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German Pages 177 [180] Year 1969
BAROCKER EXPRESSIONISMUS?
SSGS
STANFORD STUDIES IN G E R M A N I C S A N D SLAVICS
Edited by E D G A R L O H N E R , C. H. V A N S C H O O N E V E L D , F. W. S T R O T H M A N N
V O L U M E VI
1969 MOUTON THE HAGUE - PARIS
BAROCKER EXPRESSIONISMUS ? ZUR PROBLEMATIK DER BEZIEHUNG ZWISCHEN DER BILDLICHKEIT EXPRESSIONISTISCHER UND BAROCKER LYRIK
von GISELA LUTHER
1969 MOUTON T H E H A G U E - PARIS
© Copyright 1969 in The Netherlands Mouton & Co. N.V., Publishers, The Hague. No part of this book may be translated or reproduced in any form, by print, photoprint, microfilm, or any other means, without written permission from the publishers.
LIBRARY OF CONGRESS CATALOG CARD NUMBER: 78 - 108140
Printed in The Netherlands by Mouton & Co., Printers, The Hague.
Meinen Eltern
VORWORT
In Abhandlungen über expressionistische Literatur begegnet man immer wieder Hinweisen auf Ähnlichkeiten, Übereinstimmungen, verwandtschaftliche Beziehungen des Expressionismus mit dem Barock. Diese Hinweise sind keineswegs auf die ältere, dem Expressionismus zeitlich nahe stehende Sekundärliteratur der geistesgeschichtlichen Richtung beschränkt, die, zusammen mit Äußerungen von Expressionisten über ihr Selbstverständnis, den Ausgangspunkt des Postulats einer Stilverwandtschaft bildet, sondern sie setzen sich bis in die sechziger Jahre fort. 1 Lediglich der Nachdruck verschiebt sich innerhalb der behaupteten Parallelen: von den menschheitstypologischen Kategorien (die Formen, in denen der „gotische," „barocke," „expressive" Mensch sich Ausdruck verschaffe, seien zu allen Zeiten verwandt, ja in den wesentlichen Merkmalen identisch)2 zu den stilpsychologischen und pseudostilistischen, die zum großen Teil nach dem Prinzip der wechselseitigen Erhellung der Künste gewonnen sind, und schließlich zu Vergleichen zwischen der Bildlichkeit der beiden Literaturperioden.8 Verweise vom Barock auf den Expressionismus sind vergleichsweise selten. Sie treten seit etwa 1945 sporadisch auf, und zwar vorwiegend in Vorworten von Anthologien barocker Lyrik, die durch den Hinweis auf die „Ähnlichkeit" gewisser moderner, namentlich 1
Vgl. die Nachweise in den Anmerkungen zu SS. 18-20. Vgl. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (Bern, 3/1961), S. 21: „Der .gotische Mensch' [dem Huizinga einen .prägotischen' Kameraden beigegeben hat] ist am populärsten geworden, doch dürfte ihm der .Barockmensch" nicht viel nachstehen." s Eine Übersicht über die postulierten Parallelen, in vier Kategorien geordnet, findet sich unten auf SS. 18-20.
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VORWORT
expressionistischer Dichter einem breiteren Publikum die Dichtung einer älteren Periode nahe bringen und ihr aus dem Blickwinkel zeitnäherer Kunst den Anschein des Modernen oder Vertrauten geben möchten. Sonst findet sich die Blickrichtung vom Barock auf den Expressionismus in der Kuhlmann-Literatur mit rechtfertigender Absicht. So sieht Curt Hohoff 1953 in Kuhlmanns Gedichten einen „Expressionismus strudelnder Inbrunst." 4 Sebastian Heller empfiehlt 1951, „zum besseren Verständnis [sc. von Kuhlmanns Dichtung] von uns zeitlich näher liegenden, vertrauteren Zeugnissen eines ekstatischen Dichtertums aus [zu]gehen. So von . . . den Sprachexplosionen des jungen Johannes R. Becher." Auch Karl Wolfskehl zieht er wegen seiner „dionysischen, apokalyptischen und ekstatischen Ergriffenheiten" heran.5 Johannes Klein erkennt 1954, von der Bildwahl her, bei Kuhlmann „expressionistische Vision", und „da es sich um Gestaltung innerer Dinge handelt, kommt eine merkwürdige Verwandtschaft mit dem Expressionismus heraus."® Manfred Windfuhr kommt in einer neuen umfangreichen Arbeit von der Untersuchung barocker Bildlichkeit her zu der Feststellung: „Die meisten der barocken Stilvarianten wirken sich in der expressionistischen Bildlichkeit aus, einschließlich der grotesken und schwülstigen. Am deutlichsten und ausgedehntesten sind aber die Wirkungen des Affektstils." 7 Paul Fechter hält in seiner Literaturgeschichte von 1957 für die Expressionisten „das Barock [für] führend und beispielgebend."8 Karl August Horsts Buch aus dem gleichen Jahr sieht in Georg Heyms Gedichten „das eingeborene Maß echter Vision" und stellt fest, daß hier noch einmal barocke Kunst aus deren eigenen Voraussetzungen erwächst. Barock mit seinem Widerstreit zwischen Mythos und Ratio, zwischen quellender Vielgestaltigkeit und gesuchter Symmetrie, zwischen Relativität der visionären Perspektive und Absolutheit des zentralen Gedankens, zwischen Vergänglichkeitsschauer und mystischer Verklärung erscheint hier noch einmal unter modernen Vorzeichen.» 4
Nachwort zu Lyrik des Abendlandes, Hrsg. Georg Britting (München, o.J., 1953). 8 „Quirinus Kuhlmann", Castrum Peregrini, II (1951), S. 5 ff., bes. S. 28 f. 8 Geschichte der deutschen Lyrik (Wiesbaden, 1954, 2/1960). 7 Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker: Stilhaltungen in der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts (Stuttgart, 1966), S. 201 f. 8 Geschichte der deutschen Literatur (Gütersloh, 1957), S. 481. » Die deutsche Literatur der Gegenwart (München, o.J., 1957), S. 220.
VORWORT
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Wilhelm Duwe zieht noch 1965 ungezählte Verbindungslinien zwischen der Lyrik und Prosa des Expressionismus zum Barock, wobei er sich — im Rückgriff auf die Methode der zwanziger Jahre — vor allem auf Wölfflins Ausdruckskategorien beruft.10 In der geistesgeschichtlichen Phase der Literaturgeschichtsschreibung - bei Oskar Walzel, Arthur Hübscher, Ferdinand Josef Schneider, Wolfgang Paulsen, Werner Mahrholz und anderen —, sowie bei den Theoretikern des Expressionismus — vorwiegend bei Kasimir Edschmid, Max Deri und Kurt Pinthus11 —, waren es umfassende Begriffe wie „Transzendenzdrang", „Dualismus", „Maßlosigkeit" und viele andere mehr, welche die weltanschauliche Grundhaltung beider Literaturperioden umschlossen und so zu der bekannten synthetischen Perspektive und zum Postulat eines „barocken Expressionismus" führten. In neuerer Zeit - wie teilweise auch schon bei Ferdinand Josef Schneider,12 der sich auf übereinstimmende Verwendung von Bildern von „Tod und Verwesung", des „Kranken, Gebresthaften, Verstümmelten", „ekel- und grauenerregende[r] Natürlichkeiten" und der „jüdischen Apokalyptik" berief und von daher allerdings noch auf gemeinsame geistige Grundkräfte schloß - ist es die deskriptive Methode der Bildklassifizierung nach thematischen Gesichtspunkten der „Bild- und Herkunftsbereiche" und nach den überkommenen Ausdruckskategorien wie „affekthaft" und „dynamisch" oder beschreibend wertenden wie „dekorativ", „häßlich", die für die These einer Stilverwandtschaft verantwortlich ist.18 Die vorliegende Studie untersucht nun, ob die Behauptungen einer Verwandtschaft zwischen der Bildlichkeit der Lyrik des 17. Jahrhunderts und des Expressionismus, für die man bisher den Beweis schuldig geblieben ist, aufrecht erhalten werden können.14 10
Ausdrucksformen deutscher Dichtung vom Naturalismus bis zur Gegenwart; eine Stilgeschichte der Moderne (Berlin, 1965), SS. 206, 226. 11 Die Positionen dieser Gruppen werden im ersten Kapitel ausführlich behandelt. " Der expressive Mensch und die deutsche Lyrik der Gegenwart: Geist und Form moderner Dichtung (Stuttgart, 1927), SS. 88, 92, 95. " So bei Windfuhr, a.a.O. 14 Die Einschränkung auf die Untersuchung von Bildern ergab sich nicht nur aus der Notwendigkeit des einzuhaltenden räumlichen Rahmens der Arbeit. Die Bildlichkeit der beiden Perioden ist unter den behaupteten Parallelen die einzige, konkreten Untersuchungen zugängliche Vergleichskategorie, wenn man
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VORWORT
Nach einer Untersuchung der Genese und Geschichte der stiltypologischen Zuordnung des Expressionismus zum Barock werden im zweiten Kapitel Bilder aus Barock und Expressionismus, die in der Sekundärliteratur miteinander verglichen worden sind, auf ihre behauptete Verwandtschaft untersucht. Eine vergleichende Analyse von selbst zusammengestellten Bildern beider Epochen verbot sich offensichtlich und selbstverständlich. Das zu untersuchende Material war daher gegeben, es wurde nicht ausgewählt. Da trotz der vorhandenen Fülle von Hinweisen auf „barocken Expressionismus" nur in den seltensten Fällen Belege geliefert werden und da diese vorwiegend Gryphius und Heym berücksichtigen, ergab sich der gleiche Schwerpunkt auch für meine Untersuchung. Da mein Ziel nicht die Erarbeitung von allgemeinen barocken oder expressionistischen Stilkriterien ist, gehe ich rein empirisch vom gegebenen Text in seinem Kontext aus und lasse grundsätzlich nichts außer acht, was die Funktion eines Bildes im Gedicht beeinflußt oder bewirkt, seien es grammatische oder logisch-kausale Bildzusammenhänge, Verankerung in der Tradition, historische Nuancen der Wortbedeutung, Tingierung eines Bildes durch ein anderes, bekannte Bildbedeutungen oder bekannte Bildpraxis bei einem Dichter; kurz allé Faktoren, die zur Erhellung des Stellenwerts eines dichterischen Bildes beitragen können, sofern sie sich aus dem Sprachwerk selbst, aus dem Gesamtwerk des Dichters oder, im 17. Jahrhundert, aus der konventionellen poetischen Praxis herleiten lassen. Die Ergebnisse dieser Bilduntersuchungen werden im dritten Kapitel durch eine Darstellung der Auffassung des 17. Jahrhunderts von Herkunft und Funktion der Bilder im Gegensatz zur modernen Auffassung erweitert. Eine Analyse von Bildern des Grotesken und des Häßlichen, oft in beiden Perioden festgestellt und als Beweis der Verwandtschaft herangezogen, folgt. Hier werden außer Gryphius und Heym auch andere Dichter berücksichtigt. Gerade aus diesen Bildern wird deutlich, daß es manche an der Ästhetik seit der deutschen Klasvon der in beiden Perioden konstatierten häufigen Verwendung von rhetorischen Figuren, wie Antithesen, Asyndeta etc. absieht. Eine vergleichende Betrachtung solcher Stilfiguren wäre jedoch nur als Teil einer umfassenden Stilanalyse sinnvoll gewesen, zu der das methodische Handwerkszeug und die notwendigen Vorarbeiten in Teilgebieten noch nicht vorliegen.
