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German Pages 258 [260] Year 2010
Nele Schneidereit Die Dialektik von Gemeinschaft und Gesellschaft
POLITISCHE IDEEN
Band 22
Herausgegeben von Herfried Münkler Die politische Ideengeschichte hat seit dem Ende der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West, der Transformation der Gesellschaften Mittel- und Osteuropas, aber auch mit den seit dem Wegfall des klassischen Gegenbildes dringender gewordenen Fragen nach Werten und Zielen der westlichen Demokratien, nach der Möglichkeit von Gemeinwohlorientierungen usw. neue Bedeutung gewonnen. Gibt es in dem zunehmend differenzierten und segmentierten Fach Politikwissenschaft einen Bereich, in dem die verschiedenen Fragestellungen und Ansätze zusammengeführt werden, so ist dies die Geschichte der politischen Ideen sowie die politische Theorie. Insbesondere die politische Ideengeschichte erweist sich dabei als das Laboratorium, in dem gegenwärtige politische Konstellationen gleichsam experimentell an den Theoriegebäuden vergangener Zeiten überprüft, durchdacht und intellektuell bearbeitet werden können. Eine so verstandene politische Ideengeschichte ist gegenwartsbezogen, auch wenn sie sich den aktuellen politischen Problemen nur mittelbar zuzuwenden scheint. Diese Reihe ist ein Ort für die Publikation solcher Studien. Sie veröffentlicht herausragende Texte zur politischen Ideengeschichte und zur politischen Theorie.
Nele Schneidereit
Die Dialektik von Gemeinschaft und Gesellschaft G r u n d b e g r i f f e einer kritischen Sozialphilosophie
Akademie Verlag
Gefördert mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des SFB 804 der Technischen Universität Dresden.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-05-004908-3 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2010 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Satz: Veit Friemert, Berlin Druck: MB Medienhaus Berlin Bindung: BuchConcept, Calbe Einbandgestaltung: Petra Florath, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany
Konnte man Bruno als ein Individuum betrachten? Das Verfaulen seiner Organe betraf nur ihn selbst, er würde den körperlichen Verfall und den Tod als individuelle Erfahrung erleben. Seine hedonistische Lebenseinstellung und die Kräftefelder, die sein Bewusstsein und seine sinnlichen Begierden strukturierten, waren dagegen seiner ganzen Generation zu Eigen. Ebenso wie der Aufbau einer Versuchsreihe und die Wahl einer oder mehrerer Observablen es erlauben, einem atomaren System ein bestimmtes Verhalten - mal Teilchen-, mal Wellenverhalten - zuzuweisen, so konnte auch Bruno als Individuum angesehen werden, aber auf der anderen Seite war er nur ein passives Element der Entfaltung einer historischen Bewegung. Seine Motivationen, seine Wertvorstellungen, seine sinnlichen Begierden, all das unterschied ihn nicht im Geringsten von seinen Zeitgenossen. {Michel Houellebecq,
Elementarteilchen)
Dem Menschen ist gegeben die Vernunft, die Ochsen bilden statt dessen eine Zunft. {Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz)
Inhalt
Dank
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1. Einleitung
13
a)These und Motiv
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b) Dialektik und kritische Philosophie
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c) Begriffsgeschichte
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d) Anlage der Arbeit
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e) Reichweite einer kritischen Sozialphilosophie nach Tönnies und Plessner
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Teil I Dialektik des Sozialen - Ferdinand Tönnies Einführende Bemerkungen zu einer Dialektik des Sozialen bei Tönnies 2. Antagonismus oder Vermittlung von Gemeinschaft und Gesellschaft? - ,Reine' und angewandte' Theorie
. . .
34 47
2.1 ,Reine'Theorie der Gemeinschaft und der Gesellschaft a) Gemeinschaft b) Gesellschaft
48 48 52
2.2 Geschichtsphilosophisch-entwicklungsgeschichtliche Aspekte (Tönnies und Marx)
57
2.3 Vermittlung in der sozialwissenschaftlichen Anwendung (Tönnies als Soziologe)
65
3. Soziale Wirklichkeit - Der begriffslogische Zusammenhang von Gemeinschaft und Gesellschaft
70
3.1 Aspekte der Hegeischen Logik
74
3.2 Analyse der Tönniesschen Grundbegriffe a) Begriff der Gemeinschaft
78 79
b) Begriff der Gesellschaft
82
8
INHALT
3.3 Tönnies'Begriffslogik-Vernünftige Wirklichkeit des Sozialen a) Organisches Ganzes-Teil-Verhältnis b) Form und Inhalt c) Begriff der Person α) Abstrakte und wahre Freiheit ß) Möglichkeit (Negativität) d) Wirklichkeit des Sozialen e) Souveränität und politische Gemeinschaft
. . .
84 85 88 92 95 96 99 104
4. Konsequenzen für eine Politische Philosophie
109
4.1 Recht
111
4.2 Staat und Gemeinwesen
113
4.3 Gemeinschaftsform und Gesellschaftsform
118
5. Resümee
121
Teil II Kritische Sozialphilosophie - Helmuth Plessner Einführende Bemerkungen zu einer kritischen Sozialphilosophie bei Plessner. 6. Grenzen der Gemeinschaft - Sozialphilosophie oder Sozialethik?
. . . .
6.1 Grenzen der Gemeinschaft a) Blutsgemeinschaft - Sachgemeinschaft, Familiarität - Objektivität b) Der Status des Normativen 6.2 Soziale Wirklichkeit - Grenzen der Unbestimmtheit a) Unbestimmtheit des Alltäglichen b) Kritik der Plessnerschen Sozialethik der Distanz „Denn Gesellschaft heißt auch Geselligkeit" (GG 105) - Exkurs c) Bestimmtheit des Sozialen 6.3 Gemeinschaft und Gesellschaft bei Plessner, Tönnies und Hegel a) Gemeinschaft - Blutsgemeinschaft/Familiarität b) Gesellschaft - Sachgemeinschaft/Objektivität c) Gesellschaft - Gesellschaft 7. Philosophische Anthropologie und kritische Sozialphilosophie
.
142 .
.
. . .
131
.
145 147 150 156 157 159 162 168 174 175 175 176 181
7.1 Aspekte kritischer Philosophie bei Plessner
182
7.2 Struktur einer menschlichen Welt
188
a) Außenwelt b) Innenwelt
191 192
INHALT
9
c) Mitwelt d) Gesetzmäßigkeiten der Realisierung von Sozialität
194 196
7.3 Folgerungen: Macht und Politik, Recht und Souveränität a) Politik und Macht b) Recht und Souveränität 8. Resümee - Kritische Sozialphilosophie nach Plessner und Tönnies . 9. Epilog: Ein Kommentar zur Kommunitarismusdebatte
205 206 209 .
.
217 222
a) Der Neueinsatz politischer Theoriebildung: Rawls
223
b) Die ,kommunitaristische' Kritik: Sandel und Maclntyre
226
c) Die Kritik an der Kritik: Walzer und Taylor
228
Siglen
233
Literatur
233
Personenverzeichnis
256
Dank
Die vorliegende Arbeit wurde im Jahr 2008 im Fach Philosophie an der TU Dresden als Dissertationsschrift angenommen. Viele Menschen haben zu verschiedenen Zeiten auf verschiedenste Weise zu ihrer Entstehung beigetragen. Ihnen allen möchte ich dafür danken; die wichtigsten möchte ich nennen. Der größte Dank gebührt dem Betreuer der Arbeit, Thomas Rentsch, der ihre Entstehung mit zahlreichen Hinweisen unterstützt und mit steter Zuversicht begleitet hat. Danken möchte ich weiterhin den Gutachtern Johannes Rohbeck und Pirmin Stekeler-Weithofer, die mir wichtige Anregungen für die Druckfassung der Arbeit gegeben haben. Zu Beginn der Arbeit habe ich Unterstützung und wertvolle Hinweise durch Rainer Adolphi und Hans-Peter Krüger erhalten. Die Arbeit ist entscheidend geprägt durch die kritische Diskussion, die Teilergebnissen bei vielen Gelegenheiten zuteil wurde, besonders hervorheben möchte ich hier die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Oberseminars von Thomas Rentsch. Nicht zuletzt haben die Anregungen von Michael Opielka die Arbeit beeinflusst. Für die finanzielle, aber auch und besonders für die ideelle Unterstützung möchte ich der Studienstiftung des deutschen Volkes, namentlich Roland Hain, danken. Schließlich wäre die Veröffentlichung der Arbeit in der vorliegenden Form nicht denkbar gewesen ohne Herfried Münkler, der sie in die Reihe Politische Ideen aufgenommen hat, ohne Mischka Dammaschke vom Akademie-Verlag sowie ohne den großzügigen Druckkostenzuschuss, der mir durch den SFB 804 „Transzendenz und Gemeinsinn" und seinen Sprecher Hans Vorländer gewährt wurde. Großer Dank schließlich gebührt denjenigen, die das Entstehen der Arbeit in unzähligen Gesprächen mit freundschaftlichem Rat begleitet und die darüber hinaus am Ende die Mühen des Korrekturlesens auf sich genommen haben: Dorothea Katharina Ritter, Katja Gerstenmaier, Morris Vollmann und - ganz besonders - Dirk Werle-Schneidereit.
1. Einleitung
Gemeinschaft und Gesellschaft sind umgangssprachlich unauffällige Ausdrücke, deren Gebrauch für gewöhnlich nicht weiter problematisch erscheint. Dieser Sachverhalt wird geradezu konterkariert durch das vielfältige und traditionsreiche Bemühen um die philosophische und soziologische Klärung der Begriffe von Gemeinschaft und Gesellschaft sowie ihres Verhältnisses zueinander, die bis heute nicht abschließend hat erfolgen können.1 Gegenstand der vorliegenden Analyse ist die Arbeit an den Begriffen Gemeinschaft und Gesellschaft im Rahmen der philosophischen Frage nach Möglichkeit, Konstitution und Kritik des Sozialen. Die These der Arbeit nimmt der Titel vorweg; sie ist gegen die tradierte Opposition von Gemeinschaft und Gesellschaft formuliert: Gemeinschaft und Gesellschaft beschreiben zwei zu unterscheidende Aspekte eines in sich vermittelten Zusammenhanges. Diese zunächst negativ-traditionskritische These wird ergänzt durch die positiv-systematische These, dass Gemeinschaft und Gesellschaft als Grundbegriffe einer kritischen Sozialphilosophie zu begreifen sind, deren Kern der Begriff einer politischen Gemeinschaft ist. Diese Grundannahmen werden entlang der Schriften von Ferdinand Tönnies und Helmuth Plessner entfaltet. Ich will einleitend eine kurze Näherung an das mit den Begriffen Gemeinschaft und Gesellschaft erfassbare Problemfeld von ihrem alltäglichen Gebrauch her geben. Die nahe liegende Vermutung ist hier, dass die Begriffe synonym verwendet werden, doch kann bereits für den alltäglichen Sprachgebrauch nachgewiesen werden, dass dies nicht der Fall ist. Unter dem Begriff der Gemeinschaft versteht man zumeist eine Gruppe von Menschen, die sich durch etwas Gemeinsames verbunden fühlen und die den Verbund der Gruppe als Selbstzweck anerkennen. Gemeinschaft ist etwas, das durch gemeinsame Erfahrung entsteht, das auf Empfindungen der Verbundenheit beruht und das häufig als positiver Wert betont wird. In diesem Sinne spricht man von Klassengemeinschaft, Hausgemeinschaft, Wohngemeinschaft. Unter Gesellschaft wird die zweckgebundene Vereinigung von mehreren Personen verstanden. Während der Zweck des sozialen Zusammenhangs in Gemeinschaften im Zusammenhang selbst liegt, wird er in einer Gesellschaft durch das den einzelnen Individuen gemeinsame Interesse gegeben. Man kommt Vgl. Riedel 1974, Sp. 239, der an dieser Stelle nur über den Begriff der Gemeinschaft spricht, in Riedel 1975 aber auseinandersetzt, dass das Gleiche fur den Begriff der Gesellschaft gelte.
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EINLEITUNG
zusammen, um diesem Interesse nachzugehen. Das kann zum Beispiel die Verfolgung wirtschaftlicher Interessen in einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) sein, es kann aber auch der Zweck der Unterhaltung etwa in einer Abendgesellschaft oder einer Reisegesellschaft sein. Zwar werden in der Alltagssprache die Begriffe tatsächlich häufig synonym verwendet, in den eben genannten Fällen sind sie aber nicht gegeneinander austauschbar - man spricht weder von Hausgesellschaft noch von einer Abendgemeinschaft. Auf diffuse Weise machen wir richtige oder falsche Verwendungsweisen der Begriffe fest und differenzieren so im Gebrauch der Worte deren Bedeutung. So versteht man etwa durchaus die Aussage, dass die Abendgesellschaft unter dem plötzlichen Eindruck eines Erdbebens zu einer nichtigen' Gemeinschaft verschworen wurde. Man begreift ebenso eine Aussage wie: ,Die Tagungsgesellschaft war nach dreitätiger intensiver Diskussion über Hegels Logik zu einer kleinen Gemeinschaft geworden'. Man versteht diese Aussage vor allem auch praktisch - es wird nämlich nach drei Tagen sehr viel schwerer sein, in diese Gruppe aufgenommen zu werden, als es am ersten Tag war, an dem sich nur wenige bereits kannten. Ein gemeinsam erlebtes Ereignis oder gemeinsam verbrachte Zeit hat die zunächst nicht gefühlsmäßig Verbundenen zu einer Erfahrungsgemeinschaft werden lassen. Gemeinschaft scheint also etwas damit zu tun zu haben, dass eine bestimmte Zeit lang die nächste Lebenswelt geteilt wird. Gemeinsame Erfahrungen werden gemacht, auf die erinnernd und erzählend zurückgegriffen werden kann. So wird eine Freundin, die bei dem Erdbebenabend nicht dabei war, sich ausgeschlossen fühlen, wenn zwei andere Freunde sich erzählend an diesen Abend erinnern. Ebenso versteht der Dazugestoßene nicht, weshalb Heiterkeit entsteht, wenn die Sektionsleiterin zu Beginn des dritten Tages einer Tagung sagt, dass wie gewohnt pünktlich geschlossen werde - er kann ja nicht wissen, dass bislang noch jede Sektion sehr viel länger als geplant gedauert hatte. Je länger die Zeit der gemeinsamen Erfahrungen zurück reicht und je intensiver diese gewesen sind, desto stärker werden diese Mechanismen.2 Nach kurzer Zeit nämlich hat man für gewöhnlich das auf einer Tagung entstandene Gemeinschaftsgefühl verloren. Es hält eigentlich nur so lange, wie man auf der Tagung verweilt. Ganz anders verhält es sich bei der familiären Herkunft. Die ersten sozialen Zusammenhänge sind so prägend, dass diese Erlebnisgemeinschaften als identitätsprägend erfahren werden. Aufgrund der miteinander verbrachten Zeit fühlt man sich einem Sozialverband zugehörig - und zwar auf Gedeih und Verderb, also häufig auch abgrenzend. Der Charakter des Zusammenschlusses durch gemeinsame Erfahrung bringt es weiterhin mit sich, dass die Zeit nicht zwingend wirklich gemeinsam verbracht werden muss. So ist eine in der Vergangenheit allein erfahrene Notlage häufig bereits Anlass fur unmittelbare Gemeinschaftsgefühle bei denen, die ihre Erfahrungen über diese Notlage austauschen. So kann man sich vorstellen, dass politisch Verfolgte aus dem Iran sich in ihrem Fluchtland in einer Gemeinschaft zusammen finden, die auf der Ähnlichkeit der individuell gemachten Erfahrungen be2
So definiert etwa Allan Buchanan für Ethik und politische Philosophie: ,,[T]he term .community' refers to a form of connection among individuals that is qualitatively stronger and deeper than a mere association" (Buchanan 1998, S. 464).
EINLEITUNG
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ruht. In jedem Falle hat Gemeinschaft aber erstens etwas mit einer in der Vergangenheit liegenden und bis an die Jetztzeit heranreichenden Zeitspanne und zweitens mit einem irgendwann eingetretenen oder eintretenden realen Kontakt zu tun. Drittens hat Gemeinschaft etwas mit Erfahrung, Erinnern und Erzählen zu tun, viertens kann sie daher mit der Konstitution dessen in Verbindung stehen, was wir Identität oder unsere Geschichte nennen. Gemeinschaften nennen wir Gruppierungen von Menschen, die auf der in der Zeit entstandenen wesenhaften Gleichartigkeit der Mitglieder beruhen, die die Gruppe aufgrund dieser Gleichheit als Gruppe wertschätzen. Die Verwendung des Gesellschaftsbegriffes bedarf keiner solchen wesenhaften Gleichartigkeit. Eine Gesellschaft kann eine Gruppe von Menschen umfassen, die in sich sehr heterogen ist. Wenn Gesellschaft nicht durch gemeinsame Erfahrungen definiert ist, stellt sich die Frage, wie sie sich überhaupt auf eine bestimmte Gruppe beschränkt. So bezeichnet Gesellschaft in der Soziologie auch den universellen Aspekt von Sozialität überhaupt. Die Frage ,Wie entstand die menschliche Gesellschaft?' spiegelt eine solche universale Bedeutung wider. Zumeist wird Gesellschaft aber subjektiviert und in irgendeiner Weise spezifiziert verwendet. Diese partikulare Bedeutung findet sich in Klagen über das Großsubjekt Gesellschaft: ,Die Gesellschaft ist nur noch an technischem Fortschritt und Profitmaximierung interessiert'. Diese Aussage bezieht sich synchron auf eine kapitalistisch geprägte Gesellschaft. Ein diachroner Gebrauch des Gesellschaftsbegriffes findet sich in der Rede von der ständischen Gesellschaft, die von der bürgerlichen Gesellschaft abgehoben wird. Wo aber liegen die Grenzen einer solchen Begriffsverwendung? Welche Phänomene werden als Gesellschaft qualifiziert und welche nicht? Sowohl der universale als auch der partikulare Gebrauch des Gesellschaftsbegriffes beruhen nicht auf einer wesenhaften Gleichartigkeit der Mitglieder einer Gruppe, habe ich behauptet. Mehr noch, es muss gar nicht von einer Gruppe gesprochen werden; so bezeichnet z.B. der Begriff ,Tauschgesellschaft' einen Handlungsraum, der durch das Paradigma des Tausches (gegenüber dem des Kaufes) geprägt ist. Es sind hier eher die Regeln, die das Handeln einer bestimmten Menge von Menschen bestimmen, als deren wesenhafte Gleichartigkeit, die den Gebrauch des Wortes möglich machen. In einem solchen Sinne spricht man auch von moderner Gesellschaft. Mit einer Attribut-Gesellschaft wäre also ein Zeitraum benannt, in dem eine bestimmte Konstellation sich verfestigt hat, die das Miteinander der Menschen bestimmt. Offensichtlich beruht der richtige Gebrauch des Wortes aber nicht auf gemeinsamer Erfahrung oder Kenntnis der gesellschaftlich situierten Menschen untereinander. Was fur einer das ist, mit dem da ein Tauschgeschäft vollzogen wird, ist für das Geschäft nicht von Belang. Ebenso gibt der große kulturgeschichtliche Rahmen die Vorstellung von modemer Gesellschaft. Eine dauerhafte Gesellschaftsformation bestimmt so eher die Einzelnen, als dass diese als Einzelne die Formation bestimmen (wie es in kleineren Gemeinschaften der Fall ist). So etwa ist die bürgerliche Kleinfamilie zwar ein Muster des Zusammenlebens, in dem sich Gemeinschaften bilden können, das aber als sittlich, rechtlich, politisch und ökonomisch institutionalisiertes Schema eher im Rahmen einer Beschreibung der bürgerlichen Gesellschaft erfasst werden kann.
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Dem Einzelnen kommt in einer Gemeinschaft ein Wert als Individuum für die Gestalt der Gemeinschaft zu. Als Gesellschaft wird dagegen das Nebeneinander vieler Einzelner bezeichnet, deren Individualität zunächst nicht von Belang ist, sondern die in ihren Handlungsformen Gleichartigkeit aufweisen. Die Einzelnen treffen zur Verfolgung ihrer individuellen Interessen aufeinander und müssen Regeln für dieses möglicherweise konflikthafte Aufeinandertreffen entwerfen bzw. müssen bestehende Regeln befolgen. Die Einheit Staat ist damit der Gesellschaft näher als der Gemeinschaft, obgleich moderne Gesellschaft auch als staatenübergreifender Begriff verwendet wird und so nicht deckungsgleich mit dem Staatsbegriff ist. Zu ,der Gesellschaft' gehören immer sehr viel mehr Individuen als zu den eher kleinräumigen Gemeinschaften, und sie ist nicht auf den realen Kontakt beschränkt. Eine Gesellschaft hat ihre Grenze durch überindividuelle Bestimmungen und durch die individuellen Zwecke, die nur mit anderen erreicht werden können. In einer Reisegesellschaft möchte jeder Mitreisende eine Reise tun, die der Zweck ist, dem lieber in einer Gruppe als allein nachgegangen wird. Als Teil einer Tagungsgesellschaft möchte sich jeder informieren, seine Meinungen ausdrücken und Kontakte knüpfen, was nur in einem sozialen Zusammenhang möglich ist. Die gesellschaftlichen Individuen stehen zunächst isoliert und ihre Interessen verfolgend nebeneinander. Dieses Nebeneinander kann für beliebig große Räume gedacht werden. Man kann von Weltgesellschaft sprechen, von der westlichen Gesellschaft, von einer Aktiengesellschaft etc. Der individuell auf eine bestimmte Weise verfolgte Zweck, der das Zusammentreffen mit anderen erzwingt, gibt den sozialen Zusammenhang einer Gesellschaft von einzeln vorstellbaren Individuen. Alltagssprachlich lassen sich also einige Differenzierungen zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft finden. Es zeigt sich aber auch, dass diese Differenzierungen sich kontextgebunden wieder aufheben lassen. So ist die Bevölkerung eines Landes eher eine Gesellschaft, deren Mitglieder aber unter bestimmten Bedingungen gemeinschaftliche Verbundenheit empfinden können. Eine Klassengemeinschaft hingegen muss keineswegs besonders gemeinschaftlich organisiert sein, sondern kann vielmehr durch das konkurrierende Nebeneinander von Einzelinteressen geprägt sein. Für einige dieser Vermengungen gibt es eigene Namen - so kann die Gesellschaft eines Landes ,nationale Gemeinschaft' oder ,Volksgemeinschaft' genannt werden (man spürt hier freilich sofort ein historisch situierbares Unbehagen). Für andere Vermengungen gibt es keine eigenen Namen, so hat eine Klassengemeinschaft, die nicht dem Wortsinne nach eine Gemeinschaft ist, keine eigene Bezeichnung. Das Fehlen von Gemeinschaftlichkeit wird dabei als defizitärer Zustand sichtbar; das Entstehen von Gemeinschaft wird zumeist positiv bewertet. Vor allem der Gemeinschaftsbegriff scheint also normative Funktion zu haben und dabei gegen den Gesellschaftsbegriff abgesetzt zu werden, der dann als Bezeichnung fur das Soziale verwendet wird, das in sich zu isolierten Individuen zerfallen ist. Doch auch der Gesellschaftsbegriff lässt sich indirekt normativ auffassen, nämlich da, wo man sich gegen Sozialzusammenhänge mit totalitären Strukturen auf die Freiheit und Gleichheit des Individuums beruft. Schon hier zeigen sich zwei Ebenen ineinander verschränkt; auf deskriptiver Ebene teilen auch die gesellschaftlichen Individuen, die nur ihre Interessen verfolgen, natür-
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lieh eine Lebenswelt und werden so vergemeinschaftet, wenngleich sie diese Gemeinschaft nicht um ihrer selbst willen bejahen, sondern sie höchstens als Annehmlichkeit im Zweckzusammenhang wahrnehmen. Die Bejahung als Gemeinschaft gibt erst deren vollen Begriff, der dann normative Funktion hat.3 Wenn die Gemeinschaft für sich selbst aber als Zweck verfolgt wird, dann treten die Individuen auch aufgrund eines individuell verfolgten gemeinsamen Interesses (Teilnahme an der Gemeinschaft) im Raum zusammen und sind so auch als Gesellschaft von Einzelindividuen begreifbar. Es scheinen also mit den Begriffen vielmehr Aspekte des Sozialen bezeichnet zu sein als klar voneinander abgrenzbare soziale Bereiche oder normativ bewertbare Idealzustände. Dieses Ineinander von deskriptiver und bezüglich des Gemeinschaftsbegriffes explizit normativer Verwendung, das bereits alltagssprachlich begegnet, ist einer der Punkte, um die es dieser systematisch angelegten Arbeit zu tun ist. Von den alltagssprachlichen Bedeutungen der Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft wird sich die Arbeit dabei zunächst einmal entfernen. Es zeigt sich aber immer wieder, dass bestimmte Elemente der hier alltagssprachlich entwickelten Begriffe wieder aufscheinen; so etwa das gemeinsame Erleben im Gemeinschaftsbegriff und die Betonung der Freiheit und Gleichheit des Einzelnen im Gesellschaftsbegriff. Insbesondere der zeitliche Erlebniszusammenhang in der Gemeinschaft und das räumliche Nebeneinander nicht einheitlicher Interessen in der Gesellschaft werden dabei zu berücksichtigen sein. Es geht in der vorliegenden Arbeit darum, einen systematischen Zusammenhang zwischen den zu unterscheidenden Begriffen Gemeinschaft und Gesellschaft zu etablieren, der die normativen Aspekte ihres Gebrauchs sinnvoll zu integrieren (oder gegebenenfalls begründet zu negieren) versucht.
a) These und Motiv Die eingangs genannte These der Arbeit ist, dass Gemeinschaft und Gesellschaft zwei Aspekte eines in sich vermittelten Zusammenhanges bilden. Ich will diese These vorwegnehmend bereits hier knapp erläutern. Gemeinschaft und Gesellschaft werden als Grundbegriffe eines holistischen Verständnisses des Sozialen entwickelt, in dem sowohl das Individuum als auch das Soziale, in all seinen vagen (gemeinsames Erleben) und festen (Institutionen) Formen, erfasst werden können. Dieses Verständnis hat deskriptive und zugleich normative Valenz, insofern sich in der Beschreibung des Sozialen in seinen gemeinschaftlich-gesellschaftlichen Aspekten die Idee sozialer Wirklichkeit zeigt. Diese Idee habe ich mit dem Terminus politische Gemeinschaft belegt, der sich aus dem begrifflichen Ineinander von Gemeinschaft und Gesellschaft ergibt. Der Begriffpolitische Gemeinschaft beschreibt soziale Wirklichkeit als das Miteinander selbstbewusster Individuen, die trotz unterschiedlicher lebensweltlicher Prägung ein Gemeinschaft ließe sich so mit Thomas Rentsch als dianoietischer Terminus bezeichnen: Jch nenne Prädikate, mit denen wir 1. bestimmte Unterscheidungen im Bereich der Faktizität treffen, mit denen wir 2. aber zugleich Differenzierungen im Bereich des Normativen verbinden, dianoietische Termini"' (Rentsch 1999, S. 198). In der Rede von Mensch oder menschlich z.B. ist die vermeintliche Differenz zwischen Sein und Sollen immer schon aufgehoben.
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alle Mitglieder umgreifendes Ganzes bejahen, so dass dieses soziale Ganze gewissermaßen selbstbewusst' ist, indem es durch seine Individuen bewusster Gestaltung zugänglich ist. Dieser Begriff ist normativ, insofern er das Ideal eines sozialen Zusammenhanges beschreibt, in dem die Regelung des Miteinanders Ausdruck des wirklichen Willens aller seiner Individuen ist. Er ist aber deskriptiv, insofern er auch das reale Miteinander beschreiben kann, das durch konfligierende individuelle Ansprüche geprägt ist und dessen Gestaltung nicht Ausdruck eines allgemeinen Willens ist. Grundgedanke ist dabei, dass mit diesem Begriff nicht nur staatliche Gebilde beschrieben werden können, die im eigentlichen Sinne politisch institutionalisiert sind, sondern auch sehr kleinräumige und sogar flüchtige Sozialzusammenhänge. Implizit heißt das, dass es in einem bestimmten Sinne keine vorpolitische soziale Wirklichkeit gibt. Das leitende Motiv, unter dem die Auseinandersetzung mit den Begriffen Gemeinschaft und Gesellschaft erfolgt, ist die Kritik an einem hoch normativen sowie sentimental aufgeladenen Gemeinschaftsbegriff. Gemeint ist die Vorstellung eines in sich einheitlichen, kleinräumigen Ganzen, in dem aus dem Sozialzusammenhang heraus keine Kontingenzerfahrungen zu erwarten sind, da die Identität der Mitglieder durch Tradition und Wir-Gefühl geprägt ist. Gemeinschaftsutopien dieser Couleur finden sich in politisch .rechten' wie ,linken' Lagern, sie finden sich im 19. wie im 20. Jahrhundert.4 Die These ist, dass ein solcher Gemeinschaftsbegriff keine deskriptive Kraft für Sozialzusammenhänge hat (auch nicht für bloß vorgestellte) und daher auch keinen idealen sozialen Zustand beschreiben kann. Der Gemeinschaftsbegriff für sich allein genommen hat mithin weder deskriptive noch normative Kraft: Gemeinschaft als organischer Zusammenhang wesensartig gleicher Individuen beschreibt kein menschliches Miteinander, so eine Folgerung aus der Hauptthese. Stark wird der Gemeinschaftsbegriff erst im Zusammenhang mit seinem vermeintlichen Gegenstück, dem Gesellschaftsbegriff. 4
So auch Micha Brumlik und Hauke Brunkhorst (vgl. Brumlik/Brunkhorst 1993, S. 9). Das antike Ideal einer akustischen Demokratie, die nur im Stadtstaat verwirklicht sein konnte, kann als indirekter Vorläufer dieser Haltungen gelten. Literarisch wurde die Vorstellung einer geordneten kleinen Gemeinschaft in den Utopien von Thomas Morus ( Utopia, 1516), Tommaso Campanella (La città del sole, 1602) oder Johann Valentin Andreae (Christianopolis, 1619) geprägt. Freilich ist hier die Möglichkeit eines solchen perfekten Miteinanders in den fiktiven Raum verschoben und somit allenfalls normativ, aber nicht als Theorie realer menschlicher Gemeinschaft gedacht. In gewissem Sinne ist Jean-Jacques Rousseau der erste, der eine solche Theorie mit seinem kleinräumigen Republikanismus propagiert. Aus der Schweizer Kleinrepublik Genf kommend vertritt er die Ansicht, dass eine gute Regierung nur für ein kleines, in sich relativ homogenes Volk eingesetzt werden kann. Einige Anhänger des Marxismus (nicht so sehr Marx selbst) vertreten auch die Idee einer homogenen Gemeinschaft, die im Grunde keiner Regierung bedarf. Die Antithese Gemeinschaft-Gesellschaft wird zumeist zum Vorteil der Gemeinschaft dargestellt; das gilt sowohl für die Zeit ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert als auch für ihre (z.T. unbewusste) Reaktualisierung in der neoaristotelischen Ethosethik und im so genannten Kommunitarismus (in Deutschland vertreten durch die ,Ritter-Schule', im anglophonen Raum u.a. durch Alasdair Maclntyre und Michael Sandel). Auch die (Post-),Postmoderne' hat sich - zumeist in differenzierter Anlehnung an Martin Heidegger und Hannah Arendt - mit der Bedeutung des Gemeinschaftlichen für eine emanzipatorische Politik auseinander gesetzt, so u.a. Jean-Luc Nancy, Jacques Rancière, Maurice Blanchot, Giorgio Agamben und Roberto Esposito.
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EINLEITUNG
Die Idee, es handle sich bei Gemeinschaft und Gesellschaft um ein Gegensatzpaar, geht auf Tönnies zurück. Ich werde sie bereits am Beispiel Tönnies (mit Tönnies) widerlegen. Der Gesellschaftsbegriff, mit dem der Gemeinschaftsbegriff erst sinnhaft werden kann, ist ein solcher, der den alltäglichen sozialen Zusammenhang von Individuen in vergemeinschafteten oder auch fremden Räumen beschreibt. Der Gesellschaftsbegriff hebt in diesem Sinne stärker auf das Einzeln-Sein der Mitglieder ab als der Gemeinschaftsbegriff, der das Gemeinsam-Sein bezeichnet. Ein solcher Gesellschaftsbegriff ist nicht synonym mit dem Begriff der bürgerlichen Gesellschaft, mit dem kritisch das geschäftige Nebeneinander strategisch kalkulierender egoistischer Nutzenmaximierer oder neutraler ein politischökonomischer Zustand erfasst wird. Auch Gemeinschaft fasse ich neutral als den kulturell gebildeten, historisch entwickelten Raum auf, von dem her wir uns verstehen, den wir aber überhaupt nur erfassen können, sofern wir uns als Einzelne in ihm bewegen, uns in ihm ,gesellen'. Gemeinschaft als gewordene, qualifizierte Bezugsgröße und Gesellschaft als der alltägliche Vollzug des irgendwie bestimmten Miteinanders stehen so in unlösbarem Zusammenhang. Keinem der beiden Aspekte kommt dabei das Primat zu. Fasse ich Gemeinschaft und Gesellschaft in dieser Weise, dann umgehe ich gleich zu Beginn einige Probleme der Theorien, die nur auf einen der Begriffe setzen. So hat eine Theorie, die sich nur auf den Gesellschaftsbegriff im Sinne der Einzelheit der Individuen beruft (Individualismus), ein Eintrittsproblem·. Sie kann nur sehr schwer erklären, wie das egoistische Einzelindividuum in die Gemeinschaft kommt. Gemeinschaft ist aber ein empirisches Phänomen, das in eine Theorie des Sozialen integriert werden muss. Eine Theorie hingegen, die der Gemeinschaft absoluten Vorrang einräumt und so behauptet, das Individuum lerne erst, sich als einzelnes wahrzunehmen (Kollektivismus), hat ein Austrittsproblem: Wie nämlich kommt das zunächst gemeinschaftliche Wesen zur Ausbildung einer individuellen Ich-Instanz, die als empirisches Phänomen ebenso unhintergehbar ist? Das eine ist ohne das andere nicht gegeben, so die Intuition, der ich in dieser Arbeit auf den Grund gehen möchte. Das Ineinander von Gemeinschaft und Gesellschaft, so die These, hat diese Probleme nicht, da wir einerseits stets vergesellschaftete Einzelwesen sind, dies aber andererseits nie anders als in Gemeinschaften sind. Die Idee ist weiterhin, dass diese Differenz im Sozialen es ermöglicht, sich zugleich als Teil eines Sozialzusammenhanges zu sehen und sich außerhalb dieses bestehenden Zusammenhangs zu stellen (Reflexivität), ohne ihn freilich sofort verlassen zu können. So wäre das Selbstverhältnis eines sozialen Zusammenhanges verständlich.
b) Dialektik
und kritische
Philosophie
Die mit der ersten themengebundenen in Zusammenhang stehende These zur Methode ist, dass eine Sozialphilosophie, die auf dem Ineinander der Begriffe von Gemeinschaft und Gesellschaft beruht, erstens dialektisch argumentiert und zweitens in der Tradition der kritischen Philosophie steht.5 Die Argumentation entfaltet sich also in einem Raum, 5
Die Verbindung von Dialektik und Kritik versteht auch Gerhard Gamm als produktiv für eine Sozialphilosophie. Man m ö g e „sich der Dialektik erinnern, die mit der Arbeit des Negativen oder
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EINLEITUNG
in dem sowohl Immanuel Kant als auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel und nicht zuletzt Karl Marx ihre unverwischbaren Spuren hinterlassen haben und der - trotz der zum Teil berechtigten und fur die philosophische Gegenwart korrigierenden Kritik - bis heute prägend ist. Wenige Worte will ich an dieser Stelle zu den Begriffen dialektisch und kritisch sagen. Die Dialektik ist lange schon in Verruf geraten. Sie impliziere eine Teleologie, die dem Totalitarismus Tür und Tor öffne, indem sie die totale Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem fordere, also etwa von Staat und Individuum. Mit der Dialektik sei weiterhin das Nicht-Identische gar nicht als Reales denkbar, zudem sei sie Ausdruck eines subjektzentrierten Logozentrismus, der das Körperliche, das Leibliche, kurz - die Natur des Menschen missachte. Ferner beruhe sie auf einem ontologischen Geistbegriff, der heute als antiquierte Metaphysik verabschiedet werden müsse.6 Keinem dieser Vorbehalte schließe ich mich an, wenngleich sicherlich problematische Stellen im Hegeischen Textkorpus in diese Richtung weisen könnten und so in der Nachfolge Hegels tradiert wurden.7 Es sei hier sehr knapp angedeutet, was ich im Rahmen meiner Ausführungen unter Dialektik verstehe: Mit Dialektik bezeichne ich hier die Entfaltung der Idee des Sozialen in ihre begrifflichen und realen Widersprüche Gemeinschaft und Gesellschaft bzw. die Standpunkte eines sozialen Ganzen und des Individuums sowie deren Aufhebung im Begriff sozialer Wirklichkeit unter Beibehaltung seiner sich widersprechenden grundlegenden Aspekte. Ein Begriff sozialer Wirklichkeit lässt sich als dialektische Logik der Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft entwickeln. Darunter verstehe ich den Nachweis, dass weder Gemeinschaft noch Gesellschaft allein einen sozialen Zusammenhang so beschreiben können, dass wir ihn seinem Wesen nach erfasst finden: - Der Gemeinschaftsbegriff kann es nicht, weil in ihm keine selbstbewussten Personen gedacht werden können, die aber eine Gemeinschaft überhaupt erst als eine solche konstituieren würden - und zwar ihrem Begriff als menschliche Gemeinschaft nach. - Doch auch der Gesellschaftsbegriff beschreibt kein wirkliches soziales Miteinander, insofern durch ihn die selbstbewussten, freien und gleichen Personen nur abstrakt, nicht aber als so-und-so geprägte soziale Individuen gedacht werden
6
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der Grammatik der Entzweiung einen methodischen Leitfaden besitzt, um soziale Ordnungen zu begreifen, die Synthesen allein dadurch stiften, daß der Widerstreit der gesellschaftlichen Sphären bzw. .Logiken' gegeneinander lebendig bleibt". So könne man eine Sozialphilosophie formulieren, die „nicht nur Kritik bestehender Verhältnisse, sondern auch Selbstkritik oder Kritik der unbewußten phantasmatischen Bildanteile [ist]" (Gamm 2001, S. 25f.). So Charles Taylor und zuletzt Axel Honneth, beide in darüber hinaus aktualisierenden Lektüren der Hegeischen Rechtsphilosophie (vgl. Taylor 1979, S. 135-139, vgl. Honneth 2001, S. 12). Programmatisch zu der in dieser Arbeit implizit vertretenen „Kritikkritik" an der Vernunftphilosophie Kants und seiner Nachfolger vgl. Stekeler-Weithofer 2003 (hier S. 34). Anlässlich einer Gegenrede zu evolutionistischen Zivilisationstheorien rekonstruiert Pirmin Stekeler-Weithofer knapp und konzise die „Kernideen" Kants und der Kant-Nachfolge, gelte es doch, „die üblichen Unterstellungen späterer Gegner und das On-Dit von 200 Jahren Feuilleton über diese Philosophie wenigstens zum Teil auszuräumen" (ebd.).
EINLEITUNG
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können. Die Freiheit und Gleichheit abstrakter Personen ist aber immer nur in bestimmten Verhältnissen verwirklicht. Der Begriff der Gesellschaft erfüllt sich also erst, indem er als Miteinander kulturell-historisch situierter, selbstbewusster Individuen begriffen wird. Beide Begriffe sind für sich genommen abstrakt, sie negieren einander und die soziale Wirklichkeit. Damit ist nicht (oder nur in einem sehr bestimmten Sinn) gemeint, dass der eine im anderen irgendwie aufgehoben werden soll. Es ist aber damit gemeint, dass sie in gewisser Weise ineinander aufgehoben sind, ohne dass sie damit schon ineinander überfiihrbar wären. Gemeinschaft und Gesellschaft bleiben voneinander unterschieden, sind aber je für sich allein nicht denkbar. Die sozialphilosophische Beschreibung dieses Ineinanders von Gemeinschaft und Gesellschaft kann den Ort und die Bedingung der Möglichkeit des Normativen in ihm ausweisen, ist aber selbst nicht unmittelbar normativ, sondern kritisch. Mit Kritik ist in Kantischer Tradition ein Abtasten der Grenzen bestimmter Vorstellungen gemeint. Von diesen Grenzen her zu denken, heißt kritisch denken. Mit einer kritischen Sozialphilosophie ist zudem gemeint, dass sie nicht auf die theoretische Bestimmung des Sozialen abzielt, sondern die Bedingungen der Möglichkeit des Sozialen zum Gegenstand hat. Das hat eine weitere praktische Konsequenz im kritischen Sinn zur Folge: Wenn das Soziale nicht prinzipiell so oder so bestimmt ist, dann ist es bestimmt worden, muss bestimmt werden und kann auch geändert werden. Die Möglichkeit, auf diese prinzipielle Unbestimmtheit des faktisch je bestimmten Sozialen aufzumerken, kann aus der Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft verstanden werden, wie sich mit Plessner zeigen lässt. Die Arbeit will also einen kriterialen Sinn der These vom dialektischen Ineinander von Gemeinschaft und Gesellschaft kenntlich machen und versteht sich so als kritische Sozialphilosophie.
c) Begriffsgeschichte Es wäre nun sicherlich möglich gewesen, von der Alltagssprache ausgehend analytisch eine Differenz zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft auszuloten. 8 Hier wird ein andeDie Gegenwartsphilosophie und insbesondere die so genannte analytische Philosophie hat sich verschiedentlich mit der Konstitution des Sozialen befasst, vornehmlich unter den Stichworten kollektive Intentionalität, kollektives Handeln (Tuomela 1995, ders. 2000, Baltzer 1999, Stekeler-Weithofer 2002), Soziale Tatsachen (Gilbert 1989, Searle 1997, zu einer Kritik an Searles sozialbiologischem Reduktionismus vgl. Waldenfels 1998, zu einer Kritik seines Institutionenbegriffs vgl. Celano 1999) und Verwendung des Wortes ,Wir' (Tuomela 1995, Schmid 2005). Auf der einen Seite stehen hier eher holistische Ansätze wie Robert Brandoms gewissermaßen an Hegel orientierter Pragmatismus (Brandom 2000) sowie Hans Bernhard Schmids Heidegger-Analyse (Schmid 2005). Schmid wendet sich gegen den methodischen Individualismus und fordert die Formulierung einer Sozialontologie, die nicht nur auf rationaler Überzeugung beruht. Udo Tietz hingegen beruft sich positiv auf den methodischen Individualismus (vgl. Tietz 2002, S. 48ff.) in seiner Auseinandersetzung mit Gemeinschaft als grundlegendem Begriff fur Gemeinsinn und Gemeinwohl, also für deskriptive und normative Elemente einer Sozialontologie, hier in Anlehnung an Jürgen Habermas und Brandom eher als rationale Überzeugungsgemeinschaft verstanden. Tietz gehört damit in der analytischen Tradition
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rer Zugriff gewählt, indem zwei philosophische Positionen ausgewählt wurden, auf die sich die systematische Argumentation stützt. Um diese besser situieren zu können, möchte ich einige begriffsgeschichtliche Bemerkungen vorweg schicken, obgleich sie fur die oben skizzierten systematischen Thesen nur mittelbare Bedeutung haben. Es zeigt sich, dass der Bedeutungsraum, in dem Gemeinschaft und Gesellschaft sich begegnen oder gegeneinander abgesetzt werden, sehr heterogen ist und starkem historischem Wandel unterliegt. Die Antithese von Gemeinschaft und Gesellschaft wird zwar erst im 19. Jahrhundert virulent, der Sache nach ist sie aber sehr viel älter. In ihr stehen sich die sozialphilosophischen Standpunkte Kollektivismus und Individualismus, die politikphilosophischen Traditionen des Aristotelismus und des Kontraktualismus sowie deren Leitmetaphern Organismus und Mechanismus gegenüber. Die Auseinandersetzung mit den Begriffen Gemeinschaft und Gesellschaft hat - zumeist unter anderen Namen eine lange Tradition. Etymologisch lässt sich Gesellschaft auf das althochdeutsche sal und dessen Komposita giselle, gisellio, mittelhochdeutsch geselle (Geselle, der Wohn- und Hausgenosse) und gisellascaft, giselliscaft zurückverfolgen. Er bedeutet zunächst die durch Handlung und Sprache entstehende Verbindung sowie den Zustand des Verbundenseins.9 Theodor Geiger hat betont, dass dem Begriff Gesellschaft seiner Herkunft nach die Vorstellung des räumlichen Nebeneinanders von Personen innewohnt.10 Dieser Aspekt hat sich im Begriff der Geselligkeit erhalten, der besonders während der Salonkultur seit Ende des 17. Jahrhunderts geprägt wurde und sich dort mit dem Gedanken der Bildung einer sittlichen Menschheit verbindet, aber auch stark elitäre Züge aufweist.11 Gemeinschaft leitet sich vom mittelhochdeutschen Wort gemeine (althochdeutsch gemeinidä) her, das ,zusammengehörig, gemeinsam, allgemein' bedeutet. Die Wurzel dieses Wortes liegt im Lateinischen munus (Amt, Wirkungskreis) und communis (gemeinsam, öffentlich).12
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zu der Seite, die eher individualistischem Denken verpflichtet ist wie Raimo Tuomela, Wolfgang Detel oder auch - wenngleich gemäßigt - Margaret Gilbert in ihrem für die Diskussion klassisch gewordenen Werk Ort Social Facts (Gilbert 1989). Ulrich Baltzer legt eine Sozialontologie vor, die auf der Differenz von individuellem und sozialem Handeln beruht. Letzteres wird binnendifferenziert nach der Stärke des bejahten oder bloß zufälligen bzw. gerade noch geduldeten sozialen Handelns (vgl. Baltzer 1999, Kap. 3.7). Zum Stand der Diskussion vgl. Jansen 2005 sowie zwei in Leipzig entstandene neuere Sammelbände, die einen guten Überblick bieten. Nikos Psarros und Katinka Schulte-Ostermann geben in Facets of Sociality eher holistisch orientierten Positionen Raum (Psarros/Schulte-Ostermann 2007). Die beiden Herausgeber des Bandes verstehen ihn als Gegenstück zu dem von Georg Meggle edierten Sammelband Social Facts and Collective Intentionality (Meggle 2002), insofern dieser eher reduktionistisch-naturalistischen Analysen verpflichtet sei (vgl. Psarros/ Schulte-Ostermann 2007, S. I). Insgesamt ist in der Diskussion gerade zu Beginn bei Gilbert, Tuomela und Searle zu viel Gewicht auf das gemeinsame, intendierte Handeln gelegt worden, wodurch unreflektierte Formen sozialen Miteinanders ausgeblendet werden. Vgl. Riedel 1975, S. 801, Pfeifer u.a. 1995, S. 439 (Art. „Geselle"). Vgl. Kaupp 1974, Sp. 460, Geiger, „ Gesellschaft", S. 202. Vgl. zum Begriff der Geselligkeit Gehring 1969, Sennett 2001 (bes. Kap. 3-6), Riedel 1975, S. 819f. In dieser Arbeit als Exkurs in Kap. 6.2 behandelt. Vgl. Riedel 1975, S.801f.
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„Das Wort", so Manfred Riedel, „bezeichnet einerseits die durch gemeinsames Sprechen (schon in ahd. ,meinan', ,denken', ,sagen', ,beraten' = innerhalb des ,Ringes' einer Gemeinschaft verbindlich reden und raten!) und Handeln bewirkte personale Verbindung zwischen Menschen".13 Wie für Gesellschaft, so gelte auch für Gemeinschaft, dass der Begriff sowohl das aktuelle Beisammensein als auch das aktualisierbare ,,soziale[] Handlungsschema" bezeichne.14 Etymologisch lässt sich also im Grunde kein signifikanter Unterschied zwischen den Begriffen aufzeigen, auch die bei Geiger betonte räumliche Bedeutung von Gesellschaft wird verzerrt, bedenkt man die Bedeutung von Gemeinschaft als Sprechen in einem Ring. Nicht nur etymologisch, sondern auch begrififsgeschichtlich lässt sich der Antithese von Gemeinschaft und Gesellschaft kaum auf die Schliche kommen. Riedel betont in seinem Artikel Gesellschaft, Gemeinschaft in den Geschichtlichen Grundbegriffen wiederholt den synonymen Gebrauch der Begriffe bis ins 19. Jahrhundert hinein.15 Er weist dabei nach, dass die Genese der Gegenüberstellung nicht losgelöst von der Sozial- und politischen Geschichte des 19. Jahrhunderts verstanden werden könne. Auch Karl Hermann Tjaden weist darauf hin, dass der Gesellschaftsbegriff erst „im Denken des frühen Bürgertums ausgearbeitet" wurde.16 In diesem Zusammenhang ist es erwähnenswert, dass die synonym verwendeten Begriffe einen „wertneutral-unemphatischen Gebrauch" haben, der einfach nur auf die soziale Verbundenheit überhaupt abzielt.17 Man könnte für die Entstehung der Bedeutungsdifferenz von Gemeinschaft und Gesellschaft sowie deren normative Aufladung eine Problemgeschichte schreiben, die ich hier nur am Rande mitführen kann. Der Sache nach ist die Auseinandersetzung mit Sozialität und sozialen Phänomenen natürlich sehr viel älter: Von der Raumvorstellung losgelöst erhält sich im Gesellschaftsbegriff eine bereits in der römischen Antike vorfindliche rechtssprachliche Dimension von societas. Gesellschaft bedeutet hier die „gesellige, aber auch vertragsartige Zweckvereinigung prinzipiell freier und gleicher Partner".18 Diese Bedeutung hat sich bis in die heutige Rechtssprache hinein erhalten, die Gesellschaft als Personenvereinigung versteht, in der „sich die Mitglieder zur Erreichung eines bestimmten gemeinsamen Zwecks durch Rechtsgeschäft zusammenschließen".19 Die Jurisprudenz kennt auch heute noch den Unterschied zur Gemeinschaft, die eine Verbindung von Personen darstellt, in der „ein Recht mehreren gemeinschaftlich" zusteht.20 (Freilich sind auch hier die Begriffe nicht immer trennscharf.) Diese Differenzierung schreibt sich aber nicht von der Antike her: Das Lateinische kennt keinen Unterschied systematischer Natur zwischen societas und communitas. Auch das Griechische macht einen solchen Unterschied nicht, die Aristotelische 13 14 15 16 17 18 19 20
Ebd., S. 802. Ebd. Vgl. ebd., z.B. S. 807ff., S. 816ff. Tjaden 1990a, S. 339. Vgl. Riedel 1975, S. 808. Kaupp 1974, Sp. 460. Hennrichs 2001, S. 1946 (Art. „Gesellschaft"). Grunsky 2001, S. 1848 (Art. „Gemeinschaft").
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Identifizierung von koinonia (Gemeinschaft) und polis (Stadtstaat) hat dabei aber eine durchaus vom römischen Rechtsbegriff nochmal zu unterscheidende Bedeutung, weil sie politisch konnotiert ist.21 Die Aristotelische koinonia politike ist der politisch bestimmte gemeinsame öffentliche Raum der bürgerlichen Gesellschaft, der vor allem von den unmittelbaren Bedürfnissen der Sphäre des Hauses (oikos) abgegrenzt werden soll. Ihrem begrifflichen Ursprung in der griechischen Antike nach ist die bürgerliche Gesellschaft demzufolge losgelöst von der Ökonomie zu betrachten - in dieser Weise hat Hannah Arendt in ihrer 1958 erschienen Schrift Vita Activa versucht, den Begriff des Politischen von Aristoteles her zu reaktivieren. Ein demgegenüber veränderter Begriff von Gesellschaft findet sich im 17. Jahrhundert unter dem Einfluss einer zunehmend als kontingent empfundenen Ordnung des Sozialen. Anders als Aristoteles trennt Thomas Hobbes Gesellschaft und politische Ordnung der Gesellschaft im Staat voneinander. Insofern menschliches Miteinander (Gesellschaft) aber vorstaatlich gar nicht möglich ist, wie Hobbes im Leviathan (1651) nachweist, ist auch bei ihm die Gesellschaft immer schon politisch zu denken. Allein der Sinn dieses Gedankens ist hier radikal abzuheben von der antiken pofo-Vorstellung. Während dort das Naturrecht die Ordnung gibt, ist bei Hobbes die politische Regelung zwar zwingend, schreibt sich aber von der historisch geprägten Lebenswelt her und ist also nicht naturrechtlich prästabiliert. Der vorpolitische Naturzustand einzelner Menschen, die auf ihr eigenes Überleben bedacht sind, dient Hobbes dabei lediglich zur Demonstration der Dienlichkeit der staatlich verfassten Gesellschaft für alle. Dieser Legitimation bedarf es bei Hobbes, da die Ausgestaltung des menschlichen Miteinanders eben nicht naturgegeben ist - nur dass es politisch gestaltet sein muss, ist naturgegeben. Die hier einsetzende Differenzierung von politischer Gesellschaft (Staat) und Gesellschaft als das gelebte Miteinander in einem räumlichen Zusammenhang wird nun selbst politisch. Staat und Gesellschaft sind in der Folge nicht mehr einfach zu identifizieren und werden als gegenseitig korrektive Begriffe eingesetzt. Jean-Jacques Rousseau, gemeinhin als scharfer Kritiker der modernen Gesellschaft bekannt, meint nun im Hobbesschen Naturzustand (als Krieg eines jeden gegen einen jeden) schlicht die moderne, vom ökonomischen Interesse geprägte Konkurrenzgesellschaft wieder zu erkennen.22 Die historische Kontingenz der modernen Konkurrenzgesellschaft soll nun aber nicht die politische Ordnung des Sozialwesens bestimmen. Daher trennt Rousseau - wie es später auch Hegel tun wird - die nunmehr als geschäftsmäßig-bürgerlich gekennzeichnete Gesellschaft und deren politische Organisation im Staat. Hier entsteht der heute geläufige Begriff der bürgerlichen Gesellschaft. Bürgerliche Gesellschaft wird als der Raum vorgestellt, in dem Freie und Gleiche zum Zweck der Erfüllung der je eigenen Privatinteressen 21 22
Vgl. Kaupp 1974, Sp. 461. So Rousseau 1755 im Diskurs über die Ungleichheit, S. 215-221, vgl. dazu Kersting 2005, S. 141— 144 sowie einflussreich auch Crawford Β. Macphersons Politische Theorie des Besitzindividualismus von 1962 (Macpherson1990, knapper auch ders. 1996), in der dieser Vorwurf an Hobbes marxistisch motiviert erneuert wird. Der spätere Rousseau ( Vom Gesellschaftsvertrag, 1762) wird sich weniger stark von Hobbes unterscheiden, insofern er das Vertragsparadigma nicht mehr prinzipiell ablehnt.
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vertragsmäßig oder gesellig zusammenkommen und der zumeist in einem Staat gedacht wird, so dass dieser Austausch in einer Sphäre des Rechts und der politischen Ordnung also im Einklang mit dem öffentlichen Interesse geregelt ist. Diese begriffliche Trennung hat zunächst einmal normativen Gehalt, da es sein kann, dass die politische Ordnung von wirtschaftlichen Interessen bestimmt wird - der Naturzustand sich bekämpfender Einzelinteressen sich also im Staat findet und diesen bestimmt. 23 Die Trennung von Staat und (bürgerlicher) Gesellschaft besagt in dieser Hinsicht, dass der Staat sich nicht von wirtschaftlichen Interessen bestimmen lassen soll. Diese normative Dimension ist in Hegels Begriff des sittlichen Staates in den Grundlinien der Rechtsphilosophie (1821) virulent. Die Kritik an der Bestimmung des Politischen durch das Privatinteresse der einzelnen Bürger findet sich im Anschluss an Hegel bei Marx und Tönnies. Bei Hegel ist auch die Trennung von Familie, bürgerlicher Gesellschaft und sittlichem Staat von Bedeutung, in der die aus der Antike überkommene Trennlinie privat-öffentlich (oikos-polis) wieder begegnet. Die Trennung ist bei Hegel aber doppeldeutig: Privat ist zunächst wie in der Antike die Familie, öffentlich die bürgerliche Gesellschaft. In der bürgerlichen Gesellschaft als dem System der Bedürfnisse herrsche aber in der Moderne das private Interesse einzelner Personen als bestimmendes Element vor - so ist die Öffentlichkeit geprägt durch Privatheit. Insofern es der Familie hingegen um sich selbst als Einheit geht, übersteigt sie den Einzelnen. Diese Sorge um das Ganze kehrt nun auf der Ebene der Öffentlichkeit des sittlichen Staates bei Hegel wieder. Der Staat soll seine Bestimmung nicht durch individuelle Privatinteressen, sondern durch Gemeinwohlorientierung erhalten, so wird er sittlicher Staat. Der Begriff der Gesellschaft wird seither als bürgerliche Gesellschaft verstanden und steht so einerseits in der Kritik, andererseits bezeichnet er - so bereits bei Hegel - den Ort, von dem her das Problem zu lösen ist.24 Wie schon bei Hobbes besteht das Problem der (bürgerlichen) Gesellschaft im Widerstreit der Interessen freier und gleicher Personen. Seit Rousseau und Kant wird Freiheit im Sinne von Autonomie als Bedingung der Möglichkeit zur Gestaltung des Miteinanders aufgefasst und hat so problemlösende Bedeutung gewonnen. Das Miteinander soll im Medium politischer Ordnung und rechtlicher Regelung zu einem Miteinander freier und gleicher Personen werden, deren widerstreitenden Interessen keine destruktive Kraft mehr zukommt. Wie diese Einschränkung der privaten Freiheit zur Vergrößerung der Freiheit aller zu gestalten ist, hat seither unablässig die Gemüter bewegt. Riedel konstatiert, dass „Hegels Problematisierung des nationalökonomischen S y s tems der Bedürfnisse' [...] das Zwischenglied in der Entwicklung von der traditionellen zur kritischen Theorie der Gesellschaft" 25 bilde. Als eine Station versteht er dabei das Auseinandertreten der Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft. Erst im 19. Jahrhundert 23 24
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Vgl. Riedel 1975, S. 827. Auf den Charakter simultaner Problemstellung und -lösung durch ein modernes Verständnis von vernunftbegründeter Freiheit des Menschen stützt sich prominent Habermas' These vom Philosophischen Diskurs der Moderne (Habermas 1988). Riedel 1975, S. 839.
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entwickeln sich Gemeinschaft und Gesellschaft als deutlich voneinander unterschiedene Begriffe, die vor allem wertend gegeneinander abgesetzt werden. Lorenz von Stein ist 1842 der erste {Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsre Tage), der die Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft systematisch voneinander trennt. Robert von Mohl tut es ihm in seiner Geschichte der Literatur und Staatswissenschaft (1855) nach. Im Anschluss an Hegel ist in den Begriff der Gemeinschaft stets die Sphäre der Familie eingeschrieben, während Gesellschaft mit der Hegeischen bürgerlichen Gesellschaft konnotiert wird. So ist es konsequent, wenn die von Hans Sandkühler herausgegebene Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften (1990) für den Begriff Gemeinschaft dann auch direkt auf den Artikel Familie verweist. Für die auf Hegel folgenden Entwürfe bleibt die Trennung von Staat und Gesellschaft zwar erhalten, der Gesellschaftsbegriff wird dabei aber zunehmend von dem der bürgerlichen Gesellschaft abgehoben.26 Bereits Marx begreift die bürgerliche Gesellschaft als eine Gesellschaftsformation' unter verschiedenen möglichen und verwendet selbst keinen allgemeinen Begriff von Gesellschaft.27 Die frühen soziologischen Theorien Tönnies' und Emile Dürkheims stellen die verschiedenen Gesellschaftsformationen nicht mehr als historische Epochen dar, sondern als grundlegende gesellschaftliche Formen.28 Es gibt also in der Nachfolge Hegels Entwürfe, die seine Sozialphilosophie nicht als teleologischen Gedanken der Vermittlung von Familie und bürgerlicher Gesellschaft zum sittlichen Staat verstehen. Es geht ihnen systematisch um die Erfassung des sozialen Ganzen unter den ineinander verschränkten genetischen (Familie), deskriptiven (bürgerliche Gesellschaft) und normativen (Sittlichkeit) Aspekten. Sofern Gesellschaft dabei aber auf den Begriff der bürgerlichen Gesellschaft und die ihm korrespondierende konkrete Vorstellung verengt wird, ist auch Gemeinschaft nur als Bezeichnung für die Sphäre der Familie anwendbar. Dabei ist dann zu bedenken, dass unsere Vorstellung von Familie recht jung ist, sie datiert gerade einmal in die historische Epoche der erstarkten bürgerlichen Gesellschaft im 17. und 18. Jahrhundert zurück. Diese Begriffe von Gemeinschaft und Gesellschaft hätten also nur für die Moderne deskriptive Kraft. Tönnies' Begriffspaar {Gemeinschaft und Gesellschaft, 1887) beansprucht aber ein darüber hinausgehendes Fassungsvermögen - Gemeinschaft und Gesellschaft sollen in systematischem Sinne Grundformen des sozialen Miteinanders sein. Zugleich soll die wissenschaftliche Ausgestaltung der Begriffe aber sowohl den normativen Vorstellungen als auch den „Weiten des Sprachgebrauchs gerecht" werden, fordert Tönnies.29 Vor dem 26
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Gerhard Kraiker historisiert den Begriff der bürgerlichen Gesellschaft in starkem Maße, in der Gegenwart spiele er - nach einem kurzen Nachleben in der Kritischen Theorie - eigentlich keine Rolle mehr (vgl. Kraiker 1990, S. 337). Marx wendet sich dabei vor allem gegen Hegel, insofern „Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind, noch aus der so genannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln", die eine entwickelte Gesellschaftsformation prägen (Marx, Kritik der politischen Ökonomie, S. 100). Vgl. Tjaden 1990b, S. 351. Vgl. Tönnies, Vorrede der dritten Auflage von GuG, S. 104. Diese Vorrede erschien nie als Teil von Gemeinschaft und Gesellschaft, sondern in der Zeitschrift Die Neue Zeit 37.2 (1919), Gemein-
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Hintergrund sozialer Missstände, revolutionären Geistes s o w i e restaurativer Tendenzen i m 19. Jahrhundert entwirft Tönnies die B e g r i f f e antithetisch. Gemeinschaft ist dabei stets der positivere Begriff, während Gesellschaft als bürgerliche Tauschgesellschaft harscher Kritik unterworfen wird. Erst seine Ü b e r l e g u n g e n z u m Naturrecht und z u einem sittlichen Staatsbegriff m a c h e n die T ö n n i e s s c h e n Ausführungen fur eine nicht regional auf die Moderne beschränkte Sozialphilosophie fruchtbar. T ö n n i e s gilt z u s a m m e n mit dem jüngeren Georg S i m m e l als Begründer der deutschsprachigen S o z i o l o g i e , die bereits bei Auguste C o m t e und Herbert Spencer als Wissenschaft bezeichnet wird. S i m m e l geht auf den Gemeinschaftsbegriff nicht ein, sondern untersucht einen w e i t e n Gesellschaftsbegriff, der nicht als bürgerliche Gesellschaft zu verstehen ist. Der B e g r i f f bleibt aber diffus, so dass M a x Weber ihn ganz ablehnt. 3 0 D i e T ö n n i e s s c h e Gegenüberstellung v o n G e m e i n s c h a f t und Gesellschaft als systematische Grundbegrifflichkeit führt in den f o l g e n d e n Jahren ein akademisches Schattendasein und entfaltet ihre Wirkung vielmehr abseits wissenschaftlicher Auseinandersetzung. In einer durch den Ersten Weltkrieg zerrütteten, politisch unruhigen Zeit erfährt die erst 1912 zum z w e i t e n Mal aufgelegte T ö n n i e s s c h e Schrift bis in das Jahr 1935 ihre achte Auflage. In der Zeit der Weimarer Republik b e k o m m t die T ö n n i e s s c h e Antithese ihre stärkste und fragwürdigste Kraft. 31 (Tönnies selbst trat 1930 in die S P D ein und wurde im September 1933 durch die N a z i s seines A m t e s enthoben.) 3 2 In kulturpessimistischen Diskursen einerseits
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schaft und Gesellschaft erschien 1920 ohne eine neue Vorrede in dritter Auflage (vgl. ebd., S. 103, Fn. 1). Vgl. Riedel 1975, S. 858. Zur Wirkung der Antithese vgl. Braun 1991. Tönnies hat sich verschiedentlich ablehnend zum Nationalsozialismus geäußert (vgl. die unter dem Titel Kampf gegen Hitler aufgeführten Schriften im 22. Band der Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe). Unter anderem zweimal in der Vossischen Zeitung, erst anlässlich der (vergeblichen) Unterstützung des Philosophen Jonas Cohn bei der Bewerbung für eine Professur an der Universität Breslau (Tönnies, Das Breslauer Ereignis, 31.12.1932), dann reagierend auf die darauf im Völkischen Beobachter und im Kieler Blatt der NSDAP ( Volkskampf) erfolgten Angriffe auf seine Person (Tönnies, Shylock, 25.1.1933). Aus dem Völkischen Beobachter zitiert er die Reaktion auf seinen Artikel vom Dezember 1932: „Wir sind mit Lust Barbaren, wenn das öde Nachplappern demagogischer Plakatbegriffe unter geistigen Größen wie Ferdinand Tönnies [...] Anspruch auf Kultur machen sollte" (Tönnies, Shylock, S. 315). Tönnies war bemüht um einen wissenschaftlichen Umgang - sein Schüler Rudolf Heberle begann bereits 1930 mit einer ,,breitangelegte[n] Analyse der Wahlergebnisse in Schleswig-Holstein" (Zander 2004b, S. 57). Informativ zu Tönnies' Einschätzung des Nationalsozialismus ist der quellengesättigte Artikel von Jürgen Zander 2004b (erstmals erschienen 2002) sowie der Beitrag von Rode/Klug 1981. Die Autoren stellen überzeugend dar, dass Tönnies sich über Ziele und Ausmaß der herannahenden Katastrophe nicht recht im Klaren war (Zander spricht sogar von einer „grundfalschen Einschätzung" (Zander 2004b, S. 57)), die Person Hitlers ebenso wie den Charakter der Nazi-Bewegung aber immer wieder explizit ablehnte. Er begründete, so Zander, Klug und Rode, seine Haltung jedoch nicht mit der Ablehnung des Faschismus, sondern mit der Befürchtung, die Nazis wollten die Monarchie wieder herstellen. Vgl. auch Bickel 1991, S. 319f., Fn. 17. Siehe bei allem Ressentiment gegenüber Tönnies als Wissenschaftler auch René König in diesem Sinne (vgl. König 1955, S. 350, Fn. 5). Zum Umgang mit dem Wissenschaftler Tönnies an der Universität zu Kiel während des Nationalsozialismus vgl. Erdmann 1967.
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und in völkisch-nationaler Agitation andererseits bewährt sich nun der Ruf nach Gemeinschaft als ursprünglicher Form des Miteinanders. Dabei wird Tönnies' Darstellungsweise der Kritik an der modernen Gesellschaft zudem leicht anschließbar für damals besonders virulente antisemitische Topoi. In der Kritik am geschäftigen Materialismus und der entwurzelten Heimatlosigkeit des Stadtlebens ist der alte Ahasvertopos ebenso lebendig wie in der Verachtung von Maskerade und künstlichem Sich-Verhalten. Tönnies selbst ist an dieser Nutzbarmachung seiner Schrift nicht ganz unbeteiligt, wenngleich er sie explizit ablehnte.33 Plessner greift mit seiner Schrift Grenzen der Gemeinschaft (1924) in die politisierte Stimmung der 1920er Jahre ein und entwirft eine Theorie der philosophisch-anthropologisch begründeten Unhintergehbarkeit von Gesellschaft und damit auch von Politik. Die Schrift wendet sich im Sinne einer Ideologiekritik explizit gegen die vermeintliche Tönniessche Höherwertung von Gemeinschaft gegenüber Gesellschaft. Die Plessnersche Reaktualisierung eines neutralen Gesellschaftsbegriffes, der nicht unpolitisch zu denken ist, markiert in gewisser Hinsicht einen Neueinsatz gegen die aus dem 19. Jahrhundert stammende Kontrastierung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat - wenngleich die Begriffe auch bei Plessner keinesfalls konvergieren. d) Anlage der Arbeit Die Arbeit gliedert sich in zwei Teile, die unabhängig voneinander lesbar sind, wenngleich sich ein vollständiges Bild dessen, was ich mit einer kritischen Sozialphilosophie meine, erst durch ein Zusammenspiel der beiden rekonstruierten Positionen ergibt. Der erste Teil geht von Tönnies' Schrift Gemeinschaft und Gesellschaft aus und endet mit einem vorläufigen Resümee. Der zweite Teil der Arbeit ist Plessners Grenzen der Gemeinschaft und den Stufen des Organischen und der Mensch (1928) gewidmet. Zusammenfassend gebe ich einen Ausblick auf die so genannte Kommunitarismusdebatte, in der die Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft wieder kurrent geworden sind. Die Brücke vom ersten zum zweiten Teil der Arbeit bildet nicht nur die Frage nach dem systematischen Status von Gemeinschaft und Gesellschaft, sondern auch eine philosophiegeschichtliche Tradition, die sich durch genaue Lektüre rekonstruieren lässt.34 Die 33
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Er steht damit auch nicht allein, wie Gérard Raulet am Beispiel des jungen Herbert Marcuse zeigt (Raulet 1994), der durchaus eine Ideologie sogar einer neuen deutschen Gemeinschaft vertrat, sich aber ebenso wenig durch die nationalsozialistische Propaganda einnehmen ließ wie Tönnies. Während zum Zeitpunkt des erstmaligen Erscheinens der Grenzen der Gemeinschaft Tönnies' Gemeinschaft und Gesellschaft sehr präsent gewesen ist, wie der Bezug auf Tönnies in den Rezensionen der Grenzen zeigt (vgl. Kracauer, Philosophie der Gemeinschaft, von Bubnoff, Rezension von , Grenzen der Gemeinschaft ', Wust, Helmuth Pleßners , Grenzen der Gemeinschaft '), ist das Verhältnis Plessner-Tönnies seither selten traktiert worden. Explizit ist es bei Manfred Gangl Thema, der sich ebenso auf die unvereinbaren Differenzen zwischen den beiden Positionen beruft (Gangl 1996) wie Isabel Wenzler-Stöckel, die differenzierte Tönnies-Lesarten aus feministischer Perspektive unter generellen Ideologieverdacht stellt und daher die These einer Kontinuität von Tönnies zu Plessner kategorisch ablehnt (Wenzler-Stöckel 1998). Cornelius Bickel äußert sich zum Verhältnis
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Idee, eine Traditionslinie zu etablieren, ist dabei erst im Verlauf der Arbeit entstanden. Ursprünglich habe ich Plessners Philosophie - wie allgemein üblich - eher als Bruch mit der von Tönnies ausgehenden Begriffstradition verstanden. Erst die Arbeit an den begriffslogischen Grundlagen der Tönniesschen Schrift förderte die systematische Kontinuität zutage. Plessner selbst hat sich freilich als Kontrahent zu Tönnies' Gemeinschaft und Gesellschaft verstanden. Tönnies hingegen bezeugt in einer Rezension wohlwollende Zustimmung zu Plessners Grenzen der Gemeinschaft, versteht gleichwohl nicht, weshalb dieser so viel theoretischen Aufwand betrieben habe.35 Kontinuitäten und Diskontinuitäten von Tönnies zu Plessner hin sichtbar zu machen, ist gewissermaßen das philosophiegeschichtliche Anliegen der Arbeit. Die Systematik dieses Unternehmens wird deutlich, wenn man bedenkt, dass sich im realpolitischen Sinne zwei im Grunde unvereinbare Positionen gegenüber stehen. Während Tönnies' Gemeinschaftsethos sich in der (wissenschaftlichen) Unterstützung der Hafenarbeiterunruhen in Hamburg wie überhaupt einer Sympathie für das Proletarische niederschlägt, spricht Plessner davon, wie gut es sei, dass die Masse schlafe und dass es einen Führer brauche, der das geschäftige Alltägliche zur Sicherheit aller klug regele. Um diesen - überspitzt formulierten - Gegensatz zu verstehen, ist es sicherlich bedenkenswert, dass Plessner seinen Gegeneinsatz zur Gemeinschaftsgesinnung zu einer Zeit verfasst, in der sich radikale Bewegungen, die sich unter anderem auf Tönnies beriefen, gegen jeden Liberalismus und fur eine ,totale Gemeinschaft' aussprachen. Zunächst einmal lässt sich dieses Gegeneinander konkreter politischer Haltungen Tönnies' und Plessners nur als Tatsache konstatieren. Interessant wird dies zumal für eine philosophische Systematik erst, wenn man behauptet, dass es sich im theoretischen Sinne keineswegs um diametral entgegengesetzte Positionen handelt, sondern dass die philosophischen Gehalte große Ähnlichkeiten aufweisen.36 Das bedeutet nun gerade nicht die Schwäche der beiden sozialphilosophischen Ansätze, sondern ihre problemorientierte Stärke - sie dienen nicht zur Legitimation dieses oder jenes politischen Programms, sondern zum Verständnis des Sozialen überhaupt. Zum Verständnis also der Möglichkeit einer menschlichen Welt im Hinblick auf das Miteinander-Umgehen der Menschen in der Welt, hinter das man nicht zurück kann, aus dem man nicht heraus kann, in dem man je schon ist, von dem her man
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Plessner - Tönnies in Richtung der ihnen beiden gemeinsamen Kritik am politischen Irrationalismus (vgl. Bickel 1991, S. 30ff. und S. 292-300, vgl. auch ders. 2002). Weiterhin behandelt Kurt Röttgers das Verhältnis knapp (vgl. Röttgers 2002, S. 82-95). Erwähnt wird Plessners Bezug auf Tönnies freilich häufig, zumeist aber eher beiläufig abgrenzend (vgl. z.B. Fischer 1993, S. 62f., Flego 1993, S. 69f. oder anlässlich der englischen Übersetzung von Grenzen der Gemeinschaft auch Grosby 2002, S. 606). Vgl. Tönnies, Rezension von ,Grenzen der Gemeinschaft', S. 356. Michael Makropoulos weist daraufhin, dass in den 1920er Jahren des 20. Jahrhunderts die „entscheidende Dichotomie [...] nicht die zwischen .rechts' und ,links' oder .konservativ' und .progressiv'" gewesen sei, „sondern zwischen Positionen und Konzepten, die [...] auf Kontingenzaufhebung zielten - so oder so - , und solchen, die etwas anvisierten, was man Kontingenztoleranz nennen könnte" (Makropoulos 1994, S. 211). Plessner stellt für ihn einen Vertreter der zweiten Haltung dar (vgl. ebd., S. 210).
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sich - auch als Einzelne - versteht.37 Um die Darstellung dieses systematischen Zusammenhangs geht es in beiden Teilen der Arbeit mit je unterschiedlich gesetztem Fokus. Während bei Tönnies die unwillkürliche Prägung des Individuums durch soziale Verhältnisse sowie die unterschiedlichen Formen dieser Verhältnisse stärker als bei Plessner herausgearbeitet werden, ist bei Plessner eher sichtbar, wie Gemeinschaft und Gesellschaft sich in der sozialen Wirklichkeit konkret verschränken und wie philosophisch-anthropologisch die Bedingung der Möglichkeit von Sozialkritik durch sozial bedingte Individuen verstanden werden kann. Im ersten Teil der Arbeit geht es implizit auch um eine Kritik der Lesart, in der Tönnies noch bis heute Stichwortgeber ist; Tönnies als Kulturpessimist, der zurück zu Blut und Boden, zur Scholle, zum Volk will. Ein Tönnies, der auch immer wieder aufflammenden Rufen nach einer , Leitkultur' oder einer - inzwischen aufgelösten - politischen Rechtsaußen-Formation, die sich ,Identität, Tradition, Souveränität' (ITS) fur das europäische Parlament auf die Fahnen geschrieben hat, zupass kommt.38 Ein Tönnies auch, der für die ,act local'-Politik von Globalisierungsgegnern bzw. an Antonio Negri und Michael Hardts Vision einer sich global „als handelndes Subjekt" konstituierenden proletarischen Menge anschließbar ist.39 Die Überbewertung von Tradition und nationaler Identität lässt sich sowohl direkt als auch indirekt bereits am Tönniesschen Text selbst widerlegen, wenngleich diese Erkenntnis erst neuerlich ins wissenschaftliche Bewusstsein dringt. Abgelehnt wird also die Idee, es handele sich bei Tönnies' Schrift um eine kulturpessimistische, reaktionäre Sozialethik, die alle gesellschaftlichen Elemente sozialer Interaktion zugunsten von gemeinschaftlichen ersetzen will. Stattdessen setze ich mich im ersten Kapitel mit dem auseinander, was Tönnies ,reine' Theorie von Gemeinschaft und Gesellschaft genannt hat, sowie mit den darin angelegten geschichtsphilosophischen Implikaten (Kap. 2). Das dritte Kapitel traktiert im Rahmen Hegelscher Logik die begriffslogische Grundlage eines im ersten Kapitel bereits deutlich gemachten dialektischen Verhältnisses der beiden Grundbegriffe bei Tönnies (Kap. 3). Die Rekonstruktion der fundamentalen Gehalte des Theorems von der dialektischen Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft, befrage ich abschließend auf ihre bei Tönnies betonte praktisch-politische Relevanz hin, die mit dem Begriff einer politischen Gemeinschaft verdeutlicht werden kann (Kap. 4). 37
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Die Frage nach der Möglichkeit einer menschlichen Welt hat Rentsch wiederholt als Grundfrage philosophischen Nachdenkens ausgewiesen und dabei prägnant die Grundzüge des „gemeinsamen Lebens in einer gemeinsamen Welt" betont (vgl. Rentsch 1999, dort insbes. §§ 4 u. 17, hier S. 193, und auch ders. 1995). Der Soziologe Karl-Siegbert Rehberg bemerkt in diesem Zusammenhang polemisch, dass im Nachwende-Deutschland die frühere DDR „als Hort der ,Gemeinschaft'" betrachtet werde, „die in Deutschland in diesem an Schrecken nicht armen Jahrhundert gerne als Notgemeinschaft sich verklärte, Bindung und Leiden versprechend - eine sogar protestantisch rechtfertigbare Mischung menschlichen Glücks" (Rehberg 1993, S. 39). Rehberg verordnet der neu erwachten Sehnsucht nach Gemeinschaft „Selbstaufklärung über deren Aporetik [...]. Dazu trägt eine historische und systematische Wiederaneignung der Geschichte des Gemeinschafts-BegrifFs unmittelbar bei" (ebd., S. 40). Zum Thema Gemeinschaft und Gesellschaft im Nach-Wende-Deutschland vgl. Bialas 1995. Vgl. Hardt/Negri 2002, S. 404.
EINLEITUNG
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Plessner erkennt die Bedeutung der Tönniesschen Differenzierung und arbeitet sie systematisch aus, wenngleich er seine Position vermutlich nicht als Fortführung des Tönniesschen Projekts hätte verstanden wissen wollen. Hinsichtlich der Verwurzelung in einer Willenstheorie bei Tönnies und in einer philosophischen Anthropologie bei Plessner unterscheiden die Projekte sich ohnehin gravierend. Im sechsten Kapitel geht es um Überlegungen zu Plessners Schrift Grenzen der Gemeinschaft, auch hier wird zunächst eine bestimmte Lesart destruiert. Es ist die Lesart, die ein Primat der Gesellschaft bei Plessner behauptet und in diesem Sinne die Momente der Unbestimmtheit und des Spiels in starkem Maße hervortreten lässt. Zu sagen, diese Lesart sei falsch, wäre zu viel. Vielmehr verfehlt sie meines Erachtens den wesentlichen sozialphilosophischen Gehalt, durch den ein fundamentaler dialektischer Zusammenhang zwischen den zwei Plessnerschen Gemeinschaftssphären und ihrer Vermittlung in der Gesellschaft (Alltäglichkeit) hergestellt wird. Durch die Beschreibung dieses Zusammenhangs im alltäglichen Miteinander kann mit Plessner die Tönniessche Begriffslogik konkretisiert werden. Abschließend können die begrifflichen Verstrebungen zwischen Tönnies, Plessner und Hegel zusammengefasst werden. Ergänzend zur kritischen Rekonstruktion einer Sozialphilosophie bei Plessner folgen Überlegungen zu Gestalt und Gewinn seiner philosophischen Anthropologie als transzendental-phänomenologischem Aufweis der Möglichkeit von Kritik. Und schließlich, analog zum Vorgehen bei Tönnies, können Konsequenzen für eine politische Philosophie nach Plessner dargelegt werden (Kap. 7). Ein Ausblick auf die ,Kommunitarismusdebatte' als exemplarischen Fall der Sozialphilosophie des 20. Jahrhunderts kann die Aktualität einer kritischen Sozialphilosophie belegen, wie sie sich bei Tönnies und Plessner rekonstruieren sowie systematisch ausformulieren lässt, und möglicherweise andere Akzente für weitere Diskussionen anregen (Kap. 9).
e) Reichweite einer kritischen Sozialphilosophie nach Tönnies und Plessner Einige Worte möchte ich noch dazu sagen, was und was sicher nicht in dieser Arbeit geleistet werden kann. - Die Arbeit kann keine Sozialethik formulieren, sie ist daher nicht als Regelwerk zur Gestaltung oder Umgestaltung eines gegebenen Sozialzusammenhanges zu verstehen. Da sie sich mit der Konstitution und den Möglichkeitsbedingungen von (unhintergehbarer) Sozialität auseinander setzt, hat sie in erster Linie kritisch-philosophischen Wert. Dennoch hat sie den praktisch-kritischen Anspruch, die Bedingungen der Möglichkeit von Kritik sowie ihren Bezugspunkt freizulegen. 40
40
Die Schwierigkeiten aber auch die Möglichkeiten zu sozialer Veränderung können mit einer auf den Begriffen Gemeinschaft und Gesellschaft beruhenden Sozialphilosophie gut erfasst werden. Damit ist die Arbeit für viele, aber nicht für alle gesellschaftskritischen Anliegen offen. Etwa einem essentialistischen Feminismus würde sie sich aus systematischen Gründen verschließen, dem egalitären Feminismus Seyla Benhabibs oder Herta Nagl-Docekals aber öffnen, insofern dieser sich auf die
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EINLEITUNG
- Die Arbeit bietet daher auch keine Gesellschaftstheorie im Sinne einer Theorie über die Konstitution dieses oder jenes konkreten Sozialzusammenhanges, z.B. der modernen Gesellschaft, Belgiens oder Nordamerikas oder einer bestimmten sozialen Gruppe (Jugendliche, Migranten, ,Ethnien').41 Der Anschluss empirischer Untersuchungen, die in der Soziologie oder Politologie diszipliniert sind, wird sich daher eher schwierig - wenngleich nicht unmöglich - gestalten.42 - Im Rahmen einer Sozialphilosophie könnte die Explikation einer Theorie der InterSubjektivität vermutet werden. Auch diese Erwartung muss enttäuscht werden, weil die Frage nach der Möglichkeit der Beziehung von Ich und Du weder gleichzusetzen ist mit der Frage nach der Konstitution des Sozialen noch dieser im Sinne der Dialogphilosophie (Franz Rosenzweig, Martin Buber, Emmanuel Lévinas) vorgeordnet wäre.43 Diese Punkte an die Seite gestellt, sei aber auch gesagt, was in welcher Hinsicht mit dieser Arbeit ihrem Anspruch nach geleistet werden kann: - Problemgeschichtlich behandelt die Arbeit Ansätze, die auf die in der Moderne verstärkt und zunehmend aporetisch gestellten Fragen geantwortet haben, was ein sozialer Zusammenhang ist, wie er entsteht, wie er konstituiert ist und dringlicher, wie wir uns in ihm orientieren können bzw. wie er sein sollte. Es schließt sich die Frage an, wie die Antworten auf diese Fragen in dieser Welt und aus ihr formuliert werden können. - Philosophiegeschichtlich
zeigt die Arbeit im Wesentlichen zwei - en passant sind
es noch einige mehr - theoretische Positionen, die diese Probleme zu lösen verGleichheit der Individuen unter Berücksichtigung ihrer unterschiedlichen Bedürfnisse beruft (vgl. 41
42
43
Nagl-Docekal 1990, S. 36ff.). Gegen die vorschnelle Formulierung einer Gesellschaftstheorie, die sich immer schon im Besitz der Fakten weiß, wendet sich auch Helmut Schelsky in seiner 1959 erstmals erschienenen Ortsbestimmung der deutschen Soziologie. Er fordert eine transzendentale Theorie der Gesellschaft, die „in der Explikation der Bestimmungen der Freiheit des Menschen von der Gesellschaft und in einer von dort aus vorzunehmenden sinnkritischen und d.h. auch wertenden Reflexion des sozialen Gesamttatbestandes" bestehe (Schelsky 1967, S. 99). Die transzendentale Theorie der Gesellschaft hat die Aufgabe, „Sinn und Grenzen des Sozialen und des soziologischen Denkens zu bestimmen" (ebd., S. 96). Überlegungen zu einem solchen Anschluss hat Michael Opielka in seiner soziologischen Dissertation Gemeinschaft in Gesellschaft angestellt. Gemeinschaft wird dort in einem Gesamtrahmen von Gesellschaft (allgemein verstanden) begriffen, entlang der Theorie von Talcott Parsons zu operationalisieren und entlang der Sozialphilosophie Hegels sozialpolitisch zu aktivieren versucht (Opielka 2006, vgl. dazu Schneidereit 2007). Man kann sogar mit guten Gründen sagen, sie wäre hinsichtlich der Bedingung der Möglichkeit gewissermaßen nachgeordnet, so meint Stekeler-Weithofer, „the distinction between I and You presupposes the realm of Us, i.e. a certain practical understanding of who we are" (Stekeler-Weithofer 2007, S. 105). Analog fordert auch Frank Kannetzky, ,,,Γ is to be explained in terms of ,We"', im Sinne eines „individualism of non-self-sufficient, already socialized, encultured individuals" (Kannetzky 2007, S. 239). Ein solcher Ansatz lässt sich mit Plessners Begriffen von Geist und Mitwelt verfolgen (vgl. hier Kap. 7.2).
EINLEITUNG
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suchen. Die Ansätze werden in ihrem sukzessiven Zusammenhang herausgestellt. Tönnies und Plessner sollen als zwei Punkte in der Philosophiegeschichte visibel gemacht und in Bezug zueinander gesetzt sowie hinsichtlich ihrer Beeinflussung der späteren Zeit geltend gemacht werden. Insofern beide Autoren auch in der Soziologie gewirkt haben, kann die Arbeit einen (allerdings stark begrenzten) Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Soziologie bzw. zum Verhältnis von Philosophie und Soziologie leisten.44 - Textkritisch-interpretatorisch erhebt die Arbeit im rekonstruktiven Gang Anspruch auf Lesarten, denen andere vorhergegangen sind sowie neue entgegenstehen werden. Sie ordnet sich also in bestehende Diskussionszusammenhänge um Gegenstand und Autoren ein und lässt sich in dieser Hinsicht als Beitrag zur Tönniesund zur Plessnerforschung verstehen. - Systematisch bemühe ich mich in der Arbeit um eine theoretische Position, die ich an den Autoren Tönnies und Plessner erarbeite, mit der ich eine Antwort auf die Frage nach Möglichkeit und Konstitution des Sozialen von seinen immanenten Widersprüchen her zu geben versuche. Zentral sind die begriffslogische und zugleich konkrete Vermittlung von Gemeinschaft und Gesellschaft in der sozialen Wirklichkeit sowie der Begriff einer politischen Gemeinschaft.45 In dieser Hinsicht kann die Arbeit produktiv für die Sozialphilosophie, die politische Philosophie und ansatzweise auch für die Rechtsphilosophie sein. Die entwickelte Position lehnt sich dabei an Axel Honneths Vorschlag an, Sozialphilosophie als „Reflexionsinstanz" zu verstehen, mit der ein Maßstab fur verschiedene Formen gelingenden menschlichen Miteinanders erörtert werden kann.46
44
Zum Verhältnis von Soziologie und Philosophie um 1900 vgl. Daniel Subers Band von 2007. Suber ist darin bemüht zu zeigen, dass die Soziologie einen eigenen Weg entwickelt, aus der neuzeitlichen Krise der Wissenschaften herauszufinden. Tönnies findet dabei keine Erwähnung, obwohl er m.E. in strengerem Sinne Philosoph ist als z.B. Simmel (vgl. Suber 2007).
45
Der Begriff politische Gemeinschaft' hat in den letzten Jahren vor allem in der französischen und italienischen Philosophie eine Renaissance erfahren. Vgl. dazu Vogl 1994 und Böckelmann/Morgenroth 2008. Auf den Aufweis systematischer Verstrebungen der vorliegenden Arbeit zu dieser Strömung - derer es eine ganze Reihe gibt - habe ich nicht vollständig, aber doch meistenteils verzichtet.
46
Vgl.Honneth 1994, S. 11.
Teil I Dialektik des Sozialen - Ferdinand Tönnies
Einführende Bemerkungen zu einer Dialektik des Sozialen bei Tönnies Nahezu unbeachtet erscheint im Jahre 1887 Tönnies' Gemeinschaft und Gesellschaft. Aus seiner Habilitationsschrift (1880) entstanden, ist es das Anliegen der Schrift, mit den Begriffen Gemeinschaft und Gesellschaft ein Beschreibungsinstrumentarium für die noch jungen Sozialwissenschaften philosophisch zu begründen. Er nennt es den „ Versuch einer neuen Analyse der Grundprobleme des socialen Lebens" (GuG XV). Dieser Versuch war eingebunden in einen Problemzusammenhang, den Tönnies, wie er sagt, „nie aus den Augen verloren hatte: das Verständnis des gegenwärtigen Zeitalters und seiner Tendenzen durch planmäßige Anwendung [s]einer Begriffe Gemeinschaft-Gesellschaft".47 In Tönnies' Sozialtheorie verbinden sich daher das Bemühen um die philosophische und im Sinne einer Willenstheorie auch psychologische Begründung einer terminologisch klaren Sozialwissenschaft mit Elementen einer Geschichtsphilosophie sowie einer Rechtsphilosophie. Im Folgenden werde ich aufzeigen, inwiefern Tönnies' Gemeinschaft und Gesellschaft auch eine genuine Position der Sozialphilosophie darstellt.48 Mit dem Begriff der Gemeinschaft fasst Tönnies soziale Entitäten, in denen die Individuen durch ihren den Verhältnissen entsprungenen Willen so verbunden sind, dass sie mit einem Organismus verglichen werden können. Als Gesellschaft bezeichnet er hingegen solche sozialen Phänomene, in denen die Individuen nur zur Verfolgung bestimmter bewusst gesetzter Zwecke zusammenkommen, so dass ihr Miteinander mit einem durch diesen äußeren Zweck angetriebenen Mechanismus vergleichbar ist. Kontrastiv werden die beiden Grundformen bei Tönnies gegeneinander abgehoben, so ist etwa Gemeinschaft die natürliche gegenüber der gesellschaftlichen, künstlichen Form. Im Sinne ihres antagonistischen Verhältnisses stehen Tönnies' Begriffe von Gemeinschaft und Gesellschaft 47 48
Tönnies, Selbstdarstellung, S. 25. Tönnies: „So ist denn die Entwicklung der reinen theoretischen Soziologie, die man auch Sozialphilosophie nennen mag, unablösbar von der Geschichte der Rechtsphilosophie, mithin auch von der allgemeinen Staatslehre, von denen in neueren Zeiten die Theoreme vom richtigen wirtschaftlichen Leben, vom Wohlstande und, im Anschluß daran, von den natürlichen und gesetzmäßigen Zusammenhängen der Produktion, des Austausches und der Konsumtion, sich abgezweigt haben" (Tönnies, Wege und Ziele der Soziologie, S. 125).
EINFÜHRENDE BEMERKUNGEN
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in einer langen Tradition; bereits Aristoteles unterschied Gewordenes und Gemachtes. Organismus und Mechanismus sind seit der Antike tradierte Metaphern für soziale Zusammenhänge.49 Problematisch ist dabei regelmäßig, ob das Soziale ein Organismus oder Mechanismus oder beides zugleich ist oder ob das Soziale analog einem Organismus oder Mechanismus zu verstehen ist. In Tönnies' Sozialphilosophie sind beide begrifflichen Traditionen zusammengebracht in dem zunächst einfach antagonistischen Begriffspaar. Seither ist Tönnies zwar wichtiger Stichwortgeber in der politischen Philosophie und der Sozialphilosophie. Zumeist wird jedoch angenommen, dass er erstens der Ansicht ist, das Soziale sei zu vergangenen Zeiten ein Organismus gewesen, gegenwärtig sei es aber ein Mechanismus, und zweitens, das Soziale solle ausschließlich ein Organismus sein. Man nimmt also an, Tönnies würde ein Zurück zu vergangenen archaischen Gemeinschaftsformen propagieren. In diesem Zusammenhang wird Tönnies oft als früher Vertreter des um die Jahrhundertwende heraufdämmernden Kulturpessimismus verstanden, der seinen endgültigen Ausdruck in Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes gefunden hat.50 Diese Lesart ist der zum Teil stark polarisierenden und wertenden Darstellungsweise Tönnies' geschuldet. Diese trug ihm schon früh den (später zurückgenommenen) Vorwurf des „sozialen Pessimismus" durch den mit ihm befreundeten dänischen Philosophen Harald HöfTding ein, gegen den er sich wiederholt verwahrt hat (vgl. GuG XXXIX).51 Eines der Anliegen dieses ersten Teiles meiner Arbeit ist, nachzuweisen, dass es nicht möglich ist, sich auf Tönnies als Kulturpessimisten zu berufen. Weder ist Tönnies der Ansicht, das Soziale sei ein Organismus oder Mechanismus, noch meint er, es könne oder solle nur das eine oder andere sein, noch es solle ausschließlich wie ein Organismus sein. Positiv formuliert: Das Soziale nach Tönnies ist stets zugleich analog einem Organismus und einem Mechanismus, historisch kann dabei die eine oder andere analogische Tendenz überwiegen. In Tönnies' 49
Der Soziologe Franz Oppenheimer weist auf Wurzeln des Gegensatzpaars „bis auf die stoische Oikeiosis und Augustins Gegenüberstellung vom Staate Gottes und des Teufels" und auf Einflüsse bis zu François Quesnays Ordre naturel et positif hin (vgl. Oppenheimer, Moderne Soziologie, S. 199). Zur Metaphorik von Gemeinschaft und Gesellschaft zwischen organizistischem und mechanistischen Vokabular vgl. Meyer 1969 sowie Lüdemann 2004, insbes. Kap. 3 zu Tönnies.
50
Sibylle Tönnies betont, dass Tönnies immer nur auf ein Spannungsverhältnis habe hinweisen wollen, sich aber niemals auf eine verklärte romantische Vergangenheit berufen hätte (vgl. S. Tönnies 1981). Auch Cornelius Bickel macht die Parallelen zwischen Tönnies und Spengler zwar kenntlich, weist aber unermüdlich auf Tönnies' Opposition zu den Neukonservativen und den Antiintellektualisten hin (vgl. Bickel 1991, insbes. S. 290-292 u. S. 317-320). Tönnies wird bei David Lindenfeld als „mandarin intellectual" verstanden, der sich durch eine pessimistische Haltung gegenüber der Moderne auszeichne, wie Lindenfeld unter Rekurs auf Fritz K. Ringers Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine von 1969 (Ringer 1983) ausfuhrt (vgl. Lindenfeld 1989, S. 21). Höffding veröffentlichte 1889 einen Artikel über Gemeinschaft und Gesellschaft in der dänischen Zeitschrift Tilskueren, der den Titel Socialer Pessimismus trug (vgl. auch später Wust, Helmuth Pleßners ,Grenzen der Gemeinschaft', S. 266, wo vom „Gifthauch des Pessimismus in Tönnies' Buch" die Rede ist). Dazu Tönnies: „Dem socialen Pessimismus huldige ich nicht sofern dies eine praktische Richtung bedeuten kann - vielmehr bin ich geneigt, alle Gattungen der Reform mit Hoffnung zu betrachten.'" (Briefkarte an Höffgen vom 26. Juli 1990 (Bickel/Fechner 1989, S. 44f.)).
51
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DIALEKTIK DES SOZIALEN - FERDINAND TÖNNIES
Sozialphilosophie verbinden sich die beiden Stränge metaphorischer Rede von organischem und mechanischem Sozialen durch den Gedanken einer Vermittlung der beiden Begriffe in der sozialen Wirklichkeit. Die zum Ziel gesetzte kritische Sozialphilosophie entfaltet sich bei Tönnies methodisch als Erkenntniskritik, vollzogen an den vorherrschenden Begriffen des Sozialen als Artefakt/Gemachtes (Gesellschaft) einerseits und als Organismus/Gewordenes (Gemeinschaft) andererseits. Tönnies weist mit den auch bei Kant und Hegel stets aufeinander bezogenen Begriffen deren Zusammenhang fur eine Sozialphilosophie auf. In theoriegeschichtlicher Hinsicht ist es Tönnies' erklärtes Ziel, sich über den Antagonismus von Individualismus und Sozialismus zu stellen, die er mit den beiden infrage stehenden Begriffen traktiert. In den verschiedenen Vorworten sind es die mit dem Begriff Gesellschaft in Verbindung gebrachten theoretischen Strömungen des Kontraktualismus, des rationalistischen Naturrechts, des Liberalismus und der politischen Ökonomie, die Tönnies einer philosophischen Kritik unterziehen will. Cornelius Bickel, Sibylle Tönnies und Jendris Alwast fuhren aus, dass Tönnies das rationalistische Naturrecht um ein „gemeinschaftliches" habe ergänzen wollen, das im dritten Teil von Gemeinschaft und Gesellschaft dargestellt sei.52 Dabei würde Tönnies das rationalistische Naturrecht nicht prinzipiell ablehnen, sondern es in seine Grenzen verweisen. Dies ist meines Erachtens so zu verstehen, dass Tönnies kein ,zweites' Naturrecht entwerfen muss, sondern bereits den kritischen Umgang mit dem rationalistischen Naturrecht für eine Sozialphilosophie produktiv zu machen weiß53 - wenngleich er es selbst tatsächlich „gemeinschaftliches Naturrecht" nennt und es als Ergänzung zu Hobbes' gesellschaftlichem Naturrecht versteht.54 Wie die Verbindung zweier Theorietraditionen bereits vermuten lässt, sind die geistesgeschichtlichen Einflüsse auf Tönnies zahlreich.55 Starke Wirkung ist sicherlich von Hobbes' Schriften ausgegangen. Angeregt durch seinen Lehrer und späteren Freund Friedrich Paulsen war Tönnies genauer Kenner der im bürgerlichen 19. Jahrhundert vollkommen vernachlässigten Hobbesschen Schriften und edierte 1889 in London die von ihm wieder entdeckten Elements of Law natural and politic und den Behemoth or The long Parliament. Tönnies hat immer wieder zu Hobbes publiziert56, und seine Theorie 52 53
54 55
56
Vgl. S. Tönnies 1981, S. 177, Bickel 1991, S. 149-152 und Alwast 1991, S. 259. So sieht es auch der Bloch-Schiiler Günther Rudolph in seiner Tönnies-Monographie (vgl. Rudolph 1995, Kap. III). Vgl. Tönnies, Hegels Naturrecht, S. 261ff. Eine sehr lange Liste findet sich bei König, der darin Tönnies' mangelnde Originalität zu erkennen meint (vgl. König 1955, S. 386). Die geistesgeschichtlichen Einflüsse sind in mehreren Monographien ausfuhrlich und informativ dargestellt (vgl. Bickel 1991, Jacoby 1971, Rudolph 1995, MerzBenz 1995, Osterkamp 2005). Eduard Georg Jacoby spricht von Tönnies' „Hobbes-Philologie" (Jacoby 1970, S. 13), deren philosophisch-systematischen Einfluss er aber auch anerkennt (vgl. Jacoby 1971, Kap. 1); 1996 veröffentlicht Tönnies Hobbes. Leben und Lehre, das 1912 unter dem Titel Hobbes. Der Mann und der Denker in zweiter und 1925 in dritter Auflage als Band 2 von Frommanns Klassikern der Philosophie erscheint. Darüber hinaus schreibt er zahlreiche Abhandlungen zu Hobbes; für die Vierteljahrs-
EINFÜHRENDE BEMERKUNGEN
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der Gesellschaft ist maßgeblich v o n ihm beeinflusst. Weiterhin ist ein Einfluss v o n Marx unverkennbar 5 7 , über den T ö n n i e s w i e über H o b b e s eine Monographie verfasst hatte. 58 Mit Marx teilt Tönnies die Ansicht, dass die „ökonomistische" Betrachtung der sozialen Verhältnisse die wichtigste sei und findet in ihm den „in diesem B e z ü g e merkwürdigsten und tiefsten Social-Philosophen" (GuG X X I V ) . Eduard Georg Jacoby macht in diesem Z u s a m m e n h a n g darauf aufmerksam, dass es „der nationalökonomische Denker Marx des ,Kapital', nicht der Parteimann des k o m m u n i s t i s c h e n Manifests'" war, der Tönnies so beeindruckte. 5 9 Schließlich hat Spinoza deutliche Spuren in T ö n n i e s ' Werk hinterlassen, insbesondere in der bei ihm zentralen Willenstheorie. Spinoza m u s s in philosophischer Hinsicht vielleicht sogar der Löwenanteil an Wirkung auf das T ö n n i e s s c h e D e n k e n zugedacht werden, w e n n Tönnies schreibt: Im Systeme Spinozas, wenn es richtig ausgelegt und erweitert wird, finde ich die Weltanschauung, worin ein Denken, das von den Naturwissenschaften ausgeht, aber ihre Bedingtheit und ihre Grenzen erkennt, also auch sich selber und den menschlichen Geist zu ergründen sich angelegen sein läßt, immer wieder ausmünden muß. In der Richtung auf Psychologie dient mir SchopenhauerM, in der Grundlegung der Logik neben Kanf1 auch Hegel, im Ausblick auf die Kosmologie Spencer und etwa auch Wundt, zur Ergänzung Spinozas, wie ich alle diese Denker verstehe.62 A u c h N i e t z s c h e s Schriften hatten frühen philosophischen Einfluss auf Tönnies; das Verhältnis blieb j e d o c h ambivalent. 6 3 Theoretische N ä h e erkannte Tönnies weiterhin zu den
57
58 59 60
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62 63
Schrift flir wissenschaftliche Philosophie (1879/80), für das Archiv für Geschichte der Philosophie (1890, 1904 und 1906), für die Philosophischen Monatshefte (1886, 1887), für die Deutsche Rundschau ( 1888) und für die Neue Zeit ( 1896/97). Vgl. Lindenfeld 1989 mit einem kontrastierenden Vergleich, Howard 1989 mit einer eher unzureichenden Marx-Lektüre. Rudolph weist Tönnies als Marx-Adepten (nicht aber als Marxisten im Sinne der II. Internationale) aus (Rudolph 1991), analog bespricht Stanislaw Kozyr-Kowalski Tönnies' Verhältnis zum Historischen Materialismus (Kozyr-Kowalski 1991). Vgl. auch J. Fraser 1991 mit Blick auf die aktuelle Bedeutung von Tönnies und Marx im Vergleich und Tilman 2004. Tönnies, Marx. Leben und Lehre. Jacoby 1971, S. 11. Die Abkünftigkeit der Tönniesschen Willenstheorie von Arthur Schopenhauers pessimistischer Philosophie macht Bickel deutlich (vgl. Bickel 1991, S. 87-89 u. S. 280-283, vgl. auch Zander 2004a, S. 7-10). John Samples weist in seinem Artikel zu Tönnies und Kant nach, dass Tönnies bei Kant die mögliche Verbindung von „Romanticism and Rationalism" fand (vgl. Samples 1989, S. 11). Auch Emanuel Richter hält eine Auseinandersetzung mit Tönnies und Kant als Ineinander von Erkenntniskritik und ,,kritische[r] Ontologie" für vielversprechend hinsichtlich einer kritischen Gesellschaftstheorie (vgl. E. Richter 1991, S. 212f.). Vgl. auch Schlüter 1987. Tönnies, Selbstdarstellung, S. 36, vgl. auch ebd., S. 15. In seiner Selbstdarstellung beschreibt Tönnies die Begeisterung, die ihn im ersten Studienjahr 1872/73 bei der Lektüre von Nietzsches Geburt der Tragödie erfasste, die sich noch über die Unzeitgemäßen Betrachtungen gehalten und dann über die sofortige Lektüre jeder Neuerscheinung beständig abgenommen habe (vgl. Tönnies, Selbstdarstellung, S. 5-7). Schließlich kulminierte die
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DIALEKTIK DES SOZIALEN - F E R D I N A N D TÖNNIES
bei ihm nicht weiter differenzierten Neukantianern und lässt sich in diesem Zusammenhang freimütig sogar „zu den ,Positivisten"' rechnen, wie er in seiner Selbstdarstellung aus dem Jahre 1922 bekennt. 64 Es werden weiterhin mit Auguste Comte, Herbert Spencer, Adam Smith, David Ricardo, Otto von Gierke, Sir Henry Sumner Maine, Friedrich Engels und A l e x i s de Tocqueville Vertreter der politischen Ökonomie sowie der Rechts- und Sozialphilosophie angeführt. Marx' Kritik der politischen Ökonomie im Kapital - zwischen Philosophie und Sozialwissenschaft schwankend - nennt Tönnies in den Vorworten zu Gemeinschaft und Gesellschaft das Vorbild seiner eigenen Arbeit. Wie Marx die Theoriebildung der Politischen Ökonomie, so versucht Tönnies den vorherrschenden liberalen Individualismus der Sozialphilosophie einer Kritik zu unterziehen, ohne ihn einfach als falsch zu bezeichnen - vielmehr betrachtet er das Verhältnis v o n Theorie und gesellschaftlicher Praxis unter dem Gesichtspunkt ihrer wechselseitigen und inneren Dynamik. D a s Medium einer solchen Analyse nennt Tönnies empirisch-dialektisch, womit er sich zwischen Hegels spekulativem Idealismus und Marx' Historischem Materialismus bewegt. Wie auch David Lindenfeld in seiner Auseinandersetzung mit Tönnies und Marx betont, bleibt dabei aber ein starker Begriff von Dialektik erhalten (vgl. GuG XXI) 6 5 :
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zunehmende Ablehnung in der Ausarbeitung der schmalen Schrift Der Nietzsche-Kultus. Eine Kritik von 1897, die ihren Vorläufer in dem Kapitel Nietzsche-Narren der 1893 erschienenen polemischen Schrift „Ethische Cultur" und ihr Geleite hat. Zu Tönnies' Verhältnis zu Nietzsche vgl. Alwast 1981, Zander 1981 sowie Rudolph 1995, S. 58-69. Vgl. Tönnies, Selbstdarstellung, S. 37. Bickel weist auf gravierende (indes vorteilhafte) Inkonsistenzen in Tönnies' Positivismus hin (vgl. Bickel 1991, S. 105-108) und trägt die Differenzierung nach, indem er Tönnies Nähe zum Neukantianismus Marburger Provenienz und das eher im sozialethischen denn im epistemologischen Sinne attestiert (vgl. ebd., S. 23). Zu Tönnies und Rickert vgl. ebd., Teil 2, Kap. II und ders. 1981. Vgl. Lindenfeld 1989, S. 38. Vgl. auch Rudolph 1995, S. 57. Deutlich in dieser Richtung auch die Beiträge in Werner Cahnmans 1973 herausgegebenen Band, in denen die „dialectic tension" der Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft betont wird (Cahnman 1973a, S. 4, auch S. 9). Auch Jacoby spricht von einer „in sich selbst dialektisch gedachte[n] soziologischen Theorie" (Jacoby 1971, S. 26). Im Zusammenhang mit Tönnies' Nähe zum Historischen Materialismus spricht Kozyr-Kowalski von einer „originären Dialektik" Tönnies' (vgl. Kozyr-Kowalski 1991, S. 335). Zur Dialektik bei Tönnies vgl. im Rahmen einer Drei-Stadien-,Weltformel' Balla 1990, mit Bezug auf Hegel Alwast 1991. Carsten Schlüter findet in Tönnies' Normalbegrifflichkeitstheorem eine bereits bei Piaton begegnende Verbindung von Intuition und Dialektik (Schlüter 1991b). Per Otnes meint, Gemeinschaft und Gesellschaft sei „als eine begriffsstrategische Konzeption identifizierbar, die dialektische und nicht evolutionistische Fundamente hat" (Otnes 1990, S. 65). Hinsichtlich einer Kritik an der unzureichenden Ausführung einer Dialektik bei Tönnies vgl. Opielka 2006, S. 39f. Rehberg und S. Tönnies lehnen es ab, Tönnies als Dialektiker zu betrachten (vgl. Rehberg 1993, S. 28, der sich dabei auf S. Tönnies beruft (vgl. ebd., Fn. 18)). Man wird Tönnies selbst dazu hören müssen, so etwa: „Wenn das 20. Jahrhundert philosophisch etwas leisten will", so müsse es als einen der Keime „das dialektische Prinzip des Denkens" weiter entwickeln (vgl. Tönnies, Hobbes, S. 276). Wogegen Tönnies sich dabei stets wendet, ist die Vulgärdialektik von These, Antithese und Synthese (vgl. Tönnies, Wege und Ziele der Soziologie, S. 130), als welche z.B. Bálint Balla Tönnies' sehr viel subtilere Dialektik begreift (Balla 1990).
