3."7)

40 30

20 10

~

0,4

6

7,6

,8

o

,8

_ er-aHruMi 1. _ _ (10.10.89 c...n.6flru19 08.11.l1li)

(oe.l1.1111 30.11.89)

---""'--3,6

18,4

6,8

6,7

~ 2. _ _

er--v (14.12.89 31.01.89)

3. _

21,9

15,8

1,8

1,1

_

noch der

c...nz6ff....V

(01.02.90 14.03.90)

Volksk _ _ _ _ 1

(20.03.90 23.04.90)

-

18,3

14,9 2,1 _

Cnwe

IV (N 1.318)

~

I (N 1.158)

Cnwe

11 (N 153)

der

W6Mn~ion

(30.04.90 30.08.90)

Phase

Wir wollen zunächst nur eine hypothetische Erklärung zum hohen Anteil der im Bauwesen Tätigen insgesamt geben: Bauleute sind mobiler, was zum Beispiel ihre berufliche Tätigkeit auf Montage mitbedingt. Eventuell konnte vor Grenzöffnung durch Medieneinflüsse auch etwas über den Arbeitskräftemangel im westdeutschen Bauwesen in die DDR gedrungen sein und als Anreiz zur Flucht gewirkt haben, Später werden die FlüchtIinge/Übersiedler ihren Kollegen selbst berichtet haben, daß sie hier schnell eine Arbeitsstelle gefunden hatten, So registrierten wir in den ersten Phasen der Befragung, daß Bauleute direkt in den Aufnahmelagern von interessierten Arbeitgebern angeworben wurden, Das Absinken des Anteils der Bauarbeiter/Baukader an der Gesamtgruppe in den letzten beiden Phasen mag einerseits durch die weitgehende Sättigung des bundesdeutschen Arbeitsmarktes zu erklären sein, wobei es aber eigentlich so erscheint, als ob diese längst nicht erreicht ist. Vielleicht hat sich aber auch die Integrationsproblematik am Arbeitsplatz unter den Kollegen herumgesprochen, Eine dritte Möglichkeit zur Erklärung besteht darin, daß die Übersiedlung nun kontinuierlicher, aber langsamer verläuft, d. h., daß weniger große Gruppen

D. Empirische Ergebnisse

60

über längere Zeiträume hinweg überwechseln. Ein weiterer möglicher Deutungsansatz liegt im Wohnungsmangel in der Bundesrepublik. Und last not least: Bauarbeiter als eine Gruppe von jungen und ungebundenen Menschen haben möglicherweise, wenn sie schon übersiedeln wollten, die erste sich bietende Gelegenheit ergriffen und ihr Land verlassen. Sie sind ja, wie wir bereits feststellten, die Mobilsten und wohl auch Gewinnorientiertesten. Die höherqualifizierten Führungskräfte aus dem Bauwesen kamen schwerpunktmäßig vor Grenzöffnung, als auch der Anteil der Fachschulabsolventen und Akademiker an den Flüchtlingen insgesamt überproportional hoch lag (21,4 % der Flüchtlinge erwarben ihre Berufsausbildung über eine Fachschule, DDR-Bevölkerung: 13,9 %; über eine Hochschule 10,7 % der Flüchtlinge gegenüber 8 % in der DDR)1. Wir erklären dies durch eine erhöhte Risikobereitschaft und Mobilität dieser jungen Elite, die unter Gefahren und größerem Streß das Land verließ.

1. Altersstruktur der Befragten

Tabelle 18 "Wie alt sind Sie?" 18-24 Jahre

25-39 Jahre

Total

in %

40 Jahre und älter in %

Befragte

in %

I

38,2

50,9

11,0

100,1

9,8

56,9

33,3

100,0

III

37,9

46,3

15,8

100,0

IV

17,8

52,5

29,7

100,0

(N 1.158 )

(N

II 153)

(N 3.957)

(N 1. 318)

Chi 2 = 327,63582 df= 6

P = 0,0000 ++.

1 Soziaireport 1990, Bd. I, S. 72.

in %

61

I. Sozio-{jemographische Analyse der Untersuchungsgruppen

Diagramm 4

Altersstruktur der Flüchtlinge/Übersiedler •

~

60 52.5

50

e o

Gruppe I (N 1.158) Gruppe 11 (N 153) Gruppe 111 (N 3 .957)

[!II Gruppe IV (N 1.318)

40 29.7

30

20 10

o

18 -

24 Jahre

25 -

39 Jahre

N 6.586; Z.,traum: 10.10.89 - 30.06.901 Alter

Die Bauarbeiter sind am jüngsten, die im Bauwesen tätigen Kader am ältesten. Der Altersgipfel der Bauarbeiter liegt wie in den anderen Gruppen zwischen 25 und 39 Jahren. In der jüngsten Gruppe sind sie aber am häufigsten, in der ältesten am wenigsten vertreten. Den geringsten Anteil an 18-24jährigen verzeichnen die im Bauwesen tätigen Kader; dort sind nahezu halb so viele Flüchtlinge/Übersiedler vertreten wie in der Vergleichsgruppe der anderen Kader. Im Zeitverlauf vergleichen wir nur die Gruppen I und III. Es ergeben sich für die einzelnen Phasen keine signifikanten Unterschiede. Insgesamt läßt sich die These halten: Der DDR war die Jugend davongelaufen. Bilden wir nämlich eine Altersgruppe 18-29 Jahre (siehe dazu Voigt/Belitz-Demiriz/Meck 1990) - auf sie entfallen in der DDR 24,9 % der Bevölkerung ab 18 Jahre (errechnet aus Angaben des Stat. Jb. der DDR 1989, S. 355) - dann ergibt sich folgendes Bild. Der Anteil der untersuchten Flüchtlinge/Übersiedler an der Altersklasse 18 - 29 Jahre beträgt: vor Grenzöffnung 46,3 %, 1. Phase nach Grenzöffnung 52,3 %, 2. Phase nach Grenzöffnung 58,9 %, 3. Phase nach Grenzöffnung 57,3 %, nach der Volkskammerwahl 54,2 %, vor der Währungsunion 59,1 %.

62

D. Empirische Ergebnisse

Diagramm 5

Altersstruktur der Flüchtlinge/Übersiedler im Zeitverlauf

• vor

GrwIzMfrLonl.

(10.10.811 - 0 . 11.89)

I:l 3. 1'11.." nach Grw1Z6ffnung (01.02.90 - 14.0J.90)

c

1. 1'11.. " noch Grw1Z6ffnung (09. 11.89 - JO.ll .89)

• (~og~oV~lk2~=t'hl

Bouortleiter

Bou- Le itungskoder

GesomtCjlruppe

11.7

Bouortle iter

Bou- Le itungskoder

Altersjjruppe: 25 - 9 Jahre N = 3.270

Gesamtgruppe

Altersgruppe: 40 Jahre und älter N = 1.232

% 70 60 50 40 30 20 10 0

W!!hrun~union

(JO.04.90 - J .OS.9Ö)

41.7

% 70 60 50 40 30 20 10 0

Im vor da'"

Altersgruppe: 18 - 24 Jahre N = 2.319

% 70 60 50 40 30 20 10 0

l1li 2. Pho.. nach Grw1Z6ffnung (14.12.811 - Jl .0l .1I0)

Bouortle iter

Bou- Le itungskoder

Gesamtgruppe

63

1. Sozio-ilemographische Analyse der Untersuchungsgruppen

2. Berufsausbildung und Erwerbsquote der Befragten

Tabelle 19

Erwerbsquote der Flüchtlinge/Übersiedler berufstätig

in Ausbildung

Schüler

Student

Befragte

in %

in %

in %

in %

nicht berufstätig in %

I

92,3

2,0

0,0

0,7

4,9

99,9

II 145)

95,9

1,4

0,0

0,0

2,8

100,1

III

89,9

2,3

0,1

0,7

7,1

100,1

IV

91,4

0,5

0,0

2,5

5,7

100,1

(N 1. 097)

(N

(N 3.808)

(N 1. 200)

Total in %

Chi 2-Test nicht möglich (6 EIWartungswerte unter 5).

Bei den Bauarbeitern ist die Erwerbstätigkeit höher als in ihrer Vergleichsgruppe. Dies ist sicherlich auch auf den höheren Anteil an Frauen in der Gruppe III zurückzuführen. Vergleicht man die Baukader mit den anderen Kadern, so wird deutlich, daß die Quote der Nichtberufstätigen in der Gruppe IV doppelt so hoch ist. Bei den Baukadern gibt es auch keine Studenten, im Gegensatz zu den anderen Führungskräften. Das Kriterium der Berufsausbildung liegt statistisch unserer Gruppeneinteilung zugrunde. Wir haben dies in Kapitel III erläutert. Insofern interessieren hier nur noch folgende Zahlen: In der Gruppe I sind die Bauarbeiter mit Lehre zu 99,1 %, ohne Ausbildung zu 0,9 % vertreten. In der Gruppe 11 verfügten 73,9 % der Kader über eine Fachschulausbildung, 26,1 % über eine Hochschulausbildung. Die anderen Arbeiter (und Angestellten, Gruppe III) besaßen zu 6,2 % keine Ausbildung und zu 93,8 % eine Lehre. Die anderen Kader (Gruppe IV) verfügten zu 71,7 % über einen Fachschul- und zu 28,3 % über einen Hochschulabschluß.

64

D. Empirische Ergebnisse

Im zeitlichen Ablauf zeigt sich, daß die Qualifikationsstruktur der flüchtlinge vor Grenzöffnung erheblich über der der später Reisenden lag. So verfügten unter den flüchtlingen 21,4 % über eine Fachschulausbildung (DDR etwa 15,5 %) und 10,7 % (DDR etwa 8,6 %) über eine Hochschulausbildung. Dagegen ist der Strom an Facharbeitern zunächst kontinuierlich angewachsen.

3. Andere sozio-demographische Daten der Befragten Tabelle 20

Geschlechterverteilung der Flüchtlinge/Übersiedler Befragte

männlich in %

I

97,5

2,5

100,0

II 153)

86,3

13,7

100,0

III

56,9

43,1

100,0

IV

40,7

59,3

100,0

(N 1.158)

(N

IN 3.957) (N 1. 318)

Chi 2 = 950,40235 df = 3

P = 0,0000 ++.

weiblich in %

Total in %

65

J. Sozio-demographische Analyse der Untersuchungsgruppen

Diagramm 6

Geschlechterverteilung der Flüchtlinge!Übersiedler

% 100

• Gruppe I (N 1.158) 97,5

E:l Gruppe 11 (N 153)

o Gruppe

90

mGruppe

80

111 (N 3.957) IV (N 1.3 18)

70

60

59,3

56,9

50

43,1

40 30 20 10

o ,.. 6.586;

z••ItIUii:

mOnnlich

10.10.119 - 30.06.901

weiblich Geschlecht

Die Mehrzahl der Flüchtlinge/Übersiedler war männlich, ausgenommen in der Gruppe IV (hier finden wir zum Beispiel sehr viele Fachschulabsolventinnen wie Krankenschwestern und Sekretärinnen). Damit spiegelten die Flüchtlinge/Übersiedler genau das Gegenteil der DDR-BeVÖlkerung, in der der Frauenanteil mit 53,2 % den Männeranteil (46,8 %) überwog (errechnet nach Stat. Jb. der DDR 1989, S. 360). Den höchsten Anteil an Männern verzeichnet verständlicherweise - die Gruppe 1. Aber auch bei den im Bauwesen tätigen Kadern ist der Prozentsatz an Männern noch höher als bei den anderen Gruppen, im Vergleich zur Gruppe IV zeigen sich hier krasse Unterschiede.

5 Brenske

Total

-

Chi 2 -Test für Chi 2 -Test für Chi 2 -Test für Chi 2 -Test für Chi 2 -Test für Chi 2 -Test für

'----

100,0

100,0

100,0

47,1

52,9

in %

II

-

N 363

100,0

0,6

99,4

in %

I

N 181

Chi 2 Chi 2 Chi 2 Chi 2 Chi 2 Chi 2

-

100,0

37,9

62,1

in %

N 433

11

(14.12.89 31.01.90)

2.Phase nach Grenzöffnung

die Phase vor Grenzöffnung: die 1. Phase nach Grenzöffnung: die 2. Phase nach Grenzöffnung: die 3. Phase nach Grenzöffnung: die Phase nach der Volkskammerwahl: die Phase vor der Währungsunion:

100,0

2,8

45,7

3,4

weiblich

97,2

in %

I

N 108

54,3

96,6

in %

in %

II

N 580

N 179

I

(09.11.89 30.11.89)

(10.10.89 08.11.89 )

männlich

Antwortvorgabe

1.Phase nach Grenzöffnung

vor Grenzöffnung

II

df = I, df = 1. df = I, df = 1, df = I, df = I,

---

100,0

38,6

61,4

in %

= 104,96787, = 68,32566, = 88,59082, = 174,75336, = 83,69710, = 123,08192,

100,0

2,9

97,1

in %

I

N 379 N 1.297

(01.02.90 14.03.90)

3.Phase nach Grenzöffnung

~

100,0

46,2

53,8

in %

II

N 537

P =0,0000 ++ p =0,0000 ++ P =0,0000 ++ P =0,0000 ++ P =0,0000 ++ P =0,0000 ++.

-

100,0

3,6

96,4

in %

I

N 139

nach der Vo1kskammerwahl (20.03.90 23.04.90)

Geschlechterverteilung der Flüchtlinge/Übersiedler Antworten im Zeitverlauf

Tabelle 21

100,0

1,7

98,3

in %

I

N 172

100,0

47,9

52,1

in %

N 747

11

vor der Währungsunion (30.04.90 (30.06.90)

f

ii

'rI. ~.