VORWORT
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sik orientierten Vorstellungen sind, durch die wir die Dichtung des 17. Jahrhunderts sehen wie durch einen umfärbenden Schleier und daß es nur aus dieser falschen Perspektive zu den Behauptungen einer Stilverwandtschaft des Expressionismus mit dem Barock kommen konnte. Ich verwende die literarhistorischen Periodenbegriffe „Barock" und „Expressionismus" sowie ihre Adjektive, durchaus im Bewußtsein der Problematik dieser Termini, und zwar nenne ich „Barock" die Literatur des 17. Jahrhunderts in der Abgrenzung, die Albrecht Schönes Das Zeitalter des Barock18 zugrundeliegt, und rechne zum „Expressionismus" in der Lyrik die Dichter der Menschheitsdämmerung19 und der von Gottfried Benn eingeleiteten Anthologie Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts,17 die sich im wesentlichen decken. Die Diskussion des Problems der Periodisierung, besonders um das Für und Wider der konventionellen Bezeichnungen für die Literatur des 17. Jahrhunderts und des Jahrzehnts von 1910-1920, ist seit ungefähr zwanzig Jahren ununterbrochen im Gang, ohne daß die Forschung bisher zu neuen Resultaten gekommen wäre.18 René Wellek stellt 1946 fest: „There seems to me no contradiction between a recognition of the inevitable arbitrariness and multiple connotations of a term and a defense and even recommendation of its use. . . . it seems to me
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Das Zeitalter des Barock: Texte und Zeugnisse, Hrsg. Albrecht Schöne. „Die deutsche Literatur: Texte und Zeugnisse", Hrsg. Walther Killy et al. (München, 1963). 19 Menschheitsdämmerung: Ein Dokument des Expressionismus, Hrsg. Kurt Pinthus (Hamburg, 1959). 17 Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts: Von den Wegbereitern bis zum Dada, eingeleitet von Gottfried Benn (Wiesbaden, 1955). 18 Einen guten Einblick in die Problemlage gibt Hans P. Teesing, Das Problem der Perioden in der Literaturgeschichte (Groningen, 1948). Zu „Barock" vgl. René Wellek, „The Concept of Baroque in Literary Scholarship", Journal of Aesthetics and Art Criticism, V (1946), 77-109; abgedruckt in René Wellek, Concepts of Criticism, Hrsg. S. G. Nichols, Jr. (New Haven, London, 1963), S. 69 ff. Dort, S. 115 ff, auch sein „Postscript 1962"; Hans Tintelnot, „Zur Gewinnung unserer Barockbegriffe", Die Kunstformen des Barockzeitalters, Hrsg. Rudolf Stamm (Bern, 1956); Manierismo, Barocco, Rococo: Concetti e Termini, „Accademia Nazionale dei Lincei", Anno CCCLIX, 1962, Quaderno 52 (Roma, 1962). Zu „Expressionismus" vgl. Elisabeth Boise, „Expressionismus als literarhistorischer Periodenbegriff" (Diss., Masch., New York University, 1963).
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VORWORT
still good sense to recommend the term {sc. baroque}, while recognizing all its difficulties and the increasing welter of its meanings."1" Zum Expressionismus-Begriff schreibt Elisabeth B. Boise 1963: „Obwohl sich eine allgemeine Skepsis gegenüber dem Begriff des literarischen Expressionismus in der Literaturwissenschaft bemerkbar gemacht hat, ist es noch nicht zu einer eindeutigen Stellungnahme der neueren Forschung zu diesem Problem gekommen."20 Das gilt heute noch; und so bleibt der vorliegenden Studie, deren Ziel nicht ist, neue literarhistorische Einteilungskriterien zu erarbeiten, nur der Rückgriff auf die eingeführten Termini. Meinem Lehrer, Herrn Professor Edgar Lohner, der die vorliegende Untersuchung anregte, danke ich für stets großzügig gewährten Rat und verständnisvolle Förderung, Herrn Professor Walter H. Sokel für nützliche Hinweise und Herrn Professor Karl Ludwig Schneider, Hamburg, für Anregungen zu Beginn der Arbeit. Mein Dank gilt auch dem Department of German at Stanford University für finanzielle Unterstützung des Drucks. Stanford University, California Januar 1968
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Concepts, S. 127. S. 144.
GISELA LUTHER
INHALT
Vorwort I.
II.
Die Genese der stiltypologischen Zuordnung des Expressionismus zum Barock A. Die gängigen vergleichenden Begriffe in der Kritik und Literaturgeschichte. (Tabellarische Übersicht) . . B. Die Entwicklung eines Begriffsapparats zur Beschreibung aller nichtklassischen Kunst 1. Kunsthistorie und Ästhetik: Die Wesensgesetzlichkeit nichtklassischer Kunststile 2. Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft . . 3. Expressionistische Theoretiker Geistesgeschichtliche 4. Expressionismus-Forschung: Wesensschau und stiltypologische Analogie . . . C. Synopsis: Die Kontinuität der Begriffe. Worringer, Wölfflin, Strich, Hübscher D. Die Entdeckung der Barockliteratur eine Leistung „des Expressionismus" ? Vergleichende Untersuchungen von Bildern aus barocker und expressionistischer Lyrik Vorbemerkung: Zur Methode 1. „Der schnelle Tag ist hin/ die Nacht schwingt jhre fahn" (Gryphius) „Der Abend steht am Rand, die schwarze Fahne Trägt seine Faust." (Heym)
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INHALT
2. „Die Sonne rennt ins Meer/ der Abend ist verhanden" (Gryphius) „ . . . Da kommt mit gelbem Hut Der Mond gerannt." (Heym) 3. „Der Sonnen grosse Flucht" (Gryphius) „Der Monden fleucht bestürtzt" (Gryphius) „Und vor dem Sturm einher am Himmelsraum Entfliegt mit schnellem Flug der Abendstern" (Heym) 4. „Der Monden steht in Blutt" (Gryphius) „Die Sonne blutig" (Heym) 5. „Des Mondes silbern Angesicht Wird blutrot vor Erschrecken."(Angelus Silesius) „Den blutrot dort der Horizont gebiert" (Heym) 6. „ . . . wie heult das wüste Bellen Der tollen Stürm uns an." (Gryphius) „ . . . und es saust Der Wind die Gänge fort, der bellend schreckt Den Staub der Grüfte auf." (Heym) . . . . 7. „ . . . wo auf das harte Knallen Der Donoer/alle Wind in Flack und Seile fallen" (Gryphius) „wenn die Stürme sich in deines Schiffes Rippen krallen" (Stadler) 8. „bald donnern die beschwerden" (Gryphius) „Das Fieber donnert" (Heym) 9. „Ihr/die ihr von dem Sturm der rauhen Angst umfangen" (Gryphius) „Ihr, die der Sturm der Qualen stets durchrast" (Heym) 10. „Wenn man deß Teuffels Braut/ der rohen tollen Welt Die truncken von dem Glück an itzt ihr Fraßfest hält" (Gryphius) „Der Tod hält Schlachtfest in den weiten Reihn" (Heym)
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INHALT
11. „Das Fleisch/das nicht die Zeit verletzt Wird vnter Schlangen-blauen Schimmel Von vnersätlichem gewimmel Vielfalter Würmer abgefretzt. (Gryphius) „Und der Verwesung blauer Glorienschein Entzündet sich in unsrem Angesicht." (Heym) . 12. "Was merck ich in den Brüsten zischen? Mich düncket/daß ich Schlangen hör Mit Nattern ihr Gepfeiffe mischen." (Gryphius) „Die grüne Schlang vmbzog das liebliche Gesicht" (Gryphius) „Wo nicht der Schlangen Heer zischt durch den wüsten Schlund" (Gryphius) „ . . . itzt flechten schwartze schlangen Sich vmb das weite maul" (Gryphius) „ . . . Ein langer, weißer Aal Schlüpft über ihre Brust." (Heym)
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III. Erweiterte Untersuchungen zur Bildlichkeit beider Epochen A. Grundsätzliches über die Bildauffassung im 17. Jahrhundert: Gegensatz zur Moderne B. Zwei wichtige Bildtypen in Barock und Expressionismus. 1. Bilder des Grotesken 2. Bilder des Häßlichen (Mit Anmerkungen betr. „Ausdruck" im 17. Jahrhundert)
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IV. Zusammenfassung
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Bibliographie der zitierten Literatur
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DIE GENESE DER STILTYPOLOGISCHEN ZUORDNUNG DES EXPRESSIONISMUS ZUM BAROCK
A. DIE GÄNGIGEN VERGLEICHENDEN BEGRIFFE IN DER KRITIK UND UTERATURGESCHICHTE
Die Durchsicht der literarhistorischen Arbeiten seit Beginn der zwanziger Jahre ergab, daß sich Vergleiche zwischen der Literatur des Expressionismus und der des Barock eines Katalogs immer wiederkehrender Begriffe bedienen, die ich im folgenden in vier Gruppen zusammenstelle. Die Trennung von Gruppe I und II ist insofern willkürlich, als die Zugehörigkeit der einzelnen Begriffe zur einen oder anderen Gruppe bei den meisten Autoren nicht herausgearbeitet ist. Wenn Ferdinand Josef Schneider1 differenziert zwischen der „Empfindungsweise" (zum Beispiel „dualistisches Weltgefühl": das Innenleben ist von gewaltiger Dynamik durchflutet), dem daraus entstehenden „Ausdrucksbedürfnis" und seinem „Gestaltungsprinzip" (zum Beispiel „Bewegung"), und schließlich den „Ausdrucksformen" als den Manifestationen der Empfindungsweise, so bildet er mit solcher Unterscheidung die löbliche Ausnahme. Charakteristisch für die Vermischung von Empfindungsweise und ihrem Ausdruck ist es vielmehr, wenn Oskar Walzel formuliert: „Eine gewaltige innere Spannung wurde zu stärkster Wirkung zusammengedrängt."2 Die Begriffe der Gruppe I treten in der kritischen Literatur nicht nur zur Bezeichnung psychischer Befindlichkeiten auf, sondern werden teilweise auch als Stileigenschaften präsentiert. Die Gruppen III und IV enthalten die einzigen formalen, wenn auch 1