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EINFÜHRENDE BEMERKUNGEN
Alle Wissenschaft und mithin alle Philosophie als Wissenschaft ist rationalistisch.
Ihre Gegen-
stände sind Gedankendinge, sind Constructionen. Aber alle Philosophie, mithin Wissenschaft als Philosophie, ist empiristisch·,
in dem Verstände nach welchem alles Sein als Wirken, Dasein
als Bewegung und die Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit, Nothwendigkeit der Veränderungen als eigentliche Wirklichkeit aufgefaßt werden muß, das Nicht-Seiende (τό μή όν) als das wahrhaft Seiende, also durch und durch auf dialektische Weise. Die empiristische und dialektische Methode fordern und ergänzen einander (GuG XXf.). 6 6
Der Begriff sozialer Wirklichkeit ist in dieser Weise stark von Hegels Begriff von Wirklichkeit beeinflusst, der nicht im dinglich zuhandenen Realen aufgeht. In noch stärkerem Maße ist Tönnies allerdings Marx sowohl darin verpflichtet, die sozialen Verhältnisse der Gegenwart im Modus der Theoriekritik als auch durch die Methode der empirischen Sozialforschung zu kritisieren und nicht auf Revolution, aber doch auf Reform zu drängen.67 Mit der Kritik an ihren theoretischen Grundlagen geht explizit eine Kritik der bestehenden Verhältnisse in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts einher, die Tönnies mit dem Begriff der individualistischen Gesellschaft erfassen will. Denn wenn im Begriff Gesellschaft nicht alles enthalten ist, was das Soziale ist, dann muss eine soziale Formation, die nach dem Ideal des liberalen Individualismus geprägt ist und weiter geprägt wird, gegenüber einem ,vollen' Begriff des Sozialen defizitär sein. Aus diesem Grunde sei es ihm mit Marx angelegen, so Tönnies, darzustellen, dass ,„die jetzige Gesellschaft kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozeß der Umwandlung begriffener Organismus ist'" (GuG XXXI)68, dass die Umwandlung aber nicht im Kopf, sondern in der Wirklichkeit geschehen müsse, da von dieser her die begriffliche Auffassung sich erst ändere. Tönnies' Sozialphilosophie ist dennoch zunächst eine begriffliche, also theoretische Auseinandersetzung mit der lebendigen Wirklichkeit. Der Begriff ist von dieser Wirklichkeit zwar abkünftig, sie kann ohne ihn aber nicht betrachtet werden. Empirisch-dialektisch ist in diesem Sinne so zu verstehen, dass hinsichtlich der Betrachtung einer Sache die Begriffe (und so auch die Differenzierung von Gemeinschaft und Gesellschaft) „in unserem ,Bewußtsein' und für unser Bewußtsein vorhanden" sind, so dass wir über eine Sache überhaupt erst durch den eigentlich künstlichen Begriff sprechen können. Zugleich aber sind die Gegenstände der Betrachtung „nicht wesentlich durch unser Bewußtsein", sondern kommen von der lebendigen Wirklichkeit her und sind von dieser gebildet - müssen also empirisch, materialbezogen sein (vgl. GuG XXXIV). Es geht Tönnies um das 66
Die Bedeutung dieser Textstelle wird darin kenntlich, dass Tönnies sie fast vierzig Jahre später in seiner Selbstdarstellung von 1922 wieder anführt (vgl. Tönnies, Selbstdarstellung, S. 32).
67
Tönnies forschte zu sozialen Phänomenen wie Selbstmord, Verbrechen und Streik, zudem äußerte er sich wiederholt zu den Problemen moderner Arbeitsformen. Cahnman spricht hier vom „normative character of Tönnies['] empirical sociology", und folgert: „Tönnies studied strikes, suicide and crime not as stepping-stones in a theoretical argument, but for the practical purpose of both understanding and improving the conditions of the laboring classes which were marked by these pathologies" (Cahnman 1973a, S. 17).
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Tönnies zitiert hier die Vorrede zur ersten Auflage von Marx' Kapital S. 46).
[1867] (vgl. Marx, Kapital / ,
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DIALEKTIK DES SOZIALEN - FERDINAND TÖNNIES
Zugleich der konkreten Dinge und der begrifflichen Den/cdinge sowie um deren komplexes Verhältnis zueinander, in dem die Welt uns gegeben ist. Die Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft haben dabei ein dialektisches Verhältnis zueinander - sie widersprechen einander, gehen ineinander über, sind aufeinander verwiesen und erst in ihrer Zusammenschau ergibt sich ihre Kraft, die Realität als soziale Wirklichkeit zu erfassen. Dieses dialektische Verhältnis, das erst einen Begriff sozialer Wirklichkeit gibt, ist nun bei Tönnies (wie auch bei Hegel der Begriff von Wirklichkeit) nicht einfach deskriptiv, sondern stets zugleich normativ. Tönnies spricht diesen Umstand verschiedentlich selbst an: Es war nun meine Meinung, diesen Begriffen eine wissenschaftliche Gestalt zu geben, die zwar den Weiten den Sprachgebrauchs gerecht würde, zugleich aber den Charakter einer Idee hätte, der sowohl bestimmte Erscheinungen der Wirklichkeit als auch die Vorstellungen und Ideale der Menschen irgendwie nahekommen, ohne sich je damit zu decken.69
Diese normative Ebene wird vor allem dort wichtig, wo Tönnies neben den gewordenen und den gemachten sozialen Zusammenhängen auch solche anspricht, „die wesentlich durch ihren eigenen Willen gesetzt und bedingt" (GuG XXXIV) sind. Es sind dies politische Gemeinschaften, die gleichermaßen auf dem Begriff der Gemeinschaft und auf dem des (gesellschaftlichen) Individuums beruhen. Ich verstehe es als Tönnies' Anliegen, durch die beiden aufeinander verweisenden Begriffe, das Soziale als „vernünftige Praxis"70 so zu rekonstruieren, dass einerseits die unwillkürliche wechselseitige Prägung von Individuum und sozialem Ganzen im gemeinschaftlichen Sinne thematisierbar ist und dass andererseits der individuelle Vollzug, die Möglichkeit von Selbstbewusstsein, von Sozialbewusstsein und von dem Bewusstsein, Individuum innerhalb eines Ganzen zu sein, ansprechbar ist. Letzteres erst gibt die Bedingung der Möglichkeit von Kritik an den unwillkürlich prägenden Verhältnissen, wenngleich zu klären ist, von woher diese Möglichkeit in ihrem konkreten Ausdruck wiederum geprägt ist und wie sich die prägenden Verhältnisse nicht bloß im Bewusstsein, sondern auch wirklich verändern können. Dieser Zugriff auf Tönnies als Vertreter einer kritischen Sozialphilosophie begegnet zunächst einer Reihe von Schwierigkeiten. Erstens wird Tönnies als Kulturpessimist wahrgenommen, den man heute eigentlich nur noch aus historischem Interesse liest. Daran ist Tönnies selbst nicht unschuldig, denn Reihenfolge und Polemik der Darstellung strafen seine Absicht Lügen, mit der „gelassenen Logik und Ruhe des unparteiischen Zuschauers" (GuG XXI) an die philosophische Begründung der Begriffe zu gehen. Er stellt Gemeinschaft in der inhaltlichen Bestimmung der Formen als den organisch-lebendigen Zusammenhang immer voran und umschreibt diesen deutlich positiver als die mechanisch-tote Verhältnismäßigkeit der Gesellschaft, wodurch der Eindruck eines antagonistischen Verhältnisses der beiden Sozialformen entsteht, innerhalb dessen Tönnies der Gemeinschaft das Primat vor der Gesellschaft einräumt, weshalb er zuweilen sogar als Gemeinschafts69 70
Tönnies, Vorrede zur 3. Auflage von GuG, S. 104. Zu diesem Begriff vgl. Kambartel z.B. 1986 und Rentsch z.B. 1999, S. 295.
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ideologe verstanden wurde. 71 So wurde die Schrift oft als politische Verteidigung der Gemeinschaft gegenüber einer kalten, geschäftsmäßigen Gesellschaft verstanden, ohne dass auf die systematischen Gehalte geachtet wurde. So liest sich Tönnies' Zueignung heute fast als Hilferuf: „Das Werk war für Philosophen bestimmt" (GuG XXVI). 72 Dieser und an anderer Stelle wiederholter Zueignung zum Trotz, wird Tönnies zweitens in erster Linie als Soziologe und weniger als Philosoph wahrgenommen, so dass es zu ihm kaum philosophische Arbeiten gibt, zudem wenige, die nicht historisch, sondern systematisch orientiert sind. Drittens wird er in der Soziologie, der Politologie und der Philosophie zuweilen ungelesen als Initiator einer bis heute in Verschlingungen laufenden Debatte angeführt, in der es um eher gemeinschaftsorientierte (kommunitaristische) oder eher gesellschaftsorientierte (liberalistische) normative Gehalte von Sozialpolitik und philosophie geht. Der bei Tönnies angelegte holistische Ansatz zu einer Sozialphilosophie wird dabei nicht in Betracht gezogen, zumeist wird er als Gemeinschaftsenthusiasmus begriffen, so dass ein unverstellter Blick von vornherein verunmöglicht wird. Mit Überlegungen zu einer Wirkungsgeschichte von Gemeinschaft und Gesellschaft werde ich mich überleitend zum zweiten Teil der vorliegenden Arbeit auseinandersetzen, so dass hier nur ein knapper Abriss der Forschungslage erfolgen soll. Die systematische Auseinandersetzung mit Tönnies hat wie gesagt weder in der Soziologie noch in der Philosophie eine stabile Tradition. Das mag einerseits den ubiquitären Begriffen Gemeinschaft und Gesellschaft sowie ihrer vermeintlichen Zugänglichkeit geschuldet sein: Die Theorie erscheint vorderhand leichter und trivialer, als sie ist. Andererseits aber ist der Anschluss in den 1950er und 1960er Jahren gleich zweifach verstellt worden. Erstens indem Ralf Dahrendorf Tönnies' „Dichotomie" als „historisch irreführend, soziologisch fragwürdig und politisch illiberal"73 bezeichnete und ihn so als Vertreter einer deutschen Ideologie verurteilte, der gemeinsam mit Werner Sombart „im Schlagschatten der nationalsozialistischen Bewegung" 74 agiert habe. Sowie zweitens indem René König 1955 in einem Artikel in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie zwar zunächst fragt, weshalb es um den großen Denker Tönnies so lange so still gewesen sei, um ihn dann auf den verbleibenden 65 Seiten mit allen in den Geisteswissenschaften 71
Dagegen wenden sich u.a. Bickel (vgl. Bickel 1991, S. 35), Alexander Deichsel, der sich sozialpolitisch auf Tönnies' Begriff von Gemeinschaft beruft (vgl. Deichsel 1981, S. 37), und S. Tönnies (vgl. S. Tönnies 1981). Hermann Pfütze betont sogar den gegen jede Gemeinschaftssehnsucht gewendeten, emanzipatorischen Charakter der Tönniesschen Schrift (vgl. Pfütze 1991). Gegen die populäre Lesart wenden sich auch die Lektüren in dem von Cahnman 1973 edierten Band Ferdinand Tönnies. A New Evaluation, der nicht nur für die US-amerikanische Diskussion einen unverzichtbaren Beitrag zum Stand der Tönnies-Forschung bereit hält.
72
Dazu bemerkt Albert Salomon 1936 in Social Research: „His work was really an untimely meditation, for no one of the sociologists who pursued his concepts was able to accept the philosophical background of his sociological approach. The analytical trend in all sciences had destroyed the scientific truth of his ideas on human nature and had dissolved it into a bundle of relations, which no science was capable of integrating into unity" (Salomon, In Memoriam Ferdinand Tönnies, S. 39).
73
Dahrendorf 1974, S. 145f.
74
Ebd., S. 148.
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zur Verfugung stehenden Waffen zurück in die Stille zu verbannen, in der er ihn ohnehin schon wähnte; von Tönnies Werken verbleibe nach dessen Tode „nicht einmal mehr ein Trümmerhaufen, sondern einfach eine einzige große Unklarheit".75 Den nicht erfolgten Anschluss an Tönnies erklärt König einerseits historisch durch den Abbruch soziologischer Arbeit während der Nazi-Herrschaft, deren Protagonisten Tönnies als Liberaler „durchaus persona non grata" gewesen sei. Andererseits stimmt König dem Soziologen Hans Freyer darin zu, dass die Tönniessche Begriffsantinomie unter ihrem Erfolg litt, der so groß gewesen sei, dass sie in den „fraglosen Bildungsstand" aufgenommen und ihr Urheber vergessen worden sei.76 König selbst führt nun eine ganze Reihe vermeintlich systematischer Gründe für sein eigenes vernichtendes Urteil an, die ich nicht alle nennen will (zumal sie ihrerseits nicht gerade durch geschliffene Präzision glänzen). Erwähnen möchte ich das wiederholt genannte ,Problem', Tönnies habe seine Soziologie eigentlich nur auf dem Begriff der Gemeinschaft aufgebaut und durch diesen könnten keine defizitären Sozialbeziehungen erfasst werden. Tönnies würde Macht, Gewalt, Verbrechen aus seiner Soziologie als ,uneigentlich' ausschließen.77 König sieht den Grund für diesen Mangel darin, dass Tönnies eigentlich nicht „zwei verschiedene Arten des sozialen Daseins unterscheidet, sondern diese beiden aus einer ontologischen Grundstellung herleitet"78, welche die bejahende, gewollte Bindung der Gemeinschaft sei. So antwortet König auf die selbstgestellte Frage, ob denn Tönnies' Position „Philosophische Soziologie" sei: „Nein! Wohl aber Philosophie statt einer Soziologie".19 Damit liegt der Ball für König also im disziplinären Feld der Philosophie, wobei er erstens anzunehmen scheint, dass Philosophen zu sozialen Phänomenen nichts Stichhaltiges sagen können (müssen) und zweitens, dass man in der Philosophie allerhand für andere Menschen ungereimtes Zeug erzählen könne. Beidem möchte ich - naturgemäß - widersprechen: Eine Philosophie, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat, ist keine. Tatsächlich meine ich, Tönnies ging es um eine Sozialontologie. Die Idee einer solchen Ontologie ist nun gerade, dass die soziale Wirklichkeit stets durch ein Ineinander von materialer Zuständlichkeit und dem vorbegrifflichen sowie begrifflichen Bewusstsein von dieser ausgezeichnet ist. Wenn also König gegen Tönnies die Spinozistische Jdentität von Seinsgrund und Erkenntnisgrund™ anfuhrt, dann versteht er nicht, wie subtil Tönnies das dialektische Ineinander von Begriff und Wirklichkeit angelegt hat. Diese Ontologie wird weiterhin als,„unkritisch"' 81 angegriffen, worin kenntlich ist, dass König den normativen Charakter von Tönnies' Begriff sozialer Wirklichkeit nicht erfasst hat, der darin liegt, dass die bei König vermissten Phänomene als Defizienzformen in den 75
76 77 78 79 80 81
König 1955, S. 412. Es ist ein Rätsel, wie Wenzler-Stöckel angesichts eines solchen Urteils behaupten kann, „König bleibt in seiner Kritik vorsichtig" (Wenzler-Stöckel 1998, S. 59). Vgl. König 1955, S. 350. Vgl. ebd., S. 358, S. 266 u. S. 410. Ebd., S. 366. Ebd., S.405f. Ebd., S. 363. Ebd., S. 407.
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vollen Begriff sozialer Wirklichkeit bereits eingeschlossen sind. Ich werde darauf ausführlich zurück kommen und nehme insofern hier das Diktum an, Tönnies sei Philosoph, indem ich in der Tat keine soziologische Theorie, sondern eine Sozialphilosophie mit Tönnies' Gemeinschaft und Gesellschaft zu rekonstruieren beabsichtige. 82 Das bedeutet weiterhin aber nicht, dass der Philosoph Tönnies nichts Grundlegendes zur Soziologie zu verlautbaren hätte. Hilfreich ist Jacobys Hinweis, Tönnies' philosophischer Zugang zur Soziologie ließe sich mit Jürgen Habermas als „Protosoziologie" 83 bezeichnen. Dankbar - wenngleich mit gewendeten Vorzeichen - nehme ich weiterhin Königs Intuition auf, dass Tönnies ein in starkem Maße durch Marx geprägter Hegelianer gewesen sei.84 Die Tönniesrezeption lag nach dieser vernichtenden Lektüre bis in die späten 70er Jahre mehr oder weniger brach. Eine Ausnahme stellt Alfred Bellebaums Monographie Das soziologische System von Ferdinand Tönnies unter besonderer Berücksichtigung seiner soziographischen Untersuchungen von 1966 dar, in der Bellebaum sich mit der disziplinaren Verortung Tönnies' in der Philosophie produktiv auseinandersetzt. 85 Eine weitere Ausnahme ist Tönnies' im Krieg emigrierter Schüler Jacoby. Hervorzuheben ist seine wissenschaftliche Tönnies-Biographie Die moderne Gesellschaft im sozialwissenschaftlichen Denken von Ferdinand Tönnies von 1971, die in übersichtlicher und genauer Weise Tönnies' wissenschaftlichen Denkweg nachzeichnet. Auch in den USA wurde eine Soziologie nach Tönnies durch Werner Cahnman und Klaus Heberle etabliert, so dass einige der Tönniesschen Schriften in englischer Übersetzung vorliegen sowie in einigen sehr differenzierten Anthologien diskutiert werden. 86 Inzwischen liegen über die kontinuierliche Diskussion im Tönnies-Forum hinaus einige Sammelbände 87 und Studien zu 82
Auch Frank Osterkamp sieht Tönnies als Philosophen (vgl. Osterkamp 2005, S. 39 u. S. 68ff.). Alfred Bellebaum differenziert: „Die Soziologie ist für Tönnies eine philosophische Disziplin, und zwar in dreifacher [...] Weise, nämlich als begriffliche Exposition, als Synthese verschiedener sozialwissenschaftlicher Disziplinen und schließlich als eine Art Grundlagenwissenschaft für Philosophie und Ethik" (Bellebaum 1966, S. 187).
83
Jacoby 1970, S. 16.
84
Vgl. König 1955, S. 380, S. 266 u. S. 413.
85
Bellebaum fragt im letzten Kapitel seiner Arbeit nach dem Zusammenhang von Philosophie und Soziologie bei Tönnies und sieht diesen in der Ethik, deren Konsequenz die Soziologie sei (vgl. Bellebaum 1966, S. 181). Für die soziologische Arbeit sieht er den Wert der Tönniesschen Soziologie eher gering an, sie sei „allzu abstrakt" (ebd., S. 189).
86
Zu Tönnies' Einfluss auf die US-amerikanische Soziologie vgl. Cahnman 1977. Cahnman ist der Ansicht, das Interesse an Tönnies in den 1970ern indiziere einen „attempt to gain access to macrosociological approaches". Zentral sei dabei gegenüber den ersten Anschlüssen an Tönnies, ob „the present generation [ . . . ] will be ready to conceive of collectives and corporations als effective entities", also im Sinne einer Sozialontologie (ebd., S. 167).
87
Zu nennen sind der 1981 erschienene Band Ankunft bei Tönnies, zu Tönnies' 125. Geburtstag herausgegeben von Lars Clausen und Franz Urban Pappi, der 1985 ebenfalls von Clausen herausgegebene Band Tönnies heute. Zur Aktualität erschienene Symbol, Bewegung,
von Ferdinand
Rationalität
Clausen herausgegebene Band Renaissance
Tönnies, der 1987 zum 50. Todestag Tönnies'
(hg. v. Schlüter), der 1990 von Carsten Schlüter und der Gemeinschaft?
me, der 1991 erschienene Sammelband 100 Jahre „Gemeinschaft
Stabile
Theorie und neue
und Gesellschaft",
Theore-
ebenfalls von
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Tönnies vor, die zumeist philosophie- bzw. disziplingeschichtlich orientiert sind, dabei aber auch systematisierend vorgehen.88 Günther Rudolph legt 1965 seine Dissertationsschrift Die philosophisch-soziologischen Grundpositionen von Ferdinand Tönnies. Ein Beitrag zur Geschichte und Kritik der bürgerlichen Soziologie in der DDR vor, die aber erst 1995 erscheinen kann. Rudolph zählt darin Tönnies zu den „demokratischen Vertretern der bürgerlichen Intelligenz, die [...] sich schon frühzeitig von den ideologischen Positionen der reaktionär gewordenen Bourgeoisie abzulösen begannen".89 Rudolph diskutiert Tönnies' Ansatz mittels begriffsgeschichtlicher Einbettung als kritische Position innerhalb des Bürgertums, deren Kern die revolutionäre Kraft der Naturrechtstradition bildet. Mit Bickels Ferdinand Tönnies. Soziologie als skeptische Aufklärung zwischen Historismus und Rationalismus von 1991 liegt eine weitere Dissertation zu Tönnies vor. Die über das Tönniessche Gesamtwerk genau informierte Arbeit ist vornehmlich wissenschaftstheoretisch orientiert. Bickel zeichnet die Entstehungsgeschichte von Gemeinschaft und Gesellschaft nach und versucht eine Standortbestimmung des Textes zwischen den Traditionen des Historismus und des Rationalismus.90 Er versteht Tönnies dabei als Grenzgänger zwischen einer Hermeneutik nach Wilhelm Dilthey und einem naturwissenschaftlich geprägten Positivismus. Systematisch ist Bickel bestrebt, Tönnies' Soziologie als eine Theorie der Rationalität zu verstehen, in der der analytischen Ratio eine „ganzheitliche[] Rationalität des ,Lebens'" an die Seite gestellt wird.91 Sie soll „gegen die tote Abstraktion der Wissenschaft zur Geltung kommen. Rationalität des Lebens soll dabei im Sinne einer raison d'être gewachsener Lebenszusammenhänge verstanden werden, denen die ,Ratio' organisch integriert ist".92 Wie Bickel, so versteht auch Peter-Ulrich Merz-Benz Gemeinschaft und Gesellschaft als Ausdruck einer kritischen Aufnahme der Philosophie der frühen Neuzeit und der Aufklärung. In seiner umfänglichen Habilitationsschrift Tiefsinn und Scharfsinn weist MerzBenz akribisch Tönnies' philosophiegeschichtliche Bezüge vor allem zu Hobbes nach. Merz-Benz untersucht die frühe Phase des Tönniesschen Denkens hinsichtlich erstens der Clausen und Schlüter ediert sowie im gleichen Jahr „Ausdauer, Geduld, Ruhe". Aspekte und Quellen der Tönnies-Forschung (1991, hgg. v. Clausen u.a.). Rolf Fechner hat sich weiterhin mit einem Werkverzeichnis um Tönnies verdient gemacht (Fechner 1992). Richtungweisend ist auch Rehbergs Beitrag zur Bedeutung Tönnies' für die Diskussion um den Kommunitarismus (Rehberg 1993). Vgl. auch den Band Brumlik/Brunkhorst 1993. 88
89 90
Einen vermutlich nahezu vollständigen Forschungsüberblick gibt Osterkamp. Auf mehr als sechzig Seiten werden alle wichtigen Ansätze dargestellt, davon entfallen allerdings 28 auf Peter-Ulrich Merz-Benz' groß angelegte philosophiegeschichtliche Studie, mit der Osterkamp übermäßig hart ins Gericht geht (vgl. Osterkamp 2005, S. 40-68). Rudolph 1995, S. 38. Jacoby versteht die Tönniessche Zwischenstellung etwas anders, wenn er ihn sowohl gegen eine idealistische Lebensphilosophie als auch gegen den Irrationalismus das „Prinzip des kritischen und konstruktiven Rationalismus" verfolgen sieht (Jacoby 1971, S. 5).
91
Vgl. Bickel 1991, S. 29.
92
Ebd., S. 285.
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Synthesis von Rationalität und Romantik, zweitens einer an Hobbes erarbeiten Epistemologie sowie drittens der begrifflichen Konstitution der Sozialwelt. Merz-Benz tritt mit Tönnies den Versuch an, gegen Max Weber die Theorie einer ,anderen' Rationalität in die Soziologie einzuführen. Die Ablehnung dialektischen Denkens bringt es dabei mit sich, dass er sich auf eine stark evolutionistische Lektüre der Tönniesschen Willenstheorie als einer psychischen Anthropologie stützt93, in der „Gesellschaft logisch (und historisch) der Gemeinschaft nicht neben-, sondern nachgeordnet ist".94 Zwar behauptet Merz-Benz den Vermittlungszusammenhang von Gefühl und Vernunft als „Entwicklungszusammenhang", womit Tönnies über Hobbes' Rationalismus hinausgehe, kann diesen aber weder begründen, noch sieht er, dass Gefühl und Verstand (statt Vernunft) vermittelt erst eine philosophisch einholbare Formulierung wäre. So erklärt es sich, dass Merz-Benz es als eine „gewisse Ironie" versteht, dass Tönnies das Paradigma des unkritischen Rationalismus zwar zu brechen vermöge, „zum Rationalismus selbst aber nicht mehr zurückfindet".95 Während die Arbeit einen Anschluss für die Philosophie eher verstellt, ermöglicht sie ihn für die Soziologie, insofern Merz-Benz sich um eine Methodologisierung der Gemeinschafts- und Gesellschaftsformen bemüht 96 - ob damit etwas gewonnen ist, will ich nicht beurteilen. Zuletzt ist Frank Osterkamps Studie Gemeinschaft und Gesellschaft: Über die Schwierigkeit, einen Unterschied zu machen erschienen. Osterkamp versteht sein groß angelegtes Projekt, in dem er sich vor allem mit Tönnies' Habilitationsschrift und den theoretischen Verschiebungen zur ersten Veröffentlichung von Gemeinschaft und Gesellschaft auseinandersetzt, als „Vorarbeit zur weiteren Untersuchung von Tönnies' Schlüsselstellung in der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts". 97 Es ist aber viel mehr; vor allem hinsichtlich des Problems, wie mit dem starken Antagonismus der Begriffsopposition umzugehen sei, kann Osterkamp eine schlüssige Lesart vorweisen. Inzwischen ist vielerorts anerkannt, dass Tönnies die Begriffe zwar kontradiktorisch eingeführt hat, sie aber stets in der sozialwissenschaftlichen Anwendung vermittelt dachte. Osterkamp spricht von der „Spannung zwischen einer [...] konstruktiv-instrumentellen Einführung von Gemeinschaft und Gesellschaft und einem dann allerdings historisch-faktisch aufgefaßten, entwicklungsgeschichtlichen Entfaltungssinn", die schon unter anderem bei Jacoby, Schmoller, Scheler und König mehrfach und auch kritisch gegen Tönnies angeführt worden sei.98 Osterkamp spricht hier von zwei Modellsinnen, einem „explizit kontrafaktischen, kontradiktorischen [...] als reine Typen" und einen „dialektisch-dynamischen Sinn".99
93 94 95
96 97 98 99
Vgl. z.B. Merz-Benz 1995, § 10. Merz-Benz 1990, S. 49. Merz-Benz 1995, S. 365. Aus diesem Grunde ist Merz-Benz auch etwas unentschieden, ob sich bei Tönnies metaphysische Momente finden (vgl. ebd., S. 32f.) oder eher doch nicht (vgl. ebd., S. 305). Vgl. ebd., § 11. Osterkamp 2005, S. 118. Ebd., S. 92. Ebd., S. 112.
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Diesem Ansatz schließe ich mich in meinen Ausführungen an, so dass auch hier unterschieden wird zwischen der ,reinen' Theorie, in der die Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft kontradiktorisch gezeichnet werden, und dem dialektischen Entfaltungssinn dieser Theorie als Ineinander der Begriffe (Kap. 2). Mein Anliegen ist dabei aber weniger, wie Osterkamp die philosophiegeschichtlichen Verästelungen nachzuvollziehen. Vielmehr möchte ich auf den logischen Zusammenhang der beiden Begriffe abheben, durch den sich auch das Problem des Zusammenhangs von ,reiner' und angewandter' Theorie lösen lässt.100 Dabei ist Tönnies' Begriff von Anwendung als „streng theoretische Darlegung und Erklärung wirklicher Erscheinungen und Vorgänge"101 sorgfältig zu beachten. Die Konstruktion der Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft gehört dabei der reinen Soziologie (oder auch Sozialphilosophie102) an, Thesen zum entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang der ihnen entsprechenden Phänomene hingegen der deduktiven angewandten Soziologie.103 Der begriffslogische Durchgang kann weiterhin die für eine kritische Haltung unabdingbare normative Ebene in Tönnies' auf den Begriffen Gemeinschaft und Gesellschaft beruhender Sozialphilosophie plausibilisieren (Kap. 3). In diesem Sinne nehme ich eine Reihe von Überlegungen aus den bislang vorgelegten Tönnies-Lektüren auf, in denen stets auf Spannungsverhältnisse und verschiedene Aussagebereiche hingewiesen wird, versuche aber, diese Bereiche zu synthetisieren und für eine kritische Sozialphilosophie fruchtbar zu machen. Dabei nähere ich die Lektüre von Gemeinschaft und Gesellschaft wiederholt vor allem Hegels Begriffslogik (Kap. 3) und Rechtsphilosophie (Kap. 4) aber auch Marx' Kritik der Theoriebildung der politischen Ökonomie im Kapital an (Kap. 2.2). Beide Male kommt es mir nicht auf den theoriegeschichtlichen, sondern auf den systematischen Zusammenhang an. Um zu einem Begriff sozialer Wirklichkeit zu kommen, der deskriptiv valide und zugleich normativ ist, verbinden sich sowohl bei Hegel als auch bei Marx ,reine' und angewandte' Begriffe sowie die Betrachtung aktueller Phänomene mit einer umfassenderen, Tendenzen erfassenden (geschichtsphilosophisch rahmenden) Betrachtung. An diese Überlegungen zu einem Begriff der sozialen Wirklichkeit schließe ich einige eher knapp ausgeführte Überlegungen zu Fragen von Recht und Politik an, für die die dialektisch vermittelte Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft von Bedeutung ist (Kap. 4).
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Jacoby weist daraufhin, dass Tönnies reine von angewandter Theorie erst zwanzig Jahre nach Erscheinen von Gemeinschaft und Gesellschaft trennt (vgl. Jacoby 1971, S. 67). Sehr erhellend zu der Ausdifferenzierung von Tönnies' Soziologie in ,rein', .angewandt' und ,empirisch' liest sich ebenfalls Jacoby mit seinem Artikel Three Aspects of the Sociology of Tönnies (Jacoby 1973). Jacoby ist der Ansicht, dass Tönnies sich über diese Unterscheidung 1887 selbst noch nicht vollkommen im Klaren war (vgl. Jacoby 1973, S. 76f.), dass aber Soziologie bei Tönnies „in analogy to applied mathematics" (ebd., S. 88) zu verstehen ist, während reine Soziologie „possible only of pure thought objects" sei (ebd., S. 74). Tönnies, Aufgabe der Soziologie, S. 124. Zur Kongruenz von reiner Soziologie und Sozialphilosophie vgl. Tönnies, Wege und Ziele der Soziologie, S. 12 5 ff. Vgl. Tönnies, Einteilung der Soziologie, S. 432fF.
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A N T A G O N I S M U S ODER V E R M I T T L U N G VON G E M E I N S C H A F T UND G E S E L L S C H A F T ?
2. Antagonismus oder Vermittlung von Gemeinschaft und Gesellschaft? - ,Reine' und angewandte' Theorie Meine Konstruktionen möchten überhaupt zunächst rein als Konstruktionen beurteilt werden. Ihre Anwendbarkeit auf die Wirklichkeit ist ihnen, so zu sagen (theoretisch) nur akzidentell, wenn auch für die Praxis das Wichtigste.104
Im Folgenden gebe ich eine knappe Zusammenfassung der ,reinen' Konzeptionen von Gemeinschaft und Gesellschaft, wie Tönnies sie als Normalbegriffe menschlichen Miteinander einführt (2.1). Tönnies gibt für beide Typen die spezifischen Formen des Zusammenlebens, die diesen konkreten Formen innewohnende Ordnung und das jeweils zusammenhaltende Element (die Willensformen (2.3)) an. Gemeinschaft und Gesellschaft werden als die beiden Grundformen sozialer Verbindungen bestimmt: Alles vertraute, heimliche, ausschließliche Zusammenleben [...] wird als Leben in Gemeinschaft verstanden. Gesellschaft ist die Öffentlichkeit, ist die Welt. In Gemeinschaft mit den Seinen befindet man sich, von der Geburt an, mit allem Wohl und Wehe daran gebunden. Man geht in die Gesellschaft wie in die Fremde (GuG 3),
schreibt Tönnies gleich zu Beginn und plausibilisiert die Unterscheidung der zumeist synonymisch gebrauchten Begriffe, wie auch einleitend zu dieser Arbeit geschehen, mit dem differenzierenden Sprachgebrauch. Man warne zwar vor „schlechter Gesellschaft; aber schlechte Gemeinschaft ist dem Sprachsinne zuwider", und von der „häuslichen Gesellschaft" würden nur Juristen sprechen, eigentlich rede man doch von der ,,häusliche[n] Gemeinschaft" (GuG 4). In der Gemeinschaft bestehe durch gemeinsamen Willen Einheit in der Mehrheit, in der Gesellschaft werde durch gemeinsames Interesse Mehrheit in der Einheit des Interesses geschaffen. 105 Gemeinschaft sei die reale, natürlich-organische Form der sozialen Bindung. Ihre Glieder seien über Leiblichkeit, d.h. Geburt, Blut und Boden, über gemeinsame Sprache, Bräuche, Sitten und Traditionen verbunden und so - wie Tönnies meint - auf natürliche Weise geordnet, so dass Gemeinschaft gleich einem lebendigen Organismus aufgefasst werden könne. Daher wird sie bei ihm wie in der kollektivistischen Sozialphilosophie üblich mit Organ- und Körpermetaphern belegt, was aber streng analogisch zu verstehen sei (vgl. GuG XXXIII). Demgegenüber beschreibt Tönnies Gesellschaft als die ideelle, künstlich-mechanische Form, d.h. als ein Aggregat und Artefakt wesenhaft voneinander getrennter Personen, die nur über die gemeinsame Verfolgung von Zwecken ein Verhältnis zueinander haben. Geordnet werde die Gesell-
104 105
Brief von Tönnies an Paulsen vom 28. Dezember 1889 (Klose/Jacoby/Fischer 1961, S. 273). Die Unterscheidung der Sozialformen (hier Kooperationsformen) nach gemeinsamen
Zielen und ge-
meinsam verfolgten gleichen Zielen trifft mit anderem Vokabular auch Tuomela, wenn er von „füll cooperation" bei gemeinsamen Zielen (,group mode') und „cooperation as coaction or coordinative interaction with compatible individual mode goals" spricht (Tuomela 2000, S. 108, vgl. auch das Diagramm ebd., S. 10 sowie ausführlicher zur Unterscheidung von ,g-cooperation' und ,¡-cooperation' ebd., Kap. 4, vgl. auch ders. 1995, Kap. 6).
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schaft über Verträge und Konventionen, das hauptsächlich verbindende Element sei dabei der Tauschhandel. Konzeptuell stehen sich Organismus und Mechanismus, Natürlichkeit und Künstlichkeit, Innen und Außen, Harmonie und Gewalt gegenüber.
2.1 ,Reine' Theorie der Gemeinschaft und der Gesellschaft a) Gemeinschaft Die Theorie der Gemeinschaft geht [...] von der vollkommenen Einheit menschlicher Willen als einem ursprünglichen oder natürlichen Zustande aus, welcher trotz der empirischen Trennung und durch dieselbe hindurch, sich erhalte, je nach der notwendigen und gegebenen Beschaffenheit der Verhältnisse zwischen verschieden bedingten Individuen mannigfach gestaltet (GuG 8).
Durch die Verhältnisse bestimmte Gewohnheiten geben der jeweiligen Gemeinschaft ihre Form in Sitten und Bräuchen. Durch Gedächtnis besteht dieses gemeinschaftliche Ethos (ethos, consuetudo) fort, verändert sich durch neue Umstände und wird über die Erziehung weitergegeben. Bedingung sei gegenseitige Kenntnis, mindestens aber die Möglichkeit des Verstehens durch die geteilte Sprache (vgl. GuG 20-22). Die auf solche Weise natürlich gegebene vollkommene Einheit der Willen je verschieden bedingter Individuen finden wir laut Tönnies in erster Linie in der Familie vor: „in der Idee der Familie, als dem allgemeinsten Ausdruck fur die Realität von Gemeinschaft sind alle [...] mannigfachen Bildungen enthalten und gehen daraus hervor" (GuG 23). Solche Bildungen sind Nachbarschaft, Freundschaft, das Dorf, die Gemeinde, die Gilden und Zünfte etc. Ort der Gemeinschaft sei das ländliche Leben in der Familie oder im Dorfverband. Verbunden seien die Menschen über körperliche oder geistige Nähe, d.h. sie sind entweder blutsverwandt (Gemeinschaft des Blutes) oder stehen als Nachbarn (Gemeinschaft des Ortes) oder Freunde und Angehörige eines religiösen Glaubensbündnisses (Gemeinschaft des Geistes) in engem historisch-traditionellen Zusammenhang. Die Gemeinschaft des Geistes als „Zusammenhang des mentalen Lebens" sei dabei die „eigentlich menschliche und höchste Art der Gemeinschaft" (GuG 14) gegenüber den eher vegetativen und animalischen Verbindungen des Blutes (Geburt/Familie) und des Ortes (Nachbarschaft).106 Je weniger „naturwüchsig und von selbst verständlich" der Grund der Beziehungen zwischen den Individuen jedoch sei, je mehr „Individuen ihr eigenes Wollen und Können bestimmter gegeneinander wissen und behaupten" (GuG 16), desto schwerer sind die Verhältnisse zu erhalten und desto weniger können sie Störungen vertragen. So ist die für Tönnies menschlichste Form der Gemeinschaft in Glaube und Freundschaft offenbar die für Störungen anfälligste. Gemeinschaft in ihrer quasi-vegetativen Reinform Familie wird analog einem sich selbst nach seinen naturgemäßen Bedürfnissen regulierendem Körper verstanden. Demge106
Lindenfeld weist hier auf eine Ebene der Sozialbiologie bei Tönnies hin, die in drei Stufen vom vegetativen über das animalische zum mentalen Leben fortschreite. Die Terminologie entlehne Tönnies dabei Aristoteles' Ethik und Wilhelm Wundts Grundzügen der physiologischen Psychologie von 1874 (vgl. Lindenfeld 1989, S. 32).
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mäß geht es in erster Linie um die Fortdauer der Gemeinschaft, daher entwickelt sich das Leben der Gemeinschaft in „dauernder Beziehung auf Acker und Haus" (GuG 25), es sei gegenseitiger Besitz und Genuß", und „Besitz und Genuß gemeinsamer Güter" (GuG 23). In Anlehnung an Aristoteles konstatiert Tönnies, die Verfassung des Zusammenlebens sei „ökonomisch, d.h. gemeinschaftlich (kommunistisch)" (GuG 36). Das gemeinschaftliche Zusammenleben in seiner reinsten Form steht folglich unter dem Primat des Ökonomischen, des haushaltsmäßig für die physische Erhaltung der einzelnen Gemeinschaftsmitglieder Notwendigen. Die dafür gebrauchten Güter gehören den Mitgliedern gemeinsam. Die Ordnung des Zusammenlebens ergebe sich dabei ebenso aus den bedingenden Umständen und Verhältnissen. Was diesen entsprechend für das gemeinschaftliche Verhältnis „in ihm und für es einen Sinn hat, das ist sein Recht" (GuG 20). Aus dem Bedürfnis der Erhaltung des lebendigen Körpers der Gemeinschaft ergebe sich so die Verteilung von „Leitung" und „Gehorsam" als „ein natürliches Recht, als eine Ordnung des Zusammenlebens, die jedem Willen sein Gebiet oder seine Funktion zuweist" (GuG 20). Diese gemeinsame Gesinnung mache jede Satzung überflüssig, ein jeder werde an seinen Platz geboren und wisse, was dort zu tun sei. Tönnies betont in diesem Zusammenhang, sowohl in der Dorfkultur wie auch im darauf beruhenden Feudalsystem sei „die Idee der naturgemäßen Verteilung und dieselbe bestimmende und darin beruhende des geheiligten Herkommens, alle Wirklichkeiten des Lebens und ihnen korrespondierende Ideen seiner richtigen und notwendigen Ordnung" vorherrschend (GuG 33). Begriffe wie Tausch, Kauf, Vertrag und Satzung seien darin bedeutungslos. Man kann hinzufügen, dass auch die Forderung einer anderen Verteilung auf Grundlage eines Begriffes von Gleichheit bedeutungslos ist, ja dass sich sogar „reale Ungleichheiten innerhalb der Gemeinschaft durch ihren Willen [...] bis zu einer gewissen Grenze" (GuG 19) ergeben, jenseits derer die Einheit der Gemeinschaft aber aufgehoben werde. Gemeinschaftliche Lebensformen sind für Tönnies also in erster Linie solche, in die wir hineingeboren werden und die aus diesem Grunde das für uns höchste Maß an Selbstverständlichkeit haben. Gemeinschaft ist das, was individualgeschichtlich immer schon da ist und was uns in unserer „individualen Gewohnheit und Gemütsart" (GuG 19) geprägt hat. Wir sprechen eine gemeinschaftlich erworbene Sprache, wir teilen eine unmittelbar über den physischen Erhalt konstituierte gemeinsame Lebenswelt. Wir nehmen dabei die Ordnung in der unmittelbaren Gemeinschaft als ebenso natürlich an wie unseren Platz darin. Die jeweilige Gemeinschaft ist dabei selbst wiederum von den unmittelbaren sowie von vergangenen Umständen in ihrer Gestalt bedingt. Die in ihr tradierte Ordnung hat sich zu irgendeinem Zeitpunkt als sinnvoll, also als gemeinsam-gewollt ergeben und ist so geblieben. Tönnies' Darstellung ist hier sehr statisch, so dass er vielleicht zu wenig darauf hinweist, dass die sinngebenden Umstände wegfallen können, so dass die überlieferten Praxisformen 107 zwar allen bekannt sind und als naturwüchsig weitergegeben 107
„Praxisformen sind komplexe Systeme von Wir-Handlungen", die (noch) nicht explizit, sondern implizit regelgeleitete Formen gemeinsamer Praxis sind, in denen wir uns - zumeist ohne darüber zu reflektieren - stets befinden (vgl. Stekeler-Weithofer 2002, S. 232).
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werden, sie sich aber nicht mehr ,natürlich' aus den Umständen ergeben. Von Belang ist fiir ihn allein, dass eine Gemeinschaft solange besteht, wie sich in ihr der gemeinsame Wille der verschieden bedingten Individuen ausdrückt. Das ist unabhängig von den sich verändernden Umständen solange möglich, wie die Ordnung der Gemeinschaft für ihre von ihr geprägten Individuen konsistent ist und Sinn hat. Tönnies' Gemeinschaftsbegriff gleicht dem in Rousseaus Diskurs über die Ungleichheit, in dem Rousseau gewissermaßen eine Prä-RechtsfÖrmigkeit annimmt. Obgleich es kein gesatztes Recht gibt, gibt es doch ein natürliches Recht, das die Ordnung der natürlich durch die Umstände geformten Gemeinschaft bestimmt. Die Individuen sind an dieses natürliche Recht nicht durch Vertrag, sondern über ein Gefühl der Richtigkeit gebunden und können folglich auch keine Verbrechen begehen, sondern nur gegen eine Ordnung verstoßen, sich im Sinne der Gemeinschaft ,widernatürlich' verhalten. Insofern ein natürlicher Rechtszustand (zeitlich) vor einem positiven Gesetz angenommen wird, hebt sich auch Tönnies hier von Hobbes' Begriff des Naturzustandes ab, in dem jedes Individuum gegenüber dem anderen frei und gleich ist und allein Recht (Freiheit) hat, sein Leben mit allen Mitteln zu verteidigen (jus naturale).108 Bei Hobbes ist der Naturzustand ein rechtsfreier Raum, in dem es im Grunde nur ein einziges natürliches Gesetz gibt (lex naturalis), nämlich die Pflicht sich zu erhalten.109 Tönnies nimmt hingegen an, es gebe ein natürliches Recht sich zu erhalten nicht für Individuen, sondern nur für Gemeinschaften; dieses Recht würde sich vermutlich auch als natürliches Gesetz formulieren lassen, dass Gemeinschaften sich nicht gegenseitig vernichten dürfen. Vorderhand scheint Tönnies mithin nicht mit Hobbes' Vertragstheorie übereinzustimmen. Ich will hier nur andeuten, dass die Hobbessche Begründung, weshalb wir den Naturzustand je schon verlassen haben, auch bei Tönnies zutreffen würde, nur dass hier im Naturzustand statt Individuen Gemeinschaften einander gegenüber stehen und im Zweifelsfall um ihr Überleben gegen andere Gemeinschaften kämpfen würden. Ich werde noch verschiedentlich auf das Verhältnis Tönnies - Hobbes zurückkommen, nächstens bezüglich der Verhandlung des Gesellschaftsbegriffes. Zuvor will ich einige Überlegungen dazu anstellen, inwiefern die oben gegebene Charakterisierung gemeinschaftlicher Verhältnisse bei Tönnies menschliches Miteinander überhaupt beschreiben kann. Die vermeintliche Sicherheit gemeinschaftlicher Gefüge, die sie für ihre gesellschaftskritischen Anhänger so attraktiv macht, liegt darin, dass es kein Problem der Entscheidungsfindung gibt, durch welches das Hobbessche Modell gerade geprägt ist.110 Ist doch in einem solchermaßen geordneten Ganzen sowohl die Zahl der möglichen Entscheidungen für oder gegen eine Handlung als auch die der Handlungsoptionen extrem eingeschränkt. Zudem erfolgen Entscheidungen unter der Sicherheit gegenseitigen Vertrauens, da es keine Unwägbarkeit der Handlungen des anderen geben kann. Ist es doch kaum vorstellbar, 108 109 110
Vgl. Hobbes, Leviathan, S. 99. Vgl. ebd. Vgl. dazu die Rekonstruktion des Naturzustandes als Problem praktischer Rationalität im Rahmen des Gefangenendilemmas bei Julian Nida-Rümelin (Nida-Rümelin 1999).
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dass jemand in einer Gemeinschaft einmal nicht weiß, was einer Situation angemessen ist, weil jede Handlung auf natürliche Weise aus dem der Handlung vorhergehenden Kontext erwächst, sich genetisch aus dem Vergangenen das Neue als folgerichtiger Anschluss entwickelt, das Neue also nicht neu ist, sondern motivisch-latent im Vergangenen als Entwicklung angelegt ist. Nur vermeintlich sicher ist dieses Gefuge aber, insofern diese Sicherheit überaus fragil ist. Für Veränderungen der Umwelt oder aber für die Ankunft von Fremden liegt kein tradiertes Verhalten vor. Aus diesem Grund kann in Tönnies' Gemeinschaft Entwicklung durch Brüche mit dem Althergebrachten schwerlich gedacht werden - es fehlt das Instrumentarium." 1 Das tradierte Wissen, über das sich der organische Zusammenhang erhält, könnte für Einbrüche des Fremden nur exkludierendes Verhalten, nicht aber integrierende Flexibilität vorschlagen. Veränderungen würden nur sehr langsam vor sich gehen, weshalb plötzliche Einbrüche eine existentielle Bedrohung darstellen müssen. Auf diese Weise ist Entwicklung immer als ein Notzustand vorgestellt, eine positive oder neutrale Theorie der Entwicklung kann Tönnies im Rahmen seiner Theorie der Gemeinschaft ebenso wenig geben, wie er die Phänomene von Devianz und sozialer Anomie berücksichtigen kann. Entwicklung wie auch Devianz und Anomie sind Auflösungstendenzen gemeinschaftlicher Gefuge und verweisen in den Bereich der Gesellschaft. Da Abweichung kein gemeinschaftliches Phänomen ist, könnte man annehmen, Gemeinschaften hätten eine Kritik am Gegebenen von innen heraus nicht zu befürchten. Das Gemeinschaftsmitglied nimmt sich nie als Selbstzweck, sondern immer in erster Linie als Glied des Gemeinschaftsganzen wahr, daher wäre die Kritik eines solchen Individuums an diesem Ganzen ungefähr so sinnvoll wie die eines Blattes am Baum. Allein dann, wenn dieses Ganze für das Fortleben des Einzelnen nicht mehr aufkommen kann bzw. die Disparatheiten zu groß würden, wäre es denkbar, dass der Einzelne sich als autonome Entität begriffe. Autonomie wird hier als ein durch eine Krise der Gemeinschaft ausgelöster, defizitärer Zustand kenntlich. Tönnies' Theorie der Gemeinschaft weist keine Formen des Umgangs mit innerer Differenziertheit auf, die über die notwendige Erfüllung verschiedener Funktionen wie Reproduktion, Versorgung mit den dafür notwendigen Ressourcen und Traditionsübermittlung hinaus gehen. So zeigt es sich, dass Tönnies für die Sphäre der Gemeinschaft weder eine Theorie der Entwicklung noch eine der inneren Differenzierung zu individueller Besonderheit unabhängig von der Prägung durch die Umstände hat. Der Lebenszusammenhang ist natürlich entstanden und wird weiter tradiert, so lange keine äußeren Veränderungen gewaltsam in ihn einbrechen, die so mächtig sind, dass sie nicht ausgeschlossen oder integriert werden können und Entwicklung erzwingen. Der Einzelne kann sich nie in seiner Bestimmung oder seinem Woher fraglich werden. Er ist in Tönnies',reiner' Theorie der Gemeinschaft 111
Nimmt man nur die reine Theorie der Gemeinschaft in den Blick, dann betont Rehberg zu Recht, dass nichtnureine Theoriedes Wandels, sondern auch eine Theorie,, institutionellerStabilisierungsmechanismen" bei Tönnies fehle (vgl. Rehberg 1993, S. 35). Dieser Vorwurf lässt sich mit dem Hinweis darauf entkräften, dass Tönnies eben nicht nur eine Theorie der Gemeinschaft, sondern von Gemeinschaft und Gesellschaft vorgelegt hat. Vgl. dazu die einschlägigen Beiträge von Cahnman (vgl. Cahnman 1973b und ders. 1981).
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in seinem Verhalten quasi als ,instinktsicher' vorgestellt. Die Festgestelltheit des instinktiven Verhaltens der Tiere ist in der Gemeinschaft im organischen Anschluss durch das Gedächtnis gegeben: In der Familie wird tradiert, was in den bekannten Fällen zu tun ist. Wie auch Tiere in ihrem Umfeld immer gleich leben, wäre die menschliche Gemeinschaft vorgestellt als das märchenhafte Immersichselbstgleiche friedvollen Miteinanders, das nur wieder sich selbst zu seinem Gegenstand hat. Obgleich Tönnies sich immer wieder explizit gegen sozialdarwinistische Theorien gewendet hat, gerät seine Theorie der Gemeinschaft doch in deren Nähe, indem er menschliches und tierisches Miteinander im reinen Begriff der Gemeinschaft gegeneinander indifferent macht. Im Rahmen seiner Theorie der Gemeinschaft stellt Tönnies nie die Frage nach der Legitimität der überlieferten hierarchischen Ordnung, er problematisiert an keiner Stelle die möglichen Gehalte der gewohnheitsgenerierten Normen des Handelns und Meinens. Nur die ,reine' Theorie der Gemeinschaft für sich betrachtet, hätte Tönnies keine Theorie menschlichen Miteinanders vorzuweisen, da sie Phänomene des sozialen Wandels und individueller Abweichung nicht thematisieren könnte und sich darüber hinaus nicht normativ zu den aus den Umständen entwickelten Sitten und Bräuchen mitsamt der Verteilung von Leitung und Gehorsam äußern könnte. Die These ist nun, dass auf Tönnies keines dieser ,Urteile' zutrifft, da er überhaupt nicht nur eine Theorie der Gemeinschaft, sondern eine Theorie der grundlegenden Sozialformen Gemeinschaft und Gesellschaft vorlegt. Durch die Verbindung dieser beiden in der soziologischen Praxis werden die Phänomene des sozialen Wandels und darin auch abweichenden Verhaltens112 verständlich, worauf Cahnman und K. Heberle hinweisen.113 Tatsächlich entsteht ein Problem nur dort, wo man angenommen hat, der Tönniessche Begriff der Gemeinschaft beschreibe fur sich allein genommen gutes Zusammenleben. Tönnies ist an dieser Lesart vielleicht nicht ganz unschuldig, wenngleich er sie nicht intendiert hatte, denn tatsächlich beschreibt allein der Begriff der Gemeinschaft überhaupt gar kein menschliches Zusammenleben (vgl. unten 3.2a). b) Gesellschaft Die Theorie der Gesellschaft konstruiert einen Kreis von Menschen, welche, wie in Gemeinschaft, auf friedliche Art nebeneinander leben und wohnen, aber nicht wesentlich verbunden, sondern wesentlich getrennt sind, und während dort verbunden bleibend trotz aller Trennungen, hier getrennt bleiben trotz aller Verbundenheiten (GuG 40).
Die reine Theorie der Gesellschaft beschreibe, so Tönnies, das Miteinander einzelner Personen, ungeachtet ihrer Prägungen durch die Gemeinschaften, denen sie primär entstammen. In der reinen Sphäre der Gesellschaft „ist ein jeder für sich allein, und im Zustande der Spannung gegen alle übrigen" (GuG 40). Obgleich die Einzelnen zu ihrem Überleben auf die anderen angewiesen sein mögen oder sogar zum angenehmen Zeitvertreib mit ihnen in Berührung kommen, bleiben sie in ihrem Wesen doch voneinander 112
113
Man bedenke hier nur Tönnies' Studien zur Kriminalität, die er mit den sozialen Verhältnissen zu korrelieren versuchte. Vgl. Cahnman 1973b, ders. 1981 und K. Heberle 1989a.
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getrennt, sofern sie als gesellschaftliche Personen betrachtet werden. Aus diesem Grunde bezeichnet Tönnies die Gesellschaft wohl auch als „ens fictivum" (GuG 44). Tönnies setzt für die Theorie der Gesellschaft alle Subjekte wie auch alle Güter, die diese besitzen, gebrauchen oder verbrauchen können, als getrennte voraus, „was einer hat und genießt, das hat und genießt er mit Ausschließung aller übrigen" (GuG 41). Die gesellschaftlichen Atome kommen einzig zum Zweck des Tausches, gegenseitiger Gabe und Leistung zusammen. Während Gemeinschaften sich bei Tönnies als Ganze ihren Bedürfhissen und den äußeren Umständen gemäß entwickeln, ist ein gesellschaftliches Verhältnis stets sachbezogen. Es entsteht zum Beispiel für die Dauer eines Tauschaktes. Da es nun kein „Gemeinsam-Gutes" der nichtvergemeinschafteten Subjekte gebe, entstünde mit dem Tausch ein Wertproblem (vgl. GuG 41): Der Wert einer Sache erschließt sich nicht mehr aus seinem praktischen Gebrauch, sondern aus ihrem Wert zum Tausch für eine andere Sache. Aus dem Problem des Tausches entwickelt Tönnies in enger Bindung an Marx' Kapital die gesamte reine Theorie der Gesellschaft. Auf die damit unlösbar verbundene Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft werde ich unten näher eingehen (2.2). Zunächst möchte ich noch einige weitere Momente des Gesellschaftsbegriffs aufzeigen. Sofern Menschen als solchermaßen vereinzelte Subjekte vorgestellt werden, sind sie ohne jeden Unterschied gegeneinander: Denn in diesem Begriff [der Gesellschaft, NSch] muß von allen ursprünglichen oder natürlichen Beziehungen der Menschen zueinander abstrahiert werden. Die Möglichkeit eines gesellschaftlichen Verhältnisses setzt nichts voraus als eine Mehrheit von nackten Personen, die etwas zu leisten und folglich etwas zu versprechen fähig sind (GuG 53).
Eigentum, Freiheit und Recht bilden im gesellschaftlichen Zustand einen unlösbaren Zusammenhang. Die einzelnen Personen sind absolut frei (vgl. GuG 47), insofern jeder durch seine Arbeitskraft sich Dinge zu eigen machen und diese dann veräußern könne (vgl. GuG 61 ). Diese Einzelnen sind weiterhin in Bezug auf dieses Recht, ihren Willen in herrenlose Dinge zu legen, absolut gleich. Freiheit und Gleichheit bilden den Begriff des Naturrechts für die Theorie der Gesellschaft: „Im gesellschaftlichen Begriffe des Naturrechts sind alle Menschen, als Vernünftige und Handlungsfähige, a priori gleich" (GuG 61). Hier knüpft Tönnies die Theorie der Gesellschaft an die Naturrechtstradition des individualistischen Kontraktualismus Hobbes' an. Insofern im Rahmen der Theorie der Gesellschaft die einzelnen Personen als freie und gleiche vorgestellt sind, entsteht bei Konflikt zweier dieser Personen ein Problem: Wie kann ein solcher Konflikt gelöst werden? Wenn beide Personen einander gleich und gleich frei sind, ihren Willen in Dinge zu legen, wem kann dann Recht gegeben werden? Wer ist Richter und nach welchen Gesetzen? Welchen Normen gehorcht das Miteinander? Wie kann der für den gesellschaftlich wesentlichen Tauschakt notwendige Vertrag gesichert werden? Weil es anders als in Gemeinschaften keine gemeinsame prägende Bezugswelt gibt, sondern nur den gemeinsamen Gegenstandsbezug, regeln Konventionen das Miteinander, die, so betont Tönnies, aber nicht mit Sitten zu verwechseln seien, weil sie nur den Tauschakten entsprängen. Da es keine echten zwischenmenschlichen Bindungen gebe, seien Geselligkeit und Höflichkeit Ausdruck konventionell geregelter
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Zusammentreffen (vgl. GuG 54). Ohne diese Konventionen könne das Verhältnis dieser Personen tatsächlich „als ein latenter Krieg begriffen werden" (GuG 53), wie ihn „ein großer Denker" als den „natürlichen Zustand des menschlichen Geschlechtes überhaupt begriffen hat" (GuG 54) - gemeint ist zweifelsohne Hobbes. Gesellschaft sei dadurch weiterhin im moralischen Sinne „mitbedingt durch die Zusammenhänge mit dem Staate" (GuG 55), weil es zur Regelung der Konfliktfälle und zur Sicherung der Einzelnen voreinander einer höheren, entscheidenden und sichernden Gewalt bedarf. Bot die Theorie der Gemeinschaft einiges Potential für Sozialutopien, so steht Tönnies' Gesellschaftsbegriff in krassem Gegensatz dazu, und es nimmt wohl nicht wunder, dass sich niemand in Verteidigung der ,reinen' Gesellschaftstheorie auf Tönnies berief. Ihrem reinen Begriff nach ist Gesellschaft der Krieg eines jeden gegen einen jeden, in dem jeder dem anderen Mittel zur Erreichung des individuellen Zweckes werden könnte. Bildet die reinste Form der Gemeinschaft die selbstzweckhafte Familie, so ist die reinste Form der Gesellschaft im Augenblick des fremdzweckgeleiteten Tausches einer Ware gegen eine andere gegeben. Der Ort der Gesellschaft sei die Stadt, fuhrt Tönnies aus, in der die Menschen zwar auf engstem Raum beieinander leben, sich aber dennoch nicht kennen, sondern nur aus Interesse des Selbsterhalts zusammen kommen. Gleich einem Atavismus ist zwar die Form der Familie im gesellschaftlichen Lebenszusammenhang noch erhalten, sie gilt Tönnies aber als innerlich ausgehöhlt und entwertet, da sie bloß die Stätte der Reproduktion gesellschaftlicher Arbeitskraft sei.114 Das Verhältnis zwischen den Einzelnen sei prinzipiell feindselig, da es wesentlich in einem Kampf um Güter bestehe. Damit ist ein beständiges Streben nach Macht und Herrschaft verbunden, die einen besseren oder beständigen Zugang zu den erstrebten Gütern garantieren sollen. Wie in der Sphäre der Gemeinschaft, so herrscht bei Tönnies auch in der Sphäre der Gesellschaft das Primat der Ökonomie vor, nur sind es hier nicht gemeinschaftliche Einheiten, die in einem Haushalt ihr substanzielles Dasein besorgen, sondern es sind einzelne 114
Der bürgerliche Soziologe Alfred Vierkandt spricht in diesem Zusammenhang lobend von Tönnies' gemäßigter materialistischer Geschichtsauffassung (vgl. Vierkandt, Ferdinand Tönnies ' Werk, S. 300f.). Die durchaus radikaler gemeinte Kritik an der instrumentalisierten Familie und den allgemein erkalteten Beziehungen im Kapitalismus üben auch Marx und Friedrich Engels. Der theoretisch avanciertere Marx dringt im Kapital aber bereits 1867 zu der Erkenntnis durch, dass ein Rückfall hinter die gesellschaftliche Stufe nicht zu einer Verbesserung fuhren würde. Das könne allein ein Bruch mit der Naturalisierung der kapitalistischen Produktion leisten, durch den es zu einer Orientierung an den Bedürfnissen der Einzelnen kommen könne. Daher kritisiert Marx die Familie sogar als den Ort, an dem sich die bürgerliche Ideologie am beständigsten erhält, da die Arbeiterklasse „aus Erziehung, Tradition, Gewohnheit die Anforderungen jener Produktionsweise als selbstverständliche Naturgesetze anerkennt" (vgl. Marx, Kapital I, S. 690) und geht sogar weiter: „So furchtbar und ekelhaft nun die Auflösung des alten Familienwesens innerhalb des kapitalistischen Systems erscheint, so schafft nichtsdestoweniger die große Industrie mit der entscheidenden Rolle, die sie den Weibern, jungen Personen und Kindern beiderlei Geschlechts in gesellschaftlich organisirten Produktionsprocessen jenseits der Sphäre des Hauswesens zuweist, die neue ökonomische Grundlage für eine höhere Form der Familie und des Verhältnisses beider Geschlechter" (ebd., S. 473).
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Personen, bei denen im Rahmen der Gesellschaftstheorie von jeglicher lebensweltlicher Prägung abgesehen wird, die nur als freie und gleiche, für sich allein besitzende und genießende Personen gedacht werden. Statt der Zugehörigkeit zu einem übergeordneten Ganzen, dessen Selbst durch den Erhalt seiner Teile fortbesteht, ist hier nun jeder auf sich gestellt. Tönnies führt weiter aus, dass hier die Einzelnen kein gemeinsames Interesse am Erhalt des Ganzen haben, sondern das je gleiche Interesse des Selbsterhalts, wodurch jeder zum Gegner des anderen werde. Gesellschaft ist bei Tönnies ein durch Konventionen geeintes Aggregat, ein kapitalistisch organisierter Mechanismus aus einer Menge von Individuen, deren Willen, in welcher Richtung auch immer, nach innen unverbunden bleiben. Eine Form zwischenmenschlicher Bindung, in der es um den anderen als solchen geht, wäre hier unmöglich. Das bedeutet, dass Sympathie und Freundschaft in der Gesellschaft keinen Platz haben. Da sich alle berechnend begegnen, sind Höflichkeit und Geselligkeit die freundliche Form des prinzipiell feindlichen Umgangs miteinander; „Eigennutz wie Eitelkeit ist Motiv der Geselligkeit-, Eitelkeit braucht die anderen Menschen als Spiegel, Eigennutz als Werkzeug" (GuG 116). Wenn Tönnies Gesellschaft beschreibt als „Zustand des Krieges und der unbeschränkten Freiheit aller, einander zu vernichten, nach Willkür zu gebrauchen, zu plündern und zu unterjochen, oder aber, aus Erkenntnis besseren Vorteils, Verträge und Verbindungen anzuknüpfen" (GuG 242f.), dann ist dieser Begriff unverkennbar von Hobbes' geprägt. Bei Hobbes wird in der Fiktion des Naturzustandes das Problem dargestellt, dass freie und gleiche Menschen nur auf ihr eigenes Überleben bedacht sind (jus naturale), dass sie dabei aber ein beständiges Sicherheitsrisiko für andere Menschen bilden. Weil sie natürlicherweise nicht nach der eigenen Vernichtung streben (lex naturalis), zwingt die Logik des Naturzustandes sie zu einer Einigung, ihre Gewalt abzugeben, wodurch eine höhere Gewalt entsteht. Fiktiv ist dieser Naturzustand deshalb, weil die Menschen sich immer schon im gesellschaftlichen Zustand befinden, andernfalls würden sie riskieren, gegen ihre Pflicht zu überleben zu verstoßen, welche bloß die Kehrseite ihrer absoluten Freiheit ist. Hobbes entwickelt diese zwingende Logik more geometrico streng nach den Gesetzen wissenschaftlichen Denkens. Auch darin bildet Tönnies ihm seinen Begriff der Gesellschaft nach: Gesellschaft ist nichts als die abstrakte Vernunft - deren jedes vernünftige Wesen in seinem Begriffe teilhaftig ist - insofern dieselbe zu wollen und zu wirken gedacht wird. Die abstrakte Vernunft [...] ist die wissenschaftliche Vernunft, und deren Subjekt ist der objektive Relationen erkennende, d.h. der begrifflich denkende Mensch (GuG 46).
Vor allem aber ist Tönnies mit dem von ihm so bezeichneten ,großen Denker' darin einig, dass der Kriegszustand bloß fiktiv sein kann. Ebenso fiktiv wie Adam Smiths Wort, dass „jedermann ein Kaufmann ist'" (GuG 52). Dies könne maximal „ein fernes Ziel" der Gesellschaft sein, sei aber niemals Wirklichkeit. Wie überhaupt im Begriff der Gesellschaft zwar von allen gemeinschaftlichen Banden abstrahiert werden müsse und Gesellschaft so „ihrer Idee nach" zwar „unbegrenzt" sei, „ihre wirklichen und zufälligen Grenzen durchbricht sie fortwährend" (GuG 53). Wenn also die Theorie der Gesellschaft nur fiktiv in der dargestellten reinen Form gilt, dann muss sie empirisch immer schon gebrochen sein.
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Wie hinsichtlich der reinen Theorie der Gemeinschaft, so lässt sich auch für die Theorie der Gesellschaft konstatieren, dass sie kein menschliches Miteinander als solches vollständig zu beschreiben vermag. Denn was sind das fur einzelne abstrakte Personen, die keine Güter mit Gebrauchswert, sondern Waren mit Tauschwert besitzen? Sind das schon kleine Kinder oder sind es erst Erwachsene? Nehmen wir an, dass Menschen zunächst in gemeinschaftsförmige Sozialzusammenhänge hineingeboren werden. Ab wann aber hören die Menschen dann auf, Teile einer Gemeinschaft zu sein, und beginnen, nur noch vereinzelte Personen zu sein, die zur Erfüllung bestimmter Zwecke zusammenkommen? Die im Rahmen einer reinen Theorie der Gesellschaft vorgestellten nackten Personen sind nicht wirklich. Wirklich sind solche Personen, die in Gemeinschaften geboren und von dort in ihrem Wesen geprägt sind und es auch bleiben. Sie gleichen sich hinsichtlich dieser Prägung, sie sind auch frei im Sinne der Gemeinschaft. Dennoch ist kein gemeinschaftliches Individuum wirklich gleich einem anderen, und absolut frei im gesellschaftlich-naturrechtlichen Sinne ist auch keines, weil es immer schon einen Sozialzusammenhang gibt: „In Gemeinschaft mit den Seinen befindet man sich, von der Geburt an, mit allem Wohl und Wehe daran gebunden" (GuG 3). Individuen als vollkommen vereinzelte, die bloß allein etwas besitzen und dieses fur sich genießen, gibt es nicht. Was dieser Vorstellung am nächsten kommt, ist sicherlich der flüchtige Kontakt zwischen zwei Mitgliedern unterschiedlicher Gemeinschaften: „Man geht in die Gesellschaft wie in die Fremde" (GuG 3). Diese stehen sich „als freie Subjekte ihres Wollens und Könnens" gegenüber (GuG 19), von deren Was und Wie sie jeweils nichts wissen. Sie sind in Bezug auf den Anlass ihres Zusammentreffens möglicherweise wirklich frei und gleich und bedürften bei Konflikt Gewaltanwendung bzw. deren Aussetzung durch Regelung von Hand eines rechtgebenden Dritten. Realiter aber sind sie nicht gleich und in Bezug auf die verhandelte Sache auch nicht frei. Um das empirisch gegebene Verhältnis einander fremder bzw. gegeneinander indifferenter Personen zu begreifen, bedarf es gleichwohl der Theorie der Gesellschaft. Lebensweltlich gibt es dafür Evidenz genug: Wir bewegen uns niemals nur in uns bekannten Kontexten gemeinschaftlicher Natur. Alltäglich begegnen wir anderen, mit denen uns nur sehr weite gemeinschaftliche Kreise wie der der gemeinsamen Sprache verbinden. Wir treffen auf andere, die ihre eigenen Zwecke so verfolgen, dass wir ihnen bei der Verfolgung unserer Zwecke begegnen. Gesellschaft ist ihrem reinen Sinne nach schon dort gegeben, wo mir jemand auf der Straße entgegen kommt und einer von uns beiden ausweichen muss. Sie ist auch dort gegeben, wo ich dem Kassierer Geld für meinen Einkauf zahle. Im einen Fall gibt es vagere, im anderen gesetzlich fixierte Konventionen zur Regelung des gesellschaftlichen Zusammentreffens. Wir gehören über diese Situationen hinaus zumeist beide gemeinschaftlichen Kreisen an, die der je andere nicht kennt: Wir entstammen einer Familie, wir sind Teil einer Klassengemeinschaft oder eines Freundeskreises. Die Sozialformen, in denen wir uns bewegen, gleichen dabei mehr oder weniger der einen oder anderen reinen Form, sie werden aber niemals allein durch Gemeinschaft oder Gesellschaft voll erfasst. Wenn sich aber realiter nur solche sozialen Phänomene finden, die nur sowohl durch die Theorie der Gemeinschaft als auch durch die Theorie der Gesellschaft erfasst werden können, wozu dient dann die begriffliche Trennung? In der
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Auseinandersetzung mit der Vermittlung der Theorien in ihrer Anwendung auf sowohl diachrone (2.2) als auch synchrone (2.3) soziale Phänomene, deutet sich die Bedeutung der theoretischen Trennung von Gemeinschaft und Gesellschaft an.
2.2 Geschichtsphilosophisch-entwicklungsgeschichtliche Aspekte (Tönnies und Marx) „Zwei Zeitalter stehen [...] in den großen Kulturentwicklungen einander gegenüber: ein Zeitalter der Gesellschaft folgt einem Zeitalter der Gemeinschaft" (GuG 251), resümiert Tönnies gegen Ende von Gemeinschaft und Gesellschaft. Gesellschaft sei gegenüber der Gemeinschaft das historisch jüngere Phänomen. Diese Zweiteilung inklusive der auch bei Tönnies angedeuteten Ankündigung eines dritten Zeitalters ist bereits vor dem so genannten ,Beginn' der Moderne um 1789 als geschichtsphilosophisches Stufenmodell geläufig. Wie unter anderem Habermas für den Philosophischen Diskurs der Moderne gezeigt hat, situieren sich die geschichtsphilosophischen Ansätze in einem mittleren Zeitalter; man musste eine wohlige Vergangenheit verlassen, befindet sich nun in einer unbequemen Gegenwart und erwartet eine Zukunft hoffnungsvoll oder apokalyptisch, da die Gegenwart als so widersprüchlich empfunden wird, dass sie in dieser Weise nicht fortbestehen kann.115 Dieses geschichtsphilosophische Stufenmodell wird zumeist in Analogie zum modellhaft begriffenen Leben des Individuums aufgefasst: Als Kind bewegt das Individuum sich in unhinterfragter Selbstverständlichkeit und unmittelbarer Verbundenheit mit seiner Umwelt, wird es älter, so erfährt es krisenhaft, dass es auf sich gestellt ist und für sich selbst sorgen muss. So aber, wie erst der erwachsene Mensch ein ,echter' Mensch ist, gilt in diesem Modell auch erst das dritte Zeitalter als eigentlich ,menschliche' Welt. Beschreiben nun Tönnies' Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft zwei aufeinander folgende Epochen? Gibt es eine geschichtsphilosophische These bei Tönnies, die seine Begriffe für eine ,neutrale' Sozialwissenschaft unbrauchbar macht, weil sie teleologisch oder utopistisch spekuliert? Oder ist die historische Dimension gerade das Element, das die beiden sich vorderhand ausschließenden Theorien in diachroner Hinsicht als je vermittelt ausweist? Die folgenden Ausführungen bilden den ersten Nachweis, dass Tönnies niemals beabsichtigt haben konnte, die Theorien von Gemeinschaft und Gesellschaft gegeneinander aufzustellen. Sieht man sich historische Zusammenhänge an, so lassen sie sich nur durch beide Theorieansätze zusammen beschreiben. Dennoch können Tendenzen in die eine oder andere Richtung festgestellt werden. Im Durchgang dieser ersten Näherung an eine Vermittlung der Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft bei Tönnies zeigt sich dessen Originalität darin, dass er sich mit den 115
Dieses teleologische Geschichtsmodell ist immer wieder kritisiert worden. Zur Klassifikation von Geschichtsmodellen in rehabilitierender Absicht, die die normativen Potentiale der Geschichtsphilosophie freilegt, vgl. Rohbeck 2000, Kap. 1.
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beiden Theorien in zwei verschiedene Traditionen einschreibt. 116 Während Tönnies' Gemeinschaftsbegriff eher dem des frühen Rousseau gleicht (Lindenfeld nennt mit Sir Henry Maine und Otto v o n Gierke weitere am Text nachweisbare Einflüsse), schreibt sich der Gesellschaftsbegriff v o n Hobbes her. Lindenfeld ist nun der Ansicht, dass diese beiden theoretischen Traditionen durch Marx verbunden werden, denn dieser „provided for him the theory o f history that linked the two". 117 Damit wäre die historische A b f o l g e von Gemeinschaft und Gesellschaft als sozialtheoretische These in der Tradition des Historischen Materialismus zu verorten. Geschichtsphilosophie ist bei Marx im Sinne eines Bemühens zu verstehen, „das Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen", wie Tönnies erkennt und programmatisch konstatiert: „am Verständnisse gegenwärtiger Zeitläufe ist auch uns am meisten gelegen, w e n n wir aus der Einsicht in die soziale Bedingtheit menschlichen Denkens und Wollens einen Nutzen für unser eigenes Denken und Wollen abzuleiten wünschen". 118 Wie bei Marx nicht v o n einer deterministischen Geschichtsphilosophie gesprochen werden kann, im Rahmen derer mit dem unaufhaltsamen Absinken der Profitrate endlich das utopische Zeitalter einer ,neuen Gemeinschaft' begrüßt werden darf 119 , so kann auch bei Tönnies nicht v o n der Hoffnung auf eine ,neue Gemeinschaft' 116
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Darauf weist auch Bickel wiederholt hin (vgl. Bickel 1991, z.B. S. 82f. u. S. 93ff.). Vgl. mit Bezug auf Cahnman auch R. Heberle 1973, S. VII, Howard 1989, S. 66ff. So in anderem Zusammenhang auch Vogl 1994, S. 11. Lindenfeld 1989, S. 35. Mit Blick auf Tönnies' Marx ist diese stichhaltige These durchaus eigenständig gegenüber Tönnies, der eine nicht immer ganz durchgearbeitete Kritik an Marx übt. So wird zum Beispiel der übliche Vorwurf einer fehlenden Ethik an Marx gerichtet (Tönnies, Marx. Leben und Lehre, S. 139 u. S. 144), obgleich Tönnies selbst sich mit guten Gründen eher fern zu einer ausformulierten Ethik und zur Anrufung sittlicher Substanz gehalten hat, wie sich gut an seinem Grundsatzpapier Wege und Ziele der Soziologie nachvollziehen lässt. „Die verborgene Moral weist auf das Desiderat einer Verbindung von Ökonomie und Ethik hin", so Johannes Rohbeck zu diesem Vorwurf an Marx: „Aus guten Gründen hat Marx kein Buch über Ethik geschrieben. Stattdessen hat er eine Kritik an der herrschenden Moral formuliert", insofern „Moral zum gesellschaftlichen Machtdiskurs" gehöre (Rohbeck 2006, S. 17, zur „verborgenefn] Moral" bei Marx vgl. auch das gleichnamige Kapitel ebd., S. 67-82). Tönnies, Neuere Philosophie der Geschichte, S. 510. Für Tönnies' Geschichtsphilosophie ist sein letztes großes Werk Geist der Neuzeit von Bedeutung, das trotz des politischen Gegenwindes 1935 noch in Leipzig erscheinen konnte. Tönnies ist diesbezüglich in seiner Marx-Lektüre ein wenig unentschieden; einerseits versteht er das Kapital als „Prognose des Untergangs" (Tönnies, Marx. Leben und Lehre, S. 104), andererseits beklagt er Marx' „utopistische Zuversicht", dass sich durch Wissenschaft und Fabrikarbeit eine „höhere Gesellschaftsform" herausbilde (vgl. ebd., S. 143). Diese ambivalente Haltung ist nicht zuletzt den in dieser Hinsicht uneindeutigen Textbefunden bei Marx selbst geschuldet. Dort wird tatsächlich eine geschichtliche Tendenz des Umschlags entwickelt: „Die Centralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigenthums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriirt" (Marx, Kapital I, S. 713, vgl. auch S. 71 lf.). Dieser Utopismus Marx' sei nicht zu retten, so Rohbeck: „Die Aktualität von Marx liegt nicht in der Utopie, sondern in der kritischen Analyse des bestehenden Kapitalismus", der sich nicht schon „durchs pure Überleben" rechtfertige (Rohbeck 2006, S. 19).
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gesprochen werden, die dann einer ursprünglichen Gemeinschaft gliche.120 (In Kapitel 4 werde ich die einzig mögliche Form einer ,anderen' - und zwar einer politischen - Gemeinschaft mit Tönnies thematisieren.) Im Rahmen der geschichtsphilosophischen These ist Gemeinschaft als die menschheitsgeschichtlich frühere Epoche angegeben. Die gesellschaftliche Form ist jünger und wäre diesbezüglich vorrangig unter dem Gesichtspunkt der Entfremdung von den ursprünglichen Verhältnissen zu begreifen. Wie andere Rationalismus- und Kulturkritiker in der Moderne gibt auch Tönnies als Ort und Zeit der Entstehung der gesellschaftlichen Form das Europa des 17. Jahrhunderts an, in dem sich nach den durch Kopernikus, Galilei und Kepler erfolgten Destruktionen des animistischen, anthropomorphen Mythos das begriffliche Denken habe durchsetzen können, das in seiner Konsequenz auch zu einer immer stärkeren Rationalisierung sozialer Prozesse geführt habe.121 Dabei sei in der gegenwärtigen Epoche im „eisernen hunderttausendarmigen Arbeiter, als dem wirklichen Kunstmenschen, der weder auf Sein noch auf Schein einen natürlichen Anspruch macht, [...] die wahre Frucht des mechanischen Gedankens" 122 zu sehen; deutlich ist die Kritik am zersplitternden Rationalismus als Kapitalismuskritik erkennbar. Tönnies' Theorie der Gesellschaft beschreibt die Gegenwart des 19. Jahrhunderts, kontrastiv dazu wird das feudale Mittelalter als gemeinschaftlich verfasst begriffen: Während die soziale Ordnung im feudalen Mittelalter als gottgewollt verstanden wurde und dem Einzelnen nicht fraglich sein konnte (bzw. durfte), bildet der moderne Mensch seine eigene Ordnung aus. Dabei kann er sich nicht an überlieferte Sätze halten, sondern muss sich seines Intellekts bedienen. In den geschichtsphilosophischen Stufenmodellen um 1800 wird als prägnanter Ausdruck dieser Einsetzung einer intellektuell begründeten Ordnung zumeist die Französische Revolution begriffen, die sich auf die naturrechtlich gegebene Freiheit und Gleichheit aller Menschen berief. Die durch den Aufstieg des Bürgertums vorbereitete Umwälzung der sozialen Verhältnisse durch die Revolution wurde bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts und vor allem in Deutschland ambivalent bewertet. Einige sahen die Jakobinerherrschaft mit Schrecken und verstanden sie als notwendige Folge der plötzlichen Veränderung überlieferter Verhältnisse, so dass sie restaurativen Tendenzen zuneigten. Andere begrüßten den Kampf um Freiheit und Gleichheit prinzipiell, betonten aber wie Kant und der Deutsche Idealismus die Bedeutung der Bildung für die Realisierung vernünftiger Verhältnisse. In der Nachfolge dieser aufklärerischen Tradition kritisierte Marx wiederum, dass es eigentlich nur das besitzende Bürgertum sei, das durch die Revolution zu Macht gekommen ist und eine kapitalistische Gesellschaftsordnung etabliert hat. Die in der Logik des eigendynamischen Kapitalismus selbst angelegte Vergrößerung einer besitzlosen Masse kritisiert er und neigt so eher revolutionären Tendenzen zu.
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Obgleich eine Reihe von Tönnies-Interpreten es so verstehen, vgl. z.B. König 1955, aber auch Rudolph 1991, S. 309 und Kozyr-Kowalski 1991, S. 332, in Bezug auf Marx auch S. 325f. Vgl. Tönnies, Hobbes, S. 94. Ebd.
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Vor allem an Marx' Kapitalismuskritik ist Tönnies' geschichtsphilosophische Stufiing von Gemeinschaft und Gesellschaft orientiert. Die eher kritische Darstellung der Theorie der Gesellschaft sowie deren Kontrastierung durch die Theorie der Gemeinschaft ist in diesem Sinne tatsächlich als Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft zu verstehen.123 Marx' Kritik an der Naturalisierung der sozialen Verhältnisse durch die Theoriebildung der politischen Ökonomie verläuft über den Nachweis innerer Widersprüche in der Logik dieser Theorien. Marx kritisiert, dass in der bürgerlichen Gesellschaft entfremdete und verdinglichte Verhältnisse herrschen, die durch die ideologischen Elemente Waren- und Lohnfetisch bzw. durch die Eigendynamik kapitalistischer Marktprozesse erhalten werden.124 Wenngleich er dabei etwas zahmer ist, etwa ein Wort wie ,Fetisch' nie verwendet, entwickelt Tönnies eine ähnliche Kritik am grundlegenden gesellschaftsbildenden Akt des Tausches.125 Als Problem des Tausches hatte Tönnies den fehlenden Maßstab angegeben: Was ist der Wert einer Sache, wenn er sich nicht aus dem Sinnzusammenhang einer Gemeinschaft ergibt, sondern zwischen zwei einander fremden Personen in Bezug auf die Sache gefragt ist? Wie Marx nimmt Tönnies an, dass der objektivierende Maßstab, durch den die Dinge einen vergleichbaren Wert erhalten, die „Quantität der fiir sie notwendigen Arbeit" (GuG 44)126 bzw. Arbeitskraft sei. Überhaupt sei Arbeit die einzige Quelle aller gesellschaftlichen Werte (vgl. GuG 79), während gemeinschaftlich geschätzte Güter ihren Wert aus ihrem Gebrauchszusammenhang beziehen. Hier ist Marx' Differenzierung von Gebrauchswert und Tauschwert wieder erkennbar127, ebenso in der Charakterisierung der Sache als Ware im Tauschzusammenhang. Je stärker nun die Einzelnen auf den (Tausch-)Wert der Sache, je weniger sie auf deren Güte (Gebrauchswert) sehen, in desto stärkerem Maße verselbständigt sich der Warencharakter der Gegenstände, so dass sie 123
Bickel versteht „Gemeinschaft" bei Tönnies daher als kritischen Begriff, mit dem sich Tönnies „gegen eine Hypostasierung der .gesellschaftlichen' zur ,natürlichen' Lebensform" gewendet habe (Bickel 1990, S. 23), ähnlich auch Schlüter 1987.
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Vgl. dazu vor allem das erste Kapitel des ersten Bandes von Marx' Kapital zum „Fetischcharakter der Ware". Auf die zum Teil wörtliche Nähe einiger Passagen von Gemeinschaft und Gesellschaft zu Marx' Kapital macht Rudolph aufmerksam (vgl. Rudolph 1991, S. 310). Von Tönnies wird er darin eher beiläufig bestätigt, wenn dieser in seinem Marx-Buch seine Begriffe Gemeinschaft und Wesenwillen für „Arbeit" und Gesellschaft und Kürwillen für „Handel" einsetzt (vgl. Tönnies, Marx. Leben und Lehre, S. 135). Tönnies nennt weiterhin den Marxschen „Begriff der durchschnittlichen gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit'''' (GuG 75). Bei Marx: „Gesellschaftlich nothwendige Arbeitszeit ist Arbeitszeit, erheischt um irgend einen Gebrauchswerth mit den vorhandenen gesellschaftlich-normalen Produktionsbedingungen und dem gesellschaftlichen Durchschnittsgrad von Geschick und Intensität der Arbeit darzustellen" (Marx, Kapital I, S. 71). Es ist das „Quantum gesellschaftlich nothwendiger Arbeit" bzw. „Arbeitszeit", die die „Werthgröße" eines Gebrauchswerts bestimmt (vgl. ebd.).
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„Als Gebrauchswerthe sind die Waaren vor allem verschiedner Qualität, als Tauschwerthe können sie nur verschiedner Quantität sein" (ebd., S. 70). „Die Nützlichkeit eines Dinges macht es zum Gebrauchswerth", sein Gebrauchswert ist ihm also intrinsisch, während ein Ding als „Waare" ,,[m]annigfache Tauschwerthe" haben kann, die ihrem Gehalt nach von der Sache unterschieden sein müssen (vgl. ebd., S. 69).
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primär in ihrer Wareneigenschaft unabhängig von ihrem Gebrauchswert begegnen (Warenfetisch). Menschliche Arbeit werde in diesem Prozess selbst zur „rein fiktive[n] [...] unnatürlichefn] Ware: Arbeitskraft" (GuG 82). Insofern menschliche Arbeit als Quelle der Wertschöpfung identifizierbar sei, sei in der Gesellschaft diese Arbeit bloß Mittel zum Zweck der Wertschöpfung, genauer: der Mehrwertschöpfung, die in der „Differenz zwischen dem Einkaufspreis der Arbeitskräfte und dem Verkaufspreise (nicht ihres Produktes, sondern) ihres im Produkt enthaltenen Tauschwertes" (GuG 77f.) liege. Die im Produkt enthaltene Arbeitskraft wird also nicht nach dem Tauschwert des geschaffenen Produktes, sondern nach dem zu ihrer Reproduktion notwendigen durchschnittlichen Arbeitszeitmaß entlohnt. Der Lohnfetisch besteht darin, anzunehmen, dass die geleistete Arbeit nach ihrem Wert bezahlt würde. Sofern aber Menschen an ihrer Arbeit Eigentum haben, müssten sie eigentlich auch den erwirtschafteten Mehrwert und nicht nur den Tauschwert ihrer Arbeitskraft (das ,,Existenz-Minimum[]" (GuG 75)) erhalten.128 Diese Widersprüche sind konstitutiv für die kapitalistische Gesellschaftsordnung bei Marx wie auch bei Tönnies, der 1911 in einem Zusatz zur Theorie der Gesellschaft in Gemeinschaft und Gesellschaft schreibt, dass das Marxsche System „mitbestimmend auf ihren Inhalt gewirkt hat" (GuG 82). Die Nähe zu Marx zeigt sich nicht nur in der Problematik des Tausches, sondern auch in den begleitenden Auslassungen zur historischen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft aus gemeinschaftlichen Verhältnissen. Beide gehen von einer Entwicklung von Manufakturarbeit zur Großindustrie (vgl. GuG 67), einer Bewegung vom Land zur Stadt (vgl. GuG 253) sowie die von Gebrauchs- zu Tauschwert aus (vgl. GuG 43). Tönnies kritisiert wie Marx, dass die Familie zersetzt und bloße Stätte der Reproduktion von Arbeitskraft wurde (vgl. GuG 75)129, so dass „die Einheit von Wohn- und Werkstätte [...] nichts mehr als zufällig" sei (GuG 66). Lindenfeld weist auch daraufhin, dass sich eine Reihe von entftemdungstheoretischen Elementen bei Tönnies finden, obgleich er keinen Zugang zu Marx' Pariser Manuskripten und Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie hatte und so den Begriff Entfremdung selbst nicht verwendet. 130 Der Entfremdungsbegriff ist bei Marx oft so verstanden worden, dass er wie der frühe Rousseau zurück zu einer ursprünglichen Gemeinschaft strebe. So könnte man auch den vermeintlich 128
Vgl. den Abschnitt III Die Produktion
des absoluten
Mehrwerths
im Kapital I, in dem dargestellt wird,
dass menschliche Arbeitskraft zwar als die wertbildende Ressource eingekauft wird, durch die überhaupt erst Mehrwert erwirtschaftet werden kann, als solche aber nicht entlohnt wird, sondern nur nach dem Quantum gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit, das zur Wiedereinsetzbarkeit der verbrauchten Arbeitskraft notwendig ist. Der Arbeiter müsste eigentlich nur einen ersten Teil des Arbeitstages arbeiten, um „die zu seiner eignen Erhaltung oder beständigen Reproduktion nöthigen Lebensmittel zu gewinnen", die „zweite Periode des Arbeitsprocesses, die der Arbeiter über die Grenzen der nothwendigen Arbeit hinausschanzt, kostet ihm zwar Arbeit [...], bildet aber keinen Werth für ihn. Sie bildet Mehrwerth, der den Kapitalisten mit allen Reizen einer Schöpfung aus Nichts anlacht" (ebd., S. 225). Der Wert der Arbeit, ausgedrückt im „Arbeitslohn" muss kleiner sein als das „Werthprodukt" (vgl. ebd., S. 509ff.), Marx spricht hier von „Beraubung" der Arbeitskraft (vgl. ebd., S. 240). 129
Vgl. ebd. S . 4 7 2 f . u . S . 481. Vgl. dazu Fn. 114 in dieser Arbeit.
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Vgl. Lindenfeld 1989, S. 43.
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zivilisationskritischen Tönnies verstehen. Doch es zeigt sich, dass Tönnies' Verständnis der Marxschen Schriften ungleich tiefer ist. So bezieht er sich fast ausschließlich auf den ersten Band des Kapitals und findet darin, so Lindenfeld, vor allem die Bestätigung, es sei ein „impersonal mechanism by which community evolves into society, independently of the conscious will of individuals".131 Der Bezug auf Marx' Geschichtsphilosophie ist insofern als Bezug auf eine materialistische Sozialphilosophie zu verstehen.132 Über die Frage, ob die Entwicklung von früheren gemeinschaftlichen Verhältnissen zu den gegenwärtigen gesellschaftlichen notwendig oder zufällig sei, ist viel gestritten worden. Ebenso ist umstritten und bei Marx selbst zuweilen nicht ganz deutlich, ob die der bürgerlichen Gesellschaft immanente Widersprüchlichkeit unweigerlich zu einem Ende dieser Sozialformation führen werde oder ob allein soziale Kämpfe eine Veränderung der Verhältnisse bewirken können. Die Veränderung wäre in jedem Falle als ein,eigentliches' Zur-Vernunft-Kommen der Verhältnisse nach ihrer ,uneigentlichen', scheinbaren Rationalisierung in der bürgerlichen Gesellschaft aufzufassen. Zudem kann sie nicht einfach als Rückgang hinter den in der bürgerlichen Gesellschaft ausgeprägten Individualismus verstanden werden. Marx und Tönnies werden häufig als Gemeinschaftsideologen verstanden, die angeblich eine Rückkehr in eine noch unversehrte Gemeinschaft propagieren, so bei König, der Tönnies als Propheten nach Rückwärts"133 bezeichnet. Vor allem aber der späte Marx hat viel Kraft darauf verwendet, die Kritik an der Theoriebildung der politischen Ökonomie mit einer Wertschätzung des durch die Idee individualistischer Freiheit ermöglichten kritischen Bewusstseins zu verbinden.134 Bereits eine erste Darstellung der reinen Begriffe von Gemeinschaft und Gesellschaft bei Tönnies zeigte, dass sie je für sich inkonsistent sind und dass soziale Phänomene nicht durch nur einen dieser Begriffe erfasst werden können (2.1). Es zeigt sich nun aber dennoch, dass sich mit den reinen Begriffen in kritischer Absicht geschichtliche Tendenzen verdeutlichen lassen. So ist historisch die bürgerliche Gesellschaft tatsächlich eher mit der Theorie der Gesellschaft als mit der der Gemeinschaft zu beschreiben. Zugleich ist deutlich, dass die einzelnen Personen auch in der modernen Gesellschaft vergemeinschaftet sind. Historisch können wir noch heute eine Bewegung vom Land zur Stadt und damit 131
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Vgl. ebd., S. 35 u. S. 44. Lindenfeld weist hier auf eine Stelle in Tönnies' Marx-Buch hin, an der er Dialektik als den ,,Gedanke[n], daß das, was wird, schon ist, wenn auch in einem verneinten oder verborgenen Zustande", beschreibt (Tönnies, Marx. Leben und Lehre, S. 124). Marx spricht häufiger von sich herausbildenden .Naturgesetzen' der kapitalistischen Gesellschaftsformation (vgl. Marx, Kapital /, z.B. S. 285, S. 471 u. S. 690) sowie von der ,Naturwüchsigkeit' der gesellschaftlichen Wandlungsprozesse etwa vom Manufakturwesen zur Industriearbeit (vgl. ebd., Kap. 13). So auch der Tenor von Rudolphs Arbeit (Rudolph 1995). Auf die unlösbare Verbindung von Geschichtsphilosophie und Sozialwissenschaft weist auch Rohbeck hin (vgl. Rohbeck 2000, S. 34, auch S. 39). König 1955, S. 384. In diesem Sinne auch die Wertschätzung der Fabrikarbeit, da durch sie die dem Kapitalismus immanente Widersprüchlichkeit entwickelt werde, so dass es zu einer Umwälzung kommen könne (vgl. Marx, Kapital I, z.B. S. 472 u. S. 480).
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von der Subsistenzwirtschaft zur Marktwirtschaft nachvollziehen. In diesem Sinne ist Tönnies' Darstellung zweier Zeitalter nicht falsch, inwiefern ist sie begründet kritisch? Mit der Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft ist die Kritik am Alleinerklärungsanspruch rationalistischer Sozialtheorien verbunden. Indem Tönnies deren Monopolstellung angreift, kritisiert er die durch diese Theorien scheinbar rationalisierten Verhältnisse selbst. Auch Marx kritisiert nicht die bürgerliche Gesellschaft direkt, sondern die Naturalisierung ihrer in sich widersprüchlichen Verhältnisse durch die Theoriebildung der Politischen Ökonomie. Tönnies stellt mit den beiden Theorieansätzen zu Gemeinschaft und Gesellschaft die alleinige Gültigkeit der rationalistischen Tradition infrage, die überhaupt nur die unter dem Paradigma des Tauschs stehenden sozialen Phänomene begreifen kann. Behauptet man, nur diese gehörten zur sozialen Wirklichkeit, so negiert man damit die Wirklichkeit einer unendlichen Reihe anderer Phänomene und legitimiert durch die Marktordnung nicht behebbare Ungerechtigkeiten. Tönnies führt nun mit Adam Smith auch einen der Theoretiker der Politischen Ökonomie vor und weist die Inkonsistenz der Smithschen Annahme, jeder sei ein Kaufmann, nach. Der wichtigste Stichwortgeber für die Theorie der Gesellschaft ist aber Hobbes.135 Der Hobbessche Naturzustand des bellum omnium contra omnes ist bei Tönnies in die Ebene der bürgerlichen, rechtlich verfassten Gesellschaft verlagert. Diese Verschiebung ist nicht ganz neu. Der Vergleich des Hobbesschen Naturzustandes mit der bürgerlichen Gesellschaft findet sich bereits bei Rousseau, der im Diskurs über die Ungleichheit ( 1755) kritisch gegen die Vertragstheorien bei Hobbes, John Locke, Samuel Pufendorf und Hugo Grotius vorbringt, es handele sich nicht um allgemeine Theorien sozialer Ordnung, sondern um Beschreibungen der bürgerlichen Gesellschaft in ihrem durch das individuelle Besitzstreben deformierten Zustand. So könne der Kontraktualismus als Apologie des Bürgertums enttarnt werden, da seine Argumentation nur dazu diene, die Ungleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft zu legitimieren und auf diese Weise zu konsolidieren. 136 Auch Tönnies übt diese Kritik an der Gesellschaft, insofern er sie als latenten Kriegszustand der einzelnen Personen versteht, die nur zum Zwecke des Austausches von Waren zueinander kommen und dafür einer Regelung von außen bedürfen. Wer nichts übrig hat, kann auch nichts tauschen. Die Regelung des Tausches durch Konventionen wird nur von besitzenden Bürgern gebraucht. Wer nichts anderes hat, muss seine Arbeitskraft tauschen, um sein Leben zu sichern. Wenn ich nicht einmal über spezielles Wissen oder Können verfuge, kann ich eventuell nichts als mein bloßes Leben sichern. Dennoch beruft Tönnies sich affirmativ auf Hobbes. Diese Haltung ist insofern konsistent, als Hobbes nicht nur Theoretiker des Naturzustandes ist, sondern vielmehr der der Aufhebung dieses Naturzustandes durch den Gesellschaftsvertrag. Wenn wir also einen 135
Vgl. Tönnies, Hobbes, S. 205f. Vgl. dazu Lindenfeld 1989, S. 30, Howard 1989, S. 73, S. Tönnies 1981, Bickel 1991, S. 83, Rudolph 1995, S. 176.
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Wiederholt wird das Rousseausche Argument gegen Hobbes und Locke bei Macpherson 1990 (vgl. Fn. 22 in dieser Arbeit). Dieser Hobbes-Lesart wurde verschiedentlich widersprochen, so prominent bei Isaiah Berlin (Berlin 1964). Die historische Bedingtheit des Textes und zugleich zu erhaltender systematischer Stärke des Hobbesschen Kontraktualismus heben u.a. Fetscher 1966/84 und (sogar gegenüber dem liberalen Kantischen Kontraktualismus) Höffe 1987 hervor.
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Zustand haben, der mit den theoretischen Mitteln eines Hobbes am besten begriffen wird, dann gilt möglicherweise auch dessen Aufhebung durch einen fiktiven Gesellschaftsvertrag. Ich muss dafür weder bei Hobbes noch bei Tönnies annehmen, dass die Menschen zu irgendeinem Zeitpunkt einmal wirklich freie und gleiche, abstrakte Personen waren, sondern muss ihr gegenwärtiges Miteinander als ein solches begreifen, das sich nicht auf .natürliche' Weise von einer geteilten gemeinschaftlichen Lebenswelt herschreibt.137 Die ausdifferenzierten Sozialformationen der Moderne sind nun schlicht nicht besonders gut durch eine Theorie der Gemeinschaft beschreibbar, sie würden fast ausschließlich als defizient sichtbar. Die auf Hobbes basierende Theorie der Gesellschaft reagiert auf die in der Moderne entstehenden Probleme mit der Idee eines fiktiven Gesellschaftsvertrages: Damit die gesellschaftsbasierenden Tauschakte überhaupt stattfinden können, bedarf es einer grundlegenden Einigung, den anderen nicht zu vernichten. Diese Einigung wird vorgestellt als vertragliche Abgabe der individuellen Gewalt. Bezogen auf die kapitalismuskritische Anwendung der Theorie der Gesellschaft bei Tönnies ist die Bedeutung der ihr immanenten Motive der Freiheit und Gleichheit zu betonen, können diese doch den inneren Widersprüchen der bürgerlichen Gesellschaft entgegengesetzt werden. Durch die Identifizierung von Tönnies' Gesellschaft mit Hobbes' Naturzustand lässt sich die Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft in einer oben bereits angedeuteten Konstellation verorten, die zwei im Grunde sehr disparate sozialphilosophische Entwürfe verbindet.138 Einerseits ist Gemeinschaft als der Ort des von Natur aus sozialen zoon politikon gekennzeichnet, deren Ordnung ethosethisch begründet ist - man orientiert sich an Sitten und Bräuchen, die der jeweiligen Lebenswelt adäquat sind. Andererseits steht Gemeinschaft mit der Sozialform Gesellschaft das kontraktualistische Modell ursprünglich einzelner Individuen, die gegeneinander Krieg führen, gegenüber. Diese beiden sozialphilosophischen Ansätze werden bei Tönnies in einer an Marx orientierten geschichtsphilosophischen These zur Abfolge Gemeinschaft - Gesellschaft verbunden. Der normative Kern dieses geschichtsphilosophischen Modells ist die Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft, die formuliert wird als Kritik am marktwirtschaftlichen Paradigma. In diesem Sinne ist Tönnies in keiner Weise als rückwärtsgewandter Pessimist zu bezeichnen, sondern als Realist. Dass er eine zeitliche Abfolge von solchen Formen annimmt, die eher mit einer Theorie der Gemeinschaft zu beschreiben sind, zu solchen, die eher mit einer Theorie der Gesellschaft erfasst werden können, heißt aber nicht, dass die Bedeutung dieser beiden Theorien in dieser historischen Dimension schon aufginge.
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Tönnies sieht den Kontraktualismus als einen Versuch an, „den Vorgang der Staatengründung zu rationalisieren", obwohl sich in der Wirklichkeit immer wieder zeige, „was Hobbes auch gewußt hat, daß die Machtverhältnisse allein den Ausschlag geben" (Tönnies, Die Lehre von den Volksversammlungen, S. 22). Kersting weist darauf hin, dass auch Rousseau im Widerspruch zum zweiten Diskurs im Gesellschaftsvertrag eine Idee des kontraktualistischen Republikanismus vertritt, in der ein solches Ineinander der sich vordergründig ausschließenden Thesen aufscheint (vgl. dazu Kersting 2005, S. 169f.).
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2.3 Vermittlung in der sozialwissenschaftlichen Anwendung (Tönnies als Soziologe) Wenn die im Rahmen der geschichtsphilosophischen These explizierte Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft Valenz bekommen soll, dann muss sie darin begründet sein, dass menschliches Miteinander nicht nur aus .gesellschaftlichen' Formen besteht, sondern immer auch aus gemeinschaftlichen'. Systematisch müssen die beiden Theorien verbunden sein: Gemeinschaft ist nicht in einem mythischen Zeitalter der Hütten verschollen oder in der Intimität der Brüderlichkeit aufgehoben, und ebensowenig ist es die Gesellschaft, die sich auf deren Ruinen und Rudimenten - und um den Preis des Verlusts - errichten würde. Die Gesellschaft ist nicht aus dem Kollaps einer Gemeinschaft entstanden, es gibt keine ursprüngliche Teilung und keine erste Vereinigung, keine verlorene Unschuld kollektiven Lebens und keine anfängliche Institution'39,
schreibt Joseph Vogl einleitend zu dem von ihm edierten Band Gemeinschaften. Dennoch haben die Fiktionen einer ursprünglichen Gemeinschaft und eines Gesellschaftsvertrags Bedeutung einerseits für eine kritische Geschichtsphilosophie und andererseits auch für eine kritische Sozialphilosophie. Obgleich Tönnies' Theorie der Gemeinschaft und seine Theorie der Gesellschaft je für sich ,unwahr' sind, beschreiben sie in diachroner (historischer) wie in synchroner Hinsicht zusammen verschiedene Möglichkeiten menschlicher Praxis. Osterkamp spricht von zwei Modellsinnen, die aus dem Gemeinschaft-Gesellschaft-Theorem zwei zu unterschiedlichen Zwecken taugliche Beobachtungsinstrumente machen: ein universell verwendbares synchronisches Polarisationsinstrument für Aspektmischungen und einen diachronischen Modellmaßstab für langfristigen, kritisch-innovativen sozialen Wandel.140
Mit dem synchronen Modellsinn wird sich dieser Abschnitt befassen. Die Vorreden zu den vielen Auflagen, die der Text erfuhr, belegen, dass Tönnies sich notorisch missverstanden glaubte, da ihm immer wieder der Vorwurf eines unhaltbaren Antagonismus der beiden Sozialformen gemacht wurde. Unermüdlich betont er die Künstlichkeit der begrifflichen Trennung von Gemeinschaft und Gesellschaft und die Bedeutung ihrer Verschränkung in der wissenschaftlichen Praxis. Der rein theoretische Antagonismus sei in der sozialen Wirklichkeit und entsprechend auch in der sozialwissenschaftlichen Praxis stets aufgehoben. Die Begründung dieser Vermittlung in der Praxis findet sich am prägnantesten in Tönnies' Willenstheorie, die im zweiten Buch von Gemeinschaft und Gesellschaft ausgeführt ist. Tönnies' Voluntarismus steht in der Tradition Spinozas, von dem das eine der beiden vorangestellten Mottos stammt: „ Voluntas atque intellectus unum et idem sunt (GuG 85). ,JSpinoza contributed the notion of that the will was not simply an internal instinct, but a 139 140
Vogl 1994, S. 21. Osterkamp 2005, S. 92.