~

p

~

67

I. Sozio-demographische Analyse der Untersuchungsgruppen

Diagramm 7 Geschlechterverteilung der Flüchtlinge/Übersiedler im Zeitverlauf



m 1.

vor Gn!nz6ffnung

(10.1 0.89 - 08. 11 .89)

PlI"". naell Gron:z6ffnung

(09.11.89 - 30.11.89)



Volk.kannmorwahl \20.03.90 - 23.04.90)

~!,eIl der

Im 2. Ph"". nach Gron:z6ffnung (14.12.89 - 31.01 .90)

IID vor der WOhNngsunion

(30.04.90 - 30.06.90)

%

Männer

(N 3.379)

100 90 80 70 60 50 40 30 20 10

o

Gruppe 1

Gruppe 11

% 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0

Frauen

(N 1.736)

46,2

3,4

2,8

0,6

2,9

3,6

1,7

47,9

68

D. Empirische Ergebnisse

Im Zeitverlauf sank der Anteil der männlichen Übersiedler ab der 3. Phase nach Grenzöffnung kontinuierlich; es ergeben sich hochsignifikante Unterschiede in den einzelnen Phasen. Wir führen das auf den Prozentsatz an Frauen zurück, die ihren Männern nun nachfolgten, nachdem diese im westlichen Teil Deutschlands Arbeitsplatz oder Wohnung gefunden hatten. Die wenigen weiblichen Bauarbeiterinnen verteilen sich unregelmäßig auf die einzelnen Phasen. Tabelle 22 "Wie ist Ihr Familienstand?" ledig

verheiratet

geschieden

verwitwet

Total

Befragte

in %

in %

in %

in %

I

49,0

38,6

12,0

0,4

100,0

II 151)

21,6

62,7

14,4

1,3

100,0

III

41,7

44,2

13,1

1,0

100,0

IV

24,1

60,4

13,7

1,8

100,0

(N 1.148 )

(N

(N 3.914)

(N 1. 317)

in %

Chi 2 = 208,53216 df = 6 P = 0,0000 ++ (Chi 2-Test mit Ausnahme der Kategorie "velWitwet").

Hochsignifikante Unterschiede zeigen sich in den Untersuchungsgruppen hinsichtlich des Familienstandes. Nahezu gleich - und sehr viel höher als in den anderen Gruppen - ist die Ziffer der Verheirateten bei den Kadern. Den höchsten Anteil an Ledigen finden wir unter den Bauarbeitern; er liegt auch höher als in der Vergleichsgruppe III. Erstaunlich hoch ist in allen Gruppen die Zahl der Geschiedenen (im Vergleich: in der DDR beträgt diese Rate 7,4 % laut StaL Jb. der DDR 1989, S. 359). Im Zeitverlaufwird sichtbar, daß der Anteil an Ledigen sowohl bei den Bauarbeitern als auch bei den anderen Arbeitern und Angestellten bis zur 3. Phase nach Grenzöffnung kontinuierlich angestiegen ist. Umgekehrt nahm die Zahl der Verheirateten ab. Nach der Volkskammerwahl kehrte sich der Trend kurz um, nahm dann aber den vorherigen Verlauf.

69

1. Sozio-demographische Analyse der Unlersuchungsgruppen

DiagrammS Familienstand der Flüchtlinge/Übersiedler

%

• Gruppe I (N 1.153)

70 62,7

60 50

§ Gruppe 11 (N 153) 60,4

o Gruppe

111 (N 3.952)

llII Gruppe

IV (N 1.317)

49

40

30

20 10

o

0,4

ledig

verheirotet

geschieden

1.3

1,8

verwitwet

f! 6.575; Z••trcawn: 10.10.89 - 30.06.901 F ami lienstand

Die Spitze der Geschiedenenziffer liegt bei den Bauarbeitern in der 1. Phase nach Grenzöffnung und nach der Volkskammerwahl; in der Gruppe III stieg sie nahezu kontinuierlich an. Die Interpretation des hohen Anteils an Geschieden insgesamt läßt folgende Vermutungen zu: diese versuchten sich zunächst nach Grenzöffnung der Unterhaltszahlung zu entziehen; die Presse spiegelte diese Problemfälle. Das Ansteigen nach der Volkskammerwahlläßt sich eventuell damit erklären, daß ein Teil der Geschiedenen noch vor Angleichung der Gesetze versuchte, die DDR zu verlassen und in der Bundesrepublik Fuß zu fassen.

9,6

geschieden

100,1

100,1 -

14,2

42,5

43,4

11,1

57,4

31,6

in %

I

N 106

-------

100,0

11,9

50,0

38,1

in %

II

N 362

10,5

39,2

50,3

in %

I

N 181

--

Chi 2 -Test für die Phase nach der Volkskammerwahl: Chi 2 -Test für die Phase vor der Währungsunion:

Chi 2 -Test für die 1. Phase nach Grenzöffnung: Chi 2 -Test für die 2. Phase nach Grenzöffnung: Chi 2 -Test für die 3. Phase nach Grenzöffnung:

-

100,0

12,2

33,5

54,3

in %

I

Chi 2 = 5,12723, Chi 2 = 3,83414, Chi 2 = 7,82361,

P = 0,1470 ns P = 0,0200 +.

d!' = 2,

P = 0,0770 ns

P = 0,3889 ns P = 0,4835 ns

100,0

13,9

44,0

42,1

in %

II

N 527

P = 0,2964 ns

100,0

15,9

34,8

49,3

in %

I

N 138

nach der Volkskammerwahl (20.03.90 23.04.90)

df = 2,

df = 2.

df = 2, df = 2,

df = 2,

100,0

13,8

38,6

47,6

in %

II

N 376 N 1.285

(01.02.90 14.03.90)

3.Phase nach Grenzöffnung

Chi 2 = 2,43185, Chi 2 = 1,88898, Chi 2 = 1,45331.

100,0

11,2

43,8

45,0

in %

II

N 429

(14.12.89 31.01.90)

2.Phase nach Grenzöffnung

100,0

Chi 2 -Test für die Phase vor Grenzöffnung:

100,0

52,5

verheiratet

Total

37,9

in %

in %

II

N 570

Nl77

I

(09.11.89 30.11.89)

(10.10.89 08.11.89)

ledig

Antwortvorgabe

I.Phase nach Grenzöffnung

vor Grenzöffnung

"Wie ist Ihr Familienstand?" - Antworten im Zeitverlauf

Tabelle 23

100,1

11,2

36,5

52,4

in %

I

N 170

--

100,0

15,5

43,7

40,8

in %

II

N 741;

vor der Währungsunion (30.04.90 (30.06.90)

tT'l

~.

i

ir

EI 12. ~.

P

Cl

71

I. Sozio-demographische Analyse der Untersuchungsgruppen

Tabelle 24 "Sind Sie gemeinsam mit Ihrer Familie in die Bundesrepublik gekommen?"

mit der Familie gekommen Befragte

ja in %

nein in %

Total in %

(N

I 1.129 )

24,7

75,3

100,0

(N

II 153)

40,9

59,1

100,0

(N

III 3.854)

38,7

61,3

100,0

(N

IV 1. 269)

49,3

50,7

100,0

Chi 2 =156,97180 df =3

P =0,0000 ++.

Es zeigt sich, daß die Differenz zwischen denen, die angaben, verheiratet zu sein (Tab. 22), und denen, die angaben, mit der Familie gekommen zu sein (Tab. 24), bei den Baukadern am höchsten liegt (22,7 %). Die anderen verheirateten Kader (Gruppe IV) reisten zu 12,2 % ohne Familie in den Westen. Bei den Gruppen I und III beträgt diese Differenz 14,1 Prozentpunkte und 6,0 Prozentpunkte. Die Zahl der Familienmitglieder, die alleine in den Westen reisten, hat im Zeitverlauf kontinuierlich zugenommen. Vor Grenzöffnung war das Risiko, die Familie zurückzulassen, viel zu groß. Hier wird wieder einmal deutlich, unter welch ungleich größeren Strapazen diese Gruppe die Flucht auf sich genommen hat. Auch Köhler/Ronge (1984, S. 1282) hatten bei den Übersiedle rn 1984 festgestellt, daß nur ein Viertel alleine in die Bundesrepublik gereist war - auch hier handelte es sich um risikoreiche Übersiedlungen.

40,1

100,0

49,7

100,0

nein

Total

Chi 2 -Test Chi 2 -Test Chi 2 -Test Chi 2 -Test Chi 2-Test

57,7

42,3

in %

I

N 104

100,0

46,2

53,8

in %

II

N 351

100,0

79,2

20,8

in %

I

N 178

100,0

63,5

36,5

in %

II

N 427

(14.12.89 31.01.90)

2.Phase nach Grenzöffnung

Phase vor Grenzöffnung: 1. Phase nach Grenzöffnung: 2. Phase nach Grenzöffnung: Phase nach der Volkskammc/Wahl: Phase vor der Währungsunion:

100,0

die die die die die

59,9

50,3

ja

für für für für für

in %

in %

----

N 558

Antwortvorgabe

N 173

II

(09.11.89 30.11.89)

(10.10.89 08.11.89 )

I

1.Phase nach Grenzöffnung

vor Grenzöffnung

Chi 2 = Chi 2 = Chi 2 = Chi 2 = Chi 2 =

100,0

69,6

30,4

in %

II

4,56551, 3,82569, 13,62493, 15,56523, 16,30970,

100,0

84,0

16,0

in %

I

+ ns ++ ++ ++.

100,0

64,4

35,6

in %

II

N 528

P = 0,0326 P = 0,0505 P = 0,0000 P =0,0001 P =0,0001

100,0

82,5

17,5

in %

I

N 137

nach der Volkskammerwahl (20.03.90 23.04.90)

df = 1, df = 1, df = 1, df = 1, df = 1,

N 369 N 1.256

(01.02.90 14.03.90)

3.Phase nach Grenzöffnung

83,3

16,7

in %

I

N 168

100,0

67,2

32,8

in %

II

N 734

vor der Währungsunion (30.04.90 (30.06.90)

100,0

"Sind Sie gemeinsam mit Ihrer Familie in die Bundesrepublik gekommen?" Antworten im Zeitverlauf

Tabelle 25

~.

g-

öCl

tTl

I

~.

W

p

-..J N

I. Sozio-demographische Analyse der Untersuchungsgruppen

73

Bei der Betrachtung im Zeitverlauf (fab. 25) gehen wir davon aus, daß die Übersiedlung zunehmend geplant verlief, d. h., daß ein Familienmitglied vorausreiste, um Wohnung und Arbeitsplatz zu suchen. Während in der Gruppe III anscheinend vor Grenzöffnung sogar Nichtverheiratete mit einem Partner cxler anderem Familienmitglied flüchteten (hier beträgt die auf Seite 71 beschriebene Differenz -2,5 Prozentpunkte), waren unter den Bauarbeitern immerhin 2,2 %, die auch zu dieser Zeit ihren Partner zurückließen. Tabelle 26 "Wieviel Kinder haben Sie?"

Anzahl der Kinder keine

1

2

3

4

Befragte

in %

in %

in %

in %

I (N 1.146 )

50,9

23,5

19,9

II 152)

27,0

28,3

III (N 3.894)

44,2

IV (N 1. 309)

29,0

(N

H-Test: Chi 2 =128,5665

Total

in %

5 und mehr in %

4,3

1,0

0,5

100,1

28,9

11,8

3,3

0,7

100,0

27,7

20,1

5,6

1,7

0,7

100,0

31,7

30,8

6,3

1,5

0,6

99,9

in %

P =0,0000 ++.

Es wird deutlich, daß sich die einzelnen Gruppen hinsichtlich der Anzahl der Kinder hochsignifikant voneinander unterscheiden. Die wenigsten Kinder haben die Bauarbeiter, die meisten die Leitungskader, wobei die Baukader über eine noch größere Kinderzahl pro Familie verfügen. Sie waren aber auch im Durchschnitt am ältesten; das Alter tritt als intervenierende Variable auf.

74

D. Empirische Ergebnisse

Diagramm 9 Mit wem kamen die Flüchtlinge!Übersiedler in die Bundesrepublik? %

80 70

_ Gruppe I (N 1 . 129)

75.3

EI Gruppe 11 (N 153)

0 Gruppe 111 (N 3.854) lIIl Gruppe IV (N 1.269)

61.3

59.1

60

50 40 30 20

10

o ,.. 8.405; Zltrttat:m: 10.1 o.n

-

ja

mit der Familie gekommen

nein

36.08.901

Diagramm 10 Anzahl der Kinder der Flüchtlinge!Übersiedler %

60

_Gruppe I (N 1. 146) EI Gruppe 11 (N 152)

o

50

Gruppe 111 (N 3 .894)

lIIl Gruppe IV (N 1.283)

40 30 20

10 _0

keine N 6.415: Ze,troum: 10.10.M

2

3

30.08.1101 Anzahl der Kinder

4

5 und mehr

1. Sozio-demographische Analyse der Untersuchungsgruppen

75

Diagramm 11 Konfession der Flüchtlinge/Übersiedler % 80



Gruppe I (N

1.116)

EI Gruppe 11 (N 147)

70

o Gruppe m Gruppe

60

72

111 (N

.3.802)

IV (N

1.28.3) 56,4

50 40 30 20 10

1.5

o

0

0 ,9

1,1

evangelisch kathofisch andere .. 5.318; z.,tniIiii; tO.tOM - 30.06.001 Religionszugehörigkeit

Tabelle 27 Konfession der Flüchtlinge/Übersiedler Religions zugehörigkeit Befragte

evangelisch katholisch

andere

keine

Total in %

in %

in %

in %

in %

I (N 1.116 )

21,1

5,5

1,5

72,0

100,1

II

38,8

10,9

0,0

50,3

100,0

III (N 3.802)

26,2

6,4

0,9

66,4

99,9

IV (N 1. 283)

33,9

8,6

1,1

56,4

100,0

(N

147)

Chi 2 = 114,6944 df = 6 P = 0,0000 ++ (Chi 2-Test mit Ausnahme der Kategorie "andere").