S. 62. Oskar Walzel, Die deutsche Literatur von Goethes Tod bis zur Gegenwart (Berlin, 5/1929), S. 107.
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DIE GENESE DER STILTYPOLOGISCHEN ZUORDNUNG
teilweise nicht eben deutlich formulierten Kategorien. Ihre behauptete Vergleichbarkeit in beiden Epochenstilen ist, soviel ich sehe, nirgends wirklich systematisch nachgewiesen. Die Autoren beschränken sich auf vag formulierte Behauptungen. Die Gruppen I und II umfassen Kategorien, wie sie der menschheitspsychologisch-typologischen Methode der Geisteswissenschaften im ersten Jahrhundertviertel geläufig waren. Die der ersten geben sich leicht zu erkennen als Merkmale des „geistigen" Menschen (Ludwig Klages), des „abendländisch-faustischen" (Oswald Spengler), „ideoplastischen" (Gustav Verworn), „gotischen" (Wilhelm Worringer, Karl Scheffler), „expressiven" (F. J. Schneider), gar des „germanischgotisch-barock-expressiven" Menschen (Oskar Walzel). 8 Gruppe II zeigt ebenfalls deutlich ihre Herkunft aus einer Zeit, in der Stil nur als Expression der geistigen Grundkräfte, der weltanschaulichen Grundhaltung einer Epoche interessierte und in der alle bisherigen Stilkategorien einer totalen „Metaphysizierung" 4 anheimfielen. I. Psychische Befindlichkeiten des Menschen allgemein, sowie des Künstlers gegenüber dem Werk 1. Transzendenzdrang (F. J. Schneider) 2. Dualismus (Wollen und Scheitern; Verjenseitigung und Diesseitigkeit) (Paulsen, Horst, Duwe, F. J. Schneider) 3. Kontrastgefühl (Paulsen) 4. Ekstase (F. J. Schneider) 5. Gefühlsüberschwang (Duwe) 6. Intensität des Gefühls (Duwe) 7. Maßlosigkeit (Walzel, Paulsen) 8. Menschenverachtung (F. J. Schneider) 9. Erleiden von Ohnmacht (Paulsen) 10. Angst vor dem Tode (F. J. Schneider, Paulsen) 11. Endzeitliche Bedrängungen und Hoffnungen (S. Heller) 3
Vgl. Jost Hermand, Literaturwissenschaft und Kunstwissenschaft (Stuttgart, 1965), S. 23. Terminus von Hans Epstein: Die Metaphysizierung in der literarwissenschaftlichen Begriffsbildung und ihre Polgen (Germanische Studien), Heft 73 (Berlin, 1929).
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DIE GENESE DER STILTYPOLOGISCHEN ZUORDNUNG
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II. Stilpsychologische Ausdruckskategorien 1. Bewegtheit (Walzel, F. J. Schneider; als unplastisches, musikalisches Prinzip bei Paulsen) 2. Überbewegtheit (Walzel) 3. Kraftgebärde (Walzel) 4. Wucht (Walzel, Paulsen) 5. Masse der Bewegung (Paulsen) 6. Übersteigerung des Ausdrucks (Walzel) 7. Stimmungsgewalt (Walzel) 8. Ausdrucksnot (Paulsen) 9. Visionärer Stil (Walzel, Klein) 10. Pathos (Stammler) 11. strudelnde Inbrunst (Heller) 12. dionysische, apokalyptische, ekstatische Ergriffenheiten (Heller) III. Stilistische Kategorien 1. Atektonik (Strich) z= Formabwerfung (Paulsen) 2. Antithetik (Hübscher, Paulsen, Duwe, Windfuhr) = Hell-Dunkel (Paulsen) 3. Verbalstil (Hübscher) 4. Partizipialstil (Paulsen) 5. Steigerung des Ausdrucks (G. Müller) = Intensivierung (Windfuhr) 6. Raffung (Duwe) 7. Ballung des Ausdrucks (G. Müller) 8. Wortfülle (Martini) 9. Schwellung (Paulsen) 10. Wortwiederholung (Merker-Stammler) 11. Häufung (Paulsen) 12. Sprachsprengung (Hocke) 13. Dadaistische Sprachformen bei Kuhlmann (Merker-Stammler, G. Müller) 14. Einheitlichkeit (Duwe) = Enteinzelung (Hübscher) = Konturlosigkeit (Walzel)
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DIE GENESE DER STILTYPOLOGISCHEN ZUORDNUNG
IV.
Bildlichkeit
1. Allegorie (Martini, Horst) 2. Concetti (Hocke) 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Concordia discors (Friedrich) Hyperbel (Walzel) Groteskheit (F. J. Schneider, Paulsen) Grauen- und Ekelerregendes (Walzel, Paulsen, F. J. Schneider) Darstellungen von Tod und Verwesung (Paulsen, Windfuhr) Naturalistische Vorstellungen (F. J. Schneider)
9. 10. 11. 12. 13. 14.
Kraßheit (Martini) Wuchtige Farben (d.i. kräftige Bildlichkeit) (Walzel) Vorliebe für den Orient (F. J. Schneider) Stimmungsparallelen (Martini) Entartungen (von der Leyen) Affekthafte Bildlichkeit (Windfuhr) Bilder des Grotesken, Schwülstigen, Animalischen und kosmischer Turbulenz. 8
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Die Begriffe stammen aus den folgenden Werken der genannten Autoren: Willi Duwe, Ausdrucksformen deutscher Dichtung vom Naturalismus bis zur Gegenwart; eine Stilgeschichte der Moderne (Berlin, 1965). - Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik (Hamburg, o.J., 1956). - Sebastian Heller, „Quirinus Kuhlmann", Castrum Peregrini, II (1951), 5 ff. - Gustav René Hocke, Manierismus in der Literatur: Sprach-Alchimie und esoterische Kombinationskunst (Hamburg, 1959). — Karl Aug. Horst, Die deutsche Literatur der Gegenwart (München, o.J., 1957). - Arthur Hübscher, „Barock als Gestaltung antithetischen Lebensgefühls. Grundlegung einer Phaseologie der Geistesgeschichte", Euphorion, XXIV (1922), 517 ff., 759 ff. - Johannes Klein, Geschichte der deutschen Lyrik (Wiesbaden, 2/1960). — Friedr. von der Leyen, Deutsche Dichtung in neuer Zeit (Jena, 1922). - Fritz Martini, „Georg Heym: Die Sektion", Das Wagnis der Sprache: Interpretationen deutscher Prosa von Nietzsche bis Benn (Stuttgart, 1954); Deutsche Literaturgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart (Stuttgart, o.J., 9/1958). - Günther Müller, Geschichte des deutschen Liedes vom Zeitalter des Barock bis zur Gegenwart (München, 1925). - Wolfgang Paulsen, Expressionismus und Aktivismus: Eine typologische Untersuchung (Bern und Leipzig, 1935). - Ferd. Jos. Schneider, Der expressive Mensch und die deutsche Lyrik der Gegenwart: Geist und Form moderner Dichtung (Stuttgart, 1927). - Oskar Franz Walzel, Die deutsche Literatur von Goethes Tod bis zur Gegenwart (Berlin, 5/1929).
DIE GENESE DER STILTYPOLOGISCHEN ZUORDNUNG
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B. DIE ENTWICKLUNG EINES BEGRIFFSAPPARATS ZUR BESCHREIBUNG ALLER NICHTKLASSISCHEN KUNST
1. Kunsthistorie und Ästhetik: Die Wesensgesetzlichkeit nichtklassischer Kunststile Dieser Begriffsapparat war allerdings nicht neu. Seitdem 1916 Fritz Strich® Heinrich Wölfflins für Renaissance- und Barockkunst erarbeitete Anschauungskategorien7 im Sinne einer wechselseitigen Erhellung der Künste auf den Literaturbarock angewandt hatte, wurde die Verwendung dieser Begriffe gang und gäbe. Sie finden sich, wenn auch nicht mehr als „Anschauungskategorien" im Sinne Wölfflins, sondern als völkertypologische oder Weltanschauungskategorien, als welche Wilhelm Worringer 8 sie 1908 verwendet hatte, bei Ludwig Coellen 1921,® dann in allen bedeutenden Arbeiten über den Literaturbarock, vor allem bei Arthur Hübscher.10 Es soll nun gezeigt werden, wie die grundlegenden Anschauungskategorien Wölfflins, bei Worringer ins Völkertypologische ausgeweitet, sich schließlich zu einem Begriffsapparat auswuchsen, der sich mit der kultursynthetischen Methodik der Zeit ohne weiteres auf die expressionistische Kunst anwenden ließ. Expressionistische Literatur, die, wie Gottfried Benn später formulierte, nicht „auf den Olymp . . . oder auf anderes klassisches Gelände [gelangte]," 11 konnte sich so als Ausdruck eines zyklisch wiederkehrenden „Weltbegriffs" 11 ver-
" Fritz Strich, „Der lyrische Stil des siebzehnten Jahrhunderts" (Festschrift für Franz Muncker), Abhandlungen zur deutschen Literaturgeschichte (München, 1916).
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Kunstgeschichtliche Grundbegriffe: Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst (München, 1915). Und: Renaissance und Barock: Eine Untersuchung über Wesen und Entstehung des Barockstils in Italien (München, 1888, 4/1925). 8 Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung (München, 1908, 12/ 1921).
