BAND 20 Der Fremde im Kriege: Zur politischen Theorie und Biographie von Robert Michels 1876-1936 9783050061436, 9783050044088

Diese intellektuelle Biographie unternimmt eine grundlegende Revision von Robert Michels’ politischem Werk und Leben. Si

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German Pages 852 Year 2008

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BAND 20 Der Fremde im Kriege: Zur politischen Theorie und Biographie von Robert Michels 1876-1936
 9783050061436, 9783050044088

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Timm Genett Der Fremde im Kriege Zur politischen Theorie und Biographie von Robert Michels 1876-1936

POLITISCHE IDEEN

Band 20

Herausgegeben von Herfried Münkler Die politische Ideengeschichte hat seit dem Ende der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West, der Transformation der Gesellschaften Mittel- und Osteuropas, aber auch mit den seit dem Wegfall des klassischen Gegenbildes dringender gewordenen Fragen nach Werten und Zielen der westlichen Demokratien, nach der Möglichkeit von Gemeinwohlorientierungen usw. neue Bedeutung gewonnen. Gibt es in dem zunehmend differenzierten und segmentierten Fach Politikwissenschaft einen Bereich, in dem die verschiedenen Fragestellungen und Ansätze zusammengeführt werden, so ist dies die Geschichte der politischen Ideen sowie die politische Theorie. Insbesondere die politische Ideengeschichte erweist sich dabei als das Laboratorium, in dem gegenwärtige politische Konstellationen gleichsam experimentell an den Theoriegebäuden vergangener Zeiten überprüft, durchdacht und intellektuell bearbeitet werden können. Eine so verstandene politische Ideengeschichte ist gegenwartsbezogen, auch wenn sie sich den aktuellen politischen Problemen nur mittelbar zuzuwenden scheint. Diese Reihe ist ein Ort für die Publikation solcher Studien. Sie veröffentlicht herausragende Texte zur politischen Ideengeschichte und zur politischen Theorie.

Timm Genett

Der Fremde im Kriege Zur politischen Theorie und Biographie von Robert Michels 1 8 7 6 - 1 9 3 6

^ ^

Akademie Verlag

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort. Abbildung auf S. 11: Robert Michels, ca. 1921, Privatarchiv Maria Gallino, Turin.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-05-004408-8 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2008 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Lektorat: Mischka Dammaschke Satz: Frank Hermenau, Kassel Druck: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Bindung: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach Einbandgestaltung: Petra Florath, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

Vorwort

13

I. Einleitung: Die Suche nach Identität und Kontinuität: Spuren und Fallstricke einer umstrittenen politischen Biographie . . .

15

II. Zur soziomoralischen Innenseite von Modernisierungswidersprüchen: Robert Michels' politische Struktur- und Sittenkritik des Kaiserreiches

33

1. Vater, Regiment, studentische Boheme: Zur Genese von Michels' Antikonformismus

33

2. Erotik, Feminismus und neue Sexualmoral

43

2.1. Der außeralltägliche Sensationswert der Erotik 2.2. Doppelmoral 2.3. „Liebeswissenschaft": Michels' kritische Kultursoziologie der Sexualität 2.4. Apologie des Feminismus 2.5. Demokratisches Gleichheitsideal und progressiver Sozialdarwinismus: Michels'Reform der Ehe 2.6. Individualisierung 2.7. Die psychologische Innenseite der Emanzipation: Selbstbehauptung . . 3. „Ein Land aus Stuck": Michels' Kritik an der unvollendeten Modernisierung des Deutschen Reiches 3.1. Reichsverfassung, Reichstagsiraktionen und das liberalrepublikanische Erbe 3.2. Feudalisierung und Militarisierung: zur Psychologie des Wilhelminischen Bürgertums 3.3. Kaisertreue 3.4. Neue Nationalpädagogik 3.5. Die voraussetzungsvolle Voraussetzungslosigkeit der Geschichtswissenschaft und die Verhinderung einer akademischen Karriere

45 49 52 58 61 69 78 80 84 90 96 102

111

6

Inhalt 4. „Demokratischer Nationalismus": Michels' Engagement für das Selbstbestimmungsrecht der Völker

117

4.1. Mancini statt Marx 4.2. Ladislaus Gumplowicz und die Dichotomie von „demokratischem Nationalismus" und „abstraktem Internationalismus" 4.3. Der blinde Fleck des „demokratischen Nationalismus" in der Theorie und seine Instrumentalisierbarkeit in der Praxis 4.4. Die Rationalität des Völkerfriedens und die Realität des Imperialismus 4.5. Rassenanthropologische Einflüsse und die Dialektik des Selbstbewußtseins

119 123 132 136 139

III. Die Brücke zur Zweiten Internationale

146

1. Der Positivismus der zweiten Phase

146

1.1. Der deutsche Darwinomarxismus

153

2. Die sozialreformistische Periode von 1900 bis 1903

163

2.1. Neue soziale Bewegungen: das zivilgesellschaftliche und das sentimentale Paradigma 2.2. Die positivistische Kriminalistik der Lombroso-Schule 2.3. Positiver Massenbegriff und verkappter Elitismus 2.4. Der positivistische Moralbegriff

164 177 184 190

IV. Am Krankenbett des Proletariats: Der Intellektuelle und die Arbeiterpartei (1903 -1907)

201

1. Die Legende von Dresden und die politische Wende vom Sozialreformismus zur revolutionären Intransigenz ( 1903) 1.1. Die Legende von Dresden 1.1.1. Die Heine-Affäre 1.1.2. Die narrative Konstruktion der Lebensgeschichte 1.2. Was geschah wirklich in Dresden? 1.2.1. Der „Fall Bernhard" und die „Akademiker-Frage" 1.2.2. Die Marburger Stichwahlaffäre: ein innerparteilicher Betriebsunfall 1.2.3. Am Abend der gewonnenen Schlacht: Der Heine-AfFáre letzter Akt 1.3. Das Motiv der Radikalisierung: der Sommer des Republikanismus 2. Von der republikanischen Intransigenz zum revolutionären Revisionismus ( 1904)

201 201 205 211 214 215 222

.

224 231 243

2.1. Der Reformismus als „stato d'animo" erfolgreicher Organisationen . . 243 2.2. Der Spagat des „sozialdemokratischen Klassenkämpfers" 248

Inhalt

7 2.3. 2.4. 2.5. 2.6. 2.7. 2.8.

Das positivistische Hinterland des „Etico-Sozialismus" Der Ministerialismus als Erfahrungssubstrat der Intransigenz Das Maß aller Dinge: Kautsky Der Wert der Republik Warten auf die „faule Revolution" „Revolutionärer Revisionismus"

3. Michels und der revolutionäre Syndikalismus 3.1. Programmatik und institutionelle Gestalt des revolutionären Syndikalismus 3.2. Argumente gegen die Sorelianisierung des Syndikalismus: Michels' Beiträge zur Gewalt-, Intellektuellen- und Organisationsfrage 3.3. Georges Sorels ästhetischer Bellizismus: nicht mehr als eine Skizze der „Weltabgeschiedenheit"

251 256 260 266 270 279 284 285 293 308

4. Die Entdeckung der Oligarchie im Kontext der Massenstreikdebatte ( 1905). 316 4.1. Die Gewerkschaften: eine Reichsberatungsstelle für Sozialpolitik . . . 4.2. Autoritarismus in demokratischer Form: die Nachfolger des „Präsidenten-Diktators"

316 330

5. Probelauf für den Weltkrieg: Die deutsche Sozialdemokratie in der Marokko-Krise und die Geburt der Organisationssoziologie (1905-07). . . 339 5.1. 5.2. 5.3. 5.4. 5.5

Das Kaiserreich als „genetischer Schwerpunkt" der Kriegsgefahr . . . 339 Das Projekt und Scheitern einer antimilitaristischen Internationale . . . 344 Die Geburt der Organisationssoziologie 360 Die Hottentottenwahlen 370 Das Ende der sozialdemokratischen Hegemonie in der II. Internationale und der Abschied von der Politik 375

V. Die Demokratische Sozialpädagogik im Vorfeld der Parteiensoziologie (1907-1910) 388 1. Economia politica pura

388

2. Gewalt, Mitläufertum und Demagogie: der Turiner Generalstreik und das Projekt einer demokratischen Erziehung

393

3. Zwischen Aufklärung und Pessimismus: die „psychologische Krise des Sozialismus"

403

VI. Zwischen Revitalisierung und Vergeblichkeit: Zur „Vivisektion" der Demokratie in der „Soziologie des Parteiwesens" 1. Desillusionierende Sozialpädagogik: Die Sinnverkehrungsgefahren der Demokratisierung

411 412

8

Inhalt 1.1. Fundamentaldemokratisierung: Michels' ökonomische Studien im Entstehungskontext der Parteiensoziologie 412 1.2. Zum Untersuchungsgegenstand der Parteiensoziologie 419 1.3. Zwischen Scylla und Charybdis: die ,Säkularisierung' der Elitentheorie 422 1.4. Die strukturimmanente Tendenz der Organisation zur Oligarchie . . . 424 1.5. Exkurs: Die Oligarchiethese im narrativen Kontext von ,Enttäuschung', ,Entsagung' und akademischem Heroismus . . 430 1.6. Die Demokratie-Begriffe der Parteiensoziologie 433 1.7. Die Genese des oligarchischen Geistes aus der Interaktion von Massen- und Führerpsychologie 436 1.7.1. Psychologische Metamorphose, Parteidisziplin und Gewohnheitsrecht auf Delegation 436 1.7.2. Massenpsychologie 441 1.7.3. Eklektizismus, Historizität und demokratische Fragestellung: Michels' Sonderstellung als ,Massenpsychologe' 446 1.8. Fraktion, Präsidium, Landesfursten und lokale Cliquen: Zur pluralen Machtstruktur von Michels'„politischer Klasse" . . . . 451 1.9. Die strukturkonservativen Effekte der Parteiorganisation und die Widerlegung des sozialistischen Zukunftsversprechens . . . 460 1.10. Desillusionierung und Sozialpädagogik: Der Parteiensoziologe als demokratischer Aufklärer 469 2. Die Vergeblichkeit der Demokratisierung: zum epistemologischen Hintergrund der Parteiensoziologie 2.1. Michels' Affinität zum soziologischen Positivismus Ludwig Gumplowicz' 2.2. Ein Lob auf den „Rassenkampf' 2.3. Exkurs: eadem et non aliter - Ludwig Gumplowicz' Soziologie und die antitelelogische Wende des Positivismus 2.4. ,Gruppistische' Begriffe, Positionen und Theorien in Michels' Soziologie 2.5. Die Krise des Positivismus 2.5.1. Der Verlust des progressiven Vorzeichens und die Synthese von Aufklärung und Pessimismus 2.5.2. Die Brücke vom positivistischen Sozialismus zur naturgesetzlichen Soziologie und die Synthese zwischen Positivismus und Neoidealismus 2.5.3. Die Durchschlagskraft der naturwissenschaftlichen Metaphorik: Eugenismus und Anthropologie der Ungleichheit

477 479 482 486 498 517 519

521

527

Inhalt

9

VII. Die unvollendete Soziologie des Patriotismus (1912-1936)

...

532

1. Michels'Begriff der Nation zwischen Vertrags-und Milieutheorie . . . .

535

2. Historizität, Kontingenz und Mythologie des Nationalismus

544

3. Ein relativistisches Forschungsprogramm: das „Rembrandtsche Bild" . . .

557

VIII. Apologie und Kritik des italienischen Imperialismus (1911-1912). 560 1. Demographische Begründung und neomalthusianische Kritik des Kolonialkrieges

563

2. Politische Begründung der Expansion mit antiimperialistischen Tönen . .

568

3. Die Dysfunktionalität des Kolonialkrieges

571

4. Ideengeschichtlicher Kontext und politisch-moderierende Motivation von Michels' Imperialismus-Studie

574

5. „Megalomanischer Einschlag": Michels' Distanz zum neuen Nationalismus Enrico Corradinis 580 IX. Der Fremde im Kriege Ein unbekanntes Kapitel der Intellektuellengeschichte des Ersten Weltkrieges (1913-1920)

589

1. Der Krieg der Intellektuellen und die Marginalität des Krieges in der Michels-Rezeption

589

2. Abschied vom deutschen Sonderweg: Die ausgebliebene modemisierungstheoretische Analyse des Krieges

599

3. Resignative Skepsis und politische Neutralität (August 1914 - Mai 1915)

601

4. Vereitelte Karriereplanung: die „Professur in Deutschland" 4.1. Exkurs: Anerkennung, Konkurrenz und Selbstüberforderung Michels'Aufstieg in der deutschen Soziologie vor dem Krieg . . .

614

5. Die Erklärung der Italianität

627

6. „Im feindlichen Lager": Michels' unfreiwilliger Bruch mit Deutschland .

630

7. Der Fremde im Kriege 7.1. Das Scheitern des kosmopolitischen Lebensentwurfs und der vergebliche Kampf um Anerkennung als Italiener 7.2. Abwarten, anpassen, verteidigen: Der Fremde als Regierungssprecher 7.3. Vom Fremden im Kriege zum Fremden im Frieden

643 643 650 654

8. Suizidaler Sozialismus, elitärer Nationalismus und libertäre Mythologie .

661

617

10

Inhalt 9. Der Kriegschulddiskurs und die Suche nach einer Elite „neuer Menschen" 9.1. Moralpädagogische Kompetenz ohne Gefolgschaft: Kurt Eisner . . 9.2. Die demokratische Variante des deutschen Kriegsschulddiskurses: Eduard Bernstein 9.3. Die gesinnungsfundamentalistische und pseudoreligiöse Variante: Wilhelm Muehlon und Friedrich Wilhelm Foerster 9.4. Michels, Muehlon und die „schreckliche Waffe der Verproviantierung" 9.5. Von ,kriegsentscheidender' Bedeutung: Michels' Freundschaft zu seinem „Bruder" George Davis Herron

X. Robert Michels und der italienische Faschismus (1919-1936) . . .

670 677 685 689 696 703

722

1. Die Legende vom frühen Parteieintritt und die „biographische Illusion" der Michels-Rezeption

722

2. 1919 - 1922: Regierungsloyalität und das Lob der „goldenen Mitte" . . .

732

3. Soziologie, Genese und Programmatik des Faschismus

744

4. Gouvernementales Leitmotiv: ,fascismo governo' versus , fascismo movimento '

761

5. Der Bildhauer der Massen: die „charismatische Wende" in Michels' Elitentheorie

770

6. Der schöne Schein der zwanglosen Konsensdiktatur: zur zeitgenössischen Attraktivität und Repräsentativität von Michels' Faschismusbild

778

7. Zugang zum Machthaber? - Michels' Scheitern als friedenspolitischer Berater

792

XI. Schlußwort

800

Archive

805

Bibliographie

810

Personenverzeichnis

846

Vorwort

Diese intellektuelle Biographie über Robert Michels' politisches Werk und Leben ist nahezu identisch mit der Dissertation, die ich an der Philosophischen Fakultät III der Humboldt-Universität zu Berlin im Juli 2007 verteidigt habe. Sie ist die erste Gesamtdeutung dieses Klassikers der Politikwissenschaft seit über drei Jahrzehnten. Begleitet wird sie von der Edition „Robert Michels: Soziale Bewegungen zwischen Dynamik und Erstarrung", die ich im Dezember 2007 ebenfalls im Akademie Verlag als Band 2 der „Schriften zur europäischen Ideengeschichte" (hg. v. Harald Bluhm) herausgegeben habe. Den größten Teil des vorliegenden Buches habe ich in den Jahren 2000 bis 2005 in unzähligen kleinen Zeiteinheiten in meiner Freizeit geschrieben, begleitend zu meiner politischen Arbeit als Referent im Deutschen Bundestag. Daher gebührt ein besonderer Dank dem Bundestagsabgeordneten Günter Baumann, ohne dessen exzellente Mitarbeiterführung dieses ,postakademische' Projekt wie in vielen vergleichbaren Fällen kein erfolgreiches Ende gefunden hätte. Dankbar bin ich zudem meinen akademischen Lehrern: Wolfgang Hardtwig, der mir als erster die Beschäftigung mit Robert Michels empfohlen und bereits eine Magisterarbeit zum jungen Michels betreut hat; und Herfried Münkler, der das Promotionsvorhaben nach meinem Wechsel von der Geschichte zur Politikwissenschaft weiter unterstützt hat. Für Rat und Hilfe möchte ich vor allem der Fondazione Luigi Einaudi, deren Forschungsstipendiat ich von 1996 bis 1998 war, und ihren Mitarbeitern in Archiv, Bibliothek und Verwaltung danken; Mischka Dammaschke für die hervorragende Betreuung von Verlagsseite sowie Frank Hermenau, der sich wie schon bei dem Editionsband als vorzüglicher Setzer mit ideengeschichtlichem Blick erwiesen hat. Mein allergrößter Dank aber gilt der Michels-Enkelin Maria Gallino. Ihr verdanke ich unter vielen anderen Dingen die italienische Sprache. Berlin, im Februar 2008

Timm Genett

I. Einleitung: Die Suche nach Identität und Kontinuität Spuren und Fallstricke einer umstrittenen politischen Biographie

Es gehört zu den erstaunlichsten Leistungen des menschlichen Gedächtnisses, vergangenen Ereignissen in der Retrospektive eine Bedeutung zuzumessen, die diese zum Zeitpunkt ihres Eintreffens nie gehabt haben. Indem es Zurückliegendes wertet und dabei auch umwertet, überfuhrt das Gedächtnis oft die Kontingenz der Biographie in eine sinnfällige Kohärenz der Lebensführung, es stellt Verbindungslinien her, die, anstatt die einzelnen Lebensdaten zu summieren, sie als ein unteilbares Ganzes interpretieren. Die Gegenwart wird dann zum Telos, zur Erfüllung des in der Lebensführung und in den Entscheidungen der Vergangenheit bereits Präfigurierten. Die (Auto-)Biographien berühmter Persönlichkeiten, insbesondere von Politikern, bieten eine Fülle von Beispielen fur die Herstellung von Identität durch das Kurzschließen von Vergangenheit und Gegenwart. Auch die historische Biographieforschung ist von dieser problematischen Tendenz zur kohärenten Erzählung keineswegs ausgenommen. So sah sich Pierre Bourdieu veranlaßt, auf die Täuschung einer „biographischen Illusion" hinzuweisen, die in der unausgesprochenen Prämisse vieler biographischer Rekonstruktionen bestehe, „daß ,das Leben' ein Ganzes konstituiert, einen kohärenten und orientierten Zusammenhang, der als ein einheitlicher Ausdruck einer subjektiven und objektiven ,Intention', eines Projektes aufgefaßt werden kann und muß".1 Gerade wer sich mit Robert Michels' (1876-1936) wissenschaftlichem wie politischem Lebenswerk beschäftigt und zu einem angemessenen Verständnis desselben gelangen will, wird die „biographische Illusion" als kritisches Korrektiv der Deutung mitreflektieren müssen. Die Schriften des italo-deutschen Soziologen sind von einem ausgeprägten Hang zur Selbstthematisierung durchzogen, die teils explizit, teils zwischen den Zeilen dem Leser Spuren legen, die geeignet scheinen, das Geheimnis seiner „zutiefst beunruhigenden Biographie"2 zu offenbaren. In jungen Jahren demokratischer Sozialist und libertärer Kritiker der Wilhelminischen Monarchie mit einer antiautoritären wie antikonformistischen Haltung, wandelt

1

2

Pierre Bourdieu, Die biographische Illusion, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History, I, 1990, S. 75-81, S. 75. Den Hinweis auf diese Problematik verdanke ich Friedrich Lenger, Werner Sombart 1863 —1941. Eine Biographie, München 1994, S. 15f. So Joachim Milles, Brüche und Kontinuitäten eines radikalen Intellektuellen, Einführendes Vorwort zu: Robert Michels, Masse, Führer, Intellektuelle. Politisch-soziologische Aufsätze 1 9 0 6 1933, Frankfurt a.M./New York 1987, S. 7-30, S. 7.

16

I. Einleitung: Die Suche nach Identität und Kontinuität

sich der Soziologe und wohl „kosmopolitischste Intellektuelle der Jahrhundertwende"3 in den zwanziger Jahren zum akademischen „Botschafter"4 des italienischen Faschismus, der seine Verehrung für den „charismatischen Führer" Benito Mussolini offen zum Ausdruck bringt. Eine für die Zeit nicht untypische Entwicklung, wenn man bedenkt, daß die Zäsur des Ersten Weltkrieges zahlreiche biographische Wenden evoziert hat. Dennoch ist Michels das prominenteste Beispiel und nimmt in der „Reihe linker Renegaten eine Sonderstellung ein, insofern es nur wenige Beispiele für eine Wende von der radikalen Linken zum Faschismus gibt".5 Es dürfte wohl diese paradox anmutende Widersprüchlichkeit seiner politischen Entwicklung gewesen sein, die Michels in den dreißiger Jahren zu autobiographischen Reflexionen veranlaßt hat. Diesen soll das aufrichtige Bemühen, sich seiner Identität zu versichern, keineswegs abgesprochen werden, aber dennoch ist hier Vorsicht geboten. Die hier freigelegten Spuren auf ein vermeintlich identisches Zentrum seiner Existenz überlagern und verwischen andere Spuren, die ganz und gar nicht auf ein solches Zentrum hinführen. Michels' Beschäftigung mit seinen politischen Wurzeln, seiner intellektuellen Identität und seiner nationalen Herkunft vermittelt dabei in der Synopse eher den Eindruck, daß das Insistieren auf Identität auch eine Bearbeitung, wenn nicht gar Camouflage ihrer Krise ist. Die Selbstdeutungen des späten Michels sind von großem Interesse, eben weil sie einerseits heuristisch Wertvolles bieten, andererseits aber auch zu Fehldeutungen einladen, die offensichtlich aus jenem psychologischen Bedürfnis nach einer narrativen Konstruktion der Lebensgeschichte resultieren, das der „biographischen Illusion" zugrundeliegt. Drei Spuren lassen sich aus den späten Schriften deutlich herauslesen: 1.) 1932 veröffentlicht Michels einen autobiographischen Rückblick auf sein sozialdemokratisches Engagement in den Jahren 1903 bis 1907 und präsentiert seinen bunten Marburger Intellektuellenzirkel von damals, in dem sich Sozialisten, Wissenschaftler, Kantianer und Tolstoianer trafen, unter einer Überschrift, die eine eindeutige politische Option suggeriert: „eine syndikalistisch gerichtete Unterströmung im deutschen Sozialismus".6 In Verbindung mit den kurz zuvor publizierten Briefen von Georges Sorel7 an Michels wird so die Teilhabe an einer politischen Strömung reklamiert, die historisch

3 4 5 6 7

So Frank R. Pfetsch in seiner Einleitung zu R. Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, 4. Aufl., Stuttgart 1989, S. XVII-XLI, S. XVIII. Loreto di Nucci, Roberto Michels „ambasciatore" fascista, in: Storia contemporanea, anno XXIII, Nr.l, febbraio 1992, S. 91-103. Pfetsch, 1989, S. XXXI. R. Michels, Eine syndikalistisch gerichtete Unterströmung im deutschen Sozialismus (1903-1907), in: Festschrift für Carl Grünberg zum 70. Geburtstag, Leipzig 1932, S. 343-364. R. Michels, Lettere di Georges Sorel a Roberto Michels, in: Nuovi studi di diritto, economia e politica, Vol. II, fase. 5, anno VIII, 1929, Estratto, Rom 1930, 8 Seiten. Bemerkenswert ist das Urteil des Zeitzeugen Antonio Gramsci, der zu der Edition bemerkt hat: „cinque letterine [...] di carattere tutt'altro che confidenziale, ma piuttosto di corretta e fredda convenienza" [fünf Briefchen [...] alles andere als vertraulich, sondern vielmehr von korrekter und kalter Höflichkeit]. Vgl. A. Gramsci, Quaderni del Carcere I, Quaderni 1-5 (1929-1932), Torino 1977, S. 238.