76

D. Empirische Ergebnisse

Die Bauarbeiter sind noch weniger kirchlich gebunden als die anderen Arbeiter der Gruppe III. Die Baukader haben sich am häufigsten einer Religionsgemeinschaft angeschlrnsen. Diejenigen Befragten, die eine Religionszugehörigkeit angaben, waren mehrheitlich protestantisch. Zum Vergleich nennen wir die Zahlen zur Religionszugehörigkeit in der ehemaligen DDR: 63,5 % der Bevölkerung gehörten dort keiner Religionsgemeinschaft an, ca. 30 % waren evangelisch und 6,1 % katholisch (SoziaIreport 1990, Bd. 11, S. 294). Obwohl es relativ wenige religionssoziologische Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen Sozialschicht und Religiosität gibt, ist nachgewiesen, daß Arbeiter eine geringe "kirchliche und religiöse Praxis" besitzen (Kehrer 1967, S. 10 ff.). Das scheint unabhängig vom Gesellschaftssystem zu sein. Eine positive Korrelation besteht nachgewiesenerweise zwischen Geschlecht und Religiosität: Frauen sind religiöser als Männer (siehe u. a. Kehrer 1967, S. 39). Auch ist eine höhere kirchliche Praxis in ländlichen Gebieten bekannt (ebd.). In der Gruppe der Baukader waren mehr Männer als Frauen vertreten, trotzdem hatten die Befragten hier am häufigsten angegeben, einer Religionsgemeinschaft anzugehören. Das gilt auch im Vergleich zur Gruppe IV und schränkt die oben genannte Korrelation zwischen Geschlecht und Religiosität ein, denn in der Gruppe IV überwog der Frauenanteil. Allerdings haben die Baukader das höchste Durchschnittsalter. Auch zwischen Alter und "religiöser Praxis" besteht eine positive Korrelation (Kehrer 1967, S. 44 ff.). Die Mitglieder der Gruppe 11 stammten in erster Linie aus Metropolen, dann aber auch aus den ganz kleinen Gemeinden. Somit kann hier auch ein Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft nach Ortsgröße und kirchlicher Praxis gesehen werden. Während Kehrer (1967, S.40) feststellte, daß hochmobile Berufe der kirchlichen und religiösen Betätigung entgegenstehen, finden wir bei den Baukadern das Gegenbeispiel: Bauberufe verbinden wir mit einem Höchstmaß an Mobilität. Allerdings soll hier zum einen darauf hingewiesen werden, daß die Gruppe 11 mit 147 Befragten sehr klein war und die Ergebnisse kaum verallgemeinert werden dürfen, zum anderen gibt auch Kehrer (1967, S. 55 f.) an, daß seine UntersUChung nicht repräsentativ ist und er mehr Wert auf die Ausführlichkeit der einzelnen Interviews gelegt hat.

77

I. Sozio-demographische Analyse der Untersuchungsgruppen

4. Rekrutierung der Untersuchungsgruppen

Tabelle 28 Herkunft der Befragten nach Ortsgröße I

ortsgröße nach Einwohnern unter

10.000

N

1.123 in %

11

N

150 in %

IV

111

N

3.822 in %

N

1. 289 in %

22,6

19,3

21,5

14,8

10.000 -

19.999

9,7

4,0

9,3

7,5

20.000 -

49.999

17,7

10,7

20,1

19,2

50.000 -

99.999

15,0

14,0

13,3

11,4

100.000 - 199.999

6,9

11,3

7,9

8,2

200.000 - 499.999

10,8

15,3

11,8

15,5

500.000 und mehr

17,4

25,3

16,0

23,4

100,1

99,9

99,9

100,0

Total

Chi 2

=99,77526

df

=18

=

P 0,0000 ++.

8,8

9,4

10,1

25,6

100,1

16,9

7,3

10,7

30,5

99,9

99.999

50.000 -

100.000 - 199.999

200.000 - 499.999

500.000 und mehr

Total

für für für für Chi~-Test für Chi -Test für

100,2

16,2

18,1

4,8

6,7

21,0

6,7

100,0

15,6

17,6 100,0

8,4

7,3

12,8

23,5

8,9

23,5

in %

I

I

II

99,9

16,7

11,2

&=~ &=~ &=~ &=~ &=~ &=~

100,1

14,6

11,4

7,6

12,0

17,5 7,1

22,1

8,9

23,5

in %

18,1

9,6

19,7

in %

ns ns ns ns ns ns.

99,9

15,0

8,3

9,0

13,5

17,3

10,5

26,3

in %

I

N 123

100,1

9,1

13,1 99,9

9,8

4,9 14,7

6,8

15,9

17,1

18,9 14,5

12,2

31,1

in %

I

N 164

99,8

13,8

10,5

6,0

13,8

22,6

7,9

25,2

in %

II

N 730

vor der Währungsunion (30.04.90 (30.06.90)

8,6

23,3

in %

II

N,502

nach der Volkskammerwahl (20.03.90 23.04.90)

p = 0,4363 p = 0,0960 p = 0,6236 p = 0.0736 p = 0,4969 p = 0,1485

N 365 N 1. 241

Chi 2 = 5,88365. Chi 2 = 10,76395, Chi~ = 4,39362, Ch,::; = 11,51880. Chi- = 5.37342. Chi 2 = 9,47576,

100,1

13,4

11,3

10,4

14,1

20,0

10,4

20,5

in %

II

N 425

(01.02.90 14.03.90)

(14.12.89 31.01.90) N 179

3.Phase nach Grenzöffnung

2.Phase nach Grenzöffnung

15,1

8,9

10,1

15,9

14,0

18,4

in %

II

N 358

Phase vor Grenzöffnung: 1. Phase nach Grenzöff;'ung: 2. Phase nach Grenzöffnung: 3. Phase nach Grenzöffnung: Phase nach der Volkskammerwahl: Phase vor der Währungsunion:

15,9

10,2

49.999

20.000 -

Chi 2 -Test Chi 2 -Test Ch,2-Test Chi 2 -Test

16,6

9,6

19.999

die die die die die die

13,6

14,7 26,7

in %

in %

in %

I

N 105

II

N 566

Nl77

I

(09.11.89 30.11.89)

(10.10.89 08.11.89)

10.000 -

unter 10.000

Orts größe nach Einwohnern

I.Phase nach Grenzöffnung

vor Grenzöffnung

Herkunft der Befragten nach Ortsgröße - Antworten im Zeitverlauf

Tabelle 29

-

~

~.

1

.,..n'" "

:=!.

'9.

9

-.l 00

I. Sozio-demographische Analyse der Unlersuchungsgruppen

79

Der größte Prozentsatz der geflüchteten/übergesiedelten Bauarbeiter rekrutierte sich aus Gemeinden unter 10.000 Einwohnern, nächstfolgend stehen als Herkunftsorte Kleinstädte (20000 - 49.999) und die Metropolen. Auch in der Gruppe III kam der höchste Anteil aus den ganz kleinen Gemeinden. Der größte Prozentsatz der Kader (Gruppe 11 und IV) floh bzw. übersiedelte jeweils aus Metropolen. Im zeitlichen Ablauf läßt sich eine gegenläufige Tendenz erkennen: vor Grenzöffnung verließen mehr im Bauwesen Tätige die Metropolen, nach Grenzöffnung kamen mehr aus den Kleinstädten bzw. Dörfern. Es lassen sich hochsignifikante Unterschiede feststellen. Ein Grund für diese Entwicklung mag im Informationsfluß liegen, der nach Grenzöffnung in alle Bereiche der DDR reichte und durch den die Bautätigen in kleineren Gemeinden auch von den günstigen Arbeitsbedingungen im westlichen Bauwesen erfuhren.

Diagramm 12

Herkunft der Flüchtlinge/Übersiedler nach Ortsgröße % 30



Gruppe I (N 1. 123)

SGruppe 11 (N 150)

o Gruppe

25

111 (N 3 .822)

[ß Gruppe IV (N 1.289)

20

15

10

5

o

unI.. 10.000

10.000 19.999

20.000 49.999

50.000 99.999

100.000 199.999

PI 6.384; Ze,trcun: 10.10.89 _ 30.06.901 Orts größe [Einwohnerzahl]

200.000 499.999

500.000 und mehr

80

D. Empirische Ergebnisse

Für einen anderen Erklärungsversuch müssen wir weiter ausholen. Für die Gesamtgruppe (N 6.598; N ist hier die Summe aller vier Gruppen nach dem Kriterium der Berufsausbildung) ließ sich ein hochsignifikanter Zusammenhang feststellen zwischen der Größe des Herkunftsortes und dem Familienstand während der Flucht/Übersiedlung (ledig, verheiratet, geschieden, verwitwet; mit oder ohne Familie gekommen), woraus nach Meinung des Verfassers auf die Flexibilität und Mobilität der einzelnen geschlossen werden kann. Tabelle 30

Familienstand der Befragten bei der Flucht/Übersiedlung in Beziehung zur Größe ihres Herkunftsortes (N 6.598) ledig

verwitwet

Total

verheiratet

geschieden

in %

in %

in %

in %

44,1

43,9

10,6

1,4

100,0

19.999

40,3

45,9

12,3

1,5

100,0

20.000 49.999 (N 1. 280)

38,7

46,6

13,4

1,3

100,0

50.000 (N 869)

99.999

38,9

45,1

15,1

0,9

100,0

100.000 - 199.999 (N 517)

38,3

48,5

12,4

0,8

100,0

200.000 - 499.999 (N 822)

34,7

49,3

15,0

1,1

100,1

500.000 und mehr (N 1.181 )

40,6

45,8

12,5

1,1

100,0

Orts größe nach Einwohnern unter 10.000 (N 1. 343) 10.000 (N 586)

in %

Chi 2 =31,6784 df =18 P =0,0240 +.

Die Erklärung von Tabelle 30 läßt den Schluß zu, daß der Anteil der Ledigen an den FlüchtIingen/Übersiedlern aus Gemeinden unter 10.000 Einwohnern mit 44,1 % am höchsten, der Anteil der Geschiedenen mit 10,6 % am niedrigsten ist. In Gemeinden von 200.000 - 499.999 Einwohnern, also Großstädten, ist der Anteil der Verheirateten vergleichsweise am höchsten, der der

I. Sozio-demographische Analyse der Untersuchungsgruppen

81

Geschiedenen nahezu am höchsten. In den Metropolen mit 500.000 Einwohnern und mehr ist der Anteil der Ledigen an Übergewechselten dann wiederum relativ hoch mit 40,6 %. Betrachtet man zum Beispiel noch die Religionszugehörigkeit der Flüchtlinge/ Übersiedler in Abhängigkeit von der Ortsgröße, dann wird deutlich, daß die Religionsgebundenheit in den kleineren Gemeinden mit 40,6 % deutlich über der in Großstädten und Metropolen liegt (Metropolen 30,1 %). Die soziale Struktur kleinerer Gemeinden wird aus unseren Daten gut erkennbar. Tabelle 31 "Sind Sie gemeinsam mit Ihrer Familie in die Bundesrepublik gekommen?" - Antworten der Befragten in Beziehung zur Größe ihres Herkunftsortes (N 6.281; bezieht sich auf alle vier Guppen nach dem Kriterium der Berufsausbildung) mit der Familie gekommen ortsgröße nach Einwohnern

ja

nein

in %

in %

in %

unter 10.000 (N 1.269)

34,1

65,0

0,9

100,0

10.000 (N 554)

19.999

35,7

62,5

1,8

100,0

20.000 - 49.999 (N 1.211)

38,6

60,4

1,0

100,0

50.000 (N 831)

99.999

33,8

64,6

1,6

100,0

100.000 - 199.999 (N 491)

42,2

57,4

0,4

100,0

200.000 - 499.999 (N 789)

44,2

54,8

1,0

100,0

500.000 und mehr (N 1.136 )

41,1

57,4

1,5

100,0

Chi 2 :: 44,48714 df:: 12

p:: 0,0000 ++.

6 Brenske

teilweise

Total in %

82

D. Empirische Ergebnisse

Es läßt sich aufgrund der Daten die Hypothese aufstellen: Je kleiner der Ort, desto geringer die Anwhl derer, die mit Familie gekommen sind und vice verso" wobei die Metropolen in den Werten etwas niedriger liegen als die übrigen Großstädte. Die Flüchtlinge/Übersiedler aus den Gemeinden unter 10.000 Einwohnern sind am wenigsten im Vergleich zu anderen Gruppen mit der gesamten Familie übergesiedelt. Das spricht zum einen für die These, daß die Bevölkerung aus den kleineren Gemeinden die Übersiedlung weit mehr geplant hat als die aus größeren Städten. Zum anderen war dort der Anteil an Ledigen größer. Damit läßt sich auch die Feststellung belegen, daß nach Grenzöffnung die im Bauwesen Tätigen vermehrt aus Kleinstädten bzw. Dörfern kamen als vor Grenzöffnung: diese Gruppe hat die Übersiedlung länger geplant und scheint weniger flexibel und mobil. Diagramm 13 Sie sind mit der Familie gekommen (Rekrutierung der Flüchtlinge!Übersiedler nach Ortsgröße) % 70

IZI ja 65

60

62.5

o nein

64.6



60.4 57.4

teilweise 54.8

57.4

50

40 30 20 10 1.5

o 1611..- 10.000

10.000 19.999

20.000 49.999

50.000 99.999

100.000 199.999

f!I 8.281i le,&cun: 10.10.89 - 30.06.901 Ortsgröße [Einwohnerzahl]

200.000 499.999

500.000 l61d mehr

I. Sozio-demographische Analyse der Untersuchungsgruppen

83

Zusammenfassung - Die Bauarbeiter sind im GruppenvergIeich am jüngsten, die Baukader am ältesten. - Die Bauleute (Bauarbeiter und Baukader) verzeichnen in Relation zu ihren VergIeichsgruppen höhere Erwerbsquoten, was sicherlich auf den höheren Männeranteil in den Gruppen I und II zurückzuführen ist. - Hochsignifikant unterschiedlich ist die Geschlechterverteilung der Untersuchungsgruppen: über den höchsten Männeranteil verfügen naturgemäß die Bauarbeiter, aber auch bei den Baukadern ist er noch hoch. In der Gruppe III sind immer noch mehr Männer als Frauen vertreten, was sich aber in der Gruppe IV dann umkehrt. - Der Chi 2-Test ergab auch hochsignifikante Unterschiede hinsichtlich des Familienstandes. Die Führungskräfte sind wesentlich häufiger verheiratet, die höchste Ledigenziffer finden wir bei den Bauarbeitern. Letztere sind aber auch am jüngsten. Die Geschiedenenzahlliegt insgesamt weit über der in der Gesamtbevölkerung der DDR. - Bei den Bauarbeitern ist die Zahl derer, die alleine - ohne Familie - in die Bundesrepublik reisten, am größten. Im Zeitverlauf nahmen die Versuchspersonen, die angaben, verheiratet zu sein, dann aber alleine in den Westen wechselten, zu. Die Übersiedlung wurde zunehmend geplant. - Die wenigsten Kinder haben die Bauarbeiter, die meisten die Leitungskader, wobei die Baukader durchschnittlich über mehr Kinder pro Familie verfügen. - Die Bauarbeiter sind am wenigsten in der Kirche vertreten, die Baukader am häufigsten. Die Unterschiede zu den Vergleichsgruppen sind hochsignifikant. - Die Gruppen der Arbeiter verzeichnen in der Rangfolge den höchsten Prozentsatz der Abwanderer aus den kleineren Gemeinden (unter 10.000 Einwohner), die Führungskräfte aus den Metropolen (über 500.000 Einwohner).