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type of affirming and negating, involving our cognitive powers as well".141 Der im zweiten Buch von Gemeinschaft und Gesellschaft durchdringende Pessimismus ist vermutlich von Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche beeinflusst. Tönnies betrachtet den „Begriff des menschlichen Willens" in zwei Richtungen: „Da alle geistige Wirkung als menschliche durch die Teilnahme des Denkens bezeichnet wird, so unterscheide ich: den Willen, sofern in ihm das Denken, und das Denken, sofern darin der Wille enthalten ist" (GuG 87). Die erste Form nennt er Wesenwillen, die zweite bis zur dritten Auflage von Gemeinschaft und Gesellschaft Willkürwillen. Erst dann entschied er sich, diesen Begriff „durch das freigebildete Wort Kürwille" zu ersetzen: „,Nur dadurch wusste ich festzulegen, dass der Begriff selber ein freigebildeter Begriff ist'", schreibt Tönnies 1921 an Höffgen. 142 Die Willenstheorie bildet für viele Lesarten das „Gedankenzentrum" 143 des Tönniesschen Entwurfs, insofern darin Wesenwille und Kürwille als die Momente vorgestellt werden, die die beiden Sozialformen erhalten und regulieren. Die Statik der beiden reinen Theorien wird hier gewissermaßen in Bewegung gesetzt. Tönnies versteht Wesen- und Kürwillen als Ursachen und Dispositionen zu Tätigkeiten, die sich in ihren Richtungen diametral gegenüber stehen und eigene Sozialformen ausbilden. Das Wesen der beiden Sozialformen bestimmt Tönnies über das Ordnungsgefüge, das durch die Willen als Struktur geprägt wird und das so wiederum auf die Einzelwillen einwirkt - in gemeinschaftlichen Zusammenhängen von innen heraus, in gesellschaftlichen von außen in den Einzelnen hinein, der dabei von seinen eigentlichen' Bedürfnissen ,entfremdet' wird. Durch den Wesenwillen entstehe in der Gemeinschaft geistige Einheit in der Mehrheit der körperlich getrennten Individuen. Gesellschaft sei hingegen über Kürwillen organisiert, der eines künstlichen, objektiven Wertes bedürfe und will-kürlich das Handeln der Individuen nach Zwecken lenke, die ihren eigentlichen' Motiven äußerlich seien. So liege in einzelne Individuen gespaltene Mehrheit in der Einheit des Strebens nach dem gleichen Zweck vor (unter dem marktwirtschaftlichen Paradigma: die Gewinnung von Mehrwert). Fast durchweg ablehnend stellt Tönnies den Kürwillen dar: Durch den Kürwillen bewegt, greife der Mensch in eine nicht in der Gegenwart verwurzelte Zukunft vor. Der Kürwille sei ein Gebilde des Denkens, das sich zum Herrn über den Körper mache, indem er als eine ideelle und gemachte Einheit dem Handeln ein Ziel vorgebe, so dass ein „ideell Wirkliches auf ein realiter Wirkliches" (GuG 108) einwirke. Bei der Verfolgung seiner Zwecke achte der Kürwille nicht darauf, ob dieses Ziel an die Gegenwart und die Vergangenheit angeschlossen werden könne. Das Ziel sei ein bloßes Bild, der aktuellen Situation vollkommen äußerlich. Das denkende Ich ist hier als Subjekt vorzustellen, das auch der eigenen Tätigkeit äußerlich ist. Der Kürwille ist bedingt durch das Selbstbewusstsein, durch das ich zugleich handelndes Zentrum meiner Tat und dieser Tat als bewusste In-
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Lindenfeld 1989, S. 31. Brief von Tönnies an Höffgen vom 21. Juni 1921 (Bickel/Fechner 1989, S. 145 [Anführungszeichnen im Original]). Bickel 1991, S. 29, analog u.a. auch Merz-Benz und Rudolph. Rehberg macht einige in ihrer Knappheit recht konzise Bemerkungen zu den Mängeln in Tönnies' Voluntarismus (vgl. Rehberg 1993, S. 36-38).
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stanz äußerlich bin. Die Form der Kausalität ist analog der in anorganischen Zusammenhängen gedacht: Ursache und Wirkung stehen in keinem organischen Verhältnis, sondern in messbarer, vorhersagbarer Korrelation zueinander. Der Kürwille unterliege folglich einem quasi-physikalischen Naturgesetz, während im Wesenwillen Handlungen organisch aus Tradition, Gewohnheit und Gedächtnis erwüchsen, also entlang solcher Maßstäbe erfolgen, die nicht den gemeinschaftlich-substanziellen Bedürfnissen ,entfremdet' sind. Der Kürwille hingegen „enthält etwas Unnatürliches und Falsches" (GuG 114). Vordergründig scheint es nun so, als wären Wesen- und Kürwille zwei voneinander unabhängige Antriebsquellen, die organische Entwicklung und mechanische Kausalität bewirken. Tatsächlich, so Tönnies, sind sie aber untrennbar miteinander verwoben und nur ihrer Tendenz nach sich unterscheidende Aspekte eines Wirkungszusammenhangs. Das heißt, sowohl historisch-genetisch als auch in konkreten Vollzügen menschlichen Daseins ist die Trennung von Wesen- und Kürwille nicht wirklich. Sie ist, wie auch die antagonistische Trennung der beiden Sozialformen, theoretischer Natur und nach Tönnies' eigenem Verständnis ,künstlich': Die Begriffe der Willensformen und Gestaltungen sind selber, an und für sich, nichts als Artefakte des Denkens; sind Geräte, dazu bestimmt, das Verstehen der Wirklichkeit zu erleichtern. So muß höchst mannigfaltige Beschaffenheit der menschlichen Willen nach der zwiefachen Betrachtung, ob es ihr realer oder imaginärer Wille ist, auf diese Normalbegriffe als auf gemeinsame Nenner bezogen und dadurch unter sich um so vergleichbarer werden. Als solche freie und willkürliche Gedankenprodukte schließen diese Begriffe einander aus: in den Formen des Wesenwillens soll nichts von Kürwillen, in den Formen des Kürwillens nichts von Wesenwillen mitgedacht werden (GuG 133).144
Die antithetische Darstellung der Begriffe entspringt folglich einer methodischen Dezision, die Osterkamp ^pragmatischen' Konstruktivismus" 145 nennt. Diese Dezision muss als wohlerwogenes Ergebnis wissenschaftstheoretischer Überlegungen Tönnies' dazu verstanden werden, wie sozialwissenschaftliche Forschung überhaupt denkbar ist. Die Forschung also an einem Gegenstand, der sich beständig verändert, diese Veränderung in Strukturen vollzieht, die über längere Zeiten relativ fest sind (Konstellationen, Gesellschaftsformationen), und der sich während der Veränderungen auf die Bedeutung dieser Veränderungen und der in ihnen sich zeigenden Strukturen beziehen kann. Ein solchermaßen wissenschaftstheoretisch sich übender Tönnies konstatiert, dass die „Begriffe als empirische genommen [...] nichts als Namen sind, durch welche eine Vielheit der Anschauung oder Vorstellung umfaßt und behalten wird; mithin je weiter desto leerer an Merkmalen" (GuG 133f.). Während sie sich im theoretischen Sinne ausschließen, stünden Kürwille und Wesenwille praktisch in einem gegenseitigen Konstitutionsverhältnis. Die Anwendung der beiden Willensformen in der Sozialforschung zeige leicht, „daß kein Wesenwille ohne Kürwille, worin er sich ausdrückt, und kein Kürwille ohne 144
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Zu den Normal- oder auch Grundbegriffen vergleiche auch GuG IL. Die Nähe zu Max Webers Idealtypen ist verschiedentlich hervorgehoben worden (vgl. König 1955, S. 352, Samples 1989 S. 13, Lindenfeld 1989, S. 29, Bickel 1991, S. 102). Osterkamp 2005, S. 102.
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DIALEKTIK DES SOZIALEN - FERDINAND TÖNNIES
Wesenwillen, worauf er beruht, in der Erfahrung vorkommen kann" (GuG 134). So wird deutlich, dass der Charakter jedes wirklichen Menschen, sofern er selbstbestimmte Person ist, in veränderlichem Anteilsverhältnis immer sowohl durch Wesenwillen als auch durch Kürwillen geprägt ist. Tönnies spricht hier sogar vom „zwiefachen Ursprünge" der wirklichen Charaktere („substanziellen Träger") und ihres Verhaltens aus Gesinnung (Wesenwille) und Bestrebung (Kürwille) (vgl. GuG 135). In philosophischer Hinsicht ist die Frage nach der Vermittlung von Wesen- und Kürwille aufgrund ihrer bewusstseinsphilosophischen Implikationen von eminenter Bedeutung. Tönnies setzt zunächst die gegen sich selbst distanzierte Vernunft parallel zum Kürwillen und stellt diesem die natürliche Vernunft des Wesenwillens gegenüber. Paraphrasieren lässt sich diese Gegenüberstellung mit Selbstbewusstsein und Bewusstsein. Würde Tönnies nun an seiner Kritik am Kürwillen festhalten, so schüttete er sprichwörtlich das Kind mit dem Bad aus: Ohne den Kürwillen, d.h. ohne das Selbstbewusstsein wird die Untersuchung menschlichen Zusammenlebens sinnlos, denn Bewusstsein eignet auch höheren Tierarten. Angenommen also, dass Selbstbewusstsein dem Menschen spezifisch eignet, dann ist eine Theorie menschlichen Miteinanders, die eine Kritik des Selbstbewusstseins äußert, entweder eine grundsätzlich pessimistische, wie sie in Ludwig Klages' Der Geist als Widersacher der Seele (1929-1932) begegnet, und damit keine neutrale Theorie mehr, oder aber sie ist schlicht keine Theorie menschlichen Miteinanders. Wie Tönnies aber selbst einleitend zum Abschnitt über die Willensformen sagt, ist menschliche Wirklichkeit durch die „Teilnahme des Denkens bezeichnet" (GuG 87). Der Begriff des Kürwillens ist daher bei Tönnies nicht einfach negativ besetzt, sondern in höchstem Maße ambivalent. Gegenüber Höffgen äußert er: „An diesem Begriff ist mir nach wie vor fast am meisten gelegen".146 Begründet ist die Ambivalenz darin, daß das Individuum um so menschlicher und edler sich entwickelt je mehr ein besonnenes Urteil, oder die Vernunft, an seinem Wesen und an seinen Handlungen Anteil hat; nur ist die Gefahr vorhanden[,] daß durch diese Verfeinerung, welche den naiven und brutalen Egoismus [...] so sehr zu beschränken geeignet ist, daß eben durch diese der reine, bewußte und ausschließliche Egoismus erst hervorgebracht wird, dessen Subject mit eben so kalter Stime seine Zwecke setzt als die Mittel dazu erfindet und anwendet.147
Im Kürwillen liegt sowohl das Heil vernünftigen individuellen Handelns als auch die Möglichkeit des Egoismus, der „eigentlichen und losen Willkür".148 Der Kürwillensbegriff beschreibt so etwas wie ein „Wollen zu Wollen", das Tönnies selbst gegen Hobbes' physikalistischen Freiheitsbegrifif im Sinne der Selbstbestimmung des Willens einfordert.149 Da Hobbes' Willen nur als Trieb definiert und ein freier Wille folglich ein solcher 146
Brief von Tönnies an Höffgen vom 21. Juni 1921 (Bickel/Fechner 1989, S. 145).
147
Brief von Tönnies an Höffgen vom 14./19. Oktober 1888 (ebd., S. 36). Vgl. ebd. Vgl. Tönnies, Hobbes, S. 179. Darüber hinaus diskutiert er Hobbes' Determinismus durchaus wohlwollend in Bezug auf dessen Trennung von „Handlungsfreiheit (als subjektiver) und Willensfreiheit (als objektiver Tatsache)" (ebd., S. 157). Hobbes' Determinismus sei in diesem Sinne Ausdruck des
148 149
ANTAGONISMUS ODER VERMITTLUNG VON GEMEINSCHAFT UND GESELLSCHAFT?
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ist, dem kein Hindernis bei der Verfolgung seines Zieles in den Weg kommt150, hat hier nur ein mechanistischer (Bewegungsfreiheit), aber kein kritischer Begriff von Freiheit (Autonomie) Platz. Autonomie aber ermöglicht erst die Bestimmung des Willens, also ein ,Wollen zu Wollen', das die Bedingung der Möglichkeit einer echten Handlung ist. Im Sinne dieser ambivalenten Sicht auf den Kürwillen, also auf das Denken, in dem der Wille enthalten ist, bezeichnet Osterkamp Tönnies zurecht als „vernunftoptimistischen Aufklärungsdialektiker".151 Methodisch wird der Antagonismus von Gemeinschaft und Gesellschaft über die sie bewegenden Willensformen in der sozialwissenschaftlichen Praxis vermittelt. In der Erfahrung kann so etwas wie eine Handlung, die allein Ausdruck von Wesenwillen oder allein von Kürwillen ist, nicht vorkommen.152 Sofern die Sozialformen durch menschliche Handlungen konstituiert sind, müssen sich also auch in ihnen die ihnen jeweils korrespondierenden Willensformen kreuzen. So sind beide Sozialformen durch ein Ineinander der beiden Willensformen geprägt. Der Wissenschaftstheoretiker und Soziologe Tönnies unterscheidet drei Ebenen: Ebene 1
Ebene 2
Ebene 3
Phänomene sozialer Praxis
Abstrakte Begriffe: Gemeinschaft - Gesellschaft Wesenwille - Kürwille
Ergebnisse empirischer Forschung
Schema 1: Ebenen der Bedeutung von Gemeinschaft und Gesellschaft
Nur auf der mittleren Ebene wissenschaftstheoretischer Vorüberlegungen haben die reinen Theorien von Gemeinschaft und Gesellschaft Konsistenz.153 Sobald man ihr Verhältnis zur ersten Ebene der konkreten Sozialwelt bedenkt, werden die Theorien sowie die beiden Willensbegriffe abstrakt und starr. Daher sind die Ergebnisse empirischer Sozialforschung auch stets durch ein Ineinander der beiden Theorien gekennzeichnet. Gemeinschaft und Gesellschaft sind im Rahmen soziologischer Theoriebildung in der sozialen
150 151 152
153
Gedankens, ,,[d]aß die Welt in sich logisch sei", der „seine klassische Form in der Lehre von der Realität des Allgemeinen und dem immanenten Zwecke [hat]; nach neuen Formen dafür suchen unter den neueren Denkern Hobbes, Spinoza, Leibniz, Kant, Hegel, Spencer" (ebd., S. 155). Inwiefern dieser Gedanke bei Tönnies entwickelt wird, ist Gegenstand des dritten Kapitels in dieser Arbeit. Vgl. Hobbes, Leviathan, S. 163. Osterkamp 2005, S. 14. Das hatte auch König erkannt, Tönnies aber unterstellt, er habe nicht gesehen, dass Gemeinschaft und Gesellschaft ohne einander gar nicht existieren könnten (vgl. König 1955, S. 405 u. S. 410). Jacoby bezweifelt sogar, dass die reinen Begriffe aus Gemeinschaft und Gesellschaft überhaupt für eine anwendungsbezogene Wissenschaft dienen könnten: „At this level of abstraction, the fundamental notions of Gemeinschaft und Gesellschaft were of course quite unsuitable as operational tools for empirically describing social reality" (Jacoby 1973, S. 78, vgl. auch ebd., S. 78ff. u. S. 102). Damit wäre Tönnies auch für Jacoby eher Sozialphilosoph als Soziologe.
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Praxis und in der Praxis ihrer Anwendung als je vermittelt zu denken. Ihre antagonistische Trennung ist als methodische Dezision aufzufassen, mittels der historisch wie gegenwärtig zu unterscheidende Tendenzen ausgemacht werden können. Theoriekritisch kann eine solche Soziologie sein, indem sie Sozialtheorien zurückweist, die nur eine der beiden Seiten für ,echtes' menschliches Miteinander halten. Sozialkritisch kann sie sein, indem sie für die Wirklichkeit die überstarke Erklärungskraft einer der beiden Theorien nachweist, so dass angenommen werden kann, die Wirklichkeit sei in zu geringem Maße durch beide Elemente menschlichen Miteinanders geprägt. Sie wäre zugleich deskriptiv und normativ, wie K. Heberle sagt: „both scientific and judgemental, i.e. critical", wodurch Tönnies' Soziologie nicht wie Webers in die „nihilistic trap of positivism" tappe.154 Die Idee, dass Tönnies' Gemeinschaft und Gesellschaft nicht auf einem Dualismus basiere, sondern auf einer methodisch sinnvollen Dezision, wird sowohl von den nordamerikanischen (u.a. Jacoby, Cahnmann, K. Heberle) als auch von den deutschen Tönnies-Lektüren (u.a. Clausen, Schlüter, Bickel) geteilt. Meines Erachtens kann man noch einen Schritt weiter gehen und nach der philosophischen Begründung der soziologischen Dezision fragen.155 Dadurch kann nicht nur die zugleich normative und deskriptive Kraft erhärtet werden, sondern auch der dialektische Zusammenhang der theoretischen Begriffe. Denn muss nicht eine soziologische Praxis, die immer auf beide Theorien zugreift, wiederum von der Idee ihrer zugrundeliegenden Vermittlung geleitet werden? Die Beobachtung sozialer Phänomene führt so nicht nur zur Ausbildung zweier antagonistischer Begriffe, sondern auch zu der Idee ihres noch darunter liegenden, in der Wirklichkeit gegebenen Zusammenhanges. Würde der Philosoph Tönnies nicht von dieser Idee ausgehen müssen und diesen Vermittlungszusammenhang auch in seinen Begriffen anlegen?
3. Soziale Wirklichkeit - Der begriffslogische Zusammenhang von Gemeinschaft und Gesellschaft Für mißverständliche Auslegungen, sich klug dünkende Nutzanwendungen halte ich mich nicht verantwortlich. Leute, die begriffliches Denken nicht gewöhnt sind, sollen sich des Urtheiles in solchen Dingen enthalten (GuG XXIII).
Ging es im vorangegangenen Kapitel darum, den unlösbaren Zusammenhang der Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft in der entwicklungsgeschichtlichen Anwendung sowie in der soziologischen Empirie darzulegen, so ist das Ziel nun, die Begriffe in ihrem theore154 155
K. Heberle 1989a, S. 50. Ähnlich geht Osterkamp vor, wenn er „den dialektisch-dynamischen Prozeßsinn von GuG als Modellsinn oder Typ im Rahmen des konstruktiven Strukturzusammenhanges der Begriffe", behandelt, obwohl „Tönnies im Gegensatz dazu, ihn als Anwendungsergebnis auffaßt" (Osterkamp 2005, S. 111, vgl. auch ebd., Kap. VI.3 u. Kap. VII).
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tischen Zusammenhang zu beschreiben. Einen Ansatz dazu hat einerseits die Verbindung zweier Theorietraditionen in einer von Marx geprägten Geschichtsphilosophie gezeigt, andererseits ergab er sich auch in der Analyse von Wesen- und Kürwille, die als Formen des menschlichen Willens von Tönnies so dargestellt werden, dass sie nur zusammen einen Begriff des menschlichen Willens geben können. Ebenso verhält es sich mit den Begriffen Gemeinschaft und Gesellschaft selbst, die ihrer Logik nach auf den je anderen Begriff verweisen. Dieser Verweisungszusammenhang ist dabei nur vorderhand als Entgegensetzung zu begreifen, also so, dass Gesellschaft Gemeinschaft negiert. In dieser entgegensetzenden Weise geht Tönnies als Soziologe heuristisch mit den Begriffen um. Die tiefer gehende Analyse der Logik der Begriffe von Gemeinschaft und Gesellschaft muss sie aber als Momente eines beide umfassenden Begriffs des Sozialen ausweisen. Eine Sozialphilosophie nach Tönnies hat es mit diesem Nachweis des begriffslogischen Zusammenhangs von Gemeinschaft und Gesellschaft zu tun. Ihrer Logik nach kann weder der Begriff der Gemeinschaft noch der Begriff der Gesellschaft menschliches Miteinander begrifflich voll erfassen. Einen vollen Begriff sozialer Zusammenhänge erhält man erst auf einer begriffslogischen Ebene, die Gemeinschaft und Gesellschaft als ihre Elemente enthält aber auch in ihrem Widerspruch erhält. Für diese Ebene verwendet Tönnies die Begriffe Gemeinwesen und Staat. Dies sind solche Praxisformen, in denen selbstbewusste Individuen um sich selbst als Teile eines sie umfassenden Ganzen wissen, so dass sie ihr Handeln sowohl auf sich als auch auf dieses Ganze beziehen können und sie ihren gemeinsamen Willen durch dieses Ganze ausgedrückt finden bzw. wenn sie ihn nicht ausgedrückt finden, diesen Ausdruck einfordern können. Auf diese Ebene und das darin thematische Ineinander von deskriptiven und normativen Elementen eines Begriffs sozialer Wirklichkeit komme ich am Ende dieses Kapitels und dann näher im vierten Kapitel zu sprechen. Zunächst soll der begriffslogische Zusammenhang der Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft auseinander gesetzt werden. Einen Hinweis in diese Richtung gibt Tönnies selbst, indem er vom bloß „psychologischen Gegensatz[]" derjenigen Gedankenverbindungen spricht, die Gemeinschaft und Gesellschaft darstellen und bedeuten (vgl. GuG 124).156 Da es sich hier um das systematische Zentrum der angekündigten Dialektik von Gemeinschaft und Gesellschaft handelt, die Ausführungen dazu bei Tönnies aber nur sehr verdichtet unter dem Titel Definitionen und Thesen zu Beginn des dritten Buches von Gemeinschaft und Gesellschaft („Soziologische Gründe des Naturrechts") gefasst sind, werde ich die Nähe der Tönniesschen zur Hegeischen Begriffslogik hier verdeutlichend ausführen. 157 Ein knapper Blick auf Hegels so genannte Kleine Logik (Enzyklopädie I) 156
Entsprechend sind bei Tönnies auch die sozialen Gebilde Artefakte von psychologischer Substanz (vgl. GuG XXXV).
157
Tönnies selbst äußerte sich nur selten explizit zu Hegel; unter anderem in einer Rezension zu Paul Barths Geschichtsphilosophie Hegels und der Hegelianer bis auf Marx und Hartmann [1890], in einem Artikel zur Neueren Philosophie der Geschichte von 1894 und in einem späten Artikel zu Hegels Naturrecht, der 1932 sowohl in Schmollers Jahrbuch als auch mit nur kleinen Veränderungen in der niederländischen Zeitschrift Mens en Maatschappij erscheint (übersetzte Passagen finden sich in dem für das Verhältnis Tönnies - Hegel wichtigen Diskussionsbeitrag von Alwast 1991).
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sowie deren Mitfuhren bei der Lektüre der Tönniesschen Auslassungen soll die Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft in ihrer Entgegensetzung als unmittelbares Sein - vermitteltes Wesen, Inhalt - Form, Positivität - Negativität sowie in deren sozialphilosophischer Übertragung in Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts als Volk/Familie - bürgerliche Gesellschaft158 auszeichnen. Diese begrifflichen Entgegensetzungen werden bereits bei Hegel unter Beibehaltung ihres Widerspruchs im spekulativen Begriff bzw. in der Idee des sittlichen Staates »aufgehoben'. Es geht mir darum, den jeweiligen Punkten des Zusammenhangs der Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft mit Hegel bei Tönnies nachzuspüren und so den behaupteten Vermittlungszusammenhang von Gemeinschaft und Gesellschaft nachvollziehbar zu machen sowie in seiner deskriptiven und normativen Valenz auszuweisen. Schematisch lassen sich auch wieder drei Ebenen aufzeigen (Schema 2). Der soziologische Tönnies (A) unterscheidet zwischen den Ebenen der realen Phänomene, deren begrifflicher Abstraktion in den reinen Theorien der Gemeinschaft und der Gesellschaft sowie deren Anwendung auf die Phänomene. Dabei ist die Ebene Al konkret, Ebene A2 abstrakt und Ebene A3 vermittelt das Konkrete mit dem Abstrakten in der sozialwissenschaftlichen Praxis (vgl. auch Schema 1). Ein philosophischer Tönnies (B) setzt nun die reinen Begriffe gegeneinander und versucht ihren notwendigen Zusammenhang zu ermitteln, durch den der soziologisch auf Ebene 3 angenommene und in der Tönnies-Forschung anerkannte Zusammenhang überhaupt erst begründet ist.
158
Tönnies weist daraufhin, dass er als Wesenwillen und als Gemeinschaft verstehe, „was Hegel die konkrete Substanz des Volksgeistes nennt" (GuG XXXVI). Auf diese Analogie der Tönniesschen und der Hegeischen Begriffe macht auch Stekeler-Weithofer im Zusammenhang mit einer umfassenden Kritik am methodischen Individualismus aufmerksam (vgl. Stekeler-Weithofer 2005, insbes. S. 173f.). Früh schon hat der von Tönnies geprägte Soziologe Hans Lorenz Stoltenberg auf den Einfluss Hegels auf die Soziologie im Allgemeinen und auf die Tönniessche im Besonderen hingewiesen (vgl. Stoltenberg, Hegels Lehre vom Geist und die Soziologie, S. 496). Bickel merkt beiläufig „sprachliche und begriffliche Analogien zu Hegels Denkstil" in Gemeinschaft und Gesellschaft an. Er nennt einige Beispiele, von denen er meint, sie ließen sich „vermehren und systematisieren" (vgl. Bickel 1991, S. 69f., Fn. 12., auch S. 310). Allgemein konstatiert Jacoby, bei Tönnies finde sich eine „kritische Herausarbeitung des Kerns- der Geschichts- und Rechtsphilosophie Hegels" (Jacoby 1970, S. 14). Relevante Textstellen für einen affirmativ-linkshegelianischen Bezug Tönnies' auf Hegel findet Rudolph 1995, S. 56-58.
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SOZIALE WIRKLICHKEIT
Ebene 1
A
Tönnies (Soziologe)
Phänomene (konkret)
Ebene 2
Ebene 3
Nonnalbegriffe (abstrakt)
Anwendung der Begriffe auf die Phänomene
„Gemeinschaft" und „Gesellschaft"
- synchron - diachron
ideal/ normativ
Β
Reine Theorie der „Gemeinschaft"
Reine Theorie der „Gesellschaft"
Ideal des „Staates als Gemeinwesen"
Gemeinschaftliche Aspekte
Gesellschaftliche Aspekte
Gemeinschaftlichgesellschaftliches Ganzes
Tönnies (Philosoph) real/ deskriptiv
Wesen Sein
C
Hegel
Unmittelbarkeit Familie/Volk
Begriff/Idee Abstraktion/ Reflexion Individuum/ bürgerliche Gesellschaft
Schema 2: Tönnies 'Begriffslogik und ihre Nähe zur Hegeischen
Vermittlung bürgerlicher Staat/ sittlicher Staat
Systematik
Ebene Β1 bildet hier das in der Theorie der Gemeinschaft dargestellte nicht reflektierte soziale Dasein, sie ist die konkreteste Form. Wissenschaftliche Reflexion als Tätigkeit ist in der Theorie der Gesellschaft gefasst. Sie bildet auf der Ebene B2 abstrakte Begriffe, mit denen sie auf die konkrete Wirklichkeit zugreift. Ebene B3 ist hier besetzt durch den ,vollen' Begriff des sozialen Miteinanders im Ideal des Staates als Gemeinwesen, das durch beide auf den Ebenen B1 und B2 gegebenen Begriffe zusammen ausgezeichnet wird. Den rein begrifflich-idealen Aspekten entsprechen reale Phänomene auf allen drei
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Ebenen. In dieser philosophischen Hinsicht lässt sich die Nähe zur Hegeischen Systematik (C) bereits schematisch nachvollziehen.
3.1 Aspekte der Hegeischen Logik In seiner Logik macht Hegel „das Denken zum Gegenstande des Denkens"159, sofern dieses es ist, wodurch sich der Mensch vom Tier unterscheidet. Folglich ist „alles Menschliche dadurch und allein dadurch menschlich, daß es durch das Denken bewirkt wird"160, wobei philosophisches Denken vom alltäglichen Denken durchaus unterschieden ist, da nur ersteres strikt auf Notwendigkeit und Allgemeinheit gehe. Die Hegeische Logik ist also keine formale Logik, die unsere logisch-rationalen Operationen in einem Lehrbuch formalisiert, sondern sie ist ein ungleich großformatigeres Projekt: Es soll eine Art Grammatik unseres In-der-Welt-Seins, insofern wir denkende Wesen sind, ausgearbeitet werden. In der Untersuchung über das Denken und den Begriff des Begriffs weist Hegel unermüdlich darauf hin, dass das nur Gedachte nicht wirklich ist, sondern dass wir uns gedanklich immer schon in einer zudem sozial geteilten, sprachlich vermittelten Welt befinden. Insbesondere in Auseinandersetzung mit Kant betont Hegel, dass wir es nicht nur mit Erscheinungen der Welt, sondern mit der Wirklichkeit selbst zu tun haben, dass diese uns aber nicht als ein fremdes Objekt gegenüberstehe, sondern vielmehr der vernünftige Gedanke mit der Wirklichkeit übereinstimme bzw. diese selbst sei. Diese Haltung kulminiert in dem Diktum: „ Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig"161, das zahllose Kritik und Anfeindung erfahren hat, die Hegel bereits zu Lebzeiten bekannt waren.162 Ich will mich hier weder mit den Missverständnissen noch mit zum Teil berechtigter Kritik an der Hegeischen Philosophie befassen, sondern möchte versuchen, knapp zu erläutern, welches ich für eine produktives Verständnis der Rede von der vernünftigen Wirklichkeit im Rahmen meiner Untersuchung halte. Insofern Denken für Hegel das spezifisch Menschliche ist und dadurch alles Menschliche hinsichtlich seines gedanklichen Aspektes betrachtet werden kann, ist auch die Weise, in der Menschen in der Welt sind, gedanklich konstituiert (logisch). Die Wirklichkeit ist unsere menschliche Wirklichkeit. Dies ist sie nicht, weil wir sie so-und-so gemacht haben, sondern weil sie stets so-und-so für uns ist. Sofern überhaupt etwas für uns ist, muss es vernünftig sein, das heißt nicht, es müsse irgendwie rational nachvollziehbar sein, sondern sein Dass-Sein muss uns (bewusst) gegenwärtig sein. „Vernünftige Wirklichkeit" ließe sich vage mit propositionalem Weltzugang übersetzen, wobei festzuhalten ist, dass dieses Im-Verhältnis-zur-Welt-Stehen nicht unter dem Paradigma rationaler Messbarkeit 159 160 161 162
Hegel, Enzyklopädie 1, S. 63 (§ 17). Ebd., S. 42 (§ 1). Ebd., S. 47 (§ 6). Im Gegensatz zu dieser Kritik und für Hegels Logik im Ganzen sehr erhellend ist Stekeler-Weithofers Lesart von der „vernünftigen Wirklichkeit" (vgl. Stekeler-Weithofer 1992, zu Hegels Begriff der Wirklichkeit insbes. S. 282-288).
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und auch nicht unter dem vollständiger Bewusstheit unter Ausschluss unbewusster Elemente steht. Stekeler-Weithofer fasst diesen Sachverhalt knapp so: „Die scheinbar u n mittelbare' Erfahrung ist immer schon gemeinsam gegliedert, ist durch (sprachliches) Denken und gemeinsame Praxis vermittelt'". 163 Hegel spricht also darüber, wie unlösbar wir mit unserer Welt verwoben sogar noch dort sind, wo sie uns fremd ist oder wo wir sie wie ein Objekt von uns abtrennen. Wir sind als Menschen immer schon in der Welt, wir müssen keine langen Wege zurücklegen, um uns in der Wirklichkeit einzufinden und zugleich sind wir über die unmittelbar-sinnliche Gegebenheit der Welt als Objektwelt immer denkend hinausgegangen, so Hegel.164 Die Weise, in der uns die Welt im Gedanken gegenwärtig ist, ist im sprachlichen Ausdruck gefasst, durch den „nichts gesagt werden kann, was nicht allgemein ist", denn „wenn [...] die Sprache nur Allgemeines ausdrückt, so kann ich nicht sagen, was nur ich meine".165 Sofern wir also denken, befinden wir uns in einem allgemeinen, mit anderen geteilten Raum des sprachlichen Ausdrucks. Unser In-der-Welt-Sein ist folglich nie rein privativ, sondern je im allgemeinen Raum sprachlicher Vermittlung situiert und daher sozial. Mit diesem Verständnis der Hegeischen „vernünftigen Wirklichkeit" ist verbunden, dass ich die These ablehne, bei Hegel gehe es im Rahmen einer „Identitätsphilosophie" immer darum, Widersprüche zu versöhnen und so alles in ein teleologisch imprägniertes Weltbild einzupressen, wodurch alles Fremde, Kontingente, Nicht-Eigene als unwahr und nicht seiend ausgeschlossen werde.166 Betont Hegel doch gerade - darin über Kants Antinomienlehre hinausgehend - dass der Widerspruch überall sei, „in allen Gegenständen aller Gattungen, in allen Vorstellungen, Begriffen und Ideen."167 Nicht diesen Widerspruch zu beseitigen, sondern insbesondere darauf zu schauen, mache die Spezifik philosophischen (das heißt bei Hegel: dialektischen bzw. spekulativen) Denkens aus. An diese Spezifik dialektischen Denkens, meine ich, lässt sich Tönnies' Sozialphilosophie anschließen - Widersprüche werden darin nicht versöhnt oder eingehegt, sondern bilden gerade den Kern der Überlegungen. Diese innere Widersprüchlichkeit des dialektischen und des spekulativen Gedankens entwickelt Hegel in seiner Logik. Er spricht von drei Momenten des ,¿ogisch-Reellen"m und widmet ihnen je einen Teil seiner Abhandlung. Die erste Abteilung hat das Sein zum Gegenstand, worunter die abstrakt-verstandesmäßige Form unseres Umgangs mit und in der Welt gefasst wird. Die Welt steht dem objektivierenden Verstand scheinbar unvermittelt gegenüber, so dass angenommen wird, man könne unmittelbar auf die Welt zugreifen,
163 164 165 166
167 168
Ebd., S. 35. Vgl. Hegel, Enzyklopädie I, S. 131 (§ 50 Anmerkung). Ebd., S. 74 (§ 20 Anmerkung). Hegel selbst weist in der Enzyklopädie den „Spottnamen der Identitätsphilosophie" verschiedentlich energisch mit dem Hinweis darauf zurück, dass es seiner spekulativen Philosophie gerade darauf ankomme, Begriff und Erfahrung voneinander zu unterscheiden (vgl. ebd., S. 217f. (§ 103 Zusatz)). Ebd., S. 128 (§ 48 Anmerkung). Ebd., S. 168 (§ 79 Anmerkung).
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wie sie als Realität losgelöst von uns ist. Ein Zusammenhang von Begriff und Begriffenem sowie von Denken und Welt ist hier nicht gegeben. Es wird dabei aber übersehen, dass sich dieser scheinbar neutrale Positivismus auf eine sozial und sprachlich vermittelte Welt bezieht, die durch diese Vermittlung geformt und nie unmittelbar fur uns ist. Die zweite Abteilung behandelt unter dem Titel Wesen die Negation des unmittelbaren Seins (der Positivität) und die Reflexion aller seiner wesensmäßigen Bestimmungen als den Grund des Daseins. Es geht hier also um den Standpunkt des Denkens, der das Dasein als Realisierung eines reflexiv in all seinen Möglichkeiten durchdrungenen Wesens begreift. Dies ist der wesentlich dialektische Standpunkt, der aber rein negativ-vernünftig wiederum im Abstrakt-Allgemeinen verharrt und sich die Welt als Erscheinung eines an sich Unerkennbaren gegenüberstellt, sie also stets als nur vermittelt begreift. In der Lehre vom Begriff schließlich behandelt Hegel die spekulative Sphäre, unter der er „die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung aufffaßt]".169 Hier geht es um das doppelsinnige ,Aufheben' von Unmittelbarkeit (Sein) und Vermittlung (Wesen) in der vermittelten Unmittelbarkeit des wirklichen Begriffs (Idee). Der spekulative Begriff ist positiv-vernünftig; in ihm ist das Denken nicht von der Wirklichkeit getrennt, sondern in ihr frei urteilend und handelnd situiert. „Spekulative Sätze vergegenwärtigen allgemeine Denk- und Reflexionsformen auf anschauliche Weise".110 Die Schwierigkeit dieser Dreiteilung ist ihre Durchhaltung, da die drei Ebenen notwendigerweise ineinander übergehen und systematisch ineinander verschränkt sind. Sie sind also nicht als gegeneinander abgeschlossene Stufen eines teleologischen Aufstieges vom naiven Verstand (Sein) über die reflektierende Vernunft (Wesen) zur Wirklichkeit der Vernunft (Begriff), sondern als Strukturmomente des Denkens überhaupt zu betrachten: Das Verhältnis, worin die hier genannten drei Hauptstufen des Gedankens oder der logischen Idee zueinander stehen, ist überhaupt so aufzufassen, daß erst der Begriff das Wahre und näher die Wahrheit des Seins und des Wesens ist, welche beiden, in ihrer Isolierung für sich festgehalten, hiermit zugleich als unwahr zu betrachten sind, - das Sein, weil es nur erst das Unmittelbare, und das Wesen weil dasselbe nur erst das Vermittelte ist.171
Im Folgenden geht es mir insbesondere um die Stufen des unmittelbaren Seins und des vermittelten Wesens, insofern ich den Nachweis anstrebe, dass erstens die Beschreibung menschlichen Miteinanders durch Tönnies' Begriff der Gemeinschaft dieses gleich einem materialen Gegenstand in der Welt behandelt. Und weiter, dass zweitens Tönnies' Gesellschaftsbegrifif die Materialität und Realität des Sozialen hinter die Betonung unverbundener, frei denkender Individuen treten lässt, die ihre Vermittlung mit ihrer sozialen Umwelt sowie deren prägendem Einfluss auf sie scheinbar negieren und nur für sich sind. Gemeinschaft verdinglicht das Soziale gewissermaßen, während Gesellschaft es in eine Reflexionsbestimmung voneinander unabhängiger Individuen auflöst. Die These wäre 169 170 171
Ebd., S. 176 (§ 82). Stekeler-Weithofer 1992, S. 91. Hegel, Enzyklopädie 1, S. 180 (§ 83 Zusatz).
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also, dass erst beide Begriffe zusammen soziale Zusammenhänge als solche in ihrer materialen und intellektuellen Gegebenheit erfassen können. Die Reflexion des Wesens des Sozialen als einem Ineinander von Gemeinschaft und Gesellschaft gibt erst einen adäquaten, einen vollen und reichen Begriff der stets gedanklich durchdrungenen Wirklichkeit des Sozialen. Beide Begriffe je für sich sind mit Hegel als unwahr zu betrachten. Der Zusammenhang von Begriffslogik und Sozialphilosophie ist bereits bei Hegel in seiner Rechtsphilosophie zu finden:172 Dort ist das unmittelbare Sein des Sozialen in der konkreten Sittlichkeit der Familie oder auch des Volkes gegeben. Diese entspricht Tönnies' Sozialform der Gemeinschaft, während Tönnies' Gesellschaft und Hegels Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft einander korrespondieren. Hier herrscht das Prinzip der Individualität und Moralität vor, bei denen der Zusammenhang mit der Welt stets ungewiss und undeutlich bleibt bzw. gar nicht beachtet wird, indem das Individuum sich zur einzig relevanten Größe hypostasiert. Die dritte Sphäre des Staates ist das Moment, in dem Familie und bürgerliche Gesellschaft miteinander vermittelt gedacht werden. Wie auch in der Begriffslogik verneint Hegel die ersten beiden Stufen des Begriffes wie des menschlichen Miteinanders nicht schlechthin, sondern weist ihnen deskriptive Kraft für bestimmte Zusammenhänge zu. Will ich deren Konstituierung wiederum begreifen, so brauche ich einen Begriff, der sowohl das unmittelbare als auch das bloß potentielle Sein als gedanklich in der Wirklichkeit gegeben in sich fassen kann. Bevor ich auf Tönnies' Begriffslogik eingehe, sei auf zwei Schwierigkeiten hingewiesen: Erstens bin ich über das in der Hegelforschung diskutierte Problem der Entsprechung von Logik und Realphilosophie hinweg gegangen und werde es auch im Folgenden tun.173 172
Zumeist wird Hegels Sozialphilosophie im Herr-Knecht-Abschnitt der Phänomenologie
des
Geistes
verortet. Dies ist keine Hegel-Arbeit, meine Vermutung geht aber dahin, dass Stekeler-Weithofer Recht hat, wenn er annimmt, „daß nach Hegels späterer Konzeption systematischen Philosophierens die P h ä n o m e n o l o g i e des Geistes' nicht mehr erster Teil und Basis ist" (Stekeler-Weithofer 1992, S. XI), was auch für Hegels Sozialphilosophie gelten muss, diese findet sich in den
Grundlini-
en. Stefan Mertens entwickelt den Zusammenhang der begrifflichen Architektonik der Hegeischen Rechtsphilosophie (und somit auch seiner Sozialphilosophie) mit der Logik als eine Verschränkung von Gemeinschaft und Gesellschaft. Dabei geht er auf die bürgerliche Gesellschaft kaum ein, sondern befasst sich vor allem mit den zwei Begriffen von Gemeinschaft - einem ,uneigentlichen' familiären und einem eigentlichen' etatistischen (vgl. Mertens 2006, S. 347, ausführlicher auch ders. 2008). 173
Vittorio Hösle schlägt als Möglichkeiten der Entsprechung die zyklische
und die lineare vor, ver-
wirft erstere aber sofort, insofern diese sich aus dem trivialen Befund trichotomischer Gliederung bei Hegel herleiten (vgl. Hösle 1998, Kap. 3.3.1.). Lineare Entsprechungen hingegen gehen laut Hösle davon aus, „daß die Realphilosophie, in welcher Weise auch immer, den Gang der Logik wiederholt" (ebd., S. 104). Ich nehme an, dass dies der Fall ist, muss es aber anderen Untersuchungen unterlassen, es für Logik und Sozial- bzw. Rechtsphilosophie bei Hegel nachzuweisen. Zur Forschungslage zum Problem der Entsprechung von Logik und Realphilosophie
vgl. Mertens
2008, S. 194f., der daran anschließend eine mögliche Weise der Entsprechung ausarbeitet (vgl. ebd., S. 2 0 6 - 2 4 1 ) . Eine innersystemische Analyse der Schlussformen des Begriffs des Staates mit Bezug auf die Logik und die Grundlinien
legt Dieter Henrich vor und kommt zu dem Ergebnis, dass die
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DIALEKTIK DES SOZIALEN - FERDINAND TÖNNIES
Zweitens verfolge ich mit der begrifflichen Logik von Gemeinschaft und Gesellschaft zwei Argumentationslinien, deren Tendenzen nicht unmittelbar miteinander zu vereinbaren sind. Ich habe die Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft in ihrer Entgegensetzung beide auf der Stufe der Seinslogik verortet, zugleich aber habe ich sie in Analogie zu den Sphären der Hegeischen Rechtsphilosophie auf zwei Stufen gesetzt: Wie Hegel mit den Sphären der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates die logischen Momente von Sein, Wesen und Begriff in Verbindung bringt, so habe ich Tönnies' Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft mit Seins- und Wesenslogik verbunden.174 Mit beiden Schwierigkeiten gehe ich folgendermaßen um: Als entgegensetzte Begriffe entsprechen Gemeinschaft und Gesellschaft der logisch ersten, verstandesmäßig-abstrakten Stufe. Als Momente einer Sozialphilosophie hingegen, deren Grundlage ein holistischer Begriff des Sozialen ist, sind sie als zwei verschiedene Standpunkte in die soziale Wirklichkeit eingelassen. Nämlich den der primären Gemeinschaft als unreflektiertes Miteinander und den sekundären der Gesellschaft als Gegeneinander reflektierender Personen; so entsprechen die Standpunkte Seinslogik und Wesenslogik. Erst vom zweiten Standpunkt her ist natürlich soziale Wirklichkeit überhaupt zu begreifen, wie auch erst die Wesenslogik die Widersprüche der Seinslogik auflösen kann.
3.2 Analyse der Tönniesschen Grundbegriffe In den „Definitionen und Thesen", die zu den „Soziologischen Gründen des Naturrechts" hinleiten sollen, gibt Tönnies nähere Erläuterungen zur Konstitution der beiden Sozialformen sowie ihrer Begriffe. Dabei ist Gemeinschaft als organischer, Gesellschaft als mechanischer Zusammenhang lesbar, wobei diese Begriffe wie in der Herbert Schnädelbachschen und Ludwig Siepschen Hegel-Lektüre als „logische Metapherfn]"175 bzw., so Tönnies, analogisch zu verstehen sind (vgl. GuG XXXIII). Diese Analogie beruhe in den allgemeinen und gemeinsamen Erscheinungen des Lebens als einer Einheit des Mannigfachen, einer Wechselwirkung von Teilen mit einander und dadurch mit dem Ganzen, dessen Teile sie sind, in den Tendenzen, die wir bald als Differenzierung von Organen und Funktionen, bald (auch in der Physiologie) als Teilung der Arbeit erkennen und bezeichnen.
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allgemeine Logik der Begriffsform für das Verständnis der Hegeischen Rechtstheorie von großer Bedeutung ist (vgl. Henrich 1982). Vgl. auch Ottmann 1982. Eine dritte Schwierigkeit könnte sich weiterhin darin zeigen, dass Hegel mit Bezug auf die Rechtsphilosophie das abstrakte Recht und keineswegs die Familie auf der logischen Stufe des Seins verortet (vgl. Ottmann 1982). Die Rechtsphilosophie mit Bezug auf soziale Wirklichkeit hin gelesen jedoch muss den Begriff der unreflektierten Gemeinschaft bzw. Familie und auch Sittlichkeit als Menge der unreflektierten Traditionen auf der logischen Stufe des Seins ansetzen. Vgl. dazu auch Henrich, der es als dem Prozess der Idee zugehörig versteht, „daß sie sich zunächst der Unmittelbarkeit überläßt" (Henrich 1982, S. 447), d.h. „daß sich der Begriff der Sittlichkeit zunächst als Familie ausprägt" (ebd., S. 446). Vgl. Schnädelbach 1997, S. 247, der hier auf Siep verweist (vgl. Siep 1992, S. 240ff.).
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Diese Analogie dürfe aber nicht zu der Annahme führen, Gemeinschaft ,„sei' ein Organismus" (GuG XXXIII). a) Begriff der Gemeinschaft In der Analogie von Gemeinschaft und Organismus sind nun gemeinschaftliche Verhältnisse als die Einheit eines Ganzen und seiner Teile erfasst. Alles Gemeinschaftliche ist als ein einheitliches Ganzes zu verstehen: Das einzelne Individuum als Selbst ist Einheit, die Familie ist Einheit, so auch eine Sippe oder ein Volk. Jede Einheit fasst Teile in sich, die fur sich betrachtet wieder Einheiten sind: „Daher ist nichts Einheit, insofern es Teil ist, und jegliches Einheit, insofern es Ganzes ist" (GuG 171). Als Ganze sind diese individuellen Einheiten weiterhin Exemplare einer „Art oder Gattung" oder ihres „realen Begriffs" (GuG 171). Die biologische Metapher der organischen Verbundenheit eines einheitlichen Zusammenhanges treibt Tönnies so weit, dass selbst die Individuen wieder „Kongregationen" von „Elementarorganismen" (Zellen) sind (GuG 171). Diese Elementarorganismen konstituieren,, je durch ihre Abstammung und durch ihren Zusammenhang determiniert, selber in ihren bleibenden Relationen die Form und Einheit des Ganzen" (GuG 171). Einerseits ist das Ganze also in jedem Augenblick als Produkt der elementaren Zellen sichtbar, andererseits erscheinen die Zellen „als bloße[] Akzidentien" der ,,substanzielle[n] oder metaphysischefn] Essenz" und sind so nicht jedes einzelne für den Fortbestand der Einheit wichtig (vgl. GuG 17lf.). Auf den Gemeinschaftsbegriff bezogen heißt das, dass Gemeinschaft als Einheit ihrer Teile (Individuen) und deren Produkt zu begreifen ist. Die Abstammung der Individuen und ihr Zusammenhang untereinander formt und erhält die Einheit der Gemeinschaft. Zugleich ist Gemeinschaft auch die metaphysische, substanzielle Essenz, die die einzelnen Individuen überdauert und in ihrer Dauer in der Zeit nicht auf jedes einzelne angewiesen ist. Nur so kann die Gemeinschaft lebendig bleiben, obgleich ihre Individuen kürzer leben; wie die Zellen eines Körpers sterben sie ab und werden erneuert. Eine Familie bleibt eine Familie, auch wenn die Generationen wechseln. Einerseits ist also das Ganze von seinen Teilen, andererseits die Teile vom Ganzen abhängig. Was vorderhand nach einem Widerspruch aussieht, ist bei Tönnies begriffen als ein wirkliches Wechselverhältnis und Wechselwirkung zwischen den verbündeten Ganzen [Individuen], welche in ihrem Ganzen [Gemeinschaft] zwar entstehen und vergehen, und seinem Leben und Willen untergeordnet zu sein scheinen, indem sie Teile sind; jedoch selbständig als Ganze, ein höheres Ganze nur durch ihr Zusammenwirken und dessen Idee als ihren gemeinsamen Willen darstellen: dies ist das eigentümliche Merkmal eines organischen Ganzen, dessen letzte Teile selber Organismen sind (GuG 172).
Die innere Konstitution der Gemeinschaft durch das Wechselverhältnis von Individuen untereinander führt Tönnies nun weiter aus unter dem Gesichtspunkt des Zweckes: „Denn jedes Ganze ist sich selber Zweck" (GuG 172). Zweck sei dabei nur ein anderer Ausdruck für „Dasein als dauerndes" (GuG 172). Ein lebendiges Ding beweise seine ,J.ebens-Fähigkeit, d.i. die zweckmäßige (richtige, gute) Beschaffenheit, Einrichtung,
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Ordnung seiner Kräfte oder Teile" durch „fortwährende Arbeit der Assimilierung solcher [günstiger] Energien und fortwährende [n] Kampf gegen widerstehende, Überwindung oder Anpassung, Ausscheidung innerer, Verdrängung äußerer Widrigkeiten" (GuG 172). Das Überdauern eines lebendigen Ganzen folgt also den Darwinschen Gesetzmäßigkeiten der Evolution: Mutation, Selektion und Anpassung. Diesen Gesetzen unterliege nicht nur das Dasein des lebendigen Individuums, sondern auch das lebendiger Gruppen (Gemeinschaften), so Tönnies. Bezogen auf die Gemeinschaft (Ganzes) könne das Individuum (Teil) nun mehr oder weniger zweckmäßig sein, um das Ganze in seiner Eigenart zu erhalten. Für die Zweckmäßigkeit der Individuen hinsichtlich des Fortbestands der Gemeinschaft gebe es aber „kein anderes Kriterium" als die „Dauer" der Gemeinschaft, näher ausgeführt: Was dauere, sei nicht die Materie (Individuen), sondern die sinnlich nicht erfassbare Form der Gemeinschaft (vgl. GuG 172f.). Dennoch seien die Individuen nicht bloß Mittel zum Zweck der Fortdauer des Ganzen, denn während der Lebensspanne eines Individuums ist der Zweck der Dauer des Ganzen identisch mit dem Zweck der Dauer des Teils, die Individuen seien „vergängliche Modifikationen" des substanziellen lebendigen Ganzen selbst (vgl. GuG 173, auch 179). Eine Gemeinschaft als organischer Zusammenhang ist folglich sich selbst Zweck, d.h. sie will als diese Gemeinschaft fortbestehen. Dieses Fortbestehen ist nur in den menschlichen Individuen möglich, die diesen Fortbestand mehr oder weniger gut verwirklichen können. Was überdauert, sind nicht die Individuen selbst, sondern die Gemeinschaft, die sich aber dennoch um ihren Zweck der Fortdauer in ihren aktuellen Individuen kümmern muss, um diesen Zweck zu verfolgen. Wenngleich also das Ableben eines Einzelnen das Leben der Gemeinschaft nicht bedroht, hängt das Leben der Gemeinschaft dennoch vom Leben aller Einzelnen ab, ebenso von ihrer Art und Weise, die Gemeinschaft in ihrem SoSein (ihrer Kultur) zu verwirklichen. Der Fortbestand der Gemeinschaft als Form hängt also nicht nur vom bloßen Lebendigsein, sondern vom So-und-so-Lebendigsein ab, wie es in Traditionen, Sitten und Bräuchen überliefert und weitergegeben wird. Der Formgedanke veranlasst Tönnies zu einer weiteren Analogie, die ich die Ausführungen zum Begriff der Gemeinschaft abschließend erwähnen möchte: Wie sich die Individuen als Materie zu der Gemeinschaft als überdauernde, aber nicht sinnlich gegebene Form verhalten, so verhalten sich „zu dem Realbegriff, d.i. der Gattung, die in ihr enthaltenen Gruppen und Individuen" (GuG 173). Mit diesem Realbegriff meint Tönnies im Gegensatz etwa zum abstrakten Begriff des Menschen den „konkreten Inbegriff der gesamten Menschheit, als dem Allgemeinst-Wirklichen dieser Art". Ebensolche konkreten Inbegriffe, die das tatsächlich Wirkliche umfassen, könnten nun innerhalb dieses äußersten Kreises der Menschheit gebildet werden: „Rasse", ,Volk', ,Stamm', einzelnes Individuum (vgl. GuG 173). Diese fortdauernden Formen seien aber „nicht durch sinnliche Kategorien denkbar", so dass die Erkenntnis „erleichtert und versinnlicht" werden müsse durch „die Vorstellung von Typen, deren Merkmale aller zu dieser Gruppe gehörigen Exemplare vor ihrer Differenzierung" beinhalte. Der Typus (das „sinnliche aber konstruierte Bild") vertrete die rein geistige, nichtsinnliche Idee ,jenes metempirischen Ganzen für die Theorie" (vgl. GuG 174). Die Typen sind also gegenüber dem konkret Lebendigen abstrakt, wir bedürfen ihrer aber, um dieses Ganze (die Form der Gemeinschaft) über-
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haupt denken zu können. Die unmittelbare Wirklichkeit der gemeinschaftlichen Form ist für uns also nur erkennbar, sofern sie uns in einem Typus vermittelt vergegenwärtigt ist, der als eine künstliche Form (sinnlich-konstruiertes Bild) zu verstehen ist. Zugleich bestehe aber dieses lebendige Ganze nicht von diesem abstrakt-typischen Begriff her, sondern nur „durch den natürlichen Kongreß der jedesmal lebenden wirklichen Leiber in ihrer Gesamtheit" bzw. durch einige echte „Häupter", „die Wesen und Willen der übrigen Gemeinschaft in sich begreifen" (GuG 174) und so als reale, nicht theoretisch konstruierte Vertretung zu verstehen sind. Bevor ich auf den Begriff der Gesellschaft eingehe, möchte ich zwei Punkte festhalten, die ich später wieder aufgreife. 1. Die Tönniessche Beschreibung von gemeinschaftlichen Verhältnissen als Einheit eines Ganzen und seiner Teile weist nicht selten Ähnlichkeiten mit Hobbes' Beschreibung des Souveräns im Leviathan auf. Interessanterweise nennt Hobbes den Souverän aber explizit eine künstliche Person, während Tönnies den Personbegriff für die Sphäre der Gesellschaft reserviert und in Bezug auf die Gemeinschaft vom Selbst spricht. Individuen, die voneinander unterschieden sie selbst sind, konstituieren Gemeinschaften, Individuen, die gegeneinander gleiche Personen sind, konstituieren gesellschaftliche Verhältnisse. Es lässt sich nachweisen, dass es sich hier nicht um kontingente begriffliche Unklarheiten handelt, sondern dass Überlegungen dazu, wie Hobbes' Naturzustand und bürgerlicher Zustand in Tönnies' Überlegungen aufscheinen, in höchstem Maße produktiv sind. Tatsächlich lässt sich Tönnies' Argumentation sinnvoll in die Tradition eines wohlverstandenen Kontraktualismus' einbetten. 2.
Damit im Zusammenhang steht das Vertretungsverhältnis von konkretem Inbegriff und Typus, da der konkrete Inbegriff, so Tönnies, ohne das sinnlich-konstruierte Bild des Typus nicht erkannt werden könne. Dies lässt sich wiederum auf die Souveränitätskonzeption beziehen, es verweist zugleich aber auf das Inhalt-Form-Problem sowie auf den Gedanken der vernünftigen Wirklichkeit: Die gemeinschaftliche Form ist unsinnlich und kann nicht erkannt werden ohne eine künstliche Form (Typus), die die erste unsinnliche Form für die Theorie (das Erkennen) vertritt. Die unmittelbare Form der Gemeinschaft ist für uns also nur, wir können sie nur bewusst als solche wahrnehmen, insofern wir sie vermittelt in einer bestimmten Form (Typus) erfassen. Sofern Gemeinschaft also Wirklichkeit hat, ist diese vernünftig/gedacht in einer Form, die sich mit dem Konkreten treffen soll: Der künstliche Begriff (Typus) wird hier in seinem Verhältnis zur unmittelbaren Form befragt.
Sowohl die Frage nach dem Status Hobbesscher Begrifflichkeiten als auch die nach dem Verhältnis von Typus (künstliche Form, Begriff) und realer, aber unsinnlicher Form werde ich unten ausführen (3.3).
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b) Begriff der
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Gesellschaft
Während Gemeinschaft ihrem Wesen nach „ein höheres oder allgemeines Selbst" sei, stelle , jedes gesellschaftliche Verhältnis den Anfang und die Möglichkeit einer ihm vorgesetzten künstlichen Person dar, welche über einen bestimmten Betrag von Kräften und Mitteln verfuge". So sei „Gesellschaft selber als ein wirkungsfähiges Ganzes gedacht", obgleich sie nicht in derselben Weise wie die Gemeinschaft wirklich genannt werden könne (vgl. GuG 178). War das wesenwillige Selbst der Gemeinschaft selbstzweckbezogenes „unum per se" (GuG 171), so ist die kürwillige Person „unum per accidens" (GuG 174). War jenes organische Einheit, die ihren Zweck nur in sich selbst hatte, so ist dieses „mechanische Einheit" (GuG 174), die Zwecke außerhalb ihrer selbst hat. Das gesellschaftliche Ganze hat folglich keine Teile in sich, aus denen seine Form geprägt wird, sondern seine Teile werden durch einen übergeordneten Zweck zur Form einer mechanischen Einheit von außen zusammengefasst. Die mechanischen Ganzheiten bezeichnet Tönnies nicht als Selbst, sondern als Person. Der Begriff der Person sei dabei eine Miktion oder (verwirklicht gedacht) eine Konstruktion des wissenschaftlichen Denkens" (GuG 174), die dazu bestimmt sei, die „Urheberschaft [...] der Verfugungen über einen Komplex von Kraft, Macht, Mitteln auszudrücken", deren eigentliches Wesen für diese Einheitsbildung irrelevant sei. Wesentlich ist hier nur die ,,Richtung[] auf die gleichen Zwecke" (GuG 174). Anders als bei der Gemeinschaft bestehe (zeitlich) vor der mechanischen Einheit eine nicht aufeinander bezogene Vielheit der einzelnen Elemente, aus der künstlich und von außen nur durch das Denken eine Einheit gemacht werde. Die solchermaßen künstlich vereinheitlichte Vielheit sei auf ihren vereinheitlichenden Begriff nicht wie auf einen Inbegriff/Realbegriff bezogen, sondern der Begriff bleibe der Vielheit äußerlich. Er halte das Disparate unter sich (Subsumtion), so dass hier nicht von einem Inbegriff oder Realbegriff gesprochen werden könne, da die „Gattungs(Klassen-)Einheit [...] nur nominell, ideell, fiktiv", „post rem und extra res" sei (GuG 175). Dies also ist der verstandesmäßige abstrakte Begriff, der sich gegen die Mannigfaltigkeit des Seienden indifferent zeigt und bloß seine Zwecke darüber legt. Es ist wichtig, im Blick zu behalten, dass der Typus, der laut Tönnies als sinnliches Bild den Realbegriff für die Erkenntnis vertrete, auch konstruiert ist. Sowohl die Fiktion der Person, der begrifflichen Einheit, als auch der Typus des Realbegriffs sind Konstruktionen, die zum Erkennen dienen. Einmal zum Erkennen eines konkret und für sich Seienden (Gemeinschaft), einmal zum Erkennen eines nicht für sich Seienden, das erst durch den Begriff geschaffen wird (Gesellschaft). Die Gesellschaft ist also nicht der Grund des Daseins der Vielheit, in der sie Einheit schafft, während Gemeinschaft der Vielheit ihrer Teile zugründe liegt. Während die Vorstellung organischer Einheit in konzentrischen Kreisen von der gesamten wirklichen Menschheit bis zum einzelnen Individuum (und zu den Elementarorganismen) in zahllosen Abstufungen erfolgen konnte, differenziert Tönnies nur zwei Arten von Personen: die natürliche Person und die künstliche Person. Beide werden als „wirkliche Zwecke verfolgend, über wirkliche Mittel verfugend" gedacht und erfordern daher, dass ein „wirklicher Mensch oder eine Vielheit solcher an ihrer Statt denken, wol-
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len und agieren" könne (GuG 175). Der einzelne Mensch müsse dabei als „immer des Beschließens fähig" bzw. sogar gezwungen zu beschließen und auch zu handeln gedacht werden (GuG 175). Eine Person hingegen, die durch eine Vielheit von wirklichen Menschen verwirklicht werde, könne durch Beratung dieser Vielen und durch Abstimmung beschließen. Diese nennt Tönnies Versammlung, die wie ein echter Mensch dauerndes Dasein haben könne, „sofern sie: 1. ideell immer zusammenbleibt, für ihre wirklichen Beratungen aber nach bestimmten (und bekannten) Regeln zusammenkommt oder zusammengerufen wird; 2. wenn es nötig ist, sich ergänzt und ergänzt wird" (GuG 176). Versammlungen müssen also eine Art Verfassung oder Regelwerk haben, durch die die Fortdauer in Beratungen ermöglicht wird. Der einzelne Mensch als „denkender und in Gedanken wollender" ist nun natürliche Person (GuG 176). Natürliche Personen sind wirklich vorhanden als wirkliche, einzelne Menschen, die sich als Person „vorstellen, diese ,Rolle' übernehmen und spielen, oder den ,Charakter' einer Person wie eine Maske vor ihr Antlitz halten" (GuG 176).176 Personen sind „füreinander vorhanden [...] durch gegenseitige Kenntnis und Anerkennung" (GuG 177). Als diese sich gegenseitig durch Anerkennung realisierende natürliche Personen „sind alle Menschen einander gleich. Jeder ist mit unbeschränkter Freiheit ausgestattet, beliebige Zwecke sich zu setzen, beliebige Mittel anzuwenden. Jeder ist sein eigener Herr. Keiner des andern Herr. Sie sind unabhängig voneinander" (GuG 176). Prinzipiell fiktive natürliche Personen sind also durch Anerkennung wirklicher Menschen als solche Personen real vorhanden und so sind Menschen als Personen gegeneinander frei und gleich. Die künstliche Person hingegen werde nicht von einem wirklichen Menschen, sondern von einer Versammlung dargestellt. Sie bestehe nur dann, wenn die in ihr enthaltenen natürlichen Personen den „Kürwillen [...] dieses außer und über sich vorgestellten einheitlichen, persönlichen Wesens (der Versammlung) setzen und fingieren", wodurch sie den natürlichen Personen gleichgesetzt ist, sofern sie anerkannt wird (GuG 177). Diese durch eine ursprüngliche Übereinkunft entstandene Person ist nur wirklich, insofern sie anerkannt wird: Das „Dasein der künstlichen Person muß durch einen besonderen Akt kontrahierender Kürwillen für einen besonderen vorgestellten Zweck gewollt und gesetzt werden" (GuG 179). Während aus dem wirklichen Menschen als denkendem und denkend wollendem der Begriff der Person abgeleitet werde, müsse die Person der Versammlung bereits anerkannt wirklich sein, damit die Versammlung selbst überhaupt wirklich 176
Vermutlich bezieht Tönnies sich hier auf das 16. Kapitel des Leviathan
(„Von Personen, Autoren
und der Vertretung von Dingen"), w o es in der Tradition der lateinischen Antike heißt: „als Person auftreten heißt soviel wie sich selbst oder einen anderen darstellen
oder vertreten", und weiter
spricht Hobbes auch von Zuschreibung einer bzw. der Vertretung durch eine „Fiktion" (vgl. Hobbes, Leviathan,
S. 123f., vgl. dazu Tönnies, Hobbes,
S. 2 3 8 - 2 4 4 ) . Ein weiterer Bezug, der durch Tön-
nies' kritische Haltung gegenüber der Person als Element der Gesellschaft nicht unwahrscheinlich ist, könnte Marx' Charaktermaskentheorem sein (Marx: „[D]ie ökonomischen Charaktermasken der Personen [sind] nur die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse [...], als deren Träger sie sich gegenübertreten" (Marx, Kapital I, S. 112), also als Kapitalist und Arbeiter, als Käufer und Verkäufer von Arbeitskraft, als Eigner von Produktionsmitteln und als Eigner von Arbeitskraft). Vgl. zur „Charaktermaske" das gleichnamige Unterkapitel in Gamm 1986, S. 150-169.
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sein könne. Die Vielen müssen sich bereits als den einen Willen einer Person begreifen, um sich in diesem Sinne versammeln zu können. In der Tradition des Kontraktualismus gesprochen: Ein fiktiver, ursprünglicher Vertrag, durch den die künstliche Person konstituiert wird, ermöglicht erst die Versammlung einzelner Personen zum Zwecke der Einigung über ihre verschiedenen Belange. Schließlich entspreche aber die künstliche Person sogar vollkommener als die natürliche dem Begriff der Person, so Tönnies, da sie nur Mittel zu einem bestimmten Zweck in einer Fiktion bündle, aber kein Mensch nur nach „vorgestellten Zwecken" handelnd gedacht werden könne (vgl. GuG 178). Gesellschaft ist also ihrem Begriff nach konstituiert durch gegeneinander freie und gleiche Einzelpersonen, die miteinander zur Verfolgung bestimmter Zwecke in Verbindung treten. Das daraus kumulativ resultierende Ganze wie auch das nach einem Zwecke von außen bestimmte Ganze solcher Personen ist analog einem Mechanismus. Der Begriff der Gesellschaft kann das Soziale in der Hinsicht beschreiben, in der es Produkt des Verhaltens gegeneinander unabhängiger Individuen ist, die miteinander bei der Verfolgung individuell gesetzter Zwecke in Berührung kommen. Der Gemeinschaftsbegriff kann das Soziale erfassen, insofern es ein Zusammenhang unwillkürlicher wechselseitiger Prägung ist. Schon hier ist deutlich, dass die beiden Begriffe auch in rein theoretischer Hinsicht schwerlich voneinander getrennt werden können. Diesen logischen Zusammenhang werde ich nun weiter entfalten.
3.3 Tönnies' Begriffslogik - Vernünftige Wirklichkeit des Sozialen Wie hängen nun der Begriff der Gemeinschaft (organischer Zusammenhang eines Ganzen und seiner Teile) und der Begriff der Gesellschaft (mechanischer Zusammenhang freier und gleicher Personen, die sich zu einem bestimmten Zweck verbinden) zusammen? Oben habe ich bereits zwei Punkte genannt, auf die ich hier zurückkommen möchte: Die Vernünftigkeit des Wirklichen und die Frage nach dem Verhältnis des Hobbesschen Souveräns und der Tönniesschen Begriffsdifferenzierung in selbstzweckhafte Gemeinschaft und fremdzweckbestimmte Gesellschaft. Zunächst werde ich aufzeigen, dass der Begriff der Gemeinschaft bezüglich der Rede von Ganzem und Teil in den Gesellschaftsbegriff .hinüber ragt', weil er des reflexiven Moments der gesellschaftlich-begrifflichen Ebene bedarf, um als Verhältnis von Ganzem und Teil erfasst werden zu können und so für uns wirklich zu sein (a). Das begriffslogische Ineinander wird weiterhin entlang des so genannten Form-Inhalt-Problems deutlich (b). Weiterhin zeigt sich, dass ich für die Erfassung menschlicher Sozialverhältnisse des Begriffs der Person bedarf, um sie als solche erfassen zu können (c) Mit diesen drei Argumentationsschritten wird der Nachweis erbracht, dass Gemeinschaftsverhältnisse immer schon auch gesellschaftlich-reflexive Verhältnisse sind. Gleich im Anschluss jedoch zeigt sich, dass auch gesellschaftliches Miteinander nicht anders als gemeinschaftlich aufgefasst werden kann. In die Diskussion des Personbegriffs gehören die Elemente Freiheit (α) und Möglichkeit bzw. Negativität (ß), die jeweils auf die Seite ihrer gemeinschaftlich-materialen Positivität verweisen.
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Alle diese Punkte verweisen auf den stets mitgeführten ,vollen' Begriff sozialer Wirklichkeit (d), der in seinen deskriptiven wie normativen Aspekten nachvollziehbar ist. Abschließend gehe ich auf den bei Tönnies begrififslogisch resultierenden Begriff von (Volks)Souveränität ein (e). Vorausgreifend sei hier gesagt, dass ich erst im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit darauf eingehe, was es für die Beschreibung der sozialen Wirklichkeit konkret heißt, wenn ihr Begriff logisch als das Ineinander von Gemeinschaft und Gesellschaft entwickelt wird. Wie die sozialen Formen gemeinschaftlich-gesellschaftlich konkretisiert und aktualisiert sind, stelle ich mit Plessner als Ineinander von familialen und objektiven Aspekten dar. Das Kapitel „Soziale Wirklichkeit" (6.2) im zweiten Teil ist insofern als Explikation und Veranschaulichung der hier entfalteten Begriflfslogik zu verstehen. a) Organisches
Ganzes-Teil-Verhältnis
Oben habe ich angekündigt, die Sphäre der Gemeinschaft im Rahmen der Hegeischen Begrifflichkeit als unmittelbares Sein zu kennzeichnen. Zu diesem Vorhaben kehre ich hier zurück, indem ich frage, was es bedeutet, eine menschliche Gemeinschaft als das Verhältnis eines lebendigen Ganzen und seiner Teile zu beschreiben. Zur Erinnerung: Lebendige Einheiten beschreibt Tönnies als solche, die in einem Kampf ums Überleben gegeneinander stehen. Ihren Zweck geben sie sich selbst in ihrem alleinigen Interesse an ihrer Fortdauer. Sofern es sich bei der lebendigen Einheit um eine Gemeinschaft handelt, dauert allein die sinnlich nicht wahrnehmbare Form der Gemeinschaft fort, nicht aber deren Individuen (Materie). Einerseits sind also die Individuen nur Modifikationen der gemeinschaftlichen Substanz und so in ihrer einzelnen Besonderheit nicht von Belang für den Fortbestand. Zudem können nicht alle Individuen gleich gut für den Fortbestand sorgen. Andererseits ist die Form der Gemeinschaft abhängig von ihren Individuen, da diese ihre Materie bilden. Insofern erfüllt die Gemeinschaft ihren Selbstzweck der Fortdauer nur in ihren Individuen. Der Anschaulichkeit halber stelle ich mir als vereinfachtes Beispiel eine Familie oder eine Dorfgemeinschaft vor, die als solche nichts als den Fortbestand ihrer gemeinschaftlichen Form als Zweck verfolgen. Die alten Individuen sterben, dafür werden neue geboren, so dass es stets eine lebendige Gruppe von vergemeinschafteten Individuen gibt. Die gegebene Gemeinschaft hat über die Zeit ihres Bestehens bestimmte Bräuche ausgeprägt, zum Beispiel das regelmäßige gemeinsame Abendessen in der Familie oder eine streng nach Geschlechtern getrennte Arbeitsteilung in der Dorfgemeinschaft. Ethnologische Untersuchungen sind oft bemüht, die Herkunft solcher Bräuche zu erforschen, darauf will ich hier nicht eingehen. Sagen wir einfach, dass in gemeinschaftlichen Zusammenhängen bestimmte Bräuche sowie sittliche Normen ausgeprägt werden. In diese Bräuche und auch die sittlichen also gewohnheitsmäßigen Formen des alltäglichen Miteinanders hinein werden die nachkommenden Individuen erzogen.177 Abweichendes Verhalten wird 177
Brandom meint daher, Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft sei grundsätzlich als „normativer Status" beschreibbar: „Mitglied einer Gemeinschaft zu sein heißt [...], jemand zu sein, der die praxis-
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wiederum nach bestimmten Bräuchen sanktioniert, damit die Gemeinschaft in ihrer bisherigen Form weiter bestehen kann. Kann ein Individuum nicht mehr integriert werden, wird es entweder als Ausnahme geduldet oder es fuhrt ein neues Paradigma an (es wird nun gemeinsam nur noch ein später Tee eingenommen, das Abendessen entfallt/die Geschlechtertrennung wird weicher gehandhabt) oder es wird aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Wann Gemeinschaften durch abweichendes Verhalten ihre Form verändern bzw. wann Individuen zum Zwecke des Fortbestandes ausgeschlossen werden, wäre Gegenstand empirischer Evaluation konkreter Gemeinschaften. Allgemein lässt sich zur Frage, was passiert, wenn eine Gemeinschaft durch innere oder äußere Umstände in ihrer Fortdauer bedroht ist, nur so viel sagen: Nach innen wird sie sich, so lang es geht, um Kohärenz bemühen. Nach außen wird sie sich verteidigen. Sind die zersetzenden Umstände aber zu stark, so zerfällt die Gemeinschaft. Eventuell zunächst in Untereinheiten, die nun neue Ganzheiten bilden (Familien in einer Dorfgemeinschaft), und dann in ihre Individuen, die nur noch auf ihren eigenen Fortbestand bedacht sein können: der Kampf eines jeden gegen einen jeden, in den Gemeinschaften in Krisenzeiten zerfallen können. Gemeinschaften als Ganzes-Teil-Verhältnisse vorgestellt können allein durch ihr reales, konkretes Dasein bestehen. Sie bilden nicht notwendig eine vorgestellte Größe fur den Einzelnen, so dass ihr Fortbestand stets zerbrechlich ist, weil er von der unmittelbaren Umwelt sowie der Sattheit der Individuen abhängt. Da weiterhin alle Vorstellungen rechtmäßigen Handelns aus der gemeinsamen Vergangenheit kommen, gibt es keinerlei Gewähr, dass etwa allgemeine Vorstellungen humanen Miteinanders dabei in Anschlag kommen (etwa die eines rationalen Naturrechts). Es gäbe kein Außen zur inneren Ordnung. Diese wäre also gewohnheitsmäßig und kann Elemente wie die Steinigung ehebrüchiger Frauen beinhalten, um ein eklatantes, aber nicht weit hergeholtes Beispiel zu nennen. Eine solche Gemeinschaft hätte also ein bedenklich unmittelbares und ungebrochenes Verhältnis zu den Prägungen, die ihr ihre Form gegeben haben. Weshalb die Steinigung ehebrüchiger Frauen nicht rechtmäßig sein soll, wäre eben dann nicht ersichtlich, wenn sie eine über lange Zeit tradierte Praxis des Umgangs mit Ehebruch (abweichendes Verhalten) ist. Der Rechtsmaßstab ist nicht der Schmerz der Individuen, sondern die Tatsache, dass es ,eben immer schon so war'. Die gegebene Ordnung bestimmt hier das Rechtsempfinden vollkommen. Welche Mittel zum Zweck des Erhalts der Gemeinschaftsform dienen dürfen, ist dabei kontingenten Einflüssen und Umständen in der Vergangenheit der Gemeinschaft zuzuschreiben. Weiterhin ist der Einzelne nur als Negation des Ganzen für sich als Ganzes denkbar, so dass eigentlich ein Begriff von Individualität in einer Gemeinschaft keinen Platz hätte. Daher könnte für die Gemeinschaft das Individuum für sich nie eine maßgebende Größe sein. Nur in der Menge und hinsichtlich der Art und Weise dieser Menge zählt das Individuum. Das einzelne Individuum steht am Rand, es ist für sich nicht von Bedeutung, impliziten Normen der Gemeinschaft befolgen sollte" (Brandom 2000, S. 85). Vgl. auch Theodor Schatzkis an Ludwig Wittgenstein orientierte Analyse sozialer Praxis als Regelwissen (Schatzki 1996).
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sondern nur für das Ganze. Natürlich steigt die Bedeutung des Individuums je kleiner die Gruppengröße ist sowohl in seiner prägenden Kraft wie auch im Wert seines Erhalts. Würde man menschliches Miteinander nur mit dem Begriff der Gemeinschaft im Sinne einer Einheit von Teil und Ganzem beschreiben wollen, so entstünden folglich mehrere Probleme. -
Das Dasein einer solchen Gemeinschaft wäre sehr fragil; es wäre stets bedroht, durch Umwelteinflüsse oder innere Veränderungen zu zerbrechen. Sein Dasein selbst ist zufallig und kann ebenso zufällig zu Ende gehen. Dieses Problem ist noch kein systematisches Problem, sondern eher eines, dass auf besondere Achtsamkeit aller Vergemeinschafteten den Fortbestand der Gemeinschaft betreffend hindeutet.
-
Die Rechtsformen des Miteinanders entstünden auch aus dieser Zufälligkeit, sie folgten keiner Überlegung prinzipieller Notwendigkeit, sondern schrieben sich aus dem Gewohnten und Überlieferten her, ohne gedanklich weiter auf Richtigkeit und Angemessenheit - nicht nur die Fortdauer des Ganzen, sondern auch des Individuums (Teil) betreffend - geprüft worden zu sein. Dies ist dann ein normatives Problem, wenn man der intuitiven Überzeugung ist, dass das Wohl des Individuums für sich genommen maßgeblich für die Ordnung einer menschlichen Gemeinschaft sein sollte.
-
Durch die Einheit von Ganzem und Teil ist das Teil für sich betrachtet reine Negation des Ganzen; als Ganzes kann es selbst nur dann aufscheinen, wenn das Ganze, dessen Teil es war, in den Hintergrund tritt. Dieses Problem ist tatsächlich systematischer Natur, weil Individualität für sich in einer solchen Gemeinschaft nicht gedacht werden kann. Die Individuen sind hier nur hinsichtlich ihrer Rolle für das Ganze betrachtet, nicht aber hinsichtlich ihres reflektierten Bezugs auf dieses Ganze. Das Individuum für sich zeigt bloß negativ den Mangel an Gemeinschaftlichkeit an.
Diese Schwierigkeiten sind gewissermaßen scheinhafter Natur, da Tönnies gar nicht beansprucht, menschliche Verhältnisse nur unter dem Begriff der Gemeinschaft subsumieren zu können. Ich werde versuchen, dies im Rückgriff auf Hegel zu erläutern. Bei Hegel heißt es im Abschnitt zur Wesenslogik: Das unmittelbare Verhältnis ist das des Ganzen und der Teile: der Inhalt ist das Ganze und besteht aus den Teilen (der Form), dem Gegenteile seiner. Die Teile sind voneinander verschieden und sind das Selbständige. Sie sind aber nur Teile in ihrer identischen Beziehung aufeinander oder insofern sie zusammengenommen das Ganze ausmachen. Aber das Zusammen ist das Gegenteil und Negation des Teiles.178
Wenn wir uns auf naive Weise ein Ding ansehen, so fallt eventuell zunächst dessen Zusammengesetztheit aus Teilen sowie deren Bedeutung für das zusammengesetzte Ding auf. Hegel wendet nun gegen diese naive Sicht ein, dass wir z.B. in Betrachtung eines organischen Leibes, das Wesen desselben gar nicht erkannt haben, wenn wir den Leib als aus Teilen zusammengesetzt betrachten (wir sehen es dann als ein seiendes Ding unter 178
Hegel, Enzyklopädie /, S. 267 (§ 135).
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Dingen an). Hegel ist der Ansicht, „daß das äußerliche und mechanische Verhältnis des Ganzen und der Teile nicht hinreicht, um das organische Leben in seiner Wahrheit zu erkennen".179 Drastisch: Ein zerteilter Leib ist keiner mehr, sondern ein „Kadaver".180 Wenn wir also Gemeinschaft in ihre Individuen zerlegen, verschwindet sie, so dass wir sie nicht mehr sehen können. Sehen wir hingegen auf die Gemeinschaft, so sind die Teile als solche negiert. Die identische Beziehung aufeinander bildet das Zusammen, das die Teile als solche negiert. Wenn man Gemeinschaft auf diese Weise betrachtet, kann man ihre Organizität also gerade nicht begreifen: sie wird zu einem mechanischen Wechselverhältnis von Ganzem und Teilen.181 Auf Gemeinschaft ist hier unmittelbar zugegriffen wie auf ein Ding unter Dingen. Die Lebendigkeit, die diesen Körper wesentlich ausmacht, entgeht diesem Blick. Die Lebendigkeit einer Gemeinschaft ist bei menschlichen Gemeinschaften konstituiert durch das (implizite oder explizite) Wissen der Individuen um die Gemeinschaft. Der naturwissenschaftlich analysierende Blick sieht aber weder diese Selbstbezüglichkeit in den Individuen des Ganzen noch, dass dieser Blick selbst irgendwelchen gemeinschaftlichen Prägungen unterliegt.
b) Form und Inhalt Den verdinglichenden Charakter der Betrachtung von Gemeinschaft hat Tönnies dabei selbst schon überschritten, indem er versteht, dass das eigentlich Überdauernde die Form der Gemeinschaft (des Ganzen) sei. Diese Form beschrieb er aber als etwas Unsinnliches, für uns nicht Erkennbares. Wir können uns auf diese Gemeinschaftsform nicht direkt beziehen, sondern bedürfen dafür eines sie vertretenden, künstlichen Typus. Ich werde mich im Folgenden auf die unsinnliche Gemeinschaftsform mit Form 1 beziehen, auf die zum Erkennen notwendige konstruierte Form des Typus mit Form 2. Ich greife hier die abschließenden Überlegungen zum Gemeinschaftsbegriff (3.2a) wieder auf. In Näherung zu Hegel könnte man diese beiden auch mit Inhalt als „in sich reflektiert[er]" Form (Form 1) und mit „äußerliche]^r] Form" als „nicht in sich reflektierter]" (Form 2) ansprechen.182 Beim Inhalt fallen Darstellung und Dargestelltes zusammen: Die Form ist in der Materie gespiegelt (reflektiert). Bei der äußerlichen Form ist das nicht der Fall, sie ist gegen das Umfasste indifferent. Die Gegenüberstellung von Form und Inhalt ist also eigentlich eine von Form (geformtem Inhalt) und Form (äußerer Form) oder auch von Form 1 (Gemeinschaftsform) und Form 2 (Typus). Mit der in sich reflektierten Form (Inhalt) ließe sich Tönnies' Form 1 (konkrete Gemeinschaftsform) vergleichen. Mit der nicht in sich reflektierten äußerlichen Form nun die Form 2 (Typus). Es scheint nun bei Tönnies zwei Fälle von Form 2 zu geben:
179
Ebd., S. 268 (§ 135 Zusatz).
180
Vgl. ebd.
181
Aus diesem noch weiter auszuführenden Grund lehne ich Merz-Benz' These ab, Tönnies' Logik sei allein „an den Begriffen von Ganzem und Teil orientiert" (Merz-Benz 1995, S. 364).
182
Vgl. Hegel, Enzyklopädie
I, S. 264f. (§ 133 u. Anmerkung).
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-
Erstens den nicht problematisierten, aber als konstruiert klassifizierten Typus, mit dem die Gemeinschaftsform begriffen werden kann. Der Typus bezieht sich also auf eine real bestehende in sich reflektierte Form (Form 1).
-
Und zweitens gibt es den abstrakten Begriff, wie Tönnies ihn unter der Verhandlung der mechanischen Einheit der Person eingeführt hatte. Tönnies hatte dort ausgeführt, dass die Universalität des Begriffes die Vielheit nominell, ideell, fiktiv und konstruiert umfasse (vgl. GuG 174f.). Dieser Begriff sei gegen das Individuelle in der Vielheit indifferent - sei also nicht von der individuellen Vielfalt her gebildet, spiegelt sich nicht in ihr, sondern fasst sie nur hinsichtlich bestimmter Aspekte fur das wissenschaftliche Denken zusammen. Die Einheit besteht hier nicht vorher, sondern wird erst durch den abstrakten Begriff konstruiert. Der abstrakte Begriff bezieht sich nicht auf eine reale Form 1.
Es entsprechen sich also die Reihe Inhalt/Gemeinschaftsform/Form 1 und die Reihe Vorm/Typus oder abstrakter Begriff/Form 2. Damit ist Typus als ein Element entdeckt, das in struktureller Analogie zum gesellschaftlichen' Begriff steht. Man könnte also darauf verfallen, dass sich mit Inhalt (Form 1 ) und Form (Form 2) wiederum Gemeinschaft und Gesellschaft gegenüberstehen. Tatsächlich aber ist eben dieses Problem einer der neuralgischen Punkte, an dem sich der Zusammenhang der beiden Begriffe notwendig zeigt; Typus und Person sind zwei Ausprägungen der äußerlichen Form (Form 2), deren eine einer Realität angemessen (Typus) und deren andere keiner Realität angemessen ist (Person, abstrakter Begriff). Diese Differenzierung innerhalb der konstruierten äußerlichen Form 2 verweist einerseits auf die begriffslogische Verbundenheit der beiden Sphären, andererseits auf den normativen Gehalt der Überlegungen zum Form-Inhalt-Problem. Mit Hegel gesprochen sind innere Form (Inhalt) und äußere Form (Form) als „Verdoppelung der Form" hinsichtlich ihrer Reflektiertheit angesprochen.183 Als eine der wichtigsten Bestimmungen führt Hegel nun ein, „daß der Inhalt nichts ist als das Umschlagen der Form in Inhalt, und die Form nichts als Umschlagen des Inhalts in Form".184 Dies ist vor allem als Ideal zu verstehen: Inhalt und Form sollen sich durchdringen; weder soll der Inhalt als gegeben hingenommen werden, noch soll eine Form verabsolutiert werden und auf einen ihr fremden Stoff zugreifen. Vielmehr solle „der Inhalt [...] als durch die ihm zugrunde liegenden Gedanken von innen heraus bestimmt gewußt [meine Hervorhebung, NSch]" 185 werden. Es soll also verstanden werden, dass wir einen Inhalt dann durchdringen, wenn wir in ihm die Gedanken erkennen, in denen er uns wirklich ist. Diese innere Form ist „nach ihrer entwickelten Bestimmtheit das Gesetz der Erscheinung" 186 , es ist die allgemeine gedankliche Form, in der sie fur uns wirklich ist. Die Formen, in denen wir uns auf die sinnliche und nicht-sinnliche Welt je schon beziehen, sind dieser also nicht einfach äußerlich, sondern liegen ihrem So-und-so-Erscheinen gesetzmäßig zu Grunde. Diese For183 184 185 186
Vgl. ebd. Ebd., S. 265 (§ 133 Anmerkung). Ebd., S. 266 (§ 133 Zusatz). Ebd., S. 264 (§ 133).
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men sind daher auch nicht einfach konstruiert (das wäre Form 2 in ihrer abstrakten Spielart als dem Wesen der Dinge äußerer Begriff), sondern wir begreifen unser tatsächliches Verhältnis zu diesen Dingen in ihnen, wenn Form und Inhalt ineinander umschlagen. Dieses Umschlagen von Form und Inhalt scheint nun eher beim Typus als beim Begriff der Person (abstrakter Begriff) gegeben zu sein, da der Typus die gedankliche Form ist, in der uns die nicht-sinnliche innere Form wirklich ist, der abstrakte Begriff der Person dagegen schafft fiktive Einheit, wo realiter keine ist. Beides aber sind konstruierte Formen, die etwas sinnlich nicht Wahrnehmbares, aber Geformtes vertreten. Hier die Einheit der Gemeinschaft, dort die (fiktive) Einheit eines einzelnen Menschen als Urheber von „Kraft, Macht, Mitteln" (vgl. GuG 174). Offenbar hängt nun viel von der Angemessenheit dieser Form ab: Ist sie rein äußerlich oder erfasst sie die innere Form bzw. was ist deren Umschlag? Was folgt weiterhin, wenn die Form nicht angemessen ist? Da Tönnies den Typus nicht problematisiert, nehme ich an, dass dieser die innere Form wohl durchdringt, hier also Form 1 und Form 2 identisch sind. Wann aber durchdringt der Typus die Gemeinschaftsform hinsichtlich der ihr zugrunde liegenden Gedanken? Offenbar nicht als Einheit von Ganzem und Teil als lebendigem Ding, das nur auf seine Dauer hin orientiert ist, wie oben anschaulich geworden war. Greifen wir auf menschliches Miteinander als das Verhältnis eines Ganzen (z.B. einer Familie, einer Dorfgemeinschaft) zu seinen Teilen zu, dann zeigte sich, dass die Realität zwar so beschreibbar war, dass aber das Warum des gemeinschaftlichen Zusammenhangs für dessen Mitglieder keine Größe war, so dass durch bestimmte Umstände diese Realität einfach zusammenfallen konnte. Die Gemeinschaft als zu erhaltende Größe hat für ihre Teile auf dieser Beschreibungsebene keinen Wert. Den kann sie nur haben, wenn es sich um selbstbewusste (denkende und denkend wollende, wie Tönnies sagt) Menschen handelt, die sich denkend und wollend auf die Gemeinschaft beziehen. Sofern sie das tun, beziehen sie sich aber nicht nur auf das Dass, sondern auch auf das Wie und darauf, was Dass und Wie fur sie bedeuten. Das Wie im Sinne der Überlieferung von Sitten und Bräuchen hängt auf der Redeebene von organischem Ganzes-Teil-Verhältnis unmittelbar von der Prägung der Verhältnisse ab. Es ist damit nicht klar, woher ein anderes Wie an die Gemeinschaft kommen könnte. Für beide Aspekte wesentlich war nun, dass in der Einheit von Ganzem und Teil die Teile nur zusammengenommen das Ganze geben und so als Teile (Individuen) negiert und gar nicht in ihrer Bedeutung für dieses Zusammen gesehen werden. Sofern sie als eigenständige Einheiten des Denkens und Wollens betrachtet werden, gerät nun andererseits aber das auch ohne das einzelne Individuum bestehende Ganze der Gemeinschaft aus dem Blick. Soll also der Typus, der die konkrete Gemeinschaftsform für unser Erkennen vertritt, diese hinsichtlich der ihr zugrundeliegenden Gedanken als menschliche Gemeinschaft durchdringen, so muss er diese Elemente in seinen Begriff integrieren. Und dafür bedarf es offenbar des Begriffes der Person, da in diesem die Individuen als Handlungseinheiten (Urheber von Kraft, Macht und Mitteln) vorgestellt sind. Insofern ist auch der Begriff der Person eine in sich reflektierte Form des Sozialen (Form 1), die Integral des Typus sein muss, sofern dieser Gemeinschaft als soziales Miteinander menschlicher Individuen beschreiben will - in diesem Sinne ist der Personbegriff notwendig eingelassen in den Ge-
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meinschaftsbegriff. Nur scheinbar also kann der Typus unvermittelt auf die Realität der Gemeinschaft zugreifen und sie als lebendiges Ding unter Dingen erfassen. Tatsächlich ist Gemeinschaft Wirklichkeit, also begriffene Realität, und so ist sie stets bereits sozial vermittelt sowie ferner nur als individuell gewollt denkbar. Wenn ich also Gemeinschaft als Gemeinschaft menschlicher Wesen denken möchte, muss ich den Begriff personhaft seiender Menschen darin mitdenken, sonst kann ich mir Gemeinschaft nicht als „ein höheres Ganze[s] [...] durch ihr Zusammenwirken und dessen Idee als ihren gemeinsamen Willen" (GuG 172) vorstellen, wie Tönnies es für die organische Einheit als maßgeblich ansah. In diesen bewussten Willen erst werden die Teile zur Einheit vermittelt. Und so heißt es auch, dass ,,[d]ie Individualität des Menschen [...] so fiktiv [ist], wie das individuelle und isolierte Dasein eines Zweckes und eines dazugehörigen Mittels" (GuG 124) - der Begriff des Individuums negiert also tatsächlich die Unmittelbarkeit von Ganzem und Teil und verweist auf den fiktiven Begriff der Person, ohne den ich mir aber keine Gemeinschaft menschlicher Wesen vorstellen kann, so dass der Begriff der Gemeinschaft logisch in die Sphäre des Gesellschaftsbegriffes hinüber ragt. Einerseits durch die Strukturähnlichkeit von Typus und abstraktem Begriff, andererseits durch das Problem der Individualität, die im Gemeinschaftsbegriff für sich genommen nicht denkbar ist, der so aber keine menschliche Gemeinschaft beschreiben kann. Der Typus muss also den Personbegriff integrieren, um ein angemessener, in sich reflektierter Begriff zu sein. Wenn der Typus Gemeinschaft nur mittels des Begriffs der Person, der sich auf denkende und denkend wollende Menschen bezieht, erfassen (für unser Erkennen darstellen) kann, dann muss ich mir darüber klar werden, wie wiederum das sich als einzelne Person begreifende Individuum sich als das Teil eines sozialen Ganzen versteht, das es ist. So dass also endlich die soziale Einheit begrifflich und wirklich in sich reflektiert ist, indem sie als bewusste, aber unwillkürliche Wechselwirkung von den Individuen gewusst wird und indem die Individuen sich bewusst (kürwillig) handelnd auf sie beziehen können. Diese Gemeinschaft selbstbewusster Personen ist eine im weitesten Sinne politische Gemeinschaft, wie ich weiter unten ausführen werde. *
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Der Begriff der Gemeinschaft als organische Einheit von Ganzem und Teil für sich allein genommen würde Gemeinschaft also gleich einem Ding unter solchen Dingen betrachten, auf die wir unmittelbar zugreifen können. Tatsächlich zeigte sich aber, dass der Gemeinschaftsbegrifif eines Elementes aus der Sphäre des Gesellschaftsbegriffs bedarf (Personbegriff), damit Gemeinschaft als menschliche Gemeinschaft begriffen werden kann. Sein Recht hat der Gemeinschaftsbegriff, insofern er auf das Ganze und die Prägung dieses Ganzen durch seine Individuen sowie dieser durch das Ganze aufmerksam macht. Hinsichtlich der sozialen Phänomene ist dies nicht unwichtig: Individuum und Gemeinschaft durchdringen einander wechselseitig, ich kann keine der beiden Seiten ohne die andere denken. Wenn ich mir vorstelle, dass das gemeinschaftliche Band zerfällt, so bleiben auf eine bestimmte Weise geprägte Individuen übrig. Innerhalb des Ganzen ist vorderhand das Teil aber nur als Teil thematisch und nicht als Individuum.
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Bei menschlichen Gemeinschaften aber ist einerseits deskriptiv gefordert, diese Individuen als denkende und wollende Einzelne zu erfassen, denn die gemeinschaftliche Form spiegelt sich hier nur, sofern sie den Individuen in irgendeiner Weise bewusst ist. Da das Instinktleben für unsere Selbstthematisierung keine große Rolle spielt, muss den Menschen das Zusammenleben, die Form der Gemeinschaftlichkeit, in ihren Handlungen zu Bewusstsein gebracht werden. Es ist dafür natürlich nicht erforderlich, dass man die Formen der Gemeinschaft in ihrer Bedeutung vollkommen zu Bewusstsein bringt, aber sie müssen doch irgendwie bekannt sein, um in den Individuen weiter gegeben zu werden. Hier ist nun aber auch normativ das denkende und wollende einzelne Individuum von Belang, da die Gegebenheit dieser Formen auf ihre Bedeutung hin erfragt werden kann und das Individuum sich fragen kann, ob diese Gemeinschaft wirklich eine Gemeinschaft menschlicher Wesen sei oder ob einige ihrer Praxisformen eigentlich nicht menschlich, unmenschlich im Sinne von grausam seien.187 Das klingt noch etwas verschlossen, ich will nun auf den Begriff der Person eingehen, um diesen normativen Aspekt stärker zu entfalten. An diesem Begriff zeigt sich der ,Umschlag' zum Begriff sozialer Wirklichkeit, in den sowohl Gemeinschaft als auch Gesellschaft als logische Momente eingeschlossen sind. c) Begriff der Person Der Begriff der Person ist bei Tönnies und auch bereits bei Hegel ein ambivalenter Begriff. Für Hegel ist er „in einem das ganz Hohe und das ganz Niedrige".188 Bei Kant heißt es, der Mensch sei person", weil er „in seiner Vorstellung das Ich ha[t]"189, das heißt, vernünftig und selbstbewusst ist. In dieser Hinsicht ist der Mensch freies Subjekt. Dieser emphatische Begriff der Person wird bei Hegel vor allem in den Grundlinien der Philosophie des Rechts einerseits kritisiert, andererseits ist der Begriff der Person aber ein Grundbegriff der Philosophie der Freiheit; er wird bei Hegel in der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt, deren Status ebenso ambivalent ist. Notwendig gehe die natürliche Sittlichkeit (Familie) in den „Standpunkt des Relativen über und ist so [...] bürgerliche Gesellschaft, eine Verbindung der Glieder als selbständiger Einzelner in einer somit formellen Allgemeinheit' .'90 Diese selbständigen Einzelnen sind hier Personen, die in der Sphäre der unmittelbaren Sittlichkeit als „Glieder" (eines lebendigen Körpers?) 187
188 189
190
Dieses Ineinander von deskriptiven und normativen Elementen nennt Rentsch dianoietisch und weist für das Wortfeld Mensch-menschlich dessen dianoetischen Status nach. Die Idee ist, dass normative Sprache nicht irgendwie künstlich entwickelt werden muss, sondern dass sie vielmehr in unserer Alltagssprache gegeben und uns auch „sofort verständlich" ist (vgl. Rentsch 1999, S. 195-204, hier S. 197). Vgl. auch Fn. 3 in dieser Arbeit. Hegel, Grundlinien, S. 95 (§ 35 Zusatz). Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 127. Zum Begriff der Person ist in den letzten Jahren viel veröffentlicht worden. Systematisch weiterführend zu einem nicht monologisch-subjektivistisch verengten Personbegriff, von dem ich hier auch ausgehe, vgl. Sturma 1995 sowie mit anderen Akzenten Thyen 2007. Hegel, Grundlinien, S. 306 (§ 157).
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gefasst gewesen sind. In der bürgerlichen Gesellschaft ist das unmittelbare, überlieferte Miteinander zerbrochen, die Einzelnen sind auf sich gestellt, haben ihr Überleben, ihre eigenen Bedürfnisse zum Zweck und geraten so in einen Konflikt, der die Setzung einer Ordnung erfordert. So ist es in der bürgerlichen Gesellschaft angelegt, wieder über sich hinausgehend, sich im sittlichen Staat zu begreifen, der wiederum die bewussten Individuen in sich begreift. Diese drei Stufen der Sittlichkeit entfaltet Hegel analog der Begriffslogik von Sein, Wesen und Begriff/Idee. Da bereits der Übergang von Sein zum Wesen mit Hegel bei Tönnies als der von Gemeinschaft zu Gesellschaft nachvollziehbar war, will ich nun andeuten, inwiefern von dieser zweiten Stufe ein weiterer Umschlag denkbar wäre. Zunächst werde ich Hegels und Tönnies' Kritik am Personbegriff skizzieren und dann zu Überlegungen zu den bei Hegel wie bei Tönnies positiv bewerteten Momenten des Personbegriffs übergehen: Freiheit, Gleichheit und Anerkennung. Der Begriff der Person lässt sich bei Tönnies nur dort abziehen, wo ein wirklicher Mensch begriffen wird als „ein denkender und in Gedanken wollender" (GuG 176). Bei Hegel wird die Verbindung zum wirklichen Menschen erst einmal zurückgestellt. Der Begriff der Person bedeutet bei Hegel die einfache und zunächst inhaltslose Beziehung auf sich selbst in seiner Einzelheit191; Person ist hier als abstraktes Selbstbewusstsein gekennzeichnet, das nicht von den allgemeinen Umständen bestimmt ist. Die Person begreift sich nicht als Modifikation einer lebendigen Substanz, nicht als Glied eines Organismus, sondern: Als Person bin ich selbst unmittelbar Einzelner, dies heißt in seiner weiteren Bestimmung zunächst: Ich bin lebendig in diesem organischen Körper, welcher mein dem Inhalte nach allgemeines ungeteiltes äußeres Dasein, die reale Möglichkeit alles weiter bestimmten Daseins ist. Aber als Person habe ich zugleich mein Leben und Körper, wie andere Sachen, nur, insofern es mein Wille ist,192
Die Person ist also auch eine unmittelbare, noch nicht wesenhaft-wirkliche Bestimmung. Diese Unmittelbarkeit betrifft nun den Einzelnen, der sich selbst als solchen erfährt. Das Individuum ist hier nicht Teil, sondern für sich selbst Ganzheit und sieht den unlösbaren Zusammenhang mit dem es umgebenden Sozialen nicht. Das Problem ist nun, dass menschliche Gemeinschaften ohne den Begriff denkender und denkend wollender Menschen (Personen) nicht als menschliche erfasst werden können, dass nun aber durch diesen Begriff der Person die Gemeinschaft negiert wird, weil die Personen nicht Teile eines Ganzen, sondern auf sich selbst (als Ganzheiten) in ihrem eigenen Willen gerichtet sind. Wie also kann Gemeinschaft als ein die Personen/Individuen umfassendes Ganzes und zugleich die einzelnen Individuen für sich als Ganze gedacht werden? Hegel und Tönnies geben auf diese Frage recht ähnliche Antworten, auf die ich im Folgenden eingehen möchte. Zunächst soll das Auseinandertreten des Ganzen in Einzelne betrachtet werden, das die Wirklichkeit des Sozialen ebenso negiert wie der für sich genommene Gemeinschaftsbegriff, weil es im bloßen Nebeneinander atomisierter Einzelner vermeintlich kein 191
Vgl. ebd., S. 92-95 (§§ 34f.).
192
Hegel, Grundlinien, S. 110 (§ 47).
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Soziales gibt. Eine Folgerung wäre, dieses Soziale müsse erst geschaffen werden (so (miss-)versteht man oft den Kontraktualismus). Eine andere - hier vertretene - Folgerung ist die, dass diese Einzelnen nie anders als sozial einzeln sind. Personen als unabhängige Einzelne erkennen weder ihre Verwobenheit mit der Außenwelt, noch mit dem Dasein anderer Personen (Sozialwelt). Obgleich aber das abstrakte Selbstbewusstsein sich als innerlich gegebenes Bewusstsein zu einer ihm äußerlichen Objektwelt bloß zu verhalten scheint, ist doch das Dasein dieser Person immer auch äußerliches Dasein: „Die Person muß sich eine äußere Sphäre ihrer Freiheit geben, um als Idee zu sein"193, so Hegel, ein wirklicher Mensch muss „an ihrer Statt denken, wollen und agieren" (GuG 175), so Tönnies. Der für sich unendliche Wille der abstrakten Person ist erst wirklich, wenn er in Handlungen sichtbar wird; sonst bleibt er fiktiv und bloß vorgestellt. Man kann sich das so vorstellen, dass jemand zwar wollen kann, der körperlich Größte zu sein, es aber nicht ist (und auch nicht mehr werden kann). Sein Wille ist nicht wirklich. Oder dass jemand meint, ein Schriftsteller zu sein, aber nie etwas schreibt (es aber könnte). Oder dass jemand im Gefängnis ist, aber meint, frei zu sein (hier kann er natürlich seine Freiheit im Geiste meinen, wir würden ihn aber noch ,freier' finden, wenn er diese Freiheit nicht im Gefängnis lebte). Die für sich unendlichen Bestimmungen sind erst in einer mit anderen geteilten und bereits so-und-so-bestimmten Welt gültig. Daher weiß ich mich als Person zwar „frei in mir selbst und kann von allem abstrahieren"194, aber damit bewege ich mich nur scheinbar außerhalb der gegebenen Welt und bin so auch nicht wahrhaft, sondern nur scheinbar frei. Ich bin zwar frei, mir alle möglichen Zwecke zu setzen, diese Freiheit ist aber erst einmal abstraktes, leeres Vorhaben. Sofern die Personen sich im realen Handeln konkretisieren, treten sie einander nun als einzelne, ihre einzelnen und zufälligen Zwecke Wollende gegenüber. Wenn sie ihre vorgestellten Freiheiten verwirklichen wollen, stoßen sie möglicherweise auf Widerstand, wenn andere sich die gleiche äußere Sphäre zur Verwirklichung ihrer selbst gesucht haben. Sobald die Personen sich als solche verwirklichen wollen, sind sie nicht mehr von den Handlungen der anderen Personen unabhängig. Zunächst bloß fiktive, gedachte Personen sind also stets aufs engste mit der äußeren Welt verbunden. Sie haben einen Körper und sind so Teil der Objektwelt. Sie zeigen sich in sinnlich wahrnehmbaren Handlungen. Insofern diese Personen in der Welt situiert sind, sind sie soziale Wesen, die mit anderen oder auch gegen andere zur Verfolgung ihrer Interessen handeln. Die Einzelnen sind also zugleich auch Teile eines Ganzen, dessen Wille und Gestalt aus ihren Einzelwillen akkumuliert ist. Diese Gesamtgestalt muss dabei nicht wiederum individuell gewollt sein, sondern kann unbewusst entstehen, weil das Individuum sein Mit-anderen-vermittelt-Sein nicht sieht. Tatsächlich ist die abstrakte Freiheit der Person also nicht als absolute Freiheit zu verstehen, sondern frei ist das Individuum immer in einer mit anderen geteilten Welt, auf die es im Rahmen seiner individuellen Möglichkeiten bewusst oder unbewusst Einfluss nimmt. Zugleich ist das Individuum durch die Umstände in seinem Denken und Wollen 193
Ebd., S. 102 (§41).
194
Ebd., S. 95 (§ 35 Zusatz).