I. Einleitung: Die Suche nach Identität und Kontinuität

17

wie ideologisch zu den Wegbereitern des italienischen Faschismus gehört: der revolutionäre Syndikalismus. 2.) Nicht minder bedeutsame autobiographische Züge trägt Michels' intensive Beschäftigung mit der Kölner Familientradition und seiner rheinländischen Herkunft. So hat er in einer Hommage an seinen Großvater Peter Michels diesen als Symbolfigur der geradezu idyllisch anmutenden, durch Gemeinschaftsgeist und Altruismus charakterisierten patriarchalischen Kaufmannstraditionen des familiären Textiluntemehmens präsentiert.8 Peter Michels ist 1870 gestorben, gewissermaßen am Vorabend des deutschfranzösischen Krieges und des deutschen Kaiserreiches. Die repräsentative Bedeutung dieses Todes, der eine Art Bruchlinie zwischen der alt-rheinischen Sozialmoral und der bald darauf einsetzenden Prussifizierung des Rheinlandes zu markieren scheint, ist in Michels' späten Schriften nicht zu übersehen. Überdeutlich tritt hier der Gegensatz von Preußentum und ,/omanischem" Rheinland hervor.9 Letzteres separiert Michels, seit 1921 italienischer Staatsbürger, und dies sogar im Rang eines „Ehrenritters des italienischen Königreiches",10 zumindest geistig von Deutschland und überfuhrt es in einen größeren Zusammenhang. Die „historische Sphäre des alten Rom" scheint nun die neuzeitlichen Nationalstaatsgrenzen kulturell zu unterlaufen: Köln wird zur „Tochter Roms", die Rheinländer und insbesondere die katholische Gesellenbewegung eines Adolf Kolping zu Trägern eines romanophilen wie kosmopolitischen Patriotismus, der die ehemaligen Kolonien des römischen Imperiums in einer transnationalen Kultur der „Latinität" miteinander ideell verbindet. Und Michels selbst wird sich einen ,/ornano di Renania" nennen.11

8 R. Michels, Peter Michels und seine Tätigkeit in der rheinischen Industrie, in der rheinischen Politik und im rheinischen Gesellschaftsleben, Sonderdruck aus dem 12. Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins, Köln 1930, 98 Seiten. Charakteristisch für die Darstellung des Großvaters ist der von ihm zitierte Satz: „Ich habe in meinem Leben gefunden, daß der größte Egoismus [,] das größte Glück, welches man sich selbst zu schaffen im Stande ist, darin besteht, andere glücklich zu machen" (S. 97). Im Jahr seines Todes hat Michels auch den großväterlichen Vorfahren mütterlicherseits, der belgisch-spanischen Adelsfamilie Van Halen eine Studie gewidmet, die er mit dem Interesse an „nationaler Komplexität" begründete. Vgl. R. Michels, Don Juan van Halen (1788-1864). Contribution à l'Histoire Belge et Espagnole, in: Bulletin de l'Association des Amis de l'Université de Liège, Janvier-Avril 1936, Extrait, 42 Seiten. 9 Vgl. Michels, Étude sur les relations historiques entre la France et les pays du Rhin, in: Revue historique, Bd. 134, Sonderabdruck 1922, 42 Seiten, S. 42: „Le Rhénan n'est past Prussien; il n'en a ni les qualités ni les défauts." 10 Diese Auszeichnung muss Michels kurz nach dem Krieg zuteil geworden sein - aufgrund seiner politischen Öffentlichkeitsarbeit zugunsten Italiens im Weltkrieg. Vgl. die Ehrenerklärung des R. Consolato Generale d'Italia in Basilea, 21.6.1920, in der ihm dieser Titel aufgrund dieser Verdienste attestiert wird; ARMFE (Archivio Roberto Michels, Fondazione Luigi Einaudi). 11 Vgl. hierzu R. Michels, Orme italiane nei paesi renani, in: Nuova Antologia, 16.4.1936, S. 458466; ders., Cenni sull'atteggiamento dei Renani di fronte al Risorgimento italiano, in: Nuova Rivista Storica, anno XVIII, Fasc.I, Milano 1934, Estratto, 4 Seiten; ders., Una Figlia di Roma, in: Nuova Antologia, 16.8. 1932, Estratto, 13 Seiten (In der Bibliothek des AFLE [Archivio Fondazione Luigi Einaudi] findet sich ein Exemplar mit der Widmung: „A Luigi e Mario Einaudi

18

I. Einleitung: Die Suche nach Identität und Kontinuität

3.) Diesen Selbstbildern, der politischen Identität des „revolutionären Syndikalisten" und der nationalen Identität des „rheinischen Römers", hat Michels noch ein die intellektuelle Identität in Blick nehmendes hinzugefügt. 1935 erinnert sich Michels an Spaziergänge, die er am Anfang der 1890er Jahre im Wartburgwald mit dem Historiker Heinrich von Treitschke unternommen hat, und widmet diesem eine würdigende Studie, die angesichts der spärlichen Treitschke-Bezüge in Michels' Œuvre überraschend ist. Für den jungen Michels dürfte Treitschkes Apologie deutscher Machtpolitik allenfalls eine negative Kontrastfolie seiner eigenen sozialistischen, pazifistischen und demokratischen Positionen gewesen sein. 1935 dagegen hat Michels den Wandel in Treitschkes Biographie, vom demokratischen Liberalismus zum Anwalt bismarckischer Machtpolitik, zur Tugend erhoben: „Es gibt nur wenige Politiker und Historiker, die in einem Zeitraum von vierzig Jahren leidenschaftlicher politischer und publizistischer Aktivität, ihre Ideen [...] unverändert beibehalten haben. Und zu Unrecht erscheinen diese Wenigen den Nachkommen zuweilen im Licht der Rechtschaffenheit oder der wissenschaftlichen Redlichkeit, während sie selbst nichts anderes sind als a priori Verstockte,... unfähig, trügerische Vorurteile zu überprüfen und sich von den Tatsachen belehren zu lassen ..."12 Wie hier der Wandel politischer Positionen zum Signum intellektueller Redlichkeit stilisiert wird, die politische Meinungstreue dagegen mit der Psychologie einer verstockten Minderheit im intellektuellen Spektrum identifiziert und abqualifiziert wird, nährt die Vermutung, daß Michels' Beschäftigung mit Treitschke über ein historisches Interesse weit hinausgeht. Sie wird, vierzig Jahre nach den Treffen im Thüringer Wald, zum Medium einer autobiographischen Reflexion: die Annahme einer Identität des sich stetig selbst revidierenden Intellektuellen vermag das Paradoxe und Beunruhigende an den Brüchen der persönlichen Lebensgeschichte wegzuerzählen. Hinter dem Interesse an dem Historiker Treitschke scheint sich das Interesse am Symbol Treitschke zu verbergen: der beständig die Wahrheit suchende, die Räumung liebgewonnener Positionen niemals scheuende Intellektuelle. Diese von Michels selbst ins Spiel gebrachten, seine Biographie in einen übergreifenden Sinnzusammenhang integrierenden Identitätsmuster sind in der Rezeption des Michelsschen Œuvres teils explizit, teils implizit reproduziert worden und stellen in der Michels-Forschung die dominierenden Erklärungsmuster seiner Links-Rechts-Wende dar. 1.) In den sechziger und siebziger Jahren dominierte - und diese Dominanz ist bis zum heutigen Tag in der angelsächsischen und deutschen Forschung weitgehend erhalten geblieben - , eine ideologiekritische Sicht auf Michels, die diesen als exemplarischen Fall einer linksintellektuellen Vorgeschichte des Faschismus begriffen hat. Romani del Piemonte con amicizia Roberto Michels Romano di Renania"); ders., La Latinité, in: Revue d'Ethnographie, Nr. 27-28, 1926, Extrait 1927, S. 194-211. 12 R. Michels, Il dilemma storico di Heinrich von Treitschke, Estratto der Nuova Rivista Storica, anno XIX, Fase. IV-V, 1935, S. 15 [m. Übs.].

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Die These eines „intrinsischen Zusammenhangs zwischen Rechts- und Linkstotalitarismus"13 erlaubte in dieser Perspektive die Annahme einer tieferliegenden Kontinuität von Michels' politischem Denken. Michels galt demnach als Anhänger totalitärer Demokratievorstellungen,14 für den sich erst in der frenetischen Akklamation vor dem Palazzo Venezia im Italien Mussolinis realisiert habe, was im liberal-demokratischen Repräsentativsystem unmöglich ist: die im rationalistischen Demokratieverständnis eines Rousseau scheinbar wurzelnde totalitär-demokratische Identität von Regierenden und Regierten. Michels' Renegatentum wurde in diesem Kontext oft mit dem Hinweis erklärt, daß sein Sozialismus „nicht nach der Schule" gebildet gewesen sei, weil er den Ökonomismus relativiert und der Verelendungs- und Mehrwerttheorie ferngestanden habe. So ist der „Idealist von reinstem Wasser"15 unter die von Ernst Nolte geprägte Kategorie des „linken Marxisten"16 rubriziert worden, die sich schon für Mussolini als plausibel erwiesen hatte. Dieses von Frank R. Pfetsch in einer Dissertation erstmals entwickelte Erklärungsmodell hat Wilfried Röhrich in der einflußreichsten Monographie zu Michels' politischer Philosophie vertieft.17 Röhrich sieht im „revolutionären Syndikalismus" sorelianischer Prägung, im Mythos des Generalstreiks und in den Theorien direkter Aktion und unmittelbarer Gewaltanwendung den ideologischen Ort einer präfaschistischen Vermittlung schon im Denken des jungen Michels. Der extreme italienische Imperialnationalismus Enrico Corradinis sei dann für Michels wie für andere „sindacalisti" zum Transmissionsriemen geworden, der in den faschistischen Führerstaat übergeleitet habe.18 Pfetsch und Röhrich haben so in unterschiedlichen Akzentuierungen dazu beigetragen, daß Michels in der Forschung nie als „Rechtsintellektueller" behandelt wird, sondern als ein Denker, der gerade wegen der Radikalität seiner exzeptionellen linken

13 So Pfetsch, 1989, S. XXIII. Vgl. auch Pfetsch, Die Entwicklung zum faschistischen Führerstaat in der politischen Philosophie von Robert Michels, Diss., Heidelberg 1964; ders., Robert Michels als Elitentheoretiker, in: Politische Vierteljahresschrift, 7. Jg., 1966, S. 208-227. Eine konzise Zusammenfassung von Pfetschs Dissertation mit dem Titel „Entscheiden - Befehlen - Gehorchen. Die Handlungstheorie im Banne der Demokratiediskussion um die Jahrhundertwende am Beispiel Robert Michels'" findet sich in: Pfetsch, Politisches Handeln und Reflexion. Bd. 2: Theoretische Dimensionen des Politischen, Darmstadt 1995, S. 19-59. 14 Der Begriff geht zurück auf Jakob L. Talmon: The Origins of Totalitarian Democracy, London 1952. 15 So Michels über Michels in: ders., Eine syndikalistische Unterströmung ..., a.a.O., S. 362. 16 Pfetsch, 1989, S. XXXII. Vgl. auch Ernst Nolte, Marx und Nietzsche im Sozialismus des jungen Mussolini, in: Historische Zeitschrift, Bd. 191, 1960, S. 249-335. 17 Wilfried Röhrich, Robert Michels. Vom sozialistisch-syndikalistischen zum faschistischen Credo, Berlin 1972. Zum hohen Stellenwert von Röhrichs Buch etwa in der angelsächsischen Diskussion vgl. Lawrence A. Scaff, Max Weber and Robert Michels, in: American Journal of Sociology, Bd. 86, 1980-81, S. 1269-86, S. 1270: „the best study of Michels is Röhrich 1972" 18 Diese Position teilen auch Juan J. Linz, Michels e il suo contributo alla sociologia politica, Vorwort zu: R. Michels, La Sociologia del partito politico nella democrazia moderna, Bologna 1966, S. VII-CXIX; H. Stuart Hughes, Coscienza e Società, Storia delle Idee in Europa dal 1890 al 1930, Torino 1967.

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Ausgangs- und Außenseiterposition die Hinwendung zur faschistischen Diktatur vollzogen habe. 2.) Demgegenüber ist Arthur Mitzmanns Studie, die Michels als „mikrokosmischen Spiegel" der Umbrüche seiner Zeit interpretiert, von geringem Einfluß auf die MichelsRezeption gewesen, nicht zuletzt wohl, weil sie zwar in Michels' Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg ebenfalls den Nukleus seiner faschistischen Option sieht, die späte Phase aber aus der Untersuchung ausklammert.19 Mitzmann hebt hervor, daß sich Michels' Denken im Rahmen eines allgemeinen Krisenbewußtseins bewege, das für die frühe deutsche Soziologie insgesamt und insbesondere für Georg Simmel, Max Weber, Werner Sombart und Ferdinand Tönnies prägend gewesen sei: der „Tod der Fortschrittsidee".20 „Die Verwandlung des Traums von sozialer und technologischer Perfektion in den Alptraum bürokratischer Erstarrung", das Auseinandertreten von subjektiven Handlungsmaximen einerseits und objektiven Handlungskonstellationen andererseits zugunsten einer Hypertrophie anonymer Zwangslagen sowie die Annahme einer schicksalhaften Verdinglichung des Menschen und einer Selbstzweckwerdung der technischen Mittel sind in Mitzmanns Rekonstruktion die Grundelemente einer Krisendiagnose, die sowohl in Webers Bild vom „eisernen Käfig" als auch in Michels' Organisationslehre vom „ehernen Gesetz der Oligarchie" plastisch ausformuliert worden ist. Michels' individuelle Reaktion auf diese Krisenstimmung erklärt Mitzmann aus der spezifischen Wertprägung seines Sozialrevolutionären Engagements, das in der Substanz - so Mitzmanns überraschende These - den Wertkonservatismus seiner patriarchalischen Familientradition fortgeführt habe: Altruismus, Antimilitarismus, Kaufmannsgeist und Franzosennähe. Dieser „rheinische" Wertekosmos sei in der von Michels schmerzlich erfahrenen Prussifizierung des Rheinlandes untergegangen - daher seine vehemente Kritik am Wilhelminismus. Je mehr der Sozialismus als Agent einer moralischen Revitalisierung des Kaiserreiches versagt habe, sei Michels vom proletarischen Internationalismus abgerückt, um sich schließlich mit der „Latinität" zu identifizieren, in deren konkreter, im sprachlichen und kulturellen Erbe wurzelnder Sittlichkeit er das ungebrochene Fortbestehen idealistischer Ressourcen zu erkennen glaubte. Was sein romantischer Idealismus im sozialdemokratischen Organisationswesen vermißte, habe er in der „historischen Sphäre des alten Roms", die das Rheinland signifikanterweise einschloß und von Preußen separierte, wiederzufinden gehofft.21

19 Arthur Mitzmann, Sociology and Estrangement. Three Sociologists of Imperial Germany, (1. Aufl. New York 1973), New Brunswick/Oxford 1987. 20 Mitzmann, 1987, S. 269. 21 Michels' Diagnose vom irreversiblen Scheitern des „ethischen" Sozialismus im Sinne einer internationalistischen Orientierung kulminiert im Ersten Weltkrieg. Zeitgleich setzt die Selbstidentifizierung des „romano di Renania" mit der italienischen Nationalkultur im oben skizzierten Sinne ein. Vgl. dazu R. Michels, Le Débàcle de ['„Internationale Ouvrière" et l'avenir, in: Scientia, Vol. XIX, Nr. XLIX-5, Mai 1916, S. 183-190; ders., La sfera storica di Roma, in: Scientia, Vol. XXII, Nr. LXIII-7, Juli 1917, Sonderabdruck.

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Mitzmanns Interpretationsansatz liegt damit in inhaltlicher Nähe zu Paul Tillichs These von der „Ursprungsgebundenheit" der revolutionären Romantik22 und folgt gleichzeitig der „Spur", die der„Romano di Renania" in den dreißiger Jahren gelegt hat. 3.) Die narrative Struktur der Ansätze von Pfetsch, Röhrich und Mitzmann, in denen Michels' disparate Positionen als bloße Oberflächenäußerungen einer tieferliegenden Kontinuität bzw. als „Wellenausschlag auf einer Grundlinie"23 erscheinen, ist nicht erst in jüngster Zeit fragwürdig geworden. So hat David Beetham der Identifizierung der Michelsschen Entwicklung mit der „Psychopathologie des politischen Idealismus" bei Mitzmann bzw. mit der vitalistisch-„irrationalen" Revolte gegen die Vernunft, auf die Röhrichs Argumentation hinausläuft, widersprochen und für Michels' Brüche vielmehr die Suggestionen der zeitgenössischen Sozialwissenschaften verantwortlich gemacht: „Die Ironie von Michels' akademischer Karriere ist, daß es die interessenfreie Suche nach Wahrheit war, die ihn zu den politischen Positionen hinführte, die er dann übernahm. Die Geschichte seiner Entwicklung gehört demnach [...] zur Geschichte der akademischen Sozialwissenschaft und zu der Art, wie sie in einer kritischen Phase der europäischen Geschichte gleichermaßen zur Demoralisierung des Sozialismus und zur Legitimierung des Faschismus beitrug."24 Da Michels die Kategorie der „Klasse" gegen die „Masse" eingetauscht, sich Moscas Verständnis von werturteilsfreier Wissenschaft verschrieben und sich dem Faschismus mit den Instrumenten der Elitentheorie sowie dem Weberschen Idealtypus charismatischer Herrschaft genähert habe, sei sein Philofaschismus in erster Linie wissenschaftlich begründet. In Beethams Sicht ist die Substitution des sozialistischen Weltbildes durch das soziologische mit Michels' Austritt aus der SPD und der Übernahme einer Privatdozentenstelle an der Turiner Universität (1907) erfolgt. Beethams Akzentuierung

22 Vgl. Paul Tillich, Die sozialistische Entscheidung, Potsdam 1933. 23 Joachim Hetscher, Robert Michels. Die Herausbildung der modernen politischen Soziologie im Kontext von Herausforderung und Defizit der Arbeiterbewegung, Bonn 1993, S. 28. Bei Hetscher handelt es sich um die jüngste deutsche Monographie. Daß sie in der Rezeption keine Rolle gespielt hat, mag mit dem marxistischen Ansatz zu tun gehabt haben. Demzufolge nämlich soll die „Genese von Michels' Werk in den Zusammenhang von Herrschaftsproblematik in der bürgerlichen Gesellschaft mit entwickelter Arbeiterbewegung" gestellt werden. Außerdem werde „untersucht, welche theoretischen Versäumnisse der Arbeiterbewegung eine Partei- und Organisationssoziologie begünstigten, die sich in der Nachfolge Michels' häufig gegen eben jene Bewegung beanspruchen ließ, aus deren Herausforderung und Defizit sie erst entstanden ist." In anderen Worten: Im Zentrum von Hetschers Erkenntnisinteresse steht nicht Michels, dessen sozialdemokratischer Zeit sowie dessen Parteiensoziologie gerade einmal vierzig Seiten gewidmet werden. Aus diesem Grund werde ich sie nicht näher besprechen, möchte aber auf die vorzügliche Zusammenfassung der Literatur zu Michels (S. 11 f.) sowie auf Hetschers ausführliche Schilderung der Rezeptionsgeschichte der Parteiensoziologie in der deutschen Soziologie verweisen (S. 145f.). 24 David Beetham, From Socialism to Fascism - The Relation between Theory and Practice in the Work of Robert Michels, in: Political Studies, Nr. 25, 1977, S. 3-24 u. S. 161-181.

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eines epistemologischen Bruches zielte darauf, den Sozialisten Michels vom Makel des Präfaschisten zu befreien und implizit die Totalitarismustheorie zu treffen. So innovativ an Beethams Ansatz zweifellos ist, daß er den Wandel der politischen Optionen vor dem Hintergrund des Wandels der gesellschaftstheoretischen Begriffe reflektiert und ohne existentiell-psychologische Deutungsmuster auskommt, so bedenklich ist es, daß Beetham die heuristisch wertvolle pars akademischer Sozialisation pro toto interpretiert hat. Dem Leser drängt sich zudem der Verdacht auf, daß hier ein weiteres Michelssches Selbstbild aus den dreißiger Jahren reformuliert worden ist: die „Spur" des Treitschke-Aufsatzes legt zumindest die Frage nahe, ob nicht auch die Identität des beständig „wahrheitssuchenden" Intellektuellen eine mythisch-sinnstiftende Erzählung der Lebensgeschichte ist. Im Gegensatz zu den oben skizzierten Interpretationsansätzen, die gewissermaßen das Repetitorium der Michels-Forschung darstellen, ist die akademische Diskussion in Michels' Adoptivheimat Italien weitgehend unbekannt geblieben.25 Zieht man in Betracht, daß eine Einschätzung den Interpretationen von Pfetsch, Röhrich, Mitzmann und auch Beetham gemeinsam war, nämlich das syndikalistische Profil des Politikers Michels (bis 1907), so hat Pino Ferraris die radikalste Deutungsalternative formuliert: „Der Politiker Michels war [...] ein deutscher Sozialdemokrat der Zweiten Internationale, mit einer stark vom positivistischen Marxismus erfüllten Kultur, in der Krise seiner Epoche."26 Ferraris' Studie, die gemessen an der Reichhaltigkeit des Quellenmaterials zum jungen Michels alles zuvor Veröffentlichte übertroffen hat, hätte wohl mehr Aufmerksamkeit verdient gehabt, als ihr tatsächlich zuteil geworden ist. Vielleicht ist sie zu kurzfristig erschienen,27 um auf dem 1983 von der Universität Perugia organisierten Kongreß zu Robert Michels' Leben und Werk gründlich diskutiert werden zu können.28 Auch mag es für die Überzeugungskraft von Ferraris' Thesen von Nachteil gewesen sein, daß seine Rekonstruktion des jungen Michels noch vor der „Soziologie des Parteiwesens" abbricht. Ferraris' These indes, daß Michels' frühe politische Äußerungen auf das intellektuelle Hinterland des marxistischen Positivismus verweisen, hat in der Folge eine archi-

25 Vgl. Timm Genett, Robert Michels in der italienischen Diskussion der achtziger und neunziger Jahre, in: Politische Vierteljahresschrift, 35. Jg., Heft 4, 1994, S. 727-735. 26 Ferraris' Aufsätze über den jungen Michels sind alle in den achtziger Jahren publiziert worden und 1993 in Buchform veröffentlicht worden. Auf diese werde ich im folgenden zurückgreifen: Pino Ferraris, Saggi su Roberto Michels (= Pubblicazioni della Facoltà di Giurisprudenza della Università di Camerino 40), 1993. Das Zitat findet sich dort auf Seite 8. 27 Pino, Ferraris: Roberto Michels politico (1901-1907), in: Quaderni dell'Istituto di studi economici e sociali, Nr. 1, Università di Camerino, 1983, S. 53-162. 28 Die Ferraris' Studie allenfalls skeptisch streifenden Beiträge von Perugia finden sich - allerdings unter Auslassung von Ferraris' Vortrag - in dem Sammelband von Gian Bagio Furiozzi (Hg.), Roberto Michels tra politica e sociologia, Firenze 1984.

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valische Bestätigung gefunden: er sei mehr „Kautskyaner" als „Bernsteinianer", lautete eine bis dato unbekannte politische Selbstverortung Michels' vom August 190329. Ferraris' These vom „marxistischen Positivismus" des jungen Michels hat sich zwar nicht allgemein durchgesetzt, aber die alte Einordnung in den Syndikalismus ist auch von ihren Befürwortern so weit inhaltlich differenziert worden,30 daß unter italienischen Sozialwissenschaftlern Michels' Beziehung zu den italienischen und französischen Syndikalisten ihre integrale Scharnierfunktion für das Verständnis seiner Gesamtentwicklung nahezu vollständig eingebüßt zu haben scheint.31 Die italienische Monographie von Francesco Tuccari, die Michels' Lebenswerk parallel zu dem von Max Weber verfolgt, und beide Autoren für eine Bestandsaufnahme der „Dilemmata der modernen Demokratie" fruchtbar macht,32 hat dementsprechend Michels' spätere Optionen nicht mehr aus einer revolutionär-syndikalistischen Grunddisposition resultieren sehen, sondern aus Michels' demokratietheoretischen Irrtümern. Michels' Ideal der reinen, im Sinne Rousseaus durch keine Vertreterschaft entstellten Demokratie sei ein so extremes Konzept, daß es ihm paradoxerweise die Möglichkeit verschließe, demokratisch zu bleiben. Substantiell hat Tuccari mit dieser Überlegung freilich den Ansatz in Pfetschs Dissertation bestätigt. Michels erscheint in Tuccaris Perspektive als desillusionierter Vertreter eines idealistischen Paradigmas basisdemokratischer Ordnung, der das Ideal gegen die Wirklichkeit, und die Wirklichkeit, die so anders aussieht, gegen das Ideal ausspielt, ohne beide in einem realistischen Demokratieverständnis miteinander versöhnen zu können33 und so sein identitätsrepräsentatives34 Grundverständnis „echter" politischer Integration erst im Führerstaat verwirklicht sieht. Während Röhrichs Michels-Bild eines sorelianischen Syndikalisten in der italienischen Diskussion also eher mit einem Fragezeichen versehen worden ist, hält sich die Hypothese einer totalitären Demokratievorstellung bei Michels als letzter verbliebener Fluchtpunkt einer Generalinterpretation seiner politischen Biographie durch. In der deutschsprachigen Diskussion wurde sie zuletzt von Frank R. Pfetsch erneuert.35 29 In einem Brief von Michels an Augustin Hamon vom 5. August 1903 heißt es: „Du reste suis-je plutôt .Kautskyen' que ,Bernsteinien'. Abgedruckt in der Briefedition mit Einfuhrung von Corrado Malandrino, Lettere di Roberto Michels e di Augustin Hamon (1902-1917), in: Annali della Fondazione Luigi Einaudi, Vol. XXIII, Torino 1989, S. 487-562, Zitat S. 520. 30 So konzediert Furiozzi (in seiner „Introduzione" zu ders., a.a.O. 1984, S. 16), daß der revolutionäre Syndikalismus weder theoretisch noch praktisch eine homogene Bewegung gewesen sei, sondern als buntes, gemischtes Feld ohne „Evangelium" betrachtet werden könne, auf dem sich Michels unter Beibehaltung seiner kritischen Autonomie betätigt habe. 31 Vgl. Corrado Malandrino, Note a margine di nuovi e vecchi studi su Michels, in: Il Pensiero Politico, anno XXV, Nr.3 (settembre-dicembre), 1992, S. 448-452, S. 452. 32 Francesco Tuccari, I Dilemmi della Democrazia Moderna. Max Weber e Roberto Michels, RomaBari 1993. 33 Eugenio Ripepe, Roberto Michels oggi, in: Riccardo Faucci (Hg.), Roberto Michels. Economia Sociologia Politica, Torino 1989, S. 7-22, S. 18. 34 Vgl. Emst Vollrath, Identitätsrepräsentation und Differenzrepräsentation, in: Rechtsphilosophische Hefte, Nr. l,Jg. 1992, S. 65-78. 35 Vgl. Pfetsch 1989 und 1995.

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Insgesamt ist das Michels-Bild in der Forschung so über dreißig Jahre recht stabil geblieben. Weiterhin gilt der italo-deutsche Soziologe als ein Denker, der wegen der Radikalität seiner „linken" Positionen die Hinwendung zur faschistischen Diktatur vollzogen hat.36 Es ist dabei ein auffälliges Phänomen der Michels-Rezeption, daß alle Arbeiten, die Michels' Entwicklung im ganzen nachzuzeichnen versuchen, auf eine Kohärenz hinauslaufen, die vom Leben des bürgerlichen Renegaten, deutschen Emigranten, für die Jahre des Ersten Weltkriegs und der frühen Nachkriegszeit (1915-1921) praktisch Staatenlosen und schließlich italienischen Staatsbürgers, doch stark abstrahiert. In allen bisherigen Gesamtinterpretationen, denen ohne Ausnahme immer eine Kontinuitätsvermutung zugrunde liegt - vom sorelianischen Syndikalisten zum Faschisten (Röhrich), vom Rousseauisten zum Propagandisten der Syntonie von Masse und capo carismatico (Pfetsch, Tuccari), aber auch von einer angeblich konsequenten Weiterentwicklung des elitentheoretischen Ansatzes (Beetham) - wird eine narrative Struktur sichtbar: die Einheitlichkeit der Lebensgeschichte. Vor diesem Hintergrund kann diese Arbeit über Robert Michels' politische Theorie und Biographie in mehr als einer Hinsicht als revisionistisch' bezeichnet werden: Sie bestreitet auf der methodischen Ebene die in der Michels-Forschung bislang dominierende fiinktionalistische Subsumtion von Michels' frühen Optionen unter seine späten. Stattdessen werde ich die unterschiedlichen Phasen von Michels' Biographie in ihrer Autonomie begreifen, d. h. meine Analyse formuliert ihre Fragen nicht vom Ende der biographischen wie theoretischen Entwicklung her, sondern aus den unterschiedlichen Kontexten von Michels' Denken heraus. Selbstverständlich wird auch mit diesem Rekontextualisierungsverfahren die Michelssche Biographie ,geordnet'; sie wird in biographische Phasen oder Themenabschnitte eingeteilt. Insofern wohnt auch meiner Darstellung ein starkes Moment jenes konstruktiven Geistes inne, der die biographische Illusion' ohnehin prägt. Indessen sensibilisiert allein schon die ,ergebnisoffenere' Rekonstruktion einer Biographie für ihre Kontingenz und ihre Möglichkeiten. Freilich wäre dies nur eine allgemeine biographietheoretische Phrase, wenn ich nicht gegenüber meinen Vorgängern in der Michels-Forschung einen großen Vorteil gehabt hätte: den Zugang zum Archivio Roberto Michels der Fondazione Einaudi (ARMFE) in Turin. Auf dieses Material hatten zu ihrer Zeit weder Frank R. Pfetsch noch Wilfried Röhrich Zugriff. Dieses Material - allein in Turin ein Briefarchiv mit über 2000 Korrespondenten aus vier Dekaden, dazu Entwürfe, Notizbücher, Fotografien und Dokumente - enthält auch jene

36 Im übrigen kommt auch die alternative wissenssoziologische Interpretation im Anschluß an Beetham ohne diese Unterstellung, Michels sei nur als „radikaler Intellektueller" (vgl. Joachim Milles, Brüche und Kontinuitäten eines radikalen Intellektuellen, a.a.O.) angemessen zu verstehen, nicht aus: In Beethams Analyse überschreitet Michels den ideologischen Graben zwischen Marasmus und Elitentheorie nämlich gerade dort, wo sich die Radikalität der syndikalistischen Kritik am parlamentarischen Repräsentationsprinzip und die radikale Lesart der politischen Geschichte durch die Elitentheorien Moscas und Paretos auf Tuchfühlung nahekommen und zwar in dem Moment, als Michels erkennt, daß die syndikalistische Alternative dem Schicksal der Oligarchisierung gar nicht entgehen kann. Vgl. Beetham 1977 und die Kritik von Ferraris, Saggi, S. 171f.