84

D. Empirische Ergebnisse

11. Untersuchung der Wünsche und Motive der Flüchtlinge/ Übersiedler und ihre Vorstellungen über das zukünftige Leben in der Bundesrepublik Deutschland Die Messung von Motiven ist ein komplexes und vielgestaltetes Problem, das bislang selbst von seiner Mutterwissenschaft - der Psychologie - nicht hinreichend gelöst werden konnte. Der Verfasser geht davon aus, daß Motiv hier im umgangssprachlichen Sinn benutzt wird als Anlaß oder Beweggrund, die Handlung "Flucht bzw. Übersiedlung" auszuführen. Die Psychologie versteht unter Motiven im streng genommenen Sinne etwas anderes: "Motive haben sich im Laufe der individuellen Entwicklung als relativ überdauernde Wertungsdispositionen herausgebildet. Aufgrund welcher Realisierungsmöglichkeiten und Anregungen der Entwicklungsumwelt, aufgrund welcher Faktoren und Prozesse individuelle Ausprägungsunterschiede von Motiven zustande kommen, ist zu klären; desgleichen aber auch die Möglichkeiten der Motivänderung durch gezielte Intervention. Wir haben es mit Problemen der Messung von Motiven zu tun" (Heckhausen 1980, S.25).

Somit kann der niedrige Lebensstandard in der DDR kein Motiv zur Flucht/Übersiedlung sein. Vielmehr ist das Streben nach Befriedigung elementarer oder sekundärer Bedürfnisse das Motiv, der niedrige Lebensstandard dann vielleicht die Motivation, die das Handeln auslöst. Motivation ist dabei als ein Prozeß gedacht, "der zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten auswählt, das Handeln steuert, auf die Erreichung motivspezifischer Zielumstände richtet und auf dem Weg dahin in Gang hält" (ebd.).

Demgegenüber kann das Bedürfnis nach Freiheit durchaus als Motiv gewertet werden. Es bildet in der Reihe unserer Kategorien die Ausnahme. Es ist dann die Frage zu klären, ob die von uns vorgegebenen und von den Flüchtlingen/Übersiedlern gewählten "Motive" nicht nur vordergründige Beweggründe waren, das Land zu verlassen, und welche wahren, tiefen Motive den wirklichen Anlaß bildeten.

Der Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz (1990, S. 127) kommt in seinem Buch über den "Gefühlsstau" der DDR-Bürger diesem Problem sehr nahe, wenn er erklärt: "Die vorgegebenen Begründungen familiärer, politischer, religiöser, ökonomischer und moralischer Motive, die stets objektiv berechtigt und ohne weiteres einfühl bar waren, erwiesen sich im Disput und in der Analyse als vordergründige Schutzbehauptungen und verbergen in jedem Fall bedeutungsvolle und bewußte Motive."

11. Untersuchung der Wünsche und Motive

85

Und weiter heißt es in seinen psychologisch orientierten Ausführungen: "Gründe, dieses Land zu verlassen, gab es sovieIe, wie es Einwohner im 'Ersten Deutschen Arbeiter- und Bauernstaat' gab. Kränkungen und Demütigungen war jeder ausgesetzt, und viele waren in ihrer Existenz real bedroht, gar nicht zu reden von der politischen, religiösen, moralischen und weltanschaulichen Einengung und Verfolgung. Allein der eigenen Identität wegen war es gerechtfertigt, diesem Land den Rücken zu kehren, da ausnahmslos die Würde eines jeden DDR-Bürgers in diesem Gesellschaftssystem beschädigt wurde. Jeder einzelne Fall von Flucht oder Ausreise hat seine eigene unverwechselbare Geschichte und Bedeutung. Und doch lassen sich verallgemeinernd Tendenzen aufzeigen, die in der groben Untergliederung zwischen Grenzdurchbruch, organisierter Flucht mit Fluchthelfern, dem 'Absetzen' von Reisekadern, den Antragstellern auf Ausreise, den Botschaftsbesetzern und Ungarnflüchtlingen und den Ausgebürgerten unterschiedliche psychische Befindlichkeiten und Motive wahrscheinlich machen" (ebd., S. 124 f.) .

Maaz (1990, S. 127 ff.; vgl. Fuchs 1990, Kunze 1990) charakterisiert dann tiefer liegende Ursachen für den Schritt, die Heimat zu verlassen, wie folgt: 1. Die Flucht/Übersiedlung habe von den "inneren Wunden" abgelenkt, von der tiefen Verletzung der Gefühle und der menschlichen Würde. Um diese persönlichen Schmerzen nicht fühlen zu müssen, habe man mit seinem Protest auf das Gesellschaftssystem abgezielt und so, und das ist die nächste wichtige Ursache,

2. die Aggressionen abreagiert. 3. Das westliche Deutschland wirkte durch seine materiellen Reize und den Wohlstand als möglicher Kompensator für die inneren Defizite: "Ein besserer Verdienst, eine schönere Wohnung, Reisefreiheit, eine freiere Lebensart waren verlockende Angebote, darin die Erlösung von der inneren Unzufriedenheit zu erhoffen" (Maaz 1990, S. 128).

4. Nicht wenige versuchten, durch Flucht/Übersiedlung persönlichen Bindungen (z. B. der Ehe) zu entfliehen, da zum einen die Bindungsfähigkeit solcher insgesamt gestörten Persönlichkeiten in Frage zu stellen ist, zum anderen der sozialistische Alltag jede Art zwischenmenschlicher Beziehungen gefährdete. Letztendlich war die Flucht/Übersiedlung nur ein Ausdruck für die zerstörten emotionalen Bedürfnisstrukturen, die die Bevölkerung der ehemaligen DDR charakterisieren. "Die unausbleibliche Folge der permanenten Disziplinierung und Demagogie mit kleinlicher Intoleranz gegen jede Abweichung war die Verwandlung des äußeren Zwanges in innere Unterdrückung. Das System hat jeden einzelnen so lange bearbeitet, bis

86

D. Empirische Ergebnisse

der psychologische Mechanismus der Selbstversklavung und Selbstzerstörung gesichert war" (ebd., S. 13).

Lothar Fritze (1990) gab in seiner Auseinandersetzung mit dem Übersiedlungsproblem dem "vordergründigen" Motiv des niedrigen Lebensstandards in der DDR den Vorrang: "Eine Gesamtbetrachtung des Ausreise-Phänomens kann meines Erachtens nur zu dem Ergebnis kommen, daß die wirtschaftliche Lage in der DDR, der niedrige Lebensstandard im Vergleich zur Bundesrepublik und das Fehlen jeder Aussicht, daß sich diese Lücke mittel- oder gar kurzfristig verringert, der letztlich ausschlaggebende Grund für den Willen ist, die DDR zu verlassen und in der BRD zu leben. Das bis zur Wende häufig (auch von den Betroffenen) in den Vordergrund geschobene Freiheit/ Demokratie-Motiv, das schon damals hinsichtlich seiner ausschlaggebenden willensbildenden Wirksamkeit mit Skepsis zu betrachten war, kann für die jetzt noch in Gang befindliche Ausreisewelle nicht die entscheidende Ursache sein. Bei vielen Menschen, die sich zur Ausreise entschlossen und das Wagnis eingingen, woanders noch einmal eine Existenz zu gründen, spielte unterschwellig das Motiv eine Rolle, einem eingeschliffenen Alltag zu entfliehen, einem fad gewordenen Trott zu entrinnen - gewissermaßen dem Leben noch einmal eine Wende zu geben."

Ein Indiz für die Wichtigkeit des materiellen Faktors "Lebensstandard" ist zum Beispiel, daß die Wanderungen vom ehemaligen Gebiet der DDR in den Westen auch nach der Vereinigung noch weiter anhalten. Wir plädieren indes dafür, beiden Motivlagen gleichermaßen Bedeutung zuzumessen, denn die äußeren Lebensumstände in der DDR haben sicherlich die Psyche der einzelnen entscheidend mitgeprägt und vice versa. Wir konnten in unseren Fragebögen bis an die tieferliegenden Probleme heranreichen und zwar 1. durch unsere offene Frage nach den Wünschen für das zukünftige Leben in der Bundesrepublik; 2. durch die Randkommentare in den Fragebögen. Hier wurde deutlich, daß unsere Untersuchung auch als Ventil für eben diesen "Gefühlsstau" diente. Durch den unmittelbaren Kontakt direkt nach der Ankunft der Versuchspersonen wurde der Fragebogen sicherlich in vielen Fällen dazu benutzt, dem Protest gegen die Strukturen des verlassenen Landes Ausdruck zu geben. Damit können wir auch den Vorwurf zurückweisen, daß viele Personen im Sinne einer Erwartungshaltung geantwortet hätten. Vielmehr war der Weg der schriftlichen Befragung mit den Interviewern als Kontaktpersonen im Hintergrund der beste, möglichst viel "Wahres" zu erfahren. Dabei bilden die Motive den Rahmen, während unsere beiden offenen Fragen nach den Wünschen und den neuen Gründen diesen Rahmen inhaltlich füllen (Frage 23: Wenn Sie Ihre Wünsche und Vorstellungen über Ihr zukünftiges Leben in der Bundesrepublik nennen sollten, was glauben Sie, wird in der

87

11. Untersuchung der Wünsche und Motive

Bundesrepublik besser für Sie sein? Frage 24: Die DDR befindet sich in einer Phase des politischen Umbruchs. Trotzdem haben Sie jetzt Ihr Land verlassen. Nennen Sie bitte die drei dafür wichtigsten Gründe.). Wir wollen im folgenden die Motive einzeln, im zeitlichen Ablauf und in ihrer Abhängigkeit untereinander (Pfad-Analyse) darstellen.

1. Flucht-/Übersiedlungsmotive der Befragten

Diagramm 14 Motive, die zum Verlassen der DDR führten (AntwortmögUchkeiten: "tritTt zu" und "tritTt sehr zu")

• Gruppe I (N 1.158)

%

I::l Gruppe 11 (N 15.3)

o Gruppe

100

90

111 (N 3.957)

IID Gruppe IV (N 1..318)

90.9

87.1

80

70 60 50 40

polit. Bedingungen

pers. Unfreiheit

schlechte Arbeit.bedingungen

r.WeIw1==oc;::~==::-~~der:;::-;G>vnd=;;;:'a;;:9"::-v:::on::-i'6."~8",6IiB.:;:fro;;;;9;;;;'en;;;:--': Zei\t(UT\: 10.10.89 - 30 .06.90

Mot i ve

Lebensstandard

freunde. Verwandte sind im Westen

88

D. Empirische Ergebnisse

Tabelle 32

"Was war für Sie der vorrangige Grund, in den Westen zu kommen: die politischen Bedingungen in der DDR insgesamt?"

Befragte

trifft kaum zu

trifft zu

trifft sehr zu

in %

in %

in %

in %

trifft nicht zu

Total in %

(N

I 1.119 )

3,4

5,7

27,0

63,9

100,0

(N

II 150)

6,0

6,7

24,0

63,3

100,0

(N

III 3.732)

6,1

7,8

27,8

58,3

100,0

(N

IV 1.254)

5,2

6,6

27,2

61,0

100,0

Chi 2 =20,69426 df =9

P =0,0141 +.

Insgesamt sind die politischen Bedingungen herausragendes Motiv zur Flucht/Übersiedlung für alle Befragten. Die politischen Bedingungen als Kategorie enthalten sämtliche Aggressionen gegen die ehemaligen Machthaber, Angst und Unsicherheiten. In den "neuen Gründen" wird das dann noch einmal deutlich. Am stärksten aber wirkt dieses Motiv bei den Bauarbeitern. Es ergeben sich signifikante Unterschiede in den befragten Gruppen. Es könnte dabei eher möglich sein, daß die Bauarbeiter die Lebensumstände insgesamt den politischen Bedingungen zuordnen, d. h. die politischen Verhältnisse für die schlechten Arbeits- und LebenSbedingungen verantwortlich machen. Vielleicht ist aber auch das traditionelle Arbeiterbewußtsein noch stärker durch das SEDRegime gekränkt worden als das Bewußtsein anderer Bevölkerungsgruppen. Ein Zitat aus Haraszti (1974, S. 181) macht die politische und standesrechtliche Desillusionierung der Arbeiter deutlich: "Was müßte eurer Meinung nach denn anders und besser sein, damit ihr euch mit diesem Staat hier identifizieren könntet? - Das ganze beschissene System, so wies ist und riecht, das müßte sich ändern. Ihr fühlt euch doch als Teil der Arbeiterklasse - Ja! Klar! Wie kommt ihr damit zurecht, daß die Partei und der Staat sagen, die Arbeiterschaft hat die Führung inne, daß also eine Identität von Partei und Arbeiterklasse behauptet wird?