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bestimmt. Befrage ich daher die Herkunft der individuellen Interessen, so stelle ich fest, dass auch diese nicht anders als durch die bestehende Welt geprägt sind. Wie frei ist dann dieses Wollen? Woher kommen meine Antriebe? Die Inhalte des individuellen Wollens entstammen nicht einer inhaltsleeren Selbstreflexion, sondern der Realität miteinander agierender realer Menschen. Sofern diese Realität unhinterfragtes Movens meines bewussten Wollens ist, ist dieses seinem Inhalte nach bloß zufällig und nicht,wahrhaft' frei (autonom). Im realen Miteinander bedarf es dann eines äußerlichen Ordnungssystems, um die Verfolgung der unterschiedlichen für sich genommen zufälligen Bedürfnisse ohne Konflikt zu ermöglichen. Das beliebige Setzen individueller Zwecke ist also keine echte Freiheit, weil sie sich an der Freiheit der anderen Individuen stößt und es so eines äußeren Ordnungssystems bedarf, dass diese Freiheiten so einschränkt, dass für jeden Raum übrig bleibt. α) Abstrakte und wahre Freiheit Dennoch ist der Begriff der Freiheit, der dem der Person als zunächst für sich seiende inhäriert, von großer Bedeutung. Sowohl bei Tönnies als auch Hegel bildet der abstrakte und rohe Begriff von Freiheit die Grundlage für einen vollen Begriff von Freiheit. Einen solchen braucht es, um gemeinsames Miteinander sowohl sozialer (gemeinschaftlicher) Individuen als auch für sich bestehender (gesellschaftlicher) Personen denken zu können. Die Freiheit des Willens, sich beliebige Zwecke zu setzen, ist bei Tönnies wie bei Hegel Willkür (Kürwille): Nun ist zwar die Willkür, als die Fähigkeit, sich zu diesem oder jenem zu bestimmen, allerdings ein wesentliches Moment des seinem Begriff nach freien Willens, jedoch keineswegs die Freiheit selbst, sondern zunächst nur die formelle Freiheit. Der wahrhaft freie Wille, welcher die Willkür als aufgehoben in sich enthält, ist sich seines Inhalts als eines an und für sich festen bewußt und weiß denselben zugleich schlechthin als den seinigen. 195
Sich selbst bewusste, vermeintlich voneinander unabhängige Personen sind also zunächst bloß dem Begriff nach frei, insofern sie sich beliebige Zwecke setzen können. Nun war bereits deutlich, dass sie weder hinsichtlich der Bestimmung der Zwecke noch hinsichtlich der Verfolgung dieser Zwecke wirklich frei zu denken sind. Der wahrhaft freie Wille weiß seinen Inhalt als notwendigen allgemeinen und zugleich als seinen. Das Individuum weiß hier also um das Ineinander seines individuellen Wollens mit einem allgemeinen Wollen. Die Willkür ist in diesem Wollen aber aufgehoben, insofern dieses Wollen eines allgemeinen und notwendigen Inhalts selbstbestimmt erfolgt. Bedingung der Möglichkeit dafür ist, dass das Individuum nicht nur als Teil eines Ganzen, sondern für sich als prinzipiell freie und gleiche Person anerkannt wird, die dieser so und so bestimmte Mensch in seiner Individualität vertritt. Man könnte den Begriff eines ,wahrhaft freien Willens' so verstehen, dass das bewusste Individuum sich als Teil einer bestehenden Gemeinschaft erkennen und den dort herrschenden allgemeinen (Wesen-)Willen als seinen anerkennen soll (und dies auch tut). 195
Hegel, Enzyklopädie /, S. 285 (§ 145 Zusatz).
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Damit wäre die Geschichte hier zu Ende. Sofern aber das Individuum in seiner Individualität anerkannt sein soll und sofern das Gewollte laut Hegel nicht zufällig geschichtlich entstanden sein soll, geht mit diesem Wechsel der Blickrichtung vom autonomen Ganzen zum Ganzen als Teil die mögliche Ablehnung des Gegebenen einher. Deutlicher: wenn ich mir als bewusstes Individuum überlege, ob ich das sozial Gegebene als meinen eigenen Willen anerkenne, werde ich oft feststellen, dass mein Wille und das bereits Gegebene nicht übereinstimmen. Ich kann nun über andere Möglichkeiten zukünftigen Miteinanders nachdenken oder ich kann gegen den allgemeinen Willen handeln. Darauf, inwiefern das zufällig so-und-so gewordene Gegebene umgestaltet werden kann, will ich erst im folgenden Abschnitt eingehen (d). Hier soll es um ein weiteres wesentliches Element des Sozialen als vernünftige Wirklichkeit gehen: um das Element der Möglichkeit. ß) Möglichkeit (Negativität) Sofern ich das Soziale als soziale Wirklichkeit betrachte, ist durch den notwendig darin zu denkenden Begriff der Person der Bereich des im Realen mitgegebenen Möglichen enthalten. Die „Wirklichkeit [...] als der konkrete Gedanke [enthält] die Möglichkeit als ein abstraktes Moment in sich"196, so Hegel. Realität nur für sich genommen, ohne die Möglichkeit gedacht, ist das „äußerliche Konkrete, das unwesentliche Unmittelbare" und so ein bloß Zufälliges197, das - weil es auch anders sein könnte - eigentlich selbst nur eine Möglichkeit, nicht aber notwendiges Dasein ist. Zugleich aber ist das bloß Mögliche sehr viel weniger als das wirklich Gegebene. So versteht es auch Tönnies, der der „rohen und stofflichen Freiheit der Möglichkeit" die „gebildete und bestimmte Freiheit der Wirklichkeit" gegenüberstellt (GuG 144). Sieht man sich die Entfaltung dieser Kontrastierung genauer an, so wird auch diese als innere Differenziertheit des Sozialen kenntlich. Das freie Subjekt des Wesenwillens (Selbst) verhalte sich zu seiner psychischen Materie wie die Masse eines Organismus zu seinen Organen. Dieses innere Bestimmungs- und Gestaltungsverhältnis ist eines der Identität. Tönnies definiert dieses Identitätsverhältnis der ,,reale[n] Möglichkeit individuellen Lebens und Wirkens" (GuG 126) als positive Freiheit, denn frei sei das, was realiter und nicht bloß idealiter da sei, gemäß dem Begriff der wirklichen Freiheit der Person. Demgegenüber seien die ideellen Möglichkeiten des Kürwillenssubjekts, das die Freiheit nur im Denken, nicht aber im Dasein habe, „Verneinung schlechthin" (GuG 128), reine Negativität. Denn eine (ideelle) Möglichkeit kann vernichtet werden, indem sie zur Wirklichkeit und indem sie zur Unmöglichkeit wird. Das vorherige Wollen einer möglichen Handlung kann einmal als eine Zurüstung zu dieser doppelten Vernichtung angesehen werden (GuG 127).
Der Begriff der negativ-ideellen Möglichkeit ist bei Tönnies auf die Wesenwillenssphäre nicht anwendbar, da dort von Innen und aus dem Gewordenen sich genetisch das folgerichtig Nächste organisch herausbildet. Diese Entwicklung geschehe ,,[g]leichwie die Frucht aus der Blüte sich ergibt, und animal ex ovo [...]. Es ist ein und dasselbe, in ver196 197
Ebd., S. 282 (§ 143 Zusatz). Ebd., S. 284 (§ 144).
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wandeltem Zustande" (GuG 129), von vornherein determiniert in den ihm wesenhaften Mustern seiner Entwicklung, weshalb Tönnies hier den Begriff des immer tätigen und wirksamen Motivs bzw. der realen Möglichkeit statt dem der ideellen Möglichkeit wählt (vgl. GuG 144). Die realen Möglichkeiten sind die „Modifikationen, in welche sich dieses [Individuum] entwickelt hat, [diese] werden von ihm auf seine Erzeugten als angelegte [...] übertragen" (GuG 127). Die Motive werden in einer menschlichen Gemeinschaft tradiert, wiederholt, spezialisiert und so verstärkt, bis sie eine Art Instinktersatz bilden. Der wirklichen Freiheit gibt Tönnies ein Gegenstück mit der „rohen und stofflichen Freiheit der Möglichkeit" (GuG 144). In Betracht der Zeitstruktur, die den beiden Sphären bei Tönnies zugeordnet ist, wird deutlich, weshalb er meint, dass es im Gebiet des Wesenwillens „keine zweiseitige Möglichkeit, kein Vermögen des Wollens oder nicht" (GuG 128) gebe. Das Gebiet des Wesenwillens nämlich sei Vergangenheit, sofern es das bereits Gewordene und Gegenwart, sofern es das jetzt Daseiende sei. Gänzlich aber im Begriffe der Möglichkeit stehe die Sphäre des Kürwillens, die nie geworden, sondern immer bloß möglich, „Seiendes als Zukünftiges, Unwirkliches" (GuG 129) sei. Erkannt werden könne es nur durch abstraktes Denken, weil es sich nicht aus dem Gewordenen bilde. Die Objekte des Kürwillenssubjekts seien die verschiedenen ideellen Möglichkeiten, zwischen denen es sich entscheiden müsse. Diesen Prozess der Wahl versteht Tönnies als einen „ K a u f , denn die eine ergriffene Möglichkeit erkaufe sich das Subjekt für die nicht ergriffenen Möglichkeiten. So komme es zu der doppelten Vernichtung, erstens der nichtausgeführten anderen Möglichkeiten als solcher und zweitens der Verwirklichung, durch die die Möglichkeit als solche genichtet wird. Die der zweifach vernichtenden Wahl vorhergehende Abwägung erfolge nach ,,Lust-[...]" und ,,Schmerzelemente[n]" (GuG 128) oder auch aus Kosten-Nutzen-Kalkulationen. Zugleich ist der Kürwille bei Tönnies als „absolute Position (Selbstbejahung) des Denkens" aufgefasst, wodurch Abstand vom Gegebenen genommen und die Richtung des eigenen Handelns selbst bestimmt werden kann mit einem „,[i]ch will'", was dann soviel wie „,du sollst'" heiße (GuG 128). Wie bei Hegel setzt auch bei Tönnies Moralität bei der bloß negativ-ideellen Möglichkeit an. Die positive Freiheit, im Wesenwillen zu sein, als Glied eines organischen Körpers da zu sein, hat mit einem alltagsweltlichen Begriff von Freiheit zunächst wenig zu tun. Viel eher entspricht diesem Begriff die hier zunächst bloß negative Freiheit des bloß Möglichen eines einzelnen Individuums, sich in eine eigene Zukunft zu entwerfen. Doch auch die beiden Begriffe positive und negative Freiheit gehören zusammen: Wirklich möglich ist das, was als Modifikation bereits geprägt oder angelegt ist. Das ist bei einem körperlich gegebenen Individuum durchschnittlicher Größe nun einmal nicht, der oder die Größte zu sein. Das ist aber bei einem des Schreibens mächtigen und durch die Umstände dazu freigestellten Individuum, das Schriftsteller sein möchte, das Schreiben von literarischen Texten. Äußere wie innere Umstände müssen die Modifikationen realisieren, derer es im individuellen und gemeinsamen Leben aber in den seltensten Fällen nur eine gibt. Oft wissen wir nicht, welche der gegebenen realen Möglichkeiten die beste sein wird - wir müssen es selbst bestimmen. Diese Bestimmung des positiv jetzt Gegebenen geschieht aus dem diesem Gegebenen negativ innewohnenden Raum der Möglichkeiten heraus. Nicht also aus dem Nichts heraus, aber zuweilen durch die Wahl zwischen zwei realen Möglichkeiten. Diese Wahl
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wird eventuell unter dem Risiko der Falschheit getroffen. Hier wird dann jedes Mal eine aus der Vergangenheit nicht vorwegzunehmende Zukunft Gegenwart. Menschen als denkende und denkend wollende Personen sind nicht einfach identisch mit dem gemeinschaftlichen Körper, dessen Teile sie sind, sondern sie verhalten sich zu diesem Körper als eigene Ganzheiten. Dieses Verhalten unterliegt zwar der Bestimmung durch das TeilSein, aber zugleich ist es freier gestellt, es kann das Gegebene auf andere Möglichkeiten hin negieren: Denkende und denkend Wollende können sich zu ihrem Wollen verhalten. Sie können und müssen zwischen zunächst noch nicht realisierten aber realen Möglichkeiten wählen. In diesen Akten der Wahl setzt sich die gemeinschaftliche Form als Gegenwart von der Vergangenheit, als Prägung zukünftiger Wollungen fort und verändert sich zugleich durch individuelle Abweichungen bewusster wie unbewusster Natur. Echte Veränderungen können nur dort stattfinden, wo sich eine reale Möglichkeit gebildet hat. Das Denken der Möglichkeiten (des noch nicht Seienden, Negativen) ist gleichwohl wesentliches Element der (positiv-gegebenen) sozialen Wirklichkeit, sofern sie menschliches Miteinander sein soll. Dies erkennen sowohl Tönnies als auch Hegel an. Der Begriff der Möglichkeit gehört bei beiden der Sphäre der Person an, ist aber je im Sinne der Realisierbarkeit und der Verwirklichung unlösbar mit der Sphäre gemeinschaftlicher Prägungen verknüpft.
sie
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Am Begriff der Person als konstitutives Element gesellschaftlicher Verhältnisse wurde hinsichtlich verschiedener Momente der unlösbare Zusammenhang mit der Sphäre organischer Ganzheit {Gemeinschaft) sichtbar: -
Personen sind nur wirklich, sofern sie sich leiblich gegeben in der Welt konkretisieren. Ihre Freiheit muss wirkliche Freiheit in der Welt sein, sonst hätten sie bloß vorgestellte, abstrakte Freiheit.
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Personen sind in ihrem konkreten Handeln mit anderen Personen verbunden, von diesen geprägt und von ihnen abhängig. Personen sind so immer auch Teil eines gemeinschaftlichen Ganzen, ihre Willen prägen kumulativ einen Willen dieses Ganzen auch dann aus, wenn sie dieses Ganze nicht als solches erkennen.
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Die kürwillige Freiheit der Person kann nur abhängig von den gegebenen Umständen wirklich werden. Reale Möglichkeiten müssen existieren, um ein Gedacht-Mögliches zu realisieren.
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Selbstbewusste Personen können sich zu sich und zum Gewordenen ihrer Gemeinschaft verhalten. Die Möglichkeiten des willentlich-bewussten Sich-Verhaltens schreiben sich von dem her, was diesen Menschen bekannt und bewusst ist. Die wesenwillige Gemeinschaft ist nicht anders denkbar als durch kürwillige Wahl zwischen ihren möglichen Modifikationen weitergebildet.
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Gemeinschaft als Vergangenheit und Gesellschaft als Zukunft gedacht sind ineinander verschränkt in der Gegenwart, die eine seiende Möglichkeit des gegebenen Sozialen ist.
Die Ambivalenzen eines Begriffs der Person, durch den Menschen als atomisierte Einzelne vorgestellt werden, deren Miteinander konfliktiv ist und das daher einer äußeren Ordnung bedarf, die sekundär zu den primären Einzelnen ist, beruhen also bei genauerer Betrachtung auf einem ungenauen Verständnis der Logik des Personbegriffs. Insofern der Personbegriff nicht von der Sphäre der sozialen Verhältnisse ablösbar ist, können Personen nur vermeintlich vollkommen frei und unabhängig voneinander sein sowie sich beliebige Zwecke setzen. Sich als vollkommen freie und unabhängige Person zu begreifen, kann niemals ein angemessenes Verständnis der Realität sein. Ich bin als eine solche vollkommen freie Person nie wirklich. Wirklich bin ich nur in Vermittlung mit anderen in einer geteilten Welt, die auch durch mich so-und-so wirklich ist. So ist auch gleich der übliche Vorwurf zu entschärfen, Menschen seien nie abstrakt als frei und gleich zu verstehen: Sie sind als wirkliche Personen prinzipiell frei und gleich, dies aber nur in ihrem je individuellen Dasein und möglicherweise nur der Forderung nach (sie sollten als individuelle Personen frei und gleich sein). Der Begriff der Person hat insofern für sich genommen Relevanz, als er die Perspektive des einzelnen denkenden und denkend wollenden Menschen als solchem abbildet. Seiner Logik nach ist der Personbegriff aber nie anders zu denken als mit der Sphäre ,organischer' Ganzheit des sozialen Lebens vermittelt, von dieser geprägt und diese prägend. Zu diesen Prägungen müssen selbstbewusste Einzelne sich verhalten. Sie müssen aus den realen Möglichkeiten eine auswählen bzw. mehr reale Möglichkeiten einfordern. Der Begriff der Person hat weiterhin normativ sein Recht, insofern das Soziale als Wirklichkeit der bewussten Fortschreibung durch die Einzelnen als solcher bedarf, die dafür in ihrer Einzelheit und als prinzipiell und für das Ganze Freie und Gleiche anerkannt sein müssen.
d) Wirklichkeit des Sozialen Was also ist die Wirklichkeit des Sozialen? Das Soziale erscheint uns im Nachdenken darüber zunächst und unmittelbar als ein lebendiges Ganzes, das Individuen als seine Teile in sich enthält. Tatsächlich durchdringen ein soziales Ganzes und seine Individuen einander, so dass die Individuen einerseits in ihren Handlungen vom Ganzen her bestimmt sind, andererseits aber dieses Ganze sich durch nichts anderes als durch die individuellen Handlungen bestimmt und erhält. Eine menschliche Gemeinschaft aber ist nicht nur in dieser Weise zu beschreiben, weil sie so als ein rein mechanisches Miteinander gleichartiger, für sich genommen irrelevanter Teile aufgefasst würde. Eine menschliche Gemeinschaft kann nur so erfasst werden, dass ihre Teile für sich genommen als individuelle Ganzheiten aufscheinen, ohne dass deshalb die soziale Ganzheit auseinander tritt. Dazu bedarf es der bewussten Hingeordnetheit der Individuen auf dieses Soziale. Es gibt menschliche Gemeinschaften dann, wenn Individuen sie als ihre Wirklichkeit angenommen haben. Anders als Tiere in einer Herde müssen menschliche Individuen
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um ihre Gemeinschaft als ihre wissen. Für sich genommen beschreibt also weder Gemeinschaft (organische Ganzheit) noch Gesellschaft (mechanisches Miteinander einzelner unverbundener Personen) die Wirklichkeit des Sozialen. Die Begriffe für sich sind unwahr. Dennoch beschreiben sie Aspekte, die wir notwendig denken müssen, sofern wir die Wirklichkeit des Sozialen betrachten wollen. Das Soziale ist einerseits ein seine Teile übersteigendes kollektives Ganzes. Das Soziale gibt es andererseits nicht ohne seinen Vollzug in individuellen Handlungen. Die Standpunkte des Kollektivismus und des Individualismus stehen hier nicht einfach diametral zueinander, sondern sind in ihrem ursprünglichen Zusammenhang zu begreifen.198 Behandeln wir Gemeinschaft als lebendige Einheit eines Ganzen und seiner Teile, so bewegen wir uns auf der Stufe unmittelbarer Lebendigkeit. Menschliche Gemeinschaften sind hier auf die gleiche Weise gegeben wie Tierverbände. Tatsächlich ist diese Stufe immer schon überschritten, insofern überhaupt die Wirklichkeit nicht bloß die hier und jetzt gegebenen Fakten, sondern für uns eine in ihrem Wesen begriffene Realität ist. In Betracht einer Sache denken wir ihr Wesen, ihren uns bekannten Verweisungszusammenhang stets mit. Die Welt würde beständig zerfallen, wenn wir nicht bestimmte wesenhafte Einheiten annähmen: Eine Nelke ist Nelke als Keim, als aufgeblühte Blume und auch noch als verdorrter Zweig. Alles dies und alle weiteren Zwischenstufen sind wesenhafte Modifikation, Realisierungen der Idee Nelke. Wirklichkeit ist dieser volle Begriff von Realität, dieses für uns jetzt So-und-so-Sein, das zumeist als ein Moment des Auch-Möglichen gewusst wird, das jetzt aber faktisch so und so bestimmt ist. Zu diesem Ineinander von realer Faktizität und gedanklicher Fassung des Gegebenen für uns äußert Hegel sich dahingehend, dass Idee und Wirklichkeit einander nicht gegenüber zu stellen seien, sofern die Wirklichkeit nicht falschlich als bloß handgreiflich Vorhandenes und unmittelbar Wahrnehmbares verstanden werde.199 Die Idee sei vielmehr „das schlechthin Wirkende zugleich und auch Wirkliche", denn die Wirklichkeit sei nicht so schlecht und unvernünftig, wie gedankenlose oder mit dem Denken zerfallene und heruntergekommene Praktiker sich einbilden. Die Wirklichkeit, im Unterschied von der bloßen Erscheinung, zunächst als Einheit des Inneren und des Äußeren, steht so wenig der Vernunft als ein Anderes gegenüber, daß dieselbe vielmehr das durchaus Vernünftige ist, und was nicht vernünftig ist, das ist eben um deswillen auch nicht als wirklich zu betrachten.200
Dieses Ineinander beschreibt Tönnies mit dem Begriff empirisch-dialektisch - material gegeben, aber erst gedanklich in ihren wesenhaften inneren Widersprüchen (dialektisch) und Differenzen erfasst ist die Welt überhaupt für uns. Dieses Ineinander lässt in unseren Begriff von Wirklichkeit selbstbewusste, vernünftige Personen als Bedingung der Möglichkeit von Wirklichkeit ein, obgleich die Welt nicht durch diese Personen gemacht ist. Doch so, wie die Welt vor uns und unabhängig von uns ist, gibt es sie für uns nicht. Es 198
199 200
In gewissem Sinne hebt Baltzer mit seiner Unterscheidung von individuellem und sozialem Handeln auf einen ähnlichen Punkt ab, wenn er betont, dass soziales Handeln nicht bloß ein Aggregat individuellen Handelns ist (Baltzer 1999). Vgl. Hegel, Enzyklopädie I, S. 281 (§ 142 Zusatz). Ebd., S. 280 (§ 142 Zusatz).
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gibt sie nur als vernünftige, d.h. begrifflich irgendwie in ihrem Dass erfasste, strukturierte Wirklichkeit. Ausdruck dieses Gedankens ist Tönnies' Begriff des Typus, in dem uns die Gemeinschaftsform sinnlich und gegenwärtig ist (vgl. hier Abschnitt (b)). Wenn wir uns also auf eine Gemeinschaft beziehen, so tun wir dies in dem Begriff (Typus), durch den sie für uns wirklich ist und der ihr daher in ihrem Dasein für uns zugrunde liegt. Denkende und denkend wollende Wesen können sich auf die Gemeinschaftsform nur durch den sie vertretenden Typus beziehen. Die Spezifik dieses Begriffes war dabei nicht nur, dass er für uns denkende und denkend wollende Wesen unser gemeinschaftliches Miteinander repräsentiert, sondern dass er dies nur dann angemessen tut, wenn er es als das Miteinander denkender und denkend wollender Personen darstellt. Dadurch war aber die Unmittelbarkeit und das Primat der Gemeinschaft immer bereits gebrochen. Der Typus bildet nicht nur das Verhältnis von Ganzem und Teil, sondern darüber hinaus das Miteinander von selbstbewussten Einzelpersonen ab, deren Miteinander durch das Einzeln-Sein stets inftage gestellt ist. Der Typus erfasst also die Gemeinschaft erst dann vollkommen, wenn er sie als ein Miteinander denkender und denkend wollender Personen erfasst, die sich vermittelst dieses Typus auf ihr Miteinander als solches beziehen können. Das Ineinander von Wirklichkeit und Begriff ist folglich nicht nur deskriptiv, sondern auch normativ zu verstehen: Eine verdorrte Nelke ist zwar eine mögliche Modifikation der Idee einer Nelke, wird aber gegenüber der für alle erkennbaren aufgeblühten Blume als defizienter Modus aufgefasst. Er ist irgendwie nicht mehr oder gerade noch keine Nelke, so wie die Knospe noch keine Blüte ist. Ähnlich (wenngleich nicht als Einheit natürlicher Entwicklungsnotwendigkeiten wie bei einer Pflanze zu denken) verhält es sich mit dem Gemeinschaftsbegriff: Der Typus einer Gemeinschaftsform durchdringt diese dann, wenn er sie als in ihren Individuen als solchen reflektiert auffasst. Wenn die Individuen aber die gemeinschaftliche Form in ihrem Handeln und Wollen nicht reflektieren, dann gibt es die Gemeinschaft nicht wirklich. Es mag sie hier als Erinnerung geben oder sie kann als Zukunft anvisiert werden, sie ist aber nicht wirklich. D.h. die Individuen müssen diese Gemeinschaftsform als ihren individuellen Willen zu dem sie umfassenden Ganzen begreifen, damit die Gemeinschaft wirklich gegeben ist.201 Damit dies möglich ist, müssen einerseits die Individuen um die Gemeinschaft wissen als von ihnen ausgedrücktes Ganzes und im Idealfall auch als solches gewolltes. Andererseits aber müssen 201
Die Anforderungen an eine echte Gemeinschaft sind mithin recht hoch - wie in den Sozialwissenschaften die Spieltheorie vom Individualismus her zeigt (das so genannte .Gefangenendilemma'). Stekeler-Weithofer spricht von einer ,,prekäre[n] Differenz zwischen individualistischer Rationalität und kooperativer Vernunft", die nur die „Hoffnung" als „konstitutive Bedingung der realen Teilnahme an Wir-Handlungen" überbrücken könne (Stekeler-Weithofer 2002, S. 237). Die Anforderungen sind aber auch von der ,kollektivistischen' Seite recht hoch. Brandom fuhrt aus, dass es zur Konstitution einer ,Wir'-Gemeinschaft mehr bedarf „als eines kuscheligen Wir-sind-alle-Säugetiere-Gemeinschaftsgefuhls. Um uns selbst explizit zu machen, wer wir sind, brauchen wir eine Theorie darüber, was es in der Praxis heißt, jemanden als einen von uns zu behandeln" (Brandom 2000, S. 37). Beide Aspekte sind gleichermaßen wichtig.
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die Individuen idealiter als prinzipiell frei und gleich anerkannt sein, so dass das Ganze als frei gewähltes Ganzes seine Teile als individuelle, sich-für-sich-wissende Ganzheiten umfasst. Deskriptiv bedeutet dieses Ineinander von Begriff und Wirklichkeit: Wenn Menschen aufeinander bezogen als einzelne handeln, bilden sie dabei bestimmte Praxisformen aus. Diese Formen prägen nun einerseits das Wesen und Handeln der in diesen Formen sich bewegenden Menschen, andererseits werden die Formen durch die einzelnen Handlungen weiter geprägt. Diese wechselseitige Prägung geschieht durch selbstbewusste einzelne Menschen, auch wenn sie sich der Wechselseitigkeit nicht zwingend bewusst sind. So kann möglicherweise das Miteinander eine Praxisform ausprägen, in der sich die Einzelnen nie auf die von ihnen gemeinsam gebildete Form beziehen, sondern immer nur auf ihre individuell gesetzten Zwecke sehen. So wäre diese Sozialform kontingenter Ausdruck gegeneinander stehender Einzelinteressen, es wäre kein kollektives und schon gar kein politisches (auf ein gemeinsames Leben in der polis bezogenes) Handeln. Politisches Handeln wäre hingegen bewusst gewolltes, auf den Einzelnen und die Vielen in Bezug auf ihr gemeinsames Dasein gerichtetes Handeln. Obgleich oder gerade weil die kontingente Form nicht bewusst wird, hat sie prägenden Einfluss auf die Individuen. Die Hegeische und Tönniessche Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft bezieht sich auf ein solches soziales Ganzes, das durch das rücksichtslose Miteinander nur auf sich bezogener Einzelwesen konstituiert ist. Auch hier trifft deskriptiv das Ineinander von Ganzem und Teil sowie dessen Vollzug durch fur sich seiende Individuen zu. Ganz deutlich wird aber, dass dieses bloße Gegeneinander und die unbewusst dadurch entstehende Sozialform ein defizienter Zustand sozialer Wirklichkeit ist. Soziale Wirklichkeit (besser: Realität) gibt es also auch in der bürgerlichen Gesellschaft (diese ist genau genommen sogar eine - wenngleich nicht zu Bewusstsein erhobene - Gemeinschaftsform). Diese soziale Wirklichkeit ist aber gegen ihren eigentlichen Begriff als defizient wahrgenommen bei den Kritikern der bürgerlichen Gesellschaft. So ist der Begriff des Sozialen normativ: Weil menschliche Individuen selbstbewusste Personen sind, ist ihr bewusster Bezug auf die sie umfassende Ganzheit gefordert, damit diese Ganzheit nicht von den zufälligen Umständen der kumulierten Einzelhandlungen geprägt ist, sondern von einem auf die Ganzheit bezogenen Willen her gestaltet wird. Gemeinschaft als Gemeinschaft selbstbewusster Individuen ist nicht natürlich-instinktgeleitete, sondern politische Gemeinschaft. Weil menschliche Gemeinschaften als solche ursprünglich immer schon in ihre Individuen auseinander treten, müssen sie immer schon als Gemeinschaften gesetzt und affirmiert werden. Je stärker die Individuen realiter auseinander treten, desto bewusster muss diese Gestaltung erfolgen. Diese bewusste Gestaltung soll dabei nicht vom Begriff natürlicher, gewohnheitsmäßiger Gemeinschaft her erfolgen, da diese gar keine im eigentlichen Sinn menschliche Gemeinschaft ist (s.o.). Sie kann aber auch nicht vom zufallig so gebildeten gesellschaftlichen Miteinander eigeninteressierter Einzelmenschen her erfolgen, sondern muss nach dem Begriff menschlicher Gemeinschaften (gemeinschaftlich-gesellschaftlicher Sozialformen) gestaltet werden. Dies ist die Idee der wechselseitigen Prägung von Ganzem und Teil (Gemeinschaft),
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wobei die ,Teile' selbstbewusste Personen sind (Gesellschaft), die sich willentlich auf ihr Miteinander als solches beziehen (politische Gemeinschaft). John Samples spricht von „two fundamentally distinct forms of community" bei Tönnies. Einerseits die durch natürliche Umstände geprägte reale Gemeinschaft, andererseits eine durch „the projected full emergence of reason [...] based on cooperation and common ideals (an Gemeinschaft des Geistes), a social form which had no clear reference in history", die auf dem individuellen Willen freier und gleicher Personen fuße.202 Solange keine politische Gemeinschaft als der eingeprägte Wille aller Personen gegeben ist, hat dieser Wille kürwillige Form, erst wenn sie gegeben wäre und sich fast unbewusst weiter fortbilden würde, wäre dieser Wille wesenwillig, d.h. seine äußere Form wäre der sozialen Wirklichkeit angemessen und nicht bloß abstrakt. Es ist sehr fraglich, inwiefern politische Gemeinschaft jemals wesenwillig sein könnte oder ob sie stets zu erstrebendes Ziel bleiben muss, dessen Möglichkeit wir jetzt schon denken können und von dem her wir unser jetzt gegebenes Miteinander ordnen (sollten). Zu bedenken ist aber zugleich, dass es keine echte Gemeinschaft menschlicher Wesen gibt als die, für die wir uns als einzelne selbstbewusste Personen entscheiden, also keine andere als eine im weitesten Sinne politische Gemeinschaft.203 Die Wirklichkeit des Sozialen ist also deskriptiv wie auch normativ als ein Ineinander von Gemeinschaft und Gesellschaft zu erfassen, insofern das Miteinander denkender und denkend wollender Personen einerseits zwar als entwickelte Einheit eines Ganzen und seiner Teile, andererseits und zugleich aber als jetzt vollzogenes Mit- und Gegeneinander selbstbewusster Einzelpersonen zu verstehen ist. Die Vereinseitigung verliert die Wirklichkeit des Sozialen aus dem Blick. Es sind weder solche im Miteinander gebildeten Praxisformen angemessen, die dem Individuum gegenüber indifferent sind, noch solche, die bloß zufälliges Produkt egoistischer Einzelinteressen sind. Angemessen sind solche Formen, in denen sich die selbstbewussten Individuen sowohl auf ihr eigenes Handeln für sich als auch auf ihr Handeln fiir das Ganze beziehen. Zugleich muss das Ganze in seinen Teilen einerseits auf sich sehen, selbstbezüglich in seinen Teilen sein, und zugleich auf die es reflektierenden Individuen als prinzipiell freie und gleiche sehen und sie als solche anerkennen. Einen so in sich differenzierten Begriff des Sozialen, der sowohl deskriptive als auch normative Kraft hat, erhält Tönnies durch die begriffslogisch begründete Diffe-
202
Samples 1989, S. 16. So auch Schlüter und Clausen, die eine Renaissance der Gemeinschaft bei Tönnies nur als eine der „Polis oder politische[n] Gemeinschaft" verstehen wollen, in der Gemeinschaft und Gesellschaft vermittelt sind (vgl. Schlüter/Clausen 1990, S. 14). Vgl. auch Salomon, In Memoriam Ferdinand Tönnies, S. 44f. sowie vage auch Bellebaum 1966, S. 184. Mit der Etablierung eines zweiten Gemeinschaftsbegriffs ist ein wesentliches Element der Plessnerschen Theorie zu Gemeinschaft und Gesellschaft vorweggenommen, wie er sie in den Grenzen der Gemeinschaft entwickelt (siehe Kap. 6.1 in dieser Arbeit).
203
Analog Vogl: „Gemeinschaft verliert sich gerade dort, wo sie auf eine Repräsentation zur Herstellung und Wahrung einer Einheit nicht verzichten kann, und sie erhält sich selbst nur im Rekurs auf jene Grenze, die die Grenze ihrer eigenen Auflösung ist" (Vogl 1994, S. 9).
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renzierung in Gemeinschaft und Gesellschaft, obgleich beide Begriffe für sich genommen ,unwahr' sind. e) Souveränität und politische
Gemeinschaft
Ich komme hier nun auf den ersten, weiter oben (in 3.2a) genannten Punkt zurück: In welchem Verhältnis steht Tönnies' Sozialphilosophie zur Tradition des Kontraktualismus insbesondere Hobbesscher Tradition? Da Tönnies scharfer Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft ist, muss vorderhand angenommen werden, dass er für Hobbes' Theorie der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft durch die Idee des Souveräns nicht viel übrig hat. Bereits im ersten Teil meiner Ausführungen zu Tönnies hatte ich angedeutet, dass dem nicht so ist (vgl. 2.2). Die These wäre sogar, dass Tönnies Hobbes' Ideen zum Teil nahtlos übernimmt, freilich ohne die zu Missverständnissen anregende Apologie der absolutistischen Monarchie.204 Weiterhin ist die Hobbessche Theorie bei Tönnies angereichert durch eine Theorie der Prägung der Individuen (Theorie der Gemeinschaft), in der die prinzipiell freien und gleichen Personen (Theorie der Gesellschaft) realisiert sind, durch die Gemeinschaftlichkeit außerhalb staatlicher Regelung denkbar ist. Ich will die Überlegungen zum Souveränitätsbegriff hier nur knapp umreißen, weil sie einen wesentlichen Bestandteil im folgenden vierten Kapitel ausmachen. Die sich hier möglicherweise anschließende Frage, ob mit der Nähe zu Hobbes nicht die in diesem Abschnitt mitgeführte Nähe zu Hegel aufgegeben werden muss, weil Hegel den Kontraktualismus strikt ablehnte, will ich hier nicht explizit diskutieren. Inwiefern ich meine, diese Frage verneinen zu können, wird am Rande ebenfalls in Kapitel 4 zur Sprache kommen. Das bei Tönnies konstatierte Prinzip organischer Ganzheiten, ihren einzigen Zweck der Fortdauer in ihren Individuen zu verfolgen, ist auf menschliche Gemeinschaften übertragen analog dem Zweck des Souveräns bei Hobbes. Dieser besteht in nichts anderem als darin, in seiner übermenschlichen Fortdauer die Fortdauer der konkreten menschlichen Individuen zu sein und zu garantieren. Der Hobbessche Souverän hat keinen anderen Zweck als seine Fortdauer und die hat er nur, wenn er den Schutz von Leib und Leben der durch ihn repräsentierten Individuen gewährt. Durch den Souverän befinden sich die Personen nicht im Kampf eines jeden gegen einen jeden um ihr individuelles Überleben (Naturzustand), weil sie diese Sorge um ihr unmittelbares Dasein mit anderen je schon abgegeben haben (bürgerlicher Zustand). Hobbes vergleicht in der prominenten Einleitung sowie im 23. Kapitel des Leviathan die politische Gemeinschaft mit einem echten Körper, der Arme, Beine, Gehirn, Blutgefäße und Gelenke hat. Dieser Körper wird durch den Souverän repräsentiert. Die künstliche Person des Souveräns, die von den freien und gleichen natürlichen Personen zwecks ihrer Einigung zu einem einzigen Willen autorisiert wurde, ist also analog einem Organismus. In der Forschung ist es inzwischen mehr oder weniger Konsens, dass Hobbes diesen Akt der Einigung der sich bekriegenden Ein204
Die systematische Bedeutung der Monarchie zweifelt er im Übrigen bereits fur Hobbes an (vgl. Tönnies, Hobbes, S. 209ff. u. S. 249ff.), mit dem er sogar Hegel für dessen Monarchiegedanken kritisiert (vgl. Tönnies, Hegels Naturrecht, S. 258f.). Vgl. weiterführend dazu Rudolph 1995, S. 72.
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zelpersonen durch einen Vertrag nicht als historisches Ereignis verstanden wissen wollte, sondern dass die „wirkliche Einheit aller in ein und derselben Person" durch einen Vertrag eines jeden mit einem jeden, ihre Gewalt über ihr Leben abzugeben, so zu verstehen ist, „als hätte jeder zu jedem gesagt: Ich autorisiere diesen Menschen .,.".205 Der Vertrag selbst ist fiktiv, ebenso wie die Person des Souveräns fiktiv und nur durch den oder die sie vertretenden wirklichen Menschen wirklich ist. Die Organizität findet sich bei Tönnies nun aber auf der Ebene der lebendigen Einheit von Ganzem und Teil, die gegenüber dem Individuum indifferent ist. Zunächst verfolgen die vergemeinschafteten Individuen unbewusst in ihrem Dasein den Fortbestand eines ihren eigenen Fortbestand sichernden Ganzen (Gemeinschaft). Dieses Verhältnis lässt sich nicht im Sinne des Hobbesschen Naturzustandes formulieren, da die Einzelnen als solche in Tönnies' Gemeinschaft gar nicht begegnen. Wichtig ist hier: Die Gemeinschaftsform ist das, was die Individuen überdauert und sie von außen umfasst. Ihr einziges Interesse besteht in ihrer Dauer. Dies hat sie mit Hobbes' Souverän gemein. Vor dem Hintergrund meiner obenstehenden Überlegungen lässt sich nun aber sagen: Diese Gemeinschaft als lebendige Einheit von Ganzem und Teil gibt es zwischen Menschen als denkenden und denkend wollenden Wesen nicht. Diese Einzelnen sind je schon prinzipiell frei und gegeneinander gleich. Gibt es für diese Freien und Gleichen keinen ihnen bewussten Bezug auf eine sie umfassende Ganzheit, so zerfällt diese leicht unter innerem oder äußerem Druck, so dass dann atomisierte Einzelne übrig bleiben, die gegeneinander keine Pflichten haben. Ein Ganzes, so auch Tönnies, zerfallen in seine Teile, ist nicht mehr Ganzes und Teile, denn nun sind neue Ganzheiten entstanden, die sich wiederum nur um ihre Dauer sorgen (wie etwa eine Dorfgemeinschaft in Zeiten großer Not zunächst in ihre Familien zerfallt und dann diese in ihre Individuen): Hier nun steht Einzelwille gegen Einzelwille. Es sind hier - man beachte - nun sogar die Wesenwillen, die hier einander kreuzen. Wenn eine Gemeinschaft den Fortbestand ihrer Teile (Individuen) nicht mehr garantieren kann, zerfallt sie in zunächst kleinere Gruppen und zuletzt in Individuen, die sich um sich selbst sorgen und so auch gegen andere um ihre Dauer kämpfen müssen - der Krieg eines jeden gegen einen jeden droht also bei Zerfall der Gemeinschaft einzutreten. Dies nun ist der Naturzustand bei Hobbes. Doch auch bei Tönnies ist dieser Zustand kein Zerfallsprodukt aus der ursprünglich lebendigen Einheit, da diese ja immer schon der Möglichkeit nach in ihre Einzelwesen auseinandertritt. Insofern haben wir es bei Tönnies mit zwei Spielarten des Naturzustandes zu tun: einer, in der es Gemeinschaften gibt, die aber in ihrem Dasein kontingent sind und jederzeit in ihre Einzelindividuen zerfallen können, und einer zweiten, in der die Einzelindividuen gegeneinander stehen und sich zum Zweck der eigenen Fortdauer bekämpfen. Man könnte von latentem und manifestem Naturzustand sprechen. Das je schon angelegte Auseinander-Treten bestehender Gemeinschaften setzt also faktisch einzelne Individuen frei, denen es nurmehr um ihren eigenen Fortbestand geht. Deren Miteinander als ein Gegeneinander bildet nun die bürgerliche Gesellschaft. Der 205
Hobbes, Leviathan, S. 134.
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Naturzustand als Kriegszustand ist bei Tönnies als bürgerlicher Zustand zu verstehen. Auch Hegel begreift die bürgerliche Gesellschaft als „Kampfplatz des individuellen Privatinteresses aller gegen alle".206 Doch ist bei beiden zu bedenken, dass die scheinbar ursprünglichen Praxisformen der Gemeinschaft je schon notwendig überschritten sind zur bürgerlichen Gesellschaft hin. Es ist weiterhin zu bedenken, dass das Gegeneinander freier und gleicher Individuen niemals für sich genommen den Anfangspunkt bildet: Wir sind niemals solche freien und gleichen Personen, sondern immer schon vergemeinschaftet, geprägt in bestimmten Sozialformen. Dieses wesentliche Moment hatte Hobbes lediglich ausgespart, als er vom Naturzustand einander als Freie und Gleiche begegnender Menschen sprach, weshalb man ihm vorwarf, er habe etwa den Zusammenhalt in der Familie nicht bedacht. Ob er dies nun bedacht hat oder nicht: Tatsächlich ist die Überlegung zu den ursprünglich Freien und Gleichen nicht falsch, denn als solche stünden Menschen sich außerhalb jeder Regelung ihres Miteinanders gegenüber, wären sie nicht je schon durch die sozialen Umstände geprägt. So also sind die egoistischen Einzelindividuen als Zerfallsprodukt ehemaliger Gemeinschaften betrachtet, auch als ,Kinder' dieser Gemeinschaften zu sehen: Sie sind so und so bestimmt durch die gelebten Sozialformen. Die Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft hat nicht übersehen, dies zu beachten, und nur sehr selten - etwa in der politischen Romantik Adam Müllers, Joseph von Görres' oder Novalis' finden sich derlei Anklänge - zur Rückkehr in den Feudalismus aufgerufen. Die in egoistische Einzelindividuen verfallene', .ursprüngliche' Gemeinschaft in ihrer .bürgerlichen' Manifestation ist in dieser Hinsicht sogar als noch unvollständiger Fortschritt' zu betrachten; darin waren sich der Deutsche Idealismus und sein materialistischer Kritiker Marx einig. Rousseau hat etwas von dieser Problematik bereits im zweiten Diskurs erkannt, wenn er Hobbes vorwirft, er habe im Leviathan bloß eine Theorie für eine verkommene bürgerliche Gesellschaft, mitnichten aber eine allgemeine Theorie legitimer Herrschaft entworfen. Die eigensüchtigen Individuen, von denen Hobbes spreche, gebe es möglicherweise im zerrütteten England des 17. Jahrhunderts, sie seien aber nicht repräsentativ für den Menschen an sich, so Rousseau.207 Vom Rousseauschen Gesellschaftsvertrag her scheint mir diese Kritik an Hobbes nicht mehr konsistent zu sein, vom zweiten Diskurs her ist sie aber zwingend, weil Rousseau hier den Gedanken natürlich-friedvollen Miteinanders an den Ursprung legt, das dann erst aus vielerlei Gründen zerfällt. Möglicherweise übt Tönnies diesen Vorwurf an Hobbes nicht, weil er erkannte, dass die Idee gemeinschaftlichen Daseins ausschließlich politisch zu denken ist. Wenn dem so wäre, hätten wir eine Verdoppelung des Naturzustandes bei Tönnies, die den Rousseauschen Naturzustand des zweiten Diskurs und den Hobbesschen Naturzustand inkorporierte: Rousseaus Gedanke natürlich-friedvollen Miteinanders gliche Tönnies' natürlicher, aber kontingenter Gemeinschaft. Sobald die Gemeinschaft zerfällt, wird sie zum Hobbesschen Naturzustand des Kampfes eines jeden gegen einen jeden. (Oben habe ich diese beiden Naturzustände latent und manifest genannt.) Anders als der frühere Rousseau schlägt Tönnies nun aber 206 207
Hegel, Grundlinien, S. 458 (§ 289). Vgl. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, S. 215-221.
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eine Lösung vor, die der Hobbesschen gleicht: Die politische Gemeinschaft soll in den gesellschaftlichen Naturzustand die Idee gemeinschaftlichen Miteinanders einfuhren. Die Vorteile dieses „bürgerlichen" Zustandes gegenüber dem Rousseauschen Naturzustand sind beträchtlich: Unangepasste Individuen dürften durch den politischen Gedanken der Gleichheit nicht ausgeschlossen werden, politische Bildung müsste die Individuen auf das Ganze beziehen. Bei äußerer oder innerer Bedrohung zerfiele die Gemeinschaft nicht sofort in ihre Teile, sondern bestünde sehr viel fester fort. Die Idee der Gemeinschaft als nicht-sinnliche, durch das Dasein der Individuen gewordene Form muss sinnlich werden im Bild einer politischen Gemeinschaft, die eine Ordnung konstituiert, die das lebendige Ganze angemessen vertreten muss. Die politische Gemeinschaft soll sich aber nicht vom Zerfallsprodukt einer zufalligen ehemaligen Gemeinschaft her bestimmen lassen - also keine Ordnung fixieren, die das Gegeneinander der Individuen legitimiert oder ursprünglich-gemeinschaftliche Muster wie das Patriarchat fortschreibt, sondern von der Idee einer echten Gemeinschaft her. Hier ist vor allem die Gleichheit der Teile für das Ganze von Bedeutung sowie die auf der Ebene politischer Gemeinschaft eingeführte Bedeutung des Individuums, durch dessen freie Zustimmung sich die Organisation erst rechtfertigt. Die organisierte ,echte' Gemeinschaft ist eine Fiktion (künstliche Person), insofern sie anders als in einer konstruierten Form nicht erkennbar ist. Von dieser Fiktion einer ursprünglichen Gemeinschaft her soll sich aber ein politisches Ganzes prägen, das zugleich nur das Abbild einer solchen sein kann, also bewusst in seinen Individuen als Idee verwirklicht werden muss. Die Ursprünglichkeit ist insofern in der Idee einer politischen Gemeinschaft bloß latent, sie kann nie real sein. Die politische Gemeinschaft soll aber idealiter die Einheit nicht bloß von außen her bilden, sondern sie von innen, von ihren Grundstrukturen her erfassen. Erst wenn diese Form in den selbstbewussten Individuen reflektiert ist, handelt es sich um eine echte Einheit. So wäre also die Hobbessche künstliche Person auch bei Tönnies die Lösung der Aporien der bürgerlichen Gesellschaft als dem notwendig möglichen sowie historisch realen Zerfallsprodukt vermeintlich ursprünglicher Gemeinschaften. Diese Person würde zunächst durch die Zustimmung der vielen freien und gleichen natürlichen Personen von außen dem Miteinander eine Ordnung geben. Diese Ordnung soll nun aber nicht einfach von den zufalligen Bedürfnissen quasi-atomisierter Individuen geprägt sein208, sondern von der Idee der Gemeinschaft als eine die Einzelnen zu deren Schutz überdauernden Form her, die je dadurch gegeben ist, dass es Personen nie außerhalb von Vergemein208
Dies wäre der abstrahierende, vom Gegebenen abgezogene Begriff; ein bloßes Verstandes-Allgemeines, das nicht mit dem Vernunft-Allgemeinen vermengt werden soll (vgl. Hegel, Grundlinien, S. 369 (§ 216, Anmerkung)). Habermas hat das Problem der vernünftigen Ordnung 1976 mit der Frage angesprochen, wie komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden können (Habermas 1976). Sein Antwortversuch unterscheidet sich dadurch von den hier vorgetragenen Überlegungen, dass er annimmt, Orientierung könne nicht mehr im Rahmen institutioneller Organisation erfolgen, sondern würde sich global entfalten. Im Gegensatz dazu nehme ich mit Tönnies und Hegel an, dass gemeinsame Orientierung nie anders als in institutionellen Rahmen (so klein und flüchtig sie auch sein mögen) stattfinden kann (vgl. hier Kap. 4).
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schaftungsformen gibt. Auf der Ebene dieser Idee von Souveränität kehrt die vermeintlich ,ursprüngliche' Gemeinschaft als Möglichkeit dauerhafter politischer Gemeinschaft denkender und denkend wollender, prinzipiell freier und gleicher, doch stets individuierter Menschen wieder.209 *
*
*
Begriffslogisch hängen Gemeinschaft und Gesellschaft also in ähnlicher Weise zusammen wie bei Hegel unmittelbares Sein und vermitteltes Wesen als Stufen des Gedankens: Sie sind je für sich unwahr und gehen notwendig auseinander hervor und ineinander über. Punkte des notwendigen Überganges sind die bei Tönnies angestellten Überlegungen zum Begriff menschlicher Gemeinschaft, zum Verhältnis von Inhalt und Form bzw. von Typus und fiktiver Einheit im Personbegriff. An diesen Punkten erwies sich jeweils, dass Tönnies' begriffliche Darlegungen niemals nur in ihrer Einseitigkeit auf eine der beiden Sozialformen bezogen zu denken sind. Die Begriffe verweisen ihrer Logik nach aufeinander, wie es bei Hegel auch der Fall ist. Zusammen erst ergeben sie einen Begriff sozialer Wirklichkeit. Soziale Wirklichkeit ist so stets zugleich -
das quasi-organische Verhältnis unwillkürlicher wechselseitiger Prägung der gelebten Sozialform (Ganzes) und ihrer Individuen (Teile) und
-
das bewusste Handeln denkender und denkend wollender Menschen, die als freie und gleiche, voneinander unabhängige Personen auftreten.
Das Verhältnis wechselseitiger Prägung und Beeinflussung des Ganzen durch die individuellen Handlungen muss den Einzelnen nicht bewusst sein. So ist das quasi-organische Verhältnis unbewusst. Durch kontingente Umstände zerfallene Gemeinschaften treten realiter in die durch sie geprägten Individuen auseinander, die durch ihr Verhalten wiederum eine Sozialform ausbilden. Für diese Vergemeinschaftungsform hat sich der Titel bürgerliche Gesellschaft' ausgeprägt. Die Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft ist nun weder bei Tönnies noch bei Hegel als ein Zurückfallen hinter diese zu begreifen, sondern als Kritik an der Naturalisierung der gegebenen Verhältnisse, indem jeder Einfluss der sozialen Verhältnisse auf das Handeln der Einzelnen negiert und so in die vorsoziale ,Natur' des Individuums verlagert wird. Darin stimmen sie weiterhin mit Marx überein. Problematisch ist die bürgerliche Gesellschaft gerade deshalb, weil die vermeintlich freien und gleichen Personen eben nicht frei und gleich sind, sondern sozialer Prägung unterliegen. Es muss nun darum gehen, die vorhandene Sozialform zu Bewusstsein zu erheben und sie nach der Idee einer die Individuen umfassenden Sozialform in eine po209
Es sei darauf hingewiesen, dass der hier im Hintergrund stehende Begriff von Souveränität eher dem Rousseauschen der Volkssouveränität als dem der Hobbesschen Staatssouveränität entspricht - wenngleich ich die Ansicht vertrete, dass sie ihrer Struktur nach keine gravierenden Unterschiede aufweisen, muss doch eingeräumt werden, dass die demokratischen Potentiale im Leviathan eher diskret sind und insofern Rousseaus Gesellschaftsvertrag heute anschlussfähiger ist.
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litische Gemeinschaft umzubilden. Dabei ist natürlich stets eine bestimmte Verfasstheit (Gemeinschaftsform) anzunehmen. Diese ,zerfallt' niemals ganz, sondern besteht als unbewusste oder jedenfalls unwillkürliche Prägung fort. Diese Verfasstheit soll Gegenstand bewusster politischer Gestaltung sein, die sich am Begriff sozialer Wirklichkeit orientiert. Angemessen ist sie dann, wenn sie sowohl auf das kulturell und individualgeschichtlich geprägte Individuum sieht als auch auf die umfassende Sozialform, die nicht bloß die Summe von Einzelhandlungen sein, sondern dem allgemeinen Interesse entsprechen soll. Dies ist die normative Seite des spekulativen Begriffs des Sozialen, auf die ich nun näher eingehen werde. Damit bewege ich mich weiterhin in dem sehr theoretischen Tönniesschen Begriffsrahmen und schiebe die Konkretisierung der begrifflichen Logik wie angekündigt in den zweiten Teil der Arbeit auf (6.2).
4. Konsequenzen für eine Politische Philosophie Ich wiederhole: es liegt durchaus in meinem Sinne, geltend zu machen, daß ein freier Zusam[m]enschluß, zu gegenwärtiger, wie zu jeder Zeit, auch wahre und vollkom[m]ene Gemeinschaft, ja die höchste Form der Gemeinschaft begründen könne - wenn die Gemüter gehörig dazu beschaffen, und mit Anspannung der Kräfte darauf gerichtet sind.210
Obgleich Tönnies sich mit guten Gründen gegen politische Instrumentalisierungen seiner Schrift verwehrt, lässt sich doch Einiges über die Konsequenzen seiner Sozialphilosophie für eine politische Philosophie und sogar für die politische Praxis sagen.211 Dies kann im Rahmen kritischer Philosophie weder nach dem Muster eines Handbuchs für Ethik geschehen, in dem sich Lehrsätze zum rechten Handeln finden, noch kann daraus direkt ein politisches Parteiprogramm abgeleitet werden. Tönnies selbst hat sich an die Formel gehalten: „strenge Beschränkung auf theoretische Erkenntnis; die Frage, ob und wie fern praktische Wissenschaften wie Ethik und Politik möglich seien, würde dabei offen gelassen". 212 Diese epochë hält Tönnies dennoch nicht davon ab, sich politisch sehr wohl zu äußern und sich als „Fürsprech entschiedener und weitgehender sozialer Reformen" zu bekennen; er vertrete „die Richtung auf das Ziel einer Volkswirtschaft, die auf die Befriedigung der vernünftigen Bedürfhisse aller [...] planmäßig einzustellen wäre, anstatt wie die gegenwärtige auf die möglichst großen Gewinne der Kapitalisten
210 211
212
Tönnies in einem Brief an Höffding vom 14./19. Oktober 1988 (Bickel/Fechner 1989, S. 40). Schlüter arbeitet eine kurze Skizze aus, inwiefern Tönnies' Dialektik als praktische Philosophie zu verstehen ist bzw. dorthin führt (vgl. Schlüter 1991a, insbes. S. 20). Der Zusammenhang von Soziologie und Ethik wird bei Bellebaum skizziert, der mit Bezug auf Tönnies annimmt, „daß die empirischen Wissenschaften zur Lösung von Sollfragen zumindest beitragen" (Bellebaum 1966, S. 166, vgl. auch ebd., S. 181f.u. S. 188). Einige Vorüberlegungen zu einer Ethik bei Tönnies finden sich bei Josef Gunz (Gunz 1991). Tönnies, Selbstdarstellung, S. 29, vgl. auch ebd., S. 15f.
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und Händler".213 Tönnies versteht revolutionäre Umwälzung aber nicht als die geeignete Methode zur Verwirklichung dieser Richtung, sondern neigt sozialreformerischen Ideen bezüglich Bodenbesitzrecht und Volkshochschulwesen zu. Diese Reformen sollen in Genossenschaften verfolgt werden, zudem ist Tönnies bestrebt, die Beamten und Angestellten mit den Arbeitern zusammenzubinden, um so „der Großindustrie einen gemeinwirtschaftlichen Charakter zu geben".214 Wie kann Tönnies zu diesen politischen Aussagen kommen, ohne seiner streng theoretischen Ausrichtung untreu zu werden? Inwiefern ist das Zusammenspiel von deskriptiven und normativen Elementen in Tönnies' Sozialphilosophie vereinbar mit seiner sozialpolitischen Haltung? Ich nehme die im letzten Kapitel entwickelte Frage wieder auf: Wenn es keine wahre Gemeinschaft gibt außer der, für die sich Individuen in einer politischen Gemeinschaft bewusst entscheiden, von wo gestaltet sich dann diese politische Gemeinschaft, wenn nicht vom Gewohnten der zufällig so-und-so entstandenen Gemeinschaft und auch nicht von den zufälligen Einzelinteressen her? Auf welches Allgemeine der Gemeinschaft berufen sich die Individuen, wenn nicht auf das kontingent gegebene bloß Gemeinschaftliche?215 Wie ist ein universelles Allgemeines möglich, das der sozialen Wirklichkeit in ihrer inneren Differenziertheit gerecht wird und auf das sich bewusstes Handeln normativ berufen kann, ohne vom Gegebenen vollkommen losgelöst (also dogmatisch) zu sein? Das Sollen auch im politischen Sinn ist nicht losgelöst vom Sein, sondern - wenngleich es nicht dieses selbst ist - es ist in diesem. Politisches Handeln muss daher zugleich realistisch im Verhältnis zu den gegebenen Möglichkeiten und programmatisch den normativen Implikaten des Begriffs des Sozialen entsprechend sein. Tönnies' Auseinandersetzung mit den Begriffen von Recht (4.1) und Staat (4.2) als zentralen Elementen einer Sozialphilosophie zeigt, inwiefern er nach einem solchen Ansatz strebt. Ich habe diese Bemühungen unter den Titel GcseWschaftsförmigkeit und Gemeinschafts/ó'rw/gfeí'í gefasst (4.3); diese Formen sind immer empirisch konkretisiert zu denken und daher weder rein empirisch, noch vollkommen abstrakt, sondern wirklich im Hegeischen Sinne.
213 214 215
Ebd., S. 34. Ebd., S. 35. So Hegel: ,,[D]as Allgemeine des Begriffs [ist] nicht bloß ein Gemeinschaftliches [...]. Es ist von der größten Wichtigkeit sowohl für das Erkennen als auch für unser praktisches Verhalten, daß das bloß Gemeinschaftliche nicht mit dem wahrhaft Allgemeinen, dem Universellen, verwechselt wird" (Hegel, Enzyklopädie I, S. 312 (§ 163 Zusatz)). Vgl. auch Rousseaus Differenzierung zwischen einer volonté générale und einer volonté de tous in seinem Gesellschaftsvertrag (vgl. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, Kap. 1.6). Analog fordert Schnädelbach gegen den Neoaristotelismus, dass man nicht beim „bloß pragmatisch-allgemeinen Ethos" stehenbleiben könne, sondern zum „Prinzipiell-Allgemeinen der praktischen Vernunft" übergehen müsse. Sonst sei Ethos Ausdruck einer ,,konservative[n] Ideologie" (vgl. Schnädelbach 1986, S. 56).
K O N S E Q U E N Z E N FÜR EINE P O L I T I S C H E P H I L O S O P H I E
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4.1 Recht Die Diskussion des Rechtsbegriffs bewegt sich bei Tönnies zwischen Universalismus und Partikularismus, zwischen einem differenzierten Begriff des rationalen Naturrechts und der rigorosen Ablehnung der historistisch-positivistischen Rechtsschulen der Romantik und des ausgehenden 19. Jahrhunderts von Friedrich Carl von Savigny bis Gierke. „Recht ist, in jedem Sinne, nichts als gemeinsamer Wille", definiert Tönnies und erläutert weiter, dass dieses Recht „als natürliches Recht" die „Form oder der Geist" der Verhältnisse im sozialen Körper oder zwischen einander begegnenden Willenssphären sei (GuG 195). Dieses natürliche Recht macht Tönnies sowohl für Gemeinschaft als auch für Gesellschaft geltend, da es beide Male Ausdruck eines gemeinsamen Willens sei. Es handelt sich dabei nicht um ein metaphysisches Naturrecht, da es immer ein gewordenes bzw. gemachtes sei. Tönnies differenziert nach den Ursprüngen dieses Gemachten, als deren natürliche' Produkte sie sich zeigen. Sowohl Gemeinschaft als auch Gesellschaft bringen also aus ihrem sie einigenden Willen Recht hervor.216 Das natürliche Recht der Gemeinschaft entspringe, so Tönnies, den Sitten und Bräuchen derselben, so dass Lebenspraxis und Ethos, die durch Einübung (consuetudo) tradiert werden, die basalen Normen der jeweiligen Gemeinschaft bestimmen. Wie im vorangegangenen Abschnitt dargestellt, ist eine solche Gemeinschaftsform in höchstem Maße fragil, weil sie unwillkürlich den sie bestimmenden Umständen ausgeliefert ist. Damit die Gemeinschaftsform dauerhaft sein kann, bedarf sie der positiven quasi-Rechtsformigkeit ihrer unmittelbaren Strebungen im Gewohnheitsrecht. Eine solchermaßen organisierte und daher nicht mehr vollkommen unmittelbare Gemeinschaft nennt Tönnies ein Gemeinwesen. Darin ist gemeinsames Handeln durch den im Gewohnheitsrecht ausgedrückten allgemeinen Willen möglich - die vollkommene Form der Selbst-Gleichheit ist hier durch sich selbst im Gewohnheitsrecht vermittelt aufgehoben. Den begriffslogischen Überlegungen entsprechend lässt sich menschliche Gemeinschaft gar nicht anders als in dieser Form auf sich selbst bezogen denken. Gemeinschaft hat immer schon ein Verhältnis zu sich selbst als ein So-und-so-Konstituiertes, dessen Willen auf Selbsterhalt geht. Insofern Menschen als denkende und denkend wollende Wesen ihre so überlieferte Lebenspraxis erhalten wollen, wirken sie bewusst (willkürlich) auf ihre Nachkommen ein, um sie in ihre Lebenspraxis hineinzubilden. Man kann also sagen, dass die Gemeinschaftsform durch ihre Teile auf sich nach innen zur Einheitsbildung zurückwirkt. Diese Wirkung von außen auf ein zu vereinheitlichendes Inneres hatte Tönnies aber der Sphäre der fiktiven Einheit, der Gesellschaft zugeordnet. In ihrem gewohnheitsrechtlichen Fortbestand ist menschliche Gemeinschaft bei Tönnies nicht anders als gesellschaftsförmig zu denken: Die Gemeinschaft soll in ihren Individuen reflektiert sein.
216
Zu diesen beiden Rechtsformen bei Tönnies, ihrer Problematik, ihrem Recht gegeneinander als „social tradition" und als „a concept of fairness" sowie ihrer Ergänzungsbedürftigkeit durch „Bureaucratic-administrative regulation" vgl. Kamenka/Erh-Soon Tay 1990, hier S. 149ff.
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DIALEKTIK DES SOZIALEN - FERDINAND TÖNNIES
Das natürliche Recht der Gesellschaft entspringe hingegen dem individuellen Wollen eines gemeinsamen Zwecks von zahlenmäßig Vielen. Das ist in der bürgerlichen Gesellschaft zunächst einmal das Streben nach dem eigenen Nutzen, so dass alle anderen Individuen zu potentiellen Kontrahenten werden. Dies ist die Ebene der bürgerlichen Gesellschaft, die Tönnies wie auch Hegel grundlegender Kritik unterziehen, die bei Hobbes als Naturzustand begegnet und die bereits Rousseau als bürgerliche Gesellschaft kennzeichnet und kritisiert. Insofern dieses Recht in der bürgerlichen Gesellschaft gewohnheitsmäßig überliefert ist, bildet es das Ethos derselben. Die Rechtsvorstellung der bürgerlichen Gesellschaft ist gemeinschaftsförmig gebildet: Das Streben nach eigenem Nutzen im Rahmen mehrwertorientierten Handelns wird begriffen als natürliches (naturgegeben-notwendiges) Recht. Eben dies kritisiert Marx an der Theoriebildung der politischen Ökonomie, dass sie das Gewohnheitsrecht der bürgerlichen Gesellschaft naturalisiere zu einem quasi-metaphysischen Recht, statt es als durch die Umstände evolviertes Recht zu begreifen.217 Wenn nun das Soziale immer schon in irgendeiner Weise verfasst ist, auf die wir uns als Denkende und denkend Wollende beziehen können, und wenn wir als Teile dieses Ganzen dessen Prägung unterliegen, wie ist dann die Umgestaltung dieser Verfasstheit nach anderen als den gegebenen Rechts vorstellungen möglich? Auf welches Recht beruft sich die auf das Ganze gerichtete Politik, wenn nicht auf die konkreten (natürlichen) Rechtsvorstellungen? Die Rechtsvorstellung darf nicht partikular sein und auch nicht von den konkreten Verhältnissen vollkommen losgelöst. Da die bürgerliche Gesellschaft ihre Statuten nur für den Stand der besitzenden Klasse formuliere, müsse, so Tönnies, das partikulare Interesse der bürgerlichen Gesellschaft durch das Bilden allgemeinerer Rechtssätze überwunden werden. Der „allgemeinste Ausdruck" sei dem Recht der Gesellschaft am natürlichsten (GuG231). Dieses muss ein Recht sein, das alle Mitglieder der Gesellschaft umfasst, also nicht subjektiver Ausdruck des Willens einer Gruppe innerhalb des sozialen Ganzen ist. Der größte Umfang dieser Rechtsidee sei nun, so Tönnies, das Allgemein-Menschliche selbst: Die prinzipielle Möglichkeit gemeinsamen Handelns, dem gemeinsamer Wille als das Recht der Handlung zugrunde liegt. So geht dieses Allgemein-Menschliche als Bedingung auch der Sitte als ein protoplasma des Rechtes" (GuG 205) bereits vorher. Es handele sich dabei um die Miktion",
217
Gewohnt polemisch heißt es: „gleiche Exploitation der Arbeitskraft ist das erste Menschenrecht des Kapitals" (Marx, Kapital I, S. 294). Gegenüber der bürgerlichen Rechtsvorstellung stehe aber das Recht der Arbeiter auf die volle Bezahlung der Arbeitskraft als „Recht wider Recht [...]. Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt", hier werde ein Kampf zwischen „der Klasse der Kapitalisten" und der „Arbeiterklasse", um die Geltung eines beide Male gleich begründeten Rechts ausgetragen (vgl. ebd., S. 241). Gamm spricht von der „Idee einer technisch-praktisch herstellbaren Gesellschaftsordnung", die im „Hintergrund der Marxschen Gerechtigkeitsvorstellung" wirke. Hier kehre die „Vernunftfreiheit der spekulativen Metaphysik - vom Kopf auf die materialistischen Füße gestellt - [...] wieder" (Gamm 1986, S. 169).
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daß ein Allgemein-Menschliches als Kern in allen sonderbaren Gebräuchen und Formen enthalten sei, und daß die bewußte Auffassung dieses Kernes mit demjenigen sich decke, was die Vernunft auch ohne alle Erfahrung denken und begreifen müsse (GuG 207 [meine Hervorhebung, NSch]). 218
Tönnies findet in diesem Kantischen Prinzip eine „aeterno veritas", die Grundlage des ,Jus gentium" sei (GuG 207). Die hierin implizierte Idee der Freiheit und Gleichheit der Menschen ist für Tönnies die lebenspraktisch zunächst vollkommen abstrakte (fiktive) allgemeinste Idee, die er als rationalistisches Naturrecht zu kennzeichnen weiß und der er einen ganz wesentlichen Stellenwert zuerkennt.219 Dies zeigt sich in Tönnies' Überlegungen zu den beiden Formen organisierten Zusammenlebens: Gemeinwesen und Staat.
4.2 Staat und Gemeinwesen Sowohl Tönnies als auch Hegel stellen den Analysen der bürgerlichen Gesellschaft den spekulativen Begriff eines ,wahren Staates' an die Seite. An Hegels Staatsphilosophie übt Tönnies die wenig originelle Kritik, sie sei durch ihre „antirevolutionäre oder konservative Denkungsart" eigentlich bloß „Apotheose des bestehenden Staates"220, Hegel erweise sich als Vordenker der preußischen Restauration.221 Zugleich erkennt er aber Hegels Versuch an, das alte Naturrecht aufzulösen und ein neues zu entwickeln, das im Staat Wirklichkeit haben soll. Tönnies formuliert die These, dass jede soziale Entität unter zwei Blickwinkeln betrachtet werden könne: Einerseits als Gemeinwesen, andererseits als Korporation oder Verein. Darauf habe ich oben mit den Begriffen Gemeinschafts- und Gesellschaftsförmigkeit hingewiesen. Als Gemeinwesen ist eine soziale Einheit sich selbst Zweck, sie ist fur ihre Fortdauer organisiert, besteht als so-und-so gegebene, vermittelt über Sitten und Bräuche fort. Das Recht als ihr allgemeiner Wille ist dabei vollkommen subjektiv, da es die Gesamtheit der Bräuche darstellt, hat aber ,kürwillige', also rationale Form als an die Individuen gegebenes Gewohnheitsrecht. Diese minimale Form der Rationalität erhält sich durch den Glauben, man müsse alles weiter wie überliefert tun, „weil alle es 218
Diese Kennzeichnung des Allgemein-Menschlichen als in allen seinen Besonderungen sich zeigend, belegt den öffentlichen Charakter des Allgemeinen, auf den auch Friedrich Kambartel hinweist (vgl. Kambartel 1986, S. 98f.). So ließe sich hier der Kambarteische Lebensformbegriff einführen, unter dem er „eine Weise der Orientierung verstehen [will], welche alle unsere Lebenssituationen und Lebensverhältnisse durchzieht" (ebd., S. 88).
219
Vgl. Rudolph 1995, S. 77-88. In diesem Sinne wendet sich Tönnies auch nicht einfach gegen das rationale Naturrecht, wie Gangl meint (vgl. Gangl 1996, S. 206). Tönnies, Neuere Philosophie der Geschichte, S. 491.
220 221
Gegen diese Lesart wenden sich u.a. Avineri 1975, Ilting 1975 und Werner Maihofer, der bei Hegel sogar sozialstaatliche Motive erkennt (vgl. Maihofer 1975, S. 368 u. S. 385). Kürzlich erst hat Honneth den Versuch einer Aktualisierung der Hegeischen Rechtsphilosophie unternommen (Honneth 2001).
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tun und die Väter es getan haben, und daß es so richtig sei, weil es immer so gewesen ist" (GuG 220). Das Gegebensein der bestimmten Verhältnisse zeige sich dem Mitglied als notwendig, obgleich es aus den Umständen entstanden und mit diesen veränderbar ist. Dass gegebene Verhältnisse nicht unbedingt den Bedürfnissen eines jeden Individuums entsprechen, ist einsichtig. Es ist auch gar nicht der Zweck der Gemeinschaft, dem individuellen Bedürfnis zu entsprechen, sondern sein Zweck ist der Erhalt des Ganzen in seinen Individuen - auf den allerletzten kommt es bei einer großen Menge nicht an. Diesen Punkt macht Tönnies in emanzipatorischem Gestus gegen den romantisierenden Blick zurück geltend: In der Tat aber war ein rationales, wissenschaftliches, freies Recht erst möglich durch die aktuelle Emanzipation der Individuen von allen Banden der Familie, des Landes und der Stadt, des Aberglaubens und Glaubens, der angeerbten überlieferten Formen, der Gewohnheit und Pflicht
(GuG 212).222 Diese Emanzipation wohnt aber der Gemeinschaft, die nur als Gemeinwesen überdauern kann, potentialiter inne, da menschliche Gemeinschaft je schon in ihre denkenden und denkend wollenden Individuen auseinander getreten ist. Tönnies nimmt mit Sir Henry Maines Ancient Law von 1861 einen notwendigen Fortgang vom gemeinschaftlichen Status, in dem ein jeder in soziale Verhältnisse geboren und von diesen bestimmt ist, zum gesellschaftlichen Kontrakt an, der gegen individuelle Unterschiede indifferent ist.223 Wie auch Rousseau in seiner republikanischen Vorstellung eines rechtmäßigen Staates feststellen muss, hat ein auf konkret-allgemeinem Willen (volonté générale) basierendes Gemeinwesen eine begrenzte Reichweite - es eignet sich maximal fur einen Stadtstaat, bei gänzlicher Unbekanntheit der Mitglieder untereinander und großen räumlichen Distanzen versagt es völlig. Je mehr Menschen zu einer Einheit zusammengebracht werden sollen, umso weniger konkret und abstrakt-allgemeiner muss der gemeinsame Wille sein. Je größer also ein Gemeinwesen wird, desto gesellschaftsformiger wird es. Aus diesem Grund denkt Tönnies den Staat - anders als der dagegen polemisierende Hegel - kontraktualistisch als einen großen Verein, der „auf einem Komplex von Kontrakten jedes mit jedem Subjekte" (GuG 229) beruhe. Das gesellschaftliche Bündnis sei bei einer großen Zahl von Personen die gegenüber der gemeinschaftlichen Verbindung adäquatere Form, da es nicht auf gleichen Verhältnissen entspringenden, geteilten sittlichen Vorstellungen (Verständnis) beruhe, sondern auf dem gleichen Interesse individueller Selbsterhaltung. Dieses gleiche Interesse aller Einzelnen ist für die allgemeine gesellschaftliche Verbindung Staat das Wohl dieser Vielen (salus populi), also der Schutz von Freiheit und Eigentum seiner Subjekte. (Die klassisch liberale Formel vom Eigentumsrecht muss hier wie bei Hegel im Lichte der Überlegung verstanden werden, dass Freiheit und folglich Rechtsfähigkeit
222 223
Diesen emanzipatorischen Aspekt betont auch Bickel (vgl. Bickel 1991, S. 288). Der „Kenntnis der Bücher Maines und seiner Formel ,νοη Status zu Contract', die ich auch bei Herbert Spencer wiederfand, sind einige Grundgedanken meiner Schrift .Gemeinschaft und Gesellschaft' entsprungen", schreibt Tönnies später in seiner Selbstdarstellung (vgl. Tönnies, Selbstdarstellung, S. 13).
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bereits durch den Besitz am eigenen Leib gegeben ist.224) Ein solcher Staat ist ein Rechtsstaat, sofern er dem (Natur-)Recht auf Selbsterhalt untersteht, das individueller Wille ist. Im Fahrwasser klassischer Vertragstheorie fuhrt Tönnies äußerst knapp seine Vorstellung eines volkssouveränen, gewaltenteiligen Staates aus, der auf der vertraglichen Abgabe der individuellen Gewalt beruht. Wie auch bei Hobbes wird der Staat vertragsbrüchig, wenn er den Erhalt des Individuums nicht gewährleistet und die Bürger als seine Mandanten dürfen sich unter Berufung auf das zugrunde liegende Naturrecht dem Staat widersetzen. Tönnies wartet aber noch mit einer zweiten Staatsvorstellung auf, in der der Staat identisch mit der konkreten Gesellschaft ist, womit die bürgerliche Gesellschaft gemeint ist. Dieser Staat ist kein Rechtsstaat, weil es kein Recht über ihm gibt, da sich das partikulare Interesse einer Gruppe hier als allgemeiner Wille geriert - die Politik ist hier vermeintlich das Naturrecht. Historisch figuriert findet Tönnies dies im kapitalistischen Staat, der nur den Interessen der besitzenden Klasse, nicht aber denen der lohnarbeitenden Klasse diene - also eine große Gruppe ihr Interesse des Selbst- und Eigentumserhalts nicht im bürgerlichen Recht ausgedrückt findet. Insofern das bürgerliche Recht nicht ihr Wille ist, ist sie vor ihm rechtlos. Der Staat sei so aber nichts als ein „fingirtes WillkürSubject, welches den übereinstimmenden Interessen ,Aller' d.h. in Wirklichkeit der Mächtigen, entspricht" 225 , so Tönnies über den Staat, der auf dem natürlichen Recht der historischen Sozialformation bürgerliche Gesellschaft' fußt. Allein in dieser Hinsicht kann davon gesprochen werden, dass Tönnies die „sozialintegrative und kohärenzerzeugende" Kraft des Staates „nicht zu sehen vermochte", wie Osterkamp meint226, oder dass bei ihm „Staat als Ausdrucksform der ,Gesellschaft'" allein der „Zweckrationalität" verpflichtet sei, wie Bickel Tönnies versteht.227 Denn Hegel wie Tönnies differenzieren sorgfältig zwischen bestehendem äußerem Staat und eigentlichem, wahren Staat. Der jetzt bestehende bürgerliche Staat legitimiert sich vom Konflikt einander widerstreitender Privatinteressen her (wie Hobbes' Leviathan). Wie aber kann dieser Staat, der kein echter Rechtsstaat ist, weil er nur einem partikularen Rechtsbegriff entspricht, zu einem alle Individuen in ihrem Recht sowohl als Teile als auch als freie und gleiche Individuen umfassenden Rechtsstaat umgewandelt werden? In seiner Rechtsphilosophie ist es Hegels Idee, dass der Privatinteressen regulierende äußere Staat eine innere Dimension in den Korporationen der drei bürgerlichen Stände (Bauern, Handel, Beamtentum) gewinne. In der Korporation werde das Privatinteresse überstiegen, so dass der Staat individuell gewollt werden könne und nicht mehr bloß äußerlich sei. Tönnies wirft nun Hegel vor, er sei in „wesentlicher Unklarheit über die wirklichen Processe des socialen Lebens" 228 geblieben, insofern er die Klasse der Besitzlosen nicht in seine Dreiständeordnung integriert hatte. Wenn aber das Recht alle Individuen umfassen soll, dann kann es nicht nur auf diesen drei besitzenden Ständen basieren. Die 224
Vgl. Hegel, Grundlinien, S. 122 (§ 57).
225
Brief von Tönnies an Höffgen vom 14./19. Oktober 1888 (Bickel/Fechner 1989, S. 40). Osterkamp 2005, S. 406. Bickel 1990, S. 44. Tönnies, Neuere Philosophie der Geschichte, S. 499.
226 227 228
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DIALEKTIK DES SOZIALEN - FERDINAND TÖNNIES
besitzlose Klasse fallt bei Hegel in keinen Bereich seiner Dreiteilung in Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat, sondern begegnet nur als Pöbel, der ihm Grund dafür ist, dass eine konstitutionelle Monarchie der Demokratie vorzuziehen sei.229 Im Pöbel trete ein bloßes Privatinteresse nach Selbsterhalt dem Staat gegenüber, der sich aber als allgemeiner um Einzelinteressen nicht bekümmern könne. Insofern aber die Bedingung des Staatsbürgertums die Freiheit zunächst negativ vom unmittelbaren Bedürfnis und dann positiv das Wollen des gemeinsamen Zwecks ist, kann der Mensch, der täglich um die Befriedigung seiner unmittelbaren Bedürfnisse ringt, der also das rechtmäßige Eigentum an seinem Leib zu behalten trachtet, nicht im hinreichenden Sinne frei werden, um citoyen zu sein. So versteht Marx die Zustände in der bürgerlichen Gesellschaft als Ergebnis einer nur teilweisen Revolution, in der nur „ein Theil der bürgerlichen Gesellschaft sich emancipili und zur allgemeinen Herrschaft gelangt", so dass zwar die ganze Gesellschaft revolutioniert („befreit") werde, aber „nur unter der Voraussetzung, daß die ganze Gesellschaft sich in der Situation dieser Klasse befindet, also z.B. Geld und Bildung besitzt oder beliebig erwerben kann". 230 Tönnies wirft Hegel diesbezüglich Kapitulation angesichts der bestehenden Verhältnisse vor, er mache genau dort Halt, „wo die Philosophie das bürgerliche Bewusstsein zu verletzen [...] droht".231 Im Anschluss an Marx ist es nun Tönnies'Anliegen, den Staat als die Wirklichkeit der Freiheit aller zu denken, in dem also auch der so genannte Pöbel der Nicht-Besitzenden als Korporation ein allgemeines Interesse haben kann.232 Zu diesem Zwecke können sich die Besitzlosen aber auf nichts als auf das Eigentum an ihrem Leib und Leben sowie auf ihre Freiheit und Gleichheit als Individuen berufen. In der Rechtsphilosophie verteidigt Hegel die ungleiche Verteilung der Vermögen als Resultat der naturgegeben ungleichen Anlagen und findet nichts daran, dass die „gesetzte Ungleichheit der Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft" nicht nur nicht aufgehoben, „sondern aus dem Geiste produziert" wird. Diesem Umstand die „Forderung der Gleichheit entgegenfzu] setzen, gehört dem leeren Verstände an, der dies sein Abstraktum 229
230
231 232
Tatsächlich hat Hegel bereits die Probleme verarmender Massen gesehen, wie der § 245 der Grundlinien zeigt, wo es heißt, dass eine reiche bürgerliche Gesellschaft nicht „reich genug" sei, um dem „Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels" abzuhelfen (Hegel, Grundlinien, S. 390 (§ 245)). Mit Bezug auf den Monarchen ist Karl-Heinz Iking der Auffassung, dass die „naturrechtliche Anlage" konsequent dialektisch entwickelt Hegel zur „Lehre der Volkssouveränität" statt zum „monarchischen Prinzip" hätte fuhren müssen (Ilting 2006, S. 70). Marx, Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, S. 179. Clausen weist als Herausgeber des 22. Bandes der Tönnies-Gesamtausgabe auf die passagenweise deutliche Nähe von Tönnies' Artikel Hegels Naturrecht zu Marx' Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie hin (vgl. Tönnies, Hegels Naturrecht, S. 252, Anmerkung zu Zeile 34). Tönnies, Neuere Philosophie der Geschichte, S. 497. In seiner Lesart schließt Tönnies hier auch an Hobbes' Souveränitätsbegriff an, als dessen „Kardinalproblem" er den ,,staatsrechtliche[n] Inhalt der Tatsache, [...] daß der Staat als Ausdruck eines nationalen Gesamtwillens in Erscheinung tritt" (Tönnies, Hobbes, S. 216f.), versteht, so dass das Gemeinwohl der wesentliche Antrieb souveränen Handelns sei. So meint Tönnies sogar, in Hobbes einen frühen Kritiker der Auswüchse des Kapitalismus (z.B. Pauperismus) zu erkennen (vgl. ebd., S. 268f.).
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KONSEQUENZEN FÜR EINE POLITISCHE PHILOSOPHIE
und sein S o l l e n für das R e e l l e und Vernünftige nimmt". 2 3 3 T ö n n i e s versteht d i e s e Formalismuskritik als Ausdruck der herrschenden K l a s s e , die - v o r m a l s selbst Primat individueller Freiheit
und Gleichheit
durch das
zur Herrschaft g e k o m m e n - nun „ein starkes
Interesse daran [hat], den v o l l e n K o n s e q u e n z e n der G l e i c h h e i t aller K ü r w i l l e n s f ä h i g e n sich e n t g e g e n z u s t e m m e n , insofern als d i e s e eine L e u g n u n g ihrer Superiorität enthalten" ( G u G 193). 2 3 4 U m aber die Willkürlichkeit der bürgerlichen Interessenherrschaft z u beg r e i f e n u n d sich z u m Subjekt des s o u v e r ä n e n W i l l e n s z u m a c h e n , bedürfe es d e s Rekurses a u f die abstrakte A l l g e m e i n h e i t der Gleichheit, die ständeübergreifend G e l t u n g haben m ü s s e (vgl. G u G 233). 2 3 5 S o g e w i n n t T ö n n i e s aus d i e s e m G e d a n k e n die s o z i a l p o l i t i s c h e Forderung „die A u s d e h n u n g d e s W e s e n s der G e s e l l s c h a f t a u f die w e i t e s t e n Volkskreise [ . . . ] durch die B e s e i t i g u n g aller U n t e r s c h i e d e , s o w e i t s o l c h e nicht in der Natur begründet sind", d e n n s o l c h e Gleichheit sei weiterhin „nicht ein E r z e u g n i s der Natur", sondern m u s s v o n P e r s o n e n g e s c h a f f e n werden. 2 3 6 O b g l e i c h H e g e l harsche Kritik an den abstrakten B e g r i f f e n Freiheit
und
Gleichheit
übt, sind d i e s e B e g r i f f e d o c h auch bei i h m Voraussetzung des w a h r e n Staates, der die A l l g e m e i n h e i t selbstbewusster, w o l l e n d e r Individuen ist. Unter G l e i c h h e i t a u s s c h l i e ß l i c h G l e i c h m a c h e r e i individueller U n t e r s c h i e d e zu verstehen, heißt, e i n M i s s v e r s t ä n d n i s zur R e g e l z u m a c h e n . Tatsächlich kritisiert H e g e l e i g e n t l i c h nur den v o l l k o m m e n e n M a n g e l
233 234
Hegel, Grundlinien, S. 354 (§ 200 Anmerkung). Die bürgerliche Kritik am Naturrecht habe „ihre sozialpsychologische Wurzel eingestandenermaßen in der Angst vor einer neuen Revolution" (Rudolph 1995, S. 79). Insofern, so Rudolph, setze Tönnies „die von der Bourgeoisie verleugneten Aufklärungspositionen in vielfacher Hinsicht fort; und im Zusammenhang damit reaktiviert er auch die der Aufklärung eigene und von den herrschenden Klassen verleugnete Naturrechtskonzeption" (ebd., S. 84), zudem sei Tönnies' Position in Verbindung mit der des Tönnies nahestehenden linken Soziologen Rudolf Goldscheid zu verstehen, der Analoges zum emanzipatorischen Charakter des Naturrechts äußere (vgl. ebd., S. 80f.).
235
Einen ganz ähnlichen Gedanken verfolgt Rancière: Im Sinne politischen Erscheinens fordert er, dass man nicht das „Prinzip der Gleichen" mit dem realen „Gesellschaftskörper" identifizieren dürfe - die tatsächliche Ordnung kann in ihrer notwendigen Kontingenz und Künstlichkeit nicht mit einer „Gemeinschaft der Gleichen" identisch sein. Die gesellschaftliche Ungleichheit vergleicht er dabei mit der Willkürlichkeit der Sprache - man müsse als „regulative Idee" die „Gleichheit eines Sagen-Wollens und eines Verstehen-Wollens" konstatieren, aber die Materialität der Sprache und der gesellschaftlichen Institutionen bedinge die aktualisierte Ungleichheit (vgl. Rancière 1994, S. 120ff.). So fordert Rancière ganz ähnlich wie hier Tönnies „Überprüfungsverfahren betreffs der Gleichheit" (ebd., S. 125), also der Gemeinschaftsidee, in die Gesellschaft einzuführen. Er spricht diesbezüglich von einer ,,kommunitäre[n] Pflicht" (ebd., S. 128) des politischen Kampfes gegenüber der „kommunistischen Passion" (ebd., S. 127) des Glaubens an eine Realität der Gleichheit. Vgl. auch Rancières Diskussion einiger Begründungsmythen politischer Philosophie im Hinblick auf den Status des ihnen inhärierenden Gedankens der Gleichheit und der möglichen Bedeutung für eine emanzipatorische Politik in Das Unvernehmen: „Da, wo der Anteil der Anteilslosen eingeschrieben ist, so zerbrechlich und flüchtig diese Einschreibungen auch seien, ist eine Einschreibungssphäre des Demos geschaffen, existiert ein Element des Kratos, der Macht des Volkes. Es geht also darum, die Sphäre dieses Erscheinens zu erweitern" (Rancière 2002, S. 99).
236
Vgl. Tönnies, Über die Entstehung meiner Begriffe, S. 466.
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DIALEKTIK DES SOZIALEN - FERDINAND TÖNNIES
an inhaltlicher Bestimmung der Begriffe. So heißt es in der Enzyklopädie, die Gleichheit der Menschen liege zunächst in ihrer nur abstrakten Freiheit als eigentumsfähige Personen zu existieren237, also ihren freien Willen in eine Sache legen zu können und somit rechtsfähig zu sein. Gleich seien sie aber von Natur aus nie, sondern diese Gleichheit sei „Produkt und Resultat von dem Bewußtsein des tiefsten Prinzips des Geistes und von der Allgemeinheit und Ausbildung dieses Bewußtseins"238 - sie würde folglich in einem sittlichen Staat Wirklichkeit haben. So kann Tönnies eigentlich wiederum mit Hegel auf den Begriff eines solchen Staates abzielen, der das allgemeine Interesse des Wohles aller zum Zweck hat.239 Der Rechtsgrund des sozialen Kampfes um Partizipation an der Allgemeinheit des Staates ist fur Tönnies dabei das oben angeführte jedem Handeln inhärierende Allgemein-Menschliche selbst. Die naturrechtliche Idee der Freiheit und Gleichheit der Menschen ist für Tönnies der aus diesem Allgemeinen hervorgehende, zunächst vollkommen abstrakte allgemeinste Begriff von Freiheit und Gleichheit, der nie ,νοη Natur aus' gegeben ist, sondern immer verwirklicht werden muss. Tönnies betont die Bedeutung dieser Idee für die Praxis: ,,[A]ls die Idee der Gerechtigkeit verstanden ist das Naturrecht ein ewiger und unveräußerlicher Besitz des menschlichen Geistes" (GuG 215). Um nämlich die Willkürlichkeit der Interessenherrschaft des Besitzbürgertums zu begreifen und sich zum Subjekt des souveränen Willens zu machen, bedürfe es des Rekurses auf eben diese abstrakte Allgemeinheit der Gleichheit, die ständeübergreifend Geltung haben müsse (vgl. GuG 233). Auf eben diese Gleichheit hatte sich ja das aufkommende Bürgertum berufen. Nun - so Tönnies - müsse sie zu allgemeiner Geltung kommen, damit der Staat nicht identisch mit der bürgerlichen Gesellschaft sei. Da die bürgerliche Gesellschaft ihre Statuten für den Stand der besitzenden Bürger formuliere, werde sie durch das Bilden allgemeinerer Rechtssätze überwunden. Das Recht muss ein Recht sein, das den Willen aller Mitglieder der Gesellschaft umfasst, also nicht subjektiver Ausdruck des Willens einer Gruppe innerhalb der Gesellschaft ist. In einem Staat muss es folglich inhaltlich gerade so allgemein sein, wie es die Erhaltung der realen Gesamtheit seiner Kultur gebietet. In der Vereinigung aller Menschen hätte es den höchsten Grad an Allgemeinheit.
4.3 Gemeinschaftsform und Gesellschaftsform Wider die restauratorischen Tendenzen seiner Zeit kritisiert Tönnies Gesellschaft als bürgerliche Gesellschaft, die in ihrer bedrohlichsten Form als absoluter Staat auftritt, der kein Recht über sich akzeptiert, sondern sich sein Recht macht. Gesellschaftsförmig heißt 237 238 239
Vgl. Hegel, Enzyklopädie III, S. 332 (§ 539 Anmerkung). Vgl. dazu Peperzak 1991, S. 292-295. Vgl. ebd. Und tatsächlich: „Ihrem eigentlichen Kerne nach entspricht seine [Hegels] Philosophie am meisten dem, was heute durch die Stürme des Jahrhunderts hindurch als die fortgeschrittenste Denkungsart, die des Proletariats, hervorgetreten ist" (Tönnies, Hegels Naturrecht, S. 251).
KONSEQUENZEN FÜR EINE POLITISCHE PHILOSOPHIE
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aber allgemein, was die bürgerliche Gesellschaft nicht für sich in Anspruch nehmen kann, da sie ein partikulares Interesse bestimmend über die Bürger des Staates gestellt hat. Hingegen nimmt Gesellschaft als die Verbindung des allgemeinen Interesses nach Freiheit und Gleichheit bei Tönnies wieder die gemeinschaftliche Form an, da jeder nach seinem Bedürfnis nach Selbsterhalt und nicht nach Ansehen erhalten soll, so dass Status bei der Verteilung von Gütern und Aufgaben keinerlei Geltung eingeräumt werden darf. Tönnies geht in gewisser Weise von einem realhistorischen Fortgang von Gemeinschaftsförmigkeit zu Gesellschaftsförmigkeit aus, was in erster Linie mit Prozessen sozialer Desintegration infolge der Anhäufung großer, kulturell unterschiedlicher Menschenmassen in kleinen Räumen zu erklären ist. Zugleich wird deutlich, dass es lediglich um Tendenzen geht, da empirisch keine der beiden Formen in Reinform gegeben sein kann. Gemeinschaft kann nur als Gemeinwesen fortbestehen, das seinen gemeinsamen Willen im Gewohnheitsrecht ausdrückt, das Tönnies als gesellschaftliche Form begreift, da erst der Kürwille die Rechtsförmigkeit als eine allgemeine Regel und Maßstab aller besonderen Fälle gebe (vgl. GuG 195).240 Soll aber dieses subjektive Recht objektive Existenz erlangen, so bedürfe es der Anerkennung durch den allgemeinen abstrakten Willen (Kürwillen) - objektive Existenz kann dabei nur eine allgemeine gesellschaftliche Einheit (z.B. ein Staat) geben. Der Staat ist also wie bei Hegel so auch bei Tönnies ein Erstes für die objektive Existenz subjektiver Rechtssphären. Reine Gesellschaft wiederum wäre nichts ohne irgendeine Form der inhaltlichen Bestimmtheit - wie Begriffe ohne Anschauungen leer sind, so geht das Interesse eines Individuums immer auf irgendeine Sache. Die Form des Interesses und der Verfolgung der Interessen ist wiederum kulturell, also gemeinschaftlich geprägt. In größeren Vereinigungen ist das gleiche Interesse allgemeiner, also inhaltlich unbestimmter. In einem Staat ist es folglich so allgemein, wie es die Erhaltung der Gesamtheit seiner Kultur gebietet. Die Gemeinschaftsformigkeit der eigentlich äußerlichen Gesellschaftsform Staat liegt darin, dass er seine Berechtigung im Wohle aller hat, daher als berechtigter nur existiert, wenn das Wohl aller nach innen gewährleistet wird. Dann ist der Staat ein gemeinschaftsförmiges, selbstzweckbezogenes Ganzes und dient nicht der Verfolgung von Einzelinteressen, sondern sich, indem er dem Wohl jedes Einzelnen dient. Die Form der inneren Verbundenheit ist hier aber der Vertrag und nicht ein organischer Verbund, folglich schlägt auch Gesellschaft nur formal in Gemeinschaft um (sie erscheinen gleich (vgl. GuG 196)). Inhaltlich aber, so könnte man mit Tönnies folgern, muss die innere Verbundenheit notwendig einen sehr viel allgemeineren Bereich haben als eine Gemeinschaft, da der Rechtsgrund des Bündnisses eines jeden mit einem jeden der Schutz der Freiheit und des Eigentums als das Allgemeine-Menschliche ist. Daher kann ein solches quasi-gemein240
Vor diesem Hintergrund muss Klaus Frerichs' These zu Tönnies' Rechtsphilosophie als Avantgarde einer Gebrauchstheorie der Sprache eingeschränkt werden. Entlang der Differenz von Sitte und Gesetz bei Tönnies expliziert Frerichs Tönnies' Gebrauchstheorie der Sprache gegen die propositionale Tradition einer Regeltheorie. Die Leistung von Frerichs Artikel ist es aber, den Einfluss aufzuweisen, den Tönnies' preisgekrönte Schrift Philosophische Terminologie inpsychologisch-soziologischer Ansicht (zuerst auf Englisch in Mind 8 ( 1899), dann als Monographie auf Deutsch 1906 erschienen) vermutlich auf den Wiener Kreis hatte (vgl. Frerichs 1991).
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schaftsformiges Ganzes nicht als durch die konkrete Sittlichkeit eines Volkes bestimmt vorgestellt werden, sondern als eines, das von der Idee der Gleichheit bestimmt ist. Es gibt aber keinen automatischen' Umschlag von der bürgerlichen Gesellschaft im kapitalistischen Staat zum eigentlichen Rechtsstaat hin, sondern der Umschlag wäre das Ergebnis sozialer Kämpfe und der Veränderung der (Produktions-)Verhältnisse, da die „treibenden Faktoren der sozialen Bewegungen [...] die groben materiellen Bedürfnisse, Empfindungen und Gefühle des wirtschaftlichen ,täglichen' Lebens" sind (GuG XXXII). Vor dem Hintergrund des oben Ausgeführten besteht kein Widerspruch zwischen Tönnies' Eigenschaft als Soziologe und Sozialphilosoph mit der als Sozialpolitiker. Konkret nennt er die „Forderung des Ertrages der eigenen Arbeit; als Bestreitung des arbeitslosen, durch Geschicklichkeit oder Glück erworbenen, Einkommens" sowie den „Kampf gegen das freie und absolute Privateigentum am Grund und Boden" (GuG 214) unter Berufung auf das allgemeine Naturrecht auf Schutz von Freiheit und Eigentum. Die bewusste, willkürliche Berufung auf einen normativen Begriff sozialer Wirklichkeit als gemeinschaftlich wie auch gesellschaftlich verfasst, bricht möglicherweise mit der bislang vollzogenen Lebenspraxis. Aus diesem Grunde lässt sich bei Tönnies keine Ethosethik finden, da eine solche vor dem Hintergrund realer Ungerechtigkeiten durch Althergebrachtes schnell zur Apologie des Bestehenden wird und inhaltlich kein Instrument fur die Veränderung von Verhältnissen an die Hand gibt. Der Kontraktualismus hat demgegenüber die Stärke, dass sich alle Bürger eines Staates auf dessen ideelle Grundlage berufen können, die der Schutz von Freiheit und Eigentum ist. Tönnies betont dabei aber die Abkünftigkeit der Vorstellung eines Allgemein-Menschlichen aus der begrifflichen Vernunft, so dass es jedesmal verkörpert und unvollkommen, bloße Fiktion sei, die aber in praktischer Hinsicht von höchster Relevanz sein muss. Diese größte Allgemeinheit hat bei Tönnies wie bei Locke ihre erste Konkretion im Eigentum am eigenen Leib, folglich an der eigenen Arbeit.241 Aus diesem Grund befürwortet er - ganz entgegen der vermeintlichen Höherwertung von Gemeinschaft in Gemeinschaft und Gesellschaft - die Bewegung im Leben wie im Recht von „Status zu Kontrakt" (GuG 195), da sie als eine Bewegung von Ungleichheit zu Gleichheit zu begreifen sei. Die von ihm angestrebte Form der Gerechtigkeit ist nun kommutativ nach Ansehen und distributiv nach Bedarf, wo sie in der noch von der Ständegesellschaft geprägten bürgerlichen Gesellschaft distributiv nach Ansehen bzw. Eigentum an Produktionsmitteln und kommutativ nach Bedarf, also indifferent gegen die Bedürfnisse, sich gestaltet. *
241
*
*
Man könnte hier einwenden, dass die Formel vom Besitz am eigenen Leib und so an der eigenen Arbeitskraft ermöglichende Grundlage der Veräußerung von Arbeitskraft gegen Lohn für entfremdete Arbeit ist. Das ist soweit nicht falsch, und doch ist es die Ambivalenz dieses Eigentums am eigenen Leib, dass sie einerseits Rechtsgrundlage für den Kapitalismus und zugleich Rechtsgrundlage für die Überwindung der in ihm produzierten sozialen Ungerechtigkeit ist. Ähnlich hatte auch Marx niemals hinter die bürgerliche Gesellschaft zurückgreifen wollen, sondern sie in einer alle umfassenden Gesellschaftsordnung zum Wohle aller .aufheben' wollen.
RESÜMEE
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So entwirft Tönnies nicht so sehr eine Theorie des idealen Staates242 oder guten politischen Handelns, sondern entwickelt aus seinem Begriff sozialer Wirklichkeit die Möglichkeit und auch die Notwendigkeit emanzipatorischen Handelns, das sich sowohl gegen althergebrachte Praxisformen (Gemeinschaft) als auch gegen die Naturalisierung gewinnmaximierender neuer Praxisformen (Gesellschaft) richtet. Das normative Ideal dieses Handelns ist aber wiederum nur in der gelebten Praxis gegeben. Tönnies greift hier zwar auf den Kontraktualismus zurück, insofern dieser Freiheit und Gleichheit der Individuen zum Angelpunkt staatstheoretischer Überlegungen macht. Zugleich reichert er diese Tradition an, indem er mit seiner Theorie der gemeinschaftlichen Lebenspraxis nachweist, inwiefern diese Freiheit und Gleichheit niemals real gedacht werden kann, sondern nur Bedingung der Möglichkeit menschlicher Gemeinschaft als solcher und zugleich deren Negation ist. Wir sind als diese bestimmten Individuen immer schon in irgendeiner gemeinschaftlichen Form, das sind wir aber als grundsätzlich freie und gleiche Personen, worauf wir uns auch gegen die gemeinschaftliche Form berufen und auf deren Änderung drängen können. So wird Tönnies' Sozialphilosophie sowohl dem Faktum gerecht, dass wir in starkem Maße Prägungen unserer gemeinschaftlichen Lebenspraxis unterliegen, als auch der dieses Faktum als Integral menschlicher Praxis bedingenden Möglichkeit, sich diese Prägung bewusst zu machen und sich kritisch zu ihr zu verhalten. Wir können daraufhinwirken, dass die Form, in der wir uns unwillkürlich befinden und die wir uns im Typus bewusst machen können, uns als prinzipiell freien und gleichen Individuen entspricht, denn konstituiert ist diese gemeinschaftliche Form in menschlichen Gemeinschaften nie anders als in irgendeiner Weise in ihren selbstbewussten Individuen reflektiert (gesellschaftlich). Die Forderung nach Freiheit und Gleichheit wird dabei wiederum inhaltlich vorgebracht werden. Je nach Konsistenz und Krisenanfälligkeit der Verhältnisse wird es weniger leicht zu einer bewusstkritischen Haltung der Individuen kommen. Je nach Stabilität der Verhältnisse wird das kritisch-emanzipatorische Verhalten leichter oder schwerer von Erfolg sein - wo sie staatlich institutionalisiert sind, wird es schwerer und für das einzelne Individuum unmöglich sein, wo es sich um eher lose und kurzfristige Verhältnisse handelt, wird es leichter sein.
5. Resümee Tönnies' begriffliche Differenzierung des Sozialen in Gemeinschaft und Gesellschaft kann in ihrer Bedeutung in mehrfacher Hinsicht betont werden: Erstens in ihrer Valenz für die Sozialwissenschaften im Sinne einer ,reinen Theorie', zweitens für die Philosophie im Sinne der darin angelegten Begriffslogik und drittens fur die politische Philosophie, die sich - auf der begriffslogisch begründeten Normativität aufbauend - kritisch zu gegebenen sozialen Verhältnissen äußern kann. Zusammenfassend will ich verschiedene 242
Auch Osterkamp begreift den „Staat" bei Tönnies „nicht als historische Beschreibung", sondern vielmehr als „typologisches Strukturmodell" (vgl. Osterkamp 2005, S. 331 ).
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Aspekte der Differenzierung des Sozialen in die Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft nochmals systematisierend aufgreifen. -
Die sozialwissenschaftliche reine Theorie bedarf sowohl des Gemeinschafts- als auch des Gesellschaftsbegriffes. Gemeinschaft bezieht sich auf ein soziales Ganzes. So verstehe ich Prozesse sozialer Prägung durch die Wechselwirkung von Individuum und sozialer Umgebung. Besonders Kleinformen wie die Familie lassen sich mit diesem Begriff erfassen, doch auch viel größere wie ganze Kulturzusammenhänge müssen über unwillkürliche, unbewusste Prozesse der Prägung erklärt werden. Gesellschaft bezieht sich auf das Individuum, das wir zunächst und zumeist einfach fur sich wahrnehmen. Für gewöhnlich müssen wir uns den Gedanken erst erarbeiten, dass seine Handlungen Resultate unbewusster Prozesse sind. So lässt sich das ungefähre Zusammentreffen einander unbekannter Einzelner und das Resultat vieler solcher zielgerichteter Treffen in Konventionen erfassen. Die Begriffe entsprechen so dem alltagsweltlich sofort verständlichen Gegensatz von Individuum und Gemeinschaft - ich und die anderen, der seinen Widerspruch direkt in der gleichfalls alltagsweltlichen Wahrnehmung hat, bloß Teil eines Ganzen, ,Kind einer Zeit' zu sein. Insofern sind die Begriffe antithetisch und zugleich die zwei Aspekte, durch die das Soziale konstituiert ist. Für eine Methodologie wäre jedoch noch viel zu tun, um Tönnies' Begriffe sozialwissenschaftlich ,anwenden' zu können.243 Ich bin daher geneigt, sie eher als Elemente einer Sozialphilosophie zu verstehen.
-
Der kritische Einsatz der rein-theoretischen Antithese wird deutlich in der geschichtsphilosophisch-entwicklungsgeschichtlichen Bedeutung der Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft. Zwar sind die beiden Aspekte notwendig immer zugleich realisiert, sie sind aber nicht immer zugleich in ihrer Wirklichkeit anerkannt. Auf diese Weise kann einer der beiden Begriffe das konkrete Soziale der Tendenz nach eher erfassen. Insofern aber ein ,voller' Begriff des Sozialen immer sowohl gemeinschaftlich als auch gesellschaftlich ist, ist die Kritik an der Hypostasierung einer der beiden Formen zum eigentlich grundlegenden Moment dann auch Sozialkritik, wenn diese Hypostasierung reale Wirkung zeigt (etwa in verrechtlichter Form). Theoriekritik ist bei Tönnies wie bei Marx (und Hegel) die Kritik an allein durch diese vereinseitigende Theorie legitimierten Praktiken.
-
Das Gros der aktuelleren Tönnies-Lektüren weist daraufhin, dass die Antithese von Gemeinschaft und Gesellschaft in der sozialwissenschaftlichen Praxis aufgehoben sei. Es scheint mir wichtig zu sein, dass Tönnies mehrfach betont hat, es ginge ihm zunächst um die reine Theorie und erst sekundär um deren Anwendung. Damit kein Theorie-Praxis-Dualismus entsteht, muss man verstehen, wie praxisbezogen die reine Theorie bei Tönnies bereits ist und wie stark daher ihre theoretischen' Begriffe aufeinander verweisen. Die These ist also: Gemeinschaft und Gesellschaft sind nicht nur in der Praxis, sondern auch theoretisch vermittelt, anders könnten sie gar keine Praxis erfassen.
243
So auch Jacoby 1970, S. 9.