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bis dato unbekannten biographischen Daten, die sich den tradierten kohärenten Subsumtionsmustern der biographischen Einheitlichkeit entziehen und sie dementieren. Robert Michels, das ist beispielsweise einer dieser überraschenden Befunde meiner Recherchen, hat bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine Professur in Deutschland angestrebt. 37 Alle bisherigen Arbeiten über Michels, die sich in der Diagnose vom italienischen Nationalisten spätestens seit dessen Studie zum italienischen Imperialismus (1912) ja weitgehend einig sind, dürften dieses biographische Datum schwer in ihr Michels-Bild integrieren können. Die Kritik an der „biographischen Illusion" hinterfragt somit nicht nur den Konstruktionscharakter von ,ganzheitlichen' biographischen Erzählmustern, sie rehabilitiert auch jede Lebensphase wieder in ihrem Eigensinn, indem sie sie von den angeblichen finalen und kausalen Verkettungen mit anderen Phasen emanzipiert. Im Fall Michels führt dies sogar zu einer Neubewertung jener Schaffensperiode, die bekanntlich unter dem Zeichen der faschistischen Option steht und die durch Rückgriff auf die oben skizzierten Deutungsansätze der Michels-Forschung .erklärt' werden sollte. Ich werde in dieser Arbeit zeigen, daß das zu Erklärende in der Michels-Forschung das eigentlich Unbekannte geblieben ist. Ein Beispiel: bis heute geht man - zumindest in der deutschen und angelsächsischen Rezeption - davon aus, Michels sei kurz nach dem „Marsch auf Rom" in die faschistische Partei eingetreten. Tatsache ist, daß Michels in einer Art Tauschgeschäft mit dem langersehnten Lehrstuhl an einer italienischen Universität (Perugia) 1928 Mitglied des PNF wurde. 38 Möglicherweise ist gerade aufgrund solcher datentechnischer Irrtümer - die sich bis heute in allen Lexika der deutschen Soziologie finden - auch der Eigensinn jenes Abschnittes vor dem „Marsch auf Rom" entgangen, als Michels wie ein informeller Regierungssprecher der liberalen Regierung Italiens fungiert und im übrigen von den Faschisten zunächst gar nichts hält. 39 Ein verkappter Antifaschist ist Michels deshalb freilich nicht gewesen - aber wir haben gute Gründe, Michels nach 1922 im Sinne von Renzo de Feiice einen ,Regierungsfaschisten' zu nennen und damit von einem ,Bewegungsfaschisten' - was etwas völlig anderes ist - zu unterscheiden. 40 Das ist keineswegs verharmlosend gemeint: die unheilvollste Wirkung des späten Michels besteht gerade in seinem friedlichen und normalisierenden Faschismusbild, das vor allem außerhalb der italienischen Grenzen zu einer positiven Rezeption der neuen politischen Ordnung in Italien beigetragen hat.41 Das Dementi der bisherigen gesamtbiographischen Deutungsmuster der MichelsForschung ist kein Selbstzweck. Es geht immerhin um die möglichst exakte Rekonstruktion des politischen Lebens und Denkens eines Mannes, der - so umstritten er auch

37 Kapitel IX.4. Vereitelte Karriereplanung: die „Professur in Deutschland". 38 Kapitel X.l. Die Legende vom frühen Parteieintritt und die „biographische Illusion" der MichelsRezeption. 39 Kapitel X.2. 1919-1922: Regierungsloyalität und das Lob der „goldenen Mitte". 40 Kapitel X.4. Gouvernementales Leitmotiv: .fascismo governo' versus .fascismo movimento'. 41 Kapitel X.6. Der schöne Schein der zwanglosen Konsensdiktatur: zur zeitgenössischen Attraktivität und Repräsentativität von Michels' Faschismusbild.

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immer bleiben mag - den Status eines „Klassikers der Soziologie"42 innehat. Dieser Status begründet sich wohl allein aus einer Lebensleistung: der „Soziologie des Parteiwesens". Die dort formulierte Demokratietheorie ist gleichsam - neben seiner politischen Biographie - der zweite Interessenschwerpunkt in der Rezeptionsgeschichte des italodeutschen Soziologen gewesen und zweifellos der fur die Geschichte des politischen Denkens im Zwanzigsten Jahrhundert bis in die Theoriebildung unserer Tage eigentlich bedeutende. Michels' vielzitiertes „ehernes Gesetz der Oligarchie" ist von der politischen Soziologie und Demokratieforschung im großen und ganzen als Tendenz jeder Organisation bekräftigt worden - von den einen als Widerspruch zum Postulat innerparteilicher Demokratie, von den anderen als Bestätigung jenes Theorierahmens, der auf der Grundlage von Schumpeters ökonomischen Marktmodell Demokratie als Elitenpluralismus, d. h. als Konkurrenz von mindestens zwei Parteien um die Mehrzahl der Wählerstimmen versteht.43 Auch wenn Michels' Hauptwerk „Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie" inzwischen häufig nur noch als Kontrastfolie der aktuellen, meist fein ausdifferenzierten Partei- und Organisationstheorien genannt wird, um etwa sein Modell einer vermeintlich hierarchisch-zentralistischen Parteiorganisation als „klassische", aber damit eben auch antiquierte soziologische Optik dem Modell der „lose gekoppelten Anarchie" als einer wirklichkeitsadäquateren Beschreibung moderner Parteiorganisationen gegenüberzustellen, strukturiert seine Oligarchiethese zumindest als negativer Referenzpunkt nach wie vor die Debatte, ja scheint die zuspitzende Radikalität seiner Überlegungen nicht unerheblich die Schärfe alternativer und gegenläufiger Theoriebildungen begünstigt zu haben. Diese Arbeit stellt freilich die immer wieder zu hörende These von der theoriegeschichtlichen Antiquiertheit der Michelsschen Oligarchiethese in Frage. Meine Analyse von Aufbau und Inhalt der Parteiensoziologie kommt nämlich zu dem Ergebnis, daß Michels' Elitenbegriff ,stratarchischer' ist, als das semantisch ausgewiesen ist, und daß sein Massen-Begriff eklektischer und varianter ist, als das in der massenpsychologischen Terminologie zum Ausdruck kommt. Das hat auch Konsequenzen für die Machtchancen der Führungsschicht, deren Erfolg - im Sinne der Machtbewahrung unter demokratischen Abwahlmöglichkeiten - durchaus von komplexen Bedingungen abhängig ist: einem responsiven Verhältnis zu einer immer heterogeneren Basis und Wählerschaft sowie einem überzeugenden einheitlichen Auftritt nach außen - allen inneren Führungskämpfen zum Trotz. Die weit verbreitete Vorstellung hingegen, Michels' politische Klasse sei eine homogene Führungsschicht, der die Masse überall hin folge, steht im Widerspruch zu der konfliktsoziologischen Akteurskonstellation in Michels' Hauptwerk.44 Zudem werden wir sehen können, daß Michels' Begriff der politischen Partei über den historischen Kontext der „Massenpartei" hinausreicht, insofern er die milieu- und klassentranszendierende ,diffuse' Wählerschaft als strate42 Vgl. Erhard Stölting, Robert Michels, in: Dirk Kaesler (Hg.), Klassiker der Soziologie, München 1999, S. 230-351. 43 Vgl. Pfetsch 1989, S. XVII-XLI sowie Hetscher 1993, S. 145-224. 44 VI. 1.8. Fraktion, Präsidium, Landesfürsten und lokale Cliquen: Zur pluralen Machtstruktur von Michels' „politischer Klasse".

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gische Orientierungsmarke der modernen Parteiorganisation ausgibt. Michels' oligarchietheoretische Prognose hat bereits die ,Catch-all-Partei' im Blick.45 Bei der Frage nach der Intention des Autors der Parteiensoziologie werde ich einen unkonventionellen neuen Weg beschreiten: ich werde zwei, jede in sich schlüssige, aber scheinbar einander ausschließende Antworten geben. Mein Ziel ist es, erstmals die widerstreitenden Semantiken und Deutungsmöglichkeiten der Parteiensoziologie systematisch offenzulegen. Das Buch enthält ja - was sicherlich ein wesentlicher Grund für viele Mißverständnisse gewesen ist - beides: Indizien für das Festhalten am Programm der Aufklärung und Demokratisierung (Stichwort: Sozialpädagogik) wie auch für seine Erledigung. In diesem Sinne werde ich das Buch von zwei Perspektiven aus rekonstruieren: in einer .progressiven' Deutung werde ich Michels' Oligarchiethese als Sinnverkehrungsthese interpretieren. Als Sinnverkehrungsthese nicht in der politischen Bewertung von Albert O. Hirschman, der diese unter die Topoi des reaktionären Denkens verbucht,46 sondern vielmehr als sozialpädagogische Aufklärung über die Mechanismen des Umschlagens emanzipativer Ansprüche in oligarchische Politik im Zeitalter der Fundamentaldemokratisierung und der Massenorganisationen. Sinnverkehrung soll hier nicht nach konservativ-,reaktionärer' Lesart heißen, daß Demokratisierung wie in einem river of no return in Oligarchisierung mündet. Das Wissen um die Sinnverkehrungsmechanismen demokratischer Massenorganisationen erlaubt vielmehr, daß der demokratische Sinn von Politik auch und gerade nach seiner Verfälschung wiedergewonnen werden kann. Diese Deutung läßt Michels 1911 ausdrücklich zu.47 In einem zweiten, im Hirschmanschen Sinne: .konservativen' Deutungsangebot werde ich Michels' Oligarchiethese als „Vergeblichkeitsthese", d. h. als These von der Vergeblichkeit von Demokratisierung, interpretieren. Hier wird kein demokratischer Sinn vor der oligarchischen Verkrustung gerettet oder revitalisiert werden können, weil „Demokratie" nichts weiter ist als eine „politische Formel" (Mosca), mittels derer Eliten ihre Gefolgschaft organisieren.48 Dieses zweite Deutungsangebot bringt gleichzeitig die zentrale ideologiegeschichtliche Frage dieser Arbeit zu einem Abschluß: inwiefern spiegelt sich in der weltanschaulichen Neuordnung der Dinge infolge der Soziologisierung von Michels' Denken die „Krise des Positivismus"? Inwiefern läßt sich die widersprüchliche Semantik der Soziologie des Parteiwesens auch als Erosion eines evolutionstheoretisch verbürgten historischen Optimismus lesen? Es scheint mir keine individuelle Zufälligkeit, sondern repräsentativ für einen geistesgeschichtlichen Trend zu sein, daß Michels im Kontext der Arbeiten zu seiner Parteiensoziologie die tradierten optimistischen Gewißheiten seines positivistischen Gesellschafts- und Geschichtsbildes infrage stellt und unvermittelt neben

45 Kapitel VI. 1.2. Zum Untersuchungsgegenstand der Parteiensoziologie. 46 Vgl. Hirschman, Denken gegen die Zukunft, a.a.O. 47 Kapitel VI.l. Desillusionierende Sozialpädagogik: Die Sinnverkehrungsgefahren der Demokratisierung. In diesem Kapitel erfolgt auch die Einführung in Aufbau, Kernaussagen, Untersuchungsgegenstand und Demokratiebegriff der Parteiensoziologie. 48 Kapitel VI.2. Die Vergeblichkeit der Demokratisierung: zum epistemologischen Hintergrund der Parteiensoziologie.

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sie ein „Positivismus der zweiten Phase"49 tritt. Dieser hält zwar hinsichtlich der Gesellschaftsmotorik an den darwinistischen und materialistischen Grundannahmen fest, die seit jeher das positivistische Selbstverständnis in seiner Orientierung an den ,harten Fakten' im identitätsstiftenden Gegensatz zu ,metaphysisch-spekulativen' Gesellschaftsbetrachtungen konturiert haben. Dieser Identität ist aber offensichtlich jegliche positive Gewißheit über den Lauf der Dinge, wie sie typisch für die Comtesche und Spencersche Phase des Positivismus war, abhanden gekommen. Die aus der Dynamik des Gesellschaftsprozesses vermeintlich erwachsende fortschreitende Rationalisierung der gesellschaftlichen Ordnung ist fraglich geworden. Daher thematisiert der Positivismus der zweiten Phase zunehmend einen Sozialdarwinismus ohne Aussicht auf ein humanes Telos der sozialen Kämpfe. Gleichzeitig wird dieser selbst-reflexive Positivismus offen fiir neue ideologische und politische Optionen. Zu diesen Optionen zählt u. a. auch die Anleihe beim weltanschaulichen Gegner. Synthesen von Positivismus und Idealismus sind das typische Symptom dieser Weltanschauungskrise um die Jahrhundertwende, in der die geschichtsphilosophischen Glaubensgewißheiten des 19. Jahrhunderts fraglich werden. Für diesen Trend steht auch das Werk von Robert Michels. Um diese Hypothese zu belegen, werde ich die gruppensoziologischen und pessimistischen Kernaussagen der Parteiensoziologie mit der Konfliktsoziologie von Ludwig Gumplowicz vergleichen, der wie kein zweiter gesellschaftstheoretisch ambitionierter Kollege seiner Zunft die Krise der Positivismus reflektiert und damit auch vorangetrieben hat. Mit diesen Überlegungen zum ambivalenten Sinn der Parteiensoziologie möchte ich jenen alternativen Deutungsansatz fortführen, den Pino Ferraris programmatisch umrissen hat, als er in seiner Studie über den SPD-Politiker Michels diesen einen vom marxistischen Positivismus in der Krise seiner Epoche geprägten Sozialdemokraten genannt hat. Ferraris verdanke ich aber nicht nur diese Anregung, sondern eben auch ein neues Bild des jungen Michels, das leider außerhalb Italiens so gut wie gar nicht rezipiert worden ist. Das ist deshalb bedauerlich, weil die Weltanschauung und die Aktivitäten des Sozialdemokraten Michels im allgemeinen als ein Schlüssel für die späteren Brüche gelten. Die charakteristischen Merkmale des jungen Michels im Anschluß an Ferraris (noch) zukunftsoptimistischer evolutiver Sozialdarwinismus; Republikanismus und Kritik des revolutionären Syndikalismus in zentralen Punkten - sind so gewichtige Merkmale eines neuen Michels-Bildes, daß sie angesichts der fortbestehenden Prädominanz der älteren Deutungsmuster nur durch umfangreiche Quellenarbeit belegt, plausibilisiert und vertieft werden können. Ich werde dabei in den Kapiteln über das Kaiserreich und die politischen Erfahrungen in der SPD auch auf meine Magisterarbeit über den jungen Michels zurückgreifen, in der ich erstmals die Erträge der italienischen Forschung mit eigenen Archiv- und Literaturrecherchen sowie einem ersten Ausblick auf die sich aus

49 Vgl. André Kaiser, Politik als Wissenschaft. Zur Entstehung akademischer Politikwissenschaft in Großbritannien, in: Hübinger/v.Bruch/Graf, Kultur und Kulturwissenschaften um 1900: Idealismus und Positivismus, Stuttgart 1997, S. 277-295, S. 279.

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einem republikanischen Michels-Bild ergebenden Konsequenzen einer sozialpädagogischen Interpretation der Parteiensoziologie kombiniert hatte.50 Ich habe diese Magisterarbeit allerdings weitgehend umgeschrieben, vor allem aus zwei Gründen: erstens war meine damalige Deutung der Parteiensoziologie zu optimistisch und hat den historischen Pessimismus der Michelsschen Soziologie weitgehend ignoriert; zweitens wollte ich der Fährte des Positivismus und Sozialdarwinismus nachspüren und dabei auch stärker auf die Ambivalenzen dieser Synthesen aus Marx und Lombroso, Moralpädagogik und Anthropologie, Gesellschafts- und Naturgeschichte eingehen.51 Die dabei entstandenen Kapitel dienen dazu, einen Begriff von der Krise des Positivismus zu erarbeiten, an den dann die „Vergeblichkeits"-Deutung der Michelsschen Soziologie anschließen kann. Die detaillierte Rekonstruktion der Michelsschen Parteiaktivitäten mag im nachhinein überzogen erscheinen, aber ich erinnere daran, daß erstens der Sozialdemokrat Michels eine umstrittene Größe ist und die meisten Interpreten daraus für seine politische Biographie weitreichende Schlüsse gezogen haben. Es kann von daher auch nicht schaden, die - zu einem großen Teil in der deutschen Diskussion unbekannten archivalischen und bibliographischen, meist italienischen und französischen Quellen selbst dort zu sichten, wo sich ein Argument wiederholt. Gerade die Wiederholung, beispielsweise des Plädoyers für die Republik mit repräsentativen Strukturen, zeigt ja, daß bestimmte politische Motive des jungen Michels ernster genommen werden müssen als das bislang geschehen ist. Zweitens sind die im Kapitel „Am Krankenbett des Proletariats" nachgewiesen Vorfälle und Vorgänge gewissermaßen das Erfahrungssubstrat der „Soziologie des Parteiwesens". Zu welch überraschenden Ergebnissen ein Blick in verstaubte Parteitagsprotokolle kommen kann, zeigt dabei die Auswertung der Chronologie der Ereignisse auf dem Dresdner SPD-Parteitag von 1903. Hier werde ich den in der Michels-Forschung vieldiskutierten autobiographischen Bericht von 193252 einer erneuten Revision unterziehen und in allen relevanten politischen Aussagen widerlegen können: nicht nur die ,sorelianische' Selbstauslegung des sozialdemokratischen Engagements ist demnach eine Legende des späten Michels, sondern auch seine Darstellung der gesinnungsethischen Dimension der Marburger Stichwahlaffare. Glaubte man bislang, daß an Michels' autobiographischem Bericht von 1932 wenigstens eines richtig gewesen sei: sein gesinnungsfundamentalistisches Eintreten für den demokratischen Parteitagsbeschluß von München, erleben wir nunmehr einen Michels, der auf einen „Wink" - des Parteivor-

50 Timm Genett, Die Entwicklung des jungen Robert Michels vom sozialistischen Politiker zum Soziologen der Politik 1900-1911, Magisterarbeit am Institut Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin 1995. 51 Vgl. die Kapitel II.2.5. Demokratisches Gleichheitsideal und progressiver Sozialdarwinismus: Michels' Reform der Ehe; II.4.5. Rassenanthropologische Einflüsse und die Dialektik des Selbstbewußtseins; III. 1. Der Positivismus der zweiten Phase; III.2.2. Die positivistische Kriminalistik der Lombroso-Schule; III.2.4. Positivistische Moral; IV. 2.3. Das positivistische Hinterland des EticoSozialismus. 52 Michels, Eine syndikalistische Unterströmung ..., a.a.O.

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I. Einleitung: Die Suche nach Identität und Kontinuität

standes - bereit gewesen wäre, die Resolution von München ad acta zu legen und sich der vom Vorstand informell vorgegebenen neuen Taktik anzupassen. Das Kapitel eignet sich insbesondere fur eine Verifizierung und Vertiefung meiner biographietheoretischen Überlegungen.53 Alles weitere sind Etappen auf dem Weg wachsender Zweifel an der Handlungsfähigkeit und einer fortschreitenden Entfremdung von der SPD. Das Scharnierstück, welches diese Erfahrungen erstmals mit einem organisationssoziologischen Vorgriff auf das spätere Werk verbindet, ist dabei Michels' Verarbeitung der Marokko-Krise und des drohenden deutsch-französischen Krieges.54 Dieses Kapitel zeigt aber auch deutlich die Genese der Michelsschen Organisationssoziologie aus dem für Michels nun offenkundigen Verlust der antimilitaristischen Prinzipien der sozialdemokratischen Parteiorganisation. Diese sind dem Organisationsinteresse längst unterlegen und werden, da ist sich Michels sicher, im Ernstfall eines Krieges des monarchischen Deutschen Reiches gegen das republikanische Frankreich keinerlei Rolle für die politische Positionierung der Partei spielen. In anderen Worten: Michels' definitiver Bruch mit der SPD und sein Weg in die Soziologie des Parteiwesens haben mit der Kritik am Repräsentationsprinzip und dem Wunsch nach einer .unverfälschten', unmittelbaren Demokratie nichts zu tun. Sie sind vielmehr Folge einer auch für den Autor persönlich schmerzlichen Einsicht in die strukturkonservativen Anpassungsmechnismen der Organisation, die in diesem Fall einem Kriege nicht nur nichts entgegenzusetzen haben würde, sondern sich an ihm aller Wahrscheinlichkeit nach beteiligen wird. Schmerzlich und auch dramatisch ist die MarokkoKrise für Michels im besonderen, weil er theoretisch eine antimilitaristische internationale Bewegung favorisiert und auch über entsprechende Verbindungen nach Frankreich verfügt, praktisch aber seine französischen Freunde von ihrem Antimilitarismus abbringen muß, da dieser angesichts der Passivität der deutschen Sozialdemokratie im Konfliktfall auf eine Schwächung der französischen Republik und eine Stärkung des deutschen Kaiserreiches hinauslaufen würde. Insofern lernen wir den bislang unbekannten Verantwortungspazifisten Michels kennen. Das geistesgeschichtliche Fazit der dann folgenden Rekonstruktion der Soziologie des Parteiwesens wird zwar lauten, daß der Soziologe Michels ein Repräsentant des weltanschaulichen Umbruchs im zeitgenössischen Positivismus von einer zukunftsoptimistischen zu einer pessimistischen Geschichtsphilosophie gewesen ist - mit der Folge, daß den sozialen Kämpfen ihre scheinbar innewohnende progressiv-emanzipatorische Motorik abhanden kommt und die Menschheit auch nicht länger über einen verbindlichen Geschichtsfahrplan der Staatsformen zu mehr Demokratie verfügt. Diese Weltanschauungskrise läutet aber für den Autor zweifellos auch eine sehr innovative, weil von den geschichtsphilosophischen Garantien und Vorgaben befreite Schaffensphase ein. Sie hat uns eines der bedeutendsten Werke der Demokratietheorie

53 Kapitel IV. 1.1. Die Legende von Dresden; IV. 1.1.2. Die narrative Konstruktion der Lebensgeschichte. 54 IV.5. Probelauf für den Weltkrieg: Die deutsche Sozialdemokratie in der Marokko-Krise (1905-7).

I. Einleitung: Die Suche nach Identität und Kontinuität

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aus dem Geist des politischen Realismus hinterlassen, ein Werk, von dem man behaupten kann, daß es auch heute noch politische Prozesse verständlicher und begreifbar macht. Von seinen übrigen Werken habe ich zwei genauer unter die Lupe genommen: Nach einer Synopse von Michels' unvollendeter Soziologie des Patriotismus, die deren Stärken im einzelnen, aber auch ihren Eklektizismus im allgemeinen deutlich macht, 55 widme ich mich Michels' umstrittener, weil als proimperialistisch geltender Studie über den italienischen Imperialismus von 1912. Das Fazit ist überraschend: anders als die Imperialismusthese in der Michels-Forschung unterstellt,56 hat Michels sich von der kolonialistischen Kriegseuphorie in Italien keineswegs anstecken lassen, sondern sie vielmehr für höchst bedenklich gehalten. Auch zeugt seine Kosten-NutzenAnalyse von der Dysfunktionalität des Tripoliskrieges. Zwar hat er sich nach außen ,schützend' vor Italien gestellt und dem Ausland gegenüber versucht, die Gründe für diesen seiner Meinung nach völlig neuen Typus von imperialen Krieg verständlich zu machen. Nach innen hat Michels dagegen eine moderierende Funktion ausgeübt und sich insbesondere vom extremen Nationalismus Enrico Corradinis klar distanziert. Bemerkenswert an seiner neuen Rolle eines je nach Adressatenkreis taktierenden Moderators ist in diesem Zusammenhang die Äußerung, als „Fremder" habe er nur begrenzte Möglichkeiten, auf eine Veränderung der öffentlichen Meinung einzuwirken. Das ist das Stichwort zu dem Kapitel, das ich im nachhinein als das biographische Herzstück57 dieser Arbeit ansehe: Der Fremde im Kriege. Mit diesen Worten hat Michels selbst die psychologische Situation von binationalen Zwischenexistenzen reflektiert, für die der Ausbruch eines Krieges zwischen den beiden Polen ihrer nationalen Identität auf eine Beschädigung der Seele hinauslaufe. Meine archivalische und bibliographische Rekonstruktion der Michelsschen Weltkriegserfahrungen zeigt, daß wir diese Überlegungen als autobiographisches Eingeständnis einer pathologischen Sozialisation zum italienischen Patrioten und einer wohl auch später nicht überwundenen Fremdheit im neuen nationalen Kontext werten können. Das Kapitel offenbart eine Art schizophrenen Binationalismus: in Bezug auf Deutschland schließlich sogar eine gesinnungsradikale Beteiligung am Kriegsschulddiskurs, in Bezug auf Italien dagegen ein Habitus, der sich in politisch existenziellen Entscheidungssituationen zurückhält, um dann das jeweils Entschiedene als notwendig zu interpretieren, getreu dem Motto: abwarten - anpassen verteidigen. Dieses Muster zeigt sich deutlich im Mai 1915, also im Kontext des italienischen Kriegseintritts, und es wiederholt sich im Kontext des Aufstiegs des Faschismus. Um Mißverständnisse zu vermeiden: Da ich den u. a. auch für diesen Verhaltensmodus stehenden Titel „Der Fremde im Kriege" zugleich als Titel der gesamten Arbeit verwende, könnte der Eindruck entstehen, dies sei der Schlüssel zur Gesamtbiographie. Dies wäre zweifellos ein Rückfall in die „biographische Illusion". Die Erfahrung des

55 Kapitel VII. Die unvollendete Soziologie des Patriotismus (1912-1936). 56 Vgl. Röhrich 1972, S. 112. 57 Das sozialwissenschaftliche Herzstück ist die Rekonstruktion der Parteiensoziologie in Kapitel VI.