89

11. Untersuchung der Wünsche und Motive

- Die gibts nicht.

Was für ein Verhältnis habt ihr zu den Leuten von der Parteiorganisation, die zu euch in den Betrieb kommen? - Voreingenommen sind wir gegen die, die stinken uns. - Die sind verpflichtet, bei uns zu schnüffeln, die werden eingesetzt, um zu horchen, was ist da los, wie ist die Stimmung. Die haben immer irgendwo einen sitzen, der ihnen berichten muß, was so gequatscht wird ... Wievieie von eurer Brigade sind in der Partei? - Einer. Und warum seid ihr anderen nicht in der Partei? - Der Staat mißfällt mir, in dem ich hier lebe, weil ich eingesperrt bin. Weil ich keine Freiheit habe. Was ich jetzt sag, darf ich gar nicht sagen. - Weil ich nicht tun und lassen kann, was ich gern möchte. - Weil die Verfassung abgeschafft wurde. Ich kann meinen Arbeitsplatz nicht frei wählen, kann meinen Wohnort nicht frei wählen, kann überhaupt nichts frei wählen, kann nicht streiken - alle Arbeiterrechte hab ich verloren! Und was noch? - Na, das reicht ja auch schon."

Das war 1974; mit den Jahren nahm die Frustration der Arbeiter in der DDR eher noch zu und dürfte 1990 wohl am höchsten gelegen haben. Tabelle 33

"Was war für Sie der vorrangige Grund, in den Westen zu kommen: die persönliche Unfreiheit in der DDR?" trifft kaum zu

trifft zu

trifft sehr zu

in %

in %

in %

in %

in %

I (N 1.110)

5,2

10,6

24,2

59,9

99,9

II 150)

7,3

8,0

28,7

56,0

100,0

III (N 3.690)

6,2

10,8

27,2

55,9

100,0

IV (N 1. 237)

7,4

10,9

27,3

54,4

100,0

Befragte

(N

Chi 2

=12,29788

trifft nicht zu

df

=9

P

=0,1970 ns.

Total

D. Empirische Ergebnisse

90

In allen vier Gruppen nahezu gleich stark wirkte das Motiv der persönlichen Unfreiheit (siehe hierzu von Berg 1986, Kunze 1990, Schirrmeister 1987). Es kam bei den Bauleuten etwas stärker - die Werte sind nicht signifikant - zum Tragen. Hier handelt es sich um den Beweggrund, der am ehesten zu den psychologischen Ursachen führt, die Maaz (1990) im Unterbewußtsein der Flüchtenden/Übersiedelnden vermutet. In der Rangskala der Motive nimmt die "persönliche Unfreiheit" einen herausragenden Platz ein. Die beiden folgenden Kategorien betreffen die für Maaz (1990; vgl. Fuchs 1990, Kunze 1990) vordergründigen Motive, die mit den äußeren Lebensumständen zusammenhängen. Tabelle 34

"Was war für Sie der vorrangige Grund, in den Westen zu kommen: der Lebensstandard in der DDR?" trifft nicht zu

trifft kaum zu

trifft zu

trifft sehr zu

in %

in %

in %

in %

I (N 1.120 )

3,0

8,8

32,1

56,1

100,0

II 148)

5,4

23,0

34,5

37,2

100,1

III (N 3.746)

2,9

10,0

31,9

55,2

100,0

IV (N 1. 251)

4,5

17,9

38,8

38,8

100,0

Befragte

(N

Chi 2 =157,2004 df =9

Total in %

P =0,0000 ++ (1 Erwartungswert knapp unter 5 [4,89]).

Die Bauarbeiter kritisierten durch ihre Vota zu diesem Motiv am stärksten den Lebensstandard in der DDR, gefolgt von der Gruppe III. Die Führungskräfte bewerteten den Lebensstandard bedeutend geringer. Weniger häufig im Vergleich zu den anderen Kadern äußerten sich dabei die Bauleitungskader, daß dieser Grund für sie wirkte. Dennoch ist im Gesamtbild das Lebensstandardmotiv als herausragendes zu werten, was insbesondere bei der BetraChtung der Motive im zeitlichen Ablauf zu erkennen sein wird (siehe Seite 98 ff.). Warum waren für die Bauarbeiter - und auch die anderen Arbeiter - die Lebensumstände offensichtlich noch schlechter bzw. fiel deren Bewertung noch negativer aus? Gruppe I war überwiegend männlich, seltener verheiratet und entstammte eher kleinen und mittelgroßen Ortschaften. Das

H. Untersuchung der Wünsche und Motive

91

mag ihre Lebensbedingungen, zum Beispiel bei der Wohnungssuche und -zuteilung, noch erschwert haben. Informationen, die wir in persönlichen Gesprächen gewannen, bestätigen das. Zudem ist davon auszugehen, daß Bauarbeiter mobil sein mußten, das heißt, auch häufig die Umgebung wechselten. Dazu kamen lange Anfahrtswege zum Arbeitsplatz. All das erschwerte die Lebensumstände, wie auch in Vergleichsuntersuchungen belegt wurde (vgl. VOigt 1973, Messing 1978,1981). Da aber auch die Gruppe III, die sich sozio-demographisch anders zusammensetzt, den Lebensstandard so stark kritisierte, können wir auch die Hypothese aufstellen, daß Arbeiter materielle Lebensaspekte stärker berühren als andere soziale Gruppen, Zllmal auch ihre objektiven Lebensbedingungen härter sind. Doch auch vor dem Hintergrund der Hypothese müssen wir zunächst berücksichtigen, daß Führungskräfte im Sinne einer Erwartungshaltung geantwortet haben könnten. Die "Wünsche" werden uns weitere Hinweise geben. Wir greifen im folgenden noch einmal den Faktor Umwelt als Indikator für das Niveau des Lebensstandards heraus (für den Bezug zwischen Flucht-!Übersiedlungsbewegung und Umweltsituation siehe auch Meck,/Belitz-Demiriz/ Brenske 1991, S. 27 f.).

92

D. Empirische Ergebnisse

Diagramm 15

Korrelation zwischen den subjektiven Angaben zur Umweltbelastung und der Anzahl der Flüchtlinge!Übersiedler nach Bezirken Angaben Zl.r Umweltbelostung

1~~~;=======~------------------------------~ IIezIrIc.: B

Berlin

120

eh Chemnitz Co Cottbus

100

F G

D E H

80 60

L

M N

L

Dresden Erbt

Fronkturt

Gero

Halle

Leipzig MogdelKrg

Neubrandenburg Potsdom

P R Rostock Sc:h Sc:hwerin 5 Suhl

eh

40

20 5

O~~---PL---~r-----~-----+------r------r-----;----~

100 200 JOO 400 500 600 700 fI/ - 8.605; Zeitraum: 10.10089 - JO.06.901 Anzahl FIOchtiinge/Übersiedler

800

900

Wir konnten zunächst eine hochsignifikante Korrelation (R =0,81184, P = 0,0002 ++) zwischen den subjektiven Angaben zur Umweltbelastung und der Anzahl der Flüchtlinge/Übersiedler nach Bezirken feststellen (Diagr. 15). Auffällig ist, daß Leipzig weit von der Regressionsgeraden abweicht; hier wurden auffällig mehr Angaben zur Umweltbelastung gemacht. Unsere Hypothese lautet somit: Der Lebensstandardfaktor "Umwelt" ist ein wichtiger Beweggrund fiir Migration. In der Flucht- und Übersiedlungsbewegung 1989/90 ist eine direkte Korrelation zwischen der Motivation, das Land zu verlassen, und dem Zustand der Umwelt deutlich geworden (Diagr. 16).

Überdies dürfte gelten: Je höher das Bildungsniveau, desto höher werden Umweltfaktoren - Verseuchung von Luft, Wasser, Erde, Lebensmitteln und Baustoffen - bewertet und vice versa.

93

Ir. Untellluchung der Wünsche und Motive

Diagramm 16

Prozentuale Verluste der Wohn bevölkerung der DDR (über 18 Jahre) durch Flucht/Übersiedlung aufgeteilt nach Bezirken (N = 6.605; Zeitraum: 10.10.89 - 30.06.90)

Legende ~1 -1,5X ~1,5-2X ~2 - 2,5 X . 2 , 5 - 3,3 X

(Eigene Stichprobe und errechnet aus: Stat. Jb. der DDR 1989, 5.360)

Der Schutz der Umwelt ist in der DDR vor der Wende verfassungsmäßig garantiert worden. Artikel 15 der Verfassung der DDR von 1974 erklärt den Schutz des Bodens, die Reinhaltung der Gewässer und der Luft sowie den Schutz der Pflanzen- und Tierwelt und der landwirtschaftlichen Schönheiten der Heimat sowohl zur staatlichen Aufgabe als auch zur Sache jeden Bürgers. Seit 1971 existiert des Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft (Rucht 1983, S. 697).

94

D. Empirische Ergebnisse

Im Fünfjahrplan von 1971 bis 1975 entwarf man ein entsprechendes Programm zum Schutz der Umwelt, das auch finanziert wurde, aber bereits im darauffolgenden Plan waren Programme und Realisierungsabsichten wieder reduziert (ebd., S. 698). Im Fünfjahrplan 1981 - 1985 macht der Umweltschutz die 14. Hauptposition der volkswirtschaftlichen Aufgaben aus (Friedrich-EbertStiftung 1982, S. 26). Umweltschutz und marxistisch-leninistische Ökonomie und Ökologie stehen in direkter Konfrontation. "Für einen Marxisten ist die untrennbare Einheit von Sozialismus und optimalem Wachstum des gesellschaftlichen Reichtums ein inhärentes Attribut seines Denkens und Handeins. Fragen des Wachstums der Wirtschaft des Landes, des Wachstums der Ergebnisse wirtschaftlicher Tätigkeit, der Arbeitsproduktivität, des Wachstums der materielltechnischen Basis u. a. nehmen einen zentralen Platz in der Politik der marxistischleninistischen Parteien der sozialistischen Länder ein" (Prof. Striebing, Direktor der Sektion Philosophie und Kulturwissenschaften der TU Dresden, auf einer wissenschaftlichen Konferenz 1975 in Ost-Berlin, zit. in Gruhn 1985, S. 99).

Die Grundlagen ökonomischen Denkens legte Karl Marx, sowohl in seiner Ökonomie als auch Anthropologie. "Die Arbeit ist zunächst ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin er seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Der Mensch tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturrnacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur. Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eignen Botmäßigkeit" (Marx 1972, S.148).

Marx/Engels (zit. im Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie 1978, Stichwort Umwelt, S. 680) betonten zudem, daß die Welt "nicht ein unmittelbar von Ewigkeit her gegebenes, sich stets gleiches Ding ... , sondern das Produkt der Industrie und des Gesellschaftszustandes, und zwar in dem Sinne, daß sie ein geschichtliches Produkt ist, das Resultat der Tätigkeit einer ganzen Reihe von Generationen, deren Jede auf den Schultern der vorhergehenden stand, ihre Industrie und ihren Verkehr weiter ausbildete, ihre soziale Ordnung nach den veränderten Bedürfnissen modifizierte."

11. Untersuchung der Wünsche und Motive

95

Abbildung 17

Luftbelastung durch Schwefeldioxid auf dem Gebiet der ehemaligen DDR

~ laa . . . Braunkohlen-Tagebau

0i9

Cu

Kahsall·Bergbau Kupferschiefer-Bergbau

NI

U

Sn

Erdgaslorderung Erdölralfmene

- _ HauPI-Erdöllellung Nlckelen-8t!rgbau

Uranen-Bergbau Zmnen-Bergbau

t

BrclunkDhlen-Krattw.

[fJ

Wasser-Kraf1w. Atom-Kraftw.

f:

Quelle: Fischer Weltalmanach 1990, S. 163.

Die Lösung von Umweltproblemen schrieben die sozialistischen Autoren historischen Prozessen zu, die katastrophale Umweltsituation dagegen dem Kapitalismus (Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie 1978, Stichwort Umwelt, S. 681).

96

D. Empirische Ergebnisse

Die Folgen sozialistischer Umweltpolitik offenbart die Gegenwart. So liegt zum Beispiel in der Umgebung von Bitterfeld die mittlere Lebenserwartung um sechs Jahre unter dem Durchschnitt aufgrund der dort wohl am gravierendsten ausgeprägten Umweltbelastungen (Arbeitsgruppe Ökologische Wirtschaftspolitik 1990, S. 1). Die ehemalige DDR zählt zu den verseuchtesten Ländern der Welt. Der Umweltschutz begann erst dort zu funktionieren, wo die Bundesrepublik Deutschland die Kosten übernahm und das know-how lieferte (Voigt; zit. bei Schwebig 1985, S. 132). Die absolut ineffiziente, gesundheitsschädliche und umweltfeindliche Produktionsweise des real existierenden Sozialismus "ist nicht Zufall und nicht Folge schlechter Voraussetzungen oder unglücklicher Umstände, sie ist Herrschaftsinstrument" der kommunistischen Machthaber (Mainz 1982, S. 931). Dennoch können wir die Hypothese, daß die Umweltverseuchung ein wichtiger Beweggrund für die Flucht- und Übersiedlungsbewegung 1989/90 war, nicht halten. Errechnen wir einen Index, den wir "Flüchtlings/ÜbersiedlerUnzufriedenheitsindex (FUX) Umwelt" nennen wollen und in den alle Antworten, sowohl die der geschlossenen als auch offenen Fragen, zu Wünschen, Motiven und neuen Gründen eingehen und nach einem bestimmten Punktesystem bewertet werden (siehe dazu Schlüter 1991), dann erkennen wir, daß es relativ wenig Nennungen zur Umwelt gibt. Wir gehen davon aus, daß den ehemaligen DDR-Bürgern zum Zeitpunkt unserer Befragung noch jedes Umweltbewußtsein aufgrund mangelnder Vergleichsmöglichkeiten fehlte. Tabelle 35

"Was war für Sie der vorrangige Grund, in den Westen zu kommen: die schlechten Arbeitsbedingungen? " Befragte I

trifft zu in %

trifft sehr zu in %

Total in %

17,6

29,8

44,5

100,1

II

12,7

20,0

30,7

36,7

100,1

III

11,9

19,4

30,0

38,6

99,9

IV

20,3

27,7

28,7

28,3

100,0

150)

(N 3.687)

(N 1.220)

Chi 2

trifft kaum zu in %

8,2

(N 1.122 )

(N

trifft nicht zu in %

=126,17782

=

=

df 9 P 0,0000 ++.