RESÜMEE
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Die intuitive Stimmigkeit der Begriffe, auf die ich einleitend zur vorliegenden Arbeit hingewiesen hatte (wir begreifen uns ja tatsächlich sowohl als Einzelne als auch als Teile sozialer Einheiten) lässt sich in einem dialektischen Durchgang ihrer Logik verstehen, in dem die Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft als aufeinander verweisende, in ihrem Widerspruch aber erhalten bleibende Momente der sozialen Wirklichkeit erkennbar werden. Der Widerspruch wird dabei nicht negiert, sondern gerade als konstitutiv verstanden: Nur solche Gemeinschaften sind echte Gemeinschaften, auf die sich einzelne, bewusste Individuen beziehen. Die Prägung dieser Individuen verläuft dennoch unwillkürlich. Tönnies fasst mit den Begriffen Gemeinschaft und Gesellschaft das Ineinander von unbewussten Prozessen und bewussten Handlungen, die erst dann wirklich bewusst sind, wenn sie in ihrem Prägungszusammenhang mit den sie umgebenden sozialen Verhältnissen gewusst werden. Der begriffslogische Aufwand dient dazu, etwas zu zeigen, was wir immer schon wissen: Es gibt soziale Zusammenhänge. Es gibt selbstbewusste Individuen. Wie diese beiden Kenntnisse zusammenhängen, ist hingegen nicht etwas, das wir immer schon wissen. Im Gegenteil: Es ist rätselhaft. Der begriffslogische Aufwand dient also auch dazu, dieses Rätsel besser zu verstehen, um so die soziale Wirklichkeit angemessen beschreiben zu können (vgl. dazu 6.2). Aus der Begründung des Zusammenhangs von kollektivistischer und individualistischer Perspektive folgt weiterhin ein normatives Verständnis sozialer Einheiten, insofern diese in ihren Individuen reflektiert und gewollt sein sollen. Aus der Begriffslogik resultiert als Konsequenz für eine politische Philosophie ein Begriff des , wahren' Staates. Ob man diese Form nun ,Staat' oder anders nennt, ist nicht der mir wichtige Punkt, insofern es auch in keinem Fall um die Rechtfertigung dieses oder jenes bestehenden Staates, sondern um den Begriff des Staates als politische Gemeinschaft geht. Ein solcher ,wahrer' Staat vertritt das Interesse aller Bürger, er ist der verwirklichte Begriff (Idee) dieses allgemeinen Willens. Dabei ist wie bei Rousseau, so auch bei Hegel und Tönnies, dieser allgemeine Wille nicht die zufällige Allgemeinheit, sondern diejenige, die sich aus der prinzipiellen Freiheit und Gleichheit der Individuen ergibt, die sich verwirklichen soll. Das heißt nicht, dass alle gleich sein sollen, sondern dass sie keinen prinzipiell unterschiedlichen Wert haben, auch nicht den, den sie sich erarbeitet haben. Ein solcher ,wahrer' Staat erschiene als politische Gemeinschaft, basiert aber ebenso auf seiner Realität in den gelebten Verhältnissen (Gemeinschaft) wie in den bewussten einzelnen Individuen, die ihre Zwecke dem Gemeininteresse nicht widerstrebend finden (Gesellschaft). Dieser Staatsbegriff ist die Idee eines ,vollen' Sozialbegriffes, der erst verwirklicht ,voll' (und so ,wahr') wäre. Es erschließt sich aus dem begriffslogischen Ineinander das Ideal eines wirklichen Ineinanders in einer politischen Gemeinschaft, in der die Einzelnen als ihrem Wert nach Freie und Gleiche in ihren je unterschiedlichen Praxisvollzügen leben. Von einem Primat der Gemeinschaft lässt sich bei Tönnies allein im Sinne einer politischen Gemeinschaft der Freien und Gleichen sprechen, die als Ideal gegen die so-
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zialen Verhältnisse der realen Ungleichheit dem Wert nach (Status) gesetzt ist. In der Idee der politischen Gemeinschaft verbinden sich die Theorie der Gemeinschaft und der Gesellschaft. Die Theorie der Gemeinschaft ließ dabei im Rahmen der begrifflichen Differenzierung verstehen, wie es möglich ist, dass als ungerecht erfahrene Verhältnisse weiter bestehen - sie prägen sich unwillkürlich weiter aus. In der bürgerlichen Gesellschaft z.B. prägt sich der Individualismus (die vermeintliche oder bloß theoretische Loslösung des Individuums von seinen Verhältnissen) aus. Für eine kritisch-emanzipatorische Position bedarf es einer Sozialphilosophie, die diese Prägungszusammenhänge mit der Theorie der Gemeinschaft erfassen kann und die zugleich mit der Theorie der Gesellschaft die Bedingung der Möglichkeit der Änderung als normatives Ideal in sich trägt. Mit Tönnies (wie auch mit Hegel oder Marx) ist eine solche Sozialphilosophie formulierbar, wenngleich sie bei Tönnies in einem Punkt unterbelichtet bleibt: Wie genau muss man sich den individuellen Vollzug des Ineinanders von Gemeinschaft und Gesellschaft vorstellen und wie sind darin Kritik und abweichendes Verhalten möglich? -
Der dialektische Zusammenhang der Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft wird bei Tönnies deutlicher als die darin implizierte Möglichkeit einer kritischen Position. Überhaupt bleibt ein Bild sozialer Wirklichkeit noch recht unscharf. Zwar ist verständlich geworden, wie ein normativer Begriff des Sozialen aus dem Ineinander von Gemeinschaft und Gesellschaft hervorgeht, nicht so sehr aber, wie wir uns auf diesen berufen und uns anders verhalten können.244 Ein solches negativ auf das Noch-nicht-Seiende bezogene Verhalten müsste dem Kürwillen zuzuschreiben sein; was aber ist das, der Kürwille, der Wille, sofern er im Denken ist? Man müsste sich Tönnies' Voluntarismus genauer ansehen, um die Möglichkeit kritischen Verhaltens zu verstehen. Oft wird die Willenstheorie als Theoriekern verstanden, und man vermutet darin eine auf Schopenhauer zurückgehende philosophische oder historische Anthropologie.245 Auch Plessner versteht Tönnies' Gemeinschaft und Gesellschaft als „anthropologischen Versuch", bei dem sich aber „Fragen nach einer Überprüfung des Gegensatzes von Wesenwillen und Kürwillen" gestellt hätten, die er selbst seither anthropologisch zu bearbeiten suche.246 Ergänzend zur dialektisch angelegten Tönniesschen Sozialphilosophie lässt sich Plessners philosophische Anthropologie heranziehen. In transzendental-phänomenologischem Aufweis kann bei Plessner die Bedingung der Möglichkeit derjenigen Kritik verstanden werden, die Tönnies an der bürgerlichen Gesellschaft formuliert.
Bevor ich den Bogen zu Plessners philosophischer Anthropologie schlage, möchte ich einige Worte zur Wirkungsgeschichte von Gemeinschaft und Gesellschaft sagen, die al244
245 246
Bickel macht darauf aufmerksam, dass Tönnies anders als Weber das Problem ,,letzte[r] Wertentscheidungen" ebenso wenig wie die Differenz von intelligiblem und empirischen Ich gesehen habe. Den Grund dafür sieht er in einer nicht erfolgten Kant-Lektüre Tönnies' (vgl. Bickel 1991, S. 222f.). Vgl. Bickel 1991, Rudolph 1991, Tsioli 1991. Vgl. Plessner, Nachwort zu Ferdinand Tönnies, S. 342f.
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lerdings ein eigenes Buch von etlichen Seiten füllen könnte, wenn man alles erwähnen wollte. Selbst wenn man nur die philosophiegeschichtlichen Einflüsse kenntlich machen würde, hätte man immer noch viel zu tun. Ich möchte daher hier nur einige Hinweise geben, die in erster Linie den Zweck verfolgen zu verstehen, in welcher geistesgeschichtlichen Situation Plessner Tönnies' Werk wahrgenommen hat. Tönnies wies selbst darauf hin, dass einige Philosophen dem Werk „etwas verdankten", darunter Wilhelm Wundt, Simmel, Paul Natorp, Walter Eucken, Karl Vorländer.247 Franz Oppenheimer zeigt in seinem Artikel über Moderne Soziologie und Ferdinand Tönnies von 1926 bereits zahlreiche Einflüsse auf, die ich hier nicht alle nennen möchte.248 Viele andere Wirkungsorte ließen sich hervorheben. Aufgrund seiner Schrift zur Philosophischen Terminologie von 1904/06 wird zuweilen ein Einfluss Tönnies' auf den Wiener Kreis um Rudolf Carnap vermutet, so bei Bickel und Klaus Frerichs.249 Von Bedeutung sind auch die Fortfuhrungen in einer sozialphilosophischen Phänomenologie bei Gerda Walther und Edith Stein.250 Die stärkste systematische Wirkung auf einen späteren Soziologen hatte Tönnies sicherlich auf Talcott Parsons.251 Oft wird besonders ein verdeckter Einfluss auf Max Weber hervorgehoben. So seien Tönnies' Normalbegriffe als Vorwegnahme von Webers Idealtypen zu verstehen.252 Positiv gegenüber Weber heben K. Heberle, der den Sein-Sollen-Dualismus Webers bei Tönnies durch eine Sein-WollenEntgegensetzung überwunden sieht253, und Merz-Benz Tönnies' Leistung hervor. MerzBenz sieht Tönnies darin überlegen, dass er „ein Verständnis von Rationalität entwickelt,
247
Vgl. Tönnies, Selbstdarstellung,
248
Vgl. Oppenheimer, Moderne Soziologie. Nicht vorenthalten möchte ich meinen Lesern Oppenheimers Hinweis auf Ludwig Stoltenbergs Versuch einer Weiterfuhrung der Lehre von Tönnies, in dem die Begriffe Wesenwille und Kürwille exzessiv entfaltet werden, so dass unter anderem „Wirschaft und Wirnis, Wirsamm und Wirsomm, Wirmögschaft, Wirmögnis, Wirmögsamm und Wirmögsomm" entstehen. Mutmaßlich ist Oppenheimers Urteil zutreffend, hier entstehe „nicht Wimis, sondern Wirrnis" (vgl. Oppenheimer, Moderne Soziologie, S. 198f.). Vgl. Bickel 1991, S. l l f . und Frerichs 1991. Stein (Individuum und Gemeinschaft, 1922) und Walther (Zur Ontologie der sozialen Gemeinschaften, 1923) berufen sich beide explizit, aber auch abgrenzend auf Tönnies (vgl. Walther, Ontologie der sozialen Gemeinschaften, S. 33). Stein hebt insbesondere auf die Subjekt-Objekt-Verhältnisse als differentiae specificae von Gemeinschaft und Gesellschaft ab: Tönnies' Gesellschaft sei dort zu finden, „wo eine Person der anderen als Subjekt dem Objekt gegenübertritt", ,,[w]o dagegen ein Subjekt das andere als Subjekt hinnimmt und ihm nicht gegenübersteht, sondern mit ihm lebt und von seinen Lebensregungen bestimmt wird, da bilden sie miteinander eine Gemeinschaft", die allein echte Verbindung von Individuen ist (Stein, Individuum und Gemeinschaft, S. 117). Diese Differenzierung ähnelt der von echter Ich-Du- und versachlichender Ich-Es-Beziehung in Martin Bubers Dialogphilosophie (Ich und Du, 1923).
249 250
S. 18.
251
Vgl. Parsons' Note on Gemeinschaft and Gesellschaft von 1937 sowie Some Afterthoughts on Gemeinschaft and Gesellschaft (Parsons 1973b). Vgl. dazu kritisch Cahnman 1973a, S. llf., ders. 1977, S. 162ff„ Bickel 1990, S. 23-25 sowie weiterführend Opielka 2006.
252
Vgl. u.a. Lukács 1960, S. 526, Samples 1989, S. 13, Lindenfeld 1989, S. 29, Bickel 1991, S. 102. Vgl. Κ. Heberle 1989b.
253
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auf dessen Grundlage das Verhältnis von Rationalität und Α-Rationalität gerade so, wie es verkörpert ist in den realen sozialen Verhältnissen, thematisiert zu werden vermag".254 Bereits im Jahre 1925 fasst der Soziologe Alfred Vierkandt die Wirkungsgeschichte von Tönnies' Gemeinschaft und Gesellschaft zu zwei großen im Text angelegten Richtungen zusammen: Einerseits sei die Schrift als „materielle Geschichtsphilosophie" in der Tradition Comtes und Spencers zu verstehen, die „nach den Gesetzen der geschichtlichen Entwicklung" frage. Andererseits lasse Gemeinschaft und Gesellschaft sich als Begründung einer , formalen Soziologie" verstehen, die üblicherweise Simmel zugeschrieben werde, in Tönnies aber einen Vorläufer habe.255 In der formalen Soziologie tritt das geschichtlich Konkrete in der Betrachtung zurück hinter die Suche nach Strukturgemeinsamkeiten menschlichen Miteinanders, die allen Konkretisierungen desselben eignen. Gemeinschaft und Gesellschaft werden hier als zwei Formen einer prinzipiell unbegrenzten Menge von Formen begriffen, die das soziale Miteinander ausprägen kann. Dass Tönnies' Begriffe zugleich Elemente einer sozialphilosophischen Begründung und insofern begriffslogisch aufeinander bezogen sind, tritt in diesem soziologischen Anschluss an Tönnies in den Hintergrund. Der „Geschichtsphilosoph Tönnies", so Vierkandt, habe das „universell gültige Entwicklungsgesetz [...] von der Gemeinschaft zur Gesellschaft"256 aufgestellt. Dies gelte im zeitlichen Sinne sowohl für Typen sozialen Verhaltens (auf Verbundenheit folge Nützlichkeitsinteresse) als auch für seelische Typen (auf Phantasie folge Intellekt), für Formen des Wissens (auf religiösen Glauben folge Wissenschaft) und für geschichtliche Epochen (auf Gewohnheitsrecht folge staatliche Institutionalisierung). Tönnies stelle mit Wesenwillen und Kürwillen zugleich Instinkt und Überlieferung der rationalen Sachlichkeit und dem Individualismus des Verhaltens gegenüber. Vierkandt zieht hier eine Linie zum Kulturpessimismus des frühen 20. Jahrhunderts, der die Zivilisation als eine Art Degeneration einer vormals gesunden Kultur auffasst; er nennt Oswald Spengler und Emil Hammacher. „Die heute weit verbreiteten Gedanken dieser Autoren hat bereits Tönnies vor fast dreißig Jahren, freilich durchweg nur in Andeutungen, entwickelt"257, so lobend Vierkandt über einen Umstand, der bereits Tönnies selbst aufgefallen war.258 „Wir brauchen kaum ausdrücklich auszusprechen, welche große praktische Bedeutung [...] Tönnies' Werk zukommt. Heißt ja doch die große Sehnsucht unserer Zeit Rückkehr zur 254 255
256
257 258
Merz-Benz 1991, S. 298. Zum Verhältnis Weber - Tönnies vgl. auch Zander 2004a, S. 11-14. Vierkandt, Ferdinand Tönnies ' Werk und seine Weiterbildung in der Gegenwart, S. 300. Vgl. dazu Peter Etzkorn, der die Subsumierung von Tönnies unter das Label ,Formale Soziologie' ablehnt (Etzkorn 1973). Zum Verhältnis Simmel - Tönnies vgl. Bond 1991, Deichsel 1988, der eher systematisch argumentiert, sowie den historisch orientierten Beitrag zur frühen Soziologie von Dahme/ Rammstedt 1987. Simmel selbst sieht Tönnies als „modernen, sozialistisch gefärbten Evolutionisten" (Simmel, Rezension zu Tönnies'Nietzsche-Kultus, Sp. 1646). Vierkandt, Ferdinand Tönnies' Werk und seine Weiterbildung in der Gegenwart, S. 300. Ich habe oben gezeigt, in welchem Sinne Tönnies' Geschichtsphilosophie m.E. zu verstehen ist (vgl. Kap. 2.2). Ebd., S. 301. Vgl. Tönnies, Selbstdarstellung, S. 36.
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Gemeinschaft" 259 , fasst Vierkandt seine Darstellung des Geschichtsphilosophen Tönnies zusammen. Tatsächlich fugte sich Tönnies' gesellschaftskritische Rhetorik auf unglückliche Weise in die kulturpessimistischen und zivilisationskritischen Strömungen der Zeit ein. Der Kulturpessimismus der 1910er und 1920er Jahre spricht sich aus in einer Abkehr vom Großstädtischen, vom Handel, von der Industrie, vom Pressewesen als dem Organ der öffentlichen Meinung, von moderner Kunst und Künstlichkeit, von Schein und Indirektheit. Das Ideal ist die natürliche Ordnung durch innere Verbundenheit, die sich in instinktiver Sicherheit in der Direktheit des Kontaktes miteinander verwandtschaftlich und ,völkisch' verbundener Menschen zeige: Schon sehen wir Scharen der Wandervogeljugend und einen wachsenden Kreis freiwilliger Siedler selbst den starren Gegensatz Weltstadt - Provinz in ihrer Lebensführung aufheben, indem sie wieder Fühlung mit einer mütterlichen Landschaft suchen und finden.260
Eine solche neue .Urgemeinschaft' bedarf keiner Konventionen, keines Tauschhandels und keiner Vermittlung mit sich durch externe andere. Man zieht sich ganz aus der Politik in eine resignativ klagende Innerlichkeit zurück, die im Kontrast zu dem regen politischen Leben der Weimarer Republik zu stehen scheint. So streicht Hermann Braun die Virulenz Tönniesscher Gemeinschaftsrhetorik in völkisch-nationalen und schließlich national-sozialistischen Diskursen hervor,261 zu denen Tönnies tatsächlich sogar in offener Opposition stand. Braun weist mit Christian Graf von Krockow auch darauf hin, dass Heidegger sich in seiner berüchtigten Rektoratsrede auf den „Wesenswillen" berufe, in dem das „deutsche Schicksal" zur Macht kommen müsse.262 Auch bei Max Scheler zeigt sich im Ressentiment im Aufoau der Moralen (1912/15) das Motiv der Gesellschaftskritik im Tönniesschen Sinne, wenn er unterscheidet zwischen dem „Wert der Nützlichkeif'' und dem „vitale[n] Wert", der sich entfalte und der im Unterschied zum Nützlichkeitswert erlebt werden könne.263 Darauf aufbauend bezieht Scheler sich sogar explizit auf die Tönniessche Begrifflichkeit und begreift 259 260 261 262
263
Vierkandt, Ferdinand Tönnies ' Werk und seine Weiterbildung in der Gegenwart, S. 302. Emmel, Der Tod des Abendlandes, S. 20. Vgl. Braun 1991, S. 350-354. Heidegger, Selbstbehauptung der deutschen Universität, S. 108. Vgl. dazu Braun 1991, S. 356f. Ein zwingender Bezug zu Tönnies scheint mir hier nicht vorzuliegen. Heidegger spricht zwar viel vom Willen zum Wesen der Universität und zieht diesen Ausdruck auch zum Kompositum „Wesenswille" zusammen, aber bereits das Binnen-S macht es eher unwahrscheinlich, dass ein direkter Bezug vorliegt. Dass der Begriff der Gemeinschaft im Zentrum der Rektoratsrede steht, entspricht dem zeitgenössischen Gemeinschaftsdiskurs. Der nationalsozialistisch agitierte Zeitgeist zumal prägt das in der Rektoratsrede begegnende Wort „Kampfgemeinschaft" aus (Heidegger, Selbstbehauptung der deutschen Universität, S. 116), das sich bei Tönnies meines Wissens gar nicht findet. Zu den Begriffen Volk, Gemeinschaft und Generation in Sein und Zeit (§ 74) sowie beim späten Heidegger vgl. den nicht apologetischen, sondern systematisch orientierten Artikel von Theodore Kisiel (Kisiel 2001). Vgl. Scheler, Ressentiment im Außau der Moralen, S. 126f.
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Gesellschaft als ,Jlest, der Abfall ist, der sich bei den inneren Zersetzungsprozessen der Gemeinschaften ergibt".264 Es kann wohl inzwischen als der wesentliche Punkt der Auseinandersetzung von Tönnies-Kennern mit -Nichtkennern die Frage gelten, ob Tönnies Kulturpessimist gewesen sei, der den Boden für den Nationalsozialismus zu bereiten geholfen habe. So betonen Lindenfeld, Bickel und S. Tönnies, dass Tönnies keinesfalls als Kulturpessimist und Zivilisationskritiker gelten könne, sondern dass er ein dezidierter, wenngleich kritischer Anhänger der rationalistischen Aufklärungstradition sei. Bickel schreibt dazu: [D]er Rückgriff auf eine nicht-analytische Vernunft zur Korrektur des Rationalisierungsprozesses ist also nicht ein Versuch zur Wiederbelebung des Traditionalismus. Er soll im Gegenteil die Resultate des Liberalismus ,aufheben' im hegelschen Sinne des Bewahrens bei gleichzeitiger Meliorisierung der pathologischen Effekte des Rationalisierungsprozesses.265
Nun, man muss wohl fragen, wie es zu dem bis heute anhaltenden Missverständnis kommen konnte, dem darüber hinaus vermutlich die heutige Bekanntheit des Buches geschuldet ist. Bücher haben ihre Schicksale. Das Buch von Ferdinand Tönnies ist Beweis dafür. Das Werk, das heute einhellig zu den geisteswissenschaftlichen Taten des 19. Jahrhunderts gerechnet wird, wurde zwar von einigen wenigen gleich nach seinem Erscheinen gebührend gewürdigt, im ganzen aber beschränkte sich sein Einfluß Jahrzehnte hindurch auf eine nur kleine Gemeinde, deren Angehörige freilich in umso größerer Verehrung zum Meister standen. Die 2. Auflage des Buches erschien erst im Jahre 1912. Seitdem aber folgt eine Auflage der andern, und der Ruhm von Gemeinschaft und Gesellschaft' ist Weltruhm geworden.266
So Bernhard Harms in seiner zu Tönnies' 70. Geburtstag 1925 gehaltenen Tischrede. Man muss sogleich hinzufugen, dass Tönnies' Buch in doppeltem Sinne ein ,Schicksal' gehabt hat. Nicht nur ist ihm, wie Harms hervorhebt und auch Tönnies nicht müde wird zu betonen, nach seinem Erscheinen nur ein „matter Achtungserfolg"267 beschieden, sondern es ist auch notorischen Missverständnissen ausgesetzt. Das Hauptmissverständnis liegt dabei darin, dass die beiden rein theoretischen Kategorien Gemeinschaft und Gesellschaft real gesetzt und darüber hinaus nicht in ihrem bereits theoretisch angelegten Vermittlungszusammenhang gesehen werden. So konstatiert auch Rudolph: „Tönnies ist ein in seinem eigentlichen Gehalt unbekannter Autor".268
264
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266
267 268
Ebd., S. 140. Scheler nennt Tönnies ebd., S. 140, Fn 1. Er verweist dort zudem auf den zweiten Teil seiner Schrift Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik [1913-1916]. Bickel 1991, S. 287. Auch Schlüter meint, dass Tönnies trotz seiner ,,dezidierte[n] Kritik der linearen Rationalität instrumenteller Vernunft [...] am Projekt der Moderne [...] festhält" und es „gegen Rassebiologen und Gemeinschaftsapologeten verteidigt" (Schlüter 1987, S. 254f.). Harms, Ferdinand Tönnies (Tischrede), S. 380. Vgl. analog Oppenheimer, Moderne Soziologie, S. 200. Tönnies, Selbstdarstellung, S. 19. Rudolph 1995, S. 40.
RESÜMEE
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Dirk Käsler hingegen fragt, ob es als der „Erfolg eines Mißverständnisses" zu verstehen sei, dass Tönnies' Gemeinschaft und Gesellschaft als simple entwicklungsgeschichtliche These zum Verfallsprozess ursprünglicher Gemeinschaften zu modernen Gesellschaften wahrgenommen wurde.269 Er fragt, wie es möglich war, dass kaum jemand das Buch als die rein theoretische Konstruktion verstanden habe, deren Anwendung Tönnies eher „akzidentell" wichtig gewesen sei.270 Käsler kommt zu dem Schluss, dass der Titel des Buches sowie die darin mitschwingenden kulturpessimistischen Töne zum Zeitgeist passten, so dass Gemeinschaft und Gesellschaft nicht nur die wesentlichen Themen der frühen deutschen Soziologie unter sich subsumieren konnte271, sondern auch für die reaktionären Tendenzen in der Gesellschaft anschließbar war. Tönnies hat - aller Klage über das beständige Missverständnis, dem das Buch seines Erachtens ausgesetzt war, zum Trotz - diesen Umstand selbst gesehen, wie die bekannte Stelle aus einem Brief an seinen Sohn aus dem Jahre 1934 zeigt: „Einige sagen [...], es sei der Erfolg meiner Theorie von Gemeinschaft und Gesellschaft, der in der NS-Ideologie vorliege, und es ist dafür einiger Grund vorhanden".272 In diesem Sinne liest Georg Lukács Tönnies' Gemeinschaft und Gesellschaft als ,,romantische[n] Antikapitalismus"273, der für die „ganze spätere Soziologie beständig wirksam"274 gewesen sei. So sei er einerseits Ausdruck reaktionärer, bürgerlicher Interessen, andererseits Vorläufer der ,,faschistische[n] Soziologie" etwa Hans Freyers gewesen275, der tatsächlich Tönnies für eine besonders „deutsche" Soziologie zu vereinnahmen suchte.276 Tönnies selbst schreibt in einem Zusatz zur Auflage von 1922, dass „nach den furchtbaren Zerrüttungen, die das kapitalistisch-gesellschaftliche Weltsystem erfahren hat, es nunmehr noch rücksichtsloser seine auflösenden Kräfte betätigt", und dass „diesen Erscheinungen gegenüber der Ruf nach ,Gemeinschaft' lauter und lauter geworden ist - nicht selten unter ausdrücklichem oder [...] verschwiegenem Bezüge auf die vorliegende Schrift" (GuG 203f.). Dass man sich auf seine Schrift im Grunde nie bezüglich 269 270
271 272
273 274 275 276
Käsler 1991. Auch Wenzler-Stöckel übt im Kapitel „Die Faszination einer ,reinen' Theorie in der Tönnies-Rezeption" Kritik an den Differenzierungsbemühungen der Tönnies-Forschung - für die These ihres Buches ist das von Bedeutung, denn sie liest Tönnies als Verteidiger der Gemeinschaft (vgl. Wenzler-Stöckel 1998, S. 55-69). Vgl. ebd., S. 519. Brief an Gerrit Tönnies vom 20. April 1934 (zit. n. Erdmann 1967, S. 13). Auch Käsler führt diese Stelle abschließend an (vgl. Käsler 1991, S. 526), übersieht dabei aber gewissermaßen, dass Karl Dietrich Erdmann sehr wohl weiß, dass Tönnies „den neuen Gemeinschaftsideologen wider Willen eine Propagandaformel in die Hand gegeben" (Erdmann 1967, S. 13) hat und hinter das dann folgende Zitat aus dem Brief an seinen Sohn Gerrit direkt ein weiteres Zitat stellt, in dem Tönnies sich als liberaler, der egalitären Gesellschaft zugetaner Sozialpolitiker zeigt (vgl. Tönnies, Über die Entstehung meiner Begriffe, S. 465f.). Vgl. auch Fn. 32 in dieser Arbeit. Lukács 1960, S. 517. Ebd., S. 514. Vgl. ebd., S. 559. Vgl. Freyer, Ferdinand Tönnies.
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DIALEKTIK DES SOZIALEN - FERDINAND TÖNNIES
einer aufgeklärt-politischen Gemeinschaft(-Gesellschaft), sondern stets im Sinne einer vermeintlich ursprünglichen Gemeinschaft berief, war Tönnies vielleicht nicht in aller Deutlichkeit klar. Gegen den Ruf nach einer rückwärtsgewandten Gemeinschaft richtet sich Plessners polemische kleine Schrift über die Grenzen der Gemeinschaft. Es ist Plessners bürgerlicher Liberalismus, der ihn gegen Tönnies als Vorzeigetheoretiker einer Gemeinschaftssehnsucht eingenommen sein lässt. Dass es dabei nicht so sehr gegen Tönnies selbst ging, kann einerseits die im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit ausgeführte Nähe zu Tönnies' Sozialphilosophie, andererseits einige von Plessner in einem Nachwort zu Ferdinand Tönnies von 1955 getätigte Aussagen zeigen. Plessner würdigt Tönnies' Schrift dort zwar, nennt sie aber „undialektisch" und rein an soziologischer Einteilung interessiert277, also hinführend zur formalen Soziologie. Plessner sieht auch, dass die „Umdeutung aber seiner [Tönnies'] Begriffe zu Parolen [...] mit seinem Werk nicht oder nur sehr indirekt zu schaffen"278 hatte. Tönnies hingegen nimmt in seiner freundlichen Rezension von Plessners Grenzen der Gemeinschaft die Schrift als ,,geistreiche[s] Büchlein" wahr, das allerdings „mehr zur Ethik als zur Soziologie" gehöre. Er stimme dem Verfasser fast in allem zu, „meine aber, daß der Aufwand an Geist und Gründen nicht ganz in gehörigem Verhältnisse steht zu der Absicht, den sozialen Radikalismus zu bestreiten".279 Während ich im nun abgeschlossenen ersten Teil dieser Untersuchung auf eine Sozialphilosophie zielend zu zeigen versucht habe, dass Tönnies' Begriffe durchaus dialektisch angelegt sind, wird der zweite Teil darlegen, dass der , Aufwand' einer philosophischen Anthropologie bei Plessner die Möglichkeit von Kritik innerhalb dieser Dialektik eintragen kann und insofern sicherlich im Verhältnis zu ihrem Aufwand steht.
277
Vgl. Plessner, Nachwort zu Ferdinand Tönnies, S. 343f.
278
Ebd., S. 347. Dieses wohlwollende Urteil nimmt Plessner später zurück, wenn er schreibt, dass man „mit Tönnies von Gemeinschaft und Gesellschaft als Wertgegensätzen, und zwar mit deutlicher Bevorzugung der Gemeinschaft, sprechen" könne (Plessner, Selbstdarstellung, S. 322).
279
Tönnies, Rezension von ,Grenzen der Gemeinschaft',
S. 356.
Teil II Kritische Sozialphilosophie - Helmuth Plessner
Einführende Bemerkungen zu einer kritischen Sozialphilosophie bei Plessner Plessner gilt neben Max Scheler und Arnold Gehlen als einer der Hauptvertreter einer philosophischen Strömung des 20. Jahrhunderts, die man trotz aller Unterschiede unter dem Titel philosophische Anthropologie' vereint. Seit 1952 ist Plessner Ordinarius für Soziologie gewesen ist, dennoch kann er nicht im engeren Sinne als Sozialphilosoph gelten. Insofern aber Mitmenschlichkeit Thema einer philosophisch-anthropologischen Auseinandersetzung sein muss, hat Plessner sich immer wieder sozialphilosophisch geäußert. Gleichwohl findet sich streng genommen nur ein genuiner Beitrag zur Sozialphilosophie unter seinen größeren Schriften - die 1924 erschienene Abhandlung Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus. Dort heißt es gleich zu Beginn: Gemeinschaft und Gesellschaft, durch Tönnies zu einer bekannten Antithese geformt, ist als Alternative seit Jahren Schnittpunkt öffentlicher Diskussionen, [···] [das] Verhältnis von Politik und Moral [...], das Revolutionsproblem und die Idee der sozialen Erneuerung, sowie die von der Dekadenzphilosophie vollzogene Kontrastierung zwischen Kultur und Zivilisation haben ihren gemeinsamen Ort in dem Beziehungsproblem von Gemeinschaft und Gesellschaft (GG 11). Plessner setzt sich folglich nicht mit Tönnies komplexer Schrift Gemeinschaft und Gesellschaft selbst, sondern mit der Debatte um Gemeinschaft und Gesellschaft auseinander280, in der gemäß der herrschenden aufgeladenen Stimmung die beiden Sozialformen zur kulturpessimistischen Antithese hypostasiert wurden. 281 Gemeinschaft sei bei Tönnies
280 281
Wie er 1955 eingesteht (vgl. Plessner, Nachwort zu Ferdinand Tönnies, S. 342). Tönnies selbst schreibt in einem Zusatz zur 1922er Auflage von Gemeinschaft und Gesellschaft, dass „nach den furchtbaren Zerrüttungen, die das kapitalistisch-gesellschaftliche Weltsystem erfahren hat, es nunmehr noch rücksichtsloser seine auflösenden Kräfte betätigt" und dass „diesen Erscheinungen gegenüber der Ruf nach .Gemeinschaft' lauter und lauter geworden ist - nicht selten unter ausdrücklichem oder [...] verschwiegenem Bezüge auf die vorliegende Schrift" (GuG 203f.). Kracauer konstatiert in seiner Rezension der Grenzen mit Blick auf die politische Unruhe: „Diese ,Kritik des sozialen Radikalismus' verdient zur Stunde ernste Beachtung, da sie sich wider weit verbreitete Stimmungen wendet" (Kracauer, Philosophie der Gemeinschaft, S. 359).
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KRITISCHE SOZIALPHILOSOPHIE - H E L M U T H PLESSNER
„als eine Erweiterung und Vertiefung der Privatsphäre gedacht, [...] in der es Schutz vor dem rauhen Wind der Öffentlichkeit gab".282 Nach einer Zeit der „Verklärung der Gemeinschaft" gegen die Industrialisierung und Technisierung der Lebenswelt sei der Gemeinschaftsgedanke seit 1918 politisiert worden, aus ihm entwickelten sich „die völkische Bewegung und das Nazitum"283, so skizziert Plessner die Rezeptionsgeschichte von Tönnies' Gemeinschaft und Gesellschaft - zu Tönnies' eigenem Bedauern ist diese Skizze durchaus treffend. In den Grenzen der Gemeinschaft formuliert Plessner dennoch eine Position, durch die sich eine systematische Auseinandersetzung mit Tönnies' Gemeinschaft und Gesellschaft nachtragen lässt. Das konstatierte Beziehungsproblem von Gemeinschaft und Gesellschaft sowie seine Lösung sind für Plessner einerseits von politischer Relevanz, insofern das Bedürfnis nach Gemeinschaft bei ihm unter Totalitarismusverdacht steht - mit Blick auf den Erfolg nationalsozialistischer Propaganda ein durchaus berechtigter Verdacht. Andererseits versteht Plessner das Problem der Vermittlung der beiden Sozialformen als philosophisch-systematische Frage. Vordergründig löst Plessner in den Grenzen der Gemeinschaft den Antagonismus von Gemeinschaft und Gesellschaft zugunsten eines Primats der Gesellschaft im Rahmen einer sozialethisch eher individualistisch geprägten Verhaltenslehre auf.284 Gemeinschaft begreift Plessner in den Grenzen als patriarchale „Blutsgemeinschaft" einerseits, als ideologisch-totalitäre „Sachgemeinschaft" andererseits. In einem ersten psychologisch-anthropologischen Versuch weist er die realen Grenzen dieser beiden Idealtypen nach. Bei der Unterscheidung von Idealtypen und realen Formen zeigt sich eine erste systematische Nähe zu Tönnies, der die Normalbegriffe Gemeinschaft und Gesellschaft als ,reine' Theorie entwickelt, deren Geltung aber allein in der angewandten Theorie sichtbar ist, in der sie je vermittelt sind. Wie bei Tönnies, so hat diese Unterscheidung auch bei Plessner normative Implikate; nicht nur deskriptiv kann der Mensch bei Plessner nie ganz Gemeinschaftswesen sein, auch normativ soll er es nicht sein müssen. Zwischen die beiden Sphären der Gemeinschaft sieht Plessner die Sphäre der Gesellschaft gespannt, in der wir uns alltäglich immer schon befinden. Die 1924 entwickelte Sozialphilosophie scheint Gemeinschaft als menschliche Lebensform im Ganzen zu negieren und eine Individualethik vorzuschlagen. Als Plessner 1928 aber sein philosophisch-anthropologisches Hauptwerk, die Stufen des Organischen und der Mensch, vorlegt, begründet er eine bereits 1924 angelegte Position der Vermittlung von Gemeinschaft und Gesellschaft durch hermeneutisch-phänomenologischen Aufweis der strukturellen Konstitution der menschlichen Grundsituation, der weder Vereinseitigungen zur Gemeinschaft noch zur Gesellschaft hin gerecht werden.
282 283 284
Plessner, Selbstdarstellung, S. 323. Ebd. So die prominente Lesart Helmut Lethens in Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen von 1994, die in der Plessner-Forschung viel Kritik ausgelöst hat (dokumentiert in dem von Wolfgang Eßbach, Joachim Fischer und Lethen 2002 herausgegebenen Band Plessners „ Grenzen der Gemeinschaft". Eine Debatte).
EINFÜHRENDE BEMERKUNGEN
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Im ersten Teil der vorliegenden Arbeit habe ich die Vermittlung von Gemeinschaft und Gesellschaft sowie einen normativ-deskriptiven Begriff sozialer Wirklichkeit als politische Gemeinschaft begriffslogisch mit Tönnies in starker Anlehnung an Hegels Dialektik aufgewiesen. Es blieb dabei eine gewisse Leerstelle in Bezug auf die Individuen, die die Vermittlung von Gemeinschaft und Gesellschaft vollziehen, insofern es eher Tönnies' Thema ist, in welche überindividuellen Formen das Soziale grundsätzlich differenziert ist. Mit Plessners philosophisch-anthropologischem Ansatz lässt sich das individuierte Wie des Vollzugs thematisieren. Im Hegeischen System könnte man sagen, ich trete mit Plessner den Weg zurück von der Sphäre des objektiven Geistes zu der des subjektiven Geistes an. Stärker als Tönnies nimmt Plessner die bürgerliche Gesellschaft nebeneinander gestellter Individuen in den Blick. Hegel kennzeichnet die bürgerliche Gesellschaft auch als Sphäre der Moralität und des bloß abstrakten Bewusstseins, als Individuum Mitte der Welt zu sein. Die Nähe zu Hegel ist bei Tönnies insofern aber viel stärker sichtbar, als er eine geschichtsphilosophische These mit dem Strukturmodell der ineinander verschränkten Sphären unmittelbarer Sozialität (Gemeinschaft) und unmittelbarer Individualität (Gesellschaft) verbindet. Mit der geschichtsphilosophischen These einer Ablösung gemeinschaftsorientierter durch gesellschaftsorientierte Sozialtheorien durch das Erstarken des Kapitalismus' kritisiert Tönnies nicht nur die allein gesellschaftsorientierte soziologische Theoriebildung, sondern einen jeweils unvollständigen Begriff des Sozialen. Wie sich am Begriff des Sozialen aufweisen lässt, ist das Soziale stets sowohl individuell als auch kollektiv verfasst und nur Begriffe und politische Entwürfe, die diese Konstitution des Sozialen beachten, sind deskriptiv und normativ gültig bei Tönnies. Das geschichtsphilosophische Moment und die damit verbundene Kritik sozialer Praktiken sowie der sozialphilosophischen Theoriebildung treten bei Plessner zunächst hinter strukturelle Überlegungen zurück. Der bei Tönnies formulierte kritische Anspruch einer Sozialphilosophie ist bei Plessner auf die strukturelle Ebene der menschlichen Grundsituation verschoben. Hier aber zeigt sich erst, wie es möglich ist, dass das sozialisierte Individuum innerhalb der sozialen Formen Neuerungen und Kritik denken kann. Plessners philosophische Anthropologie hellt das moralische, reflexive Subjekt der Hegeischen bürgerlichen Gesellschaft als (stets historisch bedingte) menschliche Grundsituation auf und weist es als strukturnotwendiges Moment einer kritischen Sozialphilosophie aus. Plessner hat die Verschiebung von entwicklungslogischen zu strukturlogischen Entwürfen geistesgeschichtlich als Paradigmenwechsel vom Begriff der Entwicklung im 19. zum Begriff des Lebens im 20. Jahrhundert verstanden (vgl. SOM 37). Zunächst scheint die philosophische Anthropologie Plessners statischer zu sein als Tönnies' Sozialphilosophie. Sobald aber die Sphären der Gemeinschaft in die strukturelle Logik der bei Plessner aufgewiesenen gesellschaftlichen Grundsituation des Menschlichen eingetragen werden, zeigt sich ihr starker Prozesscharakter, durch den wiederum die Tönniessche Statik der Begriffssphären erst ,in Bewegung gesetzt' wird. Es ist dabei besonders auf das Ineinander struktur- und entwicklungslogischer Momente zu achten. Tönnies und Plessner sind durchweg sehr verschiedene Denker. Diese Aussage kann in unterschiedlicher Weise gelten. Zunächst einmal trennen sie gute vierzig Jahre Lebens-
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KRITISCHE SOZIALPHILOSOPHIE - HELMUTH PLESSNER
zeit: Tönnies ist in jeder Hinsicht ein Bewohner des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der nur noch den Beginn des ,kurzen' 20. Jahrhunderts (Hobsbawm) erlebt hat, Plessners Philosophie ist hingegen deutlich durch die Ereignisse des 20. Jahrhunderts geprägt. 285 Das zeigt sich vor allem durch die Haltung zur bürgerlichen Gesellschaft der zwei Denker, die beide aus dem so genannten Bürgertum stammen. Ende des 19. Jahrhunderts weist Tönnies die bürgerliche Gesellschaft kapitalismuskritisch in ihre Grenzen, während Plessner die Integrität des Sozialen zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch radikale politische Kräfte derart bedroht sieht, dass er die bürgerliche Gesellschaft als Raum individueller Freiheit verteidigt. Mit der sozialgeschichtlichen Lage hat sich auch die geistesgeschichtliche verändert, so dass Tönnies und Plessner in recht unterschiedlichen Traditionslinien stehen. 286 Ob sich daraus durchweg mehr systematische Unterschiede als Ähnlichkeiten ergeben, wie Manfred Gangl behauptet, meine ich bezweifeln zu dürfen. 287 Sicher ist aber, dass die von Plessner offen gelegten Einflüsse auf seine Philosophie nicht mit denen von Tönnies konvergieren (mit Ausnahme des von beiden bestrittenen Einflusses von Hegel her). Während Tönnies Spinoza und Hobbes einerseits, Marx andererseits die philosophischen Ausgangspunkte seines philosophisch-soziologischen Schaffens nennt, entfaltet sich Plessners philosophische Anthropologie zwischen der Phänomenologie Husserls, der Hermeneutik Diltheys und der kritischen Transzendental285
286
287
Sichtbar nicht nur in den Grenzen der Gemeinschaft, sondern auch in Macht und menschliche Natur (1931) und Die verspätete Nation (1935), wobei Lolle Nauta annimmt, dass es zu einer merklichen Verschiebung kommt, denn „die politischen Schriften vor 1933 sind durch ein Demokratiedefizit charakterisiert (Nauta 2005, S. 942), während die Exilschriften den Wert demokratischer Institutionen anerkennen, der implizit ohnehin mit der Systematik der gesamten Plessnerschen Philosophie besser vereinbar sei (vgl. ebd., S. 945). Zum real- und geistesgeschichtlichen Hintergrund der Entstehung von Plessners philosophischer Anthropologie vgl. vor allem Fischers Dissertation Philosophische Anthropologie. Zur Bildungsgeschichte eines Denkansatzes (Fischer 2000b, umfassender ders. 2008), kürzer und das Verhältnis zur politischen Philosophie der Weimarer Republik beleuchtend auch ders. 1993. Besonders hilfreich ist der sorgfältig recherchierte Band von Pietrowicz 1992, der extensiv Einflüsse von Kant und vom deutschen Idealismus, aber auch von der Phänomenologie und von der Biologie her aufzeigt. Knapper dargestellt sind Einflüsse bei Redeker 1993, Kap. 1, Arlt 2001 und Dietze 2006, Kap. 2.1 u. 2.2. Nauta weist explizit darauf hin, dass Plessners frühe Philosophie nur vor ihrem geschichtlichen Entstehungshintergrund zu verstehen ist (Nauta 2005). Zur Entstehung (und Verabschiedung) der philosophischen Anthropologie allgemein vgl. Schnädelbach 1991, S. 263-281. Den Einfluss Nietzsches auf die Zeit macht erhellend Rainer Adolphi geltend. Sowohl die zeittypische „Ästhetisierung von ,Lebensstil'-Aspekten" als auch der Ruf nach dem „Neuen Menschen" sowie die Setzung neuer Themen wie Sprache, Leib, Affekte und nicht zuletzt die Fokussierung auf die dem Menschen eigene „Gestaltungsmacht" schreiben sich von Nietzsche her und bilden gemeinsam das Phänomen einer ersten Welle des Nietzscheanismus (vgl. Adolphi 2006, S. 63-65). Die Wirkung der Antithese von Gemeinschaft und Gesellschaft in der Weimarer Republik und die Verortung Plessners darin wird bei Braun 1991 (insbes. S. 368-374) sichtbar. Im Sinne einer Intellektuellengeschichte der Weimarer Republik ist der Sammelband von Wolfgang Bialas und Burkhard Stenzel hilfreich (Bialas/Stenzel 1996), vgl. darin Hans-Peter Krüger zu Plessner. Zum Intellektuellendiskurs der Weimarer Republik vgl. auch Gangl/Raulet 1994. Vgl. Gangl 1996, S. 208.
EINFÜHRENDE BEMERKUNGEN
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Philosophie Kants. Wo Plessner biophilosophische Ansätze entwickelt, darf der Einfluss durch seinen Lehrer, den Naturphilosophen Hans Driesch, sowie durch Jakob von Uexküll nicht unterschlagen werden. Nicht zuletzt hat die langjährige, auch wissenschaftliche Freundschaft mit Josef König, einem Schüler Georg Mischs, seine philosophische Entwicklung dauerhaft geprägt.288 Mit meiner Bemühung, Tönnies und Plessner nicht als Antipoden, sondern als Vertreter einander systematisch ergänzender sozialphilosophischer Ansätze zu verstehen, betrete ich philosophiegeschichtliches Neuland. 289 Ein solcher Versuch muss sich mit verschiedenen Schwierigkeiten auseinandersetzen. Erstens muss er sich gegen die eindimensionale Lesart richten, nach der Tönnies Gemeinschaft, Plessner Gesellschaft verteidigt und die beiden Autoren so an den vermeintlich unvereinbaren Enden von Kollektivismus und Individualismus verortet werden, wie es die Lektüre Isabel Wenzler-Stöckels vorschlägt.290 Zweitens muss eine dagegen etablierte Lektüre die vorliegenden Texte Plessners und Tönnies' mitunter gegen den Strich bürsten, insofern beide vereinfachende Lesarten stützen - so wie Tönnies nicht selten Gesellschaft derart negativ beschreibt, dass er sie als Sozialform abzulehnen scheint, übt Plessner scheinbar Kritik an jeder Form von Gemeinschaft. Drittens basiert die These einer möglichen Ergänzung der Ansätze auf dem Gedanken einer Vermittlung von Gemeinschaft und Gesellschaft bei beiden Autoren. In der Tönnies-Forschung ist die Vermittlungsthese entgegen dem populären ( M i s s v e r s t ä n d nis mittlerweile Konsens. Im ersten Teil der Arbeit wurden im Anschluss an den Stand der Tönnies-Forschung Überlegungen dazu entwickelt, wie diese Vermittlung begriffslogisch zu verstehen ist. Die These der Vermittlung von Gemeinschaft und Gesellschaft ist in der Plessner-Forschung hingegen bislang eher umstritten. Andy Wallace z.B. liest Plessners Grenzen der Gemeinschaft als eine „Aufwertung von Gesellschaft zu Lasten von Gemeinschaft". 291 Doch verlagert sich auch hier der Fokus zunehmend auf die Lesart der Vermittlung. So spricht Jan Beaufort zwar noch von einer „Priorität gesellschaftlich vermittelter Lebensformen" 292 bei Plessner, denkt aber eine Vermittlung über ihn hinaus-
288
Dokumentiert in dem von Hans-Ulrich Lessing und Almut Mutzenbecher 1994 edierten Briefwechsel Josef König/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923-1933.
289
Mit Ausnahme der schmalen Dissertationsschrift von Wenzler-Stöckel 1998, in der zwar beide Positionen betrachtet werden, aber kein wirklicher Vergleich geleistet wird. Weiterhin werden beide Ansätze in dem Artikel von Gangl 1996 sowie in einem von Bickel 2002 erwähnt, der die Gemeinsamkeit der beiden Denker in ihrer Kritik am politischen Irrationalismus sieht. Knapp auch Flego 1993, S. 69f. Sie spricht von „Verteidigung von Gemeinschaft bei Tönnies" und „Kritik an Gemeinschaft bei Plessner" (Wenzler-Stöckel 1998, S. 161). Wallace 2002, S. 349. Wallace kritisiert an Plessner sogar e i n e n , g e s e l l s c h a f t l i c h e ^ Radikalismus" (ebd.). So auch bereits von Bubnoff, Rezension von ,Grenzen der Gemeinschaft', S. 364f. Entgegen dieser Lesart vgl. Krüger 1999, insbes. Kap. 5 und 6. Beaufort 2000a, S. 233.
290
291
292
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KRITISCHE SOZIALPHILOSOPHIE - HELMUTH PLESSNER
gehend an, da der Gegensatz nicht immer strikt durchgehalten sei.293 Salvatore Giammusso versteht Gemeinschaft und Gesellschaft bei Plessner als „zwei intersubjektive Daseinsmodi, die in der Wirklichkeit nie so genau trennbar sind"294, also ganz ähnlich wie Tönnies' ,reine' und angewandte' Begriffe. Olivia Mitscherlich spricht von der „Verschränkung von gesellschaftlicher und gemeinschaftlicher Lebensordnung"295, und Joachim Fischer konstatiert, dass die philosophische Anthropologie Plessners sich nicht dafür eigne, „das Konkrete gegen das Abstrakte", „,Gemeinschaft' gegen ,Gesellschaft' oder ,Lebenswelt' gegen ,System'" auszuspielen.296 Produktiv ist insbesondere Birgit Sandkaulens Vorgehen, Plessners Position als „Kritik an der rousseauistisch konnotierten Gemeinschaftsidee"297 zu verstehen; Plessner sei nicht einfach als Apologet der bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Prämissen des Atomismus aufzufassen 298 , sondern sein Begriff von Gesellschaft sei primär durch die Differenz der Individuen zueinander gekennzeichnet. Wie das Ineinander von Gemeinschaft und Gesellschaft bei Plessner entwickelt wird, ist im philologischen Nachweis nur bei Gerhard Ehrl thematisch geworden. In einem kurzen Artikel fragt Ehrl, ob nicht die Grenzen auch die Kritik an einer bestimmten Form von Gesellschaft unter Bezug auf einen normativen Begriff von Gesellschaft implizieren.299 Dass die Vermitteltheit von Gemeinschaft und Gesellschaft bei Plessner bislang an keiner Stelle explizit thematisch geworden ist, liegt nicht zuletzt am Begriff der Vermittlung selbst, der ganz richtig in der Tradition Hegels gesehen wird.300 Viertens kann also 293
294 295
296 297
298 299 300
Vgl. ebd., S. 240. Dass Beaufort diese Vermittlung nicht dialektisch nennen würde, wird an anderer Stelle deutlich (vgl. Beaufort 2000b). Giammusso 1995, S. 99. Mitscherlich 2007, S. 355. Der VerschränloingsbegriffistinMitscherlichs Lesart für Plessners Denken in den 1920ern und bis Mitte der 1930er Jahre von besonderer Wichtigkeit, da in diesem Begriff statt eines dualistischen Entweder/Oder eher ein Sowohl-als-auch aufscheine (vgl. Mitscherlich, 2007, z.B. S. 243). Sie vermutet, dass Plessners „Verschränkungsansatz" sich von König herschreibe (vgl. ebd., S. 262). In Bezug auf die hier verhandelte Thematik spricht sich Mitscherlich dafür aus, Plessners Auszeichnung von Gesellschaft gegenüber Gemeinschaft am Ende der Stufen als „einer konkreten historischen Situation" geschuldet zu verstehen, „die sich durch Bedrohung der Freiheit sowohl des Geistes als auch der Individualisierung auszeichnet" (ebd., S. 240). Fischer 1995, S. 274f. Sandkaulen 1994, S. 259, vgl. auch Hondrich 2002, S. 294. Ähnlich meint Mitscherlich, es gehe „Plessner in seiner normativen Auszeichnung von [...] Gesellschaft nicht um deren Durchsetzung gegenüber [...] der Gemeinschaft sondern allein um ihre Verteidigung" (Mitscherlich 2007, S. 240). Plessner selbst spricht von der „Losung Rousseaus" im Zusammenhang seiner Kritik am eschatologisch aufgeladenen Entfremdungsbegriff, der auf eine verlorene paradiesische Ordnung abhebt, die es der funktionalisierten Gesellschaft wieder abzutrotzen gelte (vgl. Plessner, Problem der Öffentlichkeit, hier S. 219, vgl. auch ders., Selbstdarstellung, S. 323). Vgl. Sandkaulen 1994, S. 260. Vgl. Ehrl 2004, hier S. 89. Es gibt jedoch eine Reihe von Randbemerkungen, die auf die Stichhaltigkeit einer dialektischen Lektüre von Plessners philosophischer Anthropologie hinweisen. Gerhard Arlt spricht sich für eine dialektische Lesart Plessners aus; so meint er, dass die Grenzen der Gemeinschaft das „dialektische Thema der Vermittlung" durchziehe wie ein „Generalbaß" (vgl. Arlt 1996, S. 92) und versteht in der
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EINFÜHRENDE BEMERKUNGEN
die überwiegende A b l e h n u n g dialektischer Philosophie in den Katalog z u überwindender Schwierigkeiten a u f g e n o m m e n werden. D i e A b w e h r einer dialektischen Lektüre ist m.E. e i n e m unterkomplexen Dialektikbegriff s o w i e Plessners Hegelkritik geschuldet. 3 0 1 Wie bereits im ersten Teil der Arbeit ausfuhrlich gezeigt, kann es bei einer sozialphilosophischen Dialektik keinesfalls darum g e h e n zu zeigen, dass sich die miteinander streitenden Kräfte G e m e i n s c h a f t und Gesellschaft notwendig in e i n e m irgendwann f o l g e n d e n Zeitalter .versöhnen' müssen. Dialektische Philosophie ist gerade durch das Aufrechterhalten und Aushalten des Widerspruches gekennzeichnet, hier v o n Kollektivismus und Individualismus, die beide M o m e n t e eines holistischen Verständnisses des Sozialen sind. Plessners Hegelkritik ist dabei eher kontingenten Gründen geschuldet - spekulative Philosophie hatte im Zeitalter der P h ä n o m e n o l o g i e und des Neukantianismus keinen guten Leumund. Begradigt wird dies rückwirkend durch Plessners Nachwort Tönnies
zu
Ferdinand
v o n 1955, w o er als einen w e s e n t l i c h e n Kritikpunkt an T ö n n i e s formuliert, dass
Gemeinschaft
und Gesellschaft
z u „undialektisch" sei. 3 0 2 Für seinen g e g e n die Tönnies-
Konsequenz „als methodische Vorgehensweise" Plessners „eine offene, konkrete Dialektik" (ebd., S. 144, vgl. auch ders. 2001). Auch Karl Otto Hondrich spricht von einer „Dialektik von Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung" (Hondrich 2002, S. 300f.), dies allerdings von soziologischer Seite. Hans-Peter Krüger meint, Plessner würde Gemeinschaft und Gesellschaft nicht dualistisch gegeneinander ausspielen (Krüger 2000a, S. 303, umfassender ders. 1999, Kap. 5 u. 6), dennoch lehnt er eine dialektische Lesart ab und spricht von Plessners nur „quasidialektischefm]" Verfahren der Verschränkung (vgl. ders. 2005). Einige weniger Verzagte sehen auch die Bezüge Plessners zu Hegel, so etwa Hetzel 2005, S. 241 u. S. 247. Giammusso schiebt Plessner einen teleologischen Dialektikbegriff unter, durch den die „gesellschaftliche Entzweiung" in den „ewigen Werten der Kultur" befriedet werden solle (vgl. Giammusso 1995, S. 106). Michael Weingarten meint, man finde zwar „philosophische Anthropologien" in „der dialektischen Philosophie" vor, es sei aber „begrifflich widersinnig von [...] einer dialektischen philosophischen Anthropologie usw. zu sprechen" (Weingarten 2005, S. 19, Fn. 7). Hans Heinz Holz bemerkt dementsprechend mehrfach, dass die von ihm positiv beantwortete Frage in höchstem Maße umstritten ist, ob „die Begründung einer dialektischen Anthropologie in Plessners Horizont" liegt (vgl. Holz 2003, insbes. den Ausblick S. 159ff.). Auch Alexandra Manzei spricht von der dialektischen Anthropologie Plessners (vgl. Manzei 2005, S. 61). Im Anschluss an Holz meint Beaufort gar, dass das „Verständnis von Plessner als Dialektiker [...] Gemeingut der Plessnerforschung" sei (Beaufort 2000a, S. 16), jedoch handele es sich bei Plessner anders als bei Hegel um eine „negative Dialektik, die die Gegensätze nicht aufhebt" (ders. 2003, S. 72). 301
302
So Krügers Annahme, Plessner überwinde das Bewusstseinsparadigma Hegels durch seine leibbezogene Philosophie (vgl. z.B. Krüger 2000b, ders. 2001b), Kai Hauckes Idee, Plessners mesotës-Lehie überwinde den Hegeischen Radikalismus (vgl. Haucke 2002, S. U l f . ) oder auch Mitscherlichs oft angebrachte Kritik, gegenüber der Plessnerschen stehe die Hegeische Geschichtsphilosophie „für die Versöhnung von Vernunft und Wirklichkeit, in der die geschichtliche Wirklichkeit in ihrer Tatsächlichkeit geschluckt ist", die aber „mit der sich ausbreitenden Erfahrung geschichtlicher Kontingenz ihre Glaubwürdigkeit" verloren habe (Mitscherlich 2007, S. 272, vgl. auch S. 346-348); analog N. A. Richter 2005, S. 157. Zu einem produktiven Verständnis von Hegels Rede von der Wirklichkeit der Vernunft, mit der die Hegel-Kritik dieser Lesarten nicht mehr vereinbar ist, vgl. Kap. 3.1 in dieser Arbeit. Vgl. Plessner, Nachwort zu Ferdinand Tönnies, S. 344.
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KRITISCHE SOZIALPHILOSOPHIE - HELMUTH PLESSNER
sehe Antithese gerichteten Versuch Grenzen der Gemeinschaft gesteht er eine „gefährliche Schlagseite zum Machiavellismus" ein, tatsächlich ging es ihm aber um die unverbrüchliche dialektische Verbindung von Gemeinschaft und Gesellschaft als Verwirklichungsweisen sozialen Daseins, um die Bestreitung möglicher Vereinseitigung des Gemeinschaftsideals, den Nachweis also der Unaufhebbarkeit der Öffentlichkeit [Gesellschaft, NSch]. 303
Hans Heinz Holz hat mit seiner schmalen Schrift Mensch - Natur. Helmuth Plessner und das Konzept einer Dialektischen Anthropologie304 wegweisende Akzente fur einen solchen Ansatz in der Auseinandersetzung mit Plessner gesetzt. Er spricht von einer künftigen Anthropologie, die „die dialektische Aneignung von Plessners Erkenntnissen" leisten müsse305, die er in erster Linie in der Verbindung dialektischer Naturphilosophie und Anthropologie sieht.306 Die Verbindung von Anthropologie und Soziologie (bzw. Sozialphilosophie) sieht Holz dabei als notwendig an, meint aber, dass Plessner sie nicht geleistet habe.307 Das Anliegen der folgenden Ausführungen ist der zu dieser These gegenläufige Aufweis einer unverbrüchlichen dialektischen Verbindung von Gemeinschaft und Gesellschaft sowie deren Zusammenhang mit der menschlichen Grundsituation bei Plessner, die sich gerade durch ihre Sozialität auszeichnet. Bislang ist ein genuin sozialphilosophischer wie überhaupt ein eher systematisch problem-orientierter Zugriff auf Plessners philosophische Anthropologie nur in Ansätzen erfolgt. Das ist insofern einfach zu erklären, als Plessner ähnlich wie Tönnies lange Zeit abseits des Zentrums philosophischer Auseinandersetzung stand. Nicht zuletzt lag das daran, dass Plessners philosophisches Hauptwerk Die Stufen des Organischen und der Mensch 1928 unter schlechten Bedingungen erschien - im Schatten von Heideggers Sein und Zeit sowie belastet durch den Plagiatsvorwurf Schelers erhielt es zunächst wenig Aufmerksamkeit. Seit den 1980er Jahren setzten Bemühungen um Plessner ein, die sich in den 1990er Jahren verstärkten. Inzwischen ist diese Rekonstruktion in umfänglichen 303 304
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306 307
Ebd., S. 342. Viele andere Bezeichnungen sind für Plessners philosophische Anthropologie verwendet worden. Am nächsten kommt dem hier vorgelegten Projekt vielleicht der Begriff einer TranszendentalAnthropologie, die Helmut Fahrenbach systematisch ausgeführt bei Rentsch 1999 und ders. 2003 findet (Fahrenbach 1994, S. 74). Beaufort (vgl. Beaufort 2000a, S. 233ff.), Lethen (vgl. Lethen 2004, S. 79f.) und Norbert Axel Richter sprechen von „politischer Anthropologie" (N. A. Richter 2005, S. 175), Volker Schürmann von einer „skeptischen Anthropologie" (Schürmann 2005, S. 41, auch Benk 1987), Gamm von einer „reflexiven Anthropologie" (Gamm 2005, S. 201, auch Kämpf 2001, S. 60). Man hat sogar gestritten, ob das .philosophisch' mit Majuskel zu versehen sei, damit Plessners Position eher mit einem Namen belegt als mit einem Begriff bezeichnet sei bzw. einen Bereich der Philosophie oder Philosophie überhaupt ausmache (vgl. Weingarten 2005, S. 19f.). Krüger beharrt auf dem Begriff der „Philosophischefn] (großgeschrieben) Anthropologie" (Krüger 1999, S. 24). Vgl. Holz 2003, S. 170. Vgl. zu Holz' dialektischer Lektüre der Plessnerschen Naturphilosophie auch ders. 1986. Holz 2003, S. 45. Vgl. ebd., S. 137fr., auch S. 179.
EINFÜHRENDE BEMERKUNGEN
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und differenzierten Studien soweit zugänglich 308 , dass ich es hier unterlassen will, einen umfassenden Überblick über die Plessner-Literatur zu geben.309 Zu nennen sind in erster Linie Hans-Peter Krügers zweibändige Plessner-Monographie Zwischen Lachen und Weinen (1999/2001) sowie neuer und auf die Fragestellung philosophischer Orientierung in der Moderne zugespitzt Mitscherlichs Studie Natur und Geschichte. Helmuth Plessners in sich gebrochene Lebensphilosophie von 2007. Krüger versteht Plessners „Philosophische Anthropologie als einen Anwalt des Common Sense in der Frage nach dem Menschen" 310 , weshalb er sie in systematischer Nähe zu John Deweys Pragmatismus verortet. Er hebt in seiner Lektüre der Plessnerschen Philosophie in erster Linie auf den Spielcharakter ab, der allem Menschlichen eigne.311 Krüger konzentriert sich dabei auf die bei Plessner hervorgehobene Körper-Leib-Differenz, deren Konsequenzen er vor allem für eine Philosophie des Rollenspiels durchdenkt und deren Ansatzpunkt für die Gegenwartsdiskussion er im zweiten Band seiner Plessner-Monographie aufzeigt. 312 Mitscherlich rekonstruiert Plessners Philosophie fur den Zeitraum zwischen 1926 und 1936 als „in sich gebrochene Lebensphilosophie", erst danach wende Plessner sich der Festschreibung des menschlichen Wesens in einer philosophischen Anthropologie zu.313 In ihrer „exegetischen" 314 Lektüre stehen die Stufen des Organischen als Naturphilosophie und Macht und menschliche Natur sowie Die verspätete Nation als Geschichtsphilosophie (gemeint ist Frage nach „dem Menschentum in seiner historischen Wirklichkeit" 315 , nicht die Philosophie der Geschichte) als „Verschränkung und Gleichursprünglichkeit von Zeitlichem und Ewigem" in irreduzibler Gewichtung nebeneinander. 316 Gegenüber der Hegeischen , Versöhnung' von Wirklichkeit und Vernunft sei bei Plessner der Bezug auf den „vakanten Wahrheitsgrund präsent" offen gehalten317, und so könne seine Lebensphilosophie in einer Situation normativen Sinnverlusts in der Moderne Orientierung in Distanz zu und in Rückbindung an den „Sinnhorizont" der eigenen Zeit geben.318 Wäh308
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Zuerst bei Hans Redeker mit Helmuth Plessner oder die verkörperte Philosophie von 1993. Der erste Entwurf dieser Monografie gehe auf die 1960er Jahre zurück und sei von Plessner selbst anerkannt worden, so Krüger (vgl. Krüger 1996a, S. 283). Auch Stephan Pietrowicz bietet über die Betrachtung der Genese des Plessnerschen Denkens hinaus eine ausfuhrliche Darstellung desselben (vgl. Pietrowicz 1992, Kap. III-IV). Ausführlich zum Stand der Plessner-Forschung in den 1990er Jahren vgl. Krüger 1996a. Krüger 1999, S. 117. Vgl. ebd., z.B. S. 26. Vgl. Krüger 2001b, dort vor allem Kap. 1 sowie als Schwerpunkt Überlegungen zur Produktivität der Leib-Körper-Differenz im Hinblick auf die sex-gender-Unterscheidung (Kap. 3). Vgl. Mitscherlich 2007, S. 353-356. Ebd., S. 16. Ebd., S. 19. Ebd., S. 347. Ganz ähnlich verfolgt Beaufort einen Übergang von der Naturphilosophie zur Geschichtlichkeit des Menschen bei Plessner, geht in seiner Schrift aber weniger akribisch vor als Mitscherlich (Beaufort 2000a, auch ders. 1998). Mitscherlich 2007, S. 13. Vgl. ebd., S. 348.
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rend Krüger und Mitscherlich in verschiedener Weise den Anspruch erheben, mit Plessner „systematisch eine neuartige Weise des Philosophierens mit und über Menschen" 319 zu rekonstruieren (bzw. über Hegel hinaus zu gehen), beabsichtigt diese Arbeit etwas weniger, wenn sie mit der systematischen Fragestellung nach dem Verhältnis von Gemeinschaft und Gesellschaft im Rahmen einer philosophischen Anthropologie bei Plessner einsetzt. Vorsichtig würde ich zudem vorschlagen, Plessner in größerer Nähe zu Hegel zu verorten, statt ihm die Beweislast einer von ihm selbst beanspruchten „Neuschöpfimg der Philosophie" (SOM 68) zuzumuten. Weitere Untersuchungen zu Plessner sind der Entstehungsgeschichte gewidmet, so Stephan Pietrowiczs Helmuth Plessner. Genese und System seines philosophisch-anthropologischen Denkens von 1992 und Fischers Philosophische Anthropologie. Zur Bildungsgeschichte eines Denkansatzes (2000 bzw. umfassender 2008). Systematisch an einer sozialphilosophischen Position Plessners interessiert ist Beauforts Die gesellschaftliche Konstitution der Natur (2000) als eine Verbindung von Plessners Naturphilosophie mit seiner Sozialphilosophie im Anschluss an einen programmatischen Aufsatz zur Dialektik in Plessners Naturphilosophie von Holz (1986). Die Frage nach einer Sozialphilosophie bettet Beaufort ein in die Frage nach Plessners Ontologie 320 und kommt zu der im Titel genannten These „Sein ist gesellschaftlich konstituiertes Sein".321 Die Auseinandersetzung mit Plessners Sozialphilosophie ist bei Beaufort zwar angekündigt, bleibt aber in Andeutungen stecken, da die Schrift sich vornehmlich mit Plessners Naturphilosophie befasst. Disziplinar in der Soziologie verortet, entwickelt weiterhin Gesa Lindemanns an Plessner orientierte Studie Die Grenzen des Sozialen (2002) zur Grenze des Lebendigen im intensivmedizinischen Alltag eine sozialphilosophische These, allerdings weniger zur Konstitution des Sozialen selbst als zur Grenzreflexion in der zwischenmenschlichen Praxis.322 Eine systematische Verbindung von Plessners philosophischer Anthropologie mit einer politischen Philosophie leistet Norbert Axel Richters Grenzen der Ordnung. Bausteine einer Philosophie des politischen Handelns nach Plessner und Foucault (2005). Ν. Α. Richter versteht die „Gebrochenheit der menschlichen Konstitution" als Kern einer „Theorie des Spielens und fur eine Theorie diplomatischen Handelns" 323 und hebt mit Plessner vornehmlich auf die Politizität menschlichen Daseins ab, auf dessen Sozialität er nicht eigens eingeht. Im Folgenden werde ich mich um die systematische Frage der Vermittlung von Gemeinschaft und Gesellschaft bei Plessner bemühen, die bei diesem sehr viel konkreter ausgestaltet ist als bei Tönnies (vgl. Kap. 3.3). Zu diesem Zweck beziehe ich mich in erster Linie auf Plessners frühe Schrift Grenzen der Gemeinschaft, an die ich die Frage stelle, 319 320 321
322 323
Krüger 1999, S. 25. Vgl. Beaufort 2000a, S. 23. Ebd., S. 214. Beaufort erinnert hier an Peter Berger und Thomas Luckmanns Theorie der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit von 1966. Lindemann 2002. N. A. Richter 2005, S. 15.
EINFÜHRENDE BEMERKUNGEN
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ob es sich um eine Sozialethik handelt324, mit der er auf eine bestimmte historische Lage reagiert, oder ob die Schrift auch als Ansatz zu einer Sozialphilosophie verstanden werden kann (Kap. 6). Es wird wohl nicht überraschen, dass Grenzen der Gemeinschaft gewissermaßen beides ist. Die dort entwickelte Sozialethik soll in ihren Einzelheiten aber nicht Gegenstand meiner systematisch am Vermittlungsproblem orientierten Auseinandersetzung sein. Vielmehr verfolge ich den Nachweis, dass Plessners sozialethisch motivierte Argumentation auf einem sozialphilosophischen Fundament aufruht, das sich von dem bei Tönnies rekonstruierten nicht wesentlich unterscheidet: Die Nichtaufhebbarkeit der Differenz und der Vermittlung von Gemeinschaft und Gesellschaft ist konstitutiv für das Soziale und so für eine menschliche Welt. Aus diesem begrifFslogischen f u n d a ment' aber lässt sich weder bei Tönnies noch bei Plessner eine inhaltlich konkretisierte Sozialethik formulieren. Es lässt sich hingegen mit Plessners Sozialphilosophie sehr viel zum konkreten Ineinander von Gemeinschaftlichkeit und Gesellschaftlichkeit (unter den Titeln Familiarität und Objektivität) im alltäglichen Miteinander sagen. Die Überlegungen zu Plessners Sozialphilosophie schließen mit einem Vergleich der begrifflichen Momente des Sozialen bei Plessner, Tönnies und Hegel. Würde es in diesem Teil der Arbeit allein um den Nachweis der Ähnlichkeiten zwischen Tönnies und Plessner gehen, so wäre er damit erbracht. Mit Plessner lässt sich aber durch seine philosophische Anthropologie ergänzend zum Begriff des Sozialen verstehen, wie wir das personale Individuum in seinem Weltverhältnis als Ermöglichungsgrund von Kritik und abweichendem Handeln auffassen können (Kap. 7). Die Möglichkeit von Kritik wird durch das zugleich Bestimmt- und Unbestimmt-Sein des Menschen und der menschlichen Welt aufgezeigt. Wie bei Tönnies aus den begriffslogischen Überlegungen lässt sich bei Plessner vom Begriff des personalen Individuums her eine Linie in die politische Philosophie verfolgen. Um einen häufig vorgebrachten Einwand gegen die philosophische Anthropologie im Allgemeinen gleich vorwegzunehmen: Wesentlich bei der philosophischen Anthropologie ist, dass es ihr nicht um die Festlegung des menschlichen Wesens geht.325 Nicht einmal um die Bestimmung, der Mensch sei wesentlich unbestimmt, kann es gehen (auch wenn einige zu glauben scheinen, dass die Festlegung auf Unbestimmtheit keine Festlegung sei), sondern um „das menschliche Verhältnis zur Welt",326 Das ist insofern ein 324
Explizit liest Haucke Plessners Grenzen der Gemeinschaft als Sozialethik: „Plessners philosophisches Anliegen ist daher: Bewahrung menschlicher Würde durch Überwindung des Dualismus, durch seine Entfundamentalisierung" (Haucke 2003, S. 87). Die Plessnersche Sozialethik entfaltet Haucke in überdramatisierter Abgrenzung zu Kants Moralphilosophie in seiner 2003 erschienenen Dissertation Das liberale Ethos der Würde. Eine systematisch orientierte Problemgeschichte zu Helmuth Plessners Begriff menschlicher Würde in den Grenzen der Gemeinschaft. Eher im Sinne des hier vertretenen Ansatzes einer Historisierung der Plessnerschen Sozialethik argumentieren Lethen 1994, ders. 2002 sowie Nauta (vgl. Nauta 2002, S. 288), der sich mit Plessners Grenzen „sozialphilosophisch befassen" möchte (vgl. ebd., S. 257).
325
Zu den systematischen Eckpunkten einer philosophischen Anthropologie vgl. Thyen 2007, Kap.
326
Holz 2003, S. 18.
1.1.
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großer Unterschied, als es das eine Mal um so genannte Wesensbestimmungen, das andere Mal um den Aufweis benennbarer Strukturen unseres Selbst- und Weitverstehens geht. Als anthropologisch verstehe ich die Rede (logos) von dem, was sich alltäglich als menschlich zeigt. Es geht um die Grundsituation des Menschlichen in ihren strukturellen Zügen.327 Ich werde mit Plessner also nicht die „Frage nach dem Menschen erneut"328 stellen, sondern Plessners philosophische Anthropologie allein in Bezug auf ihre Relevanz für eine kritische Sozialphilosophie aufgreifen.329 Seinen Ansatz fasse ich dabei wie Holz als transzendental-phänomenologische Analyse der Weise des In-der-Welt-Seins von selbstbewussten, sozialen Personen auf. Es ist die Frage nach den Strukturen des Selbstverstehens, das selbstbewusste, soziale Individuen praktizieren. Es wird darin nach den Strukturmomenten einer menschlichen Welt gefragt, wie wir sie alltäglich als solche erfahren.
6. Grenzen der Gemeinschaft - Sozialphilosophie oder Sozialethik? ... nicht gegen die communio, wohl aber gegen die communio als Prinzip ... (GG 41).
Das folgende Kapitel setzt sich mit Plessners Sozialphilosophie auseinander, wie er sie in den Grenzen der Gemeinschaft entwickelt hat. Kurz gefasst kann Plessners Kritik an der Gemeinschaftsgesinnung als Einforderung der Achtung der Öffentlichkeit als dem Ort des Ausgleichs zwischen dem unmittelbaren privaten Leben und lebensfernen allgemeinen Prinzipien verstanden werden. Er entwickelt „vom Leben her" (GG 11) gegen diese beiden Vereinseitigungen einen Begriff der Gesellschaft, in dem das alltägliche Miteinander (soziale Wirklichkeit) erfasst ist, der sich als haltbare Grundlage einer Sozialphilosophie nach Plessner erweist. Mit diesem Verständnis sozialer Wirklichkeit wendet Plessner sich nicht gegen Gemeinschaft überhaupt, sondern gegen Gemeinschaft „als Prinzip" (GG 41).
327
Den Begriff der Grundsituation bzw. der Situationalität entlehne ich Rentschs Analysen zur Philosophischen Anthropologie, wie er sie in Heidegger und Wittgenstein (Rentsch 2003) sowie in Die Konstitution der Moralität (ders. 1999) entwickelt hat. Bei Plessner wird derselbe Sachverhalt als exzentrische Positionalität bezeichnet. Auf den Status der philosophischen Anthropologie im Zusammenhang mit einer Sozialphilosophie gehe ich in Kapitel 7 ein.
328
Krüger 1999, S. 15.
329
Eine mögliche andere Folgerung wäre die Verpflichtung der Plessnerschen kritischen Anthropologie auf die praktische Philosophie, wie sie z.B. Gamm (Gamm 2005), Heike Kämpf (Kämpf 2005) oder Andreas Hetzel (Hetzel 2005) vornehmen. Systematisch am weitesten fuhrt dabei der Ansatz Gamms, der bei Plessner eine transzendentalhermeneutische Begründung des kriterialen Sinns der Unbestimmtheitsrelation des Menschen als Quelle von Normativität findet, die im Rahmen einer Ethik selbst verbindlich zu nehmen sei.
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Die Darstellung der Plessnerschen Gemeinschaftskritik sowie seiner Theorie der Gesellschaft erfolgt hier unter einer zweifachen Fragestellung: Erstens frage ich, ob es sich bei den Grenzen der Gemeinschaft um den Entwurf einer Sozialphilosophie (Begriff alltäglicher Wirklichkeit) oder um eine Sozialethik (Forderung nach ,Achtung der Würde') handelt. Letzteres schlägt Helmut Lethen in seiner Studie Verhaltenslehren der Kälte mit guten Gründen vor. Er nimmt dabei an, dass Plessner wie eine Reihe weiterer Autoren der ,Neuen Sachlichkeit' an die so genannte pessimistische Anthropologie der Renaissance anknüpfe und darauf aufbauend Empfehlungen für das Überleben im alltäglichen Miteinander gegeben habe, das in erster Linie als das Gegeneinander atomisierter Einzelner begriffen wird. Lethen liest Plessner in einer Tradition mit Baltasar Graciáns Handorakel und Kunst der Weltklugheit von 1653 und damit in der des Misanthropen Schopenhauer, der das Handorakel ins Deutsche übertragen hatte. Der im 17. Jahrhundert implizierte „humanistische Aspekt" werde aber „in den zwanziger Jahren weggefiltert" und erst im Exil der 1930er Jahre „mühselig rekonstruiert".330 Ein weiterer Bezug ließe sich von Plessners Grenzen der Gemeinschaft zu Baidassare Castigliones zwischen 1508 und 1516 entstandenem Buch vom Hofmann und sehr viel deutlicher noch zu Niccolò Machiavellis Der Fürst (1513) herstellen, in welchem der humanistische Aspekt ohnehin zunächst zurücktritt. In der von Lethens Interpretation ausgelösten Debatte möchte ich mit der aufgeworfenen Frage keine Entscheidung erzielen.331 Tatsächlich spricht Plessner selbst sowohl von „Sozialethik" (GG 13) als auch von „Sozialphilosophie" (GG 41) und gesteht später ein: Die Schrift hat ihre Absicht einer Ideologiekritik am Gemeinschaftsradikalismus unmittelbar mit einer, in der Fassung noch unzureichenden anthropologischen Theorie verknüpft und als solche vorgetragen, was sie wiederum in das fatale Zwielicht mehr ethisch-pädagogischer als soziologischer Aussage rücken musste und ihr den Charakter einer Streitschrift mit viel zu viel philosophischem Aufwand gab.332
Die folgende Untersuchung des Gesichtspunktes Sozialethik/Sozialphilosophie in Plessners Grenzen der Gemeinschaft ist durch das Interesse an der Ambivalenz von deskriptiven und normativen Elementen in Plessners Begriff sozialer Alltäglichkeit motiviert333, die im Teil I der vorliegenden Arbeit für Tönnies' Begriff sozialer Wirklichkeit entwickelt wurde. An diese Zielführung schließt sich als zweite Frage die nach dem Verhältnis der Tönniesschen zur Plessnerschen Begrifflichkeit an. Bedeuten die Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft bei Tönnies und Plessner dasselbe, oder gibt es Verschiebungen? Wie trennt Plessner zwischen ,reiner' und angewandter' Theorie? Ziel dieser Überlegungen ist es, Plessners sozialethische Verhaltenslehre ihrem Gehalt nach hinter seine Sozialphiloso330
Vgl. Lethen 1994, S. 13.
331
Rehberg meint, Lethen habe einen „erstrangigen Interpretationsschlüssel" zu Plessners Grenzen gefunden, und liest selbst Norbert Elias' Zivilisationstheorie neben Plessners Text (vgl. Rehberg 2002, hier S. 244). Plessner, Nachwort zu Ferdinand Tönnies, S. 343.
332 333
Diese Ambivalenz hebt auch Ehrl hervor (vgl. Ehrl 2004, S. 89).
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phie zurücktreten zu lassen und sie seinem eigenen Anspruch nach als „dialektische Verbindung von Gemeinschaft und Gesellschaft" 334 hervorzuheben. Bemühungen, Plessner als einen besonders bürgerlich-liberalen Philosophen zu vereinnahmen335, können durch diese sozialphilosophische ,Neutralisierung' hier keine Begründung erwarten. Sowohl die Frage nach einer Sozialphilosophie (statt einer Sozialethik) als auch die nach dem Verhältnis Tönnies - Plessner dienen dem übergeordneten Anliegen, mit Plessner den Begriff sozialer Wirklichkeit zu konkretisieren, den ich mit Tönnies begriffslogisch entwickelt habe. Plessner hält sich anders als Tönnies nicht lange mit methodischen Fragen zu den Großbegriffen Gemeinschaft und Gesellschaft auf, sondern entfaltet ein Verständnis alltäglichen Miteinanders, das sich als Ineinander gemeinschaftlicher und gesellschaftlicher Aspekte - mitunter entgegen Plessners expliziter Intention - verstehen lässt. Auf diese Weise wird Plessner systematisch anschlussfahig an ein dialektisches Verständnis sozialer Wirklichkeit. Darüber hinaus kann mit ihm konkreter gesagt werden, wie sich bestimmte soziale Verhältnisse mit Bezug auf die Grundbegriffe Gemeinschaft und Gesellschaft (bei Plessner dann als Familiarität/Objektivität und alltägliche Praxis) begreifen lassen. Zunächst werde ich auf den Kontext von Plessners Kritik der Gemeinschaftsgesinnung eingehen, um dann a) die zwei von ihm entwickelten Idealtypen von Gemeinschaft darzustellen sowie b) den implizierten Status des Normativen in seiner Gemeinschaftskritik zu diskutieren (6.1). Der Plessnersche Gesellschaftsbegriff kann gewissermaßen als Tönnies' angewandte' Theorie der Vermittlung der beiden Begriffe von Gemeinschaft angesehen werden und wird dadurch gegenüber der bloß abstrakten dialektischen Vermittlung des ersten Teils der vorliegenden Arbeit konkreter. Insofern Plessner die Grenzen der Ge334
Plessner, Nachwort zu Ferdinand Tönnies, S. 342.
335
Wie es Zdzislaw Krasnodçbski, aber der Tendenz nach auch Andreas Kuhlmann und Fischer versuchen (vgl. bes. Krasnodçbski 1995, ders. 2002, ähnlich, wenngleich knapper und zugleich kritischer Kuhlmann 2002, Fischer2002a). Gegen das unbedarfte Loblied der Bürgerlichkeit bei Plessner wendet Nauta ein, dass eine Anthropologie dann zeitgemäß sei, wenn sie nicht nur „Gemeinschaftsideologien kritisiert", sondern auch „die .repressiven' Aspekte der bürgerlichen Gesellschaft anzuprangern" wisse (Nauta 2002, S. 290, ähnlich Hondrich 2002, S. 294). Die Bemühungen um einen bürgerlichen Plessner sind Teil einer kleinen Theoriewelle, die gegenwärtig die Vorteile der Bürgerlichkeit preist. In seiner kritischen Replik auf zwei unkritische Rezensionen von Jens Hackes Philosophie der Bürgerlichkeit (2006) stellt Hauke Brunkhorst sehr zurecht „die ideologiekritische Frage [...], welche Funktion eine Philosophie der Bürgerlichkeit in der Gesellschaft des anbrechenden 21. Jahrhunderts erfüllt" (Brunkhorst 2007, S. 836). Brunkhorsts Antwort ist - vermutlich auch zurecht - radikal: „Sein [Hackes] Buch ist ein Symptom der neuen, postdemokratischen Ideologie der Mittelschichten, die sich von Berlin bis Tokio und Iowa einmauern, um ihre Besitzstände und den cosmopolitism of the few' (Craig Calhoun) gegen die riesige Peripherie wachsender Exklusionspopulationen zu verteidigen und sich die Frage nach den sozialen Ursachen solchen Elends zu verbieten" (ebd., S. 839). (Dass Hackes Buch darüber hinaus das Verdienst einer sorgfaltigen Aufarbeitung eines wichtigen Stücks Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts zukommt, heben Walter Schweidler und - wenngleich auch kritisch - Schnädelbach in derselben Ausgabe der Deutschen Zeitschrift fiir Philosophie hervor, DZP 55 (2007)).
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meinschaft als Grenzen der Bestimmbarkeit der menschlichen Situation versteht, kommt es in nicht wenigen Plessner-Lektüren zu einer Hypostasierung der Unbestimmtheit, wie etwa Buchtitel wie Unter offenem Horizont (Jürgen Friedrich/Bernd Westermann 1995) insinuieren. Demgegenüber werde ich den Begriff der Gesellschaft vornehmlich unter dem Gesichtspunkt der Bestimmtheit diskutieren, in der uns das alltägliche Miteinander für gewöhnlich begegnet (6.2).336 Daran anschließend werde ich die herausgearbeiteten Plessnerschen mit den Tönniesschen und Hegeischen Begriffen konfrontieren (6.3).
6.1 Grenzen der Gemeinschaft Plessner zielt mit seiner Untersuchung der Grenzen der Gemeinschaft auf einen „Objektivismus, der auf ethischem wie auf ästhetischem und erkenntnistheoretischem Gebiet den Expressionismus oder die Philosophie der Rückhaltlosigkeit überwindet" (GG 13). Dieser Objektivismus fußt auf der Ablehnung dualistischer Philosophie, die damals wie heute ebenso allgemein Konsens wie am häufigsten erhobener Vorwurf an die philosophische Positionen der anderen ist. Plessner äußert in den Grenzen der Gemeinschaft und auch später immer wieder eine ganz generelle Kritik an einem theoretischen Radikalismus, der die „Vernichtung der gegebenen Wirklichkeit zuliebe der Idee, die entweder rational oder irrational, aber in jedem Sinne unendlich ist, Vernichtung der Schranken, die ihrem vollkommenen Ausdruck gezogen sind", wolle (GG 17). Es werden folglich zwei mögliche Ausprägungen dieses Radikalismus gekennzeichnet - rationale und irrationale, denen zwei verschiedene Formen der Gemeinschaftsgesinnung entsprechen. Sofern Plessner die Ansprüche beider Formen auf vollkommenen Ausdruck' destruiert, ist sein Grenzaufweis als Ideologiekritik lesbar. Näherhin unterscheidet er den intellektualistischen „Kampf um Aufklärung" (GG 16), den er bei Rousseau verortet und der ihm Angriffspunkt aufgrund der Lebensferne prinzipieller Forderungen an den Menschen als Teil der Menschheit ist, und den ,,radikale[n] Irrationalismus" (GG 17), den er in den Grenzen der Gemeinschaft nicht namentlich zuweist, für den sich aber eine ganze Reihe von Kandidaten zu Plessners Zeit finden (u.a. Spengler und Klages)337, die sich theoretisch als Kulturpessimisten befleißigen oder in der agitierten Praxis der radikalen Wandervogelbewegungen zeigen. Nun ist es nicht der dualistische Zuschnitt der (recht holzschnittartig) vorgeführten Positionen, den Plessner bemängelt, sondern vielmehr deren Suggestion, der Dualismus 336
Der Nachweis der Bestimmtheit der Gesellschaft und so auch des sie vollziehenden Menschen bei Plessner kann den Vorwurf entkräften, Plessner lege den Menschen a priori als unbestimmt fest, was dann die Verirrung zu Macht und menschliche Natur als vollkommene Loslösung von jedweder Bestimmung zur Folge gehabt habe, vgl. zu diesem Vorwurf z.B. N. A. Richter 2005, S. 147f., vgl. auch Schürmann 1997, S. 351 f., der allerdings Macht und menschliche Natur als notwendiges Komplement zu den Stufen versteht.
337
Später ist Plessner deutlicher und spricht von ,,naturalistische[r] Modeliteratur (Chamberlain, Spengler, Lessing, Klages)" (Plessner, Aufgabe der Philosophischen Anthropologie, S. 45).
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ließe sich überwinden, indem eine der beiden Seiten zu vollem Ausdruck komme, also entweder der Intellekt das ganze Leben bestimme oder das natürliche Dasein Schluss mit intellektualistischen Überhöhungen mache. Plessners Einwand ist nicht gegen den Dualismus von Körper und Geist selbst gerichtet, sondern gegen das vereinfachende Verständnis einer als Widersprüchlichkeit erfahrenen Differenz, die die menschliche Grundsituation kennzeichnet. „Der Dualismus, dem die Einheit der menschlichen Person verloren geht, führt in der Ethik stets zur Machtverneinung und damit zur Degradierung der Politik" (GG 130). Die erfahrene Differenz erforderte, so Plessner, individuell wie sozial Vermittlung statt Negation einer der beiden konstitutiven Seiten. In diesem Sinne lehnt er den im Kulturpessimismus sich ausdrückenden Fatalismus und politisch desinteressierten Quietismus ebenso ab wie die politische Agitation, die jede politische Ordnungsstruktur um der reinen Gemeinschaftlichkeit willen zerschlagen will. Dass Plessner - obwohl es nicht immer so aussieht - nicht jeder politischen Ordnung zustimmen würde, zeigt seine Übereinstimmung mit der Wissenschaftskritik der Kulturpessimisten; sowohl die individuelle Lebenswirklichkeit als auch die soziale Geschichtlichkeit sei nicht wissenschaftlich ausmessbar. Im Sinne einer ,Dialektik der Aufklärung' beklagt er die zunehmende Automatisierung des Lebens, das zu einem „Kampf ums Dasein" regrediere (GG 19). Plessner spricht von einer „Dissoziierung des Lebens" in der Moderne, von einem Zerfall organischer Systeme zu abstrakten ,,Funktionssystem[en]", die durch keine Bildungsmaßnahme mehr zu ihrer vormaligen Organizität gebracht werden können (GG 18). Insofern Plessner sich gegen Technikbegeisterung und unbedingten Fortschrittsglauben ausspricht, die die Welt als beherrschbaren Mechanismus erfassen, weist er eine systematische Nähe zu gesellschaftskritischen Tendenzen seiner Zeit auf. Darüber hinaus aber versteht Plessner Technik sowohl im sozialen als auch im schlicht werkzeugmäßigen Sinne als Integral menschlichen Daseins (so z.B. Politik als Technik sozialer Ordnung). Plessners Kritik am mechanistischen Rationalismus ist folglich eine andere als die, die der Anti-Intellektualismus äußert. Denn dieser negiere, so Plessner, das Bewusstsein überhaupt, um „die Ursprünglichkeit vor der fressenden Gewalt der Reflexion [zu] schützen", wobei er in einen performativen Widerspruch gerate, da er diesen Kampf nur in der „Bewußtseinsgewißheit" des zu Überwindenden führe (vgl. GG 17). Grundlage der Plessnerschen Kritik ist der Ausgleichsgedanke, der ihn jede Form politischen Kampfes um ideelle Ziele schlicht ablehnen lässt: „Opposition gegen das Bestehende" sei nicht angemessen, „insofern als es immer einen gewissen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Kräften der menschlichen Natur einschließt" (GG 14). Gleichwohl lehnt Plessner Politik keineswegs ab, sondern sie ist für ihn wesentliche Technik des miteinander Umgehens, die aber nicht von moralischen Idealen, sondern von pragmatischen Überlegungen der politischen Klugheit geleitet sein soll. Insofern kann sogar von einem Primat des Politischen bei Plessner gesprochen werden (vgl. Kap. 7.3). Wie und ob sozialkritischer Anspruch und Primat des Politischen bei Plessner zu vereinbaren sind, bleibt zu zeigen.
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a) Blutsgemeinschaft - Sachgemeinschaft, Familiarität - Objektivität Plessner entwickelt seinen Gemeinschaftsbegriff nicht wie Tönnies von der wirklichen Sozialform Familie bzw. vom Sprachgebrauch her, der zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft unterscheidet. Einen wirklichen Begriff entwickelt er überhaupt nur negativ vermittelst der Kritik an der radikalen Gemeinschaftsgesinnung, die er in zwei möglichen Gestalten benennt. Die Theorie der Gemeinschaft ist bei Plessner eingebunden in seine Kritik an der radikalen Reaktion auf die Widersprüche der modernen Gesellschaft. Die Gemeinschaftsgesinnung, so Plessner, bediene sich des Radikalismus, indem sie zwar das Versprechen unendlichen Vertrauens und größter Sicherheit gebe, dafür aber „den Verzicht auf Behauptung des eigenen Selbst" (GG 58) fordere. Dieses Versprechen kann laut Plessner zwei verschiedene Ausprägungen gewinnen, die er aus rationalen und irrationalen Formen des Radikalismus ableitet. Prinzipiell definiert Plessner Gemeinschaft als die um eine Mitte zentrierte Form des sozialen Miteinanders untereinander verbundener Menschen. Nun unterschieden sich die beiden Formen bezüglich ihrer gestalthaften oder nicht gestalthaften Mitte, an die die Individuen affektiv oder überzeugungsmäßig gebunden seien, so Plessner. Ist die Mitte personhaft, dann belegt er die so verbundene Gemeinschaft mit dem etwas martialisch klingenden Terminus Blutsgemeinschaft. Der um einen Menschen gruppierte Familienverband ist hier ebenso gemeint wie überhaupt patriarchale Formen von Herrschaft. Werde die Mitte der Gemeinschaft nicht personifiziert, so sei sie sachlich, werthaft. Ihre Mitte bilden Werte, an die sich die Mitglieder glaubensmäßig oder durch Überzeugung binden. Plessner nennt sie Sachgemeinschaft, leichter wäre vielleicht der Ausdruck Wertegemeinschaft zu verstehen. Ich werde später darauf eingehen, wie sich Tönnies' Begriff der Gemeinschaft zu diesen beiden Begriffen der Gemeinschaft verhält. Der Begriff der Gesellschaft wird bei Tönnies als Öffentlichkeit gegen die Privatheit der Gemeinschaft (vgl. GuG 3), bei Plessner als relativ kontingente Alltäglichkeit gegen die Sicherheit der Gemeinschaft (vgl. GG 80) gesetzt. In der Blutsgemeinschaft werde, so befürchtet Plessner, die vollkommene „Entschleierung" (GG 58) des Individuums gefordert (Richard Sennett spricht diesbezüglich von der Tyrannei der Intimität338). Die blutsmäßige Verbundenheit und persönliche Bekanntheit der Mitglieder untereinander weist darauf hin, dass bei Plessner wie schon bei Tönnies die Familie bzw. die Lebensgemeinschaft als Grundform der Blutsgemeinschaft betrachtet werden kann. Damit rückt sein Begriff der Blutsgemeinschaft in enge Verwandtschaft zu Tönnies' Begriff der Gemeinschaft. Bluts-/Gemeinschafit ist der durch direktes Zusammenleben entstandene unwillkürliche Prägungszusammenhang, in dem jedes Individuum seinen Platz hat. Ich verwende im Folgenden für Plessners Begriff der Blutsgemeinschaft meistens den auch von ihm genannten und neutraleren der Familiarität. Im Gegensatz zur Blutsgemeinschaft (Familiarität) meint Plessner, sei die Sachgemeinschaft gegen das Individuum vollkommen gleichgültig. Hier werde nun die Intimität geschont, die Einzelnen seien aber vollkommen vertretbar, da sie „in dem bloßen Hingeordnetsein auf die Sache zur funktionellen Einheit der Leistung zusammengeschlossen 338
Sennett 2001.
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sind" (GG 58), der Einzelne zähle nur in seiner quantitativen Eigenschaft, einer mehr zu sein, nicht aber in seiner qualitativen Eigenart, genau dieser oder jener zu sein. Die Individuen treten zum Beispiel hinter die universalen Werte einer politischen Partei zurück, alle sind ihrem Wert nach gleich, wer eine Funktion erfüllt, ist gleichgültig. Statt von Sachgemeinschaft werde ich wie Plessner eher von Objektivität sprechen. Plessner nimmt an, dass diese im Grunde diametral entgegengesetzten Typen sich zur vergemeinschaftenden Einheitsbildung jeweils eines „Ethos['] der absoluten Rückhaltlosigkeit" (GG 58) bedienen, beider Anspruch sei totalitär, sofern er auf der Identität der Zugehörigen (des Blutes oder der Gesinnung) beruhe, auf die er daher drängen müsse. Die Art der Einheitsbildung unterscheide die beiden Formen. Die Verbindung zur Blutsgemeinschaft geschehe ,,außerational[]" (GG 51), während die zur Sachgemeinschaft durch glaubensmäßige Überzeugung im „Medium der Vernunft und des Verstandes" zustande komme (GG 50). Wenn die Sachgemeinschaft realisierbar wäre, gesteht Plessner zu, dann wäre sie eine „echte Gemeinschaft", die „grenzenlos ausdehnungsfähig" (universal) ist (GG 51). Unschwer ist zu erkennen, dass Plessner erstens den zivilisationskritischen Anti-Intellektualisten unterstellt, sie würden sich auf einen außerrationalen Begriff der Blutsgemeinschaft als einzig gesunde Lebensform berufen, sowie dass er zweitens den moralistischen Rationalisten unterstellt, jede individuelle Lebensform unter gleichmacherische Prinzipien universaler Geltung in eine Sachgemeinschaft zu pressen. Diese Gegenüberstellung hatte Tönnies in die von Gemeinschaft als Begriff unserer unmittelbaren (uns als Individuen eines Ganzen) prägenden Umgebung und von Gesellschaft als gegen das so-und-so-seiende Individuum gleichgültige Tauschmentalität gelegt. Beiden Begriffen als Elementen reiner Theorie kamen bereits bei Tönnies Grenzen in der angewandten Theorie zu. In gleicher Weise unterscheidet Plessner die idealtypische von der realen sozialen Verbindungsform. Es kann gewissermaßen als Plessners primäres Anliegen gesehen werden, nachzuweisen, dass die radikale Absolutheit der Gemeinschaftsgesinnungen dem in sich differenzierten alltäglichen Dasein unangemessen ist.339 Den idealtypischen Formen der Gemeinschaft kommen Grenzen bezüglich Universalisierbarkeit der Blutsgemeinschaft und Individuierbarkeit der Sachgemeinschaft zu. Die Blutsgemeinschaft/Familiarität, führt Plessner aus, sei per definitionem nach außen gegen eine unbestimmte Öffentlichkeit abgeschlossen, entweder durch einen „bewußten Exklusivitätswillen oder nur von der Unmöglichkeit, alle Menschen auf natürliche Weise aus einer Liebesmitte zu speisen" (GG 48), so dass sie nicht universal alle Menschen umfassen könne. Plessner benennt mit der „Unmöglichkeit" ein Problem der Reichweite, das unmittelbare Evidenz hat: Um eine Person zu lieben, muss sie mir in irgendeiner Weise bekannt sein. Blutsgemeinschaft finde daher ihre Wesensgrenzen in der „Unaufhebbarkeit der Öffentlichkeit" (GG 55); die Grenze der Blutsgemeinschaft wird damit als Grenze des Privaten gekennzeichnet. Die kritischen Zurückweisungen paterna339
Insofern es nie Tönnies' Anliegen war, den reinen Begriff auch als den realen zu entwickeln, kann hier seine Verwunderung über Plessners radikalismuskritisches Engagement verständlich werden (vgl. Tönnies, Rezension von , Grenzen der Gemeinschaft', S. 356).
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listisch-patriarchaler Herrschaft in den kontraktualistischen Staatstheorien weisen zuweilen auf diese Dimension hin340, wobei der Hauptkritikpunkt dort regelmäßig ist, dass die geforderte Autonomie der Bürger unter einem patemalistischen Herrscher nicht denkbar ist. Auch wenn ich Blutsgemeinschaft nicht unter dem Gesichtspunkt bewusster emotionaler Verbundenheit, sondern unter dem elementarster Prägung in der unmittelbaren kulturellen Lebenswelt anspreche, ist die Grenze räumlich und der beschränkten Mitgliederzahl nach sofort sichtbar. Allein mit dem Begriff der Blutsgemeinschaft (Plessner) oder der Gemeinschaft (Tönnies) kann ich niemals soziales Miteinander beschreiben. Die Sachgemeinschaft/Objektivität, das „kommunistische^ Ethos" (GG 49) in seinen national-völkischen und internationalen Formen schließe, so Plessner, hingegen nach unten gegen die individuelle ,J.ebenswirklichkeit" ab (GG 53), insofern die Endlichkeit des Einzelnen der Ewigkeit metaphysischer Werte inkommensurabel sei. Universal ewig geltende Werte sind als solche nicht im endlichen Individuum realisierbar. Die Sachgemeinschaft finde ihre Grenze in der „Unvergleichlichkeit von Leben und Geist" (GG 55), d.h. von individuellem, endlichem Dasein und überindividuellen, abstrakten Werten, die dieses Dasein bis ins Letzte zu regeln beanspruchen. Die Sachgemeinschaft ist für Plessner die vom so genannten rationalen Kommunismus angestrebte Weltgemeinschaft, die keine Grenze nach außen gegenüber unbekannten Individuen aus anderen Bluts- und Primärgemeinschaftszusammenhängen habe. Sie richte sich dabei nicht gegen das Individuum, weil es diese oder jene in der Gemeinschaft unpassende Eigenschaft hat, sondern insofern es überhaupt Eigenschaften hat. Diese Grenze der universalen Gemeinschaft abstrakt-allgemeiner Werte begründet Plessner zunächst alltagspraktisch. Das Individuum zeige sich nicht als Prinzipienentscheider, sondern aufgrund der Augenblicklichkeit des Lebens als „praktischer Okkasionalist" (GG 55). Plessner wendet sich mit dieser Beschreibung des tatsächlichen Entscheidungsvorgangs gegen die Vorstellung, der Geist könne eine Weltgemeinschaft mittels „idealer Vertretbarkeit aller Glieder durch restlose Funktionalisierung ihrer Beziehungen bilden" (GG 56). Prinzipien können nicht jede Entscheidung bestimmen, insofern sie den meisten Entscheidungen unangemessen seien oder wir in aporetischen Situationen sowie unter Zeitdruck und Unsicherheit entscheiden müssen, ohne über die Prinzipientreue der gefällten Entscheidung sicher sein zu können. Die Grenzen der beiden Gemeinschaftsgesinnungen weist Plessner auf, indem er auf ihre Unangemessenheit bezüglich menschlicher Praxis verweist. Insofern sind bei Plessner sowohl die Vorstellung einer heimeligen Gemeinschaft im Privaten, die sich gegen alles Öffentliche abschließt, als auch die einer alle Menschen umfassenden Wertegemeinschaft totalitäre Ideologien gegenüber der Realität sich öffentlich begegnender Individuen. Indem Plessner sich gegen diese zwei Gestalten des sozialen Radikalismus wendet, stellt er sich zwischen die anti-intellektualistische Philosophie und den rationalistischen Formalismus, 340
Hobbes: „Für die Frage, wer der bessere Mensch sei, ist im Naturzustand, in dem [...] alle gleich sind, kein Raum. Die gegenwärtig bestehende Ungleichheit wurde durch die bürgerlichen Gesetze eingeführt" (Hobbes, Leviathan, S. 117, vgl. auch 117f.). Hobbes wendet sich an dieser Stelle gegen Aristoteles, wie später auch Rousseau (vgl. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, Kap. 1.2).
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ähnlich wie Tönnies sich gegen Vereinseitigungen ethosethischer und kontraktualistischer Sozialtheorien gerichtet hatte. Der Einsatz ist durchaus unterschiedlich motiviert, dennoch im Anspruch beide Male anti-ideologisch und kritisch. Deutlicher wird dies durch den Umstand, dass Plessners Begriff der Sachgemeinschaft Parallelen zu Tönnies' Begriff der Gesellschaft aufweist. So stehen sich begrifflich organische und mechanische Verbundenheit bei Tönnies mit den Begriffen Gemeinschaft und Gesellschaft gegenüber wie bei Plessner mit den Gemeinschaftsidealen der Blutsgemeinschaft und der Sachgemeinschaft. b) Der Status des Normativen Bevor ich auf Plessners Begriff der Gesellschaft (6.2) und anschließend auf die begrifflichen Verschiebungen von Tönnies zu Plessner eingehe (6.3), möchte ich bereits hier diskutieren, inwiefern Plessners Kritik an der Sachgemeinschaft angemessen ist. Insofern der Begriff der Sachgemeinschaft/Objektivität einige Parallelen mit Tönnies' Begriff der Gesellschaft aufweist, muss auch die Lesart des Sachgemeinschaftsbegriffes, die Plessners Kritik relativiert, Parallelen zu der herausgearbeiteten Tönnies-Lesart haben. Ich werde die Hinweise zum Begriff der Sachgemeinschaft daher an dieser Stelle eher knapp halten, obwohl sie Anlass zu weiteren Ausführungen gäben. Dies in erster Linie, weil Plessners Kritik an der Sachgemeinschaft (wie vorderhand auch Tönnies' Gesellschaftskritik) als Kritik an der Vernunftphilosophie Kants und ihrer Nachfolge im Deutschen Idealismus vorgebracht ist. Insofern Plessner die Vergleichgültigung des Individuellen durch das Abstrakt-Allgemeine der Sachgemeinschaft/Objektivität betont, fallen Überlegungen zur Möglichkeit universaler Aussagegehalte und damit zur Möglichkeit des Überzeugtseins weg. Diese Möglichkeit ist für die normative Dimension der Plessnerschen Sozialphilosophie zu rehabilitieren. Die Diskussion des Sachgemeinschaftsbegriffs folgt einerseits der allgemeinen und grundsätzlichen Annahme, dass die übliche Kritik am Verstandesformalismus der Philosophie Kants sowie des Deutschen Idealismus nicht nur abgegriffen, sondern zudem sachlich unbegründet ist.341 Andererseits folgt die Diskussion speziell und direkt auf Plessner bezogen der bei Sandkaulen geäußerten Kritik an ihm: „Das Problem liegt [...] 341
Vgl. ausführlicher dazu Stekeler-Weithofer 2003. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist im Kapitel 3 die hier bloß implizite Haltung begründet. Ich wende mich mit dieser Lektüre ausdrücklich gegen die missverstandene Überhöhung Plessners als Gegenentwurf zur gesamten Vernunftphilosophie des 18. und 19. Jahrhunderts, die vor allem auf Plessners Würdebegriff beruht. So findet etwa Haucke bei Plessner ein „anderes, liberales Verständnis (guten) menschlichen Lebens", als es mit dem Rigorismus der praktischen Philosophie Kants zu bekommen sei (Haucke 2003, S. 283). Zur (vermeintlichen) Abgrenzung der Position Plessners gegen Kant und den Deutschen Idealismus vgl. auch ders. 2000b und 2002, regelmäßig in dieser Richtung auch Krasnodçbski. In einer Sammelrezension weist Jan Müller daraufhin, dass „Haucke Plessner mit der Akzentuierung einer revidierten Form .ästhetischer Erziehung' wenig überzeugend in die Nähe bloßer Gesinnungsphilosophie" rücke und dass Plessners „Bezüge auf den deutschen Idealismus handfesten systematischen Problemlagen geschuldet sind", „zeigt etwa die von Haucke ausgeblendete frühe Arbeit zur ,Krisis der transzendentalen Wahrheit im Anfang' von 1918" (J. Müller 2005, ohne Seitenzahlen).