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I. Einleitung: Die Suche nach Identität und Kontinuität

Ersten Weltkrieges ist aber meines Erachtens keine Ursache für die spätere philofaschistische Wende, d. h. die Pathologien von Michels' italienischem Adoptivpatriotismus entlasten ihn nicht von seiner intellektuellen Mitverantwortung als Auslandspropagandist des faschistischen Regimes. Ebenso wie der Fremde im Kriege als der biographische, ist auch die Krise des Positivismus als der ideologiegeschichtliche rote Faden dieser Arbeit nicht als eine Ursache für spätere biographische Wendungen zu verstehen. Beide Komplexe sind meines Erachtens charakteristisch für Robert Michels' politische Biographie, ohne daß daraus zwingend eine bestimmte politische Option resultiert. Das ist freilich zunächst noch anders. Beim jungen Michels ist eine Alternative zur sozialdemokratischen Option schwer denkbar. Sie ergibt sich interessanterweise aus seinem liberaldemokratischen Wertekosmos, seiner Einschätzung, daß der politische Liberalismus infolge der deutschen Einheit unter die Räder gekommen sei und daß sein Traditionsbestand nunmehr von der deutschen Sozialdemokratie vertreten werde. Das folgende Kapitel über Michels' Sitten- und Strukturkritik des Deutschen Kaiserreichs offenbart eine Reihe von liberalen Grundpositionen: sein Plädoyer für die politische wie rechtliche Emanzipation der Frau; seine Forderung nach einer Republikanisierung des Deutschen Reiches und die dezidierte Ablehnung der Monarchie wie der Aristokratie, namentlich der Junker; seinen Antikonformismus und seinen Antimilitarismus, der nicht erst die Gewalt im politischen Kampf, sondern auch im zivilen Leben perhorresziert, sein Eintreten für das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung; seinen Fortschrittsoptimismus und seinen Glauben an eine Perfektibilität des Menschen durch eine intellektuelle Sozialpädagogik, last but not least: seinen normativen Referenzpunkt der individuellen Autonomie. Symptomatisch dafür sind seine Beiträge zur Sexualreform, die sich signifikanterweise nicht der polaren Geschlechterphilosophie zuordnen lassen welche sich zur Jahrhundertwende sinnparallel zur Tönniesschen Dichotomie von „Gemeinschaft und Gesellschaft" ausbildete und einen antimodernistischen Impuls hatte - , sondern der eher geschlechtsneutralen Doktrin der universalen Menschenrechte folgen. Aus diesem programmatischen wie semantischen Lackmustest folgt auch, daß der junge Michels die kulturkritische Sensibilität für die Zumutungen der Moderne, die viele seiner Zeitgenossen empfunden haben, nicht nur nicht geteilt hat, sondern, wenn überhaupt, sich über sie lustig macht.58

58 Kapitel II.2. Erotik, Feminismus und neue Sexualmoral.

II. Zur soziomoralischen Innenseite von Modernisierungswidersprüchen Robert Michels' politische Strukturund Sittenkritik des Kaiserreiches

IM. Vater, Regiment, studentische Bohème: zur Genese von Michels' Antikonformismus Es gibt nur wenige archivalische Quellen, die Auskunft über Michels' Sozialisation in Elternhaus und Ausbildung vor seinen ersten öffentlichen politischen Äußerungen geben. Allerdings lassen sich mit diesen hier zum größten Teil erstmals publizierten Fundstücken aus dem Turiner Michels-Archiv - unter Einbeziehung einiger Veröffentlichungen aus seiner frühen publizistischen Phase - wesentliche Wertüberzeugungen herausarbeiten, die Michels teilt, bevor er sich dem Marxismus der Zweiten Internationale anschließt. Die unruhige Wanderexistenz, die Michels' ganzes Leben kennzeichnet, beginnt schon recht früh: 1876 als Sohn eines weltweit operierenden Textilunternehmers in Köln geboren, verläßt er 1885 mit neun Jahren das Elternhaus in Richtung Berlin, wo man ihn auf den Collège Francais schickt. Nach drei Jahren wechselt er auf das humanistische Gymnasium Karl Friedrich in Eisenach, wo er 1994 Abitur ablegt.1 Es bahnt sich eine für den Sohn aus „einer der wichtigsten Familien der Stadt" Köln standesgemäße' Ausbildung an.2 Dazu gehört auch der Militärdienst. Offensichtlich soll Michels dem Vorbild seines Onkels Richard folgen, einem Offizier in einem Husarenregiment in Paderborn. Wenn Michels schon einige Jahre später die Prussifizierung, Militarisierung und Aristokratisierung des deutschen Bürgertums anprangert, dann wird er auch an Lebensläufe wie diesen gedacht haben, sowie auch zwei weitere, hatten die Brüder seines Vaters doch in den Adel eingeheiratet. Der junge Michels geht zunächst in eine ähnliche Richtung und tritt 1895 in das Regiment „Großherzog von Sachsen" ein. Bereits nach einem Jahr aber bricht er die militärische Ausbildung abrupt ab. Es gibt aus jener Zeit keine Quelle, mit der sich klären ließe, ob Michels eine militärische Karriere einschlagen wollte oder ob er von Anfang an die Möglichkeit eines

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Frühe biographische Angaben finden sich im Curriculum Vitae seiner Dissertation „Zur Vorgeschichte von Ludwigs XIV. Einfall in Holland", Halle 1900, S. 42/43. Juan J. Linz, Michels e il suo contributo alla sociologia politica, a.a.O.,

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II. Robert Michels' politische Struktur- und Sittenkritik des Kaiserreiches

„Einjährig-freiwilligen Dienstes", jener Ausnahmeregelung für Personen mit einer höheren Bildung, ausnutzen wollte.3 Es ist aber sehr wahrscheinlich, daß seine antikonformistische und antiautoritäre Haltung, die er als politischer Aktivist in den Jahren 1900 bis 1907 in zum Teil erfrischenden Polemiken an den Tag legen wird, entscheidend durch die persönlichen Erfahrungen während der Militärzeit geprägt worden ist. Wenn er nämlich in der Folge auf die militärischen Institutionen und die soldatische Disziplin im Kaiserreich zu sprechen kommt, mischt sich in die politische Analyse eine leidenschaftliche Abneigung4. Deutschland nennt er einmal das „Land der Soldaten-Mißhandlung par excellence"5 und im Institut der Kaserne erblickt er die Synthese aus „Irrenhaus und Zuchthaus".6 In seine Militärzeit, die - gemessen an obenstehenden Urteilen - recht qualvoll gewesen sein muß, fällt auch Michels' erste positive Rezeption des Sozialismus, die er während seiner Rede auf dem SPD-Parteitag zu Dresden 1903 rückblickend als „Bekehrung" bezeichnen wird: „so bin ich als Kriegsschüler durch Reichstagsreden Bebels, die ich in der Post und Kreuzzeitung las, veranlaßt worden, mich der Sozialdemokratie zu nähern und auf diesem Wege das geworden, was ich heute bin."7 Nach einem kurzen Aufenthalt in England studiert Michels zwischen 1896 und 1900 an der Pariser Sorbonne sowie in München, Leipzig und Halle bei Lujo Brentano, Karl Lamprecht,8 Theodor Lindner, seinem späteren Schwiegervater, Johannes Conrad und seinem Doktorvater Gustav Droysen.

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Vgl. Corrado Malandrino, Lettere di Roberto Michels e di Augustin Hamon (1902-1917), in: Annali della Fondazione Einaudi Luigi Einaudi, Vol. XXIII, Torino 1989, S. 487-562, S. 496. Vgl. R. Michels, L'analisi del Reichstag germanico, in: La Riforma Sociale, XI, Vol. XIV, Nr. 3, 1904, S. 5: „Das Heer bleibt eine blind gehorchende Waffe in der Hand der Dynastie, gegen wen und aus welchem Motiv auch immer ..." [m. Übs.]. Eine scharfe Kritik am militärischen Ehrenkodex, dem Duellwesen und wiederum am blinden Gehorsam findet sich auch in R. Michels, Divagazioni sull'Imperialismo germanico e la Questione del Marocco, in: Riforma Sociale, XIII, Vol. XVI, Nr. 1, 1906, S. 20. Brief von R. Michels an Augustin Hamon, 10. November 1904, abgedruckt in: Corrado Malandrino, Lettere di Roberto Michels e di Augustin Hamon (1902-1917), in: Annali della Fondazione Luigi Einaudi, Vol. XXIII, Torino 1989, S. 487-562, S. 534: „le pays des maltraitements de soldats par excellence". Michels, Die Frau und der Militarismus, in: Die Gleichheit, Nr. 9, 13. Jg., 22.4.1903, S. 70. Der Ausschnitt aus Michels' Rede findet sich in: Volksstimme, 17.9.1903. Da in dieser Arbeit noch der Versuch unternommen wird, das positivistische Hinterland im Denken des jungen Michels herauszuarbeiten, sei auf Lamprechts exponierte Stellung in diesem Kontext hingewiesen: Vgl. Roger Chickering, Das Leipziger „Positivisten-Kränzchen" um die Jahrhundertwende, in: G Hübinger/R. v. Bruch/F. W. Graf (Hg.), Kultur und Kulturwissenschaften um 1900 II: Idealismus und Positivismus, Stuttgart 1997, S. 227-245.

II. 1. Vater, Regiment, studentische Bohème

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So wie in den Erfahrungen seiner Militärzeit der Ursprung von Michels' Antimilitarismus zu vermuten ist, dürfte seine Studienzeit nicht minder zur Ausprägung seines Antikonformismus beigetragen haben. Im Umgang mit Dozenten und Kommilitionen hat sich Michels offenbar in der Rolle des selbstbewußten Außenseiters gesehen. Das zumindest legt eine autobiographische Notiz nahe, in der das staatswissenschaftliche Seminar der Universität Halle-Wittenberg geradezu zum sozialen Mikrokosmos gerät, in dem sich exakt jene Defizite widerspiegeln und verdichten, die Michels in seiner späteren Gesellschafts- und Sittenkritik aufs Korn nehmen wird - Heuchelei, falsches Pathos und der Schulterschluß des Bürgers mit dem ostelbischen Junkertum: „Das Seminar von Johannes Conrad9 war ausgezeichnet besucht. Conrad hielt strengste Ordnung. Der Vortragende musste das Katheder besteigen, während sich der Professor selbst auf die Bank setzte. Nachher gab es Diskussion. Dabei spielte mir wieder einmal mein in Deutschland unverstandener Zug zur Hirome [sie] einen bösen Streich: Im Seminar war ein Vortrag über die Entstehung des intellektuellen Proletariats gehalten worden. Conrad hatte die Frage aufgeworfen, was seitens der Universität geschehen könnte, um dieser Gefahr zu begegnen. Mir stieg das Blut zu Kopf, zumal da in der Diskussion auch die Meinung ausgesprochen worden war, es sei nur Wasser auf die Mühle der Revolution, wenn die Arbeiter glaubten, ihre Söhne studieren zu lassen. Ich meldete mich zu Wort, indem ich sagte, es gäbe nur ein einziges Mittel und das sei die Erhöhung der von den Studenten zu zahlenden Gebühren. Ich sagte es spöttisch, aber es wurde für blutigen Ernst genommen. Ein Grossgrundbesitzersohn aus Lievland, der Baron von Manteuffel, dem das Herrentum aus allen Poren seines dicken roten Gesichtes leuchtete, griff in die Debatte ein, um mit falschem Pathos gegen mein Rezept zu protestieren, das zu Gunsten der Kapitalisten die tüchtigen Armen von der Universität fernhalte. Conrad pflichtete dem Vorredner kurz bei und schloss die Sitzung, ohne dass ich nochmals zu Worte kommen konnte. So war ich als wüster Plutokrat gestempelt, was mir übrigens bei der Mehrzahl meiner Kameraden nur erhöhten Respekt einbrachte. Mein Respekt vor dem demagogischen Adel wurde durch das Erlebnis nicht gestärkt."10 Michels' Distanzierung vom Wilhelminischen Establishment ist aber auch durch Auseinandersetzungen mit dem Vater mitbegünstigt und forciert worden. Silvester 1902,

9 Johannes Conrad war Professor für Volkswirtschaft, Finanz- und Staatswissenschaft an der Universität Halle-Wittenberg, dessen Veranstaltungen Michels in den drei Semstem vor seiner Promotion wahrscheinlich regelmäßig besucht hat - zumindest legen das die Ankreuzungen in Michels' Vorlesungsverzeichnissen nahe (Privatarchiv Genett). 10 Es handelt sich hier um eine autobiographische Notiz aus der Zeit vor 1914, in: Appunti di Roberto Michels, ARMFE. (Faustregel bei der Datierung von Michels' Privatnotizen ist: vor 1914 zu 99 Prozent in deutscher Sprache, dann der Wechsel zum Italienischen. Dieser Wandel, der nicht zufallig im Ersten Weltkrieg einsetzt, läßt sich mit der Privatkorrespondenz von Robert und Gisela Michels belegen (ARMFE)).

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II. Robert Michels' politische Struktur- und Sittenkritik des Kaiserreiches

möglicherweise einen Tag, bevor er offiziell Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands wird,11 ist Michels' Zerwürfiiis mit dem Elternhaus perfekt, genauer: mit dem Vater. Seiner Mutter gegenüber nämlich bemüht sich Michels noch, in einer Art Abschiedsbrief seine inneren Beweggründe begreiflich zu machen; was er aber seinem Vater zu sagen hat, kann er diesem offensichtlich nicht mehr direkt, sondern nur noch über die Mutter mitteilen: „Also nochmals! Ich verlange absolut nichts von Papa, meinetwegen braucht er sich nicht zu ändern, er kann soviel Kreuzzeitungen12 lesen, wie er will, so viel Generäle einladen, wie es giebt, so viel für Krieg, Metzgereien, Flotten und Orden schwärmen, wie er Lust hat ... Ich will nichts von Papa, dieser aber sehr viel von mir, und zwar will er mir die Rechte nehmen, die mir selbst unser reaktionärer Staat zugesteht. Das ist ein Verbrechen, eine Art geistiger Notzucht oder wenigstens der Versuch einer solchen und sollte eigentlich strafrechtlich verfolgt und bestraft werden,"13 Um seine eigene Entscheidung begreiflich zu machen, bedient sich Michels einer Argumentationsfigur, die man von ihm in den kommenden Jahren noch öfters hören wird: jede „Theorie", jede politische Überzeugung ist wertlos, wenn sie nicht praktisch wird. Diese Maxime politischer Lebensführung, daß die persönlichen Einsichten sinnlos seien, wenn ihnen kein entsprechendes politisches Engagement entspreche, oder aber zu revidieren seien, wenn die notwendige Korrespondenz von Fakten und Normen ausbleibt, trägt er an jenem Silvesterabend 1902 mit einer scharfen Spitze gegen den Vater vor, dem er mit Süffisance die Inkompetenz zu logischem Denken bescheinigt: „Unglaublich naiv ist fernerhin die Papasche Auffassung, ich könne zwar .meine Interessen auch weiterverfolgen, solle aber nicht agitatorisch thätig sein'. Abgesehen davon, daß ich, leider!! - nicht agitatorisch thätig bin, da ich bis jetzt nur sehr sehr selten die Thätigkeit des Privatgelehrten mit der des Volkstribunen vertauscht habe, hat diese Auffassung wahrlich nicht sehr viel Sinn. Die Forderung ist genauso lächerlich wie die ,Rechtsanwalt kannst Du sein, aber plaidieren nicht'

11 Es ist umstritten, wann Michels genau der SPD - und in etwa zeitgleich dem Partito Socialista Italiano (PSI) - beigetreten ist. Irgendwann zwischen Ende 1900 und dem 31. Dezember 1902 muss es gewesen sein. Im Archivio Roberto Michels der Fondazione Luigi Einaudi (ARMFE) finden sich Mitgliedsausweise vom 15.11.02 (PSI; bis 1909) und 1.1.1903 (SPD, bis 1907). Es gibt Äußerungen von Michels, die dies bestätigen (vgl. Corrado Malandrino: Patriottismo, Nazione e Democrazia nel Carteggio Mosca-Michels, a.a.O., S. 223) und solche, die ein gut zwei Jahre früheres Eintrittsdatum behaupten (vgl. Tuccari, Una città di idealisti..., a.a.O.). 12 Ultrakonservative Tageszeitung. 13 Brief von Robert Michels an Anne Michels-Schnitzler, 31.12.02, ARMFE [kursiv im Original unterstrichen].

II. 1. Vater, Regiment, studentische Bohème

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oder ,Deine kaufmännischen Neigungen darfst Du ja ruhig weiter verfolgen, aber Gnade Dir Gott, wenn Du ... Handel treibst'." 14 So überzeugend das auf den ersten Blick auch scheinen mag: Die Parallelisierung des Rechtsanwaltsplädoyers mit der Gelehrtenagitation als zwei strukturell ähnlichen und gleichermaßen gebotenen, ja die Identität des Berufes ausmachenden Tätigkeitsformen ist nicht logisch, sondern ideologisch. Schließlich könnte man doch zu Recht auch behaupten, daß des Gelehrten Mandat die Mehrung, Vertiefung und Vermittlung des Wissens - und eben dies eine nicht geringzuschätzende „Praxis" sei. Nicht so Robert Michels, für den allein der politisch intervenierende Intellektuelle, sei es durch Agitation, sei es durch die moralpädagogische Aufklärung des Volkes, das Prädikat wahrer Intellektualität beanspruchen darf. Robert Michels hat dem Gebildeten eine herausragende Bedeutung für den politischen Wandel beigemessen, die allerdings zu seiner Zeit bereits hinterfragt und schließlich auch ihm selbst zunehmend anachronistisch erscheinen wird. In dem Brief an die Mutter jedoch verbindet sich das intellektuelle Selbstverständnis noch mit einem geradezu missionarischen Eifer und einem naiven naiv vor dem Hintergrund der zeitgenössischen kulturkritischen Reflexivität der klassischen Moderne - Fortschrittsglauben von der politischen Perfektibilität der Zukunft: „Sozialismus ist eine Hoffnung auf die Zukunft, und seine Bekenner haben deshalb die Pflicht, diese Hoffnung auch anderen mitzuteilen und diese Zukunft nach Möglichkeit zu beschleunigen. Sozialismus ist aber auch ein Kampfesruf und je mehr denselben zur Befreiung der Welt aus den Banden der Kapital- und Monarchenbedrückung und aus der geistigen und physischen Prostitution mit heller Stimme ausstoßen, desto weiter hallt sein Echo. Ein Sozialismus, verschlossen im trauten Herzkämmerlein, ist wie ein verschlossenes, nie gespieltes Pianoforte, wie ein Fisch ... ohne Wasser".15 Der Vater verkörpert in Michels' Polemik dagegen exakt jene Mißstände, derentwegen die Überwindung der Gegenwart und die Beschleunigung der Zukunft zur intellektuellen „Pflicht" wird: Beides nämlich, „Herz und Kopf' 1 6 fehle dem Vater, der die „dargebotene Hand des Sohnes immer wieder ausschlägt" und stattdessen „auf einen endgültigen Sieg, nicht seines Geistes, nicht seines Herzens", sondern „seines Geldbeutels"

14 Ebd. 15 Ebd. 16 Die ganzheitliche Kombination der Herz- und Kopfqualitäten des Menschen ist einerseits programmatisch dem im folgenden noch zu entfaltenden jugendbewegten Kontext der Zeit zuzuschreiben, andererseits aber auch durchaus als Indiz für den Michelsschen Positivismus zu verstehen, den wir in den Kapiteln III und VI.2. eingehend und in den Kapiteln II.2.5., II.4.5. sowie IV.2.3. exemplarisch untersuchen werden. Die Metapher steht nämlich auch für Comtes „positive Religion" und ihrem Leitmotiv einer „Synthese von Herz und Verstand" (Vgl. Heinz Maus, Geschichte der Soziologie, in: Werner Ziegenfuss (Hg.), Handbuch der Soziologie, Stuttgart 1956, S. 8-9.)

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II. Robert Michels'politische Struktur-und Sittenkritik des Kaiserreiches

hoffe. Militarismus, Gefühlslosigkeit, Bestechlichkeit und Dummheit bilden den väterlichen Pol des Familienstreits, ein emphatischer Begriff von moralischem Handeln, Wahrheit und der Aufbruch in die Zukunft den des Sohnes. Die Dichotomie von Vater und Sohn weist die Struktur „asymmetrischer Gegenbegriffe" (Reinhart Koselleck) auf, ihr Verhältnis kommt - von den unter diese Struktur subsumierten Begriffspaaren demjenigen von Christ-Heide am nächsten.17 So betont Michels die Differenz von Person und Weltanschauung und merkt an, daß nur um die letztere die Auseinandersetzung sich drehen dürfe: „...er [der Vater] sieht es nicht, daß es einen Unterschied zwischen einem Concretum und einem Abstractum gibt, er ist so naiv zu glauben, ich kämpfte gegen ihn und will nicht wissen [...], daß ich gegen die Weltanschauung kämpfe, die er, zufällig, mit vertritt."18 Diese gegenüber dem Vater angemahnte Differenzierung ist eine häufig wiederholte ethische Grundposition des jungen Michels und gilt ihm gleichsam als eine unabdingbare Voraussetzung für seine Idee von der Versittlichung des politischen Streits: die Freundschaft unter Gegnern: „Nimmt doch der freundschaftliche Verkehr politischer Antipoden dem notwendigen Kampfe vielfach wenigstens seine unnötige persönliche Schärfe".19 Die Unterscheidung zwischen Person und Sache verhindert im Streit mit dem Vater allerdings nicht, daß Michels auch den Charakter des Vaters moralisch in Zweifel zieht, indem er die Mutter davon zu überzeugen sucht, daß sie längst ein Opfer der väterlichen Lebensführung und seines Ehebegriffs sei: trotz „überreicher Liebesphrasen" bringe es der Vater nicht zustande, sein Erwerbsleben zugunsten seiner schwerkranken Frau zu reduzieren. Die Verbindung der politischen Argumentation mit einer ganzheitlichen Vision von Seele und Verstand, von „Herz und K o p f sowie die Kritik an der elterlichen Rollenaufteilung und den heuchlerischen Phrasen' ist nicht zufallig. Im Kontext der Zeit ist derlei vielmehr ein bedeutendes Indiz für die unbekannte universitäre- bzw. außeruniversitäre Sozialisation des Studenten Michels: In welcher Verbindung stand Michels' unruhige Jugend, die weitgehend außerhalb des Elternhauses verlief, zur Jugendbewegung des Kaiserreiches, jener nach Mosse antibürgerlichen Revolte der Kinder bürgerlicher Eltern? Diese Frage hat erstmals Pino Ferraris aufgeworfen, der Michels' kritische Schriften zur bürgerlichen Sexualmoral untersucht und dabei eine auffällige Strukturierung der Wirklichkeit in den begrifflichen Dichotomien von „Alter versus

17 Vgl. Reinhart Koselleck, Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1992, S. 211-260. Koselleck unterscheidet drei Begriffspaare: Hellene-Barbar, Christ-Heide, Mensch-Unmensch. 18 Brief von Robert Michels an Anne Michels-Schnitzler, 31.12.02, 19 R. Michels, Der Kaisergang und die Sozialdemokratie, in: Rheinische Zeitung, 12. Jg., Nr. 184, 13.8.1903.

II. 1. Vater, Regiment, studentische Bohème

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Jugend" sowie „Spontaneität versus Konvention" herausgearbeitet hat.20 Gerade mit Blick auf die ambivalente Entwicklung der Jugendbewegten, ihr Einmünden in liberale, sozialistische, aber auch nationalistische und ästhetizistische politische Strömungen, wäre die Klärung dieser Frage ein gewichtiger Beitrag bei der Rekonstruktion von Michels' Denken. Aufgrund der Quellenlage zur Adoleszenz und zur Studienzeit kann hier nur eine präliminarische Antwort und allenfalls approximative Verortung Michels' auf dem Feld der Jugend um 1900 gegeben werden. Dabei fällt auf, daß charakteristische Topoi jugendbewegten Denkens21 wie die Romantisierung des Bundes und der Natur oder die Kritik an der Urbanisierung in Michels' Schriften zu keinem, weder frühem noch späterem Zeitpunkt eine Rolle spielen. Auch eine Affinität zur Kulturkritik, wie sie in Werner Sombarts „resignierter Sehnsucht nach etwas Verlorenem"22 oder der Dämonisierung des Fortschritts zum Ausdruck kam, läßt sich beim jungen Michels nicht feststellen. Michels' Kritik am Kaiserreich beklagt signifikanterweise dessen unvollendete Modernisierung, die Gleichzeitigkeit von technisch-ökonomischen Fortschritt und politisch-institutionellem Zurückgebliebensein.23 Andererseits ist die Einengung des jugendlichen Aufbruchs um die Jahrhundertwende auf eine Flucht vor den Zumutungen der Moderne auch gar nicht zulässig. So hat Thomas Nipperdey davor gewarnt, das demokratische und liberale Potential in der Jugend um 1900 zu übersehen, das sich in der Opposition gegenüber Staat und Autorität, gegen den Wilhelminismus und den „Hurra-Patriotismus", und eben auch η der Forderung nach einer Gleichberechtigung der Geschlechter ausdrückte.24 Damit kompatibel ist der Vorschlag von Gottfried Küenzlen, zwischen einer „bündischen Jugend" und einer „nicht-bündischen" zu unterscheiden. Während das Nicht-Bündische als Sammelbegriff für christliche und proletarisch-sozialistische Gruppen fungiert, steht der Terminus „bündische Jugend" für das inhaltlich enger definierte Spektrum all jener, die „als Wandervogel, Neue Schar usw. aus ,grauer Städte Mauern' in die Natur, in die Wälder hinauszogen, eher antiintellektuell auf formulierte Weltanschauungskonzepte verzichteten und im Natur- und Heimat- und Gemeinschaftserlebnis eine unmittelbare und unverstellte Erfahrung suchten."25

20 Pino Ferraris, Questione femminile e morale sessuale nell'evoluzione politica di Roberto Michels, in: Riccardo Faucci (Hg.), Roberto Michels. Economia - Sociologia - Politica, Torino 1989, S. 97-122. 21 Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. I: Arbeitswelt und Bürgergeist, 3. Aufl. München 1993, S. 118-124; Thomas Koebner/R.-P. Janz/F. Trommler (Hg.), „Mit uns zieht die neue Zeit". Der Mythos Jugend, Frankfurt/M. 1985; Werner Kindt (Hg.), Dokumentation der Jugendbewegung, 3 Bde. 1963-1974. 22 So Hjalmar Schachts Kennzeichnung der kulturkritischen Positionen Werner Sombarts, zit. n. Friedrich Lenger, Werner Sombart 1863-1941. Eine Biographie, München 1994, S. 136. 23 Vgl. Kapitel II.3. „Ein Land aus Stuck". 24 Thomas Nipperdey, Jugend und Politik um 1900, in: ders., Gesellschaft - Kultur - Theorie, Göttingen 1976, S. 338-359, S. 346/7. 25 Gottfried Küenzlen, Der Neue Mensch. Zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne, Miinchen 1994, S. 154. Vgl. auch Werner Helwig, Die blaue Blume des Wandervogels. Vom Aufstieg. Glanz

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II. Robert Michels' politische Struktur- und Sittenkritik des Kaiserreiches

Genuin „bündische" Wertvorstellungen dürften auf das Denken des jungen Michels keinerlei Einfluß gehabt haben. An den seltenen Stellen, wo er auf die Zivilisationskritik der Jahrhundertwende zu sprechen kommt, bedenkt er die „Culturangsthasen"26 nur mit Spott. Das große Thema der Zeit, die Nervosität,27 in dem sich die Modernisierungserfahrungen in der Diagnose eines kollektiven Krankheitsbildes bündeln, kommt bei Michels nur einmal vor und wird lapidar mit einem Verweis auf die Segnungen des medizinischen Fortschritts sowie die tatsächlichen, nämlich unmenschlichen Härten primitiver Lebensformen kommentiert: „In dem primitiven Thierzustand ist das Zugrundegehen die Regel. Der Urmensch wurde zwar nicht nervös, aber er starb fast immer eines gewaltsamen Todes oder wurde durch eine Epidemie hingerafft". 28 Schon allein Michels' Lebensführung erlaubt keinerlei Schlüsse auf ein Unbehagen in der Zivilisation. Michels ist ein urbaner Wandervogel, der mit Vorliebe in den Städten nistet: Wenn er sich von der Arbeit erholen möchte, zieht er die Faszination der Metropole, ζ. B. Paris, dem beschaulichen Landleben vor. Max Weber hat ihn vor den gesundheitlichen Gefahren gewarnt, die der „bohèmehafte Reiz" seiner „intensiven Lebensweise" mit sich bringe.29 Die Worte des Freundes Max Weber sind ein interessantes Indiz: Jahre später wird Michels eine „Soziologie der Bohème" entwickeln, in der eine phänomenologische Nähe zum Ausdruck kommt, die unter der Hand bis zur Selbstidentifikation geht. So, wenn er von der Bohème als einer vorübergehenden, jugendlichen Etappe spricht, in der „viel von jener Furcht vor der Einsamkeit" stecke, „welche den jungen vom Elternhaus getrennten Menschen leicht befällt. Andererseits ist nicht zu verkennen, daß der Hang, den Gefahren des Quietismus und Traditionalismus, die gerade im Elternhaus häufig drohen, zu entkommen, gesund für die freie Entwicklung der Talente und der objektiven Anschauungen des Sohnes ist." Und bezüglich des studentischen Teils in der Bohème heißt es: „Die studentische Bohème ist stets, in Frankreich wie in Deutschland, Revolte, Flucht vor dem Elternhause und den lästigen Behörden, sich selbst unbewußt auch Hang zu unbeaufsichtigter Erotik."30

26 27 28 29 30

und Sinn einer Jugendbewegung, Baunach 1998; Hans Blüher, Wandervogel 1-3. Geschichte einer Jugendbewegung, Frankfurt/M. 1976 Michels, Das Weib und der Intellectualismus, in: Dokumente der Frauen, Bd. VII, Nr. 4, 15. Mai 1902, S. 106-114. Vgl. Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Reichsgründung und Nationalsozialismus, München 1998. Michels, Das Weib und der Intellectualismus, a.a.O., S. 109. Brief von Max Weber an Robert Michels, 12.5.1909, MWQ Abt. II, Bd. 6, S. 124. R. Michels, Zur Soziologie der Bohème und ihrer Zusammenhänge mit dem geistigen Proletariat, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Geschichte, ΙΠ. Folge, Bd. 81,1932, S. 801 -816, S. 803/4.