• Ludwig Coellen, Der Stil in der bildenden Kunst: Allgemeine Stiltheorien und Studien dazu (Traisa-Darmstadt, 1921). 10 Vgl. oben, Anm. 5. 11 Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts, S. 20. » Hermand, S. 21.
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DIE GENESE DER STILTYPOLOGISCHEN ZUORDNUNG
stehen und erklären, der hinter aller nichtklassischen Kunst stehe. Die gleichzeitige und spätere Expressionismusforschung und -kritik haben ihre Behauptung der Parallelen zwischen Expressionismus- und Barockliteratur mit den gleichen, inzwischen traditionell gewordenen Begriffen formuliert, die selbst in neuesten Veröffentlichungen ständig wiederkehren. 1908 veröffentlichte Worringer im Gefolge Alois Riegls1' und Wölfflins 14 seine Arbeit Abstraktion und Einfühlung, die auf eine geradezu begierige Aufnahmebereitschaft getroffen sein muss: bis 1921 erlebte sie zwölf Auflagen.18 Worringer versuchte als erster, der Problematik einer einseitig klassisch orientierten Ästhetik auf den Grund zu gehen. An die Ästhetik von Theodor Lipps anknüpfend, 16 die er als „Einfühlungslehre"17 bezeichnet, versucht er zu zeigen, wie eine solche „moderne Ästhetik . . . für weite Gebiete der Kunstgeschichte nicht anwendbar ist." 18 Als „Gegenpol" postuliert Worringer eine Ästhetik, die außer dem Einfühlungstrieb auch den Abstraktionsdrang des Menschen als Antrieb eines möglichen Kunstwollens anerkennt. Dieser Abstraktionsdrang finde seine Befriedigung nicht, wie der Einfühlungstrieb, „in der Schönheit des Organischen", sondern im „lebenverneinenden Anorganischen, im Kristallinischen oder allgemein gesprochen in aller abstrakten Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit." 11 Damit hofft Worringer den Zugang zu öffnen zu jenem „ungeheuren Komplex von Kunstwerken, die aus dem engen Rahmen griechisch-römischer und modern okzidentaler Kunst hinaustreten,"20 welche bisher als unkünstlerisch der Nichtachtung anheimgegeben gewesen seien, da unsere Ästhetik „nichts weiter als eine Psychologie
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Alois Riegl, Stilfragen (Berlin, 1893, 2/1923). Heinrich Wölfflin, Renaissance und Barock: Eine Untersuchung über Wesen und Entstehung des Barockstils in Italien (München, 1888). 15 Vgl. oben, S. 21, Anm. 8. 18 S. 3. 17 S. 2. 18 S. 3. 18 S. 4. In Formprobleme der Gotik (München, Bern, 1911) wird „Ästhetik" f ü r die nichtklassischen Stile ersetzt durch „stilpsychologische Interpretation". Zitate nach der 6. Aufl. (München, 1920). 20 S. 6. 14
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des klassischen Kunstempfindens" 81 und ihr Paradigma die klassische Kunst sei.22 Worringer baut auf Alois Riegls bedeutenden Arbeiten auf, welche die Kunstgeschichte als eine Geschichte des Wollens, nicht länger als eine Geschichte des Könnens auffaßten; des Könnens nämlich, zu dessen Beurteilung lediglich das Kriterium der Annäherung an die Wirklichkeit, „an das organische Leben selbst"2S gegolten habe. Dem Kunstwollen liegt nach Worringer als Movens entweder der Einfühlungstrieb oder der Abstraktionsdrang zugrunde. Im ersten Falle ist das Ergebnis klassisch-naturalistische Kunst der Immanenz, im zweiten nichtklassisch-abstrakte Kunst oder Kunst der Transzendenz. Worringer geht nun freilich in seinem ersten Buch auf die Barockkunst als eine der nichtklassischen Perioden noch nicht ein, sondern stellt neben häufigen Hinweisen auf die Kunst der Primitiven und auf orientalische Kunst die Gotik heraus als Kunst der Ambivalenz und Disharmonie, als Produkt aus Einfühlungs- und Abstraktionsdrang, „Verlebendigung des Anorganischen", „Zwitterbildung [aus] Abstraktion einerseits und stärkste [ m ] Ausdruck anderseits."24 Soviel ich sehe, fällt das Wort "Barock" in Worringers Buch nur einmal, und zwar als „gotisches Barock"25 im Sinne der Spätphase der Gotik, "Barock" also als Bezeichnung für Spätstil schlechthin. Doch weitet er seine Theorie nichtklassischer Stile schon 1911 auf den Barock aus.28 Das „Stilphänomen des Barock" wird lediglich als eine neue Manifestation der durch die italienische Renaissancebewegung nur vorübergehend „unterdrückten gotischen Formenergien" 27 aufgefaßt, welche durch die Stärkung der religiösen Ideale in der Reformation gegenüber den humanistischen Bildungsidealen wieder zum Durchbruch kommen. Auf den transzendentalen Stil der Gotik folgt also . . . wieder ein transzendentaler Stil, das Barock. Und im nordischen Barock glaubt man deutlich « 22
S. 162. S. 163.
13
Abstraktion und Einfühlung, S. 13.
24
S. 142. S. 157.
25
2
Formprobleme der Gotik.
27
S. 79.
'
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Zusammenhänge zwischen ihm und der Gotik zu finden.... Wieder ist alles Bewegung, alles drängende Aktivität, alles Pathetik. Aber diese Pathetik kann sich nur durch die äußerste Steigerung und Anspannung der organischen Werte ausdrücken, der Weg zurück zu der höheren und hinreißenderen Pathetik abstrakter unsinnlicher Werte ist ihr durch die Renaissance versperrt. So sehen wir im Barock das letzte Aufwallen nordischen Formwillens, ein letztes Drangen, sich auch in einer ungeeigneten, ihm wesensfremden Sprache auszusprechen.« Die von Worringer nun für nichtklassische (gotische und barocke) Kunst festgestellten Stiltendenzen lagen, in gleicher oder ähnlicher Formulierung, schon in Wölfflins Buch von 1888 vor, das die begrifflichen Grundlagen der Barockforschung geschaffen hatte. Dort hatte Wölfflin als Hauptmerkmal des Barockstils, im Unterschied zur klassischen Renaissance, „das Malerische" erkannt, das er als Stil der „Bewegung", des „Werdens", der „Spannung", „Steigerung", des „Rhythmus", der „Ekstase" und „Berauschung", des „Drangs ins Unendliche", der „Atektonik" kennzeichnete. Schon bei ihm fand sich die Feststellung eines dem Barock immanenten „Hochdrangs" und des diesem entgegenwirkenden „Zugs zum Schweren": Worringers „Kräftebewegung."2» So war, nach Wölfflins empirischer Studie der römischen Barockkunst, durch Worringer der Versuch gemacht, der Würdigung nichtklassischer Kunststile das formal-ästhetische Fundament zu geben. Wandte er auch diese seine nichtklassische Ästhetik nicht in ausgearbeiteter Form auf die Barockkunst an, so liegt doch auf der Hand, daß sie erheblich dazu beitrug, den Blick für die barocken Formgesetze zu öffnen. Es ist überdies auffallend, wieviele Ideen der späteren Barock- und Expressionismusforschung bis ca. 1935, einschließlich des gesamten Begriffsapparats, schon in Worringers Studien von 1909 und 1911 angelegt sind. Wo im Einzelnen eine direkte Abhängigkeit von Worringer oder, weiter zurückgreifend, 88
S. 79 f. Wölfflin wiederholte 1915 dies'e Auffassung vom Barock als germanischer Kunst. Bei Strich, S. 22, findet sich die entsprechende Anwendung auf die Dichtkunst: „ . . . so konnte der deutsche Geist... seine eigene Art in der Form des romanischen Barock zum Ausdruck bringen. Indessen war doch dieser Geist viel zu bewegt und drangvoll, um sich den Grenzen solcher Form bequemen zu können. Indem er sie mit seinem Ausdruck füllte, zerbrach er sie auch schon." " Wölfflin, Grundbegriffe, SS. 23, 25, 29, 42, 60, 65, 69.
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von Wölfflin und Riegl vorliegt, interessiert in unserem Zusammenhang weniger als die Tatsache, daß Worringers Ästhetik nichtklassischer Kunststile dazu beitrug, eine Renaissance der Barockrezeption heraufzuführen; ferner däß sie einen Rahmen schuf, der breit genug war, sowohl den Barock als den Expressionismus aufzunehmen. Die Begrifflichkeit gar, mit der er operierte, schien beide Epochenstile zu bezeichnen und zur Deckung zu bringen, und so war es bis zur Bildung der synthetischen Periodenbegriffe, wie „barocker Expressionismus", nicht mehr weit.80 Wölfflins Kunstgeschichtliche Grundbegriffe81 lehnen, wie Worringen Kunstgeschichte als Geschichte der Entwicklung der Naturnachahmung, „als ob es sich dabei um einen gleichartigen Prozeß zunehmender Vervollkommnung handle," 88 ab und postulieren die Autonomie der einzelnen Stile. Auch für Wölfflin galt, „daß die Kunst immer gekonnt hat, was sie wollte, und daß sie vor keinem Thema zurückschreckte, weil sie 'das nicht konnte'." 88 Die verschiedenen Stile der Zeitalter, der Nationen oder der Individuen sind Ausdruck verschiedener „Lebensideale",84 verschiedener „Arten der Auffassung", denen verschiedene optische Schemata zugrundeliegen.85 Die menschliche „Anschauung" ist nicht ein unveränderlicher Spiegel, der das immer gleiche Bild, nämlich das Abbild der Umwelt, reflektiert; vielmehr ist Kunstgeschichte die Geschichte der sich als "lebendige Auffassungskraft" ständig wandelnden Anschauung.86 Wölfflin stellt ausdrücklich die Renaissance als klassische Epoche und den Barock als nichtklassische Epoche einander gegenüber mit den fünf Paaren von Anschauungskategorien,
80
Wie die Ideen Worringers in der späteren Forschung wiederkehren, wird noch bei der Besprechung der einzelnen Werke gezeigt werden. 81 Vgl. oben, S. 21, Anm. 7. » S. 13. » S. 242. 84 S. 10. „Das Verhältnis des Individuums zur Welt hat sich verändert, ein neues Gefühlsreich hat sich aufgetan, die Seele drängt nach Auflösung in der Erhabenheit des Übergroßen und Unendlichen. .Affekt und Bewegung um jeden Preis', so gibt der Cicerone in kürzester Formel die Charakteristik dieser Kunst." M S. 13. S. 237.