97

11. Untersuchung der Wünsche und Motive

Bei der Bewertung der Arbeitsbedingungen zeigen sich hochsignifikante Unterschiede in den einzelnen Gruppen (Tab. 35). Am stärksten treffen die schlechten Arbeitsbedingungen - wie auch an anderer Stelle ausführlich gezeigt - die Bauarbeiter vor Ort. Ihre Bewertung fallt daher am negativsten aus. Die leitenden Kader im Bauwesen nähern sich dagegen in ihrer Bewertung der Gruppe III an, das ist hier auffällig, während die anderen Kader mit den Arbeitsbedingungen am zufriedensten waren. Tabelle 36

"Was war für Sie der vorrangige Grund, in den Westen zu kommen: Familie oder Freunde sind im Westen?" Befragte

trifft kaum zu

trifft zu

trifft sehr zu

Total

in %

in %

in %

in %

I

26,8

15,6

25,8

31,8

100,0

II 148)

22,3

16,2

27,0

34,5

100,0

III

21,3

13,9

23,7

41,0

99,9

IV

18,0

13,7

24,3

44,0

100,0

(N 1. 099) (N

trifft nicht zu

(N 3.714) (N 1.257)

Chi 2 =51,39398 df =9

in %

P =0,0000 ++.

Ebenfalls hochsignifikante Unterschiede zeigen sich im Fluchtmotiv "Familie oder Freunde sind im Westen" in den einzelnen Gruppen (Tab. 36). Die Bauarbeiter, unter denen der Anteil lediger Männer am höchsten ist, nennen diesen Grund deshalb am wenigsten. Obwohl die Verheirateten der Gruppe 11 am häufigsten ohne Familie überwechselten, ist hier das Motiv dennoch nicht besonders stark ausgeprägt; es trifft sogar weniger zu als für die Befragten der Gruppen III und IV. Allerdings sind auch in Gruppe 11 Männer überproportional häufig vertreten, so daß wir auch hier wieder davon ausgehen können, daß es sich um die Personen handelt, die vorausreisten, um ihre Familien dann später nachzuholen.

7 Brenske

D. Empirische Ergebnisse

98

Diagramm 18

Motive, die zum Verlassen der DDR führten· im Zeitverlauf (Antwortmöglichkeiten "trifft zu" und "trifft sehr zu")

• vor GnwIzMfnung

(' 0.' 0.89 - 08.' 1.89)



,. Ph ... e nach GnwIz6ffnw1g

(09.' 1.89 - JO.' 1.89)

111 2. Ph ... e nach GnwIz6ffnw1g

('4.'2.89 - J1.0, .90)

% 100

80 60 40 20

o

polit. Bedin9-"geIl

peno. l.nfnIiheit

schledtta Art>eitsbedin9-"9en

Lebenestandcrd

F...."de. V....andte .ind im Westen

Motive

Gruppe 111 (N 3.732)

% 100

80 60 40 20

o

polit. Bedln9-"gen

peno. l.nfnIiheit

schlechte

Art>eitsbedin~gen

Motive

Lebensstandard

Freunde. V....andte aind im Westen

II. Untersuchung der Wünsche und Motive

99

Bei der Betrachtung im Zeitverlauf (siehe Tabellen 37 - 41) fanden wir folgende Ergebnisse. Methodisch ist zu beachten: Da die Grundgesamtheiten variieren, ist bei höheren N auch eher ein höherer Chi2 gegeben. Bei dem Motiv "politische Bedingungen" gaben die Bauarbeiter auch in der letzten Erhebungsphase vor der Währungsunion hochsignifikant häufiger an, daß dieser Grund für sie sehr wichtig war für den Entschluß, die Heimat zu verlassen. Bei dem Motiv "persönliche Unfreiheit" finden wir im Zeitverlauf gar keine signifikanten Unterschiede zwischen Gruppe I und III. Auch den Lebensstandard bewerteten beide Sam pIes während der einzelnen Phasen nahezu gleich negativ. Im Zeitverlauf beurteilten die Bauarbeiter die Arbeitsbedingungen teilweise schlechter als die Vergleichsgruppe. Dennoch finden wir auch hier nur signifikante Differenzen in zwei Untersuchungsphasen. "Familie und Freunde sind im Westen", dieses Motiv war besonders in der 1. Phase nach Grenzöffnung für die Gruppe III bedeutender; dasselbe gilt für die 3. Phase nach Grenzöffnung und für den Zeitraum nach der Volkskammerwahl. Betrachtet man die Angaben der Gesamtgruppe (N 6.821; siehe Diagramm 19) zu den Flucht-/übersiedlungsmotiven im Zeitverlauf, so erkennen wir eine deutliche Schere: während die politischen Bedingungen im Zeitverlauf abnahmen - dennoch blieben sie aber einer der dominierenden Beweggründe - verstärkten sich im Gegenzug die Nennungen, die den niedrigen Lebensstandard betrafen. Ab der 3. Phase nach Grenzöffnung haben sie sogar die zu den politischen Bedingungen überrundet. Die "persönliche Unfreiheit" hat im Zeitverlauf kontinuierlich abgenommen, blieb aber dennoch sehr wichtig auch für die Übersiedler. Wir gehen davon aus, daß später mit "Freiheit" andere Wünsche besetzt wurden, zum Beispiel die Befriedigung materieller Interessen. Die "Arbeitsbedingungen" wurden in den späteren Phasen häufiger genannt. Tatsächlich hatten sich die Arbeitsbedingungen durch die Abwanderungen in der ehemaligen DDR verschlechtert. Einen wechselnden Verlauf zeigt die Bedeutung des Motivs "Familie und Freunde sind im Westen". Zunächst vor Grenzöffnung wichtiger als die "schlechten Arbeitsbedingungen", hat es bis zur 2. Phase nach Grenzöffnung abgenommen, um dann auf die höchsten Werte anzusteigen. Wir führen das, wie bereits erwähnt, auf die nachreisenden Familienmitglieder zurück.

100

D. Empirische Ergebnisse

Diagramm 19

Motive, die zum Verlassen der DDR führten - im Zeitverlauf (für alle N 6.821)

%

Motiv

100

90 80 70 re\l'lde, Verwandte sind im Westen

60

50

53,6

40+-------~----~~----~-------+------~ 1. Phase nach 2. Phase nach 3. Phase nach nach der vor der GrenzöffruM) CrenzöfflUNJ CrenzöfflUNj Volkskcmnenrahl WltMgsIIIion

vor Grenzölfrulg (10.10.89 08.11.89)

(09.11.89 30.11.89)

(14.12.89 31.01.90)

11ietii~ ;:fr:;:m~ von

(01.02.9014.03.90)

I Phase

(20.03.90 23.04.90)

(3O.()(.90 30.06.90)

Total

-~-

trifft zu/ trifft sehr zu

100,0

99,4

0,6

100,0

96,1

3,9

in %

in %

100,0

100,0

0,0

in %

I

N 105

99,9

96,2

3,7

in %

II

N 345

100,1

93,3

6,8

in %

I

N 179

100,0

94,5

5,5

in %

II

N 416

(14.12.89 31. 01. 90)

2 . Phase nach Grenzöffnung

100,0

90,5

9,5

in %

I

100,0

88,4

11,6

in %

II

N 368 N 1. 226

(01.02.90 14.03.90)

3.Phase nach Grenzöffnung

99,9

80,9

19,0

in %

I

N 126

100,1

75,3

24,8

in %

II

N 505

nach der Volkskammerwahl (20.03.90 23.04.90)

Chi 2-Test für die Phase vor Grenzöffnung nicht möglich (2 Erwartungswerte unter 5) Chi 2 -Test für die 1. Phase nach Grenzöffnung nicht möglich (3 Erwartungswerte unter 5) Chi 2 -Test für die 2. Phase nach Grenzöffnung nicht möglich ~1 Erwartungswert unter 5) Chi = 4,66432, df = 3, P = 0,1981 ns Chi 2 -Test für die 3. Phase nach Grenzöffnung: df = 3, P = 0,2866 ns Chi 2-Test für die Phase nach der Volkskammerwahl: Chi 2 = 3,777m, Chi 2-Test für die Phase vor der Währungsunion: Chi 2 = 11,72058, df = 3, P = 0,0084 ++.

trifft nicht zu/ trifft kaum zu

Antwortvorgabe

N 563

N 178

II

(09.11.89 30.11. 89)

(10.10.89 08.11.89)

I

1.Phase nach Grenzöffnung

vor Grenzöffnung

100,0

81,6

18,4

in %

I

N 163

100,0

73,1

26,9

in %

II

N677

vor der währungsunion (30.04.90 (30.06.90)

"Was war für Sie der vorrangige Grund, in den Westen zu kommen: die politischen Bedingungen in der DDR insgesamt?" Antworten im Zeitverlauf

Tabelle 37

=

o .....

"

~.

o

3::

8.

c

"

~

B" ~

OQ

c

c:: = ~ c g.

Total

trifft zu/ trifft sehr zu

97,1

99,9

100,0

2,8

98,9

1,1

in %

in %

99,9

99,0

0,9

in %

I

N 106

100,0

97,7

2,3

in %

II

N 350

100,1

82,4

17,7

in %

I

N 176

100,0

88,5

11,5

in %

II

N 408

(14.12.89 31.01.90)

2.Phase nach Grenzöffnung

99,9

80,0

19,9

100,0

81,0

19,0

100,0

75,2

24,8

in %

in %

in %

I

N 125

II

ns ns ns ns.

100,0

73,2

26,8

in %

II

N 501

nach der Vo1kskammerwahl (20.03.90 23.04.90)

N 366 N 1.202

I

(01.02.90 14.03.90)

3.Phase nach Grenzöffnung

Chi 2-Test für die Phase vor Grenzöffnung nicht möglich (2 ElWartungswerte unter 5) Chi 2-Test für die 1. Phase nach Grenzöffnung nicht möglich ~4 ElWartungswerte unter 5) Chi 2-Test für die 2. Phase nach Grenzöffnung: Chi = 6,55474, df = 3, P = 0,0875 Chi 2 = 2,31976, df = 3, P = 0,5087 Chi 2-Test für die 3. Phase nach Grenzöffnung: df =3, P =0,1312 Chi 2-Test für die Phase nach der VolkskammeIWahl: Chi 2 =5,62818, Chi 2-Test für die Phase vor der Währungsunion: Chi 2 = 2,53855, df = 3, P =0,4684

trifft nicht zu/ trifft kaum zu

Antwortvorgabe

N 564

N 179

II

(09.11.89 30.11.89)

(10.10.89 08.11. 89)

I

1.Phase nach Grenzöffnung

vor Grenzöffnung

99,9

75,9

24,0

in %

I

N 158

---

100,0

70,9

29,1

in %

II

-

N 665

vor der Währungsunion (30.04.90 (30.06.90)

"Was war für Sie der vorrangige Grund, in den Westen zu kommen: die persönliche Unfreiheit in der DDR?" Antworten im Zeitverlauf

Tabelle 38

.....

p

~.

i

~

');1.

3

m

ß

Total

100,0

83,1

100,0

88,7

11,3

in %

N 106

I

100,0

83,0

17,0

in %

N 347

II

99,9

88,8

11,1

in %

N 179

I

99,9

89,7

10,2

in %

N 410

II

(14.12.89 31.01.90)

2.Phase nach Grenzöffnung

100,1

91,3

8,8

in %

99,9

90,8

9,1

in %

II

N 365 N 1.234

I

(01.02.90 14.03.90)

3.Phase nach Grenzöffnung

99,9

89,2

10,7

in %

N 130

I

ns ns ns.

ns

100,1

86,2

13,9

in %

N 512

II

nach der Vo1kskammerwahl (20.03.90 23.04.90)

Chi 2 -Test für die Phase vor Grenzöffnung: Chi 2 = 2,66901, df = 3, P = 0,4455 Chi 2 -Test für die 1. Phase nach Grenzöffnung nicht möglich (1 Erwartungswert unter 5) Chi 2 -Test für die 2. Phase nach Grenzöffnung nicht möglich ~1 Erwartungswert unter 5) Chi 2 -Test für die 3. Phase nach Grenzöffnung: Chi = 0,77560, df = 3, P = 0,8553 Chi 2 -Test für die Phase nach der Volkskammerwahl: Chi 2 = 1,42399, df = 3, P = 0,6699 Chi 2 -Test für die Phase vor der Währungsunion: Chi 2 = 2,43829, df = 3, P = 0,4865

100,0

80,9

trifft zu/ trifft sehr zu

16,9

in %

in %

19,1

N 561

N 178

trifft nicht zu/ trifft kaum zu

Antwortvorgabe

II

(09.11.89 30.11. 89)

(10.10.89 08.11.89)

I

1.Phase nach Grenzöffnung

vor Grenzöffnung

100,0

87,7

12,3

in %

N 162

I

100,0

84,7

15,3

in %

N 682

11

vor der Währungsunion (30.04.90 (30.06.90)

"Was war für Sie der vorrangige Grund, in den Westen zu kommen: der Lebensstandard in der DDR?" Antworten im Zeitverlauf

Tabelle 39

i

I

(;J

ö

(1)

9:;:

3::

"5-

n>

0-

~

::E

8",

(J

r------

-0,009

: ,,

0, 052

0,040

:--------' , L - ____ - - -,

0,012 ~

-0,051

0,038

Zunächst stellen wir eine hochsignifikante negative Korrelation zwischen Alter und Bau fest, die wir auch schon früher nachgewiesen haben: Beta = -0,049 P =0,0010 ++. Daraus können wir schließen: Auf dem Bau arbeiten eher Jüngere. Eine hochsignifikante Korrelation besteht zwischen Alter und dem Motiv "Familie und Freunde sind im Westen": Beta = 0,098 P = 0,0000 ++. Ältere geben häufiger an, der Familie und den Freunden nachzureisen als Jüngere. Auf den Bau bezogen: Bauarbeiter nennen hochsignifikant weniger als Ältere, anderen in den Westen gefOlgt zu sein. Hier ist der Korrelationskoeffizient negativ; das Alter tritt als intervenierende Variable auf. Beta = -0,052 P = 0,0004 ++.