II. 1. Vater, Regiment, studentische Bohème

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Dieser Begriff der „studentischen Bohème", mit den Konnotationen des Antitraditionalismus, der „freien Entwicklung", der Revolte gegen Staat und Elternhaus und einer der familiären Kontrolle enthobenen Erotik, dürfte dem, was Robert Michels mit der Jugend um 1900 verbindet, weitaus näher kommen als der so ambivalente Begriff Jugendbewegung. Die einheitliche Chiffre, die die verschiedenen und auch gegensätzlichen Strömungen der jüngsten deutschen Generation um 1900 miteinander verbindet, ist der „Neue Mensch".31 Er steht für die Prätention einer wahrhaftigen Moral im Widerstreit mit der scheinheiligen Konvention. Die ethische Erneuerung, der „Rinascimento etico", is t auch das Thema von Robert Michels, vielleicht sogar ein Thema seines Lebens: 1920 zumindest suggeriert er seinen Lesern und vor allem sich selber, daß dem „alten Kulturboden" des nunmehr faschistischen Italiens „Renaissance-Menschen" erwachsen, „die gleichzeitig Herz und durchdringenden Verstand haben"32. Da ist sie wieder: die Synchronisierung von Herz und Verstand resp. „ K o p f , wie es schon in dem Brief an die Mutter heißt. Indes: auch wenn dieses Kriterium später in Verbindung mit Max Webers Charisma-Begriff in einem politischen Geniekult, insbesondere in der Verehrung des „Duce" wiederbelebt wird, so ist der „Neue Mensch" des jungen Michels zunächst demokratisch, kosmopolitisch und urban. Wenn Michels von der moralischen Renaissance der Deutschen spricht, dann, um eine seines Erachtens verhängnisvolle, weil autoritäre und militaristische, Tradition des deutschen Geistes zu brechen und an die Tradition der französischen Aufklärung und der Großen Revolution anzuknüpfen. Michels' Nonkonformismus bestätigt dabei jenes Bild, das Dirk Käsler von den frühen deutschen Soziologen gezeichnet hat: sie seien bürgerliche Rebellen gegen ihre Unternehmer-Väter gewesen.33 Bei Michels hat diese Rebellion zur unmittelbaren materiellen Konsequenz, daß er sein Leben ohne jegliche Unterstützung aus dem reichen Elternhaus bestreiten muß, da dieses ihm nach dem Bekenntnis zum Sozialismus jegliche Unterstützung verweigern wird. 34 Aber nicht eine mit dem Vater-Sohn-Konflikt einher gehende nostalgische Suche nach den ,authentischen' Wurzeln des rheinischen Familienlebens der Vorfahren,35 sondern der antikonformistische Bruch des „studentischen

31 Küenzlen, a.a.O., S. 157. 32 Vgl. die Schlußbemerkung von R. Michels, Italien von heute, Zürich 1930, S. 375. 33 Vgl. Dirk Käsler, Die frühe deutsche Soziologie 1909-1934 und ihre Entstehungsmilieus. Eine wissenssoziologische Untersuchung, Opladen 1984, S. 332-357. Kritisch dazu Friedrich 1,enger, Wissenschaftsgeschichte und die Geschichte der Gelehrten 1890-1933: Von der historischen Kulturwissenschaft zur Soziologie, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutsche:! Literatur, Bd. 17, Heft 2, 1992, S. 150-180, S. 175-178. 34 Vgl. Brief von Michels an Augustin Hamon vom 25.2.1903: ,je n'ai aucune fortune personnelle, mon père encore vivant, vieux conservateur qui désapprouve le socialisme de son fils de tout coeur, ne me donne rien"; Kopie ARMFE, abgedruckt in: Malandrino, Lettere di Miche s e di Hamon, a.a.O., S. 516. 35 Arthur Mitzmann zufolge ist, wie im ersten Kapitel ausgeführt, die „konservative" nach den von seinem Großvater Peter Michels verkörperten alt-rheinischen Familientraditionen der wahre Kern des „Revolutionärs" Michels.

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II. Robert Michels' politische Struktur- und Sittenkritik des Kaiserreiches

Bohemien" dürfte am Anfang von Robert Michels' Politisierung gestanden haben, der wohl weniger in den Universitäten selber als in ihrem Umfeld auf die radikal-liberalen und progressiven Ideen seiner Zeit getroffen ist.36 Und wir haben guten Grund zur Annahme, daß sich seine Protesthaltung gegen die herrschende Moral zunächst in Auseinandersetzung mit jenem konventionellen Korsett bildet, welches in der wilhelminischen Gesellschaft zumindest offiziell die Erotik einschnürt: die ,altviktorianische' Geschlechtsmoral. Auch das ist ein Thema der Jugend um 1900, und zwar eines, das in seiner die Lebensführung unmittelbar tangierenden, ja, existentiellen Dimension jugendliche Suchbewegungen evoziert, die aus dem tradierten Sittenkodex heraus- und in eine verwirrende Vielfalt neudefinierter Geschlechterbeziehungen von der „freien Liebe" bis zu einer moralischen Reform der Ehe hineinfuhren. Eine Umwertung der Moralvorstellungen in scharfer Frontstellung gegen die „Alten" bahnt sich an. Diese Umwertung wartet mit provozierenden Differenzierungen auf, so etwa wenn Robert Michels behauptet, daß der „Idealismus" „fein empfindender junger Männer" ausgerechnet bei den Dirnen der Pariser Boheme „Nahrung" 37 finde und daß es eine Moral der Hure gebe, während andererseits sich hinter der vermeintlichen Sittlichkeit der bürgerlichen Ehe eine sexuelle Ausbeutung und legale Vergewaltigung der Frau verberge, die moralisch nicht einmal über der wenigstens auf dem ökonomischen Tauschprinzip beruhenden Prostitution stehe.38 Von den des öfteren anzutreffenden Verweisen auf die Anziehungskraft, die die Pariser Dirnen des Quartier Latin auf den Studenten Michels am Ende der neunziger Jahre offensichtlich ausgeübt haben, mal abgesehen, soll hier nicht nur aufgrund der vermutlichen chronologischen Priorität die Analyse der Michelsschen Gedanken zur Sexualität, zur Liebe und zur Frauenfrage der Erörterung seiner parteipolitischen Positionen vorausgeschickt werden. Auch geben Michels' Schriften zur Sexualreform ,tieferliegende' Aufschlüsse über sein Weltbild, die man in seiner politischen Publizistik nicht ohne weiteres findet. Wer nämlich um 1900 sich zur Sexualreform äußert, muß notgedrungen auch sein Frauenbild und seine Einstellung zur Moderne preisgeben. Damit aber sind die Gedanken zur Sexualreform und ihre semantische Verpackung ein Lackmustest auf den weltanschaulichen Ort des Verfassers: ob er sich in der damals weitverbreiteten Tönniesschen Begriffskonfiguration von „Gemeinschaft und Gesellschaft" bewegt oder ob er mit dem Verzicht auf diese Semantik nicht schon von vornherein kulturkritischen oder sogar antimodernistischen Konsequenzen aus dem Weg geht. Letzteres trifft auf Robert Michels zu. Insofern zeitgenössische Mythologeme einer

36 Nach Nipperdey, Jugend und Politik um 1900, a.a.O., S. 342, war die studentische Jugend „nicht im spezifischen Sinne ein dynamischer Faktor in der Veränderung des Status quo". 37 Michels, Grenzen der Geschlechtsmoral, S. 52. 38 Vgl. Michels, Considerazioni sui limiti etici all'amore sessuale, in: Rivista italiana di sociologia, anno XV, Fase. III-IV (Maggio-Agosto 1911), Sonderdruck 12 Seiten, S. 8: „... l'obbligo che incombe alla moglie di essere fedele esecutrice degli ordini sessuali ricevuti dal marito, spesso conduce ad una continua violazione carnale della donna da parte dell'uomo, il che non è flagello meno terribile della prostituzione, in quanto che quest'ultima presuppone per lo meno il consenso mutuo dei contraenti".

11.2. Erotik, Feminismus und neue Sexualmoral

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neuentdeckten .Weiblichkeit' als Schutzburg unentfremdeter Gemeinschaftlichkeit gegen die Zumutungen einer individualistischen und rationalistischen ,männlichen' Gesellschaftsordnung bei Michels keine Rolle spielen, sondern vielmehr Fragen der Gleichberechtigung und Demokratisierung im Verhältnis von Mann und Frau, ist das folgende Kapitel ein unverzichtbarer Schritt in meiner Beweisführung dafür, daß man den Universalismus der Menschenrechte, die Traditionsbestände der französischen Aufklärung und den politischen Fortschrittsglauben im Denken des jungen Michels weitaus stärker gewichten muß als bislang geschehen.

II.2. Erotik, Feminismus und neue Sexualmoral „Liebe und Aristokratie. Liebe, die nur Eines verklärt vor allen das wahrhaft aristokratische Prinzip in der Welt (Karl Hauptmann: Aus meinem Tagebuch, p. 89). Gut! Aber auf die Verklärung des Nur-Einen folgt im Liebesleben der meisten Menschen die Verklärung des Nur-Anderen und des Nur-Wieder-Anderen und so weiter, bis aus der Aristokratie eine Oligarchie, aus der Oligarchie gar eine Demokratie wird."'39

Mit einem Bekenntnis beginnt Robert Michels' 1911 veröffentlichtes Buch „Die Grenzen der Geschlechtsmoral": „Die Schrift, die hiermit der Öffentlichkeit übergeben wird, ist das Resultat langjähriger Beobachtungen eines Mannes, der über die sexuellen Probleme von jüngster Jugend auf viel nachgedacht hat [...], der als Kommilitone zuerst, als Dozent später, die akademische Jugend [...] immer mit dem gleichen unlösbaren Problem im Kampfe liegen sah, junge Liebe mit alter Sitte zu versöhnen".40 Im selben Jahr wie sein berühmtes Hauptwerk „Soziologie des Parteiwesens." erschienen, und, was die Nachdrucke und Übersetzungen betrifft, nicht minder erfolgreich,41 ist Michels' sexualreformerische Aufklärungsschrift von der späteren Rezeption 39 Dieses unveröffentlichte Aperçu findet sich auf einem losen Blatt in den „Appunti di Roberto Michels" im ARMFE. Es ist aufgrund Schriftbild und Thematik mit großer Wahrscheinlichkeit zwischen 1905 und 1907 verfaßt worden. 40 Michels, Die Grenzen der Geschlechtsmoral. Prolegomena. Gedanken und Untersuchungen, München/Leipzig 1911 [in der Folge = Grenzen], S. VII. 41 In Deutschland erlebten die „Grenzen ..." 1911 gleich zwei Auflagen. Zwischen 1912 und 1914 folgten Übersetzungen ins Italienische, Französische, Englische und Spanische: 1 limiti della mo-

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II. Robert Michels' politische Struktur- und Sittenkritik des Kaiserreiches

freilich kaum zur Kenntnis genommen worden und steht bis heute im Schatten seiner zeitgleich entwickelten Demokratie- und Elitentheorie. Daß Fragen der Sexualreform und, damit eng verbunden, der Frauenemanzipation ein Kernanliegen, ja, wie das obige Zitat nahelegt, eine Art Lebensthema des jungen Michels waren, ist der Forschung - bis auf eine Ausnahme42 - allenfalls eine Randbemerkung wert gewesen. Allein wegen dieses Mankos sind alle bisherigen Gesamtdeutungen von Michels' Entwicklung Stückwerk. Die „Grenzen der Geschlechtsmoral", in denen der Autor eine zehnjährige Publizistik zur Sexualmoral und zum Geschlechterverhältnis43 zum Abschluß bringt,44 sind eine erstrangige Quelle für jenen Lebensabschnitt, den ich trotz einiger signifikanter Veränderungen als „erste Phase" (1900-1911) bezeichne. Denn die „Grenzen" sind insbesondere ein Schlüssel zum Verständnis von Michels' soziologischem Hauptwerk, sie zeigen in aller Deutlichkeit die weltanschaulichen Grundpositionen des Autors der „Parteiensoziologie" auf, Positionen, die infolge der verkürzten Optik auf den zum Elitentheoretiker gewordenen Demokraten, ja, auf den zum Faschisten gewordenen Sozialisten übersehen oder bis zur Unkenntlichkeit marginalisiert worden sind. Zu diesen Grundpositionen, die im folgenden herausgearbeitet werden sollen, zählen: das liberale Ethos individueller Autonomie, das urbürgerliche Grundrecht auf Selbsterhaltung, das im Kantianismus wurzelnde Prinzip der Wechselseitigkeit und Freiwilligkeit und die damit verbundene Ablehnung physischer wie sublimer Formen der Gewalt im zwischenmenschlichen Umgang, ein evolutionärer und zukunftsoptimistisch begriffener Sozialdarwinismus, der die „Künstlichkeit" des zivilisierten Menschen nicht kulturkritisch perhorresziert, sondern als darwinistische Anpassungsmaßnahme afifirmiert. Im engeren, sexualpädagogischen Sinne erleben wir Michels in diesem Buch als geradezu radikalfeministischen Anwalt eines neuen selbstbewußten und selbstbestimmten Frauentypus, der in erotischen wie auch in allgemein gesellschaftlichen Fragen sich aus der subalternen Passivität löst und für sein Recht auf Gleichberechtigung und Selbstverwirklichung streitet. Michels greift dabei in seinem Plädoyer für die Emanzipation der Frau an keiner Stelle auf Thesen vom Wesen der Weiblichkeit zurück, wie sie in der

rale sessuale. Prolegomena: Indagini e pensieri, übersetzt von Alfredo Poliedro, überarbeitet vom Autor, Torino 1912; Amour et Chasteté. Essais sociologiques, Paris 1914; Sexual Ethics: A study of borderland questions, London/Felling-on-Tyne 1914; Amor y castidad. Los limites de la moral sexual, Barcelona o. J. 2002 ist das Buch in den U.S.A. neu herausgegeben worden. Vgl. Sexual Ethics. A study of borderline questions, mit einer neuen Einleitung von Terry R. Kandal, New Brunswick N.J. 2002. 42 Pino Ferraris, Questione femminile e morale sessuale nell'evoluzione politica di Roberto Michels, in: Faucci 1989. S. 97-122. 43 Michels schrieb u. a. für die Zeitschriften „Die Frau" (hg. ν. Helene Lange), „Die Gleichheit" (Clara Zetkin), „Die Frauenbewegung" (Lily Braun und Minna Cauer), „Frauenrundschau" (Helene Stöcker), „Mutterschutz", „Neue Generation" und „Unione Femminile". 44 Danach hat Michels das Thema im Prinzip fallengelassen. In späteren Arbeiten, wie in der Monographie „Sittlichkeit in Ziffern? Kritik der Moralstatistik" (München/Leipzig 1928), geht der normative Impuls der Sexualre/orm völlig verloren.

II.2. Erotik, Feminismus und neue Sexualmoral

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bürgerlichen Frauenbewegung seinerzeit kursieren und denen zufolge der Frau eine spezifisch weibliche Kulturmission aufgrund ihrer Rolle als Mutter und Hüterin der Hausgemeinschaft zukomme. In anderen Worten: Michels' Überlegungen sind nicht der „polaren Geschlechterphilosophie" zuzuordnen, die sich zur Jahrhundertwende sinnparallel zur Tönniesschen Dichotomie von „Gemeinschaft und Gesellschaft" ausbildete und einen antimodernistischen Impuls hatte, sondern der eher „geschlechtsneutralen Doktrin der universalen Menschenrechte" zuzurechnen.45 Nicht zuletzt betätigt sich Michels als eine Art Reformator der bürgerlichen Ehe, d. h. auch: er verwirft die zahlreichen, teils libertär-sozialistischen, teils auch mystisch überhöhten, Konzepte einer „freien Liebe" oder eines „sexuellen Kommunismus" (Otto Gross). Bevor ich den Nachweis für diese Thesen erbringe und Michels' eigentümliches Profil im Geschlechterdiskurs um 1900 aufzeige, soll aber zunächst deutlich werden, worin er ein typischer Repräsentant seiner Generation und des allgemeinen Zeitempfindens ist.

1. Der außeralltägliche Sensationswert der Erotik Nicht „1968", wie es zuweilen das kulturelle Kurzzeitgedächtnis vermutet, sondern „1900" ist der Beginn der „sexuellen Revolution des 20. Jahrhunderts" (Nipperdey).46 Um die Jahrhundertwende verbindet sich die Revolte der jüngsten bürgerlichen Generation mit einem allgemein aufbrausenden Klima, das die „sexuelle Frage" auf die Tagesordnung setzt.47 Die Zahl der Publikationen zum Thema explodiert: es werden regelrechte „Fach"-Zeitschriften mit programmatischen Titeln wie „Geschlech: und Gesellschaft" gegründet; Mediziner veröffentlichen ihre Erkenntnisse über das „Geschlechtsleben des Weibes" bzw. spekulieren über seine „Gesetze" (Anton Nyström), Historiker widmen sich dem „Geschlechtsleben in der deutschen Vergangenheit" oder verfassen eine sechsbändige (!) „Geschichte der Prostitution" (Pierre Dufour). In ]30pu45 Diese Differenzierung entnehme ich Klaus Lichtblaus äußerst materialreichen und für die Abfassung dieses Kapitels sehr hilfreichen Rekonstruktion der Debatte. Vgl. Lichtblau, „Die Rehabilitierung der Liebe", in: ders., Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende. Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland, Frankfurt a.M. 1996, S. 280-391, S. 282, 283. 46 Vgl. Nipperdey, Sexualität, in: ders., Deutsche Geschichte 1866-1918, Band I: Arbeitswelt und Bürgergeist, 3. Aufl., München 1993, S. 95-112. S. 104. Tatsächlich unterscheiden sich, wie im folgenden auch deutlich werden soll, die um 1900 verhandelten Fragen prinzipiell kaum von der Geschlechterdebatte unserer Tage. Nicht nur die „Individualisierung", sondern auch ihr Reflexivwerden sind die prägenden Merkmale des sexualreformerischen Diskurses der klassischen Moderne. Der Begriff der „sexuellen Revolution" ist gewiß vieldeutig. Wenn man darunter ein Le gitimwerden des Illegitimen versteht und bspw. das Kriterium des vorehelichen Geschlechtsverkehrs heranzieht, wäre es auch möglich im Falle des 20. Jahrhunderts von einer „zweiten sexuellen Revolution" und die „erste sexuellen Revolution" bereits in die Zeit der Frühindustrialisierung von 1750 bis 1850 zu verlegen. Vgl. dazu Robert Hettlage, Familienreport. Eine Lebensform i n Umbruch, 2. Aufl., München 1998, S. 41. 47 Vgl. Nipperdey, Sexualität, a.a.O., S. 95-112.

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II. Robert Michels' politische Struktur- und Sittenkritik des Kaiserreiches

lärwissenschaftlichen Broschüren diskutieren Ärzte die Frage: „Darf der Arzt zum ausserehelichen Geschlechtsverkehr raten?" und fordern streitbare Feministinnen ihr „Recht zur Beseitigung des keimenden Lebens" (Gisela von Streitberg48). Man klärt über „anticonceptionelle Mittel" auf und warnt vor den „gesundheitlichen Gefahren der geschlechtlichen Enthaltsamkeit". 49 Im öffentlichen Bewußtsein verliert die „Nacktheit" ihre Scham und wird ob ihrer „Natürlichkeit" goutiert sowie als Aktfotografie gewinnbringend verkauft. Die Erotik wird um 1900 geradezu neu „entdeckt" und emanzipiert sich dabei vom tradierten bürgerlich-christlichen Sittenkodex: insbesondere von der sogenannten „viktorianischen" Prüderie, welche Sexualität weitgehend tabuisiert und die Sphäre der „legitimen" Sexualität auf die Ehe eingegrenzt hatte. Über die „Geschlechtsliebe" werden abendfüllende Gespräche geführt, nicht zuletzt auch unter den Gründervätern der Soziologie. So heißt es in einem Brief Max Webers an seine Frau anläßlich eines Besuches bei Robert Michels: „Natürlich [!] mit Michels lange Gespräche über Erotik". 50 Michels scheint in diesem Punkt ein äußerst beliebter Gesprächspartner zu sein, gibt doch auch Werner Sombart im Hinblick auf ein nahendes Treffen seine Vorfreude darüber zum Ausdruck, mit ihm „das große Thema der Erotica" diskutieren zu können. 51 Die öffentlichen wie die privaten Debatten um 1900 unterstreichen den im Sinne Max Webers außeralltäglichen Sensationswert der Erotik. „Die Erotik gewinnt eine viel höhere, eine lebensentscheidende Bedeutung", bemerkt 1904 eine ob dieses Bedeutungsgewinns äußerst skeptische Gertrud Bäumer 52 und fahrt fort: „Ellen Key 53 geht soweit zu sagen, dass den Menschen der Gegenwart die Liebe das sei, was früher die Religion war. Sie wird der Mittelpunkt eines unruhigen Interesses, das all ihre mystischen Dunkelheiten ins Helle zerrt, ihren Erregungen bis in die letzten Schwingungen nachspürt und ihre Macht durch solche immer gesteigerte Autosuggestion vervielfacht". Eine neue Stimmung habe sich verbreitet, „in der man allen ,Weltschmerz', alles Unbefriedigtsein durch das Leben, als unerfüllte erotische Sehnsucht deuten möchte". 54 48 Bei dem Namen handelt es sich um das Pseudonym der Gräfin Gertrud Bülow von Dennewitz. 49 Die Zitate sind dem umfangreichen Literaturanzeigenteil der Erstausgabe von „Geschlecht und Gesellschaft", Heft 1, l.Jg., 15. Okt. 1905, hg.v. Karl Vanselow, Berlin/Leipzig/Wien 1905, entnommen. Das Heft findet sich mit Anstreichungen von Robert Michels im Privatarchiv Genett. 50 Brief vom 22.4.1911, zit. n. Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, m. einem Essay von Günther Roth, München/Zürich 1989, S. 489. Zur Rolle der Erotik in Webers Leben und Werk vgl. Joachim Radkau, Max Weber, die Leidenschaft des Denkens, München 2005. 51 Sombart an Michels, 14. Februar 1907, in: ARMFE, busta Sombart. Vgl. Friedrich Lenger, Sombart, S. 174. 52 Gertrud Bäumer war u. a. von 1910 bis 1919 Vorsitzende des „Bundes deutscher Frauenvereine". 53 Ellen Key, schwedische Bestsellerautorin, wird einerseits wegen ihrer Kritik der Gleichberechtigungsidee der Kategorie des „weiblichen Antifeminismus" zugeordnet. Andererseits engagierte sie sich im feministischen „Bund fur Mutterschutz" auch für ein freieres „neues Ehegesetz". Vgl. Ute Gerhard, Unerhört. Die Geschichte der deutschen Frauenbewegung, Hamburg 1996 (1990), S. 217. 54 Gertrud Bäumer, Die Frau in der Kulturbewegung der Gegenwart, Wiesbaden 1904, S. 5f.