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im letztlich ungeklärten Status der Sphäre des Allgemeinen, der allgemeinen situationsübergreifenden Orientierungen".342 Entgegen Lethens und Sandkaulens These, dass Plessner zudem das Primat der Gesellschaft und ein damit verbundenes Menschenbild in den Stufen des Organischen verabsolutiere343, nehme ich aber an, dass in den Stufen des Organischen der Status des Allgemeinen, mithin der Sachgemeinschaft/Objektivität geklärt werden kann. Als unterstützend für diese These mag die unterschiedliche Bewertung des Geistbegriffes bei Plessner gelten: Während er in den Grenzen der Gemeinschaft Geist als das Großsubjekt der Sachgemeinschaft bezeichnet und so als dem individuellen Dasein schlicht inkommensurabel ansieht, versteht er in den Stufen das irreduzible Strukturelement Mitwelt des menschlichen Daseins als Sphäre des Geistes und entwickelt so einen strukturell unverzichtbaren Begriff des Geistes (vgl. Kap. 7.2 in dieser Arbeit).344 Plessner setzt gegen den universalisierenden Zug der Sachgemeinschaft eine Beschreibung alltäglicher Vollzüge, die nicht in erster Linie durch rationale Abwägungen, sondern durch augenblicklich getroffene Entscheidungen nach Maßgabe der jeweiligen Situation geprägt sind. Der „Augenblicklichkeit aller daseinswichtigen Lebensbewegung ist [...] der ganze Modus der Begründung schlechthin inkommensurabel" (GG 53), der Mensch sei in seiner individuellen Lebenswirklichkeit „praktischer Okkasionalist"345 (GG 55). Die Sachgemeinschaft hänge einer „Überschätzung des Geistes, eine[m] an der echten μεσότης vorbeirasenden Rigorismus" (GG 54) an, zudem lade sie alltäglichste Entscheidungen mit Werten auf, die diesen überhaupt nicht zukämen. Die Kritik an der Sachgemeinschaft ist bei Plessner dahingehend radikalisiert, dass weder werthafte noch überzeugungsmäßige Entscheidungen möglich scheinen.
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Sandkaulen 1994, S, 267. Ein Problem, das sich in den Plessnerlektiiren wiederholt, die die Unterteilung von Gemeinschaft in Bluts- und Sachgemeinschaft nicht beachten und Gemeinschaft mit Plessner im Ganzen ablehnen. Es sind dieselben Lektüren, die Plessner eine Nähe zum Dezisionismus unterstellen, weil das Woher der Bestimmungen politischen Handelns in einer solchen Lesart unklar bleiben muss (vgl. z.B. Hetzel 2005, S. 252-254). Weiterfuhrende Überlegungen zum Status des Normativen bei Plessner finden sich bei Fahrenbach 2004 sowie bei Thyen 2007. Vgl. Sandkaulen 1994, S. 270, Lethen 1994 und ders. 2002, S. 42f. Auch Nauta spricht von Plessners „Anthropologie der bürgerlichen Gesellschaft" (Nauta 2002, S. 280, vgl. auch ebd., S. 188). Wenngleich kritisch gegenüber Lethen, finden sich bei Sandkaulen ähnliche Überlegungen zum Status der Stufen im Hinblick auf die Grenzen (vgl. Sandkaulen 1994, S. 269fF.). Explizit wurde Lethen von Eßbach in Bezug auf allgemeine Aspekte (Eßbach 2002) und von Fischer in Bezug auf Plessners systematische Bemühungen widersprochen (vgl. Fischer 2002a, S. 86f.). Auf die heterogene Verwendung des Geistbegriffes in den Grenzen und in den Stufen macht auch N. A. Richter in einer Fußnote aufmerksam (vgl. Ν. A. Richter 2005, S. 155, Fn. 371). Bereits in der Einheit der Sinne von 1923 entwirft Plessner einen neutralen Begriff des Geistes als „Titel für die strukturelle Einheit von Sein und Bewusstsein in den repräsentativen Funktionen, deren Ursprung er in den präsentativen Funktionen der Sinne aufzeigen will", so Holz (Holz 2003, S. 101). Diese Formel wird verschiedentlich positiv hervorgehoben. So etwa bei Haucke, der meint, sie grenze sich gegen „bloße, amoralische Klugheit, die die Dinge nimmt, wie sie kommen" ab (Haucke 2000b, S. 244 (Fn. 20)). Worin diese Abgrenzung zu erkennen wäre und wie sie sich von einer bloß situationalistischen Ethik unterscheidet, führt Haucke nicht aus.
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Diese Kritik ist nun in der Sache zu radikal, insofern durch sie tatsächlich die Möglichkeit, ,situationsübergreifender Orientierungen' nicht mehr sichtbar ist. Nehmen wir Plessner in dieser Kritik beim Wort, so handeln wir nie anders als unmittelbar von der Situation beeinflusst. Der Situationalismus ist aber bloß eine weitere Spielart des Irrationalismus, gegen dessen Radikalismus Plessner auf der anderen Seite angetreten war.346 Wie ist also seine Kritik an der „abstrakten Allgemeinheit" (GG 50) der Sachgemeinschaft relativierend zu verstehen? Die Plessnerschen Ausführungen zum Menschheitskommunismus, der von der Sachgemeinschaft angestrebt werde, können hier aufgrund ihrer Ambivalenz Aufschluss geben. Das Streben nach Menschheitskommunismus entspreche „den vom Tag heute verdrängten Bedürfnissen der menschlichen Natur" (GG 52), so Plessner. Während der Blutsgemeinschaft eine räumliche Grenze zukomme, sei ihrer Ausdehnung nach die Sachgemeinschaft prinzipiell universal als ,echte Gemeinschaft' denkbar. Dem rationalen Kommunismus reiche anders als der affektiven Blutsgemeinschaft die Menschlichkeit des Einzelnen, um ihn von der gemeinsamen Sache zu überzeugen und ihn so „durch Teilhaberschaft an ein und demselben Wert" (GG 50) in die Gemeinschaft aufzunehmen. Mittel der Verbindung sei dabei die „Überzeugung" (GG 50), insofern kulturübergreifend bei allen Unterschieden sei, dass doch überhaupt argumentiert würde. Überzeugungen vollziehen sich im Lichte des Bewußtseins, sie lassen sich alle irgendwie formulieren oder wenigstens zu einem Äquivalent davon steigern, sie ruhen auf Gründen. Insoweit hat die Vernunft und das Denken als formales Minimum jeder Begründung an einer echten Überzeugung teil (GG 51).
Es geht in der Sachgemeinschaft also weniger um die konkrete So-und-so-Bestimmtheit der Gemeinschaftsmitglieder, sondern vielmehr um die potentielle Mitgliedschaft aller Menschen. Während die Blutsgemeinschaft auf Exklusion beruht, ist die Sachgemeinschaft ihrer universalen Anlage nach in höchstem Maße inklusiv. In dieser Hinsicht unterscheidet Udo Tietz sinnvoll zwischen einer universalen Gemeinschaft rationaler Überzeugbarkeit überhaupt und partikularen Gemeinschaften, die Individuen über gemeinsame Sprache (Gemeinsinn) und Werte (Gemeinwohl) integrieren und die sich auf sich selbst beziehen können. Die Geltung der partikularen Gründe ist dabei nur über deren universale Ansprüche zu sichern - denn der logische Raum kann nicht mehr als einer sein.347 346
Ähnliches beobachtet Jan-Werner Müller: „Plessner's liberal despair over massification [...] made him adopt arguments drawn from Lebensphilosophie, which in turn justified authoritarianism. Plessner [...] was left without theoretical resources to defend himself against a politics which effectively amounted to a form of authoritarian communitarianism. Plessner's Grenzen der Gemeinschaft [...] had already contained the kind of authoritarian liberalism typical of figures like Max Weber and Friedrich Meinecke, and denied any possibility of democratic self-determination or social discursive disagreements" (J.-W. Müller 2002, S. 142). Zu einem Versuch, den bei Plessner angelegten Willkürherrscher durch Wiedereinführung der Frage nach der Legitimität souveräner Herrschaft in Plessners Souveränitätsbegriff auszuhebeln, vgl. in dieser Arbeit Kap. 7.3b.
347
Tietz 2002, S. 43f. So einleuchtend dieser Zugriff ist, könnte man doch einwenden, dass Tietz den Bezug auf diskursiv entwickelte gemeinsame Werte als ein zu starkes Kriterium für das Bestehen
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Wenn Plessner meinen würde, Sachgemeinschaften verlangten von allen Menschen, von diesen oder jenen bestimmten Werten überzeugt zu sein und jede ihrer Handlungen nach ihnen auszurichten, dann wäre die Kritik berechtigt. Sie implizierte dann aber noch keine hinreichende Kritik an den mitzudenkenden Möglichkeitsbedingungen von universalen Werten überhaupt. Plessners Kritik an der Sachgemeinschaft trifft auf das, was er als „Eigenschaften dieses Gemeinschaftstypus" begreift - „Unpersönlichkeit", Überzeugungsformalismus und problemlösender „Arbeitscharakter" (vgl. GG 52) - dann zu, wenn sie als hinreichende Beschreibung einer gelebten Gemeinschaft gelten sollen. Es handelt sich bei diesen Eigenschaften aber weniger um ein Ideal, sondern vielmehr um die Mindestanforderung („formales Minimum" (GG 51 )) der Überzeugbarkeit von Menschen überhaupt. Der unpersönliche Überzeugungsformalismus bewegt sich auf der präsuppositionalen Ebene der Bedingungen der Möglichkeit von Verständigung als Überzeugung. Zutage tritt diese möglichkeitsbedingende Grundannahme sicherlich eher in Grenzsituationen, die problemlösenden Charakter haben. Das heißt in solchen Situationen, die uns fremd sind oder die unsere alltäglichen Vollzüge eher in Ausnahmesituationen betreffen. Die Frage nach der moralischen Rechtfertigung von Kriegseinsätzen oder von aktiver Sterbehilfe ist ein solcher Grenzfall. Ob ich einen Regenschirm mitnehme, ist kein solcher Grenzfall. Wenn Plessner also ausführt, dass die Frage, ob ein Schirm mitgenommen werden solle, nicht mit dem gleichen Aufwand durchdacht werden könne wie die Berufswahl und dass ich für den Großteil meiner alltäglichen Vollzüge überhaupt gar nicht überzeugt von ihrer (moralischen) Richtigkeit sein muss, dann ist das m.E. noch kein hinreichendes Argument gegen das möglichkeitsbedingende formale Minimum rationaler Überzeugbarkeit. Es ist nur die Frage, welchen Status man ihm zuweist. Denn es wird im Rahmen von Überlegungen zur Bedingung der Möglichkeit von Überzeugungen ja gar nicht behauptet, dass jedes Mal ein Denkaufwand getan werden müsse, wie auch nicht behauptet wird, dass jede Handlung werthafter Natur sei und daher in moralischen Begriffen formuliert werden können müsse.
von Gemeinschaften begreift. Er lehnt eine affektive Begründung von Gemeinschaft ab - bei der auf Gefühl beruhenden Gemeinschaft handle es sich um einen „Sonderfall der Vergemeinschaftung" (vgl. Tietz 2002, S. 49f.). Damit hat Tietz einen zwar erklärungsstarken, aber auf Plessners Sachgemeinschaft verengten Begriff von Gemeinschaft definiert. Gegen eine solche Verengung richtet sich Schmid, der die Möglichkeit, Wir zu sagen, nicht an Überzeugungen bindet. Wir können Wir auch in vorreflexivem Sinn sagen, ohne uns sicher auf eine Gruppe mit geteilten Überzeugungen beziehen zu müssen (vgl. Schmid 2005, S. 106ff.). Eine moderate Haltung stellt Brandoms Inferentialismus insofern dar, als darin Überzeugungen eine große Rolle spielen („,wir' zu sagen heißt, uns gemeinsam in den Raum der Gründe zu stellen" (Brandom 2000, S. 37)), diese aber nicht diskursiv entwickelt sein müssen, sondern den gemeinsamen Handlungsraum zunächst implizit (oder praktisch" (ebd.)) durchziehen und als Gründe für dieses oder jenes Handeln explizit gemacht werden können (und dann erst „diskursive" (ebd., S. 39) propositionale Gehalte sind) - dann spricht Brandom in der Tat auch vom „Vorrang des Propositionalen" (ebd., S. 139) für eine menschliche Welt, auch wenn nicht alle Teilnehmer an einer Praxisform deren implizite Normen als Regeln explizieren können oder bestimmte praktische Normen überhaupt nicht expliziert werden können (vgl. ebd., S. 121).
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Das formale Minimum besagt zunächst nur, dass ich, nach dem Schirm gefragt, Gründe für das Mitnehmen angeben könnte oder es als grundloses, fast unbewusstes Handeln erkennen würde, vielleicht würde ich den Schirm sogar erst bemerken, wenn ich darauf angesprochen werde. Wenn ich Gründe habe, müssen diese wiederum überhaupt nicht rationalisierbar sein.348 Meine Antwort auf die Frage, weshalb ich immer einen Schirm mit mir führe, könnte sein, dass es ein lästiger neurotischer Tick ist. Dass wir weiterhin vieles habituell oder sogar unwillkürlich und reflexhaft tun, stimmt für die meisten alltäglichen Verrichtungen, das würde aber durch die kritische Beschreibung, die Plessner zunächst vom rationalen Kommunismus im Sinne eines Überzeugungsuniversalismus gibt, nicht sensu stricto ausgeschlossen werden. Ausgeschlossen ist nur die Idee, dass wir unsere gesamte Praxis rationalisieren und werthaft differenzieren können. Es fragt sich aber, ob die Idee einer Menschheit, zu der kein Mensch exklusiv ist, das überhaupt erfordern würde. Alltäglich bewegen wir uns nicht bewusst, aber der Möglichkeit nach im ,Raum der Gründe', wir denken aber nicht beständig über Wert oder Unwert von Handlungen oder ihren Maximen nach. Darauf will Plessner mit seiner Kritik an der Sachgemeinschaft hinweisen. Die Motivation seiner Kritik ist insofern durchaus nachvollziehbar. Richtig ist auch, dass sich nicht eine einzige Situation anführen lässt, die voll durch das formale Minimum der Überzeugbarkeit ihrer Teilnehmer beschrieben wäre. Niemals können wir uns vollkommen entindividualisiert als moralische Subjekte gegenüberstehen und unbeteiligt an einem Problem arbeiten. (Dieses Argument wird häufig als Kritik an der , idealen Sprechsituation' (Habermas) oder dem Urzustand (Rawls) angeführt.) Das allein ist aber noch überhaupt kein hinreichendes Argument dafür, dass das formale Minimum nicht als Bedingung der Möglichkeit vernünftiger Auseinandersetzung gültig wäre. Plessners Kritik an den grundlegenden Prämissen von Überzeugungsgemeinschaften ist also in zweierlei Hinsicht unscharf. Erstens indem er annimmt, die Vernunftphilosophie würde fordern, dass wir uns in jedem Augenblick Rechenschaft über die Prinzipientreue unseres Handelns ablegen („Sittengesetzfanatismus" (GG 110)), und zweitens indem er meint, dass die Vernunftphilosophie Individuen zu entindividualisierten, abstrakten Überzeugungsagenten irrealisieren würde. Beides ist nicht der Fall, insofern es um Überlegungen zu den Bedingungen der Möglichkeit von Überzeugung als ,situationsübergreifender Orientierung' geht. Die Vermengung von Verstand und Vernunft (vgl. GG 50) leistet dieser Unschärfe Vorschub, da féraww/íphilosophie als Verstandesphilosophie begriffen wird349, in der alles Irrationale, Unbegriffliche wegrationalisiert werde, statt Vernunft als die Einheit des auch in sich disparaten und durchaus oft widersprüch-
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Zu dieser und den folgenden Überlegungen vgl. Brandoms Inferentialismus in Brandom 2000 sowie knapper in ders. 2001, dort insbes. Kap. 2.I-IV. Plessner zeigt später in der Verspäteten Nation sowie in Abwandlungen des Ideologiegedankens (1931) ein überaus differenziertes Verständnis des Unterschiedes der beiden Begriffe bei Kant (vgl. Plessner, Verspätete Nation, S. 136-139 sowie ders., Abwandlungen des Ideologiegedankens, S. 62).
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liehen Denkens zu begreifen. Es wäre eine Menge mehr darüber zu sagen, inwiefern sowohl Kants Transzendentalphilosophie als auch (und mehr noch) Hegels spekulative Philosophie mit genau diesem Problem umzugehen wussten (vgl. Kap. 3.1 in dieser Arbeit).
Während also die von Plessner bestimmte Grenze der Blutsgemeinschaft/Familiarität unmittelbar einleuchtet, verhält es sich mit der Grenze der wertbezogenen Sachgemeinschaft/Objektivität komplizierter. Tatsächlich denkt Plessner selbst hier die Möglichkeit einer ,echten Gemeinschaft' als basierend auf den Bedingungen der Möglichkeit von Überzeugung an. In den Stufen des Organischen wird er von einer „Ursprungsgemeinschaft vom Charakter des Wir" (SOM 422) sprechen. In den Grenzen der Gemeinschaft aber relativiert er diese Möglichkeitsbedingung hinsichtlich ihrer vorgeblich abstrakten Sichtweise des Individuums als einer durch und durch rationalen Person. Vor dem Hintergrund des Skizzierten scheint es mir bei Plessner aber auch von den Grenzen her gar nicht notwendig zu sein, prinzipiell jede sachgemeinschaftliche Verbindung von Menschen abzulehnen; ebenso wenig wie jede blutsgemeinschaftliche Verbindung per se abzulehnen ist. Beide Begriffe bezeichnen als Objektivität und Familiarität wesentliche Aspekte unseres Daseins mit anderen. Wir befinden uns stets in außerrationalen familialen Prägungszusammenhängen (Familiarität), ebenso wie wir bestimmte Werte als gültig anerkennen und mit anderen in argumentativen Streit über die Geltung dieser Werte treten können (Objektivität). Zunächst und zumeist allerdings mögen beide Formen der Vergemeinschaftung hinter die Präsenz meiner aktuellen Vollzüge zurücktreten. Die Rekonstruktion der alltäglichen Situation bei Plessner ist insofern nicht falsch, sondern unterbestimmt hinsichtlich meiner sachgemeinschaftlichen Orientierung in Situationen, die diese erfordern. „You must give the devil his due" (GG 14), setzt Plessner seinen Ausführungen gegen die radikalen Gemeinschaftsgesinnungen als Motto voran. Dieses Motto muss als Einsatz gegen die Idee einer letzten Bestimmbarkeit menschlicher Praxis gelesen werden, ist aber keinesfalls gegen jede wirkliche Gemeinschaft gerichtet. Sei sie unwillkürlich, lebensweltlicher Art oder sei sie ideeller Art und beruhe dabei notwendig auf der Idee einer ihren Möglichkeitsbedingungen nach einheitlichen Menschheit. In diesem Sinne werde ich im Folgenden nicht mehr mit den Begriffen Blutsgemeinschaft und Sachgemeinschaft arbeiten, sondern wie auch Plessner von Familiarität und Objektivität (vgl. GG 80 u. 96) als den zwei Modi unseres Daseins sprechen, die unsere alltäglichen Situationen umgreifen und durchdringen. Auf die von Plessner in den Grenzen gegebene Begründung der Grenzen beider Gemeinschaftsgesinnungen durch eine seines Erachtens neue „Philosophie des Psychischen" (GG 12) werde ich nicht eigens eingehen.350 Er selbst hat seine 1924 entwickelte psy350
Eine Lektüre der Psychophilosophie in den Grenzen der Gemeinschaft bietet mit anderen als den hier vorgenommenen Akzentuierungen Haucke (vgl. Haucke 2000, darin insbes. S. 252ff., ders. 2002 und im Rahmen einer Monographie auch ders. 2003).
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chologische Anthropologie später als unzureichend bezeichnet.351 Die philosophisch-anthropologische Darlegung der menschlichen Grundsituation in ihrem Verhältnis zu den beiden Gemeinschaftsformen werde ich an Plessners spätere Schrift, die Stufen des Organischen anlehnen (Kap. 7).
6.2 Soziale Wirklichkeit - Grenzen der Unbestimmtheit Es steht nun die Darstellung und Analyse des dritten Gegenstandsbereichs der Plessnerschen Sozialphilosophie aus - der Gesellschaft. Oben ist bereits angedeutet worden, dass der Begriff Gesellschaft bei Plessner anders als bei Tönnies den alltäglichen Vollzug des sozialen Miteinanders, also soziale Wirklichkeit überhaupt bezeichnet (und so im Rahmen der vorliegenden Arbeit als Konkretisierung der Tönniesschen Begriffslogik verstanden werden kann). Dieser Vollzug sei durch gemeinschaftsbezogene Begriffe nicht voll zu erfassen, so Plessner, weshalb er die Gemeinschaftsgesinnungen einer Kritik unterzieht. Er setzt gegen diese totalitären Gesinnungen eine differenztheoretische Sozialphilosophie der Gesellschaft, die die totale Bestimmbarkeit durch Tradition und persönliche Bekanntschaft - Familiarität - ebenso ausschließt wie die durch ideelle Werte - Objektivität. Die Schwierigkeit bei der Lektüre von Grenzen der Gemeinschaft liegt nun darin, dass der Gesellschaftsbegriff darin doppelt besetzt ist. Gesellschaft ist erstens ontologisch als praktischer Vollzug des Alltäglichen angelegt, der nicht letztgültig bestimmbar ist. In dieser ontologischen Hinsicht kann die relative Bestimmtheit der Gesellschaft durch die realen Gemeinschaftssphären Familiarität und Objektivität gar nicht ausgeschlossen werden. Gesellschaft ist aber zweitens zugleich eine eigene Sozialgesinnung, die Plessner gegen die beiden GemeinschaftsgeszwHwwgeH setzt. Diese Gesinnung entspricht dem Wertesystem der bürgerlichen Gesellschaft der Spätmoderne, also einer bestimmten historisch auftretenden Sozialform. Plessner hypostasiert die bürgerliche Gesellschaft zur Ontologie des Sozialen überhaupt, indem er die Bestimmtheitsmomente gegenüber den Unbestimmtheitsmomenten zu wenig beachtet. Daraus wiederum deduziert er eine Sozialethik, die Maske, Takt und Diplomatie - eine Sozialethik der Unantastbarkeit und Distanz empfiehlt. Diese Sozialethik verstehe ich als ,Lebensversuch' (Lethen) eines gemäßigten Bürgertums in einer politisch radikalisierten Zeit, nicht aber als sozialphilosophisch notwendiges Integral menschlichen Daseins. Ich bin daher im Folgenden bemüht, Plessners Sozialontologie alltäglichen Daseins so zu lesen, dass die sozialethischen Momente darin zurücktreten. Kursorisch werde ich dabei eine Kritik (Grenzziehung) der Unbestimmtheit geben, die Plessner durchaus selbst stützt: Die Rechtfertigung der Gewalt und der Macht bedarf [...] einer sorgfältigeren Differenzierung in Ebenen verschiedener Höhe sozialen Verkehrs, der genaueren Berücksichtigung der Skalen von Intimität, Vertrautheit und Privatheit bis zur institutionalisierten Öffentlichkeit, damit aus 351
Vgl. Plessner, Nachwort zu Ferdinand Tönnies, S. 343.
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dem Nachweis der Grenzen der Gemeinschaft nicht falsche Kurzschlüsse auf die Grenzenlosigkeit der Gesellschaft gezogen werden können, wie denn - wir haben es schaudernd erlebt (und Millionen scheinen noch immer nicht genug davon zu haben) - die ideologische Verklärung der ersteren dazu dient, um die Verwirklichung der letzteren zu decken.352
a) Unbestimmtheit des Alltäglichen Gesellschaft versteht Plessner als das „Reich der Alltäglichkeit [...] im Sinne der Einheit des Verkehrs unbestimmt vieler einander unbekannter und durch Mangel an Gelegenheit, Zeit und gegenseitigem Interesse höchstens zur Bekanntschaft gelangender Menschen" (GG 80). Gesellschaft ist die Öffentlichkeit, in der man sich zunächst und zumeist bewegt, selbst die Sphäre der Familie sowie die Wertbezogenheit ist nur in diesem Vollzug situiert denkbar - es handelt sich um die Praxis, durch die das Soziale konstituiert ist. Die Sphären der Familiarität und der Objektivität seien eingeschlossen von dieser Öffentlichkeit, in der das Verhalten „weder bluthaft noch werthaft verankert" sei (GG 80). Plessner hebt hier insbesondere auf die Unbestimmtheit der Gesellschaft ab. Familiar/bluthaft könne das alltägliche Verhalten nicht verankert sein, weil die Tradition nicht für alle möglichen Einzelfalle eine Regel haben kann, objektiviert/werthaft aber könne auch nicht jeder Fall verankert sein, weil es einerseits Bereiche gibt, die gar nicht unter die Gesichtspunkte werthafter Beurteilung fallen (Mitnahme des Regenschirms), und weil es andererseits „moralisch wertá"quivalente[]" (GG 80) Situationen gibt, zwischen denen ich eine Entscheidung treffen muss (und das sind meistens nicht solche, in denen mich ein Mordlustiger fragt, ob das Objekt seiner Tötungslust sich in meinem Haus befände, sondern eher solche, in denen ich mich frage, welchen meiner Freunde ich enttäuschen werde, wenn beide zeitgleich möchten, dass ich ihnen beim Renovieren helfe). Den Gedanken der Situationswertäquivalenz mag man bezweifeln, insofern es letztlich doch immer subjektive oder konventionelle Maßstäbe zur Beurteilung von Situationen gibt, faktisch jedoch geraten wir ständig in Situationen echter Äquivalenz nicht hinsichtlich des gleichen Beurteilungsmaßstabes, sondern hinsichtlich der gleichen Werthaftigkeit von Optionen mit unterschiedlichen Beurteilungsmaßstäben.353 352 353
Ebd., S. 343f. Die Ausführungen Plessners zur Wertäquivalenz lassen sich vermeintlich als indirekte , Widerlegung' des Kantischen Moralrigorismus lesen. Allerdings verweist der Gedanke der Wertäquivalenz bei Kant in den Bereich von Klugheit, Technik und Pragmatik, für den nur aus Erfahrungswissen gebildete hypothetische Imperative gewonnen werden können. Solche können zwar Maximen meines Handelns aber keine allgemeinen Gesetze bilden - ich bewege mich nach Kant hier also gar nicht im Feld genuin moralischen Handelns (vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 414—421 ). Viele Autoren beziehen sich mit Plessner kritisch abgrenzend auf einen vermeintlichen Kantischen Formalismus, gegen den Plessner sich wende (vgl. Schürmann 1997, Haucke 2002, ders. 2003 und Krüger, der allerdings nur die Nähe zur Kantischen Mora/philosophie ablehnt: „Plessner denkt nicht Philosophie als ein anzuwendendes Regelwerk, sondern nach dem Muster der dritten Kantschen Kritik, eben jener der Urteilskraft" (Krüger 1996a, S. 291)). Zieht man das Plessnersche Werk selbst heran, so lässt sich eine derart starke Kant-Kritik dort nicht rechtfertigen. In seiner Selbstdarstellung wird z.B. deutlich, wie stark das Kantische Erbe bei Plessner ist, wenngleich er
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Hinzu kommt das alltäglich viel häufiger auftretende Problem der Entscheidungsfindung bei WertIndifferenz. Will ich lieber den Regenschirm mitnehmen, damit ich nicht nass werde, falls es regnet, oder will ich den Schirm lieber nicht mitnehmen, damit ich ihn nicht nutzlos tragen muss, falls es nicht regnet (gegeben, wir befinden uns nicht in einem Monsungebiet, so dass es ungewiss, aber nicht unwahrscheinlich ist, dass es regnen wird). Entscheidungen unter Unsicherheit bringen uns regelmäßig in wertindifferente, also wertferne Situationen. Plessner nimmt daher an, dass werthafte Entscheidungen die meisten Fälle unseres alltäglichen Entscheidens nicht regieren und auch gar nicht regieren können. Mit Blick auf die Ausführungen im vorangegangenen Abschnitt wurde aber schon deutlich, dass wir nicht von einer grundsätzlichen Wertferne aller unserer alltäglichen Vollzüge ausgehen können, insofern viele davon mindestens implizit normgeleitet sind. In diesem Sinne spricht Plessner auch von „Wertferne", die nicht „Wertfreiheit, sondern die ewig unauflösbare Spannung zwischen Norm und Leben bedeutet" (GG 97). Eine gewisse normative Bestimmtheit unseres Daseins lässt Plessner also gelten und deutet damit die ganz alltägliche Geltung der Objektivitätssphäre schon an. Gesellschaft als Öffentlichkeit, so Plessner, sei das Reich der Unbestimmtheit, das zwischen den beiden Gemeinschaftssphären aufgespannt ist als „das ungeheurere Gebiet einer noch nicht politisch oder ökonomisch faßbaren, gewissermaßen unbestimmten Öffentlichkeit [meine Hervorhebung, NSch]" (GG 80). Gesellschaft umfasst so die Sphären der je schon bestimmten Gemeinschaftsformen und bestimmt diese zugleich weiter, insofern die Gemeinschaftsformen sich erst durch ihre Grenze definieren und diese Grenze realiter in der alltäglichen Praxis ihres Vollzugs finden. Öffentlichkeit umschließt die Sphären der Gemeinschaft und ist bei Plessner in dieser „Negativität" als „sozialformende Macht ersten Ranges" erkannt (GG 55). Familiarität und Objektivität erhalten so von der alltäglichen Praxis sozialen Miteinanders her ihre Formen. Das Famiiiare findet seine Grenze in der Reichweite des mir Bekannten - trete ich aus diesem heraus, so bewege ich mich im Reich der Gesellschaft, das die Grenze der konkreten Gemeinschaft einander verbundener Personen und bekannter Lebensumstände bildet. Die Objektivität hat in jedem individuellen praktischen Vollzug in Handlung und Ausdruck eine Grenze: Einzelne Handlung und allgemeine Sache, als deren Besonderung sie ausgeführt und sinnvoll wird, können als solche nicht kongruent sein. Zudem ist die oben dargestellte Grenze der Sachgemeinschaft in der Wertäquivalenz/Wertferne alltäglicher Entscheidungen zu bedenken. Als Alltäglichkeit scheint die Gesellschaft bei Plessner individuell aus einer zeitlichen Aneinanderreihung und überindividuell aus einer räumlichen Nebeneinanderreihung von
sich daran stets abgearbeitet hat. Manuel Schneider vertritt insofern eine moderate Position, als er Plessner als Kritiker einer wissenschaftstheoretischen Engführung des Kantischen Programms liest, der für eine Historisierung und Verleiblichung einstehe, womit Plessner sich dann eher auf den Neukantianismus als auf Kant selbst bezöge (vgl. Schneider 1989). Auch Richard Breun und Anke Thyen weisen auf Plessners Nähe zur kritischen Philosophie Kants hin (Breun 2006, Thyen 2007). Zum Verhältnis Plessner - Kant am Beispiel des Personbegriffs vgl. auch Schneidereit 2006a.
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Momenten zu bestehen - Gesellschaft als Resultat des praktischen Okkasionalismus'. 354 In diesem Sinne wäre die Gesellschaft vollkommen elastisch, sie wäre ein unbeständiges Fluidum, das nie feste Formen annähme, sondern immer nur dem Ungefähr der Situation und des Augenblicklichen unterläge. Gesellschaft wäre ein selbst unbestimmtes, die beiden Formen der Gemeinschaft von ihrem Vollzug her bestimmendes Geschehen. Im Folgenden möchte ich die Lesart des Unbestimmtheitsprimats durch Betonung der relativen Festigkeit und Institutionalisierung des Alltäglichen herausfordern - mag der Horizont noch so offen sein, unsere Vollzüge sind es nur in einem sehr relativen Sinn.355 Der Gedanke, dass auch die Öffentlichkeit immer schon bestimmt ist, kann in verschiedene Richtungen entfaltet werden, die unlösbar miteinander verbunden sind. Institutionentheoretisch ist das Alltägliche individuell relativ fest in Rollen und Rollensysteme gefugt sowie überindividuell in Politik, Recht und Ökonomie. Weiterhin fixiert sind diese Institutionen durch mehr oder weniger starre Macht- und Herrschaftsverhältnisse sowie unbewusst ideologisch (nicht reflektierte Grundüberzeugungen) und bewusst durch die Bildungssysteme, die jeweils wiederum untereinander in Zusammenhang stehen. Institutionen sowie Ideologie und Wissen/Bildung sind über die Achsen Familiarität und Objektivität erfassbar. Das heißt, man kann die Vorgänge der Bestimmung des Alltäglichen als Institutionalisierungsprozesse begreifen, die vorbewusst-habituell (Traditionen, Bräuche, Gewohnheitsrecht) oder bewusst-verordnend (Verfassung, Geschäftsordnung, gesatztes Recht) geschehen. Insofern es stets Prozesse des Gültig-Werdens sind, zwischen denen keine klare Grenze besteht, muss hier nach Graden bewusster Objektivierung unterschieden werden (Gesetze sind stärker als Bräuche objektiviert). Dabei können bewusste aus vorbewussten Institutionen hervorgehen und vice versa. In jedem Falle beeinflussen sie sich gegenseitig. Insofern unsere alltäglichen Vollzüge in verschiedener Hinsicht relativ bestimmt sind, können sie auch als Aktualisierung von bereits entstandenen Praxisformen begriffen werden, die sich lediglich in ihrer Individualisierung vom Bestehenden unterscheiden, die bei schwacher Institutionalisierung aber auch nur durch die individuierte Aktualisierung fortbestehen. Nicht nur werden also die Gemeinschaftsformen vom Alltäglichen her bestimmt, dieses wird auch wiederum von den beiden Gemeinschaftssphären (Familiarität und Objektivität) durchzogen.
b) Kritik der Plessnerschen Sozialethik der Distanz Die Unterbetonung der Bestimmtheit der Gesellschaft schreibt sich von Plessners Anliegen einer Sozialethik als einem ,,positive[n] Prinzip" (GG 79) her. Als problematisch
354
,Okkasionalismus' bezieht sich hier auf Plessners Rede vom Menschen als praktischen Okkasionellsten und nicht - wie üblich - auf Nicolas Malebranches Versuch, den Cartesischen Leib-SeeleDualismus zu überwinden.
355
Auch Manzei vermutet, dass Plessner in zu geringem Maße institutionentheoretische Elemente betrachtet, so dass er „strukturelle
Macht- und Herrschaftsverhältnisse" nicht erklären könne
(Manzei 2005, S. 77). So vermisst auch Heiner Bielefeldt einen konstruktiven Begriff des Staates bei Plessner (vgl. Bielefeldt 1994, S. 9 6 - 9 9 ) .
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erweist sich hierbei die über die formale Analyse der Grenzen der beiden Gemeinschaftsgesinnungen hinausgehende Sozialethik der Distanz. Diese beruht auf der Hypostasierung einer ursprünglichen psychodynamischen und psychophysischen Differenz, die Plessner im vierten Kapital der Grenzen der Gemeinschaft anthropologisch zu begründen versucht, zur Notwendigkeit realer Distanz zwischen Personen. Die systematische Notwendigkeit einer auf sozialem Abstand beruhenden Sozialethik ist vor dem Hintergrund der ontologisch begründeten Grenzen der GemeinschaftsgesmraMgew nicht hinreichend ausgewiesen. Es ist dabei weiterhin der spezifische Zuschnitt der Sozialethik, der Plessner zum Apologeten des bürgerlichen Liberalismus macht: Die Öffentlichkeit folge einerseits ausschließlich einer „Logik der Geschäftslage, die nach Übereinkunft, nicht nach natürlichem Überzeugungsausgleich strebt". Hier werde „Egoismus [...] zur ethischen Restforderung" (GG 98). Andererseits stehe alltägliche Praxis dort, wo das Geschäftliche ende, unter der Forderung geselligen Ausgleichs, in dem die „Kultiviertheit der Andeutung, [die] Kultur der Verhaltenheit" gelte (GG 106). Während im Geschäftlichen Diplomatie angebracht sei, die dem Gegner nicht zeige, wenn er unterlegen sei, gelte es, sich im Persönlichen taktvoll zu verhalten (vgl. GG 109). Das Fertigwerden mit dem Alltäglichen im wertfreien oder -fernen sowie nicht immer bekannten Ungefähr verflacht Plessner allzuschnell zu einer allein herrschenden Geschäftslogik. Damit wird Öffentlichkeit auf den Begriff einer bürgerlichen Tauschgesellschaft verengt. Plessner meint nun, wir kennten alle nicht nur das Reich der geschäftlich geprägten Alltäglichkeit, sondern auch diesen tänzerischen Geist, dieses Ethos der Grazie: das gesellschaftliche Benehmen, die Beherrschung nicht nur der geschriebenen und gesatzten Konventionen, die virtuose Handhabung der Spielformen, mit denen sich die Menschen nahe kommen, ohne sich zu treffen, mit denen sie sich voneinander entfernen, ohne sich durch Gleichgültigkeit zu verletzen (GG 80).
Jeder kenne das gesellschaftliche Spiel, in dem nicht der Ernst das Sittengesetz sei, in dem die psychodynamisch „erzwungene Ferne von Mensch zu Mensch [...] zur Distanz geadelt" (GG 80) werde. Ich möchte behaupten, dass mitnichten alle Menschen diesen tänzerischen Geist kennen und dass Personen sogar eine ganze Reihe materieller und ideeller Voraussetzungen erfüllen müssen, um ihn kennen zu können.356 Würde Plessner sozialethisch die materiellen und psychischen Grundlagen einfordern, die die vornehme Distanz allererst ermöglichen, dann könnte man die Forderung von Distanz als angemessen verstehen. Allerdings wäre in einer Welt ohne materielle Ungerechtigkeiten und psychische Deformationen eine Sozialethik vielleicht ein weniger dringliches Desiderat. Die Ferne zur Distanz adeln kann nur derjenige, der wenigstens satt ist, zudem aber nicht ganz unten auf der sozialen Leiter steht, wie daran zu ersehen ist, dass die „Weite 356
Wenngleich nicht in kritischer Absicht, so findet es Rehberg doch auch „rührend konventionell" anzunehmen, dass „die Menschengattung sozusagen von Natur her auf den diplomatischen Dienst angelegt" sei (Rehberg 2002, S. 244). Kämpf hingegen meint, man dürfe „sich von Plessners Lob der Leichtigkeit nicht irreführen [...] lassen und sie mit Oberflächlichkeit [...] verwechseln" (Kämpf 2001, S. 95).
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des Abstandes", den eine Person für sich einfordern kann, von der von ihr ausgefüllten „repräsentativen Stellung" abhängt (vgl. GG 84). Die Einforderung einer realen Distanz ist fur viele sogar eine unerfüllbare Verhaltensforderung, so dass die weniger Erfolgreichen je schon gegen Plessners sozialethische Forderungen verstoßen müssen, weil sie sich nie taktvoll und gemäßigt verhalten können, so dass ihre bloße Anwesenheit in Plessners Sozialethik etwas Unmäßiges hätte. Plessner schneidet seine Sozialethik auf eine Elite zu, die der Sorge um das ,bloße' Leben enthoben ist. Für dieses elitäre Denken zeugt seine Annahme, dass die „Menschen des Durchschnitts [...] sich in die gemachten Betten der Alltäglichkeit legen" (GG 69), „denn wie wenigen geht die Fraglichkeit ihres Milieus überhaupt auf, und wie gut ist es, daß sie ihnen nicht aufgeht" (GG 38). Diese Formulierungen affirmieren eine schichtspezifische Naturalisierung der gegebenen Lebensumstände, so dass Plessners Haltung allein unter dem Gesichtspunkt sozialer Ordnung betrachtet rational sein mag, die darin vertretene ethische Position ist so jedoch nicht anschlussfähig. Ähnlich sieht es Jan-Werner Müller, der Plessners Sozialethik als ein „ethos for the few" versteht357, das sich nahtlos in die zeitgenössische Verachtung des Massenmenschen einfügt. 358 Fordert Plessner doch, die „Ethik sollte sich nicht immer bei ihren Minimalanforderungen aufhalten", es gebe im menschlichen Dasein schließlich auch „Dinge [...], die allein im Geist des Luxus" entschieden werden können (GG 111). Plessners Problem ist nicht, wie eine soziale Formation möglichst gerecht gegen alle sein könnte, sondern ihn zwickt die Langeweile. Das sozialethische Problem ist nicht, die Hungrigen satt zu machen, nein, das ist ethische Minimalanforderung, die Plessner gar nicht eigens als Problem anspricht359, sondern die Crux liegt für ihn darin, „die Satten hungrig zu machen", das alltägliche Leben „abwechslungsreich und spannend" - also wie ein Spiel - zu gestalten (GG 102). Es ist vor allem von Kai Haucke daraufhingewiesen worden, dass Plessner gegen einen rigoristischen Kant (,Sittengesetzfanatismus') nicht nur das bloße Leben, sondern auch das gute Leben als sozialethisches Problem verstehe.360 Die prinzipielle An357
358
359
360
J.-W. Müller 2002, S. 156. Er folgert, dass „his 1920s liberalism foreshadowed what later would become typically neoconservative arguments" (ebd., S. 161). Vgl. zum Begriff der Masse in Philosophie und Kulturtheorie den aufschlussreichen Artikel von Stephan Günzel, der auch hervorhebt, dass der Blick von außen auf die Masse eine „sozialontologische Distanz" schaffe, durch die sich ,„Masse-Sein"' eigentlich vom ,„Mensch-Sein"' abhebe (vgl. Günzel 2004, S. 118f.). Der Massenmensch ist also eigentlich gar kein Mensch. Diese Folgerung liegt auch bei Plessner nah, insofern er das Distanzverlangen in einer psychologischen Anthropologie begründet. Vgl. zum Diskurs der Masse auch Sidonia Blättlers Band Der Pöbel, die Frauen etc. Die Massen in der politischen Philosophie des 19. Jahrhunderts (Blättler 1995). Anders gesagt - er meint, es sei gelöst: ,,[D]ie Entwürdigung des industriellen Arbeiters zu einem schutzlosen Lohnsklaven und Ausbeutungsobjekt gibt es in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften, wenn überhaupt, nur noch als Randphänomen" (Plessner, Problem der Öffentlichkeit, S. 218, vgl. auch ders., Selbstentfremdung, S. 288). Dass es sich hier keineswegs um ein ,Randphänomen' handelt, rücken ebenso streikende Niedrigstlohnarbeiter immer wieder ins Bewusstsein der Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften wie die hierzulande verbissen geführte Diskussion um einen staatlich festgesetzten Mindestlohn. Vgl. Haucke 2002, ders. 2003. Vgl. Fn.324 in dieser Arbeit.
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gemessenheit dieser Forderung soll nicht bestritten werden - vielmehr soll gesagt sein, dass das bloße Leben (übrigens auch bei Kant), insofern es je bestimmt ist, nie anders als in Kategorien qualitativer Beurteilung erfasst wird. Für welches Leiden ist eine Sozialethik der Distanz also das geeignete Vademecum? Welche Befindlichkeit sucht nach leichter Unterhaltung in der Geselligkeit? Die von Plessner diagnostizierte Langeweile, der Überdruss am Sattsein, ist eine sehr bürgerlich-spätmoderne Sozialpathologie, deren Symptomatik bei einigen Protagonisten des bürgerlichen Romans diagnostiziert werden kann. Plessners Sozialethik ist dabei einer Figur der Geselligkeit verpflichtet, auf die ich hier illustrierend eingehen möchte. „Denn Gesellschaft heißt auch Geselligkeit" (GG 105) - Exkurs Der Begriff der Geselligkeit hat eine lange Geschichte, die von Piatons Kultur des Gesprächs und Aristoteles' Reflexionen zur geselligen Natur des Menschen herreichend zu lang wäre, um sie in diesem Exkurs zu behandeln. Der Begriff weist sowohl liberale sozialethische Motive der Überwindung von Standesschranken als auch die pädagogische Idee der Bildung im zweckfreien Umgang miteinander auf.361 Die Kantische Figur der „ungesellige[n] Geselligkeit362 verbindet kontraktualistische und naturrechtliche Motive miteinander, indem Kant mit ihr die prinzipielle Gesellschaftsfahigkeit des ebenso prinzipiell dem Gesetz der Trägheit unterstehenden Menschen beschreibt. Der Mensch findet sich zugleich mit einem Hang zur Geselligkeit und zum Egoismus (Ehrsucht, Herrschsucht, Habsucht) als in ihm widerstreitenden Elementen ausgestattet vor. Da er nun voraussetze, dass alle so seien wie er, überwinde er seine Trägheit und versuche, sich durch Klugheit, Macht und Geschicklichkeit einen Rang unter den Mitgenossen zu verschaffen. So erklärt Kant mit einem Streich den geschichtlichen Fortschritt zu einer durch Konkurrenzgefühle immer weiter verfeinerten Kultur und der zivilisatorischen Funktion dieser Gefühle, insofern der kulturfördernde Wettstreit dem Geselligkeitshang Genüge tun muss. Geselligkeit ist aber auch, wie nicht zuletzt Sennett nachgewiesen hat, eine Figur aus dem Ancien Régime, das die Zusammenkunft Gleichgesinnter in Zirkeln, Salons und Geheimbünden zum Austausch von Information und Wissen geradezu hochstilisiert hatte. Die sich im Bild des theatrum mundi zeigende Mischung von Öffentlichkeit und Privatheit, in der es keine Symbole einer sich ausdrückenden Innerlichkeit, sondern nur Zeichen gibt, die für sich bedeutsam sind363, in der der Mensch Schauspieler war, ohne dass über ein hinter der Fassade liegendes echteres Wesen spekuliert werden musste, verlor sich vor dem Hintergrund einer als immer bedrohlicher wahrgenommenen Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert, in der das individuelle Innen sich von seinem Außen trennt, nach Zuflucht sucht.364 Die Wiederaufnahme dieser Figur Anfang des 20. Jahrhunderts ist daher 361 362 363 364
Vgl. Hinrichs 1974, Sp. 456f. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 20. Vgl. Sennett 2001, S. 102-119. Zu diesem Zusammenhang vgl. ebenfalls Sennett 2001.
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in gewissem Sinne die Sehnsucht eines in der Moderne angekommenen Spätbürgertums, das sich nach der Elite des erlesenen Zirkels, nach der „Etikette des Salons" (GG 106) und den Zeiten zurücksehnt, als es nicht politisch führende Schicht war, als es noch nicht als Unternehmertum Front gegen die Arbeiter bilden musste, sondern Revolutionär gegen adelige Standesdünkel war - als es noch sein konnte, was es darstellen wollte. Weniger von Kant, sondern eher von Schleiermacher (Versuch einer Theorie des geselligen Betragens [1799]) herkommend, erlebt der Begriff der Geselligkeit deshalb eine Renaissance bei den Soziologen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, weil er genau das Gebiet bezeichnen konnte, das so schwer zu fassen war - das des Alltäglichen. So begegnet er in recht bunter Bedeutung bei Albert Schäffle, der sie einfach als Befriedigung geistiger Bedürfnisse versteht, wenngleich er auch sieht, dass sie sich nach Ständen ausdifferenziert hat.365 Auch Jakob Burckhardts 1905 posthum erschienene Weltgeschichtliche Betrachtungen nehmen den Gedanken der Geselligkeit als ,,[e]ine Hauptbedingung aller höher vollendeten Kultur" auf.366 Burckhardt versteht wie Plessner die Geselligkeit als das Element, das alle gesellschaftlichen Bereiche miteinander in Berührung bringe, so dass die Menschen dahin gebracht werden könnten, ihr alltägliches Tun anders aufzufassen, nämlich als das „Maß des Verständlichen [...], ohne welches sie ins Blaue zu streben in Gefahr sind oder kleinen anbetenden Kreisen anheimfallen". 367 Leicht lässt sich in dieser Warnung das Plessnersche Gemeinschaftsvokabular wieder erkennen; weder zum Ideal der Sachgemeinschaft („ins Blaue") noch zur Verschworenheit der Blutsgemeinschaft („kleine anbetende Kreise") darf das Miteinander ausschlagen. Im Gegensatz zu Plessner warnt Burckhardt aber gerade davor, dabei den Luxus als bestimmendes Element zu verstehen. Zu besonderen Ehren kommt der Begriff der Geselligkeit in der Formalen Soziologie. Leopold von Wiese entwirft in seiner Beziehungslehre ein dem Plessnerschen nicht ganz unähnliches Modell der Distanzverherrlichung mit dem zweideutigen Begriff des sozialen Abstandest Auf Plessner gewirkt hat aber vermutlich in erster Linie Simmeis Auffassung von Geselligkeit, wie er sie in den Grundfragen der Soziologie von 1917 entwirft. 369 Gesel365
Vgl. Schäffle, Bau und Leben des sozialen Körpers, S. 96-102.
366
Burckhardt, Weltgeschichtliche
367
Ebd., S. 397.
368
von Wiese, Beziehungslehre, Abstand".
369
Mir ist nicht bekannt, ob Plessner die Schrift gekannt hat, die im Folgenden ausgewiesenen Formulierungsähnlichkeiten lassen aber vermuten, dass dies der Fall gewesen ist. Es muss jedoch einer anderen Arbeit überlassen werden, die philologischen Verstrebungen zwischen den beiden doch recht unterschiedlichen Autoren nachzuziehen. Die Ähnlichkeit Simmel - Plessner ist zum Teil frappierend, so etwa wenn Simmel meint, dem Menschen eigne ein „Doppelbedürfnis: nach zweifelsfreier Deutlichkeit und nach rätselhafter Unergründlichkeit" (Simmel, Grundfragen der Soziologie, S. 144), das zu äußerer Form zwinge, die von einer nicht näher bezeichneten „Kraftquelle des Ich gespeist" (ebd., S. 110) werde. Plessner spricht vom „Ungrundcharakter der Psyche", der ein „Drang nach Offenbarung" sowohl als „nach Verhaltung" eigne (GG 62f.). Es lassen sich zahlreiche weitere Textstellen im Kapitel „Der Kampf ums wahre Gesicht" in den Grenzen der Gemeinschaft
Betrachtungen,
S. 396.
Zweiter Haupteil, 1. Kap.: „Die sozialen Prozesse und der soziale
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ligkeit ist bei Simmel der gesellschaftliche Raum, in dem man miteinander umgeht um der guten Form willen, in der sich die unumgängliche Form vollende als „gegenseitiges Sich-Bestimmen"370. Wie bei Plessner nehmen auch bei Simmel Diplomatie und „Taktgefìihl"371 eine zentrale Stellung ein (vgl. GG 95-112). Sie gebieten dem Individuum, von seinen persönlichen Impulsen abzusehen, sich in seine Grenzen zu weisen. Bei Plessner „verallgemeinert und objektiviert" sich der Mensch, „durch eine Maske, hinter der er bis zu einem gewissen Grade unsichtbar wird, ohne doch völlig als Person zu verschwinden" (GG 82). Auch Simmel spricht von der „unpersönlichen Freiheit der Maske"372, unter der der Mensch zur sich ausdifferenzierenden, grenzbestimmenden Persönlichkeit werde (zu der er unter dem Individualisierungsdruck der Moderne bei Simmel werden muss), die Diskretion ermöglicht und gebietet. Er lobt die relative Anonymität der im „Gesellschaftsspiel"373 wirkenden Persönlichkeiten und schließlich auch die „Courteoisie"374, wie Plessner von der „Idee des Zeremoniells" (GG 85), der „Würde der Form" und der „Höflichkeit", die „Willkür des sich hervorwagenden Einzelmenschen" zu unterdrücken (GG 86), spricht. Simmel und Plessner heben die Leichtigkeit der „künstlichen Welt"375 der Geselligkeit als einer idealen Welt hervor, in der Wechselwirkung „unter Gleichen"376 bestehe. Plessner spricht sogar von der „Pflicht zur Gesellschaft und zur Geselligkeit", zu der der Mensch „auch von Natur befähigt und gestimmt ist" (GG 112). Verfälscht werde die äußere Form doch erst dort, wo das Innere des Individuums die äußere Form verunreinige. Simmel bewertet die Geselligkeit aber nicht deshalb positiv, weil sie als prinzipiell menschliche Form des Miteinanders gelten mag, sondern weil in ihr eine Art verflachter Kategorischer Imperativ in Anschlag gebracht werden kann, der jedem genau gleich viel Raum zugesteht. Daher ist für Simmel „die Geselligkeit die Spielform auch für die ethischen Kräfte der konkreten Gesellschaft".377 So meint Simmel, dass der in der Ethik
finden. Dass Simmel bei Plessner an keiner Stelle genannt wird, ist auch anderen Autoren aufgefallen, vgl. Fischer 2002a, S. 92, Schmölders 2002, S. 205f. u. S. 21 lf„ Accarino 2002, S. 136. Sandkaulen weist auf Simmeis Schrift zur Geselligkeit im Zusammenhang mit Plessner hin (vgl. Sandkaulen 1994, S. 265, Fn. 27). Auch Hondrich sieht Ähnlichkeiten (vgl. Hondrich 2002, S. 298f.). Zu Bezügen zwischen Plessners Einheit der Sinne und Simmeis Soziologie vgl. Thomas 1995 sowie Fischer 2002b. 370
Simmel, Grundfragen der Soziologie, S. 107.
371
Ebd., S. 108. Ebd., S. 109. Ebd., S. 113.
372 373 374
375 376 377
Ebd., S. 112. Simmel verweist an dieser Stelle auf die Ähnlichkeit seiner Geselligkeitsanalyse zu Vorstellungen, die dem Ancien Régime entstammen. Verschiedentlich ist auf barocke oder höfische Motive in Plessners Grenzen hingewiesen worden (vgl. Lethen 1994, ders. 2002, Accarino 2002, Rehberg 2002). Zu Rezeption (und Konstruktion) des Barock in der Weimarer Republik vgl. Lepper 2006. Simmel, Grundfragen der Soziologie, S. 111. Ebd., S. 112. Ebd., S. 117.
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geforderte Ernst „ästhetisch repräsentiert" im Spiel aufgehoben werden könne.378 Die Herkunft einer Sozialethik des Abstandes bei Simmel wie bei Plessner lässt sich also im 18. Jahrhundert und am Hofe des Ancien Régime verorten. Ich will im Folgenden andeuten, weshalb weder mit Simmel noch mit Plessner eine Ethik spielerischer Geselligkeit verteidigt werden kann, so dass diese Motive an den Ort ihrer Herkunft zurückverwiesen werden.
Plessners Sozialethik der geselligen Distanz ist eine Ethik des Disengagements, die eher dazu anregt, dem Gegenüber nicht zu zeigen, dass er den Anforderungen der Situation nicht genügt, als ihm eventuell nötige Hilfe zu leisten. Zudem erfordert die Zugehörigkeit zu einer geselligen Sphäre in sehr viel stärkerem Maße qualitative so-und-so-Bestimmtheit der Individuen, als es Überzeugungsgemeinschaften je erfordern würden. Nur angemessen ausgestattete Individuen können am geselligen Spiel und erst recht an der Logik des Geschäftlichen teilnehmen. Es zeigt sich, dass die Wertschätzung einer Sozialethik der Geschäftlichkeit und Geselligkeit zur Legitimation der Stratifizierung konkreter Sozialzusammenhänge dienen kann. So ist die von Simmel hervorgehobene „demokratische^ Struktur"379 der Geselligkeit durch einen gemeinsamen praktischen Erfahrungsbereich bedingt380, der als Homogenität der Alltagswelt aufgefasst werden kann. Geselligkeit kann also „freilich jede Gesellschaftsschicht nur in sich selbst realisieren"381, da sonst die demokratische Struktur verletzt würde. Geselligkeit ist ein schichtinterner Zusammenhang, der die Durchlässigkeit und das freie Miteinander innerhalb der Schicht, der sozialen Strate, der Klasse erlaubt. Simmel spricht vom hier „ausschließlich dominierenden Wechselwirkungsmoment" 382 , das - so von Wiese - durch den ,„Nicht-Salonfähige[n]'" 383 verletzt werde, bei Plessner ist es die „[njackte Ehrlichkeit", die „einfach als Spielverderberei [wirkt], mit der weiter nichts anzufangen ist, als daß man darüber hinweggeht" (GG 83f.). Nur was macht der, der ehrlich sein muss, weil er die Regeln nicht kennt? Was macht der, der nicht die Mittel hat, sich angemessen zu kleiden? Der seine Maßstäbe nicht zurückstellen kann, der über Takt, „das Vermögen der Wahrnehmung unwägbarer Verschiedenheiten" (GG 107) nicht verfügt? Das bürgerliche Ideal einer freien Kommunikation zwischen lebensweltlich ähnlich geprägten Personen übergeht, welche materialen und 378
379 380
Vgl. ebd., S. 118. In diesem Sinne entwickelt Simmel explizit in der Tradition Nietzsches (und als Kritik an Tönnies formuliert) die Idee einer Ethik der Vornehmheit, „die über das bloss Moralische hinausgeht, und zwar vielleicht nach der Seite des Aesthetischen hin" (Simmel, Rezension zu Tönnies ' Nietzsche-Kultus, Sp. 1648). Simmel, Grundfragen der Soziologie, S. 110. Vgl. Gehring 1969, S. 248.
381
Simmel Grundfragen der Soziologie,
382
Ebd., S. 109.
383
von Wiese, Beziehungslehre, S. 161. „Im Salon bewegt sich derjenige mit Sicherheit und Erfolg, der den richtigen Instinkt für die auf- und abschwingenden Bewegungen des gleichzeitigen Zu- und Auseinander besitzt" (ebd.).
S. 1 lOf.
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machtstrategisch besetzten Eingangsbedingungen der gesellige Diskurs hat. Die Flexibilität des Bürgerlichen kann sich nicht jeder leisten, der „,Ungesellige' [...] besitzt dieses ,Gesellschaftsgefühl' nicht"384, so Axel Gehring. Wie aber kann ich die schichtspezifischen feinen Unterschiede (Bourdieu)385 erlernen, die es mir allererst ermöglichen, ,gesellig' zu sein? Plessners Sozialethik des Abstandes schließt systematisch diejenigen Gesellschaftsschichten aus, die mit unmittelbareren Belangen als dem freien Austausch unter Gleichen beschäftigt sind. Sie ist zudem elitär und anachronistisch, insofern die Situation zu Beginn des 20. Jahrhunderts gar nicht vergleichbar ist mit der um 1800, in der es zu Wohlstand gelangte Bürger mit dem Adel aufnahmen.386 Der Gemeinschaftsradikalismus zu Plessners Zeit hatte es weniger mit allgemeiner gesellschaftlicher Anerkennung, sondern mit der Anerkennung essentieller Bedürfnisse nach Arbeit, nach Versorgung, nach Zeit und Platz für individuelle Entfaltung sowie nach einer darauf folgenden Änderung der gegebenen Verhältnisse zu tun. In diesem Zusammenhang ist auch der spieltheoretische Anschluss an Plessners Theorie des Politischen als Möglichkeit einer pluralen Politik, wie ihn N. A. Richter vorlegt, zu überdenken.387 Sicherlich liegt N. A. Richter ganz richtig mit der Annahme, dass es verschiedene Formen des gesellschaftlichen Spiels gibt, von denen einige festen Regeln folgen, andere weniger festen, die leichter geändert werden können.388 Unbestritten bleibt 384
385
386
387
388
Gehring 1969, S. 253. Ungesellig-Sein ist bei Gehring offenbar auch Unangepasst-Sein: „Der Mensch mit Gesellschaftsgefühl' handelt so, wie es die moderne industrielle Gesellschaft erfordert: flexibel, dynamisch sich ändernden Situationen angepasst" (ebd.). Probleme und Grenzen genau dieser hohen Flexibilitätsanforderungen der modernen Arbeitswelt hat Sennett in Die Kultur des neuen Kapitalismus aufgezeigt (Sennett 2005). Zur Produktivität Plessners für eine Lektüre von Pierre Bourdieus Habitus-Konzept vgl. Jäger 2005. Den besonders europäischen Charakter des Geselligkeitsbegriffs in seinen so genannten zivilisatorischen Potenzialen hebt Krasnodçbski hervor (vgl. Krasnodçbski 1995, S. 229). Man kann hier abmessen, welch kurzen Weg eine solche Position zu einem Toleranz-Eurozentrismus hat (vgl. ebd., S. 224f.). Vgl. N. A. Richter 2005, S. 157. Spieltheorie ist bei N. A. Richter nicht in der mathematischsoziologischen Tradition der Ermittlung rationalen Verhaltens, sondern im Sinne des Spielerischen, Nicht-Festgestellten gemeint. Es soll hier weder bestritten werden, dass der „Ernst" in einer Situation ohne Handlungsmöglichkeiten „Folge einer Blickverengung" sein kann (vgl. ebd., S. 176) noch, dass das „Spielbewußtsein" als das „Auch-anders-Können" als Kompromissfähigkeit sogar zwingend erforderlich ist (vgl. ebd., S. 194), sondern nur, dass das Fehlen von Kompromissfähigkeit nicht nur einem verengten Denken, sondern durchaus realen Handlungsbarrieren geschuldet sein kann. Zudem wird man den Begriff der Blickverengung als das „Fehlen des Bewußtseins" vom ,,Möglichkeitsüberschu[ß]" ideologiekritisch reflektieren müssen (vgl. ebd., S. 176). Vgl. ebd., S. 141. Krüger sieht die Ethik des Spiels eingeschränkt; er spricht von einer gleichzeitigen Entfaltung und Begrenzung des Spielansatzes" bei Plessner (Krüger 2000a, S. 299, deutlich auch durch seine Haltung in ders. 2001a, S. 934f. und ders. 1999, S. 150). Im Sinne einer im Spiel entstehenden Ordnung vgl. Giammusso 1995. Auch Hetzel und Haucke messen dem Spielbegriff zentrale Bedeutung bei (vgl. Hetzel 2005, S. 248-250). Haucke weist wiederholt auf die Konstitution des Menschen als Schauspieler bei Plessner hin (vgl. Haucke 2000b, S. 248ff., ders. 2003, Kap.
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mit Richter auch, dass die Unbestimmtheitskategorie unverzichtbar für eine Philosophie des Politischen ist (vgl. in dieser Arbeit Kap. 7.3), allerdings muss sie stets flankiert werden durch Hinweise darauf, dass der Rahmen des vom Individuum Bespielbaren nicht größer entworfen werden darf, als er tatsächlich ist.389 Viele politisch-liberale Positionen übersehen durch die Betonung von Offenheit und Unbestimmtheit, dass dieser Rahmen durchaus begrenzt ist und das nicht nur, weil das gesellschaftliche Spiel Regeln hat, sondern auch, weil Individuen darin an sozialen Positionen stehen, die ihnen nicht jeden Zug im Spiel erlauben und weil sie diese Position zudem in einer Weise naturalisieren, die sie das Gefiige als unabänderlich gegeben hinnehmen lässt. Und selbst wenn Klarheit über ungerechte Verhältnisse herrscht, dann führt diese allein noch lange nicht zu deren Änderung. Die Institution gesellschaftlicher ,Spielregeln' lässt den der Metapher des Spiels immanenten Aspekt des Spielerischen und Leichten hinter den des festen und verteidigten Regelgefiiges zurücktreten, in dem für diejenigen mit schlechten Startpositionen Leichtigkeit überhaupt nie entstehen kann. Das größte Problem, den Begriff des Spiels und eine Sozialethik von Geschäftlichkeit und Geselligkeit bei Plessner fruchtbar zu machen, ist aber die Dimension des Anti-Engagements, die ein Aufbegehren gegen ein gegebenes Regelgefüge verbietet. Die Spielmetapher kommt im Rahmen einer kritischen Sozialphilosophie an ihre Grenze, ist doch eine Regel des Spiels die Leichtigkeit des Beliebigen. Nicht nur kann es nicht um Auseinandersetzungen von politischer Relevanz gehen, man darf überhaupt keinerlei Form von Engagement zeigen. Geselligkeit ist geradezu die Sphäre des Nichtengagements, wie die Logik des Geschäftlichen Verstöße gegen geltende Parameter der Tauschgesellschaft verbietet: „Es ist sozialethisch gefordert, im Geschäft einen in die Wehrlosigkeit hineinzuoperieren, dagegen ein Verbrechen, statt der Logik des Spiels die nackte Gewalt dabei anzuwenden, mag es sich hundertmal um Existenzfragen handeln" (GG 101 [meine Hervorhebungen, NSch]). In diesem Sinne möchte ich den Vorschlag machen, Plessners Sozialethik des Geschäftlichen und der Geselligkeit aufgrund ihrer liberal-bürgerlichen Anti-Engagiertheit zu verabschieden und stattdessen eine fokussierte Auseinandersetzung mit seinem Vorschlag zu einer Sozialontologie von zwei Sphären der Gemeinschaft und einer sich darum und dazwischen im flüssigem Prozess und in relativer Fixierung bewegenden Gesellschaft anzugehen. Es soll damit weder gesagt sein, dass es Geselligkeit nicht gibt, noch dass geselliger Umgang unangenehm sei und als Wert nicht angestrebt werden sollte, sondern dass sie als Grundlage einer Sozialethik einen extrem begrenzten und begrenzenden Raum bietet. 11.6), und er fasst es sogar als eine These Plessners von 1924 auf, „daß alles Organische ontologisch durch ein spielerisches Sein geprägt ist" (Haucke 2002, S. 124, analog ders. 2003, S. 105). 389
Das scheint N . A. Richter kaum zu bedenken, wenn er den Spielraum im Rahmen seiner politischen Anthropologie nach Plessner definiert als „provisorisch realen Handlungsmöglichkeiten
besteht'
umgrenzter
Raum, in dem ein Überschuß
an
(N. A. Richter 2005, S. 176). Ein realer Überschuss und
provisorische Grenzen gibt es zwar häufig, aber für eine politische Philosophie wäre zu beachten, dass es sehr viel häufiger eine Kombination aus sehr festen äußeren wie internalisierten Regeln und sehr wenig realen Handlungsmöglichkeiten gibt, die nur deshalb nicht auffallt, weil ihr Zusammenhang in starkem Maße naturalisiert ist, so dass meine unhintergehbaren Grundüberzeugungen mich die Möglichkeiten gar nicht entdecken lassen.
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c) Bestimmtheit des Sozialen Plessner selbst beschreibt die Grenzen der Unbestimmtheit des Alltäglichen, sich in Augenblicken vollziehenden Daseins in den Kapiteln 5 bis 7 der Grenzen der Gemeinschaft („Wege zur Unangreifbarkeit", „Logik der Diplomatie", „Utopie der Gewaltlosigkeit"). Wenngleich er die totale Bestimmbarkeit unserer alltäglichen Praxis durch die beiden Gemeinschaftsgesinnungen bestreitet, macht er hier doch die relativ starke Geformtheit des Alltäglichen durch Rollen und Rollensysteme sowie durch Politik und Recht deutlich. Tatsächlich fehlen allein Ausführungen zur Bestimmung durch die Ökonomie. Öffentlichkeit kann als Ort der Bekleidung mit Form" (GG 72) verstanden werden. Diese Formulierung Plessners darf nicht so missverstanden werden, dass wir uns a n ziehen', wenn wir vor die Tür gehen, und dass wir ,darunter' ein eigentliches, nacktes Ich hätten, sondern dass wir nie anders als .geformt' sind - weder vor anderen noch vor uns selbst. Öffentliche Formen sind zunächst Rollen, in denen sich die Person „verallgemeinert und objektiviert" (GG 82). Die Rollen stehen zueinander in einem Verhältnis, das Plessner Zeremoniell nennt (GG 85), das „feste Regeln für das Verhalten des einzelnen bedeutet und alle individuellen Unterschiede aus seinen Kreisen verbannt" (GG 87). Im Zeremoniell verbinde „ein Allgemeines [...] eine unbestimmte Fülle von Personen, die in gewissen Bedeutungsverhältnissen entweder zueinander oder zu dritten stehen, zu einheitlichem Verhalten von objektiv geregeltem Gepräge" (GG 85f.). Die Öffentlichkeit sei ein Funktionsgefüge, in dem die Individualität des Einzelnen vollkommen hinter die Allgemeinheit einer bedeutungstragenden Rolle zurücktrete. Hervorscheinen könne sie nur als Individuierung der eingenommenen Rolle, indem der Einzelne sich Prestige in der Rolle erwerbe oder neue Formen erfinde (vgl. GG 88). Die „zwei Ordnungen der Anwendung" (GG 85) von Rollen sind bei Plessner also einerseits die abstrakte Allgemeinheit ihrer Geltung („Zeremoniell"), andererseits die individuierte Besonderung dieses Allgemeinen im persönlichen Ausdruck („Prestige"). An dieser Stelle ist ganz deutlich, wie fest das Alltägliche als Geltungs- und Bedeutungsraum gefügt ist. Hier könnte man die Plessnersche Spielmetapher tatsächlich, aber gewendet im Sinne des Wittgensteinschen Sprachspiels, produktiv machen. 390 Unterstützend für eine solche Lesart kann eine briefliche Aussage Plessners gelten: 1923 stimmt Plessner König zu, dieser habe in der Einheit der Sinne ,,[d]ie Analogie in der Deduktion von ,Sprache' und Gesellschaft' [...] vollkommen richtig gesehen". 391 Entlang dieser Analogie lässt sich ganz gut verstehen, dass Gesellschaft/Sprache einerseits alltägliche 390
Im Bereich der Moralphilosophie schlägt Thyen einen Bogen von Plessners Begriff der exzentrischen Positionalität zu Wittgensteins Rede von Lebensformen (Thyen 2007).
391
Vgl. den Brief von Plessner an König vom Datum 28. Mai 1924 (Lessing/Mutzenbecher 1994, S. 46). (Ich danke Joachim Fischer für den Hinweis auf diese Stelle, vgl. dazu auch Fischer 2002a, S. 93-95.) Deutlich ist die Analogie Gesellschaft - Sprache auch in Plessners Die Frage nach der Conditio humana von 1961: „Sprache verdeckt die Sache wie ein Kleid und bildet zugleich ihr Skelett, das ihr zur Aussagbarkeit und Figur verhilft. Sprache artikuliert, zerstückelt und tut der ungeteilten Sache, dem Gegenstand ,selbst', Gewalt an und folgt ihr doch nur, schmiegt sich ihr an, läßt sie erscheinen, entbirgt sie" (Plessner, Conditio humana, S. 177).
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Praxis ist, die situativen Anforderungen dient, damit dies möglich sei, zugleich aber in Institutionen der Bedeutsamkeit fixiert und in der bisherigen Praxis verwurzelt sein muss. Mit der Bestimmung des Alltäglichen durch die Eingespanntheit der Personen in ein Rollengefüge sind weitere Bestimmungen verbunden, die (und deren Verschränkung und wechselseitige Verstärkung) Plessner nicht eigens erwähnt. Der Begriff der Rolle sowie die Vorstellung eines Rollensystems sind häufig und so auch bei Plessner Elemente einer unkritischen Theorie sozialer Stabilität, die nur geringe Abweichungen zulässt. Plessner unterscheidet in Die Frage nach der Conditio humana ( 1961 ), wie in der Rollentheorie üblich, zwischen „ascribed status" und „achieved status"392 und betont, dass der einzelne, „eingespannt von Anfang an in den Rollenplan" 393 , die ihm darin zufallenden Möglichkeiten zu verwirklichen habe - auch „Kindschaft" 394 falle in die Rollensphäre. Dass Rollen und Rollensysteme ökonomischen Bedingungen unterliegen sowie ideologische Einschlüsse haben, ist für Plessner aufgrund seiner Sorge um den gemäßigten Umgang miteinander zweitrangig, obgleich er sieht, dass der Kampf um Prestige (Grad der Anerkennung meiner Person in einer Rolle), von der „Mehrung [von] physischen, psychischen, spirituellen Machtmittel[n]" (GG 89) abhängt. Zudem muss gesagt werden, dass mein ascribed status mir den Zugang zu einer Reihe von gesellschaftlich anerkannten Rollen erschweren oder gar verhindern kann, so dass nicht selten ascribed status und achieved status in sehr engem Zusammenhang stehen, zum Beispiel beim Zusammenhang von Geschlecht und Beruf. Dass deskriptiv gehaltene Rollentheorien also stratifizierte Gesellschaftsordnungen naturalisieren oder als nicht zu ändern hinnehmen, findet bei Plessner ebenfalls keine Erwähnung. Wie Plessner anzuerkennen, dass jemand nicht in seiner öffentlichen Rolle aufgeht und dass Rollengefüge kulturell entstanden sind, ist zwar notwendig, aber nicht hinreichend für eine sozialkritische Position. Zuweilen ist aktive Einwirkung auf die geltende Ordnung notwendig. So reicht es eben nicht, die Stigmatisierung einkommensschwacher Schichten rollentheoretisch zu hinterfragen und zu de-essentialisieren, sondern es sind Eingriffe in die bestehende Verteilungsordnung geboten, die das Rollengefüge selbst ändern sollen.395 Die strukturelle Bestimmtheit des Alltäglichen durch ein von Individuen getragenes Funktionsgefüge, das zudem meist ökonomisch, ideologisch sowie durch Machtverhält392 393
394 395
Ebd., S. 197. Ebd., S. 198. In seinem etwas älteren Artikel Soziale Rolle und menschliche Natur von 1960 bespricht Plessner den Rollenbegriff in erster Linie negativ. Er wendet sich damit gegen die Annahme, dass menschliches Miteinander im Funktionsgefüge von Rollen aufgehe und so empirisch fassbar sei. So werde das Verhältnis des intelligiblen Ich zur Rolle nicht mehr gefasst. Plessner spricht hier vom konstitutiven Doppelgängertum des Menschen. Aufgrund der darin impliziten Trennung von privat und öffentlich fuhren diese Aspekte im Rahmen meiner Ausführungen eher in die lire und sind auch keine notwendige Folgerung aus ihnen (vgl. Plessner, Soziale Rolle, vgl. auch ders., Conditio humana, S. 195-205). Ebd., S. 198. Vgl. dazu auch die zwischen Nancy Fraser und Honneth geführte Debatte um Anerkennung oder Umverteilung als normatives Paradigma einer gesellschaftskritischen Position (N. Fraser/Honneth 2003).
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nisse fixiert ist, macht die Bestimmung des Alltäglichen auch von den Sphären der Familiarität und der Objektivität her deutlich. Vor allem primäre Rollen (weiblich, männlich, Tochter, Vater) und ihre Relationen entstehen und werden tradiert in engen lebensweltlichen Zusammenhängen. Objektiviert (institutionalisiert) sind sie je schon, indem sie situationsübergreifend gelten. Zudem kann abweichendes Verhalten aufgrund dieser Objektivität einer geltenden Rolle identifiziert und möglicherweise sanktioniert werden. Wenn bestimmte Rollen und ihre Verhältnisse untereinander verrechtlicht werden, müssen sie als richtig angesehen werden. Wenn also etwas, das traditionell entstanden ist, auch gelten soll, greifen Familiarität und Objektivität in der täglichen Praxis ineinander und regieren auf diese Weise unser Verhalten. Das heißt, obwohl es nicht im engen Sinne vorherbestimmt ist, wie ich mich verhalten werde, ist ein bestimmtes Verhalten gemäß meiner Position in einem Rollengefüge sehr wahrscheinlich eine Aktualisierung geltender Praxisformen, denn zumeist werden nur diese verstanden und anerkannt. Wird die Objektivität bestimmter geltender Rollen und Rollengefüge aber angezweifelt, so wird versucht, eine noch nicht geltende Objektivität als geltend zu etablieren. Die Position von Frauen etwa hat sich einerseits allmählich und unmerklich gewandelt, andererseits aber auch durch Streit und Auseinandersetzung um Geltung verändert, die zu Konsequenzen in Wahl-, Arbeits- und Familienrecht geführt haben. Eine noch nicht geltende, gemessen an der Realität abstrakte Objektivität (Sachgemeinschaft) geltend machen zu wollen, begreift Plessner aber als sozialen Radikalismus. Obgleich er diesen als Gesinnung ablehnt, ist sozialontologisch deutlich, dass hinsichtlich des Rollengefuges Familiarität und Objektivität unsere Praxis bestimmen (bzw. bestimmen sollten), dass die einzelnen Fälle des Alltäglichen „durchzogen sind von allgemeinen Ideen und Pflichten" (GG 80). Diese gehorchen nicht allein einer Geschäftslogik, müssen eine solche aber stützen, damit sie weiterhin gilt. Das alltägliche Leben ist nicht nur durch zum Teil institutionalisierte Rollen bestimmt, sondern darüber hinaus und vom Rollengefüge unlösbar durch Institutionen politischer und rechtlicher Ordnung: „In festen Bezirken des Lebens [...] [hat] jedes Ding durch rechtliche Ordnung und Tradition, durch den dauernden Umsatz und die Eingespieltheit aller Beziehungen aufeinander eine annähernd feste Systemstelle bekommen" (GG 100). In Institutionen von Politik und Recht ist eine bestimmte Ordnung gesetzt und sind öffentliche wie private Vollzüge verrechtlicht. Das gesellschaftliche , Spiel' wird hier explizit fixiert, während das Rollengefüge eher implizit performiert wird. Diese beiden Modi des Expliziten und des Impliziten sagen noch nichts über die Wirklichkeit aus: Rechtlich kann fixiert sein, dass alle Bürger gleiche Chancen haben, praktisch kann ein geltendes Rollengefüge diesem Gesetz vollkommen entgegen stehen. Ein Unterschied ist allein die Einklagbarkeit von Rechten gegenüber einer ihnen widersprechenden Praxis. Der Intention nach bestimmen Politik und Recht aber die Alltäglichkeit. Im Bildfeld der Metaphern Sprache und Sprachspiel wären die Gesetze die öffentlichen Spielregeln, die niedergeschriebene Grammatik. Dem Unterschied von präskriptiver Grammatik und deskriptiver Grammatik entspräche dabei die Ausgestaltung des Rechts auf Grundlage des Gegebenen im Gewohnheitsrecht oder auf Grundlage von objektiven Überlegungen, die der Praxis
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widersprechen können. Auch im Bereich von Politik und Recht bestimmen folglich Familiarität und Objektivität die alltägliche Praxis, insofern sie als lebensweltliche Gehalte sowie als Überzeugung, dass eben diese (oder andere) gelten sollen, notwendig zu denken sind. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Plessner zwar die Unbestimmtheit des Alltäglichen betont, wenn er es als das „Gebiet einer noch nicht politisch oder ökonomisch faßbaren, gewissermaßen unbestimmten Öffentlichkeit" (GG 80) beschreibt, dass demgegenüber aber bereits im Text das Funktionsgefuge von Rollen und Rollenrelationen einerseits sowie von Recht und Politik andererseits in den Begriff von Öffentlichkeit eingearbeitet sind. Die Spielmetapher reicht zur Beschreibung der alltäglichen Praxis nur dann hin, wenn man die Eigenart dieses Spiels beschriebe, viele Positionen von Spielbeginn an sehr schlecht auszustatten (sie vor allem in Unkenntnis über die Spielregeln zu lassen) und so die von diesen Positionen aus möglichen Spielzüge unendlich zu minimieren. Auszuarbeiten wären die Zusammenhänge zwischen den beiden Gebieten öffentlicher Bestimmung (Recht/Politik und Rollengefuge) sowie ihre Verschränkung mit den beiden Sphären der Gemeinschaft (Familiarität und Objektivität). Gesellschaft (alltägliche Praxis), so kann man sagen, vermittelt die beiden Sphären der Gemeinschaft in deren Vollzug, und diese Vermittlung ist explizit-bewusst (z.B. im gesatzten Recht) und implizit-unbewusst (z.B. als gewohnheitsrechtliche Motive im allgemein-geltenden gesatzten Recht) bestimmt durch die gegebene Ordnung. Grundsätzlich ist allerdings Honneth zuzustimmen, dass die jeweilige Bestimmtheit bei Plessner um ihre „sozioökonomische Seite" verkürzt wird396, und man muss hinzufügen, dass das Problem der Fixierung bestehender Verhältnisse durch Ideologie und Machtverhältnisse zwar erwähnt, aber nicht kritisiert wird. Setzt man diese Probleme aber einmal an die Seite und geht davon aus, dass in Plessners Grenzen der Gemeinschaft die Bestimmung der alltäglichen Praxis sogar in starkem Maße angelegt ist oder nachgetragen werden kann, dann bleibt die Frage, was wir unter der Unbestimmtheit der Praxis verstehen können.
Obgleich nun viel Einschränkendes zur Plessnerschen These der unbestimmten Öffentlichkeit gesagt wurde, kann ihre Relevanz für eine kritische Sozialphilosophie nicht bestritten werden. Wenn ich unter Unbestimmtheit nicht verstehe, dass genau dieses konkrete Alltägliche unbestimmt ist, sondern dass menschliche Praxis prinzipiell unbestimmt ist, dann relativiere ich damit den durch die Ethik der Distanz und des Spiels erhobenen Anspruch der Leichtigkeit und des Spielerischen. Denn jeder konkrete Vollzug menschlicher Praxis ist in vielerlei Hinsicht, wie eben dargestellt, tatsächlich bestimmt. Wie diese Bestimmung sich allerdings konkret gestaltet, unterliegt naturgeschichtlichen, geschichtlichen, kulturellen, politischen, ökonomischen, sozialen und nicht zuletzt individuellen Einflüssen. Die Situationen, in denen wir uns alltäglich bewegen, zeichnen sich durch diese Immer-
396
Vgl. Honneth 2002, S. 24.
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KRITISCHE SOZIALPHILOSOPHIE - HELMUTH PLESSNER
schon-Bestimmtheit aus. Das bedeutet aber weder, dass einzelne Situationen vollständig bestimmt sind, noch dass unsere gesamte Praxis grundsätzlich bestimmt ist.397 Daraus folgt zweierlei: Erstens, dass soziales Miteinander prinzipiell geregelt werden muss, weil es nicht a priori von gemeinsamen Werten oder Überzeugungen geregelt ist.398 Die Vertragstheorie formuliert dies so, dass es kein Recht gibt, das unser Miteinander je schon regelt, sondern dass wir uns einigen müssen, ohne uns über die Richtigkeit der konkreten Einigung sicher sein zu können. Das bedeutet dann aber keinesfalls, dass mein Verhalten in irgendeiner Weise beliebig wäre, denn Gesellschaft, das Reich der Alltäglichkeit, ist bereits durch vorhergehende Vollzüge bestimmt. Es bedeutet nur - und das folgt zweitens, dass situative, individuelle Abweichung (von einmaliger Devianz bis zur vollkommenen Anomie) von dieser Regelung jederzeit möglich, wenngleich nicht der Regelfall ist bzw. dass jede Aktualisierung eines Bestehenden aufgrund der darin vollzogenen Individuierung in gewissem Sinne als Abweichung von einem Allgemeinen verstanden werden kann. In diesem zweiten Sinn ist die individuierte alltägliche Praxis das Moment, das die bestehenden Praxisformen in ihrer Allgemeinheit negiert und so die Sphären der Gemeinschaft prägt. Sowohl unser nächstes uns bekanntes Umfeld als auch unsere Werte sind von unserer Praxis kaum zu lösen. Zugleich ist aber diese formende Kraft der Praxis wiederum von den bereits entstandenen Formen der Gemeinschaft sowie den bestehenden Institutionen her bestimmt. Die faktische Entscheidung aktualisiert die Praxisform, indem sie sie durch Individuation in ihrer Allgemeinheit negiert.399 Weiterhin ist eine konkrete Entscheidung wahrscheinlich eine Aktualisierung des Gegebenen, sie muss es aber nicht sein. Ungeformt ist die Gesellschaft hinsichtlich der Devianz, die jedes Gegebene durch seine Individuierung sowie in merklichem (und meist irritierendem und sanktioniertem) Abweichen vom Gegebenen erfahrt. Das Aufmerken auf diese Differenz ist der Punkt, an dem ich mich als gesellschaftlich tätiges und also auch als gesellschaftskritisches Wesen begreifen kann. In diesem Sinne ist Plessners Gedanke der situativen Ungeformtheit der Alltäglichkeit (,Okkasionalismus') gerade aufgrund der hier genannten Einschränkungen als essentielles Integral einer kritischen Theorie des Sozialen zu begreifen. Es ist ein aufklärerisches, anti-ideologisches Projekt, es ist Aufgabe einer kritischen Philosophie, auf 397
398
399
Das Ineinander von Bestimmtheit und Unbestimmtheit hebt auch Krüger hervor, der sich gegen eine „Fixierung" der philosophischen Anthropologie „aufs Unbestimmte" ausspricht, „denn eine derartige Fixierung wäre reine Negativität" (Krüger 1999, S. 256). In diesem Sinne spricht Eßbach bei Plessner von einer prinzipiellen „Unklarheit" am „Grund menschlicher Gesellschaft" (vgl. Eßbach 1994, S. 34). Analog versteht es Krüger, der in der Plessnerschen These der prinzipiellen Unbestimmtheit menschlichen Miteinanders die „Vertragsmetapher" des Kontraktualismus in einem neuen Licht sieht (vgl. Krüger 2001a, S. 937, vgl. dazu Kap. 7.3 in dieser Arbeit). Auch Makropoulos sieht Plessner als einen der „Kontingenzmanager" in der Zeit der Weimarer Republik (vgl. Makropoulos 1994, S. 210f.). Vgl. auch Fn. 36 in dieser Arbeit. Dieses Motiv der für die Beständigkeit notwendigen Veränderung begegnet in den Stufen des Organischen wieder (vgl. SOM, insbes. Kap. 4). Dort weist Plessner darauf hin, dass im Werden das Übereinstimmende von „Ausgangsetwas und Endetwas" die „Formidee" sei (SOM 197), die also das Gewordene mit seinem ihm als Möglichkeit inhärierendem Noch-Nicht jetzt schon vermittelt.
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die Unbestimmtheitsgrade aufmerksam zu machen - also den ideologischen Zusammenhang von Praxis und Handlung zu lösen. Es ist aber auch Aufgabe einer sozialkritischen Philosophie, von den Bestimmtheiten des öffentlichen Raums zu sprechen und auf die Schwäche einer einmaligen Abweichung hinzuweisen - ein einzelnes Individuum wird für sich alleine keine Regel des Spiels ändern, sondern ungehört bleiben oder für den Verstoß gegen die Regeln sanktioniert werden. Änderungen der gesellschaftlichen Praxis sowie ihrer Fixierung durch Familiarität, Objektivität, Ideologie und Macht sind langsame und schwergängige Prozesse. Die Idee der Unbestimmtheit ist es auch, die Plessner gegen die Gemeinschaftsgesinnungen argumentieren lässt. Ich erinnere hier nochmals daran, dass es ihm nicht gegen Gemeinschaft überhaupt, sondern gegen Gemeinschaft als totalitäres Prinzip geht400, denn gemeinschaftliche Identität und differenzkonstituierte Gesellschaft lassen sich nur miteinander denken. Gegen die mögliche Bestimmung des Sozialen durch vollständige Bekanntheit aller Mitglieder oder durch universal geltende Werte wirkt nicht nur die Anzahl der Mitglieder, sondern auch die Individualität der praktischen Situation. Obwohl die meisten Situationen in vielerlei Hinsicht bestimmt sind, können doch Kontingenzen niemals ausgeschlossen werden. Soundsoviele Situationen sind nicht vorhersehbar, nicht berechenbar oder schlicht nicht Gegenstand überzeugungsmäßiger Einschätzung. Dennoch schließt Plessner die beiden Gemeinschaftsformen der Familiarität und der Objektivität nicht prinzipiell aus, sondern überlegt, wie sie sich in der alltäglichen Praxis vollziehen. Die soziale Wirklichkeit legt Plessner als Ineinander von Gemeinschaft und Gesellschaft so an, dass Familiarität (Blutsgemeinschaft) und Objektivität (Sachgemeinschaft) unsere alltägliche Praxis (Gesellschaft) bestimmen, während beide nicht anders als wiederum durch diesen Vollzug entstehen, bestehen und sich verändern. Die Gemeinschaftssphären bestimmen sich dabei in diesem Vollzug gegenseitig und den sie aktualisierenden Vollzug in der Praxis. Situationen sind für sich genommen prinzipiell zunächst unbestimmt, konkret aber sind sie als Aktualisierung bestehender familialer und objektiver Gemeinschaftsformen sowie von politischen, ökonomischen, rechtlichen Institutionen und von Ideologie- und Machtverhältnissen zu begreifen, die die konkrete Struktur eines sozialen Geftiges bilden. Vom individuierenden, aktualisierenden Vollzug des Gewordenen in der Praxis her wird auch das Gewordene selbst weiter bestimmt, ist also ein Werdendes. Gemeinschaft ist nur, insofern sie beständig in ihrem Vollzogen-Werden, also im Sich-Verändern wird. Alltägliche Praxis muss daher formuliert sein als real-idealer Ort der Vermittlung und Vermitteltheit des Faktischen mit dem Außerrational-Familialen und dem Objektiv-Idealen. Sie ist das Geformte und aktualiter Formende nach Maßgaben der Situation, die wiederum gebrochen ist nach ihren wirklichen und idealen Momenten hin. Die Situation ist eingebettet in das Vergangene und das Zukünftige und darf daher nicht als bloße Augenblicklichkeit verstanden bzw. nicht entkontextualisiert werden. Diese Ineinanderverschänktheit, dieses Sich-gegenseitig-Bestimmen von Familiarität, Objektivität und alltäglicher Praxis, von Gewordenem, Zukünftigem und Werden ist als dialektisches Verhältnis zu begreifen. 400
Vgl. Sandkaulen 1994, S. 268.
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KRITISCHE SOZIALPHILOSOPHIE - H E L M U T H PLESSNER
6.3 Gemeinschaft und Gesellschaft bei Plessner, Tönnies und Hegel Im Folgenden will ich vergleichend auf die Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft bei Plessner und bei Tönnies eingehen. Dieser Vergleich ist knapp gehalten, um Redundanzen zu vermeiden, er dient eher der Lesefuhrung als der Argumentation, auf die ich hier nur rück- und vorverweise. Problematisch für den Vergleich sind in erster Linie die Verschiebungen von Tönnies' Begriffspaar Gemeinschaft - Gesellschaft hin zur begrifflichen Trias Blutsgemeinschaft - Sachgemeinschaft - Gesellschaft bei Plessner. Die Vergleichbarkeit stellt sich dann wieder her, wenn Tönnies' Begriff des Staates (Gemeinwesen, politische Gemeinschaft) einbezogen wird. Genau genommen stellt auch Plessner neben seine drei Begriffe noch einen Begriff des Staates, der allerdings als Instanz künstlicher Übereinkunft eng mit der Sphäre der Gesellschaft verbunden ist; daher ist es sachlich gerechtfertigt, von zwei der Zahl nach symmetrischen Begriffsreihen bei Plessner und Tönnies und so auch bei Hegel (vgl. Kap. 3) zu sprechen. Zunächst ist zum Status der Begriffe bei Tönnies und Plessner zu bemerken, dass zwischen Idealbegriff und realer Sozialform unterschieden wird. Tönnies trennt zwischen reiner und angewandter Theorie, so dass die Normalbegriffe Gemeinschaft und Gesellschaft zwar theoretisch rein analysiert werden können, dass sie aber angewandt etwa in der geschichtsphilosophischen Theoriebildung oder in der angewandten Sozialforschung nur ineinander verschränkt begegnen. Ihre deskriptive Kraft entfalten sie überhaupt nur, sofern sie ineinander verschränkt sind. Plessners Motivation, sich mit den Begriffen Gemeinschaft und Gesellschaft auseinander zu setzen, ist weniger wissenschaftstheoretischer als aufklärerischer Natur, er richtet sich gegen die totalitären Tendenzen seiner Zeit. In diesem Sinne unterscheidet er zwischen Begriff und Wirklichkeit, indem er die Grenzen der Gzmeinschd&sgesinnungen aufweist. Die Idee einer vollkommenen Durchbildbarkeit von sozialen Entitäten durch Bekanntheit aller Mitglieder untereinander oder durch gemeinsame Werte einander nicht notwendig bekannter Personen hypostasiert gewissermaßen Tönnies' Normalbegriff der Gemeinschaft zu einem Strebensziel. Tönnies hätte ein solches Anliegen als den Versuch verstehen müssen, die Realität der Laborsituation anzugleichen. Plessner sah sich zu seiner Zeit mit dem kulturpessimistischen Phänomen dieses Versuchs konfrontiert, dem er den Grenzaufweis in ideologiekritischer Absicht entgegensetzte. Sowohl Tönnies als auch Plessner wenden sich gegen die Vereinseitigung menschlicher Praxis durch Totalitätsvorstellungen. Vorderhand unterscheiden sich dabei die Begriffe sowie die normative Stoßrichtung der beiden Ansätze. Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Ausführungen zeigen sich aber auch einige Parallelen, die am augenfälligsten bei den Begriffen Gemeinschaft und Blutsgemeinschaft (Familiarität) sind (a). Schwieriger verhält es sich mit Plessners Begriff der Sachgemeinschaft, der deutlich nicht mit Tönnies' Gemeinschaftsbegriff zusammenfällt, sondern eine Reihe von Ähnlichkeiten zu Tönnies' Gesellschaftsbegriff erkennen lässt (b). Für Unklarheit sorgt nun, dass auch Plessners und Tönnies' Begriff der Gesellschaft eindeutige Parallelen haben, obwohl sie einmal eher positiv und einmal eher negativ dargestellt werden (c).
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a) Gemeinschaft -
SOZIALPHILOSOPHIE ODER SOZIALETHIK?
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Blutsgemeinschaft/Familiarität
Die Übereinstimmung dieser beiden Begriffe ist so deutlich, dass sie nicht lange ausgeführt werden muss: Es geht beide Male um einen Begriff für die uns allernächste Umwelt, durch die wir unmittelbar und unwillkürlich geprägt werden. Die Reinform der Gemeinschaft ist bei Tönnies die Familie; Plessner verwendet für die Blutsgemeinschaft auch den weniger aufgeladenen und sozialphilosophisch produktiveren Begriff der Familiarität. Diese Gemeinschaft ist Selbstzweck in ihrem Bestehen, und wir nehmen sie unhinterfragt als gegeben an. Gemeinschaften dieser Art müssen sich entwickeln, sie beruhen nicht auf einer expliziten Übereinkunft. Gemeinschaft gibt es bei Tönnies nicht wirklich, da sie nicht als solche gewusst wird. Wirklich kann sie nur als individuierte politische Gemeinschaft sein, also nur im bewussten Zusammenhang mit der individuellen Lebenswirklichkeit stehend, die Plessner als Grenze der (Bluts-)Gemeinschaft ausgewiesen hatte.
b) Gesellschaft -
Sachgemeinschaft/Objektivität
Ganz anders verhält es sich bei Tönnies' Gesellschaft, die auf einem individuell verfolgten Zweck beruht, der nur dann konfliktfrei erfüllt werden kann, wenn es eine künstliche Übereinkunft zwischen einander fremden und gleichgültigen Individuen gibt. Deren Grundlage ist bei Tönnies der abstrakte Begriff, der Dinge zu Tauschwerten und Menschen zu geschäftstüchtigen Personen werden lässt. Die Abstraktion vom konkreten Individuum zur gleichen Person gilt bei Plessner nun für die Sachgemeinschaft, die indifferent gegen die einzelne Situation und das Individuum in ihr das Verhalten zu fixieren versuche. So stehen sich bei Tönnies begrifflich organische und mechanische Verbundenheit mit den Begriffen Gemeinschaft und Gesellschaft gegenüber wie bei Plessner mit den Gemeinschaftsidealen der Blutsgemeinschaft und der Sachgemeinschaft. Plessners Kritik an der abstrakten Allgemeinheit des Sittengesetzes (vgl. GG 110) ähnelt dabei durchaus Hegels Kritik an dem Naturrechtsideal von Freiheit und Gleichheit, aufgrund ihrer Abstraktion vom Individuellen. Auch Tönnies sieht, dass die gegenüber der Realität leeren Begriffe Freiheit und Gleichheit gerade erst die Vergleichgültigung der bürgerlichen Tauschgesellschaft ermöglichen, die er kritisiert. Er sieht aber auch das emanzipatorische Potential der Begriffe gegen die vorherrschenden sozialen Verhältnisse. Gegen genau diese oder jene Verhältnisse können sich Personen innerhalb eines (staatlichen) Gemeinwesens auf Freiheit und Gleichheit berufen, um ihre Beteiligung an der Allgemeinheit des Gemeinwesens einzufordern. Diese Möglichkeit liegt auch dem Hegeischen Begriff des sittlichen Staates zugrunde. Wie im ersten Teil dieses Kapitels gezeigt (vgl. 6.1b), ist auch bei Plessner eine solche Dimension echter Allgemeinheit im Begriff der Sachgemeinschaft als Strebensziel angelegt. Die Idee einer politischen Gemeinschaft, bei Tönnies und Hegel im Begriff des sittlichen Staates (Gemeinwesen) gefasst, müsste sich bei Plessner also im Begriff der Sachgemeinschaft verorten lassen. Wenn Plessner meint, dass die „gemeinsame Wert- und Sachbindung [...] keine echte Vergemeinschaftung" sei (GG 95), dann kann mit Tönnies und Hegel bestätigt und zugleich entgegnet werden, dass die einzige echte Gemeinschaft die ist, die selbstbewusste
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KRITISCHE SOZIALPHILOSOPHIE - HELMUTH PLESSNER
Individuen als solche in eine gemeinsam gewollte Wertbindung zu bringen vermag (vgl. Kap. 3.3 in dieser Arbeit). c) Gesellschaft -
Gesellschaft
Tatsächlich weisen Tönnies' und Plessners Gesellschaftsbegriffe sehr viel mehr Ähnlichkeiten miteinander auf als Tönnies' Gesellschafts- und Plessners Sachgemeinschaftsbegriff. Der Begriff der Gesellschaft wird bei Tönnies als Öffentlichkeit gegen die Privatheit der Gemeinschaft (vgl. GuG 3), bei Plessner als relativ kontingente Alltäglichkeit gegen das Sicherheitsideal der Gemeinschaft (vgl. GG 80) gesetzt. Ein Unterschied besteht darin, dass Tönnies' Begriff als Normalbegriff entworfen ist, während Plessners Gesellschaftsbegriff eher der (Tönniesschen) angewandten Theorie zugehört: Gesellschaft als das alltägliche Miteinander setzt dem Gemeinschaftsstreben Grenzen. Nichts anderes würde Tönnies sagen, aber zunächst einen reinen Begriff der Gesellschaft entwerfen. Weil bei Plessner bereits der ,angewandte' Begriff entfaltet wird, konnte hier in ihn Gemeinschaft als das unhinterfragt Gewohnte und Objektivität als Orientierung an geltenden Werten eingetragen werden (vgl. 6.2). Dennoch lassen sich weitere Parallelen zwischen Tönnies' und Plessners Begriff der Gesellschaft aufzeigen, so etwa die Kampfmetaphorik, mit der er anschaulich gemacht wird. Die vielen, einander unbekannten, wie bei Tönnies, so auch bei Plessner „von Person zu Person unverbundenen Menschen" (GG 95) stehen sich aufgrund unvereinbar divergierender Interessen auf dem „Kampfplatz der Öffentlichkeit" (GG 82) gegenüber. Plessner spricht vom „Kampf aller gegen alle" (GG 81), wie Tönnies in der Tradition Hobbes' vom Krieg aller gegen alle (vgl. GuG 54,242f.) und im Übrigen auch Hegel vom „Kampfplatz des individuellen Privatinteresses aller gegen alle".401 Die Unvereinbarkeit privater Interessen fordert zur künstlichen Einigung im Vertrag auf: „Die Situation verlangt ihren Meister, das fließende Leben mit seinen unendlichen Konfliktsmöglichkeiten eine gültige Ordnung" (GG 96), die „Willkür des sich hervorwagenden Einzelmenschen" (GG 86) muss in der Gesellschaft Formen unterworfen werden. Während Hobbes, Hegel und Tönnies auf dieses Problem mit Modellen gemeinwohlorientierter politischer Gemeinschaft reagieren, treten bei Plessner in stärkerem Maße Stabilitätsüberlegungen in den Vordergrund, weil er sachgemeinschaftliche Orientierungen prinzipiell als lebensfern ablehnt. Insofern scheint Plessner die atomistischen Voraussetzungen der konfliktbedrohten Vertragsbindung sogar in stärkerem Maße zur Grundlage seiner Sozialphilosophie zu machen, als es Hobbes tut, dem es gemeinhin vorgeworfen wird. Erst von Plessners späterer Schrift Die Stufen des Organischen her wird die Möglichkeit eines Gemeinwohlbezugs kenntlich (vgl. hier Kap. 7.2). Ebenfalls analog zu Hobbes, Tönnies und Hegel spricht Plessner von Personen, die einander in der bürgerlichen Gesellschaft begegnen. Das individuelle Selbst wird bei Tönnies durch die natürliche Person vertreten (vgl. GuG 175), die einzelnen Menschen übernehmen eine „,Rolle' [...] oder den ,Charakter' einer Person", die sie „wie eine Maske 401
H e g e l , Grundlinien,
S. 4 5 8 (§ 2 8 9 Anmerkung).
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SOZIALPHILOSOPHIE ODER SOZIALETHIK?
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vor ihr Antlitz halten" (GuG 176). Anders als Hobbes und Tönnies macht Plessner die Differenz von natürlicher und künstlicher Person nicht fruchtbar, obwohl er in den beiden letzten Kapiteln der Grenzen der Gemeinschaft einen Souveränitätsbegriff einfuhrt (vgl. hier Kap. 7.2), der auf dieser Unterscheidung geradezu beruht. Natürliche Personen gibt es bei Tönnies wie auch bei Plessner nur „in der möglichen Anerkennung durch andere" (GG 83, vgl. GuG 177). So sind sie etwas, stellen etwas dar; in der Gesellschaft werde der „Mensch verallgemeinert und objektiviert" (GG 82), so Plessner, der bezüglich Maske und Rolle von „sozialen Abstraktionen" spricht, die „konstante Relation zueinander" gewähren (GG 83). Das gesellschaftliche Funktionengefuge ordne sich die Individualität „ein und unter, ein Allgemeines verbindet eine unbestimmte Fülle von Personen, die in gewissen Bedeutungsverhältnissen entweder zueinander oder zu dritten stehen, zu einheitlichem Verhalten von objektiv geregeltem Gepräge" (vgl. GG 85f.). Bezogen auf die Sachgemeinschaft hatte Plessner die Abstraktion vom Individuellen kritisiert, hier wird die Abstraktion nun als Möglichkeit konfliktgeminderten Begegnens affirmiert. Plessners und Tönnies' Gesellschaftsbegriff unterscheiden sich hier sachlich nicht, insofern das Verhalten in der bürgerlichen Gesellschaft bei beiden unter ein bloßes, verstandesmäßiges Allgemeines gestellt wird.402 Lediglich Plessners sozialethischer Einsatz für die Anerkennung notwendiger gesellschaftlicher Formen, deren Tatsächlichkeit Tönnies schlicht annimmt, muss als Differenz verstanden werden. Die begriffslogische Vermittlung von Gemeinschaft und Gesellschaft bei Tönnies und Hegel will ich hier nicht noch einmal nachvollziehen, möchte aber als Abschluss des Vergleichs der beiden Gesellschaftsbegriffe von Plessner und Tönnies kurz darauf verweisen. Die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft entspricht bei Tönnies und Hegel der so genannten einfachen oder ersten Negation, der Reflexion des unmittelbar Gegebenen (vgl. GuG 128). Auch das Mögliche ist im Modus des Negativen gegeben. So heißt es analog bei Plessner, dass Gesellschaft/Öffentlichkeit die Negation der abstrakten Allgemeinheit sei (vgl. GG 55). Bereits bestehende Praxisformen können nur weiter bestehen, indem sie im individuellen Vollzug besondert und so in ihrer bloßen Allgemeinheit gebrochen (dadurch aber echte Allgemeinheit) sind. Negativität ist bei Plessner ein ebenso zentrales Moment wie bei Hegel und Tönnies, wenngleich er zu wenig betont, dass dieses Moment zu einer eigenen Realität hypostasiert wird, wenn die einzelnen Individuen ihre Bestimmtheit durch das Soziale und ihre Vermitteltheit mit dem Sozialen negieren. Das Verharren in dieser Negativität macht dann die Bildung einer in ihren Individuen reflektierten politischen Gemeinschaft tatsächlich unmöglich, obgleich deren Möglichkeit sich im Begriff sozialer Wirklichkeit notwendig denken lässt. Die Gegenüberstellung der beiden Begriffsreihen Gemeinschaft - Gesellschaft - Gemeinwesen/Staat und Blutsgemeinschaft - Sachgemeinschaft - Gesellschaft/Staat oder auch Familiarität - Objektivität - alltägliche Praxis zeigt schematisch folgende Parallelen:
402
Auch Hegel begreift die bürgerliche Gesellschaft als „eine Verbindung der Glieder als selbständiger Einzelner in einer somit formellen Allgemeinheit" (Hegel, Grundlinien, S. 306 (§ 157)).
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KRITISCHE SOZIALPHILOSOPHIE - HELMUTH PLESSNER
Tönnies
Gemeinschaft
Gesellschaft
Gemeinwesen/Staat/ politische Gemeinschaft
Plessner
Β lutsgemeinschaft/ Familiarität
Gesellschaft (Staat)/ Alltagspraxis
Sachgemeinschaft/ Objektivität
Schema 3: Tönnies'und Plessner s sozialphilosophische
Grundbegriffe
Die beiden Ansätze unterscheiden sich nicht in der Sozialontologie, sondern in der Bewertung ihrer normativen Implikate bzw. in Plessners Versuch, eine Sozialethik aus der angelegten Sozialontologie zu deduzieren. Die Normativität eines Begriffs sozialer Wirklichkeit, durch den sowohl das unwillkürliche Verhältnis wechselseitiger Prägung (Gemeinschaft) als auch das bewusste Handeln voneinander unabhängiger Personen (Gesellschaft) erfasst wird, liegt für Tönnies in dem darin einzig möglichen Begriff echter Gemeinschaft als bewusst vollzogener (politischer) Gemeinschaft. Hingegen ist Plessner in den Grenzen der Gemeinschaft um eine Sozialethik bemüht, die den Begriff"der Gesellschaft besonders stark hervorhebt und die beiden Gemeinschaftsbegriffe scheinbar außer Kraft setzt. Die sozialontologische Lesart hat die unbedingte sozialethische Verteidigung der bürgerlichen Gesellschaft bei Plessner ihrer theoretischen Grundlage entzogen und damit in höchstem Maße fragwürdig gemacht (vgl. 6.2). Die Doppelung des Gemeinschaftsbegriffes begegnet bei beiden Autoren, einmal als Gemeinschaft und politische Gemeinschaft (Gemeinwesen) bei Tönnies und einmal als Bluts- und Sachgemeinschaft bei Plessner. Beide Gemeinschaftsbegriffe haben einen prekären Wirklichkeitsstatus; (Bluts-)Gemeinschafit unter Menschen ist nur wirklich, wenn sie bewusst affirmiert wird, damit entspricht sie aber nicht mehr ihrem eigentlichen Begriff; politische Gemeinschaft (Gemeinwesen) indessen beruht auf der Vorstellung wahrer Allgemeinheit, die noch nicht Wirklichkeit ist (vgl. Kap. 3.3). Sozialontologisch gibt es insofern gute Gründe, die Sphäre der Gesellschaft wie Plessner im Sinne sozialer Realität zu verstehen, auch wenn soziale Wirklichkeit nur dann voll erfasst ist, wenn die unwillkürlichen gemeinschaftlichen Prägungen in ihr ebenso verortet werden wie gemeinsam verfolgte Werte. In Plessners angewandter' Theorie wird durch die Betonung sozialer Realität in stärkerem Maße als bei Tönnies die bewusste individuelle Grundsituation sichtbar, von der aus ich mich mit den Prägungen meiner Vollzüge sowie mit den sozialen Verhältnissen auseinandersetzen kann. Gesellschaft ist bei Hegel, Tönnies und Plessner bürgerliche Gesellschaft als der individuelle Vollzug des Sozialen, das in seine Individuen zerfallen ist, die nicht in ein Gemeinwesen integriert sind. Bei Tönnies und Hegel wird ein Begriff des sittlichen Staates expliziert, dem diese Individuierung als bedingendes Moment inhäriert. Plessner hingegen affirmiert einen nicht-aufgehobenen Begriff der bürgerlichen Gesellschaft, weil er den Versuch der Durchbildung eines Sozialkörpers durch gemeinsam geteilte Werte unter Totalitarismusverdacht stellt. Die gesellschaftliche Situation ist bei Plessner durch
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SOZIALPHILOSOPHIE ODER SOZIALETHIK?
ihr (notfalls dezisionistisches) Geregelt-werden-Müssen, durch die Moralität der Bürger gekennzeichnet, so dass er keinen Begriff des ,wahren' Staates, sondern nur einen des realen bürgerlichen Staates kennt. Dieser ist als Übereinkunft zu verstehen, die das Miteinander verschieden geprägter Individuen ermöglicht: „die gesellschaftliche Lebensordnung könnte man als Kompromiß, Notdach, Übergangsstadium betrachten. Durch seine von innen, seelenhaft bestimmte Eigenart ist dem Menschen diese Perspektive verwehrt" (GG 103). Diese Affirmation der bürgerlichen Gesellschaft wird bei Plessner durch die teleologische Überlegung gebrochen, der Mensch müsse von der Sphäre der Lebensgemeinschaft in die der Gesellschaft übergehen, um schließlich in der Sphäre der Sachgemeinschaft des Geistes und der Kultur die definitive Ruhe [...] zu finden. Freilich die meisten finden sie nicht und sehen sich einer dauernden Oszillation zwischen diesen drei Sphären überantwortet (GG 92).