11. Untersuchung der Wünsche und Motive

109

Eine hochsignifikante Korrelation besteht zwischen Alter und dem Motiv "politische Bedingungen": Beta = 0,040 P = 0,0072 ++. Bauarbeiter geben aber noch häufiger als Ältere an, daß politische Bedingungen für sie wirkten: Beta =0,063 P =0,0000 ++. Das heißt: Die Variable "im Bauwesen tätig" verstärkt den Pfad zwischen Alter und "Politische Bedingungen". Wir können festhalten: Die häufigere Nennung des Motivs "politische Bedingungen" ist bauspezi[lSch. Es besteht eine hochsignifikante Korrelation zwischen der "persönlichen Unfreiheit" und dem Alter: Beta =0,047 P =0,0004 ++. Ältere geben hochsignifikant häufiger an, aus Gründen der persönlichen Unfreiheit die DDR verlassen zu haben als Jüngere. Hier dürfte die Regel gelten: Je lebenserfahrener, desto stärker wird persönliche Unfreiheit als unerträglich empfunden. Bauarbeiter nennen dieses Motiv nicht signifikant weniger als die Älteren: Beta: =-0,009 P =0,5025 ns. Dennoch besteht kein direkter Pfad zwischen Bauarbeitern und diesem Beweggrund; vielmehr ist festzuhalten: der direkte Pfad liegt zwischen den Motiven "politische Bedingungen" und der "persönlichen Unfreiheit": Beta =0,424 P =0,0000 ++. Wer die "politischen Bedingungen" ankreuzte, nannte auch die "persönliche Unfreiheit"; Bauarbeiter geringfügig weniger als die anderen, weil sie offensichtlich durch ihre Tätigkeit auf dem Bau Unfreiheit nicht ganz so stark empfanden. "Politische Bedingungen" schließt die "persönliche Unfreiheit" mit ein. Ältere nennen die Arbeitsbedingungen hochsignifikant weniger als die Jüngeren; Bauarbeiter hochsignifikant häufiger als die Älteren, aber weniger als die anderen Jüngeren. Das Alter tritt hier als intervenierende Variable auf: Beta =-0,051 P =0,0006 ++ (pfad "Arbeitsbedingungen"/Alter) Beta = 0,052 P =0,0005 ++ (Pfad "Arbeitsbedingungen"!Bau). Es besteht kein direkter Pfad zwischen dem Lebensstandard und den Bauarbeitern; eine Verbindung ist nur über die Variable "schlechte Arbeitsbedingungen" möglich, denn: Wer die schlechten Arbeitsbedingungen nannte, der kreuzte gleichzeitig auch den "niedrigen Lebensstandard" als Motiv häufiger an. Ältere nennen den Lebensstandard hochsignifikant häufiger als Jüngere. Bauarbeiter geben den Lebensstandard nicht signifikant häufiger an als Ältere. Alter ist hier eine intervenierende Variable, die aber nur ganz schwach wirksam

110

D. Empirische Ergebnisse

wird. Es scheint, als sei der Lebensstandard zunächst - betrachtet man die Variablen "Alter" und "im Bauwesen tätig" - von allen nahezu gleich häufig negativ beurteilt worden. Beta = 0,170 P = 0,0000 ++ (Pfad "Lebensstandard"I"Arbeitsbedingungen") Beta = 0,012 P = 0,4280 ns (Pfad "Lebensstandard"/"Bau") Beta = 0,038 P = 0,0097 ++ (Pfad "Lebensstandard"/"Alter"). Abbildung 22

3. Pfad-Modell: Intervenierende Variable "Geschlecht" -0,027

-0,143

r - ->

,,

-0,:004 ,

!

r- - - - - - - - - - - - -

...-----,--, ,, ,,

0,010

-0,001

--1 ,, ,

'!i

0,159

Im folgenden untersuchen wir, ob das Geschlecht als intervenierendt Variable bei der Motivwahl der Gruppen I und III wirkt. Es besteht - verständlicher und bereits nachgewiesener Weise - eine hohe Korrelation zwischen dem Geschlecht und der Variable "im Bauwesen tätig": Bauarbeiter sind meistens Männer, Beta = 0,363 P = 0,0000 ++. Es besteht ebenfalls eine - negative - hochsignifikante Korrelation zwischen Geschlecht und dem Motiv "Familie und Freunde sind im Westen": Beta =-0,143 P =0,0000 ++. Das heißt: Männer reisen hochsignifikant weniger der Familie oder Freunden nach als Frauen.

11. Untersuchung der Wünsche und Motive

111

Die Männer, die am Bau tätig sind, geben nicht signifikant weniger als andere Männer an, der Familie oder Freunden nachzureisen. Hier handelt es sich also nicht um ein bauspezifisches Phänomen, sondern das Geschlecht bestimmt die Anzahl der Nennungen des Motivs "Familie und Freunde sind im Westen": Beta =-0,004 P =0,7691 ns. Die Männer gehen - abgesprochen oder nicht - in den Westen, und die Frauen reisen später nach; der umgekehrte Fall scheint ausgeschlossen. Selten kommt die geschlechtsspezifische Rollenprägung so deutlich wie hier zum Ausdruck. Es besteht keine signifikante Korrelation zwischen dem Geschlecht und dem Motiv "politische Bedingungen": Männer nennen diesen Beweggrund, das Land zu verlassen, nicht signifikant häufiger als Frauen: Beta =0,011 P =0,5070 ns. Dagegen: Bauarbeiter nennen die "politischen Bedingungen" hochsignifikant häufiger als andere Männer: Beta =0,058 P =0,0003 ++. Das häufige Bekenntnis zu diesem Motiv ist also wiederum bauspezifisch. Das Geschlecht tritt nicht als intervenierende Variable auf. Zwischen der "persönlichen Unfreiheit" und dem Geschlecht besteht keine signifikante Korrelation: Beta = -0,027 P =0,0656 ns. Männer nennen die "Unfreiheit" nicht signifikant weniger als Frauen; Bauarbeiter nicht signifikant weniger als andere Männer: Beta = -0,001 P = 0,8985 ns. Die hohe Korrelation zwischen den Motiven "politische Bedingungen" und "persönliche Unfreiheit" bleibt als Pfad bestehen: Beta =0,426 P =0,0000 ++. Männer kreuzten die schlechten Arbeitsbedingungen hochsignifikant häufiger an als Frauen; Bauarbeiter nennen die Arbeitsbedingungen nicht signifikant weniger als andere Männer. Beta =0,159 P =0,0000 ++ (Pfad "schlechte Arbeitsbedingungen"/Geschlecht) Beta = -0,003 P = 0,8241 ns (Pfad "schlechte Arbeitsbedingungen"/Bau). Bei der negativen Bewertung der Arbeitsbedingungen in der ehemaligen DDR tritt zunächst das Geschlecht als intervenierende Variable auf. Männer nennen den Lebensstandard nicht signifikant weniger als Frauen; Bauarbeiter nicht signifikant häufiger als andere Männer. Der Pfad wirkt also nur über die Variable "schlechte Arbeitsbedingungen": Beta = 0,172 P = 0,0000 ++ (Pfad "Lebensstandard"/"schlechte Arbeitsbedingungen") Beta = 0,020 P =0,2128 ns (Pfad "Lebensstandard"/Bau)

112

D. Empirische Ergebnisse

Beta = -0,027 P = 0,0859 ns (pfad "Lebensstandard"/Geschlecht). Der niedrige Lebensstandard wird von allen Befragten negativ bewertet. Als letzte mögliche "Familienstand" .

intervenierende

Variable

testeten

wir

den

Abbildung 23

4. Pfad-Modell: Intervenierende Variable "Familienstand"

-0,042 -0,074

-0, 052

-0,009

r - - - - - - - - -

! >

>

r -

i

0, 052 -0,045 !-------I---------------~

1

'-------i,-------1---------------------,

,, ,,, ' - - - - - - - - - - : --> ,, ,

-0,041

0,042

:l _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ 0,011 _ _ _ _ _ _

t J

Es besteht zunächst eine hochsignifikante positive Korrelation zwischen dem Familienstand und der Variablen "im Bauwesen tätig": Bauarbeiter sind eher ledig, Beta = 0,060 P = 0,0001 ++. Des weiteren verzeichnen wir eine hochsignifikante negative Beziehung zwischen dem Familienstand und dem Motiv "Familie und Freunde sind in Westen": Beta =-0,074 P =0,0000 ++. Das heißt: Ledige reisen - naturgemäß - anderen weniger nach als Verheiratete. Bauarbeiter folgen der Familie oder den Freunden aber noch weniger nach als andere Ledige; zwischen "Familienstand" und "Bau" besteht eine hochsignifikante negative Korrelation: Beta = -0,052 P = 0,0004 ++.

II. Untersuchung der Wünsche und Motive

113

Hier handelt es sich also um eine bauspezifische Eigenart; der Familienstand tritt nicht als intervenierende Variable auf. Es besteht weiterhin eine hochsignifikante negative Korrelation zwischen dem "Familienstand" und dem Motiv "politische Bedingungen". Ledige gaben diesen Beweggrund hochsignifikant weniger an; Bauarbeiter aber hochsignifikant häufiger als andere Ledige. Die "politischen Bedingungen" bleiben als ein von den im Bauwesen Tätigen als wichtiger empfundenes Motiv bestehen: Beta =-0,045 P =0,0022 ++ (Pfad "politische Bedingungen"!Familienstand) Beta = 0,064 P =0,0000 ++ (Pfad "politische Bedingungen"/Bau). Ledige nannten die "persönliche Unfreiheit" hochsignifikant weniger als Verheiratete; Bauarbeiter gaben sie nicht signifikant weniger an als andere Ledige. Der Familienstand tritt als intervenierende Variable auf: Beta = -0,042 P = 0,0020 ++ (Pfad "persönliche Unfreiheit"/Familienstand) Beta = -0,009 P = 0,5033 ns (Pfad "persönliche Unfreiheit"JBau). Trotzdem gilt: Wer die politischen Bedingungen ankreuzte, tat das auch häufig bei dem Motiv der "persönlichen Unfreiheit". Hier bleibt die hohe Korrelation (Beta = 0,424) bestehen. Bei den Arbeitsbedingungen erhalten wir folgende Abhängigkeiten: Ledige Bauarbeiter nannten die schlechten Arbeitsbedingungen hochsignifikant mehr als andere Ledige: Beta =0,042 P =0,0049 ++ (Pfad "schlechte Arbeitsbedingungen"/Familienstand) Beta = 0,052 P = 0,0005 ++ (Pfad "schlechte Arbeitsbedingungen"/Bau). Die Wertung der schlechten Arbeitsbedingungen wird also nicht nur durch die intervenierende Variable "Familienstand" bestimmt, sondern ist auch bauspezifisch zu erklären. Den niedrigen Lebensstandard als Motiv für die Flucht/Übersiedlung nennen die Ledigen hochsignifikant weniger; Bauarbeiter aber nicht signifikant häufiger als andere Ledige. Der Familienstand tritt hier als intervenierende Variable auf: Beta =-0,041 P =0,0057 ++ (Pfad "Lebensstandard"!Familienstand) Beta = 0,011 P =0,4158 ns (Pfad "Lebensstandard"JBau). Der Pfad wirkt also nur über die Arbeitsbedingungen: Beta = 0,170 P =O,()()(X) ++. 8 Brenske

114

D. Empirische Ergebnisse

Resümee

Zunächst hat die Pfad-Analyse unsere Chi2-Test-Ergebnisse annähernd bestätigt. Keine signifikanten Differenzen zeigten die Ergebnisse der Gruppe I und der Gruppe III bei den Motiven "persönliche Unfreiheit", "niedriger Lebensstandard"; hochsignifikante Werte erhielten wir bei den Beweggründen "schlechte Arbeitsbedingungen", "Familie und Freunde sind im Westen"; signifikante Unterschiede zeigte das Motiv "politische Bedingungen". Der Lebensstandard wird von den Bauarbeitern nicht stärker kritisiert als von anderen Arbeitern. Auch Männer und Frauen unterscheiden sich dabei nicht. Bei der hohen Bewertung der "schlechten Arbeitsbedingungen" wirken als intervenierende Variablen das Geschlecht und das Alter, das heißt, die Arbeitsbedingungen auf dem Bau wurden auch deshalb so negativ bewertet - negativer als von der Gruppe III -, weil dort jüngere Männer arbeiten. An späterer Stelle im Vergleich der Gruppen I und III innerhalb der Fertigungsberufe wird diese Behauptung bestätigt: Die Altersunterschiede zwischen den Arbeitern im Bauwesen und in anderen Branchen sind nur signifikant; der Chi 2-Test, der das Motiv "Arbeitsbedingungen" hinsichtlich der Häufigkeitsverteilung berechnete, erbrachte ein nichtsignifikantes Ergebnis. Bauarbeiter empfinden die Unfreiheit nicht ganz so stark wie andere Arbeiter. Das Ergebnis widerspricht leicht den von uns erhobenen Daten zum Chi2Test im Gruppenvergleich (siehe S. 89) und dem Vergleich in der Branche der Fertigungsberufe (siehe S. 198). Wir erklären diese Abweichung damit, daß Bauarbeiter dann die persönliche Unfreiheit etwas stärker zum Ausdruck brachten, wenn sie auch die politischen Bedingungen stärker erwähnten. Bauarbeiter reisen weniger der Familie oder Freunden nach, weil sie jünger und häufiger ledig sind. Die politischen Bedingungen sind das einzige rein "bauspezifische" Motiv, das durch die Tätigkeit im Bauwesen als wichtiger empfunden wurde. Sind den Bauarbeitem politische Motive wichtiger als anderen, empfinden sie die politischen Zwänge stärker? Oder subsumieren sie ihre miserablen Lebensumstände allein unter die politische Verantwortung? Fühlen sie sich stärker der Arbeiterrechte enthoben als andere? Die Hauptfaktoren der schlechten Arbeitsbedingungen - Materialnot, niedriges technologisches Niveau und mangelnde Versorgung - finden ihre Ursache

Ir. Untersuchung der Wünsche und Motive

115

in der sozialistischen Wirtschaftspolitik. Haben die Bauarbeiter diese Verbindung in ihren Motiven hergestellt? Wir wollen die Interpretation wieder zunächst in Fragen formulieren; die "Wünsche", die als offene Frage konkretere Ergebnisse bringen, werden uns bei der Beantwortung weiterhelfen.