11.2. Erotik, Feminismus und neue Sexualmoral

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Max Weber hat solche Stimmungen nicht als unerhört neu gedeutet - zu Recht, wenn man allein an die Thematisierung der Liebe in der Romantik hundert Jahre vorher denkt - , sondern als Bewußtseinslagen interpretiert, die in der langen Dauer des okzidentalen Rationalisierungsprozesses verwurzelt sind, der als Prozeß der Entzauberung der Welt die Individuen zwar gestärkt aus dem Kampf mit den magischen, dämonische:! und göttlichen Mächten habe herausgehen lassen, damit aber das Leben den Imperativen der Zweckrationalität unterworfen habe. Die Sublimierung der Sexualität zur Erotik und damit zu einer „bewußt gepflegten und dabei außeralltäglichen Sphäre" ist Weber zufolge ein Produkt dieser Rationalisierung und „Intellektualisierung" der Welt. „Das Heraustreten der Gesamtdaseinsinhalte des Menschen aus dem organischen Kreislauf des bäuerlichen Daseins, die zunehmende Anreicherung des Lebens mit, sei es intellektuellen, sei es sonstigen als überindividuell gewerteten Kulturinhalten wirkte durch die Entfernung der Lebensinhalte von dem nur naturhaft Gegebenen zugleich in der Richtung einer Steigerung der Sonderstellung der Erotik."55 Es sind so gesehen die Entfremdungswirkungen des Rationalisierungsprozesses, denen die Erotik ihre ungeheure Bedeutung verdankt und infolgedessen sie „als eine Pforte zum irrationalsten und dabei realsten Lebenskern gegenüber den Mechanismen der Rationalisierung"56 erscheint. Im erotischen Moment des „direkten Durchbruchs der Seelen von Mensch zu Mensch", der „vollen Einswerdung" wisse sich „der Liebende in den jedem rationalen Bemühen ewig unzugänglichen Kern des wahrhaft Lebendigen eingepflanzt, den kalten Skeletthiinden rationaler Ordnungen ebenso völlig entronnen wie der Stumpfheit des Alltags". „Die letzte Steigerung des Akzents der erotischen Sphäre", bzw., wie es bei Weber kura zuvor und genauer heißt: die letzte Steigerung des „Wertakzents der rein erotischen Sensation",57 „vollzog sich auf dem Boden intellektualistischer Kulturen schließlich da, wo sie mit dem unvermeidlich asketischen Einschlag des Berufsmenschentums zusammenstieß. Es konnte unter diesem Spannungsverhältnis zum rationalen Alltag das außeralltäglich gewordene, speziell also das ehefreie, Geschlechtsleben als das einzige Band erscheinen, welches den nunmehr völlig aus dem Kreislauf des alten organischen Bauerndaseins herausgetretenen Menschen noch mit der Natiirquelle alles Lebens verband".58 Weber interpretiert die Erotik also nicht nur als eine irrationale wie außeralltägliche Gegenwelt zum rationalisierten Alltag, seine entwicklungsgeschichtliche Hypothese lautet, daß es erst im Zuge des okzidentalen Rationalisierungsprozesses zu einer „Herausprä55 Max Weber, Richtungen und Stufen religiöser Weltablehnung, in: ders., Soziologie - Universalgeschichtliche Analysen - Politik, hg. v. Johannes Winckelmann, 6. Auflage, Stuttgart 1992, S. 441-483, hier und im folgenden S. 464-470. Vgl. auch Lichtblau, „Rehabilitation der Liebe", S. 356f., S. 341, S. 267. 56 Weber, Richtungen und Stufen ..., S. 466. 57 Weber, Richtungen und Stufen ..., S. 467. 58 Weber, Richtungen und Stufen ..., S. 468.

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parierung der Sexualsphäre"59 zur „erotischen Sensation" gekommen sei und die Erotik so erst zu einer eigengesetzlichen Sphäre geworden sei, die um ihrer selbst willen gepflegt wird. Einerseits entzieht sich diese Wertsphäre den Imperativen der Moral und Religion, andererseits aber tritt sie auch in Konkurrenz zur Religion, insofern sie als „innerirdische Erlösungssensation" postreligiöse Surrogatfunktionen übernimmt.60 Die neo- bzw. quasi-religiöse „Macht" der Erotik, von der Gertrud Bäumer spricht, hat Weber zufolge ihren Grund in dieser Differenzierungslogik: zwischen den ausdifferenzierten Sphären der Erotik und der Religion bestünden „psychologische Verwandtschaftsbeziehungen".61 Nicht auf den Höhen des Weberschen Reflexionsniveaus, sondern ganz unmittelbar kommt dieser außeralltägliche Sensationswert der Erotik bei Robert Michels zum Ausdruck. Nicht nur, daß er den Liebesakt mit der „Ausübung eines Gottesdienstes" vergleicht, bei dem sich die Liebenden in ein „Allerheiligstes", in ein „Sanktuarium" zurückziehen.62 Auf seinen von ihm so genannten „erotischen Streifzügen"63 nimmt der Autor auch den umgekehrten Fall wahr: daß „Gott Amor" den Verkehrsformen der Öffentlichkeit seinen Stempel aufdrückt. Die Hauptstraßen von Utrecht oder Den Haag muß der junge Michels als einen einzigen Liebestempel erlebt haben, zumindest gewinnt man bei der Lektüre seiner Beobachtungen geradezu den Eindruck, einer orgiastisch-heidnischen Party beizuwohnen: „lautes Toben Tausender von jungen Liebespärchen aller Liebesarten, von der öffentlichen Kaufliebe bis zum ehrsamen Vorstadium der Ehe, alles wild durcheinander sich auf den Straßen tummelnd, bald sich in den dunklen, zum Sehen und Gesehenwerden immerhin noch genügend hellen Cafés herumdrückend und küssend, bald sich bis in die späte Nacht von Trottoir zu Trottoir jagend, einander kitzelnd, ohne Scheu, derb, kreischend, [...], wild, ausgelassen, rücksichtslos-sinnlich, ein stetes Bacchanal, alles überschreiend, wie eine Herde brünstiger Rinder, alles erfüllend mit einem vieltausendstimmigen Durcheinander und doch Einerlei von Sinnenliebe, Sinnenliebe, Sinnenliebe."64 Die „innerirdische Erlösungssensation" (Weber) der Erotik teilt sich auch dort mit, wo Michels für den „Neomalthusianismus", sprich: künstliche Empfängnisverhütung, plädiert und die Befreiung des Geschlechtsaktes von traditionellen sittlichen Vorgaben wie auch vom Zweck der Kinderzeugung mit nicht weniger als dem kulturellen Eigenwert und Selbstzweckcharakter der Geschlechtsliebe begründet:

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Ebd. Ebd., S. 469. Ebd. Grenzen, S. 29. So lautet auch der Titel seines Reiseberichts über Liebesformen in Europa: Michels, Erotische Streifzüge. Deutsche und italienische Liebesformen. Aus dem Pariser Liebesleben, in: „Mutterschutz", 11. Jahrgang, Heft 9, S. 362-374. 64 Grenzen, S. 40.

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„Der Geschlechtsakt [...] bedeutet [...] in der durch ihn herbeigeführten Ekstasis aller Kräfte einen der wenigen Freudenmomente unseres armen Lebens. Erotische Kultur ist deshalb in energetischem Sinne hohe Kultur". „Die körperliche Geschlechtsliebe, ursprünglich Mittel zum Zweck und auch heute noch von orthodoxen Christen aller Konfessionen, Vegetariern und weißhaarigen Moralisten nur als solches gewürdigt, ist mit der fortschreitenden Emanzipation des Menschen aus einem der wesentlichsten Phänomene tierischer Psyche zu einem Selbstzweck geworden. Wir müssen den Mut haben, zu bekennen, daß wir die Liebe und ihre Extase um ihrer selbst willen lieben. Die Geschlechtsliebe muß von dem Gedanken an das Kind insofern emanzipiert werden, als ihr auch datin ein Recht auf eigenes Bestehen zuerkannt werden muß, wenn die Zeugung eires Kindes vermieden werden soll".65 Michels hat den Eigenwert der Erotik nicht nur wegen ihrer „ekstatischen" Qualitäten bejaht, er hat ihn offensichtlich auch als Konsequenz der historischen Entwicklung interpretiert, wenn er ihn, wie es in dem Zitat in einer auffälligen evolutionstheoretischen Argumentationsweise heißt, aus „der fortschreitenden Emanzipation des Menschen" von der „tierischen Psyche" resultieren läßt. Michels' Gedanken zur sexuellen Befreiung und Autonomie der Erotik liegen einem linearen Geschichtsbild auf, das den zivilisatorischen Fortschritt als Akkumulation von Freiheitsgewinnen interpretiert. Nicht der neutrale Begriff der Differenzierung von Wertsphären, sondern der optimistische der „Emanzipation" ist bei Michels der Code der historischen Entwicklung. In einer Zeit, in welcher der Fortschrittsglaube auch bei vielen seiner Anhänger längst in eine Krise geraten ist, hat Michels sein Plädoyer für eine freiheitlichere Sexualethik noch in eine Sprache verpackt, die in Morgenröten- und Sonnenaufgangsmetaphem schwelgt und so schon bildhaft den Zukunftsoptimismus der französischen Revolution und der Aufklärung beerbt: „Die neue Geschlechtsethik, deren Sonnenball wir am Horizont bereits auftauchen sehen, deren Strahlen aber noch blaß und matt sind [...], hat ihre größte Gegnerin in der Heuchelei".66

2. Doppelmoral In der Identifizierung des Gegners wird die Generationsverbundenheit der Michelsschen Sexualpädagogik deutlich: Die „Heuchelei" bildet mit Ausdrücken wie „Scheinmoral" oder „Doppelmoral" und „Scheinheiligkeit" eine begriffliche Konfiguration, entlang derer um 1900 die „Neue Generation"67 die Konfrontationslinie gegenüber dem Sittenkodex der viktorianischen Moral zieht. Eine neue, bessere, natürlichere Sexualnoral 65 Grenzen, S. 176,177. Meine Hervorhebung. 66 Grenzen der Geschlechtsmoral, S. 55. 67 Die programmatische Selbstbeschreibung der „neuen Generation" ist auch der Obertitel dîr von Helene Stöcker herausgegebenen „Zeitschrift für Mutterschutz und Sexualreform" (ab 1908; 1905 noch gegründet unter dem anfänglichen Titel „Mutterschutz").

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scheint nicht zuletzt deshalb notwendig zu sein, als der überkommene moralische Rigorismus immer weniger mit dem gelebten Leben zu tun hat und auf die drängenden Fragen keine Antwort zu geben weiß: auf sich in den städtischen Räumen ausbreitende Prostitution, die offenkundig die Versagungen der offiziellen Moral kompensiert, auf die Zunahme von Geschlechtskrankheiten insbesondere unter der Studentenschaft, auf den demographischen Trend langer Ausbildungszeiten und später Heiraten, das damit verbundene Problem der ledigen Frauen, die einerseits den vorehelichen Keuschheitsgeboten, andererseits arbeitsmarktrechtlichen Benachteiligungen und vor allem bildungspolitischen Ausschlußrestriktionen unterliegen. Michels' Beiträge zur sexuellen Revolution beziehen aus diesen Mißständen ihre Impulse und verfolgen eine doppelte Argumentationsstrategie. Erstens plädiert er angesichts der psychopathologischen Folgen der Tabuisierung des Geschlechtstriebes für eine freiheitlichere68 Sexualität. Zweitens trennt er zwischen Moralität und konkreter Sittlichkeit, um zu zeigen, daß die Institution der bürgerlichen Ehe in ihrer tradierten Form vom Standpunkt des „kategorischen Imperativs" aus gesehen höchst unmoralisch sein kann, während die gegen die guten Sitten verstoßenden Formen „extralegaler" Liebe dagegen durchaus den Kriterien der Moralität - wechselseitige Gleichbehandlung und Freiwilligkeit - genügen können. Trotz dieser Legitimierung des Illegitimen, die eine unübersehbare Affinität zu den radikalen Positionen im „Bund für Mutterschutz" der Stöcker-Ära aufweist, ist der Zielpunkt seiner sexualreformerischen Schriften allerdings nicht die Überwindung, sondern die Reform der bürgerlichen Ehe, die Michels auf eine individualistische Grundlage zu stellen versucht. Insofern Michels die immanenten Paradoxie- und Widerspruchspotentiale einer Renaissance der Ehe durch Individualisierung eher unter- bzw. gar nicht reflektiert, könnte man ihn in diesem Punkt auch einen Autor der präreflexiven Moderne nennen. Michels' Modernität besteht zweifellos darin, daß er, wie viele andere Sexualreformer seiner Zeit, die Sexualität als zentrales Faktum der menschlichen Bedürfnisstruktur anerkennt und die kulturellen Normierungen der Sexualität als historisch variabel begreift. Die Geschlechtsliebe folge dem „immanenten Drang nach Befriedigung des Triebes" und sei dabei so existentiell wie die Befriedigung des „Hungers".69 Michels nimmt auch in diesem Zusammenhang eine radikale Position ein, insofern er nicht nur ausdrücklich von der „geschlechtlichen Sensitivität" der Frau spricht, sondern auch die sexualanthropologische Grundorientierung von Mann und Frau gleichermaßen als polygamisch bzw. polyandrisch begreift.70 Das ist alles andere als selbstverständlich: in der altviktorianischen Moral fungiert die Frau als sexuell eher desinteressierte bzw. sexuell nicht fühlfähige Hüterin der Tugend, während dem Mann eine spezifische

68 Der Komparativ zeigt dabei an, was noch zu erläutern sein wird: Michels' Zweifrontenpublizistik sowohl gegen die altviktorianische Moral als auch gegen das Konzept der „freien Liebe". 69 Grenzen, S. 11. 70 Grenzen, S. 153; Vgl. auch Michels, Neomalthusianismus, in: Frauenzukunft, 1. Jg., Heft 1, 1910, S. 42-55; Michels, Vom Wesen der Koketterie, in: Die neue Generation, 8. Jg., Heft 11, November 1912, S. 603-606.

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„Übersexualität" zugeschrieben wird. 71 Michels' Äußerungen über die weibliche Polyandrie sind so gesehen auch eine Parteinahme für den Tabubruch, den die Medizin und Psychologie in dieser Frage einleitet. So legt der Berliner Arzt Iwan Bloch 1907 die Ergebnisse einer Befragung von Frauen vor, die „ohne Ausnahme" die These von der sexuellen ,Appetitlosigkeit" dementieren. 72 1908 erscheint Sigmund Freuds epochemachende Abhandlung über „Die ,kulturelle' Sexualmoral und die moderne Nervosität",73 der zufolge die Frigidität von Frauen alles andere als natürlich, sondern auf eine repressive Sexualerziehung zurückzuführen sei, die psychologische Krankheitserscheinungen wie Neurosen und Hysterie zur Folge habe. Michels weist in diesem Kontext auf die pathologischen Konsequenzen der „kulturellen Sexualmoral" für den Mann hin: die offizielle Scheinmoral unterdrückt den Geschlechtstrieb nicht, sondern führt zu seiner Kanalisierung im Modus der Doppelmoral. Die Doppelmoral, so Michels' Befund, spaltet aber das (männliche) Individuum in ein Tag- und ein Nachtbewußtsein. „die Mär von der Sünde hat, zusammen mit der Heuchelei des Gesellschai'tslebens, im Menschen jenen schweren Dualismus erzeugt, der sich im Nachtbewußtsein und im Tagbewußtsein äußert. Jenes, das zu allem fähig ist; dieses, das uns in unsinnliche, engelgleiche Wesen umzuformen scheint. Ein Dualismus, der die Männer das Weib in der Nacht als Hure, am Tage als Heilige betrachten läßt."74 Die für das Verhältnis zwischen Mann und Frau fatale psychologische Wirkung dieser Doppelmoral ist die teils latente, teils offene Verachtung der Frau. Denn die Bswunderung für das „reine Weib" und die gesellschaftlich sanktionierte Prüderie nälire im Mann ein Frauenbild, das Michels als „Fiktion des Wüstlings" bezeichnet: „Der Wüstling leidet unter einem grausamen Zwiespalt der Seele: Dem heißen Verlangen nach der Befriedigung seiner Sinne und der glühenden Sehnsucht nach dem Madonnentypus. Er lebt in einem unwürdigen Taumel zwischen diesen beiden Idealen, die sich in seinem kranken Hirn zu grauenvollem Chaos vermischen. Das Auffinden der ,Reinen', die ihn mit Wonnen erfüllen müßte, macht ihn bald erschauern. Er ist der Geisteskrankheit nahe, wenn er auch nur daran denkt, daß auch die ,Reine' sexueller Regungen fähig sein könnte. Er brennt nach ihrem Besitz, aber der erreichte Besitz macht ihn nicht froh. Er nimmt es ihr übel, daß sie sich ihm gegeben hat. Sie hat sich dadurch entheiligt und sinkt nun in seinen Augen zur geborenen Dirne herab, wie alle anderen. So verzweifelt der Wüstling schließlich an sich und der ganzen Welt. Er spricht von den Frauen nicht mehr individuell, sondern nur noch kollektiv, als ,das Weib' 71 Nipperdey, Sexualität, a.a.O., S. 97. 72 Vgl. Ute Frevert, Frauen-Geschichte. Zwischen bürgerlicher Verbesserung und neuer Weiblichkeit, Frankfurt a.M. 1986, S. 129, 130. 73 In: Sigmund Freud, Kulturtheoretische Schriften, Frankfurt a.M. 1986, S. 9-32. 74 Grenzen, S. 146.

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II. Robert Michels' politische Struktur- und Sittenkritik des Kaiserreiches oder ,die Weiber', einem Genus, dem er alle Laster zutraut und nur eine gute Eigenschaft, nämlich den Mann geschlechtlich zu erregen und zu befriedigen [...] Er lacht über die Möglichkeit, daß es Frauen geben könnte, die [...] nicht bereit wären, für Geld oder Geldeswert ihren Leib preiszugeben. Der Fall des Weibes ist für ihn keine qualitative, sondern lediglich noch eine quantitative Frage. ,Die Weiber' teilen sich ihm nicht nach dem verschieden hohen Grade ihrer Sittlichkeit, sondern nach dem verschieden hohen Grade ihres Kaufpreises ein."75

Das ist nicht nur gegen die Männerphantasien der alten Sexualmoral gerichtet, sondern ist auch als Frontalangriff auf den neuen antifeministischen Geschlechterdiskurs zu verstehen, der sich um die Jahrhundertwende insbesondere im „männerbündischen" Spektrum der Jugendbewegung breit macht und ebenfalls das dichotomische Frauenbild von der „Madonna" und der „Hure" pflegt, so etwa der Cheftheoretiker der Bündischen Jugend, Hans Blüher, in seinem damals aufsehenerregenden Buch „Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen".76 Michels dagegen hat diese Typologie als Ausgeburt eines widernatürlichen Verhältnisses zur Erotik gedeutet, das - so seine provozierende These - in den sogenannten „guten Sitten" selbst verwurzelt ist.

3. „Liebeswissenschaft": Michels' kritische Kultursoziologie der Sexualität Michels' Denunziation problematischer kultureller Ausbildungen des Sexualverhaltens, wie die eines schizophrenen Tag-Nacht-Verhältnisses zur Geschlechtsliebe, folgt der Intention, der bürgerlichen Sexualmoral ihren Geltungsanspruch zu bestreiten: „Es gilt, es dem selbstgerechten Moralisten unmöglich zu machen, auf eine moralische Norm zu pochen, die im gelebten Leben nicht existiert".77 Eben dank dieses Erkenntnisinteresses, das „gelebte Leben" in den Blick zu bekommen, sind Michels' „Grenzen der Geschlechtsmoral" allerdings mehr als eine sexualreformerische Anklageschrift. Das jugendliche Unbehagen an der herrschenden Sexualkultur wird bei Michels zum Geburtshelfer einer neuen Disziplin: „Liebeswissenschaft", genauer einer Soziologie der Sexualität. Die Kritik an den offiziellen Normen verbindet sich mit der Erkenntnis der faktischen Vielfalt und Relativität sexueller Lebensstile, je nachdem, ob bürgerliche, proletarische oder studentische Milieus Gegenstand der Untersuchung sind. In der empirischen Wirklichkeit, so die Generalthese des Buches, sind die Grenzen zwischen Moral und Unmoral so fließend, daß die tradierte Kasuistik des Legitimen und Illegitimen abgewirtschaftet hat. Daher lautet der Titel auch „Grenzen der Geschlechtsmoral" bzw. ist in dem Buch so oft von den „Zwischenstufen der Moral"78 die Rede.

75 Grenzen, S. 147, 148. 76 Vgl. Bernd Widdig, Männerbünde und Massen. Zur Krise männlicher Identität in der Literatur der Moderne, Opladen 1992, S. 41 f. 77 Grenzen, S. 64. 78 Grenzen, S. 57.

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Vor allem der Moralstatistik wirft Michels in diesem Zusammenhang nicht weniger als gesellschaftstheoretisches Versagen vor: eine adäquate Diagnose der gesellschaftlichen Sexualmoral sei von dieser Seite unmöglich, weil statistische Verfahren Moralstandards reproduzieren, die für die feinen Differenzierungen viel zu grob sind: „Die Statistik ahmt das Gesetz nach", das Gesetz der Sittenpolizei aber „kennt nur starre Normen und schließt vor allen Zwischenstufen die Augen".79 Die Statistik verfahre nach einem dichotomischen Zählverfahren, das die Attribute des Sittlichen und des Unsittlichen je nach behördlichen Stempel vergibt: entweder „Kontrollmädchen" oder aber „anständige Frau", entweder die „eheliche Geburt" oder aber die „uneheliche" die „unehelichen Geburten in der Ehe" gibt es nicht, weil sie nicht als solche amtlich registriert werden. Die Kategorien der Moralstatistik kommen daher allenfalls denen zu Gute, „die es nötig haben, sich hinter den Paragraphen des Gesetzes und der Torheit der öffentlichen Meinung zu verstecken".80 Die Infragestellung der bürgerlichen Sexualmoral und ihres Anspruchs, normatives Zentrum der Gesellschaft zu sein, mündet bei Michels in eine phänomenologische Bestandsaufnahme der vom jeweiligen sozialen Milieu abhängigen pluralen Wertem jster: so wenn er die tendenziell unmoralische' bürgerliche „Brautstandsmoral" mit dem Nachweis einer tendenziell ,moralischen' proletarischen Sexualmoral konfrontiert, die an der unehelichen Geschlechtsliebe nichts auszusetzen habe, insofern die Liebenden sich treu blieben und irgendwann verheirateten.81 Die anders geartete Sittlichkeit der unteren Schichten zeige sich auch darin, daß, während in der vornehmen Gesellschaft die Frau sich bei Festlichkeiten mit Dekolleté präsentiert, es der Proletarierin „nicht moralisch erscheint, sich öffentlich zu entblößen".82 Die „Grenzen der Geschlechtsmoral" folgen somit Michels' Vorschlag von 1904, die „Parallelmoralen" anzuerkennen, die in jeder Gesellschaft koexistieren und sich dabei in der Regel nicht treffen.83 Phänomenologische Einfuhlsamkeit in die moralischen „Zwischenstufen" und Grenzbereiche beweist Michels selbst noch bei seinen Streifzügen durch Pariser Bordelle. Ganz im Einklang mit der sozialdemokratischen Kultur ist zwar auch für Michels die Prostitution das schlimmste Übel des Kapitalismus. Andererseits findet er gerade hier so manche „harte Nuß für Moralisten": nicht auf den Pariser „Grands Boulevards", aber im „Quartier Latin", jenem Milieu aus Studenten-, Künstler- und Dirnentum glaubt er eine Würde der Hure zu erkennen, die sich nur dann mit Männern einlasse, wenn schon vorher eine „kameradschaftliche Berührung" existiert: „Sie läßt sich nicht kaufen". 84

79 Grenzen, S. 56. 80 Grenzen, S. 56. Vgl. zu dieser Thematik - Sexualmoral und Statistik - auch die Monographie von Michels, Sittlichkeit in Ziffern? Kritik der Moralstatistik, München/Leipzig 1928. 81 Brautstandsmoral, S. 101. 82 Michels, Beitrag zum Problem der Moral, a.a.O., S. 471. 83 Michels, Beitrag zum Problem der Moral, a.a.O. 84 Michels, Erotische Streifzüge, in: Mutterschutz. Zeitschrift zur Reform der sexuellen Ethik, Jg. 2, Nr. 9, 1906, S. 362-374, hier zit. n. Grenzen der Geschlechtsmoral, S. 33-55. Eine von Michels' Lieblingsgeschichten in diesem Zusammenhang ist die der Hure Marcelle, die aus ökonoinischexistentiellen Gründen in die Prostitution getrieben wurde und mit einem Artillerieoffizier liiert

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Neben diesen phänomenologischen Ausflügen in die Moralstandards der sozialen Milieus beanspruchen die „Grenzen der Geschlechtsmoral" von 1911 aber vor allem, einen Beitrag zur Sexualpädagogik zu leisten, der biologische Evidenz und psychologische Einsicht mit universalen Normen verbindet. Ausgehend vom Axiom der Natürlichkeit des Sexualtriebes und dem „Recht auf Sexualität"85 fordert Michels, die Sexualität nicht an historisch-kulturellen wie kontingenten Sittlichkeitsmaßstäben zu messen, sondern die Ausübung dieses Rechtes keiner anderen Schranke zu unterwerfen als der übergeordneten Norm der Autonomie des Menschen: „Der zivilisierte Mensch hat ein Recht auf sich selbst".86 Die Moralität der Sexualität besteht demzufolge in der Zwanglosigkeit des Geschlechtsverkehrs und der wechselseitigen Respektierung der sexuellen Autonomie des anderen. Dieses simple Programm ist der normative Hintergrund von Michels' Sittenkritik an der wilhelminischen Gesellschaft. Die herrschende Geschlechtsmoral verstößt Michels zufolge nämlich gegen das Autonomiegebot und mehr noch als die Autonomie des Mannes verletzt sie die Autonomie der Frau.

Drei Phänotypen der Frauenfrage: Dirne, alte Jungpfer, Bürgerbraut Über die Schichtengrenzen mit ihren konträren Lebensstandards hinweg und auch quer zur Spaltung der Frauenbewegung in eine bürgerliche und eine proletarische87 macht Michels dabei Allianzen der Betroffenheit aus, etwa wenn er ausgerechnet in der Dirne aus dem Proletariat und der „alten Jungfer in den höheren Ständen" so etwas wie zwei ungleiche Schwestern erkennt. Beiden wird von einer patriarchalischen Kultur die sexuelle Autonomie verwehrt. „Es ist das eine der grausamsten sozialen Ironien unserer heutigen gesellschaftlichen Ordnung, daß, während das unverheiratete Mädchen aus der Bourgeoisie häufig gezwungen ist, seine Liebe totzuschweigen und unter unbefriedigtem Geschlechtstrieb zu leiden, das unverheiratete Mädchen aus dem Proletariat sich gerade umgekehrt durch den immerwährenden Verkauf der Liebeslust zu einer beständigen sexuellen Überreizung genötigt sieht. [...] unsere heutige Gesellschaftsordnung weigert den Mädchen aus der Bourgeoisie das Recht auf sexuelle Liebe, während sie gleichzeitig den Mädchen aus dem Proletariat das Recht auf Verzicht auf die sexuelle Liebe weigert".88

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ist, mit dem sie eine platonische Liebe verbindet: ,„Er hat das, was keiner von mir haben kann', bekannte sie öfter, ,meine Keuschheit'" (Grenzen, S. 50). Michels, Sui limiti etici all' amore sessuale, a.a.O., S.4. Grenzen, S. 179. Vgl. Iris Schröder, Arbeiten fiir eine bessere Welt. Frauenbewegung und Sozialreform 1890-1914, Frankfurt a.M./New York 2001; M. Florence Hervé (Hg.), Geschichte der deutschen Frauenbewegung, Köln 2001; Andrea Süchting-Hänger, Das „Gewissen der Nation". Nationales Engagement und politisches Handeln konservativer Frauenorganisationen 1900 bis 1937, Düsseldorf2002. Grenzen, S. 68.