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linear flächenhaft geschlossene Form vielheitlich absolute Klarheit
malerisch tiefenhaft offene Form einheitlich relative Klarheit des Gegenständlichen.
Der Barock, das wird nun hier klar ausgesprochen, „oder sagen wir die moderne Kunst, ist weder ein Niedergang noch eine Höherführung der klassischen, sondern ist eine generell andere Kunst." 87 Wölfflin wendet den Begriff „Barock" jedoch nicht nur auf das 17. Jahrhundert an, sondern verwendet ihn, wie den Klassikbegriff, typologisch im Sinne eines periodisch wiederkehrenden Stiltyps. Klassik und Barock sind die beiden „Höhepunkte" 88 abendländischer Kunst. Es gab sie in der Antike, in der Gotik, in der Moderne, und die fünf Kategorien lassen sich auf diese periodisch wiederkehrenden „Klassik"- und „Barock"-Perioden anwenden. In der „Hochgotik" sieht Wölfflin die klassischen Elemente verwirklicht, und zwar in einer spezifisch gotischen Modifikation, in der „Spätgotik" hingegen die barocken Elemente.8» Der Gedanke von periodisch wiederkehrenden „klassik" und „Barock" Phasen als Hoch- und Spätformen der einzelnen abendländischen Kunststile war allerdings nicht neu: schon Jacob Burckhardt und Georg Dehio hatten die Theorie einer solchen Periodizität vertreten,4® und Wölfflin selbst hatte schon im Vorwort zur ersten Auflage von Renaissatice und Barock, 1888, von „antikem »'
S. 13. S. 14. S. 243: „die malerischen Effekte der vibrierenden Form" in der Spätgotik. 40 S. 244. Alois Riegl vertrat die Theorie einer periodischen Dreischrittfolge, deren erster und dritter Schritt (die Früh- und Spätstufen) die „haptische" Ebene bzw. den „optischen" Tiefenraum betonen (man erkennt die Vorläufer der beiden Grund-Anschauungskategorien Wölfflins), während beide Prinzipien auf der zweiten, der klassischen Stufe, zum harmonischen Ausgleich kommen. Eine Spätstiltheorie war auch schon 1907 von Richard Hamann (Der Impressionismus in Leben und Kunst) vertreten worden, in der er den Impressionismus als einen „Stil der Erschöpfung" bezeichnete, wie er in „alternden" Kulturen auftrete. Freilich war Hamanns Methode nicht die der Formanalyse, sondern die einer organologischen kulturgeschichtlichen Gesamtschau. 1911 vertrat Robert Hedicke (Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXIV, 15) die Theorie eines „zeitlosen" Barock der Spätphasen. 38 39
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Barock"41 gesprochen. Doch wird bei Wölfflin „Spätstil" ausdrücklich nicht im abwertenden Sinn gebraucht, sondern als dem Hochstil ebenbürtig. Einflußreich wurde die Spätstil-Theorie erst jetzt, da sie zum ersten Mal im Rahmen einer ausführlichen Würdigung der Barockkunst auftrat. Mit Wölfflins Theorie einer Periodizität der Klassik- und Barockstile und der jeweiligen Anwendbarkeit seiner Kategorienpaare war die methodische Grundlage gegeben für die Behauptung verwandtschaftlicher Beziehungen zeitlich weit ausemanderliegender Stilepochen, wie Barock und Expressionismus. Ferner ist nicht zu übersehen, daß bei Wölfflin zum ersten Mal in ausgearbeiteter und methodisch unterbauter Form die später, gerade im Zusammenhang mit dem Barock, so um sich greifenden synthetischen Periodenbegriffe vorliegen. Wölfflins Stiltypologie der Renaissance und des Barock und Worringers Gedanken finden in den wesentlichen Punkten ihren Niederschlag in Ludwig Coellens Der Stil in der bildenden Kunst,42 Auch Coellen behält in seiner Aufstellung umfassender überhistorischer Stilkategorien die Aufteilung in klassische und nichtklassische Stile bei. Im Gegensatz zu Wölfflin aber, für den die verschiedenen Anschauungsarten der verschiedenen Individuen, Nationen oder Epochen stilbestimmend waren, sieht Coellen, darin Worringer näher stehend, die entscheidenden Antriebskräfte in den verschiedenen Weltanschauungstypen. Besonders aufschlußreich ist Kapitel V, in dem er sein "drittes Stilgesetz: Statik und Dynamik" abhandelt: Der unendliche Grund und das Dasein sind die Pole einer ursprünglichen logischen Identität. Das Unendliche ist Grund und Quelle seines Daseins, und das Dasein ist Wirklichkeitserfüllung des Unendlichen. Beide sind dasselbe, das sich zu einer Dualität seiner Momente besondert die Weltanschauung kann eingestellt sein auf die Dualität beider Momente oder auf deren Identität. Wird die Dualität akzeptiert, so ergibt sich ein statisches Gleichgewichtsverhältnis. Wird die Dualität als zu überwindende Phase angesehen, ist das Verhältnis von Dasein und Grund dynamisch. 41
«
S. (vii). (Traisa-Dannstadt, 1921).
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So ist die Weltanschauung des Barocks.... Da soll das eigenpersönliche Leben, das vorher Wert an sich war, aufgehoben werden und eingehen in seine Identität mit Gott. [Statik und Dynamik, die] Prinzipien der Ruhe und der Bewegung, [bilden] zwei gegensätzliche Arten der künstlerischen Raumgenese und begründen damit das ¿ritte Stilgesetz: Dem Gegensatz von statischem und dynamischem Weltbegriff entsprechen zwei äquivalente Arten von Stilbestimmtheit, der statische und der dynamische StilA 3 Man erkennt Wölfflins „Ruhe und Bewegung" wieder. Auch sein Begriff der „Einheitlichkeit" tritt in leicht verändertem Gewand, als „Totalität", auf, ebenso das Prinzip des Werdens und der Unterordnung: Im . . . Falle [des Barock] . . . werden die Einzelformen aufgehoben zum Werden der Totalität Das Individuelle, Einzelförmliche ist dem Kerne nach der Totalität untergeordnet; es wird Durchgangsphase einer kontinuierlichen Bewegung, deren Ziel die Totalität i s t . . . . Dynamisierung der räumlich-rhythmischen Organisation der Form.«« Aus diesen Beispielen wird deutlich, wie sich das kunsthistorische und ästhetische Bemühen zu Beginn des Jahrhunderts immer wieder auf die Erfassung der Wesensgesetzlichkeit nichtklassischer Kunststile richtete und wie dadurch, vor allem auch durch die Barockstudien Wölfflins, das Interesse am Barock und das Verständnis f ü r seine Eigengesetzlichkeit gefördert wurde. Ferner zeigt sich, daß in diesen Arbeiten die Grundlagen geschaffen wurden f ü r die ahistorische, das heißt typologische Anwendung historischer Epochenbegriffe, namentlich des Barockbegriffs, 45 und wie sich ein Arsenal von Begriffen bildete, unter denen später Charakteristika barocker wie expressionistischer Kunst subsumiert wurden.
2. Literaturgeschichte
und
Literaturwissenschaft
Es ist bekannt, daß die Wölfflinschen Stilkategorien durch Fritz Strich in die Literaturwissenschaft kamen 4 * und daß Strich schon in seiner «
S. 49 f.
44
S. 51.
45
Wölfflin verwendet „Klassik" und „Barode" sowohl historisch als typologisch. 48 „Der lyrische Stil des siebzehnten Jahrhunderts". Später noch konsequenter
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Arbeit von 1916 Stilverwandtschaften literarhistorischer Epochen konstatierte47 und historische Epochenbegriffe typologisch verwendete, zum Beispiel in folgendem charakteristischen Satz die Begriffe „klassisch" und „romantisch": Der Versuch, die Grenzen zwischen den Gattungen der Kunst aufzuheben, ist immer romantischen Zeiten eigen. Der klassische Geist geht auf die
klare Sonderung ungleichartiger Elemente aus, während ihre Vermischung romantisch-unendliche
Tendenz
andeutet.«8
In Anbetracht des Fehlens irgendwelcher systematischer Grundlagen einer von der alten Rhetorik unabhängigen literarischen Stilistik mußten die für die Kunstgeschichte erarbeiteten Prinzipien sich als besonders verlockende Hilfsmittel anbieten, mit denen man hoffen konnte, gerade die Barockdichtung in den Griff zu bekommen. Oskar Walzel formulierte dann die Forderung einer „Erhellung der Betrachtung von Poesie durch die Betrachtung der bildenden Kunst," jedoch mit der Einschränkung, „diese Erhellung [werde] gewinnbringender sein, wenn sie vorläufig dem einzelnen Kunstwerk dient und nicht auf den Nachweis ausgeht, daß ganze geschichtliche Reihen von Kunstwerken einem einzigen Typus einzuordnen seien." 48 Das war eine Warnung vor der Anwendung allgemeiner Kategorien Wölfflinscher Prägung, zwar nicht in der Literaturwissenschaft schlechthin, aber doch auf die literarischen Stile ganzer, und gar zeitlich auseinanderliegender, Epochen. Die Warnung verhallte jedoch ungehört. Arthur Hübscher80 wählte die Methode, „von der Vielheit ihrer Ausdrucksformen aus eine gemeinsame Grundstruktur der verwandten
in: Deutsche Klassik und Romantik oder Vollendung und Unendlichkeit: Ein Vergleich (München, 1922, 3/1928). 47 Barock, Sturm und Drang, Romantik. Vgl. S. 53. 48 S. 45. (Hervorhebungen von mir.) 48 Oskar Walzel, Wechselseitige Erhellung der Künste (Philosophische Vorträge, veröffentlicht von der Kantgesellschaft, No. 15), (Berlin, 1917), S. 41. Schon Richard Hamann hatte in Der Impressionismus in Leben und Kunst (Marburg, 1907) im Rahmen seiner kultursynthetischen Methode folgerichtig mit der „wechselseitigen Erhellung" operiert, und selbst Wölfflins Renaissance und Barock bringt Ansätze auf SS. 28, 83 ff. und 87. 50 S. 522.