Prinzipiell nimmt Plessner damit an, dass wir uns als einander unverbundene Individuen begegnen, die ihr Verhalten durch soziale Abstraktionen regeln müssen. Er räumt die Möglichkeit eines teleologischen Aufstiegs ein, verwehrt aber wiederum den ,meisten' die in der Sachgemeinschaft zu findende ,Ruhe'. Demgegenüber kann man mit Tönnies und Hegel auf einen vollen Begriff sozialer Wirklichkeit verweisen, der die menschliche Grundsituation nicht nur gesellschaftlich, sondern im Verhältnis von Gewohnheiten, Werten und gesellschaftlicher Situation beschreibt. Ein solches Verständnis sozialer Wirklichkeit konnte im letzten Unterkapitel auch bei Plessner (gegen ihn) herausgearbeitet werden (Kap. 6.2). Die begrifflichen Übereinstimmungen zwischen Tönnies und Plessner lassen sich in einem durch die Hegeische Sozialphilosophie erweiterten Schema wie folgt darstellen:
Gemeinschaft
Gesellschaft
Gemeinschaft/Gesellschaft (politische Gemeinschaft)
Hegel
Familie/ konkrete Sittlichkeit
Bürgerliche Gesellschaft/ Moralität
Idee des Staates/ wahre Sittlichkeit
Tönnies
Gemeinschaft
Gesellschaft
Politische Gemeinschaft/ Gemeinwesen/Staat
Plessner
Blutsgemeinschaft/ Familiarität
Bürgerliche Gesellschaft/ Alltägliche Praxis
Sachgemeinschaft/ Objektivität
Schema 4: Grundbegriffe der Sozialphilosophie
¡ j
nach Hegel, Tönnies und Plessner
Wie bereits im dritten Kapitel der vorliegenden Arbeit ausgeführt, ist dieses Schema keinesfalls von links nach rechts als Fortschritt in der Zeit zu lesen, sondern als simultane und gleichursprüngliche Entfaltung der begrifflichen Momente sozialer Wirklichkeit. Als
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KRITISCHE SOZIALPHILOSOPHIE - H E L M U T H PLESSNER
Gegenwart ist bei allen drei Autoren die mittlere Spalte der bürgerlichen Gesellschaft ausgewiesen, die aber bei keinem der drei unabhängig von den jeweils anderen zwei Feldern zu begreifen ist. Wenn Gesellschaft - wie im philosophischen Diskurs der Moderne'' (Habermas) üblich - als zu überbrückende Notsituation begriffen wird, so bedeutet das mit Blick auf einen vollen Begriff sozialer Wirklichkeit nicht einfach, dass irgendwann alle Unterschiede in einem totalen Staat,versöhnt' (i.e. vernichtet) werden sollen. Es heißt vielmehr, dass die gegenwärtigen Konflikte der bürgerlichen Gesellschaft, auf die die Sozialphilosophie reagiert, nicht nur irgendwie geregelt werden müssen, sondern dass sie auf Grundlage des normativen Implikates wahrer Allgemeinheit geregelt werden sollen und können. So kann und sollte das Ziel politischen Handelns nicht nur sein, das Gegeneinander individueller Interessen durch Mehrheitsentscheidungen oder Dezisionen zu beenden, sondern die Möglichkeiten bewussten Miteinanders bereit zu stellen. Die Affirmation dieses Strebensideals ist kein Plädoyer fur die Einebnung aller Unterschiede, sondern für die Bildung eines allseitig anerkannten Gemeinwesens, das gerade auf diesen Unterschieden konkreter Individualität beruht. Ein Ende der Geschichte lässt sich damit freilich niemals erreichen, weil es keine letztgültige Sicherheit gegen Krisen und Kontingenzen verschiedenster Art gibt. Da diese aber eben nicht vorhersehbar sind, lässt sich auf ihrer Grundlage auch kein Gemeinwesen bilden. *
*
*
Die Betonung der Gesellschaft als Sphäre alltäglicher Praxis durch Plessner richtet das Augenmerk auf die Situation, in der wir uns täglich bewusst befinden. Der sozialontologische Zusammenhang mit den anderen beiden Sphären macht die starke Bestimmtheit dieser Situation deutlich. Zugleich ist es eben diese Situation, von der her unmerklich sich ereignende, ebenso wie bewusst herbeigeführte Änderung sozialer Wirklichkeit begriffen und begonnen werden kann. Indem Plessner auf diese Sphäre insbesondere abhebt, lässt sich seine philosophische Anthropologie als Strukturanalyse dieser Grundsituation in ihrer Bestimmtheit und auch in ihren Unbestimmtheitsgraden verstehen und für eine kritische Sozialphilosophie öffnen. Die Analyse der Situation menschlichen Daseins in den Stufen des Organischen zeigt die Möglichkeit auf, Kritik zu denken. Erst in dieser Schrift kommt laut Plessner auch das sozialontologische „Beziehungsproblem von Gemeinschaft und Gesellschaft" (GG 11) zu seiner wirklichen Klärung: Mit der Herausarbeitung des Problemkreises der philosophischen Anthropologie wird sicher der Sinn für den rein theoretischen Charakter dieser Kritik des sozialen Radikalismus geschärft werden, welche die ,Öffentlichkeit' als Realisierungsmodus des Menschen nachweisen will (SOM 423, Fn. 66).
PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND KRITISCHE SOZIALPHILOSOPHIE
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7. Philosophische Anthropologie und kritische Sozialphilosophie Es handelt sich um das Menschsein als solches und um das Recht zugleich seiner theoretischen Abgrenzung und praktischen Verbindlichkeit, um die Frage, was es bedeutet und wie es möglich ist: ein Mensch zu sein.402
Inwiefern lässt sich Plessners Sozialphilosophie als kritische Philosophie verstehen? Kritik als Grenzziehung weist Plessner als notwendig gegenüber den .gemeinschaftlichen' Aspekten der Familiarität und der Objektivität aus404, an deren Grenzen sich die Gesellschaft als das Reich alltäglicher Praxis realisiert. Gesellschaft als Öffentlichkeit erwies sich dabei von diesen Grenzen her sowie von Institutionen, Ökonomie und Ideologie bestimmt. An dieser Stelle wird einzutragen sein, wie es bei aller Bestimmtheit vorstellbar ist, dass das personale Individuum nicht vollkommen von einer Situation geprägt ist und wie es sich zu einer Situation verhalten kann, ohne sich wieder im Rahmen des von der Situation Vorgegebenen zu bewegen. Wie also die bei Plessner stets präsenten Motive des Spiels und der Unbestimmtheit für eine Sozialphilosophie eingeholt werden können, die es mit der Realität zu tun haben will. Die Antwort muss in die Richtung gehen, dass das Individuum als realisierte Möglichkeit die in sich vorgefundenen, nicht realisierten Möglichkeiten seines Daseins als möglicherweise zu realisierende Alternativen zu einem Anders-Sein begreifen kann. Wie die Situation so kommen auch die Alternativen wiederum soziohistorisch und individualgeschichtlich an das Individuum. Im Folgenden werde ich zunächst auf Überlegungen zu einer kritischen Philosophie bei Plessner eingehen (7.1), um dann die phänomenologisch aufgewiesenen Grundzüge der Situation (Position) selbstbewusster Individuen in Plessners philosophischer Anthropologie nachzuzeichnen (7.2). Plessners phänomenologischen Aufweis der kritischen Position selbstbewussten (Da-)Seins verstehe ich im Rahmen der vorliegenden Arbeit als erläuternde Ergänzung zum begriffslogischen Zusammenhang von Gemeinschaft und Gesellschaft im ersten Teil (Kap. 3). Dort wurde der denknotwendige Zusammenhang von Gemeinschaft und Gesellschaft für einen Begriff sozialer Wirklichkeit selbstbewusster Individuen entwickelt. Plessners philosophische Anthropologie kann die in der Begriffslogik implizierten Momente aufzeigen, die das Wesen dieser selbstbewussten Individuen betreffen. In einem letzten Abschnitt werden die Konsequenzen aus diesen Überlegungen zu Plessners kritischer Sozialphilosophie für eine politische Philosophie dargelegt (7.3).
403 404
Plessner, Aufgabe der Philosophischen Anthropologie, S. 43. Aus diesem Grund weist Fischer explizit auf die kritische Methodik der Grenzen der Gemeinschaft hin (vgl. Fischer 2002a, S. 86 u. lOlf.).
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KRITISCHE SOZIALPHILOSOPHIE - H E L M U T H PLESSNER
7.1 Aspekte kritischer Philosophie bei Plessner Wie kann Kritik gedacht werden, wenn man mit Plessner aus den Grenzen der Gemeinschaft das Dass der Bestimmtheit der Gesellschaft als realisierende Öffentlichkeit menschlichen Miteinanders durch die Sphären der Gemeinschaft annimmt und dies sowohl für überindividuelle Institutionen als auch fur das gesellschaftliche Individuum und dort einerseits habituell, andererseits gesinnungsmäßig, d.h. ideologisch geltend macht? Sofern eine kritische Haltung in irgend einer Weise abständig zum bestehenden Kritisierten ist, kann als Bedingung von Kritik die Möglichkeit von Distanznahme verstanden werden. Ein Umweg über Plessners Auffassung der (dort wissenschaftstheoretischen) Aufgabe von Philosophie überhaupt in Die Verspätete Nation405 von 1935 kann seinen Ansatz als kritische Philosophie im Anschluss an Kant ausweisen: Der erste Weg der Philosophie im Sinne und in der Richtung der noch offen gelassenen Möglichkeiten ihrer Tradition fuhrt an den inneren Anfang menschlichen Daseins, in seine Situationsgebundenheit, in den Zwang, sich irgendwelchen Werten und Zusammenhängen auszuliefern, wenn es die Situation meistern will. Er überantwortet den Menschen faktisch geschichtlichen Mächten, gibt ihm aber darin den Halt an dem Bewußtsein seiner eigenen inneren Freiheit oder Existenz, d.h. er hält sein Verantwortungsgefühl wach.406
Gegenüber der üblichen Kritik an Kant differenziert Plessner den aufklärerischen Gedanken der kritischen Philosophie Kants in avancierter Weise als zweiteilig: Der Gedanke impliziere sowohl die „praktische[] Gebrauchsbestimmung [...] einer theoretischen Funktion des menschlichen Geistes" als auch die „Undurchsichtigkeit des Bewußtseins für sich selbst"407. Beide Elemente beziehen sich vermutlich auf den Abschnitt „Transzendentale Dialektik" in der Kritik der reinen Vernunft bzw. auf den Übergang von der „Antinomienlehre" zur Kritik der praktischen Vernunft (dort ausgewiesen in der Einleitung). Im Anschluss an Kant heißt es nun bei Plessner in anthropologisch-allgemeiner Hinsicht: „Der Mensch bleibt sich selber undurchsichtig und der Möglichkeit nach ein ideologisches Wesen".408 Kritische Philosophie kann daher nicht die Aufgabe haben, jeden Standort aufzugeben, wie es einige Ausprägungen des Historismus avisieren, sondern vielmehr, auf die prinzipielle Standortgebundenheit menschlicher Vollzüge hinzuweisen und zugleich deren Abgehobenheit und Distanz von diesem Standpunkt an ihm selbst zur Aufmerksamkeit zu bringen:
405
406 407 408
Die historische These des ,Deutschen Sonderwegs' in den Nationalsozialismus, die auch Plessner in dieser im Exil verfassten Schrift entwickelt, wird inzwischen vielerorts, und das gut begründet, bestritten. Hervorgehoben wird Plessners Auseinandersetzung mit dem „deutschen Menschentum" hingegen bei Mitscherlich 2007, insbes. Kap. III.3. Plessner, Verspätete Nation, S. 207. Ebd., S. 136. Ebd., S. 139.
PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND KRITISCHE SOZIALPHILOSOPHIE
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Irgendeine Bindung muß sein, denn ohne Voraussetzungen gibt es kein Vorhaben und ohne Vorhaben kein Leben und kein Wissen. Diesen Rückhalt an einer Idee von Konsequenz und Treue dem Leben und dem Wissen dadurch zu geben, daß man es an sein jeweiliges Vorhaben ausdrücklich bindet, ist die Aufgabe der kritischen Philosophie.409
Der kritischen Philosophie kommt also - wie bereits bei Kant - die Aufgabe der Aufklärung über die innere Freiheit von der unhintergehbaren Situationsgebundenheit zu. Gegenüber Positivismus und Historismus mahnt Plessner an, dass der „ursprünglich auf Freiheit verpflichtetet] Sinn der Philosophie" nicht vergessen werden dürfe.410 Wenn ich im Rahmen dieser Arbeit vom kritischen Potential einer Sozialphilosophie spreche, die die Grundbegriffe Gemeinschaft und Gesellschaft an ihre Basis legt, dann meine ich damit also weder eine bestimmte Theorie der Gesellschaft/ der Gemeinschaft/ des Sozialen noch eine bestimmte Kritik an einer bestimmten Realisierung des Sozialen in Raum und Zeit. Es geht auch nicht darum, die Tradition der Kritischen Theorie der Gesellschaft, wie sie von Max Horkheimer und auch Herbert Marcuse ausgehend in den 1920er Jahren entwickelt wurde, zu desavouieren.411 Sondern es soll mit Plessner überlegt werden, wie unter der Annahme grundsätzlicher Bedingtheit und Bestimmtheit menschlicher Existenz eine kritische Position möglich und für das Soziale sogar konstitutiv ist. Dafür ist es einerseits notwendig, den eigenen Standort zu kennen und ihn als eigenen ausgewiesen nicht zu verabsolutieren, andererseits aber auch, die eigene Position nicht total zu relativieren. In den 1930er Jahren konstatiert Plessner, dass die Philosophie „dazu gebracht worden [ist], gegen die Relativierung aller Positionen und so auch der eigenen Position der Vernünftigkeit und Humanität solche Bereiche, die für jede Entscheidung zwar verbindlich, aber der Entscheidung selbst entzogen sind, zu sichern."412 Diese entzogenen Bereiche sind die, von denen her das Verstehen eines Allgemeinen möglich ist, gegen das oder in dem ich handeln kann. Man kann diesen Bereich wie Kant Moralität oder etwas umfassender noch wie Hegel Denken nennen, es geht immer um die spezifische Differenz zwischen animalischem und menschlichem Miteinander, das sich durch die mögliche Bezugnahme auf sich selbst und durch mögliche Spontaneität auszeichnet. Auch wenn die Philosophie auf diese Bereiche verweist und damit auf die Denkmöglichkeit des Universellen, heißt das nicht, dass sie endgültige Direktiven geben könnte. Sie kann aber die Form des Menschlichen in der menschlichen Praxis aufweisen, die das Allgemeinste jeder Besonderung in einer einzelnen Okkasion bildet. Um Missverständnissen vorzubeugen, möchte ich noch anmerken, dass mit Moralität an keiner Stelle ein Regelwerk bestimmter formaler Moralvorstellungen gemeint ist, die zur Anwendung kommen sollen. Mit Moralität ist hier im Kantischen und Hegeischen Sinne die Möglichkeit der selbstbewussten Person angesprochen, Recht zu tun, moralisch
409 410 411 412
Ebd., S. 176. Vgl. ebd., S. 208. Eher in diesem Sinne vgl. Weiland 1995a. Plessner, Verspätete Nation, S. 203. Auf das, „was sich entzieht", als Quelle von Normativität beruft sich auch Gamm (vgl. Gamm 2005, S. 200).
184
KRITISCHE SOZIALPHILOSOPHIE - HELMUTH PLESSNER
zu handeln, aber auch Unrecht zu tun, unmoralisch zu handeln.413 Moralität wird hier wie auch bei Hegel als die Bedingung der Möglichkeit konkreter Moral (Sittlichkeit) angesprochen, wodurch deutlich wird, dass beide nur analytisch, nicht aber realiter zu trennen sind.414 Die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Moralität geht von der Tatsache aus, dass menschliches Miteinander nicht gleich einer Ameisenkolonie von Natur aus geregelt ist, sondern immer der Regelung bedarf - in welchem Sinne hier auch die Unbestimmtheit der Plessnerschen Gesellschaft verstanden wurde (vgl. Kap. 6.2). Moralität heißt also so etwas wie Freigestelltheit der Person, die zwar stets beeinflusst in ihren Handlungen und Gesinnungen, aber nicht prinzipiell festgelegt ist. Es geht hier allein um die Bedingungen der Möglichkeit des regelreflektierten Anders-Entscheiden-Könnens (die nicht identisch sind mit denen des realiter Anders-Handeln-Könnens). Die Frage nach der Moralität ist für eine kritische Sozialphilosophie nicht sekundär, sondern muss auf unterster Ebene der Argumentation zur Klärung kommen, damit sie überhaupt kritische Philosophie sei. Das bedeutet abgrenzend zu einer häufig (auch bei Plessner) vorgebrachten Hegel-Lesart, dass ich mich zwar sittlich verhalten kann, es aber nicht muss und dass eine Schließung der Unsicherheit, wie ich mich richtig entscheide, sowie eine Versöhnung des Individuell-Besonderen mit dem Konkret-Allgemeinen nicht notwendig erfolgen bzw. nicht erfolgen können.415 Das bedeutet, dass mir ein Begriff des Allgemeinen gegeben sein kann und dass ich mich dennoch als einzelnes Individuum unweigerlich davon abhebe. Nichts anderes ist Kants Kategorischer Imperativ - kein anwendbarer Satz, sondern ein Beurteilungsmaßstab, der mein Handeln der Form nach (Allgemeinheit der Maxime) unter dem Gesichtspunkt der Moralität (der postulierten Freiheit, meinen Willen selbst zu bestimmen) beurteilt. Der konkrete Gehalt der Formulierung bleibt dabei von den kulturellen, sozialen und geschichtlichen Umständen bedingt, ist überhaupt nur in solchen denkbar. Sicher, das Richtige zu tun, kann ich daher niemals sein. 413
„Das Moralische ist zunächst nicht schon als das dem Unmoralischen Entgegengesetzte bestimmt, wie das Recht nicht unmittelbar das dem Unrecht Entgegengesetzte, sondern es ist der allgemeine Standpunkt des Moralischen sowohl als des Unmoralischen, der auf der Subjektivität des Willens beruht" (Hegel, Grundlinien, S. 207 (§ 108 Anmerkung)).
414
Gegen das Urteil eines bloßen Formalismus der Ethik wendet Friedrich Kambartel ein: „Was wir die formale Seite des Ethischen nennen könnten, wird in seinen Kennzeichnungen selbst leer (zu tautologischen terminologischen Rochaden), wenn die Sprache, in der wir darüber reden, keinen begrifflichen Sitz in einer praktischen Kultur (der ethischen Einstellung) hat" (Kambartel 1986, S. 97). Die seit Hegel tradierte Gegenüberstellung von konkreter Sittlichkeit und bloßem Moralformalismus gleiche daher einer „semantischen Illusion" (ebd.). Rentsch macht diesbezüglich die je bestehende „Sinnorientierung" stark: „Es ist nicht so, daß innerhalb einer universalen Verzerrungssituation lediglich kontrafaktisch, wie man gesagt hat, ein Vorschein guten Lebens aufschiene. Sondern die realen Verhältnisse [···] haben [...] die gelungenen Verhältnisse in ihrem Rücken, und dies weder als utopische Ideale noch als bloß subjektive Vorstellungen" (Rentsch 1999, S. 211).
415
Die vorliegende Plessnerlesart geht anders als z.B. Krüger und Mitscherlich es tun, von einem Ineinander von Deskriptivität und Normativität bei Hegel aus, wie es etwa Ilting für die Rechtsphilosophie oder Stekeler-Weithofer fur die Logik entwickelt haben (vgl. Ilting 1975, Stekeler-Weithofer 1992).
PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND KRITISCHE SOZIALPHILOSOPHIE
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Die Explikation der moralischen Dimension des Daseins klärt die Bedingungen der Möglichkeit von Aufklärung und emanzipatorischem Handeln überhaupt. Der Zusammenhang von Überlegungen zur Moralität und philosophischer Anthropologie ist insofern der, etwas über die Bedingungen der Möglichkeit unbedingter und universaler Ansprüche zu sagen.416 Neil Roughley schlägt in diesem Zusammenhang vor, philosophische Anthropologie als die Bemühung um die Klärung von Begriffen und um die Begründung von Behauptungen zu verstehen, die für das menschliche Selbstverständnis von Bedeutung sind'.417 Rentsch entwickelt darüber hinaus die These, dass „die richtige philosophische Anthropologie gar nicht vor- und außerethisch entwickelt werden kann".418 Insofern die Grundsituation praktisch ist, unser Handeln aber nicht grundsätzlich, sondern faktisch bestimmt ist, impliziert die menschliche Situation die Frage nach dem richtigen Handeln. Diese Frage steht dabei vor dem Hintergrund möglicher Universalisierung: Die Explikation ihrer Grundzüge [der menschlichen Welt, NSch] vermag als Rationalitätskriterium zu fungieren, wenn durch sie gemeinsame Züge aller menschlichen Lebens- und Handlungssituationen zu Tage treten, die die Rede von einem anthropologischen Universalismus rechtfertigen, zunächst für die faktische, dann auch fur die praktische Grundsituation. 419
Die philosophische Anthropologie ist damit weder eine eigene Disziplin noch bearbeitet sie ein bestimmtes Sachgebiet, noch trifft sie besonders starke methodische Entscheidungen, so Roughley.420 Den Zusammenhang zwischen Anthropologie und Moralbegründung sieht er in der ,ßxtension der Alladressiertheit moralischer Normen"421, also darin,
416
417
418 419 420 421
Fahrenbach untersucht in einem klärenden Artikel das Verhältnis von philosophischer Anthropologie und Ethik bei Plessner. Er konstatiert, dass Plessner trotz einiger Andeutungen vor allem in den Stufen des Organischen „nicht zu einer Thematisierung der Zusammenhänge zwischen philosophischer Anthropologie, normativer Dimension und Ethik oder gar zu einer systematischen Untersuchung" durchgedrungen sei (Fahrenbach 2004, S. 628). Auch werde durch Plessner der „emanzipatorischef] Sinn des Normativen nur in einer liberalistischen Verkürzung zum Ausdruck" gebracht (ebd.). Fahrenbach spricht daher von einem „Desiderat" (ebd., S. 617). Breun hingegen meint, dass Plessners philosophische Anthropologie im Kern „auch eine Moralphilosophie" sei (Breun 2006, S. 542). Thyen spricht Plessners philosophische Anthropologie sogar als „Kritik des Menschen in praktischer Absicht" an (Thyen 2007, S. 93). Roughley 2000, S. 20. Zum Zusammenhang von Moralphilosophie und philosophischer Anthropologie vgl. in dem von Martin Endreß und Roughley herausgegebenen interdisziplinären Band zu Anthropologie und Moral vor allem den dritten Teil (vgl. Endreß/Roughley 2000, darin insbes. Pfannkuche). Umfassender zum Thema sind der Band von Rentsch Konstitution der Moralität. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie (Rentsch 1999), der von Thyen Moral und Anthropologie, der Überlegungen zur Lebensform Moral im Anschluss an Plessner, Wittgenstein und Hector-Neri Castañeda als „Plädoyer für eine universelle Moral" entfaltet (Thyen 2007, S. 338), sowie der von Jean-Pierre Wils edierte Band Anthropologie und Ethik (Wils 1997). Rentsch 1999, S. 45. Ebd., S. 71. Vgl. Roughley 2000, S. 21. Ebd., S. 42.
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KRITISCHE SOZIALPHILOSOPHIE - H E L M U T H PLESSNER
dass in moralischen Normen Sachverhalte so geäußert werden, dass sie universell grundsätzlich fur alle Menschen gelten. Nach diesen Vorüberlegungen kehre ich zum eigentlichen Gegenstand dieses Unterkapitels zurück; das Zugleich der Thesen vom ideologischen Wesen (Plessner) und von der Freiheit des Menschen, das Rentsch als ,,zweifache[n] Ursprung der primären Welt, nämlich einerseits der Rahmen der faktischen Grundsituation mit ihren Zügen, andererseits das Potential der in dieser Situation möglichen Spontaneität des Lebens und des Sprachgebrauchs", anspricht, der in der „Rede von der endlichen Freiheit des Menschen" aufscheine.422 Wie ist Kritik unter Maßgabe der Bestimmung durch die soziale Wirklichkeit möglich? In den Stufen des Organischen und der Mensch rollt Plessner das „Problem der Existenzweise des Menschen und seiner Stellung im Ganzen der Natur" (SOM 63) auf. Um die kritische Position des Menschlichen bei Plessner zu verstehen, scheint es mir angeraten, einen letzten Umweg zu nehmen und einen Blick auf einige methodische Aspekte seines philosophisch-anthropologischen Hauptwerkes zu werfen. In Reaktion auf die verhärteten Theoriefronten zwischen Apriorismus und Empirismus sowie zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft bemüht sich Plessner in den Stufen um ein in verschiedener Hinsicht ehrgeiziges Projekt. Nicht nur soll ein Weg gefunden werden, die Fronten methodisch zu vereinen, ohne sie zu versöhnen, es soll auch eine „Neuschöpfung der Philosophie" (SOM 68) geleistet werden. Die Tatsache menschlicher Lebenserfahrung allein könne einen Weg jenseits der Fronten von Apriorismus und Empirismus bahnen (vgl. SOM 62). Die Neuschöpfung der Philosophie soll holistisch ansetzen, weshalb Plessner sie unter dem Aspekt einer „philosophischen Hermeneutik" zu begründen sucht.423 Ein solches Vorgehen übersteigt die methodisch vereinseitigenden 422 423
Rentsch 1999, S. 112. Laut Beaufort holt Plessner den Anspruch einer geisteswissenschaftlichen Hermeneutik Diltheyscher Provenienz nicht ein, sondern vertritt eine humanwissenschaftlich begründete Hermeneutik (vgl. Beaufort 2000a, S. 226 u. S. 229). Zur Traditionslinie, die Plessner mit Dilthey verbindet, siehe Giammussos Beitrag im Dilthey-Jahrbuch (Giammusso 1991). Die Idee einer philosophischen Hermeneutik rückt Plessner nicht zu Unrecht in die Nähe Heideggers, die er selbst stets zurück gewiesen hat. Die Frage, ob Plessner und Heidegger Antipoden seien, ist inzwischen verschiedentlich diskutiert worden. Krüger versteht Plessner explizit als (verkannten) Gegenspieler Heideggers (vgl. Krüger, 2000a, S. 315 und ders. 1999, S. 25; ähnlich, wenngleich weniger prägnant, auch Schürmann 1997, S. 348ff., ebenso Holz 2003, S. 115 u. S. 145f). Wesentliche Differenzen sind in Krüger 1996b dargestellt. Auf die Möglichkeit eines kontrastierenden Vergleiches weisen auch René Weiland (vgl. Weiland 1995b, S. 110), Eßbach (vgl. Eßbach 1994, S. 15f.) sowie in einem 2008 erschienenen Artikel Breun hin (Breun 2008). Fahrenbach argumentiert erst im Sinne Heideggers gegen eine philosophische Anthropologie (vgl. Fahrenbach 1970), revidiert nach der Replik Plessners von 1973 (Plessner, Der Aussagewert Philosophischer Anthopologie) aber sein Urteil (vgl. Fahrenbach 1991). Plessner selbst weist auf begriffliche Parallelen zu Heidegger in einem Brief an König hin (Brief von Plessner an König vom 22. Februar 1928 (Lessing/Mutzenbecher 1994, S. 181)). Zur systematischen Nähe Plessner - Heidegger vgl. Hetzel 2005, S. 240 sowie Haucke 2000a, S. 103-106, der am deutlichsten wird: „Man könnte davon sprechen, dass Heidegger und Plessner wesentliche Intuitionen teilen, gleichwohl auf denkbar verschiedenste Weise mit ihnen umgehen" (ebd., S. 104).
P H I L O S O P H I S C H E A N T H R O P O L O G I E U N D KRITISCHE SOZIALPHILOSOPHIE
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Ansätze von Apriorimus und Empirismus, da die hermeneutische Frage nach Erfahrung und Verstehen beide Seiten grundlegend betrifft. Plessner breitet sein Programm nun weiter aus: „Konstituierung der Hermeneutik als philosophische Anthropologie, Durchführung der Anthropologie aufgrund einer Philosophie des lebendigen Daseins" (SOM 69). Das Projekt einer Philosophie als philosophische Hermeneutik ist zudem im Gebiet der Transzendentalphilosophie zu verorten, insofern sie als Möglichkeitsfrage expliziert wird (vgl. SOM 174f.) Gamm spricht von einer „transzendentalen Hermeneutik Plessners".424 Begreift Plessner die philosophische Hermeneutik doch „als die systematische Beantwortung der Frage nach der Möglichkeit des Selbstverstehens des Lebens im Medium seiner Erfahrung durch die Geschichte" (SOM 60). Plessners philosophische Anthropologie muss also fragen, wie das Selbstverstehen möglich sei. Insofern der Selbstversteher der Mensch ist, geht die Frage danach, wie der Mensch möglich sei. Die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen ziele hier, so Plessner, im Unterschied zu der von Kant aufgeworfenen Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis auf die der Möglichkeit von Erfahrung (vgl. SOM 122).425 Sowohl in den Stufen als auch Und tatsächlich scheint bei näherer Betrachtung die von Heidegger in den Kasseler Vorträgen, in Sein und Zeit und in Kant und das Problem der Metaphysik formulierte Kritik an der philosophischen Anthropologie eher Max Scheler als Plessner zu treffen (vgl. Luckner 1995). 424
Gamm 2005, S. 205. Vgl. auch Holz 2003, insbes. S. 69-81. Volker Schürmann spricht zunächst auch von einem ,,transzendentalphilosophische[n] [...] Moment" bei Plessner (Schürmann 2005, S. 34), meint aber, Plessner unterlaufe die „im engeren Sinne transzendentalphilosophische Version der Transzendentalphilosophie", die die maßgebende Vernunft in „epistemologischer Unschuld" über den Dingen verorte (Schürmann 2005, S. 43). Fahrenbach findet (in einer reduktionistischen Kantlektüre) eine Transzendentalanthropologie bei Plessner, die sich gegen die transzendentallogische Reduktion bei Kant abgrenze, in der sich apriorische und aposteriorische Elemente gegenüber stünden (vgl. Fahrenbach, 1994, bes. S. 74). Krüger ist bemüht, den Begriff der Transzendentalität durch den der (Michel Foucault entlehnten) „Quasi-Transzendentalität" zu ersetzen, da dieser die bewusstseinsphilosophische Verengung der subjektzentrierten Transzendentalphilosophie Kants vermeide (vgl. Krüger 2005, bes. S. 907, vgl. auch ders. 2001b, S. 92 u. S. 144f.). Günter Dux spricht zwar von einem „transzendentalen Apriorismus" bei Plessner, meint aber, damit gehe Plessner in keiner Weise über Kant hinaus, sondern vertrete selbst eine „absolutistische Begründungslogik" (vgl. Dux 1991, S. 52f.); man müsse mit Plessner über diesen hinaus gehen, indem man diese Begründungslogik zugunsten einer entsubstanzialisierten Prozesslogik verlasse, so Dux 1991 und ders. 1994. Dafür müsse man den ontogenetischen Entstehungsprozess des Geistes betrachten (vgl. Dux 1994, S. lOOf.), denn die „Reflexivität des Subjekts entsteht im Bildungsprozeß von Subjekt und Welt" (ebd., S. 103). Anlässlich welchen Ereignisses Reflexivität plötzlich entstehen soll und was „Denken" in einem ersten Stadium rein konkreter Anschauung überhaupt heißen soll (vgl. ebd., S. 106), wird dabei nicht klar. Bei Dux lässt sich insbesondere nachvollziehen, weshalb die Rede von einer Transzendentalanthropologie bei Plessner unbedingt sinnvoll ist. Zur Transzendentalanthropologie vgl. knapp Höffe 1999, S. 56 und ausführlich-programmatisch Rentsch 1999.
425
Holz weist in diesem Zusammenhang auf die Verbindung von Epistemologie und Ontologie bei Plessner hin. „Transzendentalität" bedeute bei Plessner, die Bedingungen der Möglichkeit von Sachverhalten nicht in der Verstandestätigkeit zu suchen, sondern „ontologisch in den jede Erkenntnismöglichkeit schon bedingenden allgemeinsten Formbestimmtheiten der Sache selbst" (Holz 2003, S. 75). Die darin gelegene Nähe zur Dialektik erwähnt Plessner selbst (vgl. SOM 167, Holz 2003, S. 76).
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in Verspätete Nation sowie in Conditio humana befasst Plessner sich mit einer wissenschaftlichen Philosophie, die es mit der Wirklichkeit als durch die Möglichkeit vermittelt zu tun habe: „Sie fragt nach den Möglichkeitsbedingungen und inneren Aufbaukomponenten, Strukturen, Wesensgesetzen eines Seins".426 Insofern sie sich nicht mit dem Sammeln von empirischen Daten zufrieden gibt, fällt Plessners Auffassung von Philosophie nicht mit Naturwissenschaft zusammen. Eine solchermaßen methodisch profilierte Philosophie bediene sich eines „methodische^n] Apriorismus"427, der nach dem „immer schon mitgemeinte[n], zum voraus mitgesetzte[n] und zugrundeliegende[n] Apriori" frage.428 Dieser Apriorismus Plessners ist laut Ingetrud Papes erhellender Plessner-Lektüre dialektisch und „der Form nach transzendental'" 429 angelegt. Das ist so zu verstehen, dass Plessner die Frage nach den Wesensgesetzen des Menschen nicht aus Verhaltenskonstanten generalisiert, sondern die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit menschlichen Seins stellt. Plessner finde, so Pape, „zu einer Synthese von transzendentaler Bedingung und realdialektischer Konstitution, die das Wirkliche resistent macht gegen jede relativistische Anfechtung".430 Man könne mit Plessner vom Singular des Bedingungsgefüges und von einem Plural der Realisierung dieses Bedingungsgefuges sprechen.431 In dieser Weise wäre die Frage nach der Vermittlung von Geschichte und System, von Individualität und Allgemeinheit zu beantworten. Plessners philosophische Anthropologie als kritische Philosophie wäre so eine an den Grenzen der Erfahrung auf deren Möglichkeit hin fragende transzendentalphilosophische Untersuchung. Eine solche bewegt sich immer in der bestehenden, entwickelten Welt: „Die transzendentale Analyse ist eine synchrone Analyse der entwickelten menschlichen Welt und der Möglichkeitsbedingungen von Praxis".432
7.2 Struktur einer menschlichen Welt Im Folgenden gebe ich eine knappe Darstellung der Struktureigenschaften der menschlichen Grundsituation, wie Plessner sie transzendental-phänomenologisch aufweist. Das Grundmotiv der Stufen ist die phänomenologisch aufgewiesene Grenze. Sie ist die Antwort auf Plessners Frage, was Lebendiges überhaupt auszeichne. Nichtlebendiges habe keine Grenze, sondern Umrandungen, die ausgefüllt werden. Insofern im Unterschied zum Nichtlebendigen jedes Lebendige in einer Aspektdivergenz von Innen und Außen 426
Plessner, Verspätete Nation, S. 201, vgl. auch (SOM 121f.) und ders., Conditio humana, S. 140.
427
Plessner, Verspätete Nation, S. 202.
428
Ebd.
429
Pape 1986, S. 34.
430
Ebd., S. 33.
431
Vgl. ebd., S. 35.
432
Rentsch 1999, S. 283. Ähnlich Stekeler-Weithofer: „Wie die Logik die Formen des richtigen Schließens, so artikuliert die Transzendentalphilosophie implizite Formen menschlicher Praxis" (StekelerWeithofer 2003, S. 45).
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erscheine, sei die Grenze als konstitutiv für alles Lebendige zu verstehen. Plessner unterscheidet in den Stufen drei mögliche Realisierungen des Lebendigen: die Pflanze als gegen das Umfeld offene Organisationsform sowie Tier und Mensch als gegen das Umfeld geschlossene Formen. Während das Tier aber unmittelbar in seinem Zentrum stehe und daher sein Erleben nicht erlebe, sei der Mensch allein noch einmal von seinem Zentrum abgehoben, er sei exzentrisch. So erlebe und erfahre ein exzentrisch strukturiertes Lebewesen sein Erleben. Seine Position, die Positionalität433, seine Situation ist exzentrisch. Die Positionalität selbst weist hermeneutisch eine Doppelstruktur auf, insofern in ihr „zugleich der verbale Sinn von ,Setzung' und der topologische von ,Ortsbestimmung'" steckt, so Holz, der damit auf Plessners Stellung zwischen der Subjektphilosophie Fichtes und der biophilosophischen Verortung des Menschlichen hinweist.434 Personen sind sound-so je gesetzt, setzen sich im Selbsterleben zudem als diese Gesetzten und sind damit in diesem So-und-so-Dasein über es als Erlebtes hinaus, sie sind exzentrisch zu ihrem gesetzten Dasein.435 Personen erscheinen sich und anderen Personen im „Doppelaspekt" ihres Daseins, der nicht aufgehoben oder vermittelt, sondern „aus einer Grundposition" begriffen werde (SOM 71). Den biophilosophisch aufgewiesenen Doppelaspekt menschlichen Daseins entwickelt Plessner als Fundament seiner hermeneutischen Anthropologie. Wesentlich ist dabei zunächst, dass mit der exzentrischen Positionalität der Übergang von der leiblich gegebenen Individualität, die auch Pflanzen und Tieren zukommt, zur Personalität vollzogen ist.436 Als Person definiert Plessner das Mensch genannte „lebendige Ding" (SOM 364), das zwischen Natur und Kultur steht.437 Dies aber nicht im Sinne einer Ent433
Zur Nähe Plessners zum Idealismus Fichtes im Begriff des Setzens (Positionalität) vgl. Beaufort 2000a, Kap. VI sowie ders. 2000b, der darüber hinaus eine idealistische Lesart Plessners ebenso wie eine dialektische ablehnt (vgl. Beaufort 2000b, S. 225 u. S. 229). Beauforts aktivische Lesart von ,Setzen' verdeckt ein wenig, dass es zunächst um das immer schon Gesetzt-Sein geht, zu dem ich mich verhalten (,setzen') muss. In diesem Sinne spricht Rentsch vom „Grundzug der Situationalität selbst" (Rentsch 1999, S. 67, vgl. dazu auch ders. 2003, S. 75-91 sowie Kap. 5). Zur theoriegeschichtlichen Verortung des Begriffes exzentrische Positionalität vgl. Fischer 2000a, S. 266ff. Dort finden sich auch Bemerkungen zur sachlichen Abgrenzung von Begriffen wie „reflexive Subjektivität" des transzendentalen Idealismus, wie „Identität der Identität und Nichtidentität" des „absoluten" Idealismus oder der Heideggerschen „Existenzialität" (vgl. ebd., S. 284ff.).
434
Sowie auf den Status von Positionalität als „Titel eines Verhältnisses in der Extensionalität, eine ontologische Kategorie der res extensa oder der Materie" (Holz 2003, S. 119). Vgl. ebd., S. 126.
435 436
437
Vgl. auch ebd., S. 136. Den an Plessner erhobenen Vorwurf der Subjektzentriertheit hebelt Holz gewissermaßen aus: „Wo aber Distanz erlebbar wird, indem man zu sich selbst Abstand nehmen, seinen eigenen Leib wie ein Nicht-Ich fühlen kann, da entsteht aus der Einheit von Lebewesen und Umwelt die Zweiheit von Subjekt und Objekt" (Holz 2003, S. 130). Die bei Plessner hervorgehobene Fähigkeit von Personen zur Objektivierung macht die Nomenklatur von Subjekt und Objekt sinnvoll. Holz verweist hier auf Plessners Anmerkungen zum Kantischen Begriff der Ungeselligen Geselligkeit von 1966 (vgl. Plessner, Ungesellige Geselligkeit, S. 298, vgl. auch ders., Selbstdarstellung, S. 330). Zum Person-Begriff Plessners vgl. Schneidereit 2006a.
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scheidbarkeit, sondern als der Bruch zwischen beiden bzw. „diesseits und jenseits des Bruches, als Seele und als Körper und als die psychophysisch neutrale Einheit dieser Sphären" (SOM 365). Diese Einheit überdecke ferner den Bruch nicht, sondern sie sei das „leere Hindurch der Vermittlung" (SOM 365). In dieses leere Hindurch-gesetzt-Sein ist der Seinsmodus des Lebens, den Plessner exzentrische Positionalität nennt. Dieser Begriff bezeichnet die Situation der Person in zweifacher Distanz zu sich selbst. Die beiden Aspekte, in denen eine Person erscheint und von denen sie sich als Subjekt ihres Erlebens noch einmal objektivierend abheben kann, lassen die Person weiterhin als feiende Möglichkeit" (SOM 232)438 begreifen. Eine Person ist also zugleich Potentialität (Möglichkeit) und Aktualität (seiend), wie Plessner es bereits in seiner Theorie der Psyche in den Grenzen der Gemeinschaft ausgeführt hatte (vgl. GG 62). Sie ist als Möglichkeit des Auch-anders-sein-Könnens begrenzt durch die Bedingungen und Bestimmungen ihres aktuellen Seins. Die reichhaltige Dialektik dieser Bestimmung zeigt sich in folgender Erläuterung Plessners: „in einer echten Synthesis [dürfen] die Bestimmungen der Potentialität und Aktualität nicht gegeneinander aufgerechnet werden" (SOM 232). Synthesis heißt also keinesfalls Versöhnung (wie sie auch bei Hegel nur im normativen, nie aber im deskriptivem Sinn Versöhnung bedeutet), sondern den Aspekt der Einheit des Divergenten in einem Erlebens-Ganzen. Bevor ich auf die drei bei Plessner herausgearbeiteten Elemente der menschlichen Grundsituation erläuternd eingehe, möchte ich daraufhinweisen, dass Hegels Spur in den Stufen nicht zu übersehen ist, obgleich Plessner immer wieder betont, dass Hegel als Versöhnungstheoretiker abzulehnen sei (vgl. SOM 208).439 Tatsächlich spricht Plessner von der „empirisch faßliche[n] Dialektik des Lebendigen"440 (SOM 260) und korrigiert sich im Vorwort zur zweiten Auflage der Stufen von 1964, er hätte sich auf Hegel beziehen müssen, wären ihm die entsprechenden Stellen bekannt gewesen (vgl. SOM 34).441 Auf die Möglichkeit einer dialektischen Lesart der Stufen weist am deutlichsten Holz hin, der Plessners Philosophie als dialektische Anthropologie versteht und den Stufenaufbau als
438
Zu diesem Begriff vgl. Haucke 2000b, S. 247f. sowie ders. 2003, S. 103f.
439
Der Rekurs auf Hegel ist in den Stufen fast durchweg negativer Natur. Eine explizite Ausnahme bildet die Wertschätzung der Hegeischen Infragestellung und Ontologisierung der Kantischen Kategoriallehre (vgl. SOM 166).
440
Tönnies sprach vom Empirisch-Dialektischen
441
Diese Selbstauskünfte Plessners werden in der Regel nicht wörtlich genommen (Haucke z.B. versteht Plessner sogar als „Gegenentwurf zu Hegel" (Haucke 2000b, S. 248)), so dass eine detaillierte Analyse des Verhältnisses von Plessner zu Hegel noch aussteht. Eine solche wird durch eine Reihe forcierter Lektüren verstellt. So ist etwa Krüger der Ansicht, dass Plessner sich gegenüber Hegel vom Paradigma des Selbstbewusstseins löse und „die Identität der Identität und Differenz zugunsten einer unabschließbaren Differenz" durchbreche (vgl. Krüger 2000b, S. 280); m.E. ist die Differenz bereits in der ersten Formel unaufhebbar. Mitscherlich nimmt an, dass Hegels Versuch der „Versöhnung von Substanz und Subjekt" im „Wahren" gescheitert sei und es Plessner dagegen gelinge, „im Sinne der Verschränkungsidee zur Brechung des Lebensparadigmas als natürlichen Seins und geschichtlichen Lebensvollzugs" durchzufragen (Mitscherlich 2007, S. 346f.). Ähnlich Beaufort 2003. Vgl. auch Fn. 301 in dieser Arbeit.
unseres Weltverhältnisses (vgl. GuG XXI).
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Entwicklung via bestimmte Negation analog der in Hegels Phänomenologie des Geistes begreift.442 Was es bedeutet, exzentrisch positioniert zu sein, führt Plessner in den Stufen im letzten von sieben langen und komplizierten Kapiteln aus. Der Mensch ist bei Plessner als Person ein leibkörperliches Wesen, das einen ausmessbaren Körper habe, ein als eigener empfundener Leib aber je sei. Das Erleben dieser Leibgebundenheit hebe ihn mental von dieser Gebundenheit ab. Die personale Sphäre zerfalle material in a) Außenwelt und b) Innenwelt sowie in nicht-materialer Weise noch in eine dritte Sphäre der Mitwelt (c)), die zwar vermittele zwischen den anderen beiden Sphären, nicht aber als deren Versöhnung verstanden werden dürfe. In traditioneller Begrifflichkeit heißen die drei Sphären bei Plessner auch Körper, Seele und Geist. a)
Außenwelt
Die Person erscheine sich kraft ihrer exzentrischen Positionalität im Doppelaspekt von Körper und Leib.443 Als Körper sei sie quantitativ ausmessbares „Ding unter Dingen", als Leib hingegen erscheine sie sich „als um eine absolute Mitte konzentrisch geschlossenes System in einem Raum und einer Zeit von absoluten Richtungen" (SOM 367). Aus dem qualitativ auf die Person relativen Leibaspekt leitet Plessner die „organologischef] Weltanschauung" her (SOM 367), sieht aber den Doppelaspekt radikal - keine der beiden Betrachtungsweisen steche die andere aus. Beide seien für sich absolut: Der Körper ist ein Ding, das an einer bestimmten Raum-Zeit-Stelle befindlich ist, das ausmessbar ist, das unter den Gesetzen der Natur steht. Mein Leib aber, die Weise, in der ich diese körperliche Vorhandenheit je auch deute, stehe im Hier-Jetzt, das derjenige absolute Punkt ist, von dem aus ich von Oben, Unten, Hinten, Vorne etc. sprechen kann. Empirische Bestimmungen, ohne die eine Orientierung undenkbar ist. Alexandra Manzei spricht hier sinnvoll von „Gegenständlichkeit" des Körpers und „Zuständlichkeit" des Leibes.444 Analoges 442
Vgl. Holz 2003, S. 132. Auch Arlt hebt die Bedeutung der Dialektik vor allem wegen der wiederholt begegnenden und sachlich zentralen Formulierung der „vermittelten Unmittelbarkeit" hervor (Arlt 2001, S. 102). Das Gleiche sagt Arlt für die Grenzen der Gemeinschaft (vgl. Arlt 1996, S. 92).
443
Zur Bedeutung dieser Unterscheidung vgl. zentral Krüger 2000a, Lindemann 1995, weiterhin Jäger 2005. Überhaupt scheint für Krüger die Differenz zwischen Körper und Leib in Plessners Philosophie der weitaus wichtigste Aspekt zu sein, so dass er Familiarität mit Leiblichkeit und Objektivität mit ausmessbarer Körperlichkeit in Verbindung bringt (vgl. Krüger 1999, S. 202). Dieser Hinweis ist wertvoll im Hinblick auf die Vermittlung der beiden Gemeinschaftsformen sowie auf deren vermittelten Vollzug in der alltäglichen Praxis. Wünschenswert wäre es vielleicht, den Vollzug der Körper-Leib-Differenz mit den beiden anderen Aspekten der Innen- und der Mitwelt stärker zu verknüpfen. Möglicherweise jedoch trifft Krüger damit die von Plessner selbst favorisierte Lesart, denn in seiner Selbstdarstellung heißt es, dass in dem „Doppelverhältnis [...]: Ein Leib zu sein und einen Körper zu haben, [...] der Willkür- und Anfánglichkeitscharakter [gründet], der uns zwingt zu handeln" (Plessner, Selbstdarstellung, S. 321, vgl. auch ebd., S. 333).
444
Manzei 2005, S. 71 f. Damit widerspricht sie Krügers Deutung von Körper und Leib als mittelbare und unmittelbare Selbsterfahrung (in Krüger 2000a, S. 293ff., vgl. auch ders. 1999, S. 118), die sie
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KRITISCHE SOZIALPHILOSOPHIE - HELMUTH PLESSNER
lasse sich, so Plessner, für die Objektwelt aussagen, die mir in einer Aspektdivergenz von Umfeld und Außenwelt gegeben sei. Reelle Dinge in der Außenwelt seien Erscheinungen in einem Umfeld, deren absolut außenweltlichem „Substanzkern" (SOM 368) ich mich nicht reell nähern kann. Vermittelt seien die Doppelaspekte von Körper und Leib sowie von Außenwelt und Umfeld im „Punkt der Exzentrizität, im unobjektivierbaren Ich", das die Grenze ausmache, an die nur Näherungen möglich seien (SOM 368).445 b) Innenwelt Als Innenwelt sei die Person sich in Distanz zu sich selbst gegeben, sie zeigt sich im Doppelaspekt von Seele/Psyche446 und Erlebnis. Mit Psyche meint Plessner die „vorgegebene Wirklichkeit der Anlagen" (SOM 369), also so etwas wie den Charakter, der bestimmten psychischen Gesetzen unterliegt. Hier verortet er sowohl psychologische Dispositionen wie das psychische Trauma, den psychischen Komplex als auch das Erinnerungsbild oder das Gedächtnis. Diese Phänomene des Psychischen seien nun keinesfalls mit Bewusstseinsinhalten zu identifizieren, denn möglicherweise kommen sie mir gar nicht zu Bewusstsein, wie zum Beispiel der verdrängte Komplex oder die traumatische Erfahrung, haben aber dennoch wirkenden Dingcharakter. Nur als Gedächtnisinhalt kann ich mir eine Reihe von Phänomenen zu Bewusstsein bringen. Diese Gegebenheit der Psyche ist nun bei Plessner scharf zu trennen vom Aspekt des Erlebnisses, das die „durchzumachende Wirklichkeit des eigenen Selbst [Psyche, NSch] im Hier-Jetzt" (SOM 369) sei. Das Erlebnis ist damit als Vollzug des Selbst, als Realisierung des Psychischen zu erkennen. Beide Aspekte stehen weiterhin in einer Dialektik der gegenseitigen Bestimmung, denn „alle seelischen Dispositionen und Leistungen [Psyche, NSch] sind zugleich erlebnisbedingend und erlebnisbedingt" (SOM 369). Die Weise also, in der ich mich erlebe, ist von früheren Erlebnissen ebenso wie von aktuellen bestimmt, wie und was ich aber erlebe, ist wiederum von meiner psychischen Disposition her bestimmt. Wichtig ist hier nun weiterhin eine Differenzierung entlang der traditionellen Unterscheidung von empirischem und reinem Ich. Plessner betont, dass die Person sich aber als Etwas erlebt, das nicht mehr erlebt werden kann, nicht mehr in Gegenstandsstellung tritt, als reines Ich (im Unterschied zu dem mit dem erlebbaren ,Mich' identischen psychophysischen Individual-Ich), hat einzig und allein in der besonderen Grenzgesetztheit des Mensch genannten Dinges seinen Grund, schärfer gesagt: bringt sie unmittelbar zum Ausdruck (SOM 364).
Wenn Plessner zwischen Psyche und Erlebnis radikal unterscheidet, so scheint sich diese Doppelung auf der Ebene des empirischen Ich zu bewegen, von der her aber das Erleben
als positivistisch begreift (vgl. zu dieser Kritik auch Gamm 2001). 445
Aus diesem Grunde bleibe Natur bei Plessner letzthin als Fremdes stehen, so Schürmann 2005.
446
Wegen der starken Aufladung des Seelenbegriffes ziehe ich den neutraleren Begriff Psyche vor. Bei Plessner scheinen sie mir synonym verwendet zu werden.
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seiner selbst als nicht mehr (wie die Psyche) objektivierbares reines Ich möglich ist. Wie ist das gemeint? Wenn ich mich als so oder so bestimmt erlebe, so ist dieses Erlebnis empirisch und daher nicht mit dem so genannten reinen Ich zu identifizieren. Die Weisen der Selbstwahrnehmung, der Selbstobjektivierung, des unmittelbaren Aufgehens im Selbst sind erlebnishaft situativ bestimmt. Wie aber kann überhaupt die Selbstobjektivierung, das Sich-gegenständlich-Machen gedacht werden? So, dass diese „Selbststellung mir noch selbst gegeben ist" (SOM 370).447 Sie liegt in der nicht überbrückbaren Differenz zwischen Psyche und Erlebnis als Vollzug der Psyche. Diese Differenz konstituiert nun die nicht-objektivierbare Distanz, die das Ich-Sagen ermöglicht. Ich rechne mir mein Mich und mein Erleben als meine zu. Diese Meinigkeit verweist auf die nicht-objektivierbare Ich-Haftigkeit, die im transzendentalphilosophischen Sinne ermöglichend ist. Die Möglichkeit, sich zu objektivieren, kann die Person wieder objektivieren; dann erlebt sie sich als etwas, das nicht mehr objektivierbar ist und von dem her sie Distanz zu sich hat, das oben genannte „reine Ich", das allen solchen Ich-Mich-Sagern zukommen muss und so in den sozialen Raum anderer Iche verweist. Von dieser Grenze der Reflexion auf das eigene Ich her, an der ich auf die formale Möglichkeit des Erlebens meiner selbst stoße, erklärt sich für Plessner die Möglichkeit, auf die psychische Realität umgestaltend zu wirken (vgl. SOM 370). Es ist dabei klar, dass ich nur das ändern kann, was mir objektivierbar ist. An dieser Stelle arbeitet die Psychoanalyse daran, das nicht als Wahrnehmungsinhalt Gegebene ,ans Licht zu erzählen', so dass ich im Umgang damit gestaltend arbeiten kann. Zugleich ist klar, dass die psychische Realität relative Festigkeit besitzt, die Plessner als „Widerstandsfähigkeit des psychischen Seins gegen den Blick des psychologischen Beobachters" (SOM 370) anspricht. Ich kann mich also nicht völlig neu erfinden. Dieser Aspekt ist wichtig für unser alltägliches Dasein, in dem mangelnde Widerstandsfähigkeit des psychischen Seins Pathologien auslösen würde. Das Vergessen des Vollziehens ist insofern notwendig. Und schließlich wird durch die Analyse des Vollzugscharakters deutlich, dass die Weise, in der ich gestaltend wirke, wiederum durch Erlebnisse und psychische Dispositionen geprägt und so zudem vom Umfeld her bestimmt ist. Trotz dieser Einschränkungen ist die mögliche Arbeit an sich selbst von zentraler Bedeutung fur eine kritische Sozialphilosophie, die klären können muss, wie das Individuum sich und der Welt gegenüber distanziert sein kann. Das passive Erleiden des inneren und äußeren Geschehens, das alltägliche Geschehen-Lassen wird bei Plessner also kontrastiert durch die Aktivität des Vollzuges, die möglich ist durch die Distanz, die ich zu mir einnehmen kann und zwar sowohl dann, wenn ich in mir aufgehe, als auch, wenn ich mich objektiviere und Stellung zu mir beziehe. Dass ich außerhalb meiner Selbst und des Vollzugs meiner selbst stehe, versteht Plessner vom „Gesetz der Exzentrizität" her: „Sogar im Vollzug des Gedankens, des Gefühls, des Willens steht der Mensch außerhalb seiner selbst" (SOM 371). Beide Seiten sind fur 447
Auf die Bedeutung dieser Doppelung von Erleben und Erleben des Erlebens weist besonders Gamm hin (vgl. Gamm 2005, S. 206).
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KRITISCHE SOZIALPHILOSOPHIE - H E L M U T H PLESSNER
Plessner Existenzsphären, die eine ist entwickelte Faktizität (Psyche), die andere ist der Möglichkeit nach freier, spontaner Vollzug (Erlebnis). Beide Sphären sind im nicht-objektivierbaren Ich vermittelt, das auf die Möglichkeit anderer solcher Iche verweist. c) Mitwelt Bei Plessner unterscheidet das individuelle Ich durch die Exzentrizität an sich selbst individuelles (empirisches) und allgemeines (reines) Ich (vgl. SOM 373), es ist sich als Besonderung aus dem allgemeinen Ich gegeben. Plessner sieht erst in der Mitwelt als der psychophysisch neutralen Einheit von Körper und Seele das spezifisch Menschliche der Person, denn die Vermittlung zwischen Leib und Körper und zwischen Psyche und Erlebnis sowie zwischen den beiden Aspekten ist erst von diesem Dritten aus verständlich. Dieses Dritte nennt Plessner in vager Anlehnung an Hegel auch Geist, auf den als Sphäre die „Begriffe subjektiv und objektiv nicht anwendbar sind" (SOM 378). „Geist entspringt in exzentrischer Positionalität als deren spezifische Seinsweise der Reflexion der Reflexion", fasst Holz zusammen.448 Die Mitwelt hebe, so Plessner, den Doppelaspekt von Innen- und Außenwelt unter Beibehaltung der Aspektdivergenz auf. Die Kluft zwischen Subjekt und Objekt sowie die zwischen Innen und Außen werde durch den Geist vermittelt. Wichtig ist im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit nun, dass der Ort der Vermittlung von Innen und Außen, von Leib und Körper, von Psyche und Erlebnis, die Grenzgesetztheit des Menschen als unhintergehbare Sozialität formuliert ist.449 Die Weise, in der also Subjekt und Objekt überhaupt an mich kommen und vermittelt sind im konkreten Ich, ist je sozial geprägt: „Zwischen mir und mir, mir und ihm liegt die Sphäre dieser Welt des Geistes" ("SOM 376). So konstituiert Geist die Wirklichkeit für uns, aber nur insofern sie auch unabhängig von uns da ist. Die Mitwelt versteht Plessner sogar als die Bedingung der Möglichkeit der personalen Individuierung. Zugleich ist das Individuierte konstituierendes Element der konkreten Mitwelt. Sie ist real und wird realisiert durch die exzentrische Positionsform und ist daher nicht die konkrete soziale Umgebung (Gemeinschaft, Gruppe), sondern die Sozialität des Menschen überhaupt. Der Mensch erfasse die Mitwelt als die Sphäre anderer Menschen 448 449
Holz 2003, S. 114. Aus diesem Grund trifft Plessner auch nicht der von Honneth und Hans Joas geäußerte Vorwurf eines solipsistischen Individualismus (vgl. Honneth/Joas 1980, S. 83). Den gleichen Vorwurf erhebt erstaunlicherweise Holz, der meint, Plessner habe vor allem in Macht und menschliche Natur die Notwendigkeit, „eine naturphilosophische Anthropologie in eine Sozialphilosophie zu verlängern", zwar gesehen, ziehe sich in den Stufen aber auf einen „vor-soziologischen Formalismus zurück", dessen systematischer Grund im Begriff der exzentrischen Positionalität liege, insofern dieser nur den Umschlag von Individualität in Personalität kläre, die sozialphilosophischen Implikationen desselben aber nicht aufhelle (vgl. Holz 2003, S. 137f.): „Die Fixierung auf die am Einzelwesen abgelesene Struktur der exzentrischen Positionalität [...] verstellt Plessner den Blick auf die genuin an Kollektivität gebundenen Konstitutionsprozesse des ,Menschenartigen', Sprache und Arbeit" (ebd., S. 138f.).
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und sie sei zugleich die Bedingung der Möglichkeit des Erfassens der eigenen Person als Person. Weil die Mitwelt dem realen Ich gewissermaßen (als ermöglichend) vorgängig ist, spricht Plessner von der „Wir-Form des eigenen Ichs" (SOM 377), so dass hier die Mitwelt in Plessners Analyse der Innenwelt eingetragen ist. Das reine Ich, als das ich mich in nicht-objektivierbarer Hinsicht erlebe, hat diese leere Wir-Form. Konkretes Ich und Mitwelt haben dabei ein dialektisches Verhältnis gegenseitigen Getragenseins; die Mitwelt „trägt die Person, indem sie zugleich von ihr getragen und gebildet wird' (SOM 376). Das heißt, die Person ist diese konkrete Person durch diese konkrete Mitwelt, die als konkrete (als realisierte Sphäre des Miteinanders) zugleich wiederum von vielen solchermaßen bestimmten Personen bestimmt wird. Im individuellen Ich und über das individuelle Ich sind geschichtliche Erfahrung und reale Handlung vermittelt. Neben dieser Ebene realer Dialektik gegenseitiger Bestimmung, die durch das individuelle Auseinandertreten der Mitwelt in konkrete Individuen bedingt ist, steht jeder Mensch als „Glied der Mitwelt [...] da, wo der andere steht. In der Mitwelt gibt es nur Einen Menschen, [...] die Mitwelt gibt es nur als Einen Menschen" (SOM 378). Die Ichhaftigkeit, die alle personale Individualität ermöglicht, negiert zugleich die Individualität radikal. Ich bin von der Art wie die anderen, bin die anderen durch mein Ich-Sein. Daher spricht Plessner die Mitwelt als „absolute Punktualität" an, „in der alles, was Menschenantlitz trägt, ursprünglich verknüpft bleibt, wenn auch die vitale Basis in Einzelwesen auseinandertritt" (SOM 378). So ist die Bedingung der Möglichkeit, Ich sagen zu können, zugleich die Negation dieses Sprechens, weil sie mich als Einzelnen anderer so Strukturierter zeigt. Im Sinne der Absolutheit ist die absolute Punktualität bei Plessner die Menschheit als Totalität. Diese Menschheit als Totalität, in der das Ich formaliter vollkommen vertretbar ist - wenngleich es das konkret nie ist - ist der utopische Standort, der bedingt und erlaubt, mich von mir und meinem Standpunkt abzuheben, mich hinsichtlich meiner Ich-Form als vertretbar und ununterschieden von allen anderen solchen in Ich-Form Gegebenen zu begreifen. So kann der Begriff eines Allgemein-Menschlichen an mich kommen. Allgemeinheit wird von diesem Wir her erfasst, das kein konkretes Wir ist, sondern die Sphäre des exzentrisch Lebendigen, für das unendlich viele Weisen der Existenz denkbar sind, das aber in jedem Falle (individualisiert) existieren muss. Zugleich bin ich als Individuum unvertretbar - die Allgemeinheit des Menschlichen wird als in lebenden Individuen konkretisiert erfasst. Der Begriff eines Allgemein-Menschlichen liegt zwar in der gleichen Struktur des individuellen Lebendigseins als exzentrische Positionalität. Diese gibt es aber nie ohne ihre Konkretion (vitale Einzelbasis), weshalb Krüger von der „für menschliche Lebewesen konstitutiven Ambivalenz zwischen der Individualisierung ihrer Personalität und der Personalisierung ihrer Individualität" 450 oder auch von der „Antinomie der beiden Ich-Bedeutungen [...], der zwischen dem leiblich unvertretbaren Ich und dem durch Verkörperung soziokulturell vertretbaren Ich"451 spricht, die in Plessners 450 451
Krüger 2001a, S. 932f. Krüger 1999, S. 124.
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Rede vom Kategorischen Konjunktiv (ich könnte, aber ich kann nicht) eingeholt sei.452 So ist Allgemeinheit (die exzentrische Struktur der Personalität) nicht abstrakt, sondern je material gebunden an ihre Konkretion, sie ist überhaupt nicht anders als konkretisiert zu denken. Hegels Unterscheidung zwischen abstrakter und wahrer Allgemeinheit schimmert hier durch: Während ich in abstrakter Hinsicht vollkommen vertretbar bin, bin ich es als Teil einer wahren Allgemeinheit nicht, in der das Allgemeine konkret gegeben ist. Hinsichtlich des Wir-Sagen-Könnens hat der Begriff der wahren Allgemeinheit eine normative Dimension - soll es ein echtes, universales Wir sein, so muss es in allen seinen Individuen anerkannt sein, alle müssen sich als Individuum in einem solchen Wir finden. Plessner bezeichnet das Streben, ein solches ,echtes' Wir zu realisieren, in den Stufen des Organischen als utopistisch und in den Grenzen als formalistisch.453 Wie bereits bei Tönnies im ersten Teil dieser Arbeit und andeutungsweise im vorangegangenen Kapitel bei Plessner ausgewiesen, ist aber der Bezug auf eine mögliche echte Allgemeinheit flir die Gestaltung politischer Gemeinschaften essentiell, insofern nur so ein Gemeinwohlbezug gedacht werden kann. Das ist andeutungsweise auch bei Plessner kenntlich: Im Miteinander sind die Subjekte, sofern sie sich als Quellpunkte von Initiativen und als Blickpunkte von Perspektiven verstehen, einander gleich. Jeder könnte der andere sein. Welche strukturelle Gleichartigkeit noch keine Gleichheit im Status bedeutet, auch wenn etwa die Forderung nach Rechtsgleichheit sich auf sie stützen sollte [...]. 454
d) Gesetzmäßigkeiten
der Realisierung von Sozialität
Der transzendental-phänomenologische Aufweis von Außenwelt, Innenwelt und Mitwelt als Aspekte der menschlichen Grundsituation veranlassen Plessner zur Formulierung von drei sich darin zeigenden „anthropologischen Grundgesetzen", auf die ich nur im Hinblick auf die Sozialität personalen Daseins eingehen möchte. ,Gesetz' kann hier nur bedeuten, dass unter Annahme der ausgewiesenen Bedingungen der Möglichkeit des menschlichen Weltverhältnisses (als ein körper-leibliches, als ein verstehensmäßiges und als ein je auf mich als eine von vielen solchen bezogenes) dieses Verhältnis strukturellen Bedingungen unterliegt, die als „implizite Formen menschlicher Praxis"455 begriffen werden müssen. Die „Grundgesetze" sind insofern nicht als .anthropologische Konstanten' zu verstehen, wenngleich sie sehr leicht als solche missverstanden werden können (der Begriff b e setz' ist m.E. unglücklich gewählt). Die in der Praxis implizierten Formen sind nicht nur Bezugspunkt der Beschreibung von Weltverhältnissen als menschlich, sondern auch der normativ-kritischen Haltungen zu ihnen.
452
Vgl. Krüger 2001a, S. 936, zum Begriff des Kategorischen Konjunktiv vgl. auch Krüger 1999, Kap.
453
Vgl. Plessners Kritik an der Sachgemeinschaft/Objektivität, wie sie hier in Kap. 6.1 dargestellt ist.
454
Plessner, Ungesellige
455
Stekeler-Weithofer 2003, S. 45.
1.10. Geselligkeit,
S. 298.
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Das erste „Gesetz der natürlichen Künstlichkeit" (I) behandelt im Ergebnis die Frage nach dem Ursprung von Kultur sowie - eher nebenher - die Freiheit der exzentrischen Position. Die der Person aufgrund ihrer Positionsform auferlegte Notwendigkeit zu handeln wird lesbar als die Freiheit zum so oder so Handelnd Plessner deutet den „Daseinsmodus des in seiner Gestelltheit Stehens" (SOM 384) so, dass der Mensch als „exzentrisch organisiertes Wesen [...] sich zu dem, was er schon ist, erst machen" muss (SOM 383).457 Daraus folgen verschiedene hier relevante Aspekte. Zunächst einmal widerlegt Plessner auch bei dieser Gelegenheit die Möglichkeit von ursprünglicher Gemeinschaft, hier „Idee des Paradieses" (SOM 383) vor dem Sündenfall genannt. Zwar sei keine Generation ohne eine solche Vorstellung gewesen, doch charakterisiere es die menschliche Situation, fragen zu müssen, was getan werden soll, weil man es nicht instinktiv wisse. Plessner stellt den Menschen als Handelnden dar, für den die identitäre Festlegung durch eine Gemeinschaft stets fehlschlagen muss. Er sei nur, sofern er sich realisiere (vgl. SOM 384) und das heißt, begrenze. So führt auch Hegel die notwendige Bewegung zum Dasein an: „der Mensch [...] muß dasein, und zu dem Ende muß er sich begrenzen".458 Die Unumgänglichkeit der Existenz ist dabei nicht nur durch den Körper gegeben, sondern vielmehr aufgrund der Tatsache, dass wir handeln müssen. Handeln heißt aber, von den vielen Möglichkeiten eine zur Wirklichkeit zu machen, wie Dasein heißt, so und so da zu sein. Plessner bestreitet einen ursprünglich harmonischen Naturzustand; das Fertigwerden mit der Welt, die uns zum Teil vorgeformt, zum Teil auch ungeschlacht begegnet, fordert auf zum Schaffen solcher künstlicher Komplemente einer natürlichen Ordnung, die sich von „dieser ihrer Herkunft kraft eigenen inneren Gewichtes loslösen", so dass eine „zweiten Naivität" (SOM 385) ermöglicht werde. Dieses Eigengewicht des Geschaffenen liege in dessen nicht-zweckgebundenem eigenen Sinn und seiner formgebenden Erleichterung des labilen Daseins. So müssen wir nicht jedes Mal neue Formen des Umgangs mit der Wirklichkeit schaffen, sondern finden bereits geschaffene, eigene Sinnsysteme vor, in
456
Daher lasse sich mit Plessners ,JConzept exzentrischer Positionalität ein kritisches Prinzip" im Rahmen kritischer Gesellschaftstheorie „formulieren", so Manzei (vgl. Manzei 2005, S. 67).
457
Weingarten unterstellt Plessner aufgrund dieser Formulierungen Perfektibilitätsvorstellungen; Plessner habe ein fixiertes Bild des Menschen, zu dem er sich vom Tier, das er zunächst ist, erst machen müsse (vgl. Weingarten 2005, S. 25). Gegen diese Lesart spricht nicht nur, dass Plessner die Möglichkeit, dass Personen ein tierisches Dasein führen könnten, aufgrund ihrer exzentrischen Positionalität ablehnt, sondern auch, dass er sich in Macht und menschliche Natur explizit gegen diesen Vorbegriff des Menschlichen als das dem Menschen Mögliche wendet (vgl. Plessner, Macht und menschliche Natur, Kap. 4).
458
Die Stelle liest sich vollständig: „Die Negation ist im Dasein mit dem Sein noch unmittelbar identisch, und diese Negation ist das, was wir Grenze heißen. Etwas ist nur in seiner Grenze und durch seine Grenze das, was es ist. Man darf somit die Grenze nicht als dem Dasein bloß äußerlich betrachten, sondern dieselbe geht vielmehr durch das ganze Dasein hindurch. [ . . . ] - Der Mensch, insofern er wirklich sein will, muß dasein, und zu dem Ende muß er sich begrenzen. Wer gegen das Endliche zu ekel ist, der kommt zu gar keiner Wirklichkeit, sondern er verbleibt im Abstrakten und verglimmt in sich selbst" (Hegel, Enzyklopädie /, S. 197 (§ 92)).
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denen wir handeln können und oft auch müssen. Geschaffene Formen gewinnen Eigendynamik, daher wäre hier ein Ansatz zu einer Institutionentheorie zu verorten.459 Auch ideologietheoretisch ließe sich hier einiges anfügen, gehört es doch zur Dynamisierung sozialer Formen im Sinne einer zweiten Naivität, dass sie naturalisiert werden. Obgleich die Reflexion auf die Gemachtheit bestehender Formen und Verhältnisse gerade für eine kritische Position wichtig ist, zeigt sich in Plessners Analyse auch, dass Naturalisierung menschlicher Verhältnisse nicht einmal per se schlecht ist. Plessner weist das Schaffen der künstlichen Formen und deren eigendynamisches Weiterbestehen (Reproduktion des ursprünglich Produzierten) zurecht als notwendig aus, wenn man davon ausgeht, dass das Handeln nicht instinktiv festgestellt ist. Sicherlich macht dieser Umstand die Kritik an bestehenden Sinnsystemen und Handlungsformen nicht einfacher, fraglich ist vor allem, worauf sich die Kritik stützen kann, wenn kein Standpunkt außerhalb der entwickelten Welt eingenommen werden kann. Die Kultur, in der Personen individuiert sind, ihre ,Natur', versteht Plessner als sich der Sphäre der Natur überlagernde Freiheit des Menschlichen. Dass der Einzelne in dieser Sphäre eine konkrete Unfreiheit haben kann, dieses oder jenes Begehren zu stillen, versteht sich dabei von selbst. Freiheit ist hier im unemphatischen Sinne des Tun-Müssens, Gestalten-Müssens, des Sich-entscheiden-Müssens angesprochen. Mit dieser Freiheit stehe man unumgänglich in der Antinomie von „Sein und Sollen", von „Naturgesetz" und „Sittengesetz" (vgl. SOM 391). Die Positionalität weist Plessner als den „Quellpunkt der Sittlichkeit und konkreten Moral" aus (SOM 392), ohne Sitte oder irreale Normen ist fur ihn folglich keine menschliche Existenz denkbar. So lassen sich eigendynamische Kultursysteme hier ebenso herleiten, wie deren normativer, werthafter Gehalt. Im SichEntscheiden-Müssen ist zudem der der Entscheidung selbst entzogene Punkt der Freiheit (Plessner) rekonstruiert, den ich oben mit Kant und Hegel Moralität genannt hatte. Ich muss mich verhalten; wie ich mich verhalte, ist prinzipiell nicht festgelegt, wenngleich es faktisch durch die Eigendynamik der Sinnsysteme sowie durch materiale Hindernisse relativ fixiert ist. Als moralische Personen können wir der Möglichkeit nach auf entwickelte Sinnsysteme einwirken. Während Plessner mit dem ersten Gesetz das Dass des Handeln-Müssens erfasst, umschreibt er mit dem zweiten der „vermittelten Unmittelbarkeit" (II) das Wie dieses Handelns. Im Kern geht es darum, dass Personen ihre Welt nicht nur schaffen müssen, sofern sie in der Welt da sind, sondern dass das intentionale Tun in der Welt regelmäßig eine Ablenkung erhält, die zu einer steten Veränderung der Welt fuhrt, die Plessner Geschichte
459
Dazu Plessner später: „So umgeben und umwachsen uns unsere Taten, sie entgleiten uns und holen uns ein, treiben ihr Wesen, werden zu Einrichtungen, Organisationen, Anstalten öffentlichen oder privaten Rechts, der Sitte, der Mode und vielschichtig-vieldeutiger gesellschaftlicher Gepflogenheiten. Mit einem Wort: dem Menschen entfaltet sich sein Verhalten in und zu Verhältnissen, und die Verhältnisse, sie sind nicht so, wie sie sein sollen" (Plessner, Bedeutung des Normativen, S. 196). Trutz von Trotha spricht hier von einem durch die exzentrische Positionalität menschlichen Daseins bedingten „Formungszwang" (von Trotha 1978, S. 321).
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nennt.460 Die beiden ersten Gesetze sind dabei kaum voneinander zu trennen, denn die These, dass eine menschliche Welt geschaffen ist (I), erzwingt Überlegungen dazu, wie das geschieht (II). Plessner geht wie Hegel davon aus, dass Personen da sein müssen und um da zu sein, sich ausdrücken müssen. Der im ersten Gesetz beschriebene Akt der Begrenzung zum Dasein wird hier in seiner Geformtheit nachgewiesen. Problematisiert ist in zunächst epistemologischer Hinsicht das Verhältnis von Subjekt und Objekt in dialektischer Manier: „Eine indirekt-direkte Beziehung soll diejenige Form der Verknüpfung heißen, in welcher das vermittelnde Zwischenglied notwendig ist, um die Unmittelbarkeit der Verbindung herzustellen" (SOM 400), so erfasst Plessner die Beziehung zwischen personalem Subjekt und Objekt. Da wir nie anders als (durch Formen) vermittelt zu den Dingen der Außenwelt und der Innenwelt in Beziehung stünden, sei diese vermittelte Form die für uns unmittelbare. Wissen als eine solche Form kann bei Plessner wiederum Gegenstand von Reflexion sein. Das heißt, ich kann um diese Vermitteltheit meiner Beziehung zu mir oder anderen Objekten unmittelbar wissen. Dieses Wissen-von, Sich-Beziehen-auf weist dabei unweigerlich die gleiche Struktur auf wie jeder andere Objektbezug auch, d.h. der Akt der Vermittlung steht unter dem „Schein der Unmittelbarkeit" (SOM 406). Wir sind also bei den Dingen, das aber stets nur in vermittelter Weise. Wissen als Vermittlung von Subjekt und Objekt verweist nun zugleich auf die Sozialität unserer Objektbezüge. Wie Plessner oben sagte, ist der Geist das zwischen „mir und mir, mir und ihm" Liegende (SOM 376). Der Geist vermittelt Subjekt und Objekt in epistemologischer Hinsicht; unser Wissen von uns und von der Welt ist soziales Wissen, es ist historisch und kulturell geprägt. Auf die gleiche Weise verhält es sich mit dem wesensnotwendigen Ausdruck461, der sich bereits vorgefundener Praxisformen bedienen kann oder neue erfinden muss, wobei Plessner Form als den „Abstand zwischen Zielpunkt der Intention und Endpunkt der Realisierung" (SOM 415) versteht. Jede Lebensregung der Person, die in Tat, Sage, Mimus faßlich wird, ist [...] ausdruckshaft, bringt das Was eines Bestrebens irgendwie, d.h. zum Ausdruck, ob sie den Ausdruck will oder nicht. Sie ist notwendig Verwirklichung, Objektivierung des Geistes (SOM 415).
Wir müssen uns also ausdrücken, um da zu sein, und dieser Ausdruck ist nur geformt und vermittelt möglich. So verwirklicht sich die objektive Sphäre des Geistes im Ausdruck. Die Formen der Ausdrücklichkeit konstituieren die konkrete Sphäre der personalen Individuen. Die Formen müssen nicht genau so oder so sein (im Sinne einer Kategorienlehre, 460
461
Zur Rekonstruktion des Plessnerschen Geschichtsverständnisses aus dem Begriff der exzentrischen Positionalität vgl. Pietrowicz 1994. Den Verweisungszusammenhang von Naturphilosophie und Geschichtlichkeit exzentrisch Positionierter macht Mitscherlich zum Gegenstand ihrer Arbeit (vgl. Mitscherlich 2007). Der Begriff des Ausdrucks bzw. der Ausdrücklichkeit/Expressivität ist inzwischen in das Zentrum des Interesses der Plessner-Forschungen gerückt. Ich kann auf diese Diskussionen hier nicht eingehen und verweise exemplarisch auf den ersten Band des seit 2008 erscheinenden Internationalen Jahrbuchs für Philosophische Anthropologie: Expressivität und Stil. Helmuth Plessners Sinnes- und Ausdrucksphilosophie (Accarino/Schlossberger 2008).
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einer bestimmten Grammatik, dieser oder jener Sittenlehre), aber ohne Formen geht es nicht. Das heißt auch, dass ich mich nicht einmal vor mir selbst privatim ausdrücken kann, sondern dass sogar in meine Selbstbezüge die Allgemeinheit des objektiven Geistes (als die vorgefundenen Ausdrucksformen) eingehen muss.462 Ich finde das Gros der Formen des Ausdrucks vor, die durch die Aktualisierung durch mich weiter bestehen sowie sich durch die Aktualisierungen ändern können. Sprache ist in diesem Zusammenhang nicht von ungefähr als grundsätzlicher Realisierungsmodus bei Plessner genannt.463 Zusammenfassend geht es also in den ersten beiden Gesetzen um das Handeln-Müssen, das ein Sich-Ausdrücken ist, und um das Formgesetz, dem Handlungen als Ausdrücke unterliegen. Beide Elemente verwiesen immer wieder in die objektive Sphäre des Miteinanders, von der her und in der Handlungen sich ereignen. Es zeigte sich weiterhin die Eigendynamik der geschaffenen Kulturleistungen, die die Einzelleistung übersteigen, und es zeigte sich, wie diese Kulturen sich als einmal gebildete Ausdrucksformen weitertragen, aber auch entwickeln, da die individuelle Intention durch die Formen Ablenkung erfährt und vice versa. Kultur und Ausdrücklichkeit verwiesen beide auf die Sphäre des Geistes (Mitwelt), die durch die in den beiden Gesetzen umfassten miteinander verbundenen Notwendigkeiten (Handeln und sich Ausdrücken) je konkretisierte Sozialwelt sein muss. Der Realisierungsmodus der exzentrischen Positionalität ist also alltägliche Praxis; er ist Öffentlichkeit im Sinne des Sich-öffentlich-(ausdrücklich)-Machens und der „Gesellschaftlichkeit" (vgl. SOM 423). Plessner beschreibt die Strukturen der personalen Grundsituation damit so, dass von ihr her die Kritik an gemeinschaftlichem Ganzheitsstreben erklärt werden kann: Handeln und sich Ausdrücken verunmöglichen einen sich selbst gleichbleibenden Sozialzusammenhang. Bevor ich die Konsequenzen dieser Folgerung im Zusammenhang mit dem Thema dieser Arbeit erörtere, möchte ich noch auf das dritte Gesetz des „utopischen Standorts" (III) eingehen. In diesem dritten der drei Anthropologischen Grundgesetze klären sich der von Sandkaulen eingeklagte Status und die Bedingung der Möglichkeit von Allgemein-
462
In diesem Sinne Hegel: „wenn aber die Sprache nur Allgemeines ausdrückt, so kann ich nicht sagen, was ich nur meine" (Hegel, Enzyklopädie /, S. 74 (§ 20 Anmerkung)). Und ganz ähnlich bei Plessner: „Wenn ich mich als Mittelpunkt eines von meinem Leibe umschlossenen Innen [...] erleben kann, [...] dann bin ich dieser Immanenz durch die Sprache enthoben. In ihr gibt es keinen solus ipse" (Plessner, Conditio humana, S. 178).
463
Die Ablenkung der Intention im Ausdruck erwähnt Plessner mehrfach. In Bezug auf die Sprache stets eher beiläufig, so z.B. in Plessner, Problem der Öffentlichkeit, S. 221: „Sie ist ein menschliches Produkt, und doch wissen wir, wie schwer es zu beherrschen ist. Sie hat ihre Gesetze, die sie unserem Sprechen aufzwingt, aber selbst ihre Erfüllung garantiert uns nicht, daß wir etwas anderes sagen, als wir sagen wollten. Die Sprache, die für uns dichtet und denkt, denkt und dichtet auch gegen uns und in jedem Fall weiter. Der Sinn des Gesagten wandelt sich im Verstehen". Ähnlich auch ders., Conditio humana, S. 189. Jochem Hennigfeld geht in einem Kapitel seiner Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts auf Plessner ein. Er weist eingehender auf die sprachphilosophisch interessanten Stellen in Plessners Werk hin, als es hier geschehen kann (vgl. Hennigfeld 1982, S. 175-183). Hennigfeld räumt jedoch ein, dass Plessners eigene Analysen zur Sprache im Verhältnis zu dem ihr zuerkannten Rang eher knapp ausfallen (ebd., S. 182).
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heit, die Plessner mit seiner Kritik an der Sachgemeinschaft (Objektivität) negiert hatte (vgl. Kap. 6.2b). Der exzentrisch Positionierte steht „da, wo er steht, und zugleich nicht da, wo er steht" (SOM 420). Durch den Charakter des Exzentrischen ist die Absolutheit der eigenen Position je überschritten. Auf die gleiche Weise könne die Kontingenz genau dieser Realität deutlich werden. Die Welt erscheine als faktische Individualität vor dem Hintergrund der ideellen (und zuweilen auch realen) Möglichkeit ihres „auch anders sein Könnens" (SOM 421). Dieses Nebeneinander von Wirklichkeit und Möglichkeit hat bei Plessner Konsequenzen auf individueller und auf sozialer Ebene. An sich selbst verstehe das einzelne Individuum durch das Transzendieren des individuellen Standpunktes, dass es als „reines Ich oder Wir [...] in der Mitwelt" steht, dass es die Mitwelt ist. Der einzelne Mensch ist die Menschheit, d.h. er als Einzelner ist absolut vertretbar und ersetzbar. Jeder andere könnte an seiner Stelle stehen, wie er mit ihm in der Ortlosigkeit exzentrischer Position zu einer Ursprungsgemeinschaft 464 vom Charakter des Wir zusammengeschlossen ist. Die Formung und Äußerung solidarischen Fühlens und Verhaltens, der konkreten Gemeinschaft vorgelagerte Vertretenheit und Ersetztheit jedes Einzelnen durch jeden Anderen in Form des Wir bildet den Hintergrund, von dem sich der Einzelne als Individuum abhebt (SOM 42If.). 465
Das personal organisierte Individuum kann so bei Plessner der Möglichkeit nach an sich selbst die Allgemeinheit verstehen, als deren Besonderung es individuiert ist und die selbst nur in ihren Besonderungen realisiert ist. Individualität der exzentrischen Positionalität ist nur denkbar als dieses oder jenes konkrete Individuum. Ein menschliches Individuum ist eine konkretisierte Möglichkeit personalen Daseins. Auf sozialer Ebene bedeutet das, dass universale Ansprüche formulierbar sind - das dritte ,Grundgesetz' ist als Beschreibung der strukturellen Bedingung des kategorischen Imperativs zu verstehen.466 Weil ich mich auf diesen nicht-eingenommenen Standpunkt eines nicht konkreten Wir stellen kann (also von mir absehen kann), kann ich normative 464
465
466
Die begriffliche Nähe zu John Rawls' Urzustand, von dem her wir Überlegungen zu einem idealen Miteinander formulieren können, lässt sich systematisch ausbauen. Roberto Esposito verweist auf einen analogen Gedanken der „ursprünglichen Gemeinschaft" bei Heidegger: „Die Gemeinschaft ist nicht der telos, auf den sich die Individuen ausrichten, sondern stellt deren eigene Nicht-Verfassung dar, welche sich als einzelne überhaupt nur aufgrund der Pluralität herausstellt" (Esposito 1997, S. 555). Zu Espositos Theorie der Gemeinschaft vgl. Celikates 2008. Mit diesem Ergebnis wende ich mich mit Plessner gegen Lesarten, die in Plessner einen radikalen Relativisten sehen. So etwa Krasnodçbski, der meint, Plessner komme „ohne absolute universale Prinzipien" aus. Er weist nicht aus, in welchem Sinne das zu verstehen ist, und kommt so zu dem - wenig relativistischen und durchaus anfechtbaren - Ergebnis: „durch den Verzicht auf das absolute Fundament und durch seine Toleranz beweist das Europäertum seine Besonderheit und Überlegenheit. Darin sieht Plessner eine Chance auf den Sieg des europäischen Geistes. Nicht universale Vernunft, sondern radikaler Relativismus bringt die Rettung der europäischen Kultur und ihres Vorranges" (Krasnodçbski 1995, S. 224).
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Ansprüche in einer konkreten Realität vertreten. Dass diese Ansprüche wiederum kultureller, politischer und ökonomischer sowie damit umgreifend historischer Prägung unterliegen, ist damit nicht bestritten (wie auch dem Kategorischen Imperativ gemäße Sätze immer nur so-und-so formulierte Sätze sein können). Es geht allein um die Möglichkeit, sich in mich als vertretbaren Einzelnen aller exzentrisch Positionierten versetzen zu können. Mit dem letzten der drei Gesetze fìigt Plessner also eine Bestimmung für die durch die ersten beiden Gesetze bestimmte konkrete menschliche Welt hinzu, durch die das Zugleich von Allgemeinheit und besonderter Einzelheit in meinen Vollzügen hervorscheint und durch die ich diese Welt als eine mögliche Realisierung von Weltlichkeit entdecken kann, so dass Kritik an genau dieser faktischen Welt denkmöglich wird.467 Auf den letzten vier Seiten der Stufen erst spricht Plessner den Zusammenhang der philosophischen Anthropologie mit seiner Sozialphilosophie an.468 Wie bereits erwähnt, versteht er die Ausführungen zur Sphäre des Menschen als Nachweis dafür, dass die Öffentlichkeit (die Gesellschaft) der ,Jtealisierungmodus des Menschen" sei (SOM 423, Fn. 66). Diese These wurde durch die drei Gesetze untermauert, deren erstes sich auf die Angewiesenheit des Menschen auf ein aktives Tun bezieht und nachweist, dass die Tatsachen einer menschlichen Welt Eigengewicht gewinnen. Diese Externalisierungen konstitutieren als kulturelle Systeme eine menschliche Welt. Damit ist sowohl die Politik als auch die Ökonomie als auch ein in unserem alltäglichen Sinne kulturelles Kunstsystem gemeint. Die Welt, in der wir uns bewegen, ist eine gemachte, aber selbständige Welt. Das zweite Gesetz formulierte das Tun-Müssen als Sich-ausdrücken-Müssen. Der das Selbst und seine aktuellen Intentionen objektivierende Ausdruck aber veröffentlicht gewissermaßen das uns nur so zugängliche Immanente - sofern wir uns ausdrücken, sind wir öffentlich vor anderen und auch vor uns selbst. Denn Ausdruck ist nur als Form möglich, und Formen sind für gewöhnlich sozial imprägniert. Nur in Ausnahmesituationen müssen wir neue Formen entdecken, die meisten Situationen halten Formen bereit (z.B. die Alltagssprache), in denen ich mich nicht nur bewegen kann, sondern zumeist auch bewegen muss, wenn sich das Intendierte erfüllen soll oder ich negative Sanktionen scheue. Deutlich ist dies bezüglich der Sprache, in der ich mich ausdrücke und auch ausdrücken muss, sofern ich etwas ausdrücken, also verstanden werden will. So wird die Aussage Plessners verständlich, dass die Öffentlichkeit der Realisierungsmodus des Menschen sei, insofern der realisierende Ausdruck sich in die Öffentlichkeit hinein und in öffentlichen Formen ereignet und so die konkrete Öffentlichkeit konstituiert. Schließlich wird durch das dritte Gesetz klar, inwiefern das Individuum je über seinen Standpunkt 467
468
Zum Zusammenhang von Plessners Begriff der exzentrischen Positionalität und den Bedingungen der Möglichkeit von Moralität bei dem die Rede von der ,Wir-Form des eigenen Ich' im Zentrum steht, vgl. ausführlich Thyen 2007, insbes. Kap. 1.3.4. Dieser Zusammenhang kann nicht der einer ausformulierten Sozialethik sein, die auch schon für die Lektüre der Grenzen der Gemeinschaft abgelehnt wurde. Damit folge ich durchaus Plessners eigenem Ansatz, wenn er mahnt, „wer von der Anthropologie Anweisungen zum seligen oder auch nur Direktiven für das täglich allzu tägliche Leben erwartet, hat sich in der Adresse geirrt" (Plessner, Selbstdarstellung, S. 324).
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hinaus ist, so dass es den Charakter des Öffentlichen verstehen und sich als eine mögliche Realisierung des Menschlichen in diesen konkreten sozialen Formen begreifen kann. Dabei verschenkt Plessner es an dieser Stelle, auf die Dialektik von Individuum und Gesellschaft einzugehen. Angelegt ist sie so, dass das Individuum sich als konkretes als mit-konstitutiv für eben diese sozialen Formen verstehen kann und diese wiederum als konstitutiv für sein Selbst, seine Selbstvollzüge, seine Vollzüge zu anderen und zur Welt überhaupt. Zugleich begreift es sich und damit unweigerlich auch die Mitwelt als Konkretionen von Individualität bzw. einer „Ursprungsgemeinschaft vom Charakter des Wir" (SOM 422). Das heißt, dass sowohl genau ich als auch genau dieses konkrete Soziale prinzipiell auch anders sein könnten, es durch ihre Geschichte und ihre Form aber nicht sind: „Bewußtsein der Individualität des eigenen Seins und der Welt und Bewußtsein der Kontingenz dieser Gesamtrealität sind notwendig miteinander gegeben und fordern einander" (SOM 423). Mit Blick auf die Bestimmtheit alltäglicher Praxis (Gesellschaft) durch je entwickelte Sinnsysteme im vorangegangenen Kapitel 6 ist es von Bedeutung, dass Plessner auch von der „Grenze der Gesellschaft" an der Ursprungsgemeinschaft spricht. Er nennt sogar das ,,unverlierbare[] Recht der Menschen auf Revolution" (SOM 423), wodurch die Formalismuskritik an der Sachgemeinschaft und das sozialethische Disengagement der Grenzen der Gemeinschaft relativiert werden. Revolution vollziehe sich dabei vom ,,utopische[n] Gedanke[n] von der endgültigen Vernichtbarkeit aller Gesellschaftlichkeit" her (SOM 423). Ich möchte Letzteres erst einmal zurückstellen, denn die Ursprungsgemeinschaft als Menschlichkeit überhaupt ist einerseits der Grund für die Unaufhebbarkeit von Gesellschaft, der Grund dafür, dass Gemeinschaft nie vollkommen Wirklichkeit werden kann, sondern durch ihre Existenz im Individuum stets aufgehoben ist. Andererseits aber ist die Ursprungsgemeinschaft die Grenze der Gesellschaft, „wenn die Formen der Gesellschaftlichkeit ihren eigenen Sinn selbst zunichte machen" (SOM 423).469 D.h. ich kann mich bei Tönnies und auch bei Plessner auf ein Allgemein-Menschliches berufen, das sich in den Praxisformen ausdrücken soll, wenn es das in den entwickelten Formen nicht (mehr) kann.470 Wenn die gegebenen Formen verzerrt sind und keine menschliche Welt (mehr) ermöglichen, dann kann ich mich auf ihre Ermöglichungsbedingungen berufen und die Schaffung einer anderen als Handlungsziel formulieren. Diese wäre wieder nur als Gesellschaft möglich - ja, es „geht Plessner hier allein um eine ihrem Sinn entsprechende gesellschaftliche Ordnung"471 - wenngleich sie als ursprüngliche Gemein469
Darauf deutet auch Gamms Fazit zu Plessners praktischer Philosophie hin: „die transzendental-hermeneutische Explikation des praktischen Sinns der Vernunft birgt einen kriterialen Bedeutungskern, der, wenngleich negativ, fordert, ein kritisches Verhältnis zu den kulturellen und wissenschaftlichen Interpretationsmustern zu entwickeln, die gegen das soziale Institut des Versprechens ermöglichende Medien verstoßen" (Gamm 2005, S. 215).
470
In diesem Sinne meint Erik Zyber, dass „der Bedeutungsunterschied zwischen ex-zentrisch und utopisch vernachlässigt werden kann" und dass daher Plessners und Ernst Blochs Utopiebegriffe einander ähnelten (vgl. Zyber 2007, S. 142). Zur Utopie bei Plessner vgl. auch Schneidereit 2006b.
471
Ehrl 2004, S. 114.
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KRITISCHE SOZIALPHILOSOPHIE - H E L M U T H PLESSNER
schaft einander bejahender Einzelner gewünscht sein kann und vielleicht sogar muss, wenn die revolutionäre Wucht entstehen soll, die die Eigendynamik der entwickelten Öffentlichkeit zu ändern vermag.472 Plessner formuliert in diesem Sinne bloß negativ {der utopische Gedanke der Vernichtbarkeit alles Gesellschaftlichen ...), was tatsächlich Ermöglichungsbedingung gemeinsamer Handlung ist, die bewusst von bestehenden Geltungssystemen abweicht. Es ist der sich auf ein allgemeines Wir berufende universale Anspruch, der Maxime einer solchen Handlung ist. Hier nun wird der Status des Allgemeinen - in den Grenzen der Gemeinschaft noch undeutlich - erkennbar als normativer Bezugspunkt emanzipatorischen Handelns gegen ,unmenschliche' Verhältnisse. Das sind solche Verhältnisse, die von den Einzelnen ein Verhalten fordern, das durch diese drei Gesetze nur als defizienter Modus menschlicher Weltverhältnisse beschrieben werden kann.473 So wären z.B. soziale Räume, in denen Kritik verboten ist, durch diese Gesetze nur negativ fassbar. Auch das Drängen auf die Unmittelbarkeit sozialer Beziehungen in Gemeinschaften entspräche nicht den Strukturen menschlicher Verhältnisse. Und auch das Leugnen der Möglichkeit allgemeiner Maßstäbe für mitweltliches Miteinander kann als defizient aufgefasst werden. Das Ineinander von Notwendigkeit des Da-Seins im Ausdruck und Kontingenz des So-Seins sowie das von Aktualität und Potenzialität ermöglichen den Bruch mit dem Gewordenen. Die Vollzüge weisen stete Gebrochenheit auf, so dass die Kontingenz je aktualisiert wird und als Möglichkeit des Durchbrechens entdeckt werden kann. Ich kann mich entscheiden, das Gegebene nicht weiter zu aktualisieren, seine eigendynamische Reproduktion zu unterbrechen.474 Plessners Hinweis auf die Eigendynamik der kulturellen Sinnsysteme zeigt dabei die Schwierigkeit der Revolte an. Wenngleich durch die Ausdrücklichkeit unserer Vollzüge die Performanz dieser Systeme beständig abgelenkt wird, bleiben sie doch relativ fest. Verstärkt wird dies durch Institutionen von Macht und Herrschaft einerseits, durch ideologische Naturalisierungen andererseits. Dennoch kann mit Plessners Sozialphilosophie die Bedingung der Möglichkeit einer kritischen Position als systematisch notwendiges Element ausgewiesen werden. Das Soziale ist nur, indem es beständig anders wird und darin ist in jedem Moment - bei aller Festigkeit der kulturellen Sinnsysteme (Kultur, Politik, Ökonomie) - die Möglichkeit von Änderung und von Kritik (als Grenze des Gegebenen) zu verorten. Im folgenden letzten Abschnitt soll 472
Plessner selbst hätte diese Lesart vermutlich abgelehnt. Er habe sich gegen die „Politisierung" des ,,Gemeinschaftsgedanken[s]" gewendet, insofern darin die Möglichkeit „unvermittelter Beziehungen von Mensch zu Mensch" vorgestellt werde (vgl. Plessner, Selbstdarstellung, S. 323). In den Begriff der politischen Gemeinschaft aber ist bereits die Vermitteltheit von personalen Individuen eingelassen - er ist anders gar nicht zu denken und beruht gerade auf der (abstrakten) Freiheit und Gleichheit von Personen.
473
In diesem Sinne verstehe ich auch Mitscherlichs These zur „Orientierungsfimktion der Naturphilosophie" Plessners als „alltagsweltlich vermittelte Erkenntnis von der lebendigen Selbstbezüglichkeit [...], die normative Implikationen beinhaltet" (Mitscherlich 2007, S. 252).
474
Daher hat Plessners Betonung des Kontingenzbewusstseins ganz andere Folgen als Niklas Luhmanns Systemtheorie, in der gegenüber der Eigendynamik kontingenter Systeme und dem Mangel an einer umfassenden Ordnungsinstanz nur resignativer Rückzug möglich ist.
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es um die bewusste Gestaltung der sozialen Ordnung auf Grundlage des Sich-Entscheiden-Müssens (Moralität) und der möglichen Formulierung allgemeiner Maßstäbe gehen, deren Woher dennoch kultureller Prägung unterliegt
7.3 Folgerungen: Macht und Politik, Recht und Souveränität Immer wieder betont Plessner die Unumgänglichkeit von Politik für das menschliche Dasein. In Macht und menschliche Natur (1931) meint er rückblickend sogar, dass es das Anliegen von Grenzen der Gemeinschaft gewesen sei, eine „anthropologische Begründung der politisch-diplomatischen Konstante im menschlichen Gesamtverhalten zu geben".475 Mit Politik ist dabei weder eine „professionalisierte Tätigkeitsform" noch ein „ausdifferenziertes Teilsystem der Gesellschaft" gemeint, wie Andreas Hetzel betont und Heiner Bielefeldt kritisiert.476 Mit einem universalen Politikbegriff ließen sich die Grenzen der Gemeinschaft in der Tradition des Kontraktualismus sehen, wenngleich Plessner im Gegensatz zur Vertragstheorie nicht an der Frage nach der Legitimität politischer Herrschaft interessiert ist.477 Die hier folgenden abschließenden Ausführungen zu Plessner dienen weiterführenden (und daher knappen) Überlegungen dazu, welche Konsequenzen die dialektische Sozialphilosophie (Kap. 6.2) in Ergänzung durch eine Transzendentalanthropologie kritischen Zuschnitts für eine politische Philosophie haben können. Plessners These der Unhintergehbarkeit von Politik werde ich entlang der Begriffe Macht, Recht und Souveränität diskutieren. In gewisser Hinsicht gleicht mein folgendes Unternehmen einem Disziplinierungsversuch der Plessnerschen These von der 475
Plessner, Macht und menschliche Natur, S. 143. Zurecht äußert sich Rehberg amüsiert über Plessners Annahme, der Mensch sei „von Natur her auf den diplomatischen Dienst angelegt" (vgl. Rehberg 2002, S. 244), dennoch ist die Rede von der politischen Konstante durchaus ernst zu nehmen und so wird Plessner aus gutem Grund als ein für die politische Philosophie relevanter Autor verstanden. So in den Monographien von Arlt 1996, Bielefeldt 1994, Kramme 1989, N. A. Richter 2005 und in den Artikeln von Fischer 1993, Hitzler 1995, Hetzel 2005, Giammusso 1995, Krasnodçbski 1995. Vgl. auch die von Giammusso und Lessing edierte Sammlung nicht in der Plessner-Gesamtausgabe enthaltener Schriften unter dem Titel Helmuth Plessner. Politik - Anthropologie - Philosophie (Giammusso/Lessing 2001).
476
Vgl. Hetzel 2005, S. 237 und Bielefeldt 1994, S. 96-99. Zu Plessners Politikbegriff vgl. auch Hitzler 1995, der sich für eine plurale Deutung ausspricht. Arlt sieht in Plessners Politikverständnis eine Nähe zu Foucault; bei beiden erweise sich Politik als „ubiquitär" (vgl. Arlt 1996, S. 139, vgl. auch ebd., S. 117). Wie auch Foucaults Theorie der Macht wende sich Plessner konsequent gegen das so genannte Selbstentfremdungstheorem (vgl. ebd., S. 151). Vgl. dazu Plessners Artikel Das Problem der Öffentlichkeit und die Idee der Entfremdung von 1960 sowie Selbstentfremdung, ein anthropologisches Theorem? von 1969, in denen er sich vor allem gegen die eschatologische Dimension des Entfremdungsbegriffes wendet (vgl. Plessner, Selbstentfremdung, S. 292), gegen den er einen „entmythisierten Öffentlichkeitsbegriff' hält, der den „Spielraum der Verantwortung zur Wahrung unserer gesellschaftlichen Freiheit" sichern soll (Plessner, Problem der Öffentlichkeit, S. 225). Vgl. N. A. Richter 2005, S. 98.
477
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KRITISCHE SOZIALPHILOSOPHIE - H E L M U T H PLESSNER
Ubiquität von Politik (als politisch-diplomatische Konstante im menschlichen Dasein), denn Politik ist zwar unhintergehbar, aber sie ist institutionalisiert in Staat und Recht und gründet als solche in Traditionen oder in universalen Werten und ist ihrem Anspruch nach auf das Gemeinwohl bezogen. Die Frage nach der Legitimität von politischer Herrschaft wird - hier weiche ich im Sinne eigener Systematik am deutlichsten von Plessner ab nachgetragen.478 Dabei bin ich mit Plessner um einen sehr weiten Begriff von Politik und Souveränität bemüht. Obgleich Hobbes' staatsphilosophische Überlegungen vorderhand keinen sehr weiten Souveränitätsbegriff bieten, entlehne ich den hier entfalteten Begriff von dort. Der Souveränitätsbegriff gilt hier jedoch nicht nur für politische Verhältnisse im engeren Sinne, sondern für alle sozialen Verhältnisse; auch in sehr kleinräumigen Zusammenhängen kann die Diskussion um künftige Regelung des Miteinanders als politische Auseinandersetzung verstanden werden, die normativ vom Souveränitätsgedanken einer politischen Gemeinschaft geleitet sein sollte.
a) Politik und Macht Bereits in den Grenzen der Gemeinschaft weist Plessner auf die Notwendigkeit von Politik hin, die dort „aus den wertindifferenten Wesenszügen unserer Natur verständlich wird" (GG 128).479 Wenn Plessner in den Grenzen betont, man müsse einen Ausgleich zwischen Norm und Situation schaffen, dann wird die Forderung nach einem Ausgleich zwischen Gewohnheit/Objektivität (Gemeinschaft) und alltäglicher Praxis (Gesellschaft) sichtbar. Das Meistern der Situation an den „Grenzen des täglichen Lebens" (GG 100) bestimmt Plessner als Politik; Politik ist damit ständig und überall. Politik ist immer dort, wo Entscheidungen nicht nach gewohnten Mustern gefällt werden können. In den Stufen hat Plessner ergänzend aufgewiesen, inwiefern wir uns grundsätzlich Sinnsysteme schaffen müssen, uns zugleich faktisch aber je schon in solchen befinden. Institutionalisierte Politik ist ein solches System der Einhegung alltäglicher Politizität. Sie ist zugleich Grenzbestimmung, insofern das alltägliche Miteinander nur in bestimmten Grenzen geregelt werden kann. In Macht und menschliche Natur nimmt Plessner den grundsätzlichen Aspekt der Grenzbestimmung nochmals auf und versteht dort Politizität als notwendige Konsequenz aus der Unüberwindbarkeit der Differenz zwischen dem Vertrauten (Ge-
478
Das Problem mangelnder „Fundierung im Sozialen" (Wallace 2002, S. 347) von Plessners Politikbegriff hat Wallace sehr deutlich herausgearbeitet, der zu folgendem Schluss kommt: „In Plessners Theoriegebäude bleibt das Politische ohne Grundlage, und deshalb ist seine Kritik des sozialen Radikalismus nicht haltbar" (ebd., S. 348). Gegen die Möglichkeit der hier (und bei Wallace durch den Taylorschen Begriff des Patriotismus, vgl. ebd., S. 331, vgl. auch Taylor 1993, S. 111) vorgenommenen ,Disziplinierung' richtet sich u.a. Beaufort, der Gesellschaft und Gemeinschaft bei Plessner als streng getrennte Bereiche versteht und aus dieser Trennung folgert, dass „die Sittlichkeit eines Gemeinwesens " bei Plessner anders als bei Hegel nicht „zur Grundlage menschlichen Handelns" gemacht werde (vgl. Beaufort 2000a, S. 234).