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Während die proletarische Armutsprostitution direkt einer ökonomischen Notlage entspringt, wurzelt das Schicksal der alten Jungfer zwar indirekt auch in sozialen Voraussetzungen, wie der langen Ausbildungszeit der Bürgersöhne, 89 ist aber in erster Linie Folge der kulturellen Wertmaßstäbe. Daß der über dreißigjährige Bürgersohn, der es zu einem Beruf mit standesgemäßen Einkommen gebracht hat, nicht eine in etwa Gleichaltrige ehelicht, liegt „bei ihm und bei den Verwandten an den dummen Vorun eilen gegen die alte Jungfer, d. h. an der falschen, ungleichen Bewertung des Alters bei den Geschlechtern". 90 Das von der bürgerlichen Sexualmoral geschlechtsspezifisch zugestandene bzw vorenthaltene Recht auf Liebe ist in Michels' Darstellung das Medium, durch das sich die öffentliche Ungleichbehandlung von Mann und Frau im Privaten reproduziert. So auch in der Frage des vorehelichen Geschlechtsverkehrs: „Während vor der Ehe dem Manne von der Moral des gesellschaftlichen Cant jede sexuelle Sünde, wenn sie nur auf einigermaßen ,elegante' Art und Weise geschieht, verziehen wird, ja, ein galantes Leben ihm sogar Freund wie Feind gegenüber ein gewisses Air der Superiorität verleiht", 91 drohe dem Mädchen bei jedem sexuellen Abenteuer der Verlust ihrer „Ehre": „Bei den kapitalistischen Schichten unserer Bevölkerung gilt die Jungfernschaft als ein Kapitalswert. Sie zu verlieren kommt einem finanziellen Verluste gleich, einer Entwertung der Ware Weib auf dem Heiratsmarkt. Den Niederschlag dieser ökonomischen Verhältnisse auf die Sittenbildung heißt man jungfräuliche Ehre." 91

Brautstandsmoral Ehrenvoll ist der Verlust der Jungfräulichkeit nur im Hafen der legitimen Ehe, genaugenommen in der Hochzeitsnacht, in der die vom bürgerlichen Sittenkodex auferlegte sexuelle Enthaltsamkeit auf ,anständige' Weise ihr Ende finden soll. So schreibt es die „Brautstandsmoral" vor. Dieses „in der Welt der adeligen, bürgerlichen und kleinbürgerlichen Bourgeoisie" verbreitete Gebot der vorehelichen sexuellen Enthaltsamkeit äußert sich praktisch in der ,Anwendungsmethode" einer sexuellen Kontrolle, die die Verlobten monatelang daran hindert, miteinander allein zu sein:

89 Grenzen, S. 68; außerdem nennt Michels die die voreheliche Keuschheit begünstigenden Milieubedingungen: „Die Erhaltung der Jungfernschaft ist ein Resultat steter Überwachung und befriedigender Wohnverhältnisse" (S. 65). 90 Grenzen, S. 70. 91 Grenzen, S. 69. 92 Grenzen, S. 28.

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II. Robert Michels' politische Struktur- und Sittenkritik des Kaiserreiches „Meist werden die jungen Leute in dieser Zeit [...] von einem ganzen Heer von Eltern, Verwandten und Freunden, bisweilen selbst von Bediensteten mit wahren Argusaugen bewacht und .behütet'. Es ist ihnen oft strenger oder minder streng untersagt [...] allzuviel von der Liebe zu sprechen, sich allzu stürmisch zu küssen und zu umarmen, leise miteinander zu tuscheln usw. Sie im Hause allein zu lassen, und sei es auch nur für eine Viertelstunde, erscheint vielen Wächtern wie ein wahres Verbrechen. In vielen Fällen dürfen sie selbst nicht allein ausgehen, ohne einen besonderen zu ihrer Bewachung mittrottenden ,châperon"'.

Die Überwachung der sexuellen Askese vor der Hochzeitsnacht, durch die Mann und Frau zu „geschlechtslosen Wesen - wie man es nimmt - herauf- oder herabgewürdigt werden", hat damit weitreichende Folgen: Die Verlobten werden in ihrer Verlobungszeit sich auch „seelisch nicht näher treten können". Das „ungeschminkte und ungehinderte Kennenlernen von Mann und Frau vor der Ehe" entfallt, und damit „der Eck- und Grundstein für jede Herzens- und Gefühlsharmonie". Das Skandalon dieses Brauchtums liegt für Michels wiederum in der Sonderbehandlung der Frau. Ihre Sexualität wird nicht nur tabuisiert, sondern auch in dem Maße enttabuisiert, wie das Mädchen auf seine legitimen „sexuellen Pflichten" vorbereitet wird. Schließlich muß der Hochzeitstag sorgfältig ausgesucht werden, da er nicht in die Menstruationsperiode fallen darf: „während die ,Keuschheit' der Braut über alles und jedes gesetzt wird, schont man sie dennoch so wenig, daß man sich sehr brutal nach dem Tage erkundigt, an dem sie im Stande ist, sie verlieren zu können. Etwas das Gefühl mehr Verletzendes kann es gar nicht geben" .93 Damit ist die „Reihe von Erniedrigungen" aber noch nicht am Ende. Denn nach der monatelangen, ungesunden „Nervenüberreizung" naht der Festtag, der Tag, an dem die Frau „sich nicht nur sexuell verbinden darf, sondern ... der Gipfel der Unmoral ! - sogar sexuell verbinden muß."94 Die Frau wird für diesen „Ehrentag" mit Brautschuhen, Brautstrümpfen und vor allem einem Brauthemd mit „natürlich durchsichtigen Spitzen" ausstaffiert, „damit, wie man so oft sagen hört, der junge Ehemann seine Freude daran haben soll". Die Braut selbst verwandelt sich, um das „Geschenk ihres Körpers" zu verpacken, in eine „Pfauhenne", als ob „diese Perversität die natürlichste Sache von der Welt wäre", während der eigentliche Sinn des Ritus doch darin besteht, daß sie sich „für die Gelegenheit wie ein Lamm [schmückt], das man irgendeinem Heidengott zum Opfer bringt". Die Hochzeitsgesellschaft „weiß ebenfalls ganz genau, was in einigen Stunden vor sich gehen wird und betrachtet die jungen Leute mit vielsagendem Schmunzeln und nur zu oft auch mit hämischen Bemerkungen". Kurzum: „Jetzt endlich erscheinen die

93 Brautstandsmoral, S. 101. 94 Brautstandsmoral, S. 102.

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beiden Liebenden bereit, ,sich zu lieben', ebenso wie [...] Beefsteaks, die nach allen Regeln der Kunst gebraten wurden, bereit sind, gegessen zu werden".95 Michels zentraler Einwand gegen den Brautstandsritus lautet, daß dem Paar auf diese Weise der Weg einer „natürlichen" Erotik abgeschnitten wird. Diese bestünde in einer „langsamen Evolution des Geschlechtslebens", die Hochzeitsnacht dagegen wird zur „plötzlichen Revolution". Der repressiven Enthaltsamkeit vor dem Eheschluß folgt die Zwangsregression zum „Tierischen": „gestern nichts, heute aber alles". Die ir Michels' Augen eigentlich menschliche und zivilisierte Form der Liebe, die „graduale Evolution" sanfter Übergänge, das „Hand in Hand gehen" von „intellektuellem SichVerstehen" und „sexueller Begier", wird vom bürgerlichen Brauchtum verhindert, weil voreheliche Sexualerfahrungen als unmoralisch verboten sind und eine Zuwiderhandlung gegen die Brautstandsmoral die Gesellschaftsfähigkeit der Liebenden aufs Spiel setzen würde. Eine derart verquere Moralordnung hat insbesondere für die Bürgertochter zur Folge, daß ihr Verhältnis zur Erotik von Anfang an mit Scham, Ekel und Angst belastet ist.96 Mit den diskriminierten Typen der Hure und der „alten Jungfer" teilt der gesellschaftsfähige Normaltypus der Bürgerbraut bei Michels das Schicksal sexueller Heteronomie in seiner doppelten Variante: nicht zu dürfen und zu müssen. Der „mysteriöse Apparat" des Brautkleids wird zum Symbol einer gescheiterten Kultivierung der Liebe: nicht „Gefühlsfeinheit", sondern eine tief verwurzelte „Schamlosigkeit" und Res]>ektlosigkeit gegenüber der Frau konstituieren Michels zufolge die Geschlechterordnung des Brautstandsritus. Die Dechiffrierung der Bräuche und Sitten auf ihre eigentlichen, weniger expliziten als vielmehr impliziten Bedeutungen hin ist ein konstantes Erkenntnisinteresse der frühen Michelsschen Publizistik. Es sind weniger die offenkundig frauenfeindlichen Positionen im intellektuellen Klima des Kaiserreiches, die Michels attackiert, sondern die alltäglichen Umgangsformen der bürgerlichen Gesellschaft, die Allerweltsfloskeln und Gemeinplätze, in denen Michels die wirksamen Mechanismen der Ungleichheil und Entwürdigung aufspürt. Das erkenntnistheoretische Ziel ist die Entlarvung einer „,Moral', deren Unmoral uns wegen der leidigen Gewohnheit, sie tagtäglich vor uns zu sehen, leider gar nicht mehr auffällt". In diesem Sinne analysiert Michels auch die Akteurskonstellation von Verlobungsanzeigen und zeigt, daß in der herrschenden Bekanntmachungspraxis - im einen Fall durch den Bräutigam selbst, im anderen durch die Eltern der Braut - , „die Braut [...] dem Bräutigam bei der Schließung des wichtigsten Aktes in ihrem Leben von vornherein nicht gleichgestellt" ist. Bekanntgegeben werde genaugenommen nicht die Verlobung zweier selbständiger Individuen, sondern ein

95 Ebd. 96 Grenzen, S. 122. Die Hochzeitsnacht, das belegen viele Quellen, war für die meisten Bürgertöchter ein schockartiges Erlebnis. Meist gingen sie unvorbereitet und unwissend in die Ehe, während der Mann in seiner unbeaufsichtigten Ausbildungszeit bereits sexuelle Erfahrungen gemacht hatte. Vgl. dazu Ute Frevert, Frauen-Geschichte. Zwischen bürgerlicher Verbesserung und neuer Weiblichkeit, Frankfurt a.M. 1986, S. 130f.

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„Besitzwechsel aus der Hand des Vaters in die Hand des Bräutigams".97 Auch wenn die „barbarische Ausdrucksweise aus der Zeit der patria potestas vor uns", die in öffentlichen Verlobungsanzeigen zum Ausdruck komme, nur sprachliche Konvention sei und den Beteiligten der darin enthaltene Sinn oft gar nicht bewußt sei, hat Michels ausdrücklich befürwortet, daß der Kampf gegen die symbolischen Formen der Ungleichbehandlung ein primäres Ziel der Frauenbewegung sein müsse. Dies betreffe insbesondere Traditionsbestände wie die zweigeteilte Titulatur von „Frau" und „Fräulein": „Dieser amtliche Stempel bedeutet eine [...] unwürdige, unerlaubte staatliche, d. h. männliche Einmischung [...] Was geht es die große Menge an, zu wissen, ob eine Frau geschlechtlich berührt oder unberührt ist [...]?", zumal sich die Junggesellen es doch verbitten würden, mit „Herrchen Paul Singer" angeredet zu werden. Revisionsbedarf meldet Michels auch im Hinblick auf die weibliche Namensänderung bei Heirat an. Die Frau „entäußert" sich, wenn sie „den Namen, der die Herkunft angibt, gegen einen Namen eintauscht], der angibt, in wessen Besitz sie übergegangen ist". Die eheliche Namenpraxis unterstreiche den „Eigentumscharakter der verheirateten Frau".98

4. Apologie des Feminismus Daß ein „zwar quantitativ kleiner, qualitativ aber auf das höchste einzuschätzender Bestandteil der Frauen" die oben skizzierten Gebräuche nicht mehr hinzunehmen bereit ist und sich in Vereinen zusammenschließt, um sich eine gesellschaftspolitische Plattform zu geben, verzeichnet Michels als „einen der wesentlichsten Fortschritte der neuesten Zeitepoche". Und gegen jedes psychologisierende Herunterspielen der Frauenfrage fügt er hinzu: „Die Frauenfrage, historisch begründet, sozial, intellektuell und ökonomisch empfunden, ist kein Märchen zum Zeitvertreib für einige um ihr Gleichgewicht gekommene Weiber".99 Für Michels ist die Frauenfrage offenbar alles andere als ein Nebenschauplatz seiner politischen Publizistik. Bereits in seiner ersten Veröffentlichung überhaupt (nach der Dissertation) stellt er unmißverständlich fest: „Unter den sozialen Fragen, die zur Zeit Deutschland bewegen, ist die vielleicht bedeutendste, gewiß aber die am meisten vernachlässigte von allen zweifellos die Frauenfrage". 100 In diesem bemerkenswerten Aufsatz, der in Luigi Einaudis „Riforma Sociale" erscheint, gibt Michels einen umfassenden Einblick ins Thema: Er zeigte an der Arbeitsstatistik, wie durch den großindustriellen Wandel sich in den unteren Klassen bereits der Auszug der Frau aus dem

97 Michels, Die Analyse einer Verlobungskarte (Soziales und Ethisches), in: Ethische Kultur, 11. Jg., Nr. 27, S. 210-211, sowie in: Frankfurter Zeitung, 47. Jg., Nr. 183, 1903; mit Ergänzungen in: Michels, Grenzen, S. 133-141. 98 Grenzen, S. 14Iff. 99 Grenzen, S. 133. 100 Michels, Attorno ad una questione sociale in Germania, in: Riforma Sociale, Jg. 8, fase. 4, Bd. 6, Sonderabdruck, S. 1 : „Fra le questioni sociali che agitano attualmente la Germania, la più importante, forse, certo la più trascurata di tutte è, fuor di dubbio, la questione della donna".

II.2. Erotik, Feminismus und neue Sexualmoral

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Haus in die Fabrik vollzieht. Auf dem Arbeitsmarkt agiert die - unterbezahlte - Proletarierin einerseits als Konkurrentin des Mannes, andererseits manifestiert sich die Frauenfrage im Elend ausländischer Wanderarbeiterinnen („Sachsengängerinnen") sowie in der von der materiellen Not erzwungenen Prostitution. Von diesen materiellen Überlebensfragen ist der Geschlechterkampf in den mittleren bürgerlichen Schichten weitaus weniger betroffen und verlegt sich eher auf das „intellektuelle Feld". Hintergrund ist hier der Funktionsverlust der Hausfrauenarbeit, was die Frauen nach außerhäuslichen, ökonomischen, kulturellen oder akademischen Beschäftigungsfeldern Ausschau halten läßt. Das „Ideal der guten deutschen Hausfrau" steht zur Disposition bzw. die gute alte Sitte, die Michels in dem Sprichwort zusammen faßt: „La casa dell' uomo è il mondo, il mondo della donna è la casa".101 Die bürgerliche Sexualmoral lebt freilich nicht allein von ihren Ritualen, Rollen und Sprachregelungen, sondern wird auch durch entsprechende gesetzliche Regelungen gestützt und aufrechterhalten, insbesondere durch das Eherecht. Ebenso wie der ihm intellektuell nahestehende polnische Sozialist Ladislaus Gumplowicz102 und andere Vertreter der radikalen Linken verwirft auch Michels die bürgerliche Ehe in ihrer „Form als staatliches Zwangsinstitut".103 Seine oben zitierte erste Veröffentlichung von 1901 ist dieser Thematik gewidmet: der Zementierung der weiblichen Ungleichheit und Unmündigkeit durch ein patriarchalisches Eherecht. Am 1. Januar 1900 ist im Deutschen Reich das Neue Bürgerliche Gesetzbuch eingeführt worden, das das Arbeitsrecht der Frau der modernen Industriegesellschaft anpaßt und auf eine liberal-individualistische Basis stellt. Anders ist es auf dem Gebiet des Eherechts, das an der patriarchalischen Beziehung von Mann und Frau festhält und sie in mancher Hinsicht sogar verschärft. Michels würdigt die progressiven Bestimmungen des Gesetzbuches, die der Frau nunmehr gestatten, sich gegen den Mißbrauch der männlichen Verfugungskompetenzen zu verteidigen. Dennoch kodifiziere das Eherecht in vielerlei Hinsicht die Mißachtung der Frau als „unabhängige Persönlichkeit in Staat und Gesellschaft".104 Die Entscheidungsgewalt über das Domizil der Familie und ihre Güter - auch die von der Frau eingebrachten - , sowie über Schul-, Berufs- und Gattenwahl der Kinder liegt beim Mann, dem eigentlich geschäftsfähigen, dessen Unterschrift das letzte Wort in allen juristischen Angelegenheiten des Familienverbandes ist. Die Frau ist ihm von Rechts wegen geradezu in einem vormundschaftlichen Verhältnis unterworfen. Um so gravierendere Auswirkungen haben daher die Limitierungen des neuen Scheidungsrechtes. Dieses akzeptiert zwar das Verschwinden eines Ehepartners oder den Ehebruch als Trennungsgrund, den Fall einer „wechselseitigen Antipathie" dagegen

101 Michels, Attorno ad una questione sociale in Gemania, S. 5. 102 Ladislaus Gumplowicz, Ehe und freie Liebe, Berlin 1900, zweite erw. Auflage 1902; Vgl. auch Timm Genett, Lettere di Ladislaus Gumplowicz a Roberto Michels (1902-1907), in: Annali della Fondazione Einaudi, Vol. XXXI, Torino 1997, S. 417-473. 103 Grenzen, Vili. 104 Michels, Attorno ..., S. 17-18: „II rifiutare alla donna l'eguaglianza politica, il non riconoscerla come una personalità indipendente nello Stato e nella società è un errore gravissimo ed una gravissima ingiustizia."

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II. Robert Michels' politische Struktur- und Sittenkritik des Kaiserreiches

nicht. Ein Wachsen der Zahl unglücklicher Ehen und traurige Kindheiten prognostiziert Michels daher als Folgen des „reaktionären Scheidungsrechts". Zudem drohe durch die rechtlich abgesegneten Machtverhältnisse und die Schwierigkeit, sich diesen zu entziehen, die Frau zum Opfer legitimer Vergewaltigung zu werden, wenn „der Koitus nicht mehr ein Akt des wechselseitigen Willens"105 sei. Der Kampf für die Gleichberechtigung der Frau im Privaten wie im öffentlichen Leben ist ein zentrales Anliegen in Michels' politischen Schriften.106 Die Frau, die allen Widerständen des Vereins- und Wahlrechtes zum Trotz - die politische Bühne betritt und für ihre Rechte kämpft, ist ein historisches Novum, das Michels im Sinne der sozialen Gerechtigkeit wie der Demokratisierung des öffentlichen und privaten Lebens nicht nur begrüßt, sondern auch in einer langen Reihe von Aufsätzen zur Frauenbewegung, vor allem der Arbeiterinnenbewegung, begleitet.107 Gegenüber den italienischen Verhältnissen scheint ihm die Frauenbewegung in Deutschland jedoch im Rückstand zu sein,108 was den vom Aufklärungs- und Fortschrittsgedanken durchdrungenen Doktor der Geschichte arg verwundert, liegt die Alphabetisierungsquote in Deutschland doch unter einem Prozent, während in Italien über vierzig Prozent der Bevölkerung des Schreibens und Lesens unkundig sind.109 Zwei Motive macht er für diesen Widerspruch verantwortlich und beide sind - wie wir noch des öfteren sehen werden - Konstanten seiner Reflexion über das deutsche Kaiserreich: eine soziomoralische Prädisposition, in diesem Fall der deutschen Frauen, die nicht im solidarischen Einsatz für ihre Rechte, sondern in der „eleganten Toilette" das höchste weibliche Ideal sehen; sowie der „Staat, der sich noch nicht vom alten System der Metternichschen Polizey trennen konnte und immer noch in der Verteidigung sakrosankter Rechte das revolutionäre Gespenst sieht".110

105 Michels, Attorno ..., S. 14: „In questo modo il coito non è più un atto di scambievole volontà." 106 Allein die nicht ganz vollständige offizielle Bibliographie „Opere di Roberto Michels" (Padova 1937) enthält bis zum Jahr 1911 immerhin gut 35 Aufsätze zum Thema. 107 Michels, Die Arbeiterinnenbewegung in Italien, in: Die Frau, Jg. 9, Nr. 6, 1902, S. 328-336; ders., Ein italienisches Landarbeiterinnenprogramm, in: Dokumente der Frauen, Bd. 7, Nr. 6, 1902, S. 159-166; ders., Der Kampf um die Arbeiterinnenschutzgesetzgebung in Italien, in: Die Frau, 9. Jg., Nr. 9, Juni 1902, S. 513-518, Heft 10, S. 612-618; ders., Rückblick auf die Geschichte der proletarischen Frauenbewegung in Italien, in: Die Gleichheit, Jg. 13, Nr.l, S. 2-3, Nr. 2, S. 11-13, Nr. 5, S. 36-38, Nr. 8, S. 58-60, Nr. 11, S. 83-85, Nr. 17, S. 131-134, alle Nr. 1903; ders., Die italienische Frau in den Camere del Lavoro, in: Die Frau, 11. Jg., Nr. 6, S. 366-373, Nr. 7, S. 425-428, 1904. Vgl. Kapitel III.2. Die sozialreformistische Periode. Dort ibs. III.2.1. Neue soziale Bewegungen. 108 Sein Urteil bezieht sich dabei auf die bürgerliche Frauenbewegung, auf deren antimodernistische Elemente, insbesondere im Bund deutscher Frauenvereine, Ute Frevert (a.a.O., S. 125) hinweist. 109 Michels, Attorno ..., S. 16. 110 Michels, Attorno ..., S. 17: „II secondo motivo per cui il movimento femminista si è quasi arrestato in Germania va ricercato nell'atteggiamento sospettoso dello Stato, che non ha ancora

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Als Angelpunkt der Frauenemanzipation proklamiert Michels die Einführung des Fiauenwahlrechts. Gewiß teilt er dabei die in der Sozialdemokratie weit verbreitete Sorge, daß die Frauen in der gegenwärtigen Lage mehrheitlich nach rechts tendieren und fiir die Konservativen votieren würden. Aber er widerspricht der aus diesem Befund abgeleiteten Folgerung, daß man den Kampf für das Frauenwahlrecht deshalb besser aussetzen und suspendieren sollte. Ein Aufschub in die ferne Zukunft, so Michels, würde die Frauen doch erst recht „ewig im Stadium der Unreife" belassen. Ohne die Anerkennung der Frau als gleichwertiger Rechtsperson und ihre Einbeziehung in die politische Praxis sei ein politischer Reifeprozeß eben nicht zu haben. Mandatsverluste der SPD-Reichstagsfraktion seien hinzunehmen, da die „Demokratisierung der Massen" das primäre Ziel der Partei sein müsse.111 In einer Arbeiterpartei, die Oda Olberg zufolge die klassische bürgerliche Rollenteilung wie selbstverständlich verinnerlicht hat,112 spielt Michels zuweilen die Rolle des Radikalfeministen - so wenn er August Bebels Wort, daß der Feminismus auf die: Verwirklichung des Sozialismus angewiesen sei, umdreht und behauptet, daß der Sozialismus nicht minder des Feminismus bedürfe, weil der Sozialismus ohne die politische und wirtschaftliche Emanzipation der Frau und ohne „eine homogenere Verteilung der Berufs- und selbst der Familienpflichten" seinen eigenen Ansprüchen der Gerechtigkeit und Gleichheit nicht genügen würde und auch sein „Gemeinwohl"-Ziel verfehlen würde, das die „volle Betätigung und Entwicklung aller Kräfte nötig" habe.113

5. Demokratisches Gleichheitsideal und progressiver Sozialdarwinismus: Michels' Reform der Ehe Bis hierhin dürfte ein bislang vernachlässigtes Michels-Bild erste Konturen bekommen haben: das des libertären Kritikers einer unfreien Sexualmoral und - damit eng verbunden - das des engagierten Verfechters weiblicher Emanzipation. Das Bild wäre trotz der angeführten Nachweise aber ein falsches, würde man hier stehenbleiben und Michels frühe Schriften diesseits der Unterscheidung zwischen einem permissiv-emanzipatorischen und einem repressiv-disziplinierenden Denken einordnen. Sein Buch „Die

saputo liberarsi dal vecchio sistema di polizia Metternichiana, e che, nella difesa di saci osanti diritti, vede sempre il fantasma rivoluzionario." 111 Michels, Frauenstimmrecht - schon heute eine Notwendigkeit, in: Die Frauenbewegung, 8. Jg., Nr. 23, 1.12.1902, S. 1-2. Vgl. Michels, Antwort auf die Umfrage „II voto alla donna?", in: Pubblicazioni della Rivista ,Unione Femminile', Milano 1905, S. 94-98, S. 97: „La donna senza diritti politici non è altro per l'uomo che un oggetto di oppressione istintiva, che non vale la pena di rendere collega o compagna di lotta; ma la donna col diritto del voto potrà offrire qualcosa all'uomo che la fa degna del suo lavoro educativo." 112 Vgl. Ute Frevert, Frauengeschichte ..., a.a.O., S. 138. 113 Michels, Feminismus und Sozialismus, in: Arbeiterinnen-Zeitung (Wien), Nr. 22, 13. Jg., 3.11. 1904, S. 4-5.

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Grenzen der Geschlechtsmoral" entzieht sich nämlich dieser Dichotomie, weil es eher eine Mixtur von beiden Denktypen darstellt. So ist auffallig, daß Michels die in den Jahren vorher so scharf attackierte Ehe nunmehr retten zu wollen scheint, ja, in ihr ein „sittliches Ziel sieht, das gewiß niemals erreicht werden wird, dessen Anstrebung aber zugleich im individuellen wie im kollektiven Interesse der Menschheit liegt".114 Pino Ferraris hat diese neuen Akzente als Indikatoren eines programmatischen Wandels interpretiert.115 Die „neue" Sexualmoral mit ihren „libertären, gleichsam individualistischen und egalitären Zügen" zirkuliere in dem Buch von 1911 zwar „noch", kreuze sich aber nunmehr mit Gedanken der medizinischen Disziplinierung und der sexuellen Askese im Namen sozialer Pflichten und der Verantwortung für die Spezies.116 Ferraris bewertet diese Kreuzung verschiedener Argumentationsebenen als einen „Rückschritt" gegenüber den früheren, vermeintlich radikaleren Positionen, als einen „Rückschritt" in Michels' Sexualpädagogik, der sich parallel zu seinen Arbeiten an der „Soziologie des Parteiwesens" vollzogen habe. Der monogamen bürgerlichen Ehe, so Ferraris' Analyse, begegne Michels über eine „Metaphysik der Sitten" und riskiere daher, die persistierende und rohe Form der bürgerlichpatriarchalischen Familie mit einer moralisch-sentimentalen Aura zu umgeben, die so die psychologische Basis für die neuen Autoritätsbedürfnisse der bürgerlichen Ordnung in einem Klima sozialen Wandels und sozialer Proteste bilde. Ferraris' Beobachtung, daß die „Grenzen der Geschlechtsmoral" von 1911 ein Buch mit verschiedenen, widersprüchlich erscheinenden Bedeutungsebenen sind, ist zweifellos richtig. Fragwürdig scheint mir dagegen Ferraris' Erklärungsansatz zu sein, wonach die „libertären" Gehalte des Buches scheinbar ältere Textschichten seien, die „noch" kursieren, während die - von mir bislang noch nicht erörterten - „disziplinierenden" Gedanken dagegen für eine Wende in Michels' Denken um 1911 stehen sollen. Zunächst ist die Unterscheidung repressiv-permissiv keine relevante Distinktion des Sexualdiskurses um 1900.117 Sodann läßt sich auch im Fall Michels' die implizite Behauptung, ihm sei es als Sozialdemokraten um die pure Befreiung der Sexualität von allen normativen Schranken und von jeglicher „Verantwortung für die Spezies" gegangen, widerlegen. Die scheinbare Widersprüchlichkeit von Michels' Argumentation 1911 ist nicht einem chronologischen Zusammenprall zweier Lebensabschnitte - der älteren Textschichten aus der Zeit des radikal-libertären Sozialisten mit den neuen des disziplinierend neoethisch argumentierenden Soziologen - geschuldet. Vielmehr charakterisiert die von Ferraris monierte Ambivalenz bereits die Frühschriften, ist also typisch für alle Reformschriften zwischen 1900 und 1910. In anderen Worten: wenn man der sexualreformerischen Debatte die ,Zweilagertheorie' von „permissiv versus repressiv" unter-

114 115 116 117

Grenzen, S. VIII. Ferraris, Questione femminile e morale sessuale ..., a.a.O. Ferraris, Questione..., S. 114/115. Ferraris' Blick auf die Jugendbewegung und die sexuelle Revolution folgt explizit Georg L. Mosse, Nationalismus und Sexualität. Bürgerliche Moral und sexuelle Normen, Wien 1985. Die Übertragbarkeit der Distinktion repressiv-permissiv bezweifelt dagegen T. Nipperdey, Sexualität, a.a.O., S. 96f.