Zusammenfassung Motive - Das Flucht-/Übersiedlungsmotiv "politische Bedingungen" wurde von allen Befragten als bestimmender Grund dafür genannt, warum das Land verlassen wurde; bei den Bauarbeitern wirkte es noch stärker als bei den anderen. In den einzelnen Gruppen zeigen sich Signifikante Unterschiede bei der Bewertung. - Ein weiteres wichtiges Motiv ist das der persönlichen Unfreiheit, das in allen vier Gruppen dominierte und nur von den im Bauwesen Tätigen (Gruppe 1/11) etwas stärker eingeschätzt wurde. - Arbeiter - sowohl Gruppe I als auch Gruppe III - kritisieren die Lebensbedingungen wesentlich schärfer als die Führungskräfte. - Bauarbeiter sind mit den Arbeitsbedingungen am unzufriedensten; es ergeben sich hochsignifikante Unterschiede zu den anderen Gruppen. - Das Motiv "Familie und Freunde sind im Westen" hat für die Bauarbeiter vorwiegend ledige Männer - die geringste Bedeutung, für die Kader der Gruppe IV die größte; in dieser Gruppe ist der Frauenanteil am höchsten. - Im Zeitverlauf zeigt sich, daß die politischen und Freiheitsmotive an Bedeutung verloren, während Arbeitsbedingungen und Lebensstandard häufiger genannt wurden. - Als das einzige "bauspezifische" Flucht-/Übersiedlungs-Motiv treten die "politischen Bedingungen" auf. Bei den anderen Beweggründen wirken die intervenierenden Variablen Alter und Geschlecht. - Der "niedrige Lebensstandard" wird von allen gleich stark kritisiert.

116

D. Empirische Ergebnisse

2. Wünsche der Befragten für das zukünftige Leben in der Bundesrepublik Deutschland "Wenn Sie Ihre Wünsche und Vorstellungen über Ihr zukünftiges Leben in der Bundesrepublik nennen sollten, was glauben Sie, wird in der Bundesrepublik besser für Sie sein?" (rab. 42 - 46).

Die offene Frage nach den Wünschen diente als Kontroll- und Ergänzungsfrage zu den Motiven. Zudem erhielten wir durch die offenen Fragestellungen ein weites Spektrum von Antworten, das auch Aspekte beinhaltete, die wir niemals hätten erfragen können. Hier äußerten sich die Gruppen frei zu ihren Vorstellungen über das Leben in der Bundesrepublik.

11. Untersuchung der Wünsche und Motive

117

Diagramm 24

Wünsche der Flüchtlinge/Übersiedler hinsichtlich des zukünftigen Lebens in der Bundesrepublik % 140

• Gruppe' (N 1.158) 127 119.9

120

e

Gruppe 11 (N 153)

o Gruppe

"' (N 3.957)

Im Gruppe ,V (N 1.318)

100 80 60

40 20

o

Freiheitliche on! GeselllChoft_litische llaterielle Aspekte des Sozioie on! hurnaniltiache Aspekt. Aapekt. da Lebene lebena gesuncJ'l!itliche _ Lobono AopeIct. _ Loben.

Indiviulle on! fomili&r. Aspekt. da. Lobono

Wünsche Melwfochnenrulgen auf der GnnIloge von 6.586 Befragten;

Z.ilrcun: 10. tO.B9 - 30.06.90

Wir faßten die Wünsche thematisch unter verschiedenen Aspekten zusammen. Deutlich wird anhand der ersten Tabelle (Tab. 42), daß die Baukader die ideellen Wünsche, die Freiheit und Humanismus betreffen, am häufigsten nannten, gefolgt von den anderen Führungskräften. Sehr viel weniger Arbeiter äußerten sich in dieser Hinsicht, am wenigsten die Arbeiter der Gruppe III. Insgesamt aber rangierte der Ruf nach Freiheit mit ganz oben in der Hierarchie der Wünsche.

D. Empirische Ergebnisse

118

Tabelle 42

Wünsche, die freiheitliche und humanistische Aspekte des Lebens betretTen (Mehrfachnennungen auf der Basis von N 6.586) I

Wünsche

II

III

IV

in %

in %

in %

Persönliche Freiheit

16,7

30,3

17,3

22,5

Reisefreiheit

11,1

12,7

10,2

12,6

Freiheit

9,5

6,3

10,6

6,0

Meinungsfreiheit

8,0

7,7

7,4

9,1

politische Freiheit

7,1

8,5

5,2

8,8

Möglichkeit der Selbstbestimmung

4,7

2,8

3,7

5,4

keine Bevormundung

2,5

3,5

3,4

4,8

Lebensqualität

1,6

2,8

1,5

3,2

Menschlichkeit/Menschenwürde

1,8

-

1,2

0,9

Pressefreiheit

0,5

2,1

0,5

0,9

ideologiefreie Erziehung der Kinder

0,4

0,7

0,3

1,4

Grundrechte

0,5

1,4

0,4

0,7

Glaubens- und Gewissensfreiheit

0,3

2,8

0,3

0,7

weltoffenheit

0,2

0,1

0,8

0,2

0,3

-

wieder Deutscher sein

0,4

-

Leben ohne Heuchelei

0,1

0,7

-

-

-

-

Reisebedingungen

keine Angst vor keine Angst vor Nachbarn (Stasi) Frieden Total

-

65,4

82,3

62,3

in %

0,2 0,2 0,1 78,6

H. Untersuchung der Wünsche und Motive

119

Tabelle 43 Wünsche, die gesellschafts politische Aspekte des Lebens betreffen (Mehrfachnennungen auf der Basis von N 6.586) I Wünsche Leistungsprinzip

II

III

IV in %

in %

in %

in %

6,6

11,3

4,9

8,1

saubere Umwelt

4,4

5,6

4,7

8,7

bessere Zukunft für die Kinder

1,0

6,3

2,5

4,9

alles

2,5

2,1

2,5

1,4

bessere Politik

1,7

2,1

1,7

1,1

bessere Zukunft

0,9

0,7

1,3

0,3

perspektive

0,5

-

0,7

1,1

Umweltschutz

0,3

0,7

0,3

0,9

bessere Organisation

0,3

1,4

0,2

-

politisches Interesse

0,2

-

0,4

0,4

umfassendes Kulturangebot

0,4

-

0,4

1,1

Arbeit mit moderner Technik

0,2

2,8

0,4

0,3

Dienstleistung

0,1

-

0,2

0,4

Preispolitik

0,1

-

-

0,1

vielfältigkeit

-

-

0,1

0,1

Alternativschulen

-

-

0,1

Realisierung des Berufsethos

-

-

-

0,1

19,5

25,3

Total

19,9

28,8

Die gesellschaftspolitischen Aspekte des Lebens betrafen wiederum am stärksten die Bau- und auch die anderen Kader. Nahezu gleich häufig äußerten sich die Gruppen der Arbeiter.

120

D. Empirische Ergebnisse

Tabelle 44 Wünsche, die materielle Aspekte des Lebens betreffen (Mehrfachnennungen auf der Basis von N 6.586) I

II

III

IV

Wünsche

in %

in %

in %

in %

Arbeits- und Lebensbedingungen

48,5

33,8

43,3

35,1

Lebensstandard

35,2

23,9

35,7

29,4

bessere Wohnung

10,2

8,5

15,1

11,8

höherer Verdienst

13,8

6,3

10,8

7,7

Versorgung

9,4

7,7

7,5

6,8

Reisemöglichkeiten

4,3

3,5

3,9

4,4

wirtschaftliche Lage

1 3

0,7

0,9

0,6

schneller ein Auto

1,1

0,7

0,5

0,8

Währung

0,8

0,7

0,5

0,6

freie Marktwirtschaft

0,4

0,7

0,6

0,8

Wohnverhältnisse

0,4

-

0,6

0,8

Wohlstand

1,4

0,7

0,5

0,1

keine Materialmängel

0,2

-

-

0,1

Total

127,0

87,2

119,9

99,0

Die Wünsche nach materieller Sicherheit und Zufriedenheit dominieren bei den Arbeitern; mit deutlichem Vorsprung liegen die Bauarbeiter vorne, gefolgt von der Gruppe III. Die Baukader hielten sich in materiellen Wünschen am meisten zurück. Insgesamt aber scheinen die materiellen Aspekte des Lebens für das zukünftige Leben in der Bundesrepublik die wichtigsten für alle Gruppen gewesen zu sein, so daß sich - mit Schwerpunkt auf denen, die nach Grenzöffnung kamen - doch ein Trend zum "Wirtschaftsübersiedler" abzeichnen läßt (siehe Schlüter 1991).

121

11. Untersuchung der Wünsche und Motive

Tabelle 45 Wünsche, die soziale und gesundheitliche Aspekte des Lebens betreffen (Mehrfachnennungen auf der Basis von N 6.586) I Wünsche bessre ärztliche Betreuung

II

III

IV

in %

in %

in %

in %

2,8

4,9

3,3

5,0

besseres Freizeitangebot

2,4

4,9

2,4

3,4

soziale Sicherheit

2,4

7,0

2,0

1,5

Ernährung ("Vitamine" )

0,6

2,1

1,5

1,2

Sauberkeit

0,3

2,1

0,5

0,8

Rente

0,5

0,9

0,2

0,4

0,5

Gesundheit und Wohlbefinden

0,1

-

0,4

ausgeglichener Lebenswandel

0,3

0,3

0,1

-

10,9

13,6

Kinderfreundlichkeit Total

9,3

21,0

Der Wunsch nach sozialer Sicherheit und ein Gesundheitsbewußtsein schlagen sich am deutlichsten bei den Baukadern nieder. Am wenigsten äußerten sich dazu die Bauarbeiter. Auch bei den familiären und individuellen Aspekten des Lebens erhofften sich die Kader für die Zukunft im Westen deutlich mehr als die Arbeiter. Zwischen den Gruppen I und III sowie 11 und IV bestehen dabei kaum Unterschiede.

122

D. Empirische Ergebnisse

Tabelle 46

Wünsche, die individuelle und familiäre Aspekte des Lebens betreffen (Mehrfachnennungen auf der Basis von N 6.586) I

II

in %

in %

in %

in %

berufliches Weiterkommen

3,1

7,0

3,4

6,4

Familienzusammenführung

1,2

1,4

2,6

4,4

persönliche Entfaltungsmöglichkeiten im Beruf

1,6

4,2

1,6

3,7

harmonisches Familienleben

1,8

0,7

1,4

2,6

Weiterbildung

1,2

1,4

1,4

2,5

gesellschaftliche Anerkennung

1,3

2,1

0,9

1,3

Selbständigkeit

0,6

3,5

0,7

1,3

persönliche Entwicklung

0,9

2,8

0,7

0,4

Selbstverwirklichung

0,5

2,1

0,5

0,7

Freunde und Bekannte sind im Westen

-

-

0,7

0,4

freundlicher Umgangston

0,2

0,7

0,2

0,7

soziales Umfeld

0,1

0,3

0,6

0,4

0,3

Wünsche

III

IV

Freundlichkeit der Menschen

0,1

-

Berufserfolg nicht von der Parteizugehörigkeit abhängig

0,3

-

0,2

0,7

Arbeitsdisziplin

0,2

0,7

0,3

0,2

-

-

0,1

0,8

0,2

0,3

0,1

0,1

-

0,1

-

0,1

Individualität Studium

-

gepflegte Umgangsformen

0,1

Egoismus ausleben können

-

sportliche Karriere

-

Total

13,2

26,6

15,7

27,6

11. Untersuchung der Wünsche und Motive

123

3. Neue Gründe für die Übersiedlung der Untersuchungsgruppen nach GrenzöfTnung

Diagramm 25 Angegebene Gründe für die Übersiedlung nach GrenzötTnung • Gruppe I (N 700)

120

EI Gruppe 11 (N 74)

100

[JJ Gruppe IV (N 694)

o Gruppe

111 (N 2.323)

80 60 40 20

o

Mißtrauen in Politik und Wirtschaft

WohrIoc:hne-1nungen