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Epochen aufzudecken, um dann vom Untergrund des Gleichartigen sich die Besonderheiten schärfer abheben zu lassen." Für ihn alterniert die Geistesgeschichte in ihrem Verlauf pendelartig zwischen den entgegengesetzten Grundhaltungen „harmonisch" und „antithetisch". Er gibt nun auch eine Aufstellung der unter beiden Grundtendenzen subsumierten Perioden und schließt als erster den Expressionismus nach der mittelhochdeutschen Früh- und Spätzeit, nach Barock, Sturm und Drang und Romantik, in die Reihe der antithetischen Perioden ausdrücklich mit ein. Hübschere Aufsatz bildet den Abschluß der ersten Phase der Barockforschung in unserem Jahrhundert; in ihm kommen noch einmal die Hauptgedanken der hier genannten Vorgänger aus Literatur- und Kunstgeschichte in engster Synthese zum Tragen. 3. Expressionistische Theoretiker Was lag bei solcher geistesgeschichtlichen und kultursynthetischen Orientierung der deutschen Kunst- und Literaturwissenschaft in den ersten beiden Jahrzehnten des Jahrhunderts, die sich mit besonderen) Interesse der Erforschung der bis dahin vernachlässigten „nichtklassischen" Kunststile zuwandte, näher, als daß der Expressionismus, der sich selbst als vorwiegend geistige Bewegung verstand, von seinen Theoretikern und der Forschung (der wohlwollenden, wie der ablehnend eingestellten) als neue Phase der älteren nichtklassischen Stile, namentlich aber als eine Art Rückkehr zur Ausdruckskunst des neu entdeckten Barock gesehen wurde.81 So wurde die Literaturgeschichte um einen „barocken Expressionismus" wie um einen „expressionistischen Barock" bereichert. Die Zeugnisse dieser Auffassung unter den Theoretikern des Expressionismus, wie bei einigen Expressionisten selbst, sind erstaunlich gleichlautend, so daß einige wenige Beispiele für alle stehen mögen. Kasimir Edschmid sieht den Expressionismus als Wiederkehr des Kunstwollens von Gotik, Barock und Romantik: Wolfgang Paulsen formuliert das im Hinblick auf Worringer mit aller wünschenswerten Deutlichkeit in seinem viel späteren Buch ( 1 9 3 5 ) , S. 17: „Hören wir auf Worringers Deutung, die e r . . . diesem einen Stadium der künstlerischen Entwicklung gibt, so ist zu urteilen, daß sie fast W o r t für Wort auf eine Umschreibung der Elemente des Expressionismus paßt." 51
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Es ist eine Lüge, daß das, was mit verbrauchtem Abwort das Expressionistische genannt wird, neu sei. Schändung, es umfasse eine Mode. 52 Stil i s t . . . nie Mode. N u r Kindische und flache Denker verwechseln seine Äußerung und seinen treibenden Grund. W a s heute Expressionistisches ist, bleibt in den echten Äußerungen nach zwanzig Jahren dasselbe, nur mit anderm Namen. Ewiges ward immer in die Spirale modischer Formen gebaut.... und er bedauert es, daß eine seit Persiens Miniaturen, seit Amenophis, Böhme, Ekkehard, Büchner, Strindberg bestehende geistige Richtung in ihrer modischen Schale falsch v e r s t a n d e n . . . wird.8« Es ist leicht zu sehen, wie wichtig es ihm war, expressionistische Kunst in ihrer historischen Kontinuität gesehen zu wissen. Max Deri, aus dem Kreis der expressionistischen Kunstkritiker, sieht den Expressionismus ebenfalls als überzeitlichen Stiltyp: S i c h e r . . . [war] die psychologische Verhaltungsweise bei [Barock und Romantik} die gleiche wie heute. Man schafft heute wieder so, wie die hellenistische Spätantike, wie ein Teil der deutschen Renaissance um 1500, wie das B a r o c k . . . , wie der Sturm und D r a n g . . . , wie die Romantik . . . geschaffen hatte: man schafft der innerseelischen Einstellung nach ebenso. 44 W i e d e r ist es die geistesgeschichtliche Wesensschau, die hier, bei Deri, den Blickwinkel bestimmt; und wieder ist es der Ausdruckswille eines bestimmten, periodisch wiederkehrenden deutschen Seelentyps, der hinter der Kunstäußerung dieser geistesverwandten Epochen steht. „Expressionismus", ein neues Wort, dessen „Sinn so alt wie die europäische Kunst" ist, bot sich an „zu inter-zeitlichem Gebrauche" f ü r die Kunstdichtung, die zu jeder Zeit „Abweichung von der naturalistischen Formung" sucht und die „Expression" des „Wesens" der Dinge ist, welches der Künstler intuitiv, visionär erschaut, also f ü r meta-
M
Die doppelköpfige Nymphe: Aufsätze über die Literatur und die Gegenwart (Berlin, 1920), S. 68. » S. 34. M „Idealismus und Expressionismus", Das Junge Deutschland, I (1918) I, N. 4, 5, S. 97 f.
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physisch-religiös motivierte Kunst.85 Die Gedankengänge Worringers liegen offen zutage, ebenso wie bei Kasimir Edschmid: auch er begrüßt im Expressionismus die wiedergekehrte wahre, das heißt geistige Kunst, deren Kennzeichen es ist, daß sie das Wesen der Dinge erschaut hinter dem Schleier der Maja, der zufälligen Form: „ . . . immer wenn der oder jener der Menschheit die Wurzeln der Dinge in der Hand hielt, gelang ihm das Gleiche."56 Diese Kunst, die „auf Geistterrain aufgeschossen" ist, mußte die „Ablagerung deutscher Kultur der letzten hundert Jahre . . . , eine geistverfluchte Hölle durchstoßen, um . . . mit [ihrer] unerbittlichen Form zu beweisen, es gäbe keinen anderen Ausdruck für die Zeit."57 Wenn Edschmid verkündet, es gehe in der neuen Kunst „das steilste Recken der deutschen Seele vor sich seit Gotik, Barock, Romantik," so erkennt man Worringers, Wölfflins, Strichs Auffassung von gotischer und barocker Kunst als Ausdruck nordisch-germanischen Kunstwollens wieder. Deutsche „Seele", „Wesen", „Geist" findet den adäquaten Ausdruck in einer Kunst des Transzendenzdrangs,58 des Drängens nach dem Ungebundenen, Unbegrenzten,5» der unendlichen Tendenz.84 Welche künstlerische Form wählt sich aber nun dieses „Wesen" „in Vergangenheit und Gegenwart" zum künstlerischen Ausdruck? Mit anderen Worten: Wie manifestierte sich nach Meinung der erwähnten Theoretiker „Expressionismus in jeder Zeit"? Die Durchsicht ihrer einschlägigen Äußerungen bringt nur sehr magere Resultate. Edschmid geht über die ständig wiederholte Benennung der seelisch-geistigen Grundhaltungen nicht hinaus, ja er lehnt jede Fixierung stilistischer Züge im Kunstwerk geradezu ab, da er die Bedeutung der expressionistischen Bewegung in der geistigen Grundhaltung gegenüber der Welt sieht: „Geistige Bewegung ist kein Rezept. Sie gehorcht lediglich gestaltendem Gefühl . . . Stil in höherem Sinne setzt sich durch als Kraft, als selbständige Wucherung, reguliert von tausend Zuflüssen und Strömen vom Geiste gebändigter Schöpferkraft. Nie als Form."41 Und: „[Diese «
M
57 88 59 M 81
Den, S. 97 f. Frühe Manifeste („Mainzer Reihe", Bd. I X ) , (Hamburg, 1957), S. 40. Edschmid, Die doppelköpjige Nymphe, S. 12. Vgl. Worringer, Abstraktion und Einfühlung, SS. 21, 22 u.ö. Vgl. Wölfflin, Grundbegriffe, S. 249. Vgl. Strich: „Der lyrische S t i l . . . " , SS. 21, 22 u.ö. Frühe Manifeste, S. 41.
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Art des Ausdrucks] ist nicht nur Angelegenheit der Kunst. Sie ist Forderung des Geistes. . . . nie ist in einer Kunst das Technische so sehr Produkt des Geistes wie hier."** Deris Schrift gibt etwas mehr her, doch geht auch sie über sehr allgemein formulierte Stilmerkmale (zum Teil sind es die Wölfflin/ Strichs) nicht hinaus: W e n n . . . beim Idealismus 8 ' das Individualmerkmal geglättet, zum Allgemeinen hin abgeschliffen wird, so wird hier, beim Expressionismus, das Individualmerkmal
erhitzt, verdichtet, intensiviert....