479
Vgl. auch Plessner, Macht und menschliche Natur, S. 142.
PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND KRITISCHE SOZIALPHILOSOPHIE
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meinschaft, Norm) und dem Unvertrauten (Gesellschaft, Situation), in der wir uns stets befinden.480 Wie in den Stufen durch das .Gesetz' der Natürlichen Künstlichkeit weist Plessner in Macht und menschliche Natur mit dem Prinzip der Unergründlichkeit des Menschlichen darauf hin, dass die Weise, in der ich mich oder wir uns verstehen, nicht naturgegeben, sondern gemacht und entwickelt ist. Entdecke ich dies, so kann ich dagegen revoltieren oder daran festhalten. Die Selbst-Verständlichkeit ist dabei der vertraute Kreis des Gewordenen, in dem ich mich auskenne, in dem ich die Dinge kenne. Das Vertraute ist die ,,heimische[] Zone vertrauter Verweisungen und Bedeutungsbezüge". 481 Von den Grenzen dieser Zone her begreife ich mich als diese oder jener, außerhalb der Grenze aber liegt ein Unbestimmtes, dessen Bestimmung nur wiederum die Horizontlinie verschiebt. In recht drastischen Worten differenziert Plessner zwischen vertraut und unvertraut analog zu Freund und Feind, da alles Unvertraute „unbekannt, fremdartig und unnatürlich" sei.482 Insofern ich nun über die Zukunft nichts Gewisses weiß, begegnet mir jede Situation in relativer Ungewissheit. So findet sich die Horizontlinie meines Mich-Verstehens stets im alltäglichen Selbst-Vollzug. So kann alltägliche Praxis in gewisser Weise als gegenwärtiger Vollzug des mir Bekannten in eine bloß relativ prognostizierbare Zukunft hinein verstanden werden (zumeist stellt man natürlich fest, dass die ,Zukunft' sich als nur allzu bekannte Gegenwart ereignet, und das ist fast immer sehr beruhigend). Dagegen ist das Vertraute das Gemeinschaftliche. Die gemeinschaftliche Familiarität zeigt so ihr im englischen,familiar ' noch enthaltenes zweites Bedeutungsmoment des Bekanntseins, des Umgehenkönnens. Das Nebeneinander von Vertrautheit und Fremdheit ist ebenso unüberwindbar wie das zwischen Norm und Situation bzw. Vergangenheit und Zukunft. Hatte Plessner in den ersten Kapiteln der Grenzen noch vom Okkasionalismus gesprochen und wendet sich dagegen, dass das menschliche Leben regelbar sei, so relativiert die Betonung der institutionalisierten Politik den Charakter der Unbestimmtheit des Alltäglichen. Gegen eine Überbetonung des Spielcharakters von Gesellschaft habe ich mich bereits in Kapitel 6.2 ausgesprochen und für ein solches Verständnis der sozialen Unbestimmtheitskategorie plädiert, in dem soziales Miteinander prinzipiell geregelt werden muss, weil es nicht naturgegeben von geteilten Werten oder Überzeugungen geregelt ist. In der Tradition des Kontraktualismus heißt das, dass es kein Gesetz gibt, das unser Miteinander je schon regelt, sondern dass wir uns einigen müssen, ohne uns über die Richtigkeit der gewonnenen 480
Krüger versteht die Gegenüberstellung von „gemeinschaftlich vertrauten und gesellschaftlich unvertrauten Interaktionsformen" als dann produktiv, wenn man sich von dem Dualismus von Gemeinschaft und Gesellschaft verabschiedet habe (vgl. Krüger 2000a, S. 303).
481
Plessner, Macht und menschliche Natur, S. 197. Vgl. ebd., S. 192. Zur Übernahme der Carl Schmittschen Gegenüberstellung von Freund und Feind bei Plessner vgl. Pircher 1995, S. 161-164; Bielefeldt 1994, S. 88-97; N. A. Richter 2005, S. 187191. „Plessner spiritualisiert den Gegensatz von Freund und Feind zu einem Gegensatz von Vertrautheit und Fremdheit", so N. A. Richter (ebd., S. 188), der daraus folgert, dass „die Freund-FeindRelation bei Plessner ungefähr denjenigen formalen Sinn bekommt, den die Unterscheidung von Gemeinschaft und Öffentlichkeit in den Grenzen hatte" (ebd., S. 190).
482
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KRITISCHE SOZIALPHILOSOPHIE - HELMUTH PLESSNER
Einigung sicher sein zu können. Menschliches Miteinander ist nicht von vornherein bestimmt, sondern muss bestimmt werden. Das gilt prinzipiell, denn faktisch ist es immer schon bestimmt durch eine entwickelte Ordnung sowie durch geteilte Gewohnheiten und Überzeugungen. Das auch im ersten der drei Anthropologischen Grundgesetze der Stufen ausgewiesene Regeln-Müssen ist unlösbar mit dem Regeln-Können, mit Macht also verknüpft. Ilja Srubar und Elzbieta Paczkowska-Lagowska weisen darauf hin, dass sich Plessners Machtverständnis bereits aus dem Konzept der exzentrischen Positionalität selbst erschließt, insofern dort betont werde, dass der Mensch sich zu dem machen müsse, was er schon sei.483 Krüger spricht in diesem Zusammenhang von der „Umstellung der Machtfrage"484 bei Plessner, die nicht mehr die „falsche Alternative" biete, „Macht an sich sei gut oder böse".485 Wie der Mensch realisiert ist, das ist als Resultat aller seiner nicht instinkthaft festgelegten Handlungen zu begreifen; das Menschliche ist selbstmächtig, und zugleich ist es sozial strukturiert. Plessner spricht verschiedentlich auch von der „Pflicht zur Macht", die „ihren Ursprung in der gesellschaftlichen Vermitteltheit des menschlichen Daseins besitzt".486 Srubar begreift diese Mächtigkeit nun als das „Vermögen, Unvertrautes ins Vertraute handelnd zu überführen"487, also Gesellschaft in Gemeinschaft, alltägliche Praxis in bekannten (familialen) und/oder objektivierten Mustern zu verstehen. „Macht ist dann der Vollzug dieser ,potestas"'488, Srubar weist auch richtig auf den neutralen Charakter dieses Machtbegriffes hin, der kein Kontrastbegriff zum „Konsensus" sei, sondern Gefahrdung und Möglichkeit des Menschlichen ausdrücke 489 Bei Plessner heißt es in Conditio humana'. Unter dem Zwang, sich der offenen Wirklichkeit zu stellen und ihrer Unvorhersehbarkeit Herr zu werden, ergibt sich überall eine künstliche Horizontverengung, die wie eine Umwelt das Ganze menschlichen Lebens einschließt, aber gerade nicht abschließt. 490 483
Vgl. Srubar 1995, S. 299, Paczkowska-Lagowska 1995, S. 66-71. Paczkowska-Lagowska hebt die doppelte Bedeutung des Machtbegriffes im Sinne einer „Macht über sich selbst" und einer politisch institutionalisierten „Macht über andere" hervor (Paczkowska-Lagowska 1995, S. 73). Auch Dux leitet den Machtbegriff aus Plessners Begriff der exzentrischen Positionalität her, versteht es aber als Konsequenz der Plessnerschen absolutistischen Begründungslogik (vgl. Dux 1994, S. 47f.), dass die „Kategorie der Entscheidung" als einziger Ausweg gesehen werde, w o er doch eigentlich in der Umstellung zu einer Prozesslogik bei Plessner zu finden wäre (vgl. ebd., S. 44). Beaufort meint, Plessner bestimme Geist als „sich transzendierende[] Macht", deren Ausgangspunkt sein Begriff von Geschichte sei (vgl. Beaufort 2000a, S. 219).
484
Krüger 1999, S. 251. Vgl. weiter dazu ebd., S. 25Iff.
485
Ebd., S. 240.
486
Plessner, Selbstdarstellung,
487
Srubar 1995, S. 300.
488
Ebd., S. 300.
489
S. 323.
Ebd., S. 305. Sicherlich liegt es hier nahe, einen Einfluss Nietzsches geltend zu machen. Auch möglich wäre es, Spinozas Machtbegriff in Betracht zu ziehen.
490
Plessner, Conditio humana, S. 189.
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Politik in diesem sehr weiten Sinn ist Ausdruck unserer Selbstmächtigkeit auf ein Wir bezogen. Durch sie wird die bewusste Vermittlung von Gemeinschaft (Vertrautes) und Gesellschaft (Unvertrautes) geleistet, und das gleichermaßen in institutionalisierten und nicht-institutionalisierten sozialen Zusammenhängen. 491 b) Recht und
Souveränität
Politik als die notwendige sowie mögliche Aneignung der Situation durch Handlung verstanden, erfordert nun eine „gültige Ordnung" durch „künstliche Übereinkunft" (GG 96), die als eigendynamisches Sinnsystem etabliert wird. Die Mächtigkeit begründet für Plessner die notwendige Setzung eines Rechts492, also die Überführung ungeregelter Mächtigkeit aller in legitime Herrschaftsverhältnisse - ein klassisch kontraktualistisches Motiv. Bereits bei Tönnies wurde deutlich, dass menschliches Miteinander ohne Rechtsförmigkeit nicht zu denken ist, da auch Sitte oder Tradition nur als prä-rechtsförmige erhalten werden. Für Otfried Höffe folgt in Anlehnung an Hobbes aus der Freiheit des Menschen, verstanden als Mächtigkeit, ein Kampf um Macht, der den Menschen als das Wesen begreifen lässt, „das sich eine Rechtsordnung schafft". 493 Recht liegt bei Plessner ,,[a]uf der imaginären Schnittgeraden von Gemeinschaftskreis und Gesellschaftskreis" (GG 116), also in der Vermittlung von Bekanntem und Unbekanntem, von Gewordenem mit Werdendem, von Norm und Situation. Recht regelt das prinzipiell nicht ineinander Überführbare und ist in seinem Gehalt dabei selbst in „Wandlung begriffene Einheit von Gesetzgebung und Rechtsprechung" (GG 116). Wie ist es also zu verstehen, wenn Plessner einige Seiten weiter meint: „Zwischen dem Gesetz der Öffentlichkeit und der Bereitschaft zur Rückhaltlosigkeit [Gemeinschaftsstreben, NSch] gibt es keine Vermittlung, ist nichts, freilich das positive Nichts, das Nichts der Freiheit [meine Hervorhebung, NSch]" (GG 127)? Recht als Vermittlung zwischen Norm und Situation ist das verwirklichte Dasein dieser Freiheit - wie bei Hegel und diesem folgend auch bei Tönnies so auch bei Plessner. Recht als bewusste Setzung eines einzelnen oder gemeinsamen Willens, die menschliche Welt auf diese oder jene Weise zu regeln, ist Ausdruck der Mächtigkeit des Menschen. Recht verwirklicht die abstrakte Freiheit zwischen Situation und Norm, zwischen Einzelfall und Allgemeinem im Urteil. Recht schützt die bekannten Sphären, indem es die Grenzfälle regelt oder zu regeln versucht. Der lebendige Charakter wird darin deutlich, dass gesatztes Recht nur in der Rechtsprechung wirklich ist, von der her sich die Forderung der Änderung an das Ge491
492 493
So auch Wallace 2002, S. 345, der aber meint, Plessner fehle das begriffliche Instrumentarium, um die Integration zu leisten. Ganz falsch ist dieses Urteil sicher nicht, wie auch die im vorliegenden Kapitel unternommenen Anstrengungen zeigen - ein Begriff des legitimierten Politischen findet sich eher verdeckt bei Plessner. Krüger bringt seine Lesart der Grenzen und von Macht und menschliche Natur im Anschluss an die Stufen in einem Unterkapitel unter dem Titel „Das Problem der Balance zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft durch die Kunst, das Verfahren und die juristische Methode" (Krüger 1999, Kap. 5.6). Vgl. Plessner, Macht und menschliche Natur, S. 199. Höffe 1995, S. 144.
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KRITISCHE SOZIALPHILOSOPHIE - H E L M U T H PLESSNER
setz ergeben kann. Politische Öffentlichkeit, um als solche da zu sein, begrenzt sich also ebenso, wie die Person sich als Individuum begrenzen muss, um wirklich zu sein. Nicht nur das Aneinanderreihen von Situationen gibt ein menschliches Miteinander als relativ festes und verlässliches Gefüge, sondern dessen bewusste Regelung, die wiederum nur insofern wirklich ist, als sie sich in Handlungen zeigt. Hier begegnet eine klassische Figur der politischen Philosophie wieder: Weil der Mensch frei ist (negative Freiheit), muss er sich im sozialen Miteinander in seiner Freiheit einschränken, um als freier Mensch existieren zu können (wirkliche Freiheit). Entgegen dem Vorwurf des Atomismus an dieses Grundmotiv des Kontraktualismus ist der ,wirklich' freie Mensch hier gar nicht anders als sozial zu begreifen - denn wir befinden uns immer schon in einer geteilten sozialen Welt, über deren Gestaltung wir uns von dieser ursprünglichen negativen Freiheit her Gedanken machen können. Welchen Prinzipien folgt nun die politische Gestaltung? Die Öffentlichkeit ist nicht nur bestimmt durch das Gefüge von Rollenfunktionen, ökonomischen und ideologischen Verhältnissen, sondern sie ist in starkem Maße auch politisch institutionalisiert. Die politische Bestimmung des sozialen Miteinanders ist von bewusst-strategischem Charakter gegenüber anderen möglichen Weisen der Bestimmtheit. Politische Ordnung ist ihrer Idee nach dem Gemeinwohl aller in der Ordnung befassten Individuen verpflichtet und sollte sich daher nicht von dieser oder jener Meinung bestimmen lassen. Auch müssen politische Akteure sich des Einflusses bewusst sein, der von Rollengefüge, Ökonomie und Ideologie sowie deren untereinander erzeugten Effekten auf sie ausgeht. Hegel und Tönnies fordern, dass die Setzung von Recht bewusst erfolge, so dass nicht einfach die irgendwie entwickelte Sittlichkeit eines Volkes oder die naturwüchsig (Marx) entstandene kapitalistische Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft in gesatztes Recht überfuhrt werde, sondern dass das Recht den (freien) Willen aller umfasse. Ein solcher normativer Rechtsbegriff begegnet bei Plessner nicht. Ich will mich im Folgenden mit der Frage auseinander setzen, ob ein gemeinwohlbezogener Rechtsbegriff bei Plessner integrierbar ist. Ansatzpunkt ist hier der Plessnersche Souveränitätsbegriff.494 Die These ist, dass Politik dasjenige eigendynamische Sinnsystem ist, das zu einem gewissen Maße bewusster Regulierung zugänglich ist und von dort auf wieder andere Sinnsysteme wirken kann. „Voraussetzung des Rechts ist die Souveränität, das Prinzip, wonach sich der Staat selbst trägt, worin er sich begrenzt, wodurch er besteht" (GG 116), so Plessner. Souveränität ist sowohl Ermöglichungs- als auch Geltungsgrund des Rechts, das den Vollzug des Menschlichen als freien Vollzug gestaltet - eine Vollzugsgewalt regelt den Vollzug. Der Plessnersche Souveränitätsbegriff ist zunächst staatstheoretisch eingeführt, er lässt 494
Lethen und Fischer weisen darauf hin, dass der Plessnersche Repräsentationsgedanke an den Repräsentationalismus des 17. Jahrhunderts gemahnt, in diesem Sinne ist die Entfaltung des Plessnerschen Souveränitätsbegriffs in Anlehnung an Hobbes für eine Sozialphilosophie nach Plessner nicht verfehlt (vgl. Lethen 1994, S. 71-75, 2002, S. 53, Fischer 2002, S. 73). Im Folgenden berufe ich mich auf Hobbes als Begründer des neuzeitlichen Kontraktualismus. Dass der Kontraktualismus den „Fokus auf verantwortliche Zurechenbarkeit" lege, meint Krüger, macht ihn für Plessners philosophische Anthropologie anschlussfahig, die von einer „tatsächlich für alle geschichtlich offenen Lage" ausgehe (Krüger 2001a, S. 937).
P H I L O S O P H I S C H E A N T H R O P O L O G I E U N D KRITISCHE SOZIALPHILOSOPHIE
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sich m.E. aber ebenso weit wie der Politikbegriff verstehen: Souveränität wäre damit der Möglichkeit nach leitende Vorstellung jedes sozialen Verhältnisses. Die Schwierigkeit einer souveränitätstheoretischen Lektüre der Grenzen der Gemeinschaft ist, dass Plessner seine Theorie der Souveränität nicht von seinem Rechtsbegriff her gestaltet. Er führt stattdessen eine Figur des Souveräns ein, die Setzung und Vollzug der Ordnung vollkommen kontingent macht: Denn durch die Übertragung der Vollzugsgewalt an ein Gremium von Personen und schließlich an nur eine Person, die als realer Mensch nach individuellem Ermessen entscheiden soll, steigert sich der Zufälligkeitsgrad aller Umstände ins Unendliche (GG 119).
Es steht nun infrage, ob dieser Souveränitätsbegriff notwendig aus dem Bisherigen folgt, ob wirklich nur ein „absoluter Herrscher" denkbar ist, der das „Zentrum der Initiative" ausmacht (vgl. GG 120). Und ob dieser Herrscher ,nach individuellem Ermessen' entscheiden muss oder ob er es vielleicht seinem Begriff nach gar nicht darf. In diesem Zusammenhang ist ein Rekurs auf Hobbes' Souveränitätsbegriff sinnvoll. Begründet ist der Willkürherrscher bei Plessner durch die zuvor aufgewiesenen Grenzen von Familiarität und Objektivität: Ein politischer Herrscher könne und dürfe sich in seinem Handeln weder auf persönliche Vorlieben noch auf Traditionen noch auf Überzeugungen stützen, und am Ende sei „Kopf oder Schrift darüber zu spielen, wie es sein soll" (GG 118). Gemeinschaftsmoral dürfe nicht mit Politik verwechselt werden. Der Souverän dürfe nur strategisch handeln, begrenzt werde er nur durch „Selbstbindung an göttlichen Auftrag" (GG 124). Obwohl Plessner die Forderung an den Herrscher stellt, er müsse zwischen Amt und Person streng unterscheiden, ist er der Ansicht, die Zufälligkeit nehme mit Einsetzung dieser Person zu. Von diesen Ausführungen her wird durchaus verständlich, dass Plessner verschiedentlich für dezisionistische Lesarten vereinnahmt wurde495, deren Berechtigung er selbst 495
An erster Stelle ist die weithin beachtete (und heftiger Kritik ausgesetzte) Dissertation Rüdiger Krammes zu nennen, in der die These einer Komplementarität von Schmitt und Plessner entwickelt wird (Kramme 1989). Auch bei Pietrowicz, Hetzel oder Lethen finden sich derlei Anklänge (Pietrowicz 1992, z.B. S. 226ff., Hetzel 2005, Lethen 1994, S. 120-127). Pietrowicz liest bei Plessner eine inexplizit an Webers Herrschaftstheorie orientierte „grundlegende Kritik am Parlamentarismus der Weimarer Republik" (vgl. Pietrowicz 1992, S. 214ff.). Differenzierter dazu J.-W. Müller, der Plessner nicht in direkter Linie zu Schmitt sieht, aber eine Tendenz des Plessnerschen Liberalismus (vor allem seiner Kritik an der Sachgemeinschaft) zum Autoritarismus ausmacht (vgl. J.-W. Müller 2002). Die Kritik an der Komplementaritätsthese ist so umfangreich, dass ich hier nur exemplarisch diejenigen nenne, die sich direkt auf die Frage eines Schmittschen Plessners beziehen: Honneth 2002, Pircher 1995, N. A. Richter 2005, Bielefeldt 1994. Einen Überblick zur ,Plessner-Kontroverse' bietet Krüger 1996a. Weiterhin legt N. A. Richter einen Literaturbericht vor, der sich ausschließlich mit Literatur zu den Theoriebeziehungen zwischen Schmitt und Plessner befasst (vgl. N. A. Richter 2001 ). Die Ablehnung der theoretischen Übereinstimmung verleitet eine Reihe von Lesarten dazu, den souveränitätstheoretischen Gehalt im Ganzen zu verabschieden oder zu vernachlässigen, so z.B. N. A. Richter 2005, S. 187-191. Nauta vertritt die These, dass Plessner die Affinität zu Schmitt im Exil aufgibt und sich demokratischer gibt (Nauta 2005). Manfred Lauermann behandelt in seinem polemischen Artikel nicht nur das Verhältnis Plessner - Schmitt, sondern gleich auch noch
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KRITISCHE SOZIALPHILOSOPHIE - H E L M U T H PLESSNER
später zugibt.496 Wenn für ihn die Ordnung des Vollzugs des sozialen Miteinanders am Ende einfach Ergebnis einer irgendgearteten Entscheidung ist und diese durch die einfache Tatsache legitimiert wird, dass entschieden werden muss, dann ließe er sich als Dezisionist verstehen. Eine solche Lesart wird dann unmöglich, wenn man den sozialen Raum, wie nachgewiesen, als immer schon bestimmt begreift. Der Raum, in dem sich das Menschliche realisiert, ist immer schon bestimmt; dass er es nicht von Natur aus ist, sondern dass er bestimmt werden muss, macht ihn faktisch nicht weniger bestimmt. So gibt es aber ein viel geringeres Maß an Situationen, die ,nach Kopf oder Schrift entschieden' werden müssen. Politische Ordnung ist das Medium, durch das eine solche Willkürlichkeit zudem bewusst eingeschränkt wird.497 Es gibt aber noch einen weiteren Grund, weshalb die dezisionistische Lesart fehlgeht, und dieser liegt im Begriff der Souveränität selbst. Die folgenden Überlegungen bewegen sich außerhalb des Plessnerschen Textes und greifen einen bereits im ersten Teil der Arbeit entwickelten Begriff von Souveränität systematisch wieder auf. Bereits der Hobbessche Souveränitätsbegriff verbietet ein dezisionistisches Verständnis, wie ich schon dort angedeutet habe. Der Souverän ist bei Hobbes eine künstliche Person. ,Person' ist dabei als derjenige definiert, „dessen Worte oder Handlungen entweder als seine eigenen angesehen werden, oder als solche, die die Worte oder Handlungen eines anderen Menschen oder Dinges vertreten, denen man sie tatsächlich oder durch Fiktion zuschreibt".498 Nun werde eine „Menge von Menschen zu einer Person gemacht, wenn sie von einem Menschen oder einer Person vertreten wird und sofern dies mit der besonderen Zustimmung eines jeden einzelnen dieser Menge geschieht".499 Dabei gebe aber nicht die Menge selbst, sondern der Vertreter die Einheit der Menge, von der nur ein jeder zustimmt, vertreten zu werden. Durch den Gesellschaftsvertrag, der die fiktive Übertragung meiner Handlungsmächtigkeit an eine mächtigere Instanz ist, entsteht die einheitliche Person des Gemeinwesens, die durch den Souverän vertreten wird: „Es ist eine wirkliche Einheit aller in ein und derselben Person, die durch Vertrag eines jeden mit einem jeden zustande kam, als hätte jeder zu jedem gesagt [...] [meine Hervorhebung, NSch]."500 Die Person des Souveräns ist nun eine solche, die die Worte und Handlungen aller der Menschen vertritt, die Mitglieder eines Gemeinwesens sind. Tatsächlichkeit und Fiktion haben hier ein kompliziertes Verhältnis; fiktiv sind die Menschen dann vertre-
496
497 498 499 500
die Verbindung zur Theorie von Gemeinschaft/Gesellschaft (Lauermann 1995). Eine differenzierte und unparteiische Haltung bietet Makropoulos in seinem Artikel zum Wiedererstarken des Souveränitätsgedankens in den 1920er Jahren bei Schmitt, Kracauer, Lukács, Walter Benjamin und Robert Musil. Nicht direkt auf Plessner bezogen zeichnet der Artikel nach, inwiefern das zeittypische Kontingenzempfinden „zu absoluter Kontingenz radikalisiert wurde" (Makropoulos 1994, S. 203). Die „gefährliche Schlagseite zum Macchiavellismus", die bereits Wust aufgefallen war (vgl. Wust, Rezension von ,Grenzen der Gemeinschaft', S. 372), sei dem polemischen Charakter der Grenzen geschuldet, meint Plessner 1955 (vgl. Plessner, Nachwort zu Ferdinand Tönnies, S. 342). Vgl. zu dieser Lesart auch Srubar 1995. Hobbes, Leviathan, S. 123. Ebd., S. 125. Ebd., S. 134.
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ten, wenn sie sich nicht als Bürger eines Gemeinwesens begreifen; tatsächlich sind sie vertreten, wenn sie sich als Bürger verstehen. Wenn nun die Worte und Handlungen der künstlichen Person, die Souverän ist, die Intentionen der Bürger wirklich vertreten, dann sind die wirklichen Personen (Bürger) die Autoren dieser Worte und Handlungen. 501 Als Autor kann ich mich aber nur dann begreifen, wenn ich die Handlungen des Vertreters als von mir als Bürgerin autorisiert ansehe. Was bei Plessner also nur Verantwortung des Souveräns für die Bürger genannt wird (vgl. GG 118), das ist tatsächlich im Begriff des Souveräns viel mehr: Souveräner Vertreter ist nur, wer die Menschen ihrem eigenen Willen als Bürger gemäß voreinander und vor dritten zu schützen weiß. Ein Souverän, der diesen Zweck (Erhaltung des Gemeinwohls) nicht erfüllt, darf gestürzt werden; er ist kein souveräner Herrscher mehr. Hobbes' Betonung, dass der Souverän den Untertanen nicht in allen seinen Vollzügen Rechenschaft schuldig sei, hat vermutlich dazu geführt, dass sein Souverän als absolutistischer Herrscher aufgefasst wurde, der seinen Privatwillen einem ihm untergebenen Gemeinwesen aufdrückt. Tatsächlich entsteht das Problem zu bestimmen, was genau für den Fortbestand des Gemeinwesens das Richtige ist und auf welche Weise es umgesetzt werden kann, so dass der Schutz des Individuums bei Hobbes prekär wird.502 Dezisionistische Beliebigkeit ist dabei aber eindeutig nicht möglich, da es Aufgabe des Souveräns ist, das vertretene Gemeinwesen zu schützen. Mit Hegel und Tönnies konnte im ersten Teil der Arbeit deutlich werden: Souverän kann dem Begriff nach nur sein, wer die Interessen der Regierten als Regierte (nicht als Privatpersonen!) vertritt. So ist die Kontingenz durch einen von Plessner eingeforderten Beherrscher der Situation auf sozialer Ebene und auch die „Aporie von Privatmoral und Staatsmoral" bereits auf begrifflicher Ebene negiert.503 Gesetze, die das soziale Miteinander regeln, sind notwendig verschränkt mit gemeinschaftlichen Zusammenhängen. Ein Gesetz hat einen Inhalt, der sich zumeist vom bisher Gewordenen her bestimmt oder aber entgegen dem Gewordenen eine Neuordnung erzwingt. In beiden Fällen geht das Vertraute, das Werthafte in das Gesetz ein. Recht kann einerseits aus Gewohnheitsrecht entstehen und so den Einfluss gemeinschaftlicher Tradition auf das alltägliche Miteinander aufzeigen (Familiarität). Andererseits aber kann das Recht auch gerade gegen bestimmte Gewohnheiten gesetzt werden und hat so eher überzeugungsgemeinschaftlichen Charakter (Objektivität). 501
Vgl. ebd., S. 123.
502
Dieses Problem lässt sich übrigens nicht so einfach mit Lösung der Verbindung von Gesellschaftsund Herrschaftsvertrags in Rousseaus Begriff der Volkssouveränität beseitigen: Zwar soll bei Rousseau die volonté générale herrschen, aber nur wer frei zur Selbstherrschaft ist, kann an dieser partizipieren; die anderen erleiden wie auch bei Hobbes eine nicht bewusst gewählte Herrschaft ,zu ihrem Besten'.
503
Plessner, Selbstdarstellung, S. 322. Und es wäre darüber hinaus zynisch, sich der Unbegründbarkeit des Politischen zu bedienen. So Rancière: „die Befriedigung, die Sackgassen und Torheiten der Gemeinschaft hinter sich gelassen zu haben, [läuft] ihrerseits Gefahr, nur das bloße Vergessen der egalitären Außergewöhnlichkeit zu bezeichnen" (Rancière 2002, S. 127), die er als „regulative Idee" (ebd., S, 124) für eine emanzipatorische Politik, nie aber als eine institutionalisierte Erscheinung begreift (vgl. auch Fn. 235 in dieser Arbeit).
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KRITISCHE SOZIALPHILOSOPHIE - H E L M U T H PLESSNER
Der außerhalb des Gesetzes als dessen Geltungsgrundlage stehende Souverän (das prinzipielle Zustimmen zur Einheit des infrage stehenden Sozialzusammenhanges) ist als Konkretion des mitweltlichen Wir aufzufassen, das Plessner erst in den Stufen entwickelt. Dass ich mich als Mitglied eines Gemeinwesens begreife504, resultiert aus der Sozialität meiner exzentrischen Positionalität. So wie ich mich als Person auf bestimmte Weise ausdrücke (Rolle, Individualität), so drückt der Souverän die konkrete Einheit eines in der Welt konkretisierten Wir aus, das zur Bedingung ein prinzipielles ,Wir' des menschlich Strukturiert-Seins hat. Der Souverän repräsentiert dieses konkrete Wir, das in diesem Ausdruck ebenso wenig aufgeht wie das individuelle Ich in seinen Ausdrücken. Der Souverän als Geltungsgrund ist zunächst nichts als der selbstbewusste Zusammenschluss zu einem ,Wir' in einem Gemeinwesen. Der Souveränitätsbegriff ist bei Plessner daher kein rein staatstheoretischer Begriff mehr, sondern muss fur soziale Zusammenhänge jeder Größe gelten können. Sofern die Mitglieder dieses Zusammenhangs sich auf ihn besinnen, wird Souveränität zugleich zu einem normativen Authentizitätsbegriff - wie authentisch drückt der Souverän den ,wahren' (nicht: den ,bloßen') Gemeinwillen aus? Recht beruht zwar auf Souveränität, aber diese hat als konkrete Herrschaft wiederum ihre Legitimation nur von der Überzeugung von ihrer Rechtmäßigkeit und von ihrem Ausdruck in Gesetzen her, die sich sinnvoll auf das gewordene Gemeinwesen beziehen müssen.505 Bei Hobbes wie auch bei Tönnies ist die Legitimation von Herrschaft dann nicht mehr gegeben, wenn der Souverän nicht mehr durch den Willen des Gemeinwesens autorisiert ist. Auch bei Hegel kann sich der Bürger eines Staates darauf berufen, dass er als Bürger nicht im Allgemeinwillen des Staates repräsentiert sei, es aber im Sinne des normativen Staatsbegrififes sein müsste (vgl. Kap. 3.3 in dieser Arbeit). Durch die Einführung eines differenzierteren Geistbegriffes sowie durch die Formulierung des dritten , Anthropologischen Grundgesetzes' in den Stufen des Organischen ist auch bei Plessner ein solcher Begriff von Souveränität profilierbar: „So gibt es ein unverlierbares Recht der Menschen auf Revolution, wenn die Formen der Gesellschaftlichkeit ihren eigenen Sinn selbst zunichte machen" (SOM 423), heißt es in den Stufen - ein Satz, der so in den Grenzen der Gemeinschaft nicht steht. Die Revolution gegen genau diese entwickelte Sozialformation legitimiert sich von der „Ursprungsgemeinschaft vom Charakter des Wir" (SOM 423) her.506 Zugleich hat die Vorstellung möglicher Gemeinschaftlichkeit, die sich in dieser 504
505
506
Ich gehe davon aus, dass dies bei Plessner angelegt ist, obgleich er keinen Begriff des Bürgers (citoyen) im eigentlichen Sinne ausweist. Zu dieser Kritik vgl. Bielefeldt 1994, S. 97. Stärker noch hebt Wallace auf das Desiderat einer „staatsbürgerlich-humanistischen Form von Gemeinschaft" bei Plessner ab (vgl. Wallace 2002, S. 323). So formuliert Vogl die Forderung, dass ein „Denken des Politischen" trotz der immer wieder begegnenden Verdichtung des Gemeinschaftlichen zum Völkischen am Gemeinschaftsbegriff festhalten müsse (vgl. Vogl 1994, S. 10). Ebenso und weitreichender Jean-Luc Nancy: .„Politik' muß das bezeichnen, was am ,Gemeinschaftlichen' im Interesse jedes einzelnen Daseins ist", und dies ist „notwendig das Allgemeinste" (Nancy 1994, S. 192). So erfährt die entwickelte Sozialform auch bei Rawls vom Urzustand her ihre legitime Veränderung.
PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND KRITISCHE SOZIALPHILOSOPHIE
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Revolte ausdrückt, ihre Grenze wiederum an dem Medium, in dem sie sich realisiert - an der alltäglichen Öffentlichkeit. Die prinzipielle Ur-Gemeinschaftlichkeit hat ihre Grenzen eben an der Realisierung des Menschlichen im Ausdruck; hier in Sprache und Recht. Allein, es ist an die Politik die Forderung gestellt, dass sie die alltägliche Öffentlichkeit mit dem Ideal einer politischen Gemeinschaft (Gemeinwesen) und dem gewordenen Gemeinschaftlichen (Familiarität) vermittle. Die Ursprungsgemeinschaft ist damit als der rein abstrakte theoretische Ort kenntlich, von dem her ich mich auf ein ,Wir' beziehen kann und von dem her ich Kritik an einer bestimmten Organisation des entwickelten Sozialen üben bzw. die Aufhebung seiner Grenzen zu einer ,Weltgemeinschaft' fordern kann. Auf ganz ähnliche Weise hatte Tönnies den Bezug auf das für sich genommen rein abstrakte Allgemein-Menschliche selbst hervorgehoben: Freiheit und Gleichheit, die so nie erscheinen, aber Grundlage politischer Forderung von Partizipation an der Gestaltung des Gemeinwesens sind. Konkrete Forderungen von universalem Charakter kann ich dabei nur als ein Ideal formulieren, das so-und-so-bestimmte Inhalte hat, von denen ich überzeugt bin. Hier hat nun das Allgemeine seinen Ort, der von den Grenzen der Gemeinschaft her tatsächlich fraglich war.507 Mit Hegel ließe sich sagen, dass das Abstrakt-Allgemeine der Sachgemeinschaft, gegen das sich Plessner in den Grenzen gewendet hatte, erst ein wirklich Allgemeines ist, wenn es als besondert im Einzelindividuum verwirklicht ist. Sprache gibt es als gesprochene, Recht als geltendes, gesprochenes508, freie und gleiche Individuen gäbe es in einer ,echten' politischen Gemeinschaft. Die Wirklichkeit des Allgemeinen gibt bei Hegel die Sphäre der Objektivität (des objektiven Geistes), in der ich meine Vollzüge als Konkretisierungen eines Allgemeinen begreife, Ausdruck nicht nur meiner Selbst, sondern zugleich eines Allgemeinen bin. So können objektive Überzeugungen (Sachgemeinschaft) normativ auf die konkreten Sozialformationen wirken, ohne dass diese Wirkung immer nur negativ-abstrakt gegenüber der alltäglichen Praxis wäre, wie Plessner es in seiner Kritik an der Sachgemeinschaft andeutet. Im Gegenteil ist die Sachgemeinschaft der Ort, von dem wir auch alltäglich überzeugungsmäßig auf unsere Welt einwirken.509 Sicherlich, unsere Überzeugungen sind keine ,reinen Werte', sondern entstammen lebensweltlicher Prägung aus tradierter Ordnung sowie aus unseren Erfahrungen. Und ebenso sicher ist, dass die Änderung der jetzt gegebenen Verhältnisse 507
Daher kann es auch nur für die Grenzen
gelten, dass „das religiöse Unendlichkeitsstreben, welches
den Radikalismus der Gemeinschaft beseelt, mit der Herabwürdigung des Politischen einhergeht", der Plessner in den 1920er Jahren habe entgegen wirken wollen (N. A. Richter 2005, S. 172). Tatsächlich ist es zwar keine Herabwürdigung aber eine Bankrotterklärung der Politik, wenn sie ihren Bezug auf die konkrete Allgemeinheit der in ihr Vertretenen sowie ein Hinaus-Wollen über die gegebene Situation vergisst - in diesem Sinne muss die Sachgemeinschaft ebenso wie die Vertrautheit gelebter Gemeinschaften immer Integral der politischen Ordnung sozialer Zusammenhänge sein. 508
Höffe versteht Recht als im Urteil verwirklichte „universale Sprache der Vergesellschaftung" (Höffe
509
So später auch Plessner, wenn er affirmativ vom „Objektivitätsanspruch[] rechtlicher und sittli-
1995, S. 144). cher Normen" spricht, die nicht mit „faktischen Normierungen durch die staatliche Gesetzgebung" gleichgesetzt werden dürften (vgl. Plessner, Bedeutung
des Normativen,
S. 193).
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KRITISCHE SOZIALPHILOSOPHIE - H E L M U T H PLESSNER
niemals als feste Ordnung zu fixieren sein wird, weil Politik als Handeln-Müssen, als Entscheiden-Müssen unhintergehbar ist, weil die Welt stets unbekannt sein kann. Dennoch folgt aus dieser prinzipiellen Nicht-Festgestelltheit der sozialen Ordnung nicht deren Naturgegebenheit, sondern es folgt, dass man aus Überzeugung auf die entwickelte Ordnung einwirken kann auf eine andere hin.510 Plessners Einsatz gegen eine letztgültige Regulierbarkeit sozialer Verhältnisse wird so sichtbar als Totalitarismuskritik, nicht aber als politischer Dezisionismus oder Zynismus. *
*
*
Politik als institutionalisiertes, eigendynamisches Sinnsystem ist Kontingenzbewältigung, die selbst nicht vollkommen kontingent - bestimmt durch Kairos und Fortuna - geschieht, sondern die in bewusst gesetzten Ordnungssystemen erfolgt. Ohne jede Regelhaftigkeit, sei sie unbewusst oder bewusst, ist menschliches Miteinander gar nicht möglich - wir würden von Situation zu Situation stürzen. Wir müssen eine Ordnung schaffen oder sie vom Gewordenen her nehmen. Die Setzung des Regelsystems und der Regeln entstammen dabei, so zeigte es sich, dem Raum des vertrauten Gemeinschaftlichen. Dass Politik dennoch gemacht werden muss und keine Situation letztgültig vorherbestimmt ist, versteht sich. Doch ist keine Situation vollkommen unbestimmt, sondern es gehen eine Reihe von Bestimmungen in sie ein, so dass ihre Entwicklung in eine bestimmte Richtung wahrscheinlich ist. Politische Ordnung ist nun der Versuch, bewusst zu bestimmen, wie und in welchem Geist Situationen entschieden werden sollen. Die situative Eigendynamik - Plessners Okkasionalismus, dessen Tendenz zum Dezisionismus vor allem Jan-Werner Müller hervorhebt511 - ist also eingedämmt und stets aufhebbar. Politik hat in Staatsverfassung und Recht ein Regelwerk, das die Last der Verantwortung von den Schultern der natürlichen Person oder der Gruppe von Personen nimmt, die den Souverän verkörpern.512 Denn diese Person und diese Personen dürfen gar nicht nach ihrer privaten Überzeugung handeln, sondern nur im Sinne eines Allgemeinwillens. Wenn dies nicht geschieht, dann besteht im eigentlichen Wortsinne keine Souveränität. Der Geist, in dem die bewusste Regulierung geschehen soll, ist gemäß dem Souveränitätsbegriff die Formung zu einer echten Allgemeinheit, in der jeder als Individuum bewusst Teil ist. Dieses Ideal einer politischen Gemeinschaft ist dabei gerade keine totalitaristische Vision, sondern die Einforderung einer Politik, die jeden im Gemeinwesen 510
511 512
Srubar weist im Zusammenhang mit Plessners Machtbegriff auf diesen Aspekt hin: „Die Macht hat nicht nur ordnungssetzenden Charakter, sondern eröffnet - streng dialektisch - im Vollzug der Ordnungssetzung die Möglichkeit der Aufhebung von Ordnungen" (Srubar 1995, S. 305). Vgl. J.-W. Müller 2002, S. 149. Vgl. dazu auch Giammusso, der Plessners politisch-philosophische Position als den Versuch einer Vermittlung von „Klugheit und Menschlichkeit" begreift, diesen aber als gescheitert ansieht. Plessner überhöhe die Persönlichkeit des Souveräns, weil er dazu neige, „den Politiker völlig zu autonomisieren" (vgl. Giammusso 1995, S. 102). Affirmativ zu diesem Aspekt bei Plessner vgl. Bielefelds der aber auf die „Forderung nach Universalisierbarkeit" gegenüber „bloß zufalligefr] Situativität" im Politischen hinweist (vgl. Bielefeldt 1994, S. 156).
RESÜMEE - KRITISCHE SOZIALPHILOSOPHIE NACH PLESSNER UND TÖNNIES
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einschließt, weil sie sich nur von jedem Einzelnen her legitimiert. Freilich fangen hier die Probleme konkreter Ausgestaltung von Politik gerade erst an, denn wie wird wahre Allgemeinheit (Gemeinwohl) und nicht bloße Allgemeinheit der Meinung der Meisten erreicht? Hier könnte einerseits eine Theorie der Integration durch Bildung oder eine demokratische Theorie kleinräumiger Zwischenstufen politischer Großentscheidungen einsetzen.513 Andererseits darf aber nicht über ein noch davor liegendes Problem hinweggegangen werden, auf das ich in meiner Arbeit nicht eingehen konnte: Wer gehört überhaupt zu der Gruppe derer, deren Miteinander politisch im Sinne aller geregelt werden muss? Hier könnte ein Modell (politischer) Teilhabe einsetzen, das weit vor der Frage nach Teilhabe an der Gestaltung von Staaten ansetzt.514 Für den hier entworfenen weiten Begriff des Politischen und der normativen Vorstellung von Souveränität entstehen ähnliche Probleme die Frage der Mitgliedschaft betreffend, die jedoch komplizierter werden, je privativer die infrage stehende Gruppe organisiert ist. Diese Probleme harren ihrer Bearbeitung in einer anderen Arbeit. Für die vorliegende lassen sich mit Tönnies und Plessner im Anschluss an Hegel Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Gestaltung politischer Gemeinschaften durch die Verschränkung alltäglicher Praxis mit den Sphären des Famiiiaren und des Objektiven aufzeigen sowie eine Idee politischer Gemeinschaft denken, deren Verwirklichung praxisleitend sein sollte.
8. Resümee - Kritische Sozialphilosophie nach Plessner und Tönnies Auf den folgenden Seiten will ich versuchen, den Blick von Plessner zurück zum Anfang der Arbeit zu lenken. Dabei werde ich vornehmlich auf Plessners philosophische Anthropologie und ihren Zusammenhang mit seiner Sozialphilosophie eingehen. Da der erste Teil der Arbeit eine eigene Zusammenfassung erhalten hat, gehe ich an dieser Stelle nicht mehr detailliert auf Ergebnisse des erstens Teils ein, sondern verweise hier nur darauf (Kap. 5). Nur einige wenige Punkte der Auseinandersetzung mit Tönnies werden
513
In die Richtung dieses Anschlusses weisen Tönnies' Forschungen zur öffentlichen Meinung (Tönnies, Kritik der öffentlichen Meinung, 1922) und Plessners zu bildungspolitischen Fragestellungen (z.B. Plessner, Politische Erziehung in Deutschland, 1921, Universität und Erwachsenenbildung, 1962).
514
Auf der Ebene konkreter politischer Institutionen spricht Benhabib dieses Problem mit Arendts Rede vom .Recht, Rechte zu haben' (Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, 1951/55) an und plädiert für ein „human right to membership" (Benhabib 2004, S. 134), das jedoch nicht mehr durch das Paradigma der territorialen Nationalität, sondern durch das politischer Teilhabe („subnational as well as transnational modes of citizenship") geprägt sein soll (vgl. ebd. S. 217). Benhabib erhält die Idee der demokratischen Souveränität im Sinne der „public autonomy" (ebd.) aufrecht, negiert aber deren Gebundenheit an die homogene Bevölkerung eines territorialen Staates. Vgl. auch Benhabib 2007.
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KRITISCHE SOZIALPHILOSOPHIE - H E L M U T H PLESSNER
hier Erwähnung finden; den Abschluss bilden einige zu Beginn angedeutete allgemeinere Beobachtungen. - Plessner legt seiner Philosophie ein Verständnis selbstbewusster Personen als exzentrisch positioniert zugrunde. Durch transzendental-phänomenologische Beschreibung legt er das menschliche Verhältnis zum In-der-Welt-Sein dar als in Außenwelt, Innenwelt und Mitwelt strukturiert. Er folgert aus dem Zusammenhang dieser Grundstrukturen drei so genannte Grundgesetze (allgemeine Formen) des In-der-Welt-Seins. Diese sind recht formal gehalten und besagen zunächst nur soviel, dass sich unsere Weltverhältnisse so ereignen, dass wir einander handelnd und ausdrückend begegnen sowie uns unserer Vertretbarkeit und der Kontingenz genau dieser entwickelten Welt bewusst sein können. Die philosophische Anthropologie Plessners verstehe ich als eine mögliche Formulierung derjenigen allgemeinsten Bedingungen, unter denen sich Sozialität ereignet. Im Rahmen dieser Arbeit sehe ich sie als begriffliche Fassung der Bedingungen der Möglichkeit von Kritik an, die ein konstitutives Moment von Sozialphilosophie sind. - Die Möglichkeit von Kritik erhellt aus der Beschreibung der personalen Grundsituation, insofern Personen sich stets so verstehen, dass sie sich zu sich und zur Welt verhalten können. Durch die Abständigkeit ist die grundsätzliche Möglichkeit eines regelreflektierten Anders-Verhaltens gegeben. Zudem ist es möglich, sich die Künstlichkeit der entwickelten Verhältnisse bewusst zu machen und so um ihre grundsätzliche Veränderlichkeit zu wissen; entwickelte Verhältnisse können entnaturalisiert werden. Einschränkend ist darauf hinzuweisen, dass auch die Wahrnehmung meiner selbst in einer Situation, die Bewertung meines Verhaltens und das Erkennen verschiedener Handlungsmöglichkeiten nicht aus dem Nichts, sondern aus meinem Inder-Welt-Sein an mich kommen, also wiederum Prägungen unterliegen. Wie ich mich also zu mir und zur Welt verhalte, ist zwar nicht grundsätzlich, aber doch faktisch in hohem Maße festgelegt. Auch wenn die Verhältnisse kritisch entnaturalisiert werden, kann ich mich willentlich nur im Rahmen mir bekannter und material gegebener Möglichkeiten anders verhalten. Die Veränderung kritisierter Verhältnisse bedarf also in gewissem Sinne der Vorbereitung in der Welt - sie muss andere Möglichkeiten bereits in sich enthalten, damit sie an mich kommen können. - Neben dem Aspekt des Anders-Verhalten-Könnens tritt der des Verhalten-Müssens in den Vordergrund. Insofern das Einzelindividuum, wenn die Verhältnisse nicht schon bestimmt wären, sich zum So-oder-so-Handeln entscheiden müsste, müssen auch soziale Zusammenhänge gestaltet werden. Soziale Verhältnisse sind stets auch politische Verhältnisse, in denen sich die Selbstmächtigkeit von natürlichen Personen auf die künstlicher Personen (bei politischen Gemeinschaften: Souveräne) überträgt. - Die Bestimmtheit der personalen Grundsituation wurde durch die Begriffe Kultur und Geschichte deutlich, die ich als Titelwörter für die Eigendynamik sozialer Systeme und ihrer allmählichen Veränderlichkeit begreife. Kultur ist dabei als Oberbegriff für kulturelle Leistungen zu verstehen, unter den Politik (hier als institutionalisierte Praxis) und Ökonomie, aber auch Sprache und Sitten fallen. Geschichte ist als Effekt indivi-
RESÜMEE - KRITISCHE SOZIALPHILOSOPHIE NACH PLESSNER UND TÖNNIES
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duierter Aktualisierung bereits entwickelter Strukturen (oder gerade die Abweichung von diesen) zu verstehen. Es kommt beständig zu unmerklichen Veränderungen, die allein dadurch gegeben sind, dass allgemeine Strukturen des Sozialen im Individuum besondert werden müssen, damit diese Strukturen erhalten werden. Durch die Individuierung ereignet sich eine Abweichung, die das Allgemeine als solches negiert, das aber auch nur über diese Negationen erhalten bleibt. Strukturen sind nur, indem sie werden, und zu diesem (geringen, aber merklichen) Maße sind sie unbestimmt. - Gegenüber bewusst gesetzten politischen oder unbewusst entwickelten Strukturen muss sich ein Anders-Verhalten auf eine in diesen Strukturen bereits erfassbare Authentizitätsvorstellung berufen können. Universalistische Ansprüche können formuliert werden, insofern wir uns als Gleiche-von-dieser-Struktur verstehen können. Wir können uns auf ein nicht-konkretes Wir berufen, in dem qua Menschsein alle Menschen frei und gleich sind, weil sie alle gleichermaßen exzentrisch positioniert und daher in abstraktem Sinne frei sind. Von diesem Wir her ist gegenüber einer menschlichen Welt, die nicht mehr angemessen als .menschlich' beschrieben werden kann, Kritik auf Grundlage normativer Ansprüche möglich. - Die phänomenologisch aufgewiesenen Momente der Grundsituation personal strukturierter Wesen verweisen auf das Miteinander dieser Personen in einer alltäglichen öffentlich-ausdrücklichen Praxis. Aus diesem Grund ist für Plessner Gesellschaft als das öffentliche Miteinander der Realisierungsmodus exzentrisch Positionierter, so dass er vorderhand Gemeinschaft als falsche Vorstellung sozialer Verhältnisse ablehnt. Wie bei Hegel in der Sphäre bürgerlicher Gesellschaft können auch bei Plessner abstrakte Freiheit und damit Moralität als kennzeichnende Merkmale dieser individuellen Grundsituation ausgemacht werden. Doch bei Hegel wie auch bei Plessner ist diese Sphäre nur ein Moment des Sozialen, das weiterhin durch konkrete Sittlichkeit und die normative Sphäre des idealen Staates (der politischen Gemeinschaft) bestimmt wird. Das hervorgehobene Moment der Individualität ist weder bei Plessner noch bei Hegel je für sich gegeben, sondern immer in konkreten kulturellen, historischen und sozialen Zusammenhängen realisiert zu denken. Die bloß abstrakte Freiheit zum Sooder-so-Handeln ist tatsächlich stets schon negiert durch die relativ bestimmten Verhältnisse, in denen ich handle. - Diese Grundsituation weist daher nicht nur das Moment der Gesellschaftlichkeit auf, sondern auch das der sittlichen Gemeinschaftlichkeit (Plessner: Familiarität) sowie das der idealen politischen Gemeinschaftlichkeit (Plessner: Objektivität, Hegel: die objektive Sphäre des wahren Staates). Bei Plessner werden Familiarität und wertbezogene Objektivität als bestimmende Momente der ihrer reinen Gegenwart nach unbestimmten Grundsituation auch als gemeinschaftliche Vertrautheit und Unvertrautheit der gegenwärtigen Situation beschrieben. Gesellschaft als alltägliche Praxis, in der sich personal organisierte Individuen begegnen, ist immer auch die Wirklichkeit von Gemeinschaft. Der Anspruch, Gemeinschaft als letztgültige Sicherung sozialer Verhältnisse zu etablieren, ist durch den Realisierungsmodus alltäglicher Praxis personal strukturierter Individuen gebrochen. Aufgehoben ist dieser Anspruch in der (bei
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KRITISCHE SOZIALPHILOSOPHIE - H E L M U T H PLESSNER
Plessner selbst nicht explizierten) Idee einer echten politischen Gemeinschaft, in der sich selbstbewusste Individuen als solche zu einer Gemeinschaft zusammen schließen und deren Gestaltung jeder von ihnen affirmieren könnte. Verwirklichen wird sich eine solche angestrebte politische Gemeinschaft nie anders als gesellschaftlich, d.h. durch selbstbewusste Individuen. - Die Idee einer echten politischen Gemeinschaft folgte auch aus dem bei Tönnies angelegten begriffslogischen Zusammenhang von Gemeinschaft und Gesellschaft. Nur ein solcher Begriff von Gemeinschaft kann eine menschliche Gemeinschaft bezeichnen, der sich auf das bewusste Miteinander personal strukturierter, selbstbewusster Individuen bezieht. Menschliche Gemeinschaft ist daher in erster Linie ein normativer Begriff, gerade weil die meisten quasi-vergemeinschafteten Zusammenhänge sich als vorbewusste Vertrautheit einander bekannter oder ähnlich geprägter Individuen vollziehen und sich erst in Grenzsituationen zu bewusst affirmierten Gemeinschaften formieren. Zum Beispiel beginnen die Teilnehmer eines Seminars dann, sich stärker als Mitglieder einer Gemeinschaft zu empfinden, wenn Regeln für das künftige Miteinander ausgehandelt werden müssen, weil das Fehlen solcher Regeln (bzw. das implizite Bestehen als unfair empfundener Gewohnheitsregeln) Unzufriedenheit in der Gruppe verursacht hatte. Doch auch der - in den Begriff politischer Gemeinschaft eingelassene - Gesellschaftsbegriff ist normativer Bezugspunkt, insofern ihm die Momente der (abstrakten) Freiheit und Gleichheit personaler Individuen inhärieren, die allgemeinster Bezugspunkt der konkreten Gestaltung politischer Gemeinschaften sind. Keine konkrete Regel, die ausgehandelt wird, darf gegen diese äußersten Bezugspunkte verstoßen. - Bereits bei Tönnies zeigte sich, dass ein antithetisches Verständnis von Gemeinschaft und Gesellschaft ebenso wie das von Individualismus und Kollektivismus sozialontologisch unhaltbar ist. Im Sinne eines sozialontologischen Holismus ist soziale Wirklichkeit nie anders gegeben als gemeinschaftlich-gesellschaftlich. Vereinseitigungen theoretischer oder praktischer Natur können auf Grundlage einer solchen holistischen Sozialontologie kritisiert werden. Dies ist der entwicklungsgeschichtliche Sinn der Tönniesschen Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft der Moderne. Weshalb eine solche Kritik formulierbar ist, konnte durch Plessners philosophische Anthropologie der Möglichkeit nach gezeigt werden. Auf welches Verständnis sozialer Wirklichkeit sich Kritik beruft, konnte sowohl bei Plessner als auch bei Tönnies deutlich werden - es ist das einer echten Gemeinschaft als politischer Gemeinschaft, in der Gemeinschaft und Gesellschaft (bzw. Familiarität und Objektivität) als Standpunkte eines sozialen Gebildes und eines Individuums bewusst vermittelt sind. - Rückbezogen auf den Ausgangspunkt der hier mit Tönnies und Plessner vorgebrachten Überlegungen kann gesagt werden, dass die bereits alltagssprachlich auf diffuse Weise gegebene Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft sich systematisch auf den philosophischen Begriff sozialer Wirklichkeit beziehen lässt. - Die alltagssprachlich beobachtbare normative Dimension des Gemeinschaftsbegriffs erwies sich als angemessenes Verständnis von Gemeinschaft, die zugleich nie anders als individuiert (gesellschaftlich) eine echte Gemeinschaft ist.
RESÜMEE - KRITISCHE SOZIALPHILOSOPHIE NACH PLESSNER UND TÖNNIES
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- Die theoriegeschichtlich tradierte Antithese von Gemeinschaft und Gesellschaft (Kollektivismus und Individualismus) hingegen konnte im Begriff" sozialer Wirklichkeit vermittelt werden. Es handelt sich um Aspekte sozialer Wirklichkeit, die gegeneinander theoretisch nicht vereinseitigt werden dürfen, wenn man einen der Realität angemessenen Begriff des Sozialen anstrebt, und die praktisch nicht vereinseitigt werden dürfen, wenn man eine ihrem Begriff entsprechende Wirklichkeit des Sozialen (deren Idee) verfolgt. Wie ist also soziale Wirklichkeit kritisch-philosophisch ansprechbar? Sie ist als Gemeinschaft und als Gesellschaft, aber nie vereinseitigend nur mit einem dieser dialektisch vermittelten Aspekte der Idee sozialer Wirklichkeit ansprechbar. Das Soziale ist stets und sollte sein - konkrete Gemeinschaftlichkeit, insofern wir uns auf die Sphäre unserer Gewohnheiten, des Bekannten, des Sich-Auskennens, des unmittelbaren Wir-Geftihls beziehen. So ist sie geworden, besteht von der Vergangenheit her. - aktualiter Gesellschaft, insofern sowohl das Vergangene als auch das jetzt entwickelte Gegebene von selbstbewussten Individuen vollzogen wird, deren Handlungen das Faktische verändert aktualisieren oder mit diesem auf Grundlage werthafter Überzeugungen brechen. Gemeinschaftlich entwickelte Praxisformen realisieren sich nie anders als gesellschaftlich. - politische Gemeinschaft, insofern wir uns auf gemeinsame Werte beziehen, auf deren Verwirklichung wir als Individuen gemeinschaftlich hinarbeiten. So ist sie werdend und besteht als ein ideeller Wert in einer noch nicht oder nie realen Zukunft. Der Wert schreibt sich dabei wiederum von der bestehenden, gesellschaftlich werdenden Gemeinschaftlichkeit her.
9. Epilog: Ein Kommentar zur Kommunitarismusdebatte
Es ist inzwischen ein Gemeinplatz geworden, dass die politische Philosophie im 20. Jahrhundert brach lag, bis endlich 1971 John Rawls mit seiner Theorie der Gerechtigkeit das Feld neu bestellte. Die damit einsetzende Diskussion wurde mehr oder weniger unmittelbar zur Debatte hochstilisiert; man fixierte Positionen durch gemeinsame Schnittmengen und ermittelte auf diese Weise Frontverläufe. Auf der einen Seite standen nun die so genannten Liberalen. In der Tradition des Kontraktualismus von Hobbes, Locke und Kant betonen die unter liberal subsumierten Autoren die normativen Maßstäbe von individueller Freiheit und Gleichheit der Rechte und Chancen. Man rechnet zu dieser Seite neben Rawls Autoren wie Robert Nozick, Ronald Dworkin, Thomas Nagel, Thomas Scanion und Bruce Ackerman. Ihnen gegenüber gruppierte man solche Positionen, die in der Tradition von Rousseau und Hegel gegenüber der Abstraktion von Freiheit und Gleichheit die Orientierung an gemeinschaftlich gebildeten und geteilten Werten betonen, die das Gute dem Gerechten vorziehen. Diese wurden mit dem Titel Kommunitaristen belegt; als solche gelten Michael Sandel, Alasdair Maclntyre, Charles Taylor und Michael Walzer. Es ist immer wieder herausgearbeitet worden, dass die beiden Positionen in sich vollkommen disparat seien und dass es sich im Grunde um eine künstliche Debatte handle. In dieser Weise äußert Honneth sich Anfang der 1990er Jahre zum Verlauf der Debatte in zwei Phasen. Eine erste Phase, in der Rawls' Einsatz eine Reihe von Gegenreden provozierte, sowie eine zweite Ende der 1980er Jahre, in der man versucht habe, „den mittlerweile entstandenen Übereinfachungen und Typisierungen entgegenzuarbeiten", wobei sich herausstellte, dass man zum Teil ganz unterschiedliche Gegenstände diskutiert hatte.515 Der Berührungspunkt zwischen dieser akademischen Diskussion und dem Thema der vorliegenden Arbeit liegt nun in einer Übertragung, durch die der Auseinandersetzung „eine weitere Drehung" zugefügt wurde, so Honneth: „Der Kommunitarismus schien nur noch für ein ,Gemeinschaftsdenken' einzustehen, während der amerikanische Liberalis515
Vgl. Honneth 1993a, S. 9. Der von Honneth herausgegebene Band Kommunitarismus bietet eine Zusammenstellung von Positionen aus beiden Phasen der Debatte. Flankiert durch Honneths Einleitung und Rainer Forsts Zusammenfassung sowie umfassende Strukturierung wird sehr anschaulich, was die wesentlichen Fragestellungen der Debatte sind und wie sie sinnvoll verhandelt werden können (Forst 1993). Einen guten Überblick bieten auch die Bände von Avineri/de-Shalit 1992 und Brumlik/Brunkhost 1993.
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ΕΓΝ KOMMENTAR ZUR KOMMUNITARISMUSDEBATTE
mus als eine Verteidigung der rechtsstaatlich verfaßten Gesellschaft' begriffen werden konnte".516 So nah es lag, die Antithese Gemeinschaft-Gesellschaft auf die Kommunitarismusdebatte zu übertragen, so nah liegt es hier nun, das begriffslogisch vermittelte Verständnis von Gemeinschaft und Gesellschaft nachträglich in die mittlerweile abgeftaute Debatte einzuführen. Zunächst einmal ist es bemerkenswert, dass weder Liberalismus noch Kommunitarismus über definierte Begriffe von Gemeinschaft und Gesellschaft verfugen.517 Mit einer solchen Vermutung würde sich die gesamte Auseinandersetzung ins normative Feld verschieben; Streitpunkt wäre nicht die Frage, wie das Soziale konstituiert ist, sondern wie das Soziale - sei es prinzipiell, wie es sei - sein soll. Es ist dann denkbar, dass hinsichtlich ontologischer Fragen zur Konstitution des Sozialen große Einigkeit herrscht, man sich aber über konkrete politische Belange streitet (dazu hat es in den 1970er-1990er Jahren schließlich hinreichend Anlass gegeben). Taylor hat daher im Rahmen der zweiten Diskussionsphase konstatiert: „Die Klärung der ontologischen Frage restrukturiert die Debatte über die Parteinahme".518 Wenn also mit Tönnies und Plessner etwas über die Konstitution des Sozialen gesagt werden kann, dann könnte mit ihnen eine solche Restrukturierung vorgenommen werden. Sie würden dann eine systematisch klare Position einnehmen, die die miteinander streitenden Parteien nicht politisch, sondern aufgrund ihrer sozialontologischen Stichhaltigkeit unterscheiden würde. Für eine die vorliegende Arbeit abschließende Skizze dieser Restrukturierung ist es weder notwendig noch sinnvoll, alle Schauplätze der so genannten Kommunitarismusdebatte zu besuchen, sondern exemplarisch vorzugehen.
a) Der Neueinsatz politischer
Theoriebildung:
Rawls
Gegenstand von Rawls' Theorie der Gerechtigkeit ist die Grundstruktur der Gesellschaft.519 Die Arbeitsdefinition von Gesellschaft ist dabei denkbar schmal: Gesellschaft ist „eine mehr oder weniger in sich abgeschlossene Vereinigung von Menschen, die für ihre gegenseitigen Beziehungen gewisse Verhaltensregeln als bindend anerkennen und
516
Honneth 1993a, S. 9. Gedankliche Verbindungen und Analogien etablieren auch Brumlik/Brunkhorst 1993, darin auch Rehberg 1993. Auch Opielka nimmt in seinem Band Gemeinschaft
in
Gesell-
schaft die Debatte um den Kommunitarismus auf (vgl. Opielka 2006, Kap. 8). Wallace' kritischer Beitrag zu Plessners Grenzen
der Gemeinschaft
bezieht ebenfalls die Diskussion um den Kommu-
nitarismus auf produktive Weise ein (Wallace 2002). Merz-Benz weist darauf hin, dass man sich im Rahmen des soziologisch geprägten Kommunitarismus von Amitai Etzioni sowie der Robert N. Bellah-Gruppe zwar auf Tönnies beziehe, dass das Verhältnis des Kommunitarismus zu Tönnies' Theorie von Gemeinschaft und Gesellschaft aber bislang nicht eigens thematisiert worden sei bzw. dass der kommunitaristische Rekurs auf die Begriffe bislang nicht den „systematischen Ansprüchen" genügt habe (Merz-Benz 2006, S. 28). 517
Vgl. dazu auch Honneth 1993b.
518
Taylor 1993, S. 129.
519
Vgl. Rawls 1979, S. 19.
224
EPILOG
sich meist auch danach richten".520 Die Regeln beschreiben ein „System der Zusammenarbeit", das dem Gemeinwohl diene. Dieses Unternehmen sei auf Harmonie ausgerichtet, begründe aber zugleich Konflikt, da keine prinzipielle Einigkeit darüber bestehe, wie die zusammen erzeugten Güter verteilt werden sollen.521 Gerechtigkeit weist Rawls als „erste Tugend sozialer Institutionen" aus522, es handelt sich dabei um distributive Gerechtigkeit. Welches ist der Maßstab, nach dem die gesellschaftlichen Lasten und Güter auf gerechte Weise verteilt werden sollen? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, geht Rawls von einer wohlgeordneten Gesellschaft aus, die von einer gemeinsamen Gerechtigkeitsvorstellung geprägt ist. Er fragt sich nun, welche Grundsätze eine solche Gesellschaft hätte. Rawls bedient sich in der Tradition des Kontraktualismus stehend eines Gedankenexperimentes: Man versetze sich in einen Urzustand, in dem alle Teilnehmer unter einem Schleier des Nichtwissens voreinander und sogar vor sich selbst verdeckt sind. Die Menschen im Urzustand sind gleich, also entindividualisierte, moralische Subjekte.523 Sie wissen lediglich, dass die Anwendungsverhältnisse von Gerechtigkeit herrschen, also dass Zusammenarbeit und eine Einigung über die Verteilung von Gütern notwendig sind524, und dass sie „eigene Lebenspläne oder Vorstellungen von ihrem Wohl" haben.525 Die Inhalte dieser Pläne und Vorstellungen kennen die Menschen im Urzustand aber ebenso wenig, wie sie wissen, ob sie reich oder arm sind, ob sie religiös oder nicht sind, ob sie einer verfolgten Minderheit angehören oder nicht, etc. Rawls nimmt für einen solchen fiktiven Urzustand an, dass zwei Grundsätze gewählt würden, die in lexikalischer Ordnung stehen: 1. Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist. 2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, daß (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, daß sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offenstehen.526
Diese erste Formulierung der beiden Rawlsschen Grundsätze soll hier hinreichen. Im ersten und wichtigsten Grundsatz liegen die Grundintuitionen von Freiheit und Gleichheit als unantastbare Grundfesten einer gerechten Gesellschaft, die für Dworkin die einzigen Elemente darstellen, die fur eine liberale Theorie konstitutiv sind.527 Der zweite Grundsatz - auch Differenzprinzip genannt - ist viel konkreter und leitet über zu einer realen 520 521 522 523
524 525 526 527
Ebd., S. 20. Vgl. ebd., S. 20. Ebd., S. 19. Ich erinnere hier an Plessners Urspungsgemeinschaft des Wir, als deren Operationalisierung Rawls' Urzustand begriffen werden kann (vgl. Kap. 7.2 in dieser Arbeit). Vgl. Rawls 1979, S. 149. Ebd., S. 150. Ebd., S. 81. Vgl. Dworkin 1985, S. 188.
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Gesellschaft, in der wir es mit Individuen zu tun haben, die zwar moralisch gleichwertig sind, sich aber in der Art und Weise ihrer gelebten Sittlichkeit unterscheiden. Die hier begegnenden Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass sie den am wenigsten Begünstigten dienen, so dass Chancengleichheit gewährleistet ist. Rawls selbst hat auf die Ähnlichkeit des Differenzprinzips mit dem „Brüderlichkeitsideal" hingewiesen, das aber nicht auf Mitgefühl beruhen, sondern in einer institutionellen Ordnung abgebildet sein soll.528 Von Belang ist, dass Rawls verschiedentlich darauf hinweist, dass die Grundsätze „vollkommen gerechte Verhältnisse [definieren]; sie gehören zur idealen Theorie und liefern eine Zielvorstellung für gesellschaftliche Reformen".529 Die nicht-ideale Theorie dazu, was in einer nicht-idealen Gesellschaft zu tun sei, folge der Suche nach einer Zielvorstellung zeitlich nach. Diese zweite Theorie ist nicht Rawls' Hauptanliegen, sondern die erste ideale Theorie, die als ein Maßstab willentlich-bewusster sozialer Veränderung gelten kann. Hier weist Rawls' Theorie der Gerechtigkeit Ähnlichkeit mit Kants Kontraktualismus auf, indem auf die bestehende Ordnung im Sinne des „ursprünglichen Vertrags" eingewirkt werden soll.530 Die Realisierbarkeit des ursprünglichen Vertrages (Kant) bzw. der beiden Gerechtigkeitsgrundsätze (Rawls) kann dabei nicht das Urteil über deren Wahrheit geben.531 Ein prinzipieller Unterschied bei allen Ähnlichkeiten Rawls' mit Kant532 ist sicherlich sein Gedanke des Überlegungsgleichgewichts, den ich abschließend skizzieren möchte. Wesentlicher Gehalt dieser Idee ist, dass das Auffinden der beiden Grundsätze im Urzustand im Abwägen mit unseren alltäglichen „wohlüberlegten Urteilen" geschieht, so dass die Grundsätze nicht unserem Alltagsverstand widersprechen. In der Kantischen Terminologie hätten wir es also mit einer Mischform zwischen kategorischen und hypothetischen Urteilen zu tun - kurz: die beiden Rawlsschen Urteile basieren auf Klugheit. Der Urzustand operationalisiert zwar die kategorisch-moralische kontextunabhängige Urteilsfindung, dient Rawls aber bezogen auf einen empirischen Gegenstand, für den überhaupt nur hypothetische Urteile gelten können: das menschliche Miteinander unter den Anwendungsverhältnissen von Gerechtigkeit. Bestätigend konstatiert Rawls später in den Dewey Lectures, dass seine Theorie der Gerechtigkeit „in Anbetracht unserer Ge528
Vgl. Rawls 1979, S. 127.
529
Ebd., S. 277.
530
531
532
„Es muß aber dem Souverän doch möglich sein, die bestehende Staatsverfassung zu ändern, wenn sie mit der Idee des ursprünglichen Vertrags nicht wohl vereinbar ist" (Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, S. 340). So lautet Kants Erwiderung auf die Zweifel an der Idee des ursprünglichen Vertrages: „Es versteht sich von selbst: daß nicht das Annehmen (suppositio) der Ausführbarkeit jenes Zwecks, welches ein bloß theoretisches und noch dazu problematisches Urtheil ist, hier zur Pflicht gemacht werde, [...] sondern das Handeln nach der Idee jenes Zwecks [...] das ist es, wozu uns eine Pflicht obliegt" (ebd., S. 354). In diesem Sinne meint auch Höffe, der „Gesellschaftsvertrag ist überhaupt kein Begriff (möglicher oder tatsächlicher) Erfahrung. Er ist ein rein rationaler, dabei kein theoretischer, sondern ein praktischer: ein normativer und kritischer Begriff' (Höffe 1987, S. 212). Zum Verhältnis Kant - Rawls, vor allem zum theoretischen Status von Urzustand und Naturzustand vgl. ebd.
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EPILOG
schichte und der in unser Leben eingebetteten Traditionen die vernünftigste für uns ist. Wir können keine bessere Gründungsurkunde für unsere soziale Welt finden [meine Hervorhebungen, NSch]".533 b) Die , kommunitaristische
' Kritik: Sandel und Maclntyre
Unter den zahllosen Erwiderungen, Bestätigungen und Ergänzungen zu Rawls' Theorie der Gerechtigkeit sticht durch ihre Systematik und Ausführlichkeit Sandels 1982 erschienene Schrift Liberalism and the Limits of Justice hervor. Diese Schrift verdankt einiges dem ein Jahr zuvor erschienen Band After Virtue (auf deutsch mit dem sprechenderen Titel Der Verlust der Tugend) von Maclntyre. Beide Schriften haben wiederum Berührungspunkte mit Taylors Hegel and Modern Society von 1979, auf das ich aber erst weiter unten eingehen möchte. Bei Sandel und Maclntyre kristallisieren sich diejenigen Punkte, die zusammen als gemeinsamer Nenner der ,kommunitaristisch' motivierten Kritik an Rawls sowie am Liberalismus überhaupt gelten können. - Erstens fallt darunter die Kritik an der liberalen Theorie der Person, auf der der Vorzug von Freiheit und Gleichheit sowie des Rechts und der Gerechtigkeit beruhe. Der Liberalismus konstruiere atomistische, voneinander unabhängige Subjekte, die ihre Rolle einfach wählen können und von den sozialen Umständen unabhängig seien.534 Solche Subjekte gebe es aber nicht, denn wir sind je Teil einer historischen Gemeinschaft, eines Volkes, einer Familie. Tatsächlich seien wir Individuen, deren Selbstsein nicht im willkürlich gewählten Tragen einer Rolle bestehe, sondern in einer einheitlichen Narration, die in Praxisformen und Traditionen eingelassen und so kontinuierlich sei535: „Die Geschichte meines Lebens ist stets eingebettet in die Geschichte jener Gemeinschaften, von denen ich meine Identität herleite"536, so Maclntyre. Die Kritik besagt also, dass der liberale Begriff der Person falsch sei - solche Personen könne es nicht geben. - Zweitens beruhe, so Sandel und Maclntyre, die Theorie der Verteilungsgerechtigkeit auf einem Begriff des Verdienstes, der nur innerhalb einer Gemeinschaft Bedeutung haben kann (stärker noch gelte das für das Rawlssche Differenzprinzip, das das Prinzip der Brüderlichkeit institutionalisiert).537 Den liberalen Theorien mangle es aber an einer Theorie der Gemeinschaft.538 Eine solche wäre in einer angemessenen Theorie der Person enthalten, da Personen ihre Identität immer von einer Gemeinschaft herleiten. Auch hier also der Vorwurf, die liberale Theorie sei inkonsistent, weil es ihr an bestimmten Theorieelementen fehlt.539 Die Theorie der Gemeinschaft ist dabei vor 533 534 535 536 537 538 539
Rawls 1992, S. 85. Vgl. Sandel 1982, S. 21, Maclntyre 1995, S. 294. Vgl. Maclntyre 1995, S. 291. Ebd., S. 294. Vgl. Sandel 1982, S. 54, Maclntyre 1995, S. 333. Vgl. Sandel 1982, S. 30ff„ S. 168ff. So auch bei Taylor, der meint, dass ein atomistischer Individualismus keine Theorie eines freien Miteinanders bilden kann, weil er die ontologische Frage nach dem Zusammenhang von „Identität
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allem bei Sandel sehr stark gewichtet; sie „marks the limits of justice and locates the incompleteness of the liberal ideal".540 Inhaltlich stärker ausgeführt wird sie hingegen in Maclntyres Charakterisierung der tugendhaften Gesellschaft.541 - Drittens, beklagt vor allem Maclntyre, spiegle der Individualismus der liberalen Positionen die Krise der modernen Gesellschaft wider und dürfe daher nicht universalisiert werden. Sandel warnt, dass in bestimmten Zusammenhängen die Einführung von Gerechtigkeitsstandards „not a virtue but a vice" sei, da sie die „old spontaneity" des auf das Wohl der Gruppe bezogenen Gebens und Nehmens in Gemeinschaften verhindern.542 Diese Kritik behauptet nun, dass die zwar hinsichtlich a) Begriff der Person und b) Theorie der Gemeinschaft grundsätzlich falsche Theorie des Liberalismus die moderne Gesellschaft aber richtig beschreibe, der es an einer Grundlage für gemeinsame Werte fehle und die daher überall nur noch den Tauschwert kenne. Wo dies aber noch nicht der Fall sei, wirke die liberale Theorie sogar zerstörerisch, da sie Zusammenhänge unmittelbaren Miteinanders zersetze und die Illusion des autonomen Individuums mit gleichen Rechten gegen die Unmittelbarkeit vorbringe. Gegenüber dieser zersetzenden Wirkung des Liberalismus sei ein politisches Projekt zu propagieren, das sich auf echte gemeinschaftliche Zusammenhänge konzentriere und gemeinsame Güter schaffe. - Viertens widerspreche der Liberalismus sich selbst, wenn er eine Theorie des Guten ablehne, weil die liberalen Werte eine eigene Vorstellung des Guten bildeten. Die liberale Theorie erkenne nicht, dass ihre abstrakten Vorstellungen aus den gesellschaftlichen Umständen der nutzenorientierten Tauschgesellschaft des Spätkapitalismus stammen. Daher ist die so genannte freie Wahl keineswegs frei, sondern bestimmt sich von den gesellschaftlichen Verhältnissen her. Prinzipiell richtig ist der erste Kritikpunkt: Wir leben in Gemeinschaften; was immer wir für moralisch richtig halten, ist geprägt von der Geschichte, deren Teil wir unwillkürlich sind. Ich bin, so Maclntyre, „Träger einer Tradition, ob mir das gefällt oder nicht, ob ich es erkenne oder nicht".543 Leere Selbste, die aus einem Katalog zur Verfugung stehender Rollen auswählen können, gibt es nicht. Zudem sind wir in den Wahlakten, die uns möglich sind, geprägt von unserer Herkunft und den uns umgebenden gesellschaftlichen Umständen. Auf Rawls trifft diese Kritik gleichwohl nicht recht zu, da die Personen des Urzustandes keine wirklichen Individuen, sondern moralische Subjekte sind. Der bei Sandel vorgebrachte Vorwurf, Rawls würde von einem unencumbered self ausgehen, ist insofern richtig bezogen auf den Urzustand, bedenkt aber den Status des Urzustandes und Gemeinschaft" nicht stelle und so „Wir-Identitäten" nicht von „bloß konvergenten Ich-Identitäten" unterscheiden könne (vgl. Taylor 1993, S. 116). Es bedürfe aber der Wir-Identität, um den Gemeinsinn auszubilden, ohne den ein prozeduraler Liberalismus wie der Dworkins, Rawls', Nagels oder Scanions unrealistisch bleiben müsse (vgl. ebd., S. 109f.). 540 541 542 543
Sandel 1982, S. 14. Vgl. Maclntyre 1995, insbes. Kap. 14 u. 15. Vgl. Sandel 1982, S. 34f. Maclntyre 1995, S. 295.
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nicht recht. Im Gegenteil sieht Rawls ja gerade das Problem, dass wir stets eingebettet in unsere praktischen Bezüge sind.544 Das Urzustands-Szenario ist gerade als Antwort auf das Problem zu verstehen, wie wir bei aller kulturellen Prägung zu universalen Aussagen kommen können. Rawls nimmt dafür grundsätzlich nur an, dass wir von unserer konkreten Situation abstrahieren können, uns also vorstellen können, was Menschen unter dem Schleier des Nichtwissens entscheiden würden. Es ist nicht verlangt, dass wir selbst tatsächlich vergessen, wer und wie wir sind. Wir müssen für Rawls' Theorie des Urzustandes also keine leeren Selbste sein oder werden können. Gleichwohl ist es wichtig, die Hypostasierung von theoretischen zu realen Bestimmungen weislich zu unterlassen. Das habe ich am Beispiel des Plessnerschen Gesellschaftsbegriffs zu zeigen versucht (Kap. 6.2): Wenn Plessner von der prinzipiellen Unbestimmtheit der Person und auch der Gesellschaft spricht, so heißt das noch lange nicht, dass wir überall beständig frei wählen können, sondern es heißt, dass wir trotz starker Prägungen uns aus diesen herausdenken können. Genau diese Möglichkeit, die in Plessners Rede vom „utopischen Standort[]" (SOM 419) und der „Ursprungsgemeinschaft vom Charakter des Wir" (SOM 422) angelegt ist, operationalisiert Rawls mit dem Urzustand. Richtig ist weiterhin, dass bestimmte Ideen des klassischen Liberalismus als Ausdruck bürgerlicher Ideologie verstanden werden können, wie es bereits Marx gesehen und im Kapital als Kritik der Politischen Ökonomie dargestellt hatte. Dass also die Theorie eine an sich selbst widersprüchliche gesellschaftliche Formation legitimiert, indem sie sie naturalisiert. Die Idee, dass alle Menschen gleich seien und jeder nach seinem eigenen Belieben nach Glück streben dürfe und es so bei hinreichender Anstrengung auch vom Tellerwäscher zum Millionär schaffen könne (,Leistungsgerechtigkeit'), entlässt dabei die Gesellschaft leicht aus der sozialen Verantwortung für ihre Mitglieder. Zudem besteht die theoretische Naturalisierung gerade darin, dass sie der Wahrnehmung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch die gesellschaftlichen Individuen entspricht: Die liberalen Verhältnisse machen also eine eigene Form gemeinschaftlicher Identität und eine eigene Theorie des Guten aus. c) Die Kritik an der Kritik: Walzer und Taylor Der kommunitaristischen Kritik am Liberalismus wird nun im Grunde dreierlei vorgeworfen: Erstens widerspreche sie sich selbst, zweitens beruhten ihre Grundlagen nicht auf modernen Verhältnissen, drittens gingen einige Vorwürfe ins Leere. Sie widerspreche sich selbst, so Walzer, in Bezug auf die Kritik am „präsozialen Selbst" des Liberalismus. Einerseits behaupte man, diese Individuen dissoziierten die Gemeinschaft, andererseits werde argumentiert, dass präsoziale Individuen gar nicht möglich seien. Darüber hinaus 544
So auch Dworkin, der gegen den Vorwurf der ideologischen Verblendung hervorhebt: „Liberalism responds to the claim that preferences are caused by systems of distribution, with the sensible answer that in that case it is all the more important that distribution be fair in itself, not as tested by the preferences it produces" (Dworkin 1985, S. 204).
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aber befleißige sich diese Kritik selbst der liberalen Tradition, indem sie eine kritische Position einnehme.545 Walzer konstatiert hier einen Widerspruch zwischen der vulgärmarxistischen Widerspiegelungsthese, die besagt, die liberale Theorie bilde die krisenhafte moderne Gesellschaft ab und naturalisiere sie, und der „Behauptung, daß die Tiefenstruktur der liberalen Gesellschaft in Wirklichkeit kommunitaristisch sei".546 Walzer und Amy Gutman kritisieren, dass Sandel und Maclntyre sich mit ihren Positionen nicht auf moderne Gesellschaften bezögen. So fuhrt Gutman aus, dass vor allem Maclntyres Empfehlung zur „Schaffung lokaler Formen von Gemeinschaft, in denen die Zivilisation und das intellektuelle und moralische Leben über das neue finstere Zeitalter hinaus aufrechterhalten werden können"s47, nur für nicht-konfliktbeladene Gemeinschaften gelten könne (mit Rawls: solche, in denen die Anwendungsverhältnisse von Gerechtigkeit nicht bestehen). In modernen Gesellschaften aber sei es sinnvoll, sich etwa gegen die „Hauptströmungen unserer Tradition, die Frauen und Minderheiten ausschloß"548, im Sinne liberaler Rechtsgleichheit aufzulehnen. Ich habe bereits angedeutet, inwiefern die kommunitaristischen Vorwürfe bezogen auf die Theorie der Person und der Gemeinschaft ins Leere gehen: Keine der liberalen Positionen bestreitet, dass die Individuen je in Gemeinschaften unlösbar verwoben sind.549 Dworkin und Rawls begreifen ihre Formulierungen des Liberalismus geradezu als Antwort auf die damit entstehende Problematik. Das aber heißt, dass die Parteien sich auf ontologischer Ebene nicht uneinig sind. Nur sind wir eben heute in liberalen Gesellschaften vergemeinschaftet, so dass Walzer die liberale Theoriebildung als „Induktionsschluß aus der sozialen Fragmentierung"550 begreift, hinter die es gar keinen Schritt zurück gebe. Es könne also nur darum gehen, die liberale Politik kommunitaristisch einzufärben. Da unsere Gesellschaft faktisch stark individualisiert ist, können und sollten wir nicht hinter die Prinzipien der Freiheit, der Gleichheit und des Rechts zurückfallen.551 „Wenn wir wirklich eine Gemeinschaft von Fremden sind, was können wir dann anderes tun, als Gerechtigkeit an die erste Stelle zu setzen?"552, fragt Walzer. Prinzip der Gerechtigkeit kann es aber gerade sein, individuelle Bedürfhisse und lokale Gemeinschaften zu schützen und 545
Vgl. Walzer 1993, S. 178f.
546
Ebd., S. 163. Maclntyre 1995, S. 350. Gutman 1993, S. 80. Außer in dem trivialen Sinn: „If the point is that the self is embedded in the sense that the obligations a person has are given, irrevocably so, by their membership of and particular role within a community, that the obligations that are imputed along with membership and roles are not subject to criticism, and that a person cannot rationally choose to reject such roles, then liberalism does deny the embeddedness of the self' (Buchanan 1998, S. 468). Walzer 1993, S. 172. In Sphären der Gerechtigkeit beschreibt Walzer mit seiner Idee der „komplexen Gleichheit", dass die Verteilungsgerechtigkeit, die auf den Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Recht beruhe, tatsächlich keine Gleichmacherei, sondern eine „Kunst der Differenzierung" sei, deren Ergebnis eben echte, komplexe Gleichheit sei (vgl. Walzer 1992, S. 21). Ebd., S. 162.
547 548 549
550 551
552
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im Einklang mit einer umgreifenden politischen Gemeinschaft zu halten. Insofern die kommunitaristische Kritik sich unter den Bedingungen liberaler Gesellschaften für einen Sozialstaat einsetze, habe sie konstruktives Potential. Diese Zusammenfìihrung der liberalen Grundideen von Freiheit und Gleichheit mit dem Wissen um die Geprägtheit der Individuen von ihren sozialen Verhältnissen her hat einen prominenten Vorläufer: Hegel.553 Hegels Kritik an Kant hatte sich dabei auf ganz ähnliche Motive berufen wie die kommunitaristische Kritik am Liberalismus. Er kritisierte den moralischen Formalismus des kategorischen Imperativs, die Entgegensetzung von Sein und Sollen, die Übersteigerung des isolierten Individuums, das zugleich aller individuellen Eigenschaften beraubt werde. Der Tendenz nach verwirklicht sah Hegel diesen Formalismus in der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft. Wenn nun aber die Wirklichkeit des sittlichen Staates bei Hegel angestrebt wird, dann bedeutet das trivialerweise eben keine Rückkehr zur konkreten Sittlichkeit von Familie und völkischem Gewohnheitsrecht, sondern zu einer Idee des gemeinsamen Gutes auf Grundlage der Anerkennung durch die Individuen. Hinter die Idee von Freiheit und Gleichheit kann also nicht zurückgegangen werden - als abstrakter Gedanke reicht sie aber nicht hin, sondern es muss auf ihre allseitige Konkretisierung in einer politischen Gemeinschaft hingewirkt werden. Einen solchen Anschluss an Hegel bemüht sich Taylor zu formulieren: „The fülly developed state is one in which the different moments of the Concept - immediate unity, separation and mediated unity - are realized in separate groups, each with the appropriate mode of life".554 Die Differenzierung der modernen Gesellschaft müsse mit einem starken Gedanken des „larger whole" verbunden werden.555 Ein Gedanke, der sich auch bei Rawls findet: „eine wohlgeordnete Gesellschaft (im Sinne der Gerechtigkeit als Fairneß) [ist] selbst eine Form der sozialen Gemeinschaft [...]. Sie ist eine soziale Gemeinschaft sozialer Gemeinschaften".556 Diese umfassende soziale, politische Gemeinschaft kann nun aber weder bei Taylor noch bei Rawls das gleiche sein wie die konkreten lokalen Gemeinschaften einer Familie oder eines Dorfes - sie ist zunächst einmal fiktiv. Real ist sie im institutionalisierten Handeln dieser fiktiven Gemeinschaft, zum Beispiel in einem Staat. *
*
*
Es hat sich bereits verschiedentlich angedeutet, wo mit Plessner und Tönnies in dieser knappen Darstellung der ,Kommunitarismusdebatte' eingehakt werden könnte. Im Wesentlichen scheint mir das Potential einer kritischen Sozialphilosophie im Rahmen der Debatte zu sein, von einer Sozialontologie her kommend neu zu differenzieren zwischen 553
554 555 556
Darauf verweist neben Taylor auch Adolphi, der vermutet, dass die Debatte in Hegel nicht nur ihren „Vorläufer", sondern zugleich auch ihren „Überwinder" finde (vgl. Adolphi 1993/1994, S. 421). Taylor 1979, S. 110. Analog auch Walzers Ansatz zu einem pluralen Egalitarismus (Walzer 1992). Vgl. Taylor 1979, S. 117. Rawls 1979, S. 572.
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solchen Ansätzen, die sich auf haltbare ontologische Fundamente berufen und solchen, die das nicht tun. Vorsichtig ließe sich sagen, dass Sandel und Maclntyre vielleicht zur zweiten Gruppe gehören würden, insofern sie eine Theorie der Gemeinschaft vorlegen, in der kein Begriff des Individuums mehr formulierbar wäre. Definitiver würde ich sagen, dass sowohl Rawls als auch Walzer und Taylor Positionen vertreten, die vielleicht in ihren politischen Zielvorstellungen divergieren mögen, deren ontologische Fundamente sich aber nicht gravierend unterscheiden. Bei ihnen findet sich sowohl der Gedanke der Einbettung der Individuen in konkrete gemeinschaftliche Bezüge als auch der Unhintergehbarkeit einer recht verstandenen Idee von Freiheit und Gleichheit, die sich plural konkretisieren soll. Wovon sie dabei einfach ausgehen, ist, dass die Individuen prinzipiell die Möglichkeit der kritischen Bezugnahme auf sich und auf ihre sozialen Verhältnisse haben. Sie implizieren also nicht nur eine Sozialontologie, sondern auch eine philosophische Anthropologie, die die Bedingungen der Möglichkeit von Kritik an den konkreten Verhältnissen klärt. Das gemeinsame Gut, das die ,kommunitaristische' Kritik einfordert, ist dabei eine gewissermaßen fiktive politische Gemeinschaft, wie sie sich mit Tönnies begriffslogisch aus dem Ineinander von Gemeinschaft und Gesellschaft herleiten ließ. In einer solchen politischen Gemeinschaft situieren sich die konkreten kleineren Gemeinschaften. D.h. die einzelnen Individuen sind in ihrem Handeln einerseits eingebunden in die Normen und Werte ihrer direkten Umgebung, andererseits aber sind sie als Individuen auch Teil eines umfassenderen Ganzen. Vollzogen wird dies alltäglich in den unendlich differenzierten und nie vollkommen determinierten individuellen Handlungen - mit Plessner und indirekt auch Tönnies: gesellschaftlich. Durch diese Unbestimmtheit verändern sich die vollzogenen Gemeinschaften langsamer oder schneller je nach Verfestigungsgrad der gemeinschaftlichen Institution. Sowohl die konkreten Gemeinschaften als auch die Individuen müssen im Einklang mit dem umfassenden Ganzen stehen (können), das als Ausdruck des Willens aller vorgestellt werden muss. Der Rechtsgrund des institutionalisierten Bestehens (Staat) der fiktiven politischen „Gemeinschaft der Gleichen" (Rancière) ist dieses Ausdrucksverhältnis als normativer Wert. Das ist nun weder im Sinne Hegels noch Taylors noch Rawls' als totalitaristische Auffassung eines Staates zu verstehen, sondern muss gerade als Rechtsgrund der Auflehnung gegen solche Institutionen gesehen werden, die nicht Ausdruck der politischen Gemeinschaft aller, sondern der willkürlichen Macht und Herrschaft einiger Individuen über eine Vielzahl anderer sind. Sofern das rechtmäßige Ausdrucksverhältnis nicht besteht, müssen sich die Individuen auf ihren Status als freie und gleichwertige moralische Subjekte berufen können, um sich gegen die bestehenden Verhältnisse auflehnen zu können. Hier also sind die liberalen Werte auch für einen Kommunitarismus unumgehbar, wie es bereits Tönnies gesehen hat. In einer kaum rezipierten Wendung betont Tönnies die Notwendigkeit einer Berufung auf ein Allgemeinmenschliches, dessen Bedingungen der Möglichkeit Plessner in seiner philosophischen Anthropologie begründet. Es ist dabei immer klar, dass eine solche Kritik sich von bestimmten realen Verhältnissen her konkretisiert, also von konkreten
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Individuen und nicht von abstrakten Subjekten formuliert wird. Es unterliegt also den Denk- und Praxisformen der kritischen Individuen, welche konkrete Kritik formuliert wird und überhaupt formuliert werden kann. Weiterhin wird ein bestimmtes Ziel vorgebracht, das auch nicht einfach Freiheit und Gleichheit lauten kann, sondern sich für eine bestimmte Realisierung dieser Prinzipien ausspricht, also an bestimmte Forderungen geknüpft ist. Hier also ist dem kommunitaristischen Bemühen um die Erinnerung an die Situiertheit der Individuen in Gemeinschaften, Praxis- und Sprachformen zuzustimmen, auf die Tönnies mit seinem Gemeinschaftsbegriff hingewiesen hatte. Schließlich kommen Kommunitarismus und Liberalismus zusammen in der gemeinsamen Überzeugung, dass es einer Orientierung an einem gemeinsamen Gut bedarf: der politischen Gemeinschaft. In Tönnies' Staatsbegriff und Plessners Betonung des Politischen ist ein solches Gut als Strebensziel angelegt; wie es konkret aussehen soll, ist von ihren Sozialphilosophien her nicht bestimmbar. *
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Siglen- und Literaturverzeichnis
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und Gesellschaft.
SOM - Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen phische Anthropologie [1928].
Grundbegriffe
[1924].
der reinen
und der Mensch. Einleitung
in die
Soziologie
philoso-
Literatur Tönnies 'und Plessners Schriften sowie vor 1950 erschienene Arbeiten sind im Text und in den Fußnoten mit Kurztitel angegeben, alle anderen Titel werden mit Erscheinungsjahr zitiert. Bei fremdsprachigen Texten wurde, so verfügbar, die Ubersetzung zitiert.
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234
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Personenverzeichnis Kursiv gesetzte Seitenzahlen beziehen sich auf den Fußnotentext
Ackerman, Bruce 222 Adolphi, Rainer 134,230 Alwast, Jendris 36 Arendt, Hannah 18,24,217 Aristoteles 24, 35, 48,49,149, Arlt, Gerhard 136,191
Durkheim, Emile 26 Dux, Günter 187,208 Dworkin, Ronald 222, 224, 227,228, 229 162
Baila, Bálint 38 Baltzer, Ulrich 22,100 Beaufort, Jan 135, 136, 137, 138, 139, 140, 186, 189, 206, 208 Bellebaum, Alfred 43,109 Benhabib, Seyla 31,217 Bickel, Cornelius 28, 35, 36, 37, 38, 41, 44, 58, 60, 70, 72,114, 115,124, 125,128,135 Bielefeld, Heiner 159, 205, 216 Blättler, Sidonia 161 Bloch, Ernst 203 Brandom, Robert 21, 85,101,153,154 Braun, Hermann 127,134 Brunkhorst, Hauke 144, 223 Buber, Martin 32,125 Buchanan, Allan 14, 229 Burckhardt, Jacob 163 Cahnman, Werner J. 38, 39,43, 52, 70 Carnap, Rudolf 125 Castiglione, Baidassare 143 Clausen, Lars 43, 70,103,116 Comte, Auguste 27,38,126 Dahrendorf, Ralf 41 Deichsel, Alexander 41,126 Dewey, John 139 Dilthey, Wilhelm 44, 134, 186 Driesch, Hans 135
Ehrl, Gerhard 136,143 Engels, Friedrich 38,54 Erdmann, Karl Dietrich 27 Esposito, Roberto 18, 201 Eßbach, Wolfgang 151,172,186 Etzkorn, Peter 126 Eucken, Walter 125 Fahrenbach, Helmut 138,151,185,186,187 Fichte, Johann Gottlieb 189 Fischer, Joachim 134, 136, 140, 144, 151, 164, 168,181,189, 210 Foucault, Michel 187, 205 Fraser, John 37 Fraser, Nancy 169 Frerichs, Klaus 119,125 Freyer, Hans 42 Gamm, Gerhard 19,112,138,142,183,187,193, 203 Gangl, Manfred 28,113, 134,135 Gehlen, Arnold 131 Gehring, Axel 165, 166 Geiger, Theodor 22, 23 Giammusso, Salvatore 136,137,166,186, 216 Gierke, Otto von 38, 58, 111 Goldscheid, Rudolf 117 Görres, Joseph von 106 Gracián, Baltasar 143 Günzel, Stephan 161 Gutman, Amy 229
257
PERSONENVERZEICHNIS
Habermas, Jürgen 21, 25, 43, 57,107, 154, 180 Hacke, Jens 144 Hammacher, Emil 126 Hardt, Michael 30 Harms, Bernhard 128 Haucke, Kai 137, 141, 150, 151, 155, 161, 166, 186 Heberle, Klaus 27, 43, 52, 70, 125 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 14, 20, 21, 24-26, 30-31, 32, 36-40, 46, 69, 71-78, 85, 87-89. 92-98, 100, 102, 104, 106, 107, 108, 110, 112-119, 122-124, 133-134, 136-137, 139-141, 145, 155, 174-179, 183-184, 190191, 194, 196-200, 206, 209-210, 213-215, 217,219, 222, 226,230-231 Heidegger, Martin 18, 127, 138,186,189, 201 Henrich, Dieter 77 Hetzel, Andreas 142,166, 205,211 Hobbes, Thomas 24-25, 36-37, 38, 4 4 ^ 5 , 50, 53-55, 58,63-64,68, 69, 81,83, 84,104-107, 108, 112, 115, 116, 134, 149, 176-177, 206, 209, 210, 211-214, 222 Höffding, Harald 35 Höffe, Otfried 63, 209, 215, 225 Holz, Hans Heinz 137, 138, 140, 142, 151, 186,
König, René 27, 36, 41-43, 45, 62, 69 Kozyr-Kowalski, Stanislaw 37, 38 Kracauer, Siegfried 131, 212 Kraiker, Gerhard 26 Kramme, Rüdiger 205, 211 Krasnodçbski, Zdzislaw 144,150,166, 201 Krockow, Christian Graf von 127 Krüger, Hans-Peter 134,137,138, 139-140,157, 166, 172, 184, 186, 187, 190, 191, 195, 207, 208, 209, 210 Lethen, Helmut 132, 143, 151, 156,210 Lindemann, Gesa 140 Lindenfeld, David 35, 38, 48, 58, 61-62, 128 Luhmann, Niklas 204 Lukács, Georg 129, 212
Jacoby, Eduard-Georg 36, 37, 38, 43, 44, 45, 46, 69, 70, 72 Joas, Hans 194
Machiavelli, Niccolò 143 Maclntyre, Alasdair 18, 222, 226-227, 229, 231 Macpherson, Crawford 24, 63 Maihofer, Werner 113 Maine, Sir Henry Sumner 38, 58, 114 Makropoulos, Michael 29,172, 212 Manzei, Alexandra 137,159, 191,197 Marcuse, Herbert 28, 183 Marx, Karl 18, 20, 25, 26, 37-38, 43, 46, 53, 54, 57-64, 1\,83, 106, 108, 112, 116, 120, 122, 124, 134,210, 228 Mertens, Stefan 77 Merz-Benz, Peter-Ulrich 44-45, 88, 125, 223 Misch, Georg 135 Mitscherlich, Olivia 136,137,139-140,182,184, 190, 199, 204 Mohl, Robert von 26 Müller, Adam 106 Müller, Jan 150 Müller, Jan-Wemer 152, 161, 211, 216
Kambartel, Friedrich 113, 184 Kannetzky, Frank 32 Kant, Immanuel 20-21, 25, 36-37, 59, 63, 69, 74-75, 92, 113, 124, 134, 135, 141, 150, 154, 155, 157, 158, 161-163, 182-184, 187, 189, 190, 198, 222,225, 230 Käsler, Dirk 129 Kersting, Wolfgang 64 Kisiel, Theodore 127 Klages, Ludwig 68, 145
Nagel, Thomas 222,227 Nagl-Docekal, Herta 31 Nancy, Jean-Luc 18, 214 Natorp, Paul 125 Nauta, Lolle 134, 141, 144, 151, 211 Negri, Antonio 30 Nietzsche, Friedrich 37, 38, 66, 126, 134, 165, 208 Novalis 106 Nozick, Robert 222
187, 189-190, 194 Hondrich, Karl-Otto 137,164 Honneth, Axel 20, 33,113,169, 171,194, 222 Horkheimer, Max 183 Hösle, Vittorio 77 Husserl, Edmund 134 Ilting, Karl-Heinz
116,184
258 Opielka, Michael 32, 38, 223 Oppenheimer, Franz 35, 125 Osterkamp, Frank 43, 44, 45-46, 65, 67, 69, 70, 115,121 Otnes, Per 38 Paczkowska-Lagowska, Elzbieta 208 Pape, Ingetrud 188 Parsons, Talcott 32, 125 Paulsen, Friedrich 36 Pfütze, Hermann 41 Pietrowicz, Stephan 134,139, 140,199 Plessner, Helmuth 13.21,28-31,32,33,85,103, 124-125, 130-220, 223, 224, 228, 230-232 Rancière, Jacques 18,117,213,231 Raulet, Gérard 28 Rawls, John 154, 201, 214, 222-231 Rehberg, Karl-Siegbert 30, 38, 44, 51, 66, 143, 160,205 Rentsch, Thomas 17, 30, 92,138,142,184, 185186,189 Ricardo, David 38 Richter, Norbert Axel 138, 140, 151, 166-167, 207, 211, 215 Riedel, Manfred 13, 23,25 Rohbeck, Johannes 57, 58, 62 Roughley, Neil 185 Rousseau, Jean-Jacques 18, 24-25, 50, 58, 61, 63, 64,106-107,108,110, 112, 114, 123,136, 145,149, 213, 222 Rudolph, Günther 36, 37,44, 60, 62, 72,117, 128 Salomon, Albert 41 Sandel, Michael 18, 222, 226-227, 229, 231 Sandkaulen, Birgit 136, 150-151,164, 200 Scanion, Thomas 222, 227 Schäffle, Albert 163 Schatzki, Theodor 86 Scheler, Max 45,127-128, 131, 138,187 Schelsky, Helmut 32 Schleiermacher, Friedrich 163 Schlüter, Klaus 38, 70,103,109,128 Schmid, Hans-Bernhard 21,153 Schmitt, Carl 207,211-212 Schnädelbach, Herbert 78,110,144 Schopenhauer, Arthur 37,66, 124, 143
PERSONENVERZEICHNIS
Schürmann, Volker 138,145,187,192 Sennett, Richard 22, 147,162,166 Siep, Ludwig 78 Simmel, Georg 27, 33, 125-126, 163-165 Smith, Adam 38, 55,63 Sombart, Werner 41 Spencer, Herbert 27, 37-38, 69,114, 126 Spengler, Oswald 35, 126, 145 Spinoza, Baruch 37, 65, 69, 134, 208 Srubar, lija 208, 216 Stein, Edith 125 Stein, Lorenz von 26 Stekeler-Weithofer, Pirmin 20, 32, 49, 72, 74, 75, 77, 101,184,188 Stoltenberg, Hans Lorenz 72 Suber, Daniel 33 Taylor, Charles 20, 206, 222-223, 226, 230-231 Tietz, Udo 21, 152 Tocqueville, Alexis de 38 Tönnies, Ferdinand 13, 19,25-31, 33-55, 57-73, 75-85, 87-98, 100-138, 140-141, 143-145, 147-150, 156, 165, 174-179, 190, 196, 203, 209-210, 212, 213-215, 217, 220, 223, 230232 Tönnies, Sibylle 35, 36, 38,128 Tuomela, Raimo 22, 47 Uexküll, Jakob von 135 Vierkandt, Alfred 54, 126-127 Vogl, Joseph 65,103, 214 Vorländer, Karl 125 Wallace, Andy 135, 206, 209, 214, 223 Walther, Gerda 125 Walzer, Michael 222, 228-229,230, 231 Weber, Max 27, 45, 67, 70, 124, 125, 126, 152, 211 Weingarten, Michael 137,197 Wenzler-Stöckel, Isabel 28, 42,129, 135 Wiese, Leopold von 163,165 Wittgenstein, Ludwig 86,142, 168,185 Wundt, Wilhelm 37, 48, 125 Zander, Frank 27 Zyber, Erik 203
Timm Genett
Der Fremde im Kriege Zur politischen Theorie und Biographie von Robert Michels 1 8 7 6 - 1 9 3 6 Politische Ideen, Band 20 2008. 852 S., 170 χ 240 mm, HC, € 89,90 ISBN 978-3-05-004408-8 Diese intellektuelle Biographie unternimmt eine grundlegende Revision von Robert Michels' politischem Werk und Leben; sie ist die bislang umfassendste Gesamtdeutung jenes Klassikers der Politikwissenschaft. Hat die Forschung bisher beim frühen Michels nach Erklärungen für die spätere Wende zum akademischen Botschafter des italienischen Faschismus gesucht, wird hier auf der Basis unbekannten Text- und Archivmaterials der ,Präfaschist' Michels als Legende - der Forschung, aber auch des späten Michels selbst - entlarvt. Das macht den Blick frei auf den unkonventionellen Sozialdemokraten Michels: als radikaler Liberaler und Republikaner, Feminist, Sexualreformer, Bewegungsforscher; leidenschaftlicher Vertreter des nationalen Selbstbestimmungsrechts und europäischer Pazifist.
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Ingo Elbe
Marx im Westen Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik seit 1965 Politische Ideen, Band 21 2., korr. Aufl. 2010. 644 S. - 170 χ 240 mm, Festeinband, € 69,80 ISBN 978-3-05-004920-5 Über Jahrzehnte beanspruchten die komplementären Diskurse des östlichen partei-, später staatsoffiziellen Marxismus sowie des westlichen Antikommunismus die nahezu uneingeschränkte Definitionsmacht über das, was gemeinhin als ,Marxsche Theorie' oder wissenschaftlicher Sozialismus' galt. Dagegen machte sich ab Mitte der 1960er Jahre eine neue Lektüre-Bewegung vor allem in der Bundesrepublik daran, die originellen wissenschaftlichen Gehalte des Marxschen Denkens zu entdecken. Der Rezeptionsschutt der vorangegangenen 100 Jahre sollte weggeräumt werden, um für die Rekonstruktion einer kritischen Gesellschaftstheorie mit einem innovativen Methoden- und Gegenstandsverständnis Platz zu schaffen. Das Buch vergegenwärtigt die Quellen, Geschichte und Resultate dieses neuen Diskussionskontexts. Drei Stränge der Debatte werden näher beleuchtet: die methodologische und werttheoretische Grundlagenforschung, die Staatsableitung sowie die Untersuchung der revolutionstheoretischen Implikationen der Kritik der politischen Ökonomie. Dabei wird gezeigt, dass in einem noch keineswegs abgeschlossenen Forschungsprozess die Umrisse einer bei Marx angelegten Theorie erkennbar werden, die wichtige Impulse zum Verständnis der modernen Reichtums- und Herrschaftsformen geben kann und in vielem geradezu das Gegenteil von dem zeigt, was man von Marx in marxistischen wie nicht-marxistischen Kreisen zu wissen glaubte.
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