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schiebt, könnte man den Spieß auch umdrehen, und im Falle Michels genauso gut eine Wende vom latent Repressiven zum offen Libertären unterstellen. So findet sich Michels' anfangs erwähntes Plädoyer für die Liebe um der Liebe und ihrer Ekstase willen in einer Erstveröffentlichung aus dem Jahr 1910,118 während er 1903 auch deshalb für eine natürlichere Moral eintritt, weil sie die Aufgabe der „Fortpflanzung des Heiligsten und Innersten der Spezies" besser zu lösen imstande sei.119 Mehr noch: der Fundus an sozialdarwinistischen Ideen, die sein Denken im Sinne einer verschwiegenen Dimension, d. h. im Sinne einer der Explikation nicht für nötig befundenen, selbstevidenten Grundannahme prägen, bringt es mit sich, daß Michels von Beginn an die bürgerlichen Sexualnormen immer wieder auch aus der Perspektive einer regelrechten Reproduktionsoptik kritisiert. So verwirft er 1902 nicht die Ehe schlechthin, sondern das Interessen- und Standeskalkül, das oft dem Zustandekommen einer Ehe zugrundeliege, von dem Michels aber annimmt, daß es die Qualität der „ A u s l e s e " beeinträchtige: „Die kalten und kalkulierten Ehen gefährden sehr jenen Instinkt der Wahlverwandtschaft, der von Darwin natürliche Auslese genannt worden ist".120 Das radikaldemokratische Gleichheitsideal, das Michels auf die Geschlechterbeziehungen überträgt, ist eng mit einem progressiven Sozialdarwinismus verknüpft, der sich von der Überwindung der Heiratsschranken wie von der Egalisierung der Geschlechter eine bessere Selektion verspricht - so wenn Michels zustimmend den Dichter Ernst von Wolzogen zitiert: „Heldengeschlechter können nur aus ebenbürtigen Ehen hervorgehen". Und folgert: Die „Gleichheit ist zunächst eine Forderung im Sinne der Rassenveredlung". 121 Michels' demokratische Version der darwinistischen „ A u s l e s e " i s t weit davon entfernt, die Geschlechtsliebe zu entnormativieren und zu entdisziplinieren und es ist keineswegs allein die Idee der Gleichberechtigung, die als neuer Sittenkodex an die Stelle des alten treten soll. Das wird besonders da deutlich, wo er, ebenfalls in einer Frühschrift von 1903, der medizinisch-hygienischen Disziplinierung des sexuellen Genusses im Interesse des Gemeinwohls das Wort redet und die „Bestrafung geschlechtlichen Verkehrs Geschlechtskranker" 122 fordert. Ein Anwalt der sexuellen Libertinage ist der junge Michels gewiß nicht gewesen. Das zeigt schon das in seiner Kritik der „Brautstandsmoral" propagierte und etliisch doch sehr gehaltvolle Konzept einer langsam wachsenden und mit der geistig -„kameradschaftlichen" Ebene eng korrespondierenden Intimität. Die erotische Liebe wird von ihm ja nur insofern von der Ehe emanzipiert, als der vor- oder nacheheliche Zeitpunkt des Geschlechtsverkehrs als solcher noch kein plausibler ethischer Maßstaa ist.

118 Michels, Neomalthusianismus, in: Frauenzukunft, 1. Jg., Heft 1, 1910, S. 42-55. 119 Michels, Brautstandsmoral, a.a.O., S. 103. 120 Michels, La questione della zitella e della donna professionista (sotto l'aspetto ch'essa ha in Germania), in: Unione femminile, Jg. 2, Nr. 19-20, Oktober 1902, S. 144-146. 121 Michels, Feminismus und Sozialismus, in: Arbeiterinnen-Zeitung, 13. Jg., Nr. 22, 1904, S. 4-5. 122 Michels, Bestrafung geschlechtlichen Verkehrs Geschlechtskranker, in: Ethische Kultur, 12. Jg. 1903, S. 223.

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Was fìir Michels vielmehr zählt, ist die ethische Reife der handelnden Personen, wie er in einem unveröffentlichten, einer Kusine gewidmeten Text schreibt: „An eine stolze Mutter. Du schreibst mir, liebe Kusine: ,Meine zweite Tochter nahm mit 21 Jahren einen 23jährigen Gatten, nachdem sie sich mit 18 und 20 Jahren kennen gelernt und mit 20 und 22 Jahren verlobt hatten. Ihre [...] Verlobungszeit sah Deiner ,Brautstandsmoral' sehr wenig ähnlich. Sie waren ständig allein in Haus, Garten und Wald, verliebt und strahlend glücklich, aber ohne alle geschlechtliche Erregung und deren Folgen, die Dein Büchlein 123 schildert'. Darf ich Dir kurz antworten und Dich fragen, warum Du Deinem sympathischen Brautpaar Erregungslosigkeit nachrühmst? Abgesehen davon, daß dieser Fall höchst unwahrscheinlich ist und Du wohl nur hast sagen wollen, daß sie der wohl vorhandenen - Erregung nicht nachgegeben haben, warum das als Ideal darstellen? In der Ehe hat doch wohl, denke ich, diese in Acht und Bann getane ,Erregung' stattgefunden. Oder nicht? Sieh einmal, ich denke mir die Sache ganz anders. Wenn zwei Menschen fest entschlossen sind, die Folgen ihres Handelns mutig und gemeinsam zu tragen - und wissen, sie tragen zu können - und wenn sie im Moment der Hingabe [...] den ehelichen Glauben besitzen, sich das ganze Leben hindurch die Liebe und Treue zu bewahren, dann sind diese beiden Menschen ethisch reif für den Geschlechtsgenuß. Ob dieser Moment vor oder nach der officiellen Eheschließung liegt, ist völlig irrelevant. Es steht sogar zu wünschen, daß er vor der Ehe liegt, denn die Hochzeitsnacht ist für einen sittlich gesund Denkenden doch die abscheulichste Unzucht und Barbarei, die sich denken läßt. Dem kannst Du nur widersprechen, wenn Du an dem sakramentalen Charakter der Ehe festhältst." 124 Zweifellos ein Kritiker der tradierten sexuellen Moralvorstellungen, hat Michels kein entnormativiertes, permissives Primat der Triebbefriedigimg an ihre Stelle gesetzt, das ihn sogar mit tiefer Abscheu erfüllt haben muss, wenn man in ein Notizbuch aus der Start-Zeit seines politischen Engagements schaut: „Wenn sich zwei Menschen, die sich eben erst kennengelernt haben, sogleich verloben, empfinde ich immer ein Gefühl des fleischlichen Ekels, gerade als ob

123 Hierbei dürfte Michels' Broschüre „Braustandsmoral" (Leipzig 1906) gemeint sein, was umgekehrt auch eine präzisere Datierung dieser Notiz wie die der anderen aus dieser Loseblattsammlung (vgl. „Liebe und Aristokratie", „Die Gunst der Menge") in den „Appunti di Michels" des ARMFE erlaubt. 124 Michels, [An eine stolze Mutter], in Appunti di Roberto Michels, ARMFE.

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ich Augenzeuge gewesen wäre, daß ein Stier auf der Weide eine Kuh gefunden und sogleich begattet hätte."125 Bekenntnisse wie dieses zeigen, wie wenig sich die sexuelle Revolution um 1900 als ein Lagerkampf zwischen den Befürwortern einer „repressiven" und denen einer „permissiven" Sexualmoral beschreiben läßt. Vielmehr zielt die antibürgerliche Normdurchbrechung auf eine sittliche Renaissance der Sexualität und ist weit davon entfernt, einem anything goes das Wort zu reden. Von der Arbeiterbewegung bis zur bürgerlichen Mitte schreiben die Sexualreformer die Forderung nach einer „Versittlichung" der Geschlechterbeziehungen auf ihre Fahnen.126 In anderen Worten: Im Diskurs der „sexuellen Revolution" wird die eigengesetzliche erotische Sphäre aus dem Korsett dei" tradierten Normen herausgeschält, um sie dann einer reformierten moralischen Sphäre zu unterstellen. Dabei muß die Sexualreform zwangsläufig das Gebot der Selbstbeherrschung reformulieren und an die freiwillige Selbstkontrolle der sexuellen Lust zugunsten einer methodischen Lebensführung appellieren. Eine Liebesethik, wie auch immer sie beschaffen ist und wie bilderstürmerisch sie zunächst sich auch gegen die Gebote der „Alten" richtet, wird immer auch Aussagen über das Normale und das Anormale, das sittlich Wünschenswerte und das sittlich nicht Akzeptable treffen müssen, sonst ist sie keine Ethik. Sie mag den Individuen mehr Freiheiten einräumen, aber wird doch immer auch Bezirke der Keuschheit definieren. Das ist ein Thema von Robert Michels' Buch aus dem Jahre 1911, dessen deutscher Titel „Grenzen" nur in der englischen und italienischen Ausgabe direkt so übersetzt worden ist, in der spanischen und französischen Ausgabe dagegen einer neuen und signifikanten Überschrift gewichen ist:, Anaour et chasteté", „ A m o r y castidad", zu deutsch: Liebe und Keuschheit.127 Allein der Aufbau des Buches signalisiert in seinen vier Teilen - I. „Allgemeine erotische Grenzprobleme", II. „Aussereheliche Grenzprobleme", III. „Voreheliche Grenzprobleme", IV. „Eheliche Grenzprobleme" - den Zielpunkt der Michelsschen Sexualpädagogik: der Ehe als monogames Bündnis auf Lebenszeit eine neue Legitimation zu verschaffen - dies aber im vollen Bewußtsein der „polygamen Anlage"128 des Menschen und unter vorbehaltloser Anerkennung der Tatsache, daß der nicht gerade wählerische „Hunger nach Liebe"129 eine anthropologische Tatsache ist. Wenn Michels nun über die Zähmung und Kultivierung der Sexualität nachdenkt und beispielsweise das Phänomen der Koketterie dahingehend würdigt, daß es den Ehe-

125 Michels, Notizheft [manche Leute sehen nur das Gänseblümchen, aber nicht die Blutlache drumherum], Appunti di Roberto Michels, ARMFE. Zu meiner Datierung dieses undatierten Heftes vgl. Kapitel III. 1. 126 Nipperdey, Sexualität, S. 104. 127 Vgl. Michels, I limiti della morale sessuale. Prolegomena: Indagini e pensieri, übersetzt von Alfredo Poliedro, überarbeitet vom Autor, Torino 1912; ders., Sexual Ethics: A study of borderland questions, London/Felling-on-Tyne 1914; ders., Amour et Chasteté. Essais sociologiques, Paris 1914; ders., Amor y castidad (Los limites de la moral sexual, Barcelona o. J. 128 Grenzen, S. 145f. 129 Grenzen, S. 11 f.

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leuten das positive Bewußtsein ihrer polygamen Kapazität erhalte, ohne der Monogamie zuwiderzulaufen - freilich nur insofern die „Gefallsucht" nicht zur „Fallsucht" wird - , dann liegt in dieser Orientierung an der Ehe kein Bruch mit früheren Positionen vor. „Reformabel, aber nicht abschaffbar", 130 wie es in den „Grenzen" heißt, erscheint die Ehe offensichtlich auch schon dem bürgerlichen Renegaten in der SPD, als er 1904 August Bebels Zukunftsvision staatlicher Erziehungsanstalten als „Zwangserziehung" verwirft und das Modell der Familienerziehung verteidigt.131 Aus Michels' Widerspruch gegen Bebel läßt sich indirekt auch ableiten, warum er trotz des zweifellos libertären Einschlags seiner Überlegungen zur Sexualmoral zu keinem Zeitpunkt das Konzept einer „freien Liebe" vertreten hat. Zumindest im sozialistischen Spektrum wird bei aller Kritik an der patriarchalischen Formung der bürgerlichen Ehe doch nie übersehen, daß die Ehe einen hohen Wert hat: sie verpflichtet den ,Paterfamilias' nämlich zum Schutz von Frau und Kindern. Unter den sozialistischen Vertretern der „freien Liebe" wie etwa Ladislaus Gumplowicz herrscht ein weitgehender Konsens, daß die Abschaffung der Ehe nur dann der weiblichen Emanzipation zugute kommen würde, wenn die Frau, insbesondere die Frau als Mutter, eine umfassende soziale Sicherung von Seiten des Staates erfahren würde. Nur ein „collectivistisches Gemeinwesen", also ein Fürsorgestaat, der die Betreuung unehelicher Kinder übernimmt, könne der Frau ihre Selbständigkeit, zum Beispiel in Form selbständiger Erwerbsarbeit, garantieren.132 An die Stelle der familiären soll also bei Gumplowicz die staatliche Solidaritätsverpflichtung treten. Es ist bemerkenswert, daß der Sozialdemokrat Michels mit dieser Option an keiner Stelle liebäugelt, und, wenn er einmal auf die sozialstaatlichen Konsequenzen eines Abschieds vom Sozialverband der bürgerlichen Ehe zu sprechen kommt, wie in der Polemik gegen Bebel, seine fundamentale Skepsis gegenüber einer staatlichen „Zwangserziehung" zum Ausdruck gibt. Darin spricht sich durchaus ein liberaler Vorbehalt und Zweifel an der Wünschbarkeit eines omnipotenten Staates aus. An anderer Stelle nämlich deutet Michels das „merkantilistische Märchen von der Allgewalt der Zentralmachtstelle, die mit dem Zauberstabe Industrien schaffen und mit dem Büttelknüttel allgemeine Glückseligkeit dekretieren zu können glaubt" als historische Hypothek des Ancien Regime, die eben auch in der Industriemoderne den Glauben an jene „polizeiliche Allmacht" befördert habe, „nach welcher die Selbsthilfe nichts und die Staatshilfe alles bedeutet".133 Mit einer solchen Haltung hat Michels wesentliche Elemente dessen, was seine sozialistischen Zeitgenossen von ihrem „Zukunftsstaat" erwarten, abgelehnt, abgesehen davon, daß er die Diskussion darüber als „Spekulation" abtut.134 Nicht im Geist der Utopie, sondern unter den Bedingungen der Gegenwartsgesellschaft diskutiert Michels daher die „freie Liebe" oder, wie man heute sagen würde, die „Lebensab-

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Grenzen, S. 128. Michels, Der vierunddreißigste Bebel, in: Die Gleichheit, 14. Jg., Nr. 15, 13. Juli 1904, S. 114. Ladislaus Gumplowicz, Ehe und freie Liebe, a.a.O. Michels, Entwicklung und Rasse, in: Ethische Kultur, 13. Jg., Nr. 20, S. 155-157, Nr. 21, S. 163-164, 1905, ZitatS. 155. 134 Michels, Der vierundreißigste Bebel, in: Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, 14. Jg., Nr. 15, 13. Juli 1904, S. 113-115, S. 114.

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schnittspartnerschaft", und folgert, daß die Frau als erste Gefahr laufe, die Verliererin der freien Liebe zu werden: „Eine Vermehrung der sitzengelassenen Bräute und unehelichen Mütter würde die Folge sein". 135 Hintergrund von Michels' Argumentation ist ein äußerst negatives Männerbild: „Es gibt Männer, die für ein erobertes Weib jedes Interesse verlieren, andere [...], welche das Mädchen, das, [...] vielleicht gar von tiefer Liebe erfüllt, ihnen zu Diensten war, als eine Gefallene ansehen und es als ihrer nicht wert verachten". So gesehen bekommt ausgerechnet die Brautstandsmoral auch für Michels wieder einen Sinn: Die freie Liebe ohne jegliche Orientierung auf die Ehe wäre solchen Männertypen doch zweifellos ein „Freibrief zur Liederlichkeit und Gewissenlosigkeit". 136 Es sind solche - auch heute, wo die Haushalte alleinerziehender Frauen die höchste Empfangerquote bei der Sozialhilfe zum Lebensunterhalt aufweisen, aktuelle - soziale Fragen, die Robert Michels an der Solidargemeinschaft der bürgerlichen Ehe festhalten lassen. Dabei darf er sich nicht zuletzt von einem allgemeinen Trend innerhalb der politischen Linken seit der Jahrhundertwende bestätigt fühlen. Denn längst hat sich dort herumgesprochen, daß die „freie Liebe" „praktisch heute eine weitere geschlechtliche Ausbeutung des Weibes durch den Mann bedeuten würde": 137 „Die freie Liebe als Selbstzweck hat als Theorem längst abgewirtschaftet. Die Sozialisten, die einst der freien Liebe begeisterte Lobsinger waren, sind längst verstummt und sind, soweit sie es nicht längst in der Praxis schon waren, teils mit ihren alten Geliebten, teils mit neuen in den heiligen Stand der Ehe getreten. Freie Liebe ist heute für die Allgemeinheit eine Gefahr, die im Sumpf allgemeiner Korruption enden muß." 138 Die Sexualreform steht mit derlei Erkenntnissen aber nicht plötzlich besser da als vorher, sondern gerät in eine wachsende Aporie. Denn schon von der Struktur ihres Ansatzes, ihrer sozialen Semantik und dem darin enthaltenen Menschen- und Weltbild, ist der Weg zurück in den gerade erst destruierten traditionalen Legitimitätsglauben an die Ehe, der ja in religiös geprägten Gegenden Europas noch heute eine bedeutende Ressource für die Stabilität von Ehen ist, versperrt. Nötig wird nun eine posttraditionale Legitimation der Ehe.

135 Grenzen, S. 126. 136 Grenzen, S. 126. 137 So faßt Michels die Position Guido Podreccas zusammen und fügt dem das Eingeständnis einer deutschen Theoretikerin der freien Liebe, Grete Meisel-Hess, hinzu, daß die Frau in einem rreien Verhältnis dem Manne ausgeliefert und „äußerlich tausendmal bedrohter, innerlich tausendmal abhängiger als in der Ehe" sei. Vgl. Meisel-Hess, Die sexuelle Krise, Jena 1909, S. 216, :;it. n. Michels, Grenzen, S. 127. 138 Michels, Grenzen, S. 127.

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II. Robert Michels' politische Struktur- und Sittenkritik des Kaiserreiches

Bei Michels resultiert das ethische Postulat der ehelichen Monogamie aus dem „Sittengesetz" der wechselseitigen Gleichbehandlung und Fairneß, aus „rassehygienischen und medizinischen" Erwägungen139 und aus - es beginnt schließlich das Jahrhundert der Psychologie - den seelischen Eigentümlichkeiten der Erotik. Die sich ausbreitende Forderung nach freier Sexualität und Polygamie, insbesondere der Wunsch nach einem Neubeginn in der Liebe durch Partnerwechsel folgt demnach seelischen Bedürfnissen, deren Befriedigung aufgrund einer immanenten Veralltäglichung der Sexualpartnerschaft nur in bestimmten Fristen gelingen kann. Die Halbwertszeiten des erotischen Sensationswertes zwingen den Sensationsfreudigen zum notorischen Sitzenlassen und immerwährenden Platzwechseln im Karussell der erotischen Angebote.140 Die Entscheidung zwischen Mono- und Polygamie hängt dabei auch von der individuellen Beantwortung der Frage ab, ob die persönliche Biographie als Poesie oder als Prosa verfaßt werden soll: „Die Polygamie besitzt eine mächtige Fürsprecherin in der Poesie. Alle Weisen und Unweisen stimmen darin überein, daß der schönste Teil der Liebe im Präludium besteht, das mit den ersten Besitzergreifungen des geliebten Gegenstandes [...] abschließt. Die Romantik der Liebe flüchtet sich in die Präambeln. Vergleicht nur das ärmste uneheliche oder verehelichte Liebespärchen an der Straßenecke oder auf der Parkbank mit dem vornehmsten jungen legitimen Paar im zweiten Jahr der Ehe! Dort durchschnittlich ein hehres Gefühl der Erwartung, eine süße Konzentration aller Gedanken und Kräfte im Liebesgefiihl, in der Liebessehnsucht; ewiger Frühling; das Auge, das den Himmel offen sieht, das Herz, das in Seligkeit schwelgt; dazu die Fähigkeit zu nötigenfalls heroischer Hingabe; Selbstmord- und Doppelselbstmordgedanken beim leisesten Hindernis; immerwährende, glückverheißende, durch die Heimlichkeit und Außergesetzlichkeit noch vergrößerte Spannung. Hier das Gefühl müder Sattigkeit, der Zerstreutheit, mechanischer Liebesgewohnheit; Resignation, hervorgerufen durch Sorgen aller Art; Selbstliebe; müde Spannungslosigkeit oder gespannte Übermüdung; nicht das Jauchzen des Soldaten, der in den Krieg zieht, sondern das verhaltene Ächzen des Soldaten, der im Krieg steht",141 Nicht die „immanente Korruption des Ehestandes", wie die Vertreter der „freien Liebe" meinen, ist Michels zufolge für diese Veralltäglichung der Liebesbeziehung, für den notwendigen „Übergang aus der Phase der Poesie in die Phase der Prosa" verantwortlich zu machen, sondern „psycho-physiologische" Wirkungen der dauerhaften Zweierbeziehung schlechthin. Dem kann sich die „wilde Ehe" ebensowenig entziehen wie die „legitime Ehe". Die Hoffnung auf den „Wechsel in der Liebe" bemächtigt sich der Individuen, weil sie ihn als eine Umkehr des Alterungsprozesses erleben, als „ein

139 Grenzen, S. 102. 140 Grenzen, S. 96, 97. 141 Grenzen, S. 95. Meine Hervorhebung.

II.2. Erotik, Feminismus und neue Sexualmoral

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psychophysiologisches Gesundbad". „Wer deshalb nur nach einem Leben voller Poesie lechzt, der entsage der Ehe" zugunsten einer „Aufeinanderfolge von [...] Liebesgeschichten": „Sein Himmel wird stets voller Geigen hängen [...]; ewig verliebt, wird er ein törichtes und sozial nutzloses, aber individuell herrliches Leben verbringen". Wie sich im Spott dieser Zeilen schon andeutet, spricht sich Michels bei aller Liberalität und Akzeptanz der Pluralität von Lebensformen doch deutlich für die Ehe als Lebensgemeinschaft von Mann und Frau aus und versteht seine Sexualpädagogik nicht zuletzt auch im Dienste einer „Schärfung des Verantwortlichkeitsgefühls".142 Gleichzeitig aber mag es verwundern, daß das Ideal der „monogamen und unzertrennlichen Familie" als ein „sittliches Ziel" bezeichnet wird, das „gewiß [!] niemals erreicht werden wird".143 Die Ehe, und zwar die Ehe gleichberechtigter Partner, um die es Michels in dem Buch geht, scheint für den Autor um 1911 eine Art Utopie geworden zu sein. Die Skepsis hinsichtlich der Realisierbarkeit des Ideals läßt darauf schließen, daß sich um 1911 die Fronten in der Sexualreformdebatte ziemlich verschoben haben. Der Kampf gegen die Ehe als „offiziell konzessionierte Notzuchtanstalt" ist noch l ängst nicht ausgefochten, da beschäftigt bereits eine ganz anders geartete Problemlage die Gemüter: der „Prozeß der Dissolvierung der Ehe".144

6. Individualisierung Auch dies ist ein Thema der Sexualreformdebatte um 1900, die das ambivalente Erbe der romantischen Liebe zu verwalten hat: diese hat rationale Beweggründe aller Art, seien es politische, wirtschaftliche oder ständische Interessen, als Basis der Eheschließung delegitimiert und im Widerspruch zur allein die Ehe legitimierenden Instanz des Gefühls gedacht - und damit der Ehe ein zwar ohne Zweifel authentisches, aber eben auch sehr wackliges Fundament gegeben, insofern die Liebe als letzter verbliebener Grund der Ehe immer das letzte Wort haben muß, auch gegen den Partner.14' „Bis zum Pianissimo des höchsten Alters" ist die Ehe dagegen nur zu haben, wenn, wie Max Webers Diagnose in diesem Kontext lautet, die „rein erotische Sphäre" mit einer ihr „heterogenen Kategorie der Beziehung": der „ethischen Verantwortlichkeit für einander", verknüpft wird. Die Appelle an das Verantwortungsgefühl sind im Diskurskontext der Jahrhundertwende gleichsam als ein Reflexivwerden der ehelichen Solidaritätszumutung zu verstehen, d. h. die postsakramentale Begründung der Ehe steht in einem polemischen

142 143 144 145

Grenzen, S. 128. Grenzen, S. VIII. Grenzen, S. 128, Fußnote 1). Vgl. hierzu Karl-Otto Hondrich, Missionarinnen im Kampf der Kulturen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 223, 25.9.2003, S. 9: „Die westliche Gesellschaft baut ihre Familien, von denen der Fortbestand des sozialen Lebens abhängt, auf die flüchtigsten Gefühle - das Beständig ste auf das Vergänglichste, das Alltägliche auf das Außeralltägliche, das Reale auf das Romantische: die Liebe."

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II. Robert Michels' politische Struktur- und Sittenkritik des Kaiserreiches

Kontext von unterschiedlichen Lebensentwürfen, in dem nichts mehr selbstverständlich ist. Der Verantwortungsdiskurs indiziert ein Fragwürdigwerden bewährter Muster der sozialen Integration und damit eine fundamentale Problemlage der „klassischen Moderne": Individualisierung. Der Ort, an dem Individualisierungsprozesse heute 146 wie schon in der „klassischen Moderne" festgemacht werden, sind die Geschlechterbeziehungen. Wenn heute mit Begriffen wie „Monogamie auf Zeit" oder „Lebensabschnittspartnerschaft" der Wandel von der bis zum Tode verewigt gedachten zur verzeitlichten Partnerschaft 147 auf den Begriff gebracht wird, dann befinden wir uns in einer Diskussion, die von Autoren der Jahrhundertwende initiiert worden ist. So hat bereits Helene Lange das Aufkommen der Frauenbewegung als Konsequenz eines tieferliegenden Strukturwandels gedeutet, als sie dem Kampf u m die Gleichberechtigung der Frau die Funktion zuschrieb, den „Prozeß der Individualisierung zu einem Abschluß