W o . . . dort der dra-
matische oder lineare Kontur über die Variationen des Klein-Einmaligen ausgleichend hinweggeführt wird; da senkt er sich hier doppelt und dreifach kerbend in die Variationen ein und vergrößert das einmalige Erlebnis zum Über-Individuellen im Sinne der Romantik oder des Barock.« Man hört Wölfflins „Unterordnung der übrigen Elemente unter ein unbedingt führendes" heraus.65 Ferner treten mit „erhitzt", „verdichtet", „intensiviert" Termini auf, die in der gesamten Barock/Expressionismus-Forschung stereotyp immer wiederkehren sollten;88 ergänzt sind sie im gleichen Aufsatz durch „höhere Intensität", „Gewalt des Gefühls", welche „Ausdruck" sucht, „Expression", „schrankenlose Steigerung der Ekstatik".87 Sprachlich-Stilistisches gibt uns Deri nur an die Hand, indem er bekundet, die Herrschaft des Adjektivs werde nach Jahrzehnten nun an das „kubistisch schlagende Hauptwort" abgetreten, und das Drama habe keine Szenen mehr, sondern steige und falle mit dem Aufbau der Akte. 88 Auch in diesen beiden Äußerungen erkennt man das Wölfflinsche Prinzip der Vereinheitlichung, doch an Konkretem ist über das Kunstwerk selbst nicht viel gesagt. Über die ermüdende Wiederholung, der neue Stil sei „Expression, Ausdruck gesteigerter Erlebnisse, Intensivierung der Gestaltung," 8 9 kommt Deri, wie Edschmid und alle anderen, die den Ex«
S. 38. Deri meint hier: in klassischer Kunst. M Deri, S. 97. 85 Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, S. 16. 88 Vgl. z.B. unten S. 51: Noch in einer Veröffentlichung von 1966 ist von „intensiviertem Stil" als Vergleichskategorie die Rede. Deri, S. 97. 88 Deri, a.a.O. 88 Deri, a.a.O. M
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pressionismus als überhistorische Stilkonstante sehen und die uns deshalb hier ausschließlich zu interessieren haben, nicht hinaus. Die Äußerung Theodor Däublers über „Expressionismus in jedem Stil": „Jedes Geschehen wird sein Typisches"70 liegt auf der Linie von Deris „Vergrößerung des Einmaligen zum Individuellen": und wenn man hofft, bei Kurt Pinthus eingehender darüber informiert zu werden, wie sich diese Gestaltungsprinzipien im Phänomen des Kunstwerks realisieren, so wird man auch da von einem dithyrambischen Schwall von Metaphern enttäuscht, die in concreto nichts hergeben. Über die „wüststrotzende Begabung" Johannes R. Bechers heißt es bei Pinthus, „Verfall und Triumph der auf ihn schamlos eindringenden Umwelt" reize ihn auf „zu den zerhackten, hinausgeschrienen, schwebenden, dröhnenden Versen eines fäkalischen Barock, zum anklagenden Taumeltanz auf dem verwüsteten Leib der Gegenwart."Selbst der Kontext des berühmten Zitats vermag nicht zu erhellen, was am Expressionismus auf fäkalische Weise barock sei. Wie widersprechend die wenigen Äußerungen zum Stil sind, mag die Tatsache beleuchten, daß Hübscher, darin mit Werfeis Aufsatz über „Substantiv und Verbum" 72 übereinstimmend, meint: „Einem Erlebnis des Werdens ist das Verbum sprechendes Wort"; 78 das Substantiv hingegen sei Träger des harmonischen Satzstils, und darum habe der Barock, und eben auch der Expressionist Werfel, das Substantiv zum Verb gewandelt. Deri hingegen hatte gemeint, eine Stärkung des Hauptworts für alle „expressionistische" Kunst konstatieren zu können.74 4.
Expressionismus-Forschung: Geistesgeschichtliche Wesensschau und stiltypologische Analogie
Wölfflins für den Barock erarbeitete Stiltypen der bildenden Kunst schienen in der Allgemeinheit ihrer Formulierung ebenso die Kunst70
Theodor Däubler, „Expressionismus", Der neue Standpunkt (Dresden, 1916), S. 189. 71 Zit. nach Von der Leyen, Deutsche Dichtung in neuer Zeit. Das Originalzitat habe ich nicht finden können. 72 Franz Werfel, „Substantiv und Verbum". Referiert von Hübscher, S. 800. 78 Hübscher, a.a.O. 74 Vgl. oben, S. 33.
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äußerungen des gotischen Weltgefühls im Sinne Worringers zu beschreiben, als auch für andere historische Epochen verwendbar zu sein. Nachdem Strich 1916 und dann 1922 mit seinem Werk über die Romantik den entscheidenden Schritt in dieser Richtung getan hatte, mußte es der Expressionismusforschung leicht fallen, zumal auf programmatische Äußerungen des Expressionismus zurückgreifend, Parallelen im Lebensgefühl von Barock und Expressionismus und seinen künstlerischen Manifestationen aufzuspüren. Ihre Methode ist die geistesgeschichtliche Wesensschau und die stiltypologische Analogie. Der erste Literarhistoriker, der bei der Behandlung des Expressionismus immer wieder auf Parallelen zum Literaturbarock verwies, war Oskar Walzel.75 Allerdings handelt es sich nur um stereotyp sich wiederholende Hinweise auf die „wuchtige Sprache jüngster Barockkunst", ihre „Überbewegtheit", „Überspannungen", „Ekstatik", „Wucht", die in der Feststellung gipfeln, daß sich bei Johannes R. Becher „unaufhaltsam das Barock . . . durchsetzte."76 Ferdinand Josef Schneider widmete der Analogie zwischen Barock und Expressionismus die erste eingehende Studie, die auf lange Zeit Schule machen sollte.77 Er unterscheidet in der Dichtung des Expressionismus zwischen „absoluter lyrischer Wortkunst" und „barocker Ausdruckslyrik". Der letzteren widmet er das zentrale Kapitel seines Buchs. Ausdruckslyrik, wie Schneider sie versteht, hat folgende Charakteristika: Sie wendet sich vollkommen ab von der Nachahmung der Natur und der Wirklichkeit, das heißt von allem, was uns sinnlich erfahrbar ist; die objektive Wirklichkeit ist nur Ausdrucksmittel, um eine höhere Wirklichkeit sichtbar zu machen. Sie will „die W e l t . . . in Urbildern" offenbaren, 73 die der Künstler mittels der Ekstase mit geistigem Auge erschaut. Sie richtet ihr Augenmerk auf den „wesentlichen", das heißt „reinen" oder „nackten" Menschen, „sozusagen auf den Menschen an sich." 79 Sie drückt die Isolierung des Individuums
78
Die deutsche Literatur von Goethes Toi bis zur Gegenwart. Von der Leyen, S. 268, sieht Parallelen zur expressionistischen Dichtung in den „Entartungen" und „blutrünstigen Schwelgereien des Barock". 78 S. 109. 77 Der expressive Mensch.... Vgl. oben, S. 9, Anm. 12. 78 S. 11. 7 » S. 7.
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im Weltall aus und sein Ringen nach kosmischer Ausweitung und Vereinigung mit allen Teilen des Universums. In dieser Ausdruckslyrik werden nun nicht nur vorsichtig andeutend Ähnlichkeiten vereinzelter Stilzüge mit der Dichtung des 17. Jahrhunderts aufgewiesen. Vielmehr wird sie von Ferdinand Josef Schneider, der sich wiederholt auf Worringer und Coellen bezieht, geradezu als „barocke Ausdruckslyrik" bezeichnet. Schneider übernimmt das Adjektiv „barock" von Walzel, der es als erster in der Literaturgeschichte epochenvergleichend verwandt hatte, zur Bezeichnung eines lyrischen Stiltyps, der im 17. Jahrhundert, im sogenannten Barock80 zur potenziertesten Ausformung kam, der aber nicht an diese eine historische Epoche gebunden ist, sondern als Ausdruck des „Lebensgefühls" 81 eines spezifischen Menschentyps, des „expressiven Menschen", im Sinne einer Stilkonstante auch in anderen historischen Perioden prominent werden kann, in denen dieses „einheitliche Lebensgefühl" vorherrscht.82 Den Barock faßt Schneider „mit Scheffler8* als . . . Spezialfall des Gotischen" auf „und dieses mit Worringer 84 als eine Kunstrichtung, in der sich die Einfühlung (die sich sonst im Gegensatz zur Abstraktion nur auf Organisches bezieht) des rein Konstruktiven (in unserem Falle: rein Wesenhaften) bemächtigt, um darauf die Bewegung des Organischen überzuleiten. . . ." 85 Mit geistesgeschichtlich konstruierender Methode und unter kräftigen Anleihen bei der Wölfflinschen kunstgeschichtlichen Stiltypologie versucht Schneider, die „barocken" Merkmale expressionistischer „Ausdruckslyrik" zu erfassen. Konkrete Formelemente, mit Ausnahme einiger skizzenhafter Hinweise auf sprachliche Eigenheiten, analysiert Schneider daher nicht. Das entscheidende Prinzip der Kunst von Gotik, Barock und Expressionismus sieht er mit Coellen und unter ausdrücklicher Berufung 80
Zum ersten Mal als literarischer Epochenbegriff verwendet von Valdemar Vedel 1914; vgl. R. Wellek, Concepts, S. 74 f. 81 Vgl. Worringers „Weltgefühl": „Unter Weltgefühl verstehe ich den psychischen Zustand, in dem die Menschheit jeweilig sich dem Kosmos gegenüber, den Erschreinungen der Außenwelt gegenüber befindet." (Abstraktion und Einfühlung, S. 16). 82 Worringer, Abstraktion und Einfühlung, S. 15. 8S Karl Scheffler, Geist der Gotik (Leipzig, 1917), S. 55. 84 Abstraktion und Einfühlung, S. 147 f. 85 Der expressive Mensch . .., S. 87.
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auf ihn in ihrer metaphysischen Zielsetzung: „nämlich der erstrebten Verwirklichung jener Identität, die aus dem großen Dualismus vom Dasein und seinem besonderten Grunde - herausgefühlt wird." Das „Innenleben" des Ausdruckskünstlers, der in solch dualistischer Spannung lebt, ist von gewaltiger Dynamik „durchflutet". Barocke Ausdruckskunst ist daher eine Kunst des Werdens, ihr oberstes Gestaltungsprinzip die Bewegung. Dies nicht nur auf Grund solcher Weltauffassung, sondern auch weil der Ausdruckskünstler in solipsistischem Rausch „aus sich selbst heraus" schafft. 86 Dynamik und das Streben, das Essentielle sichtbar zu machen, bringen folgerichtig Intensität des Ausdrucks mit sich. Bei Heym wird nachgewiesen, daß er Intensitätsgrade dynamisch-motorisch ausdrückt: einer der wenigen erhellenden Hinweise auf expressionistische Metaphorik.87 Daß barock drastische Bilder ebenfalls aus dem (dynamischen) Drang zu intensiver Äußerung verwendet werden, glaubt Schneider besonders an dem Wort „Brunst" erkennen zu können, das als „affektive Intensitätsbezeichnung" auftritt, 88 sowohl als Ausdruck des Sexualtriebs als des „Auftriebs der Kreatur zur pantheistisch erfühlten Gottheit."8» Den barocken Charakter solcher Sinnlichkeit glaubt er besonders erwiesen dadurch, daß antike Götter als ihre Träger auftreten, vor allem bei Heym.90 Ein weiteres Kennzeichen der Barockheit moderner Ausdruckslyrik sieht Schneider in der ausgiebigen Verwendung der Allegorie. Er unterscheidet sie allerdings von der Allegorie der Lyrik des Barock und setzt sie auch von Friedrich Schlegels Bestimmung ab, nach der sie das sonst nicht sagbare „Höchste" auszudrücken hat; denn der Expressionist will uns nicht nur dieses Höchste, sondern alle Dinge „in ihrer tiefsten Wesensbedeutung nahebringen." Und das kann er nur durch die Allegorie. Schneider glaubt ferner, barocke Vitalität und barocken Naturalismus, besonders in der Darstellung des Gräßlichen, nachweisen zu können. Thematisch fallen darunter besonders Darstellungen von S. 62. S. 69 f. 88 S. 77. o» S. 78. Zur Frage des Mythologischen bei Heym vgl. Kurt Mautz, Mythologie und Gesellschaft im Expressionismus. Die Dichtung Georg Heyms (Frankfurt, 1961). 87
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Elend und Tod und innerhalb der religiösen Problematik - auch sie sei an sich schon ein Merkmal barocker Kunst und eine Folge der dualistischen Welthaltung - das Sündenbewußtsein, Verachtung der menschlichen Physis, Selbsterniedrigung mit unflätigster Selbstbeschimpfung.»1 Aus zufälligen thematischen Ähnlichkeiten mit Dichtungen des Barock ergibt sich also ohne weiteres der barocke Charakter einzelner Dichter des Expressionismus, so bei Max Hermann-Neisse (Johann Christian Günther) und bei Adolf von Hatzfeld (Gottfried Arnold). 92 Auch Hinweise auf die bekannten „barocken" Kategorien der Atektonik98 und der Einheitlichkeit (Totalität) 94 fehlen nicht; ebensowenig allgemeine Hinweise auf metaphorische Übersteigerung und Bombast95 (bei Becher, der dem „ausgesprochen pathologischen" Kuhlmann gleichgestellt wird), pompöse Sprache9® und schließlich die kunstgeschichtlich orientierte Beobachtung, daß Bilder des Hohlen, Gähnenden, Klaffenden, Bauchigen, Geblähten bevorzugt werden.97 Eine typologische Untersuchung nennt der Strich-Schüler Wolfgang Paulsen sein Buch Expressionismus und Aktivismus.98 Er erklärt unumwunden, man könne die expressionistische Epoche nicht darstellen, ohne vorher zu fragen, „was sie eigentlich bedeutet, aus welchen geistesgeschichtlichen, typologischen Elementen sie sich zusammensetzt." 99 Paulsen postuliert nun, und sucht in seinem Buch nachzuweisen, daß die sonst dem Expressionismus zugewiesene Epoche ihren zwei Grundströmungen entsprechend in Expressionismus und Aktivismus aufgeteilt werden muß. Er sieht den „Expressionismus als gotische Lebensform"100 und den „Aktivismus als Aufklärung". 101 Im Expressionismus sieht Paulsen geradezu „die Gotik unserer Zeit" und folgert: 81 92 83 94 95 96 97 98 99 190 101
SS. 101-103. SS. 105, 107. S. 88. S. 93. SS. 88, 112. S. 108. S. 110. (Bern und Leipzig, 1935). S. 3. S. 16. S. 35.
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Glaubt man mit Worringer, daß das Barock ein Ausläufer der Gotik, ein letzter Versuch der Gotik gewesen sei, so erübrigt sich die Frage nach der Verwandtschaft von Expressionismus und Barock ohne weiteres.108 Daher ist es Paulsens Charakteristik des Expressionismus, die uns im Rahmen unseres Themas interessiert, nicht die des Aktivismus. Es ist aufschlußreich, wie von den Verfechtern der These einer typologischen Verwandtschaft zwischen Expressionismus und Barock immer wieder Worringer als Gewährsmann zitiert wird.103 Außerdem beruft sich Paulsen ganz ausdrücklich auf Wölfflins und Strichs Formulierung des nichtklassischen Kunsttyps.104 Im Kapitel „Expressionismus als gotische Lebensform" handelt Paulsen von Kunst allgemein, das heißt von jeglicher Kunstäußerung überhaupt, ohne sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf einzelne Kunstgattungen festzulegen. Das Prinzip der wechselseitigen Erhellung wird von ihm, in Übereinstimmung mit seinem Lehrer Fritz Strich, uneingeschränkt vorausgesetzt. Es ist vorwiegend dieses Kapitel, sowie das über die Lyrik, in dem „expressionistische" und „aktivistische" Dichter behandelt werden, die in unserem Zusammenhang von Interesse sind. Ausgangspunkt der Abhandlung bildet die Welthaltung des gotischbarock-expressionistischen Menschentyps und das aus ihr resultierende Ausdruckswollen: Ganz wie der gotische Mensch nach Worringer, so steht Paulsens expressionistischer (seiner Welthaltung nach ja ein gotischer) Mensch „über der Erfahrung." 105 Er ist kein primitiver Mensch aus Unwissenheit, sondern aus Erkenntnis, das heißt seine Weltangst entsteht aus der Erkenntnis, daß die Welt des Fortschritts das Wesentliche verschüttet hat. Worringers „Einfühlung" und „Abstraktion" entsprechen bei Paulsen „Versinnlichung" und „Vergeistigung", 106 wobei er Geist im Expressionismus als seelische Potenz versteht, im Aktivismus hingegen als Ratio. Wenn er bei der Formulierung der gotischen Ausdruckstendenz Kandinskys Wort zitiert, schön sei, was einer inneren Notwendigkeit 108 lra 1M 105 108
S. 17. Paulsen bezieht sich hier auf Worringers Formprobleme der Vgl. zu F. J. Schneider: oben S. 34, Anm. 84. S. 16. S. 18. S. 20.
Gotik.
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entspreche, so hätte er auch da auf die erste Fassung des neuen Kanons, nämlich Worringers, zurückgehen können, der im Abstraktionsdrang den Trieb fand, „in der Betrachtung eines Notwendigen und Unverrückbaren erlöst zu werden vom Zufälligen des Menschseins überhaupt, von der Willkür der organischen Existenz."107 Wenn er vom „Dualismus zwischen Welt und Mensch und zwischen Welt und Gott" spricht, so ist damit das Schema des transzendent orientierten Menschen (Worringer), des antithetischen (Hübscher), disharmonischen Lebensgefühls (Strich), des dynamischen Verhältnisses von Dasein und Grund (Coellen) und so fort, gemeint. Aus diesem Weltgefühl ergibt sich in der Kunst, ganz wie bei den Obengenannten, „Dynamik" des Ausdrucks, „Bewegung" in vertikaler Richtung. Es sind dies die üblichen, rein subjektiv intuierten und mit den Prinzipien einer wechselseitigen Erhellung frei operierenden Ausdruckskategorien. Wie sie sich im Phänomen des Kunstwerks konkret realisieren, wird nur selten andeutungsweise nachgewiesen: Dualistisches Weltbewußtsein kann sich zum Beispiel formal im Gebrauch von Antithesen auswirken, die oft genug - auch ein Ausdruck von Disharmonie - zur Groteske führen. Diese mag aber auch aus dem Wunsch entspringen, den Raum zu negieren (da ja die Distanz zwischen Mensch und Gott negiert werden soll), was zur Vereinigung von sonst Unvereintem und daher normalerweise als unvereinbar Angesehenem führt. Leider führt Paulsen im Kapitel über Lyrik für die Verwendung grotesker Bilder nur Beispiele des Expressionismus an, während er im allgemeinen Teil zum Vergleich gotische Groteskplastik heranzieht.108 Gerade die groteske und häßliche Bildlichkeit wird oft als Exempel der „barocken" Eigenschaften expressionistischer Dichtung angeführt. Bei Paulsen (für das Groteske) und bei Ferdinand Josef Schneider (für das Häßliche) scheinen die ersten ausführlichen Formulierungen dieser These vorzuliegen. Beide führen jedoch keine Vergleiche an Hand von Gedichten beider Epochen durch. Ihnen als Angehörigen der geisteswissenschaftlichen Richtung der Literaturwissenschaft geht es lediglich um die Aufdeckung des Gehalts der Kunstformen, darum, „hinter dem Sichtbaren den Geist aufzudecken."10® »»' 108 1M
S. 31. S. 160. S. 23.
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Als symptomatisch für den gotisch-barocken Transzendenzdrang und für die Dynamik des Kunstwollens wird bei Paulsen der Vorgang des „Formabwerfens" an expressionistischen Sonetten demonstriert. In diesem Kapitel ist deutlich zu erkennen, wie Paulsen sich von den Beobachtungen seines Lehrers Strich am Sonett des 17. Jahrhunderts hat leiten lassen.110 Freilich geht er in einigen Beobachtungen über Strich hinaus, der zum Beispiel nicht auf das Phänomen des Grotesken eingeht; auch weist er auf die Vorliebe der Expressionisten für bestimmte Sprachformen hin, wie das Partizip und das Präsens, und deutet diese Tatsache ideengeschichtlich aus. Doch finden sich alle wesentlichen Punkte in Strichs Arbeit über das 17. Jahrhundert in analoger Form auch bei Paulsen wieder, so daß sich für diesen die Konfrontierung von Sonetten beider Epochen in der Tat erübrigte. Die Parallelen sind überdeutlich. Es versteht sich, daß mir nicht daran liegt, den Nachweis von Paulsens Abhängigkeit zu erbringen. Vielmehr soll nur erneut darauf hingewiesen werden, in welchem Maße die Expressionismusforschung der geistesgeschichtlichen Ära von den Methoden und Ergebnissen der frühen Forschung des Literaturbarock auf lange Zeit befangen blieb und wie in ihr die so folgenreichen Gedanken Worringens weiterlebten, die durch Strichs uneingeschränkte Übernahme Wölfflinscher Kategorien mit in die Literaturwissenschaft übernommen worden waren. Paulsen selbst formuliert seine Methode ganz ausdrücklich: Der Vergleich [sc. zwischen den Kunstformen verschiedener Zeiten] wird also immer nicht nur erlaubt, sondern notwendig bleiben. Es gibt keine andere Möglichkeit, hinter dem Sichtbaren den Geist aufzudecken.111 Auch Werner Mahrholz,112 der den Expressionismus seinen „Grundtrieben" nach119 in aktivistischen, primitivistischen, gotischen und barocken Expressionismus114 unterteilt, läßt sich nicht auf eine vergleichende Analyse des „Sichtbaren" im Sinne des obigen Paulsen-Zitats ein, 110
Paulsen weist einmal, S. 150, auf Strichs „Der lyrische Stil..." hin im Zusammenhang eines vergleichenden Hinweises auf Ähnlichkeiten zwischen Heym und Gryphius; gemeint ist wohl S. 50 in Strichs Aufsatz. 111 S. 23. 111 Werner Marholz, Deutsche Literatur der Gegenwart. Durchgesehen und erweitert von Max Wieser (Berlin, 1930). lls S. 365. 114 S. 363 f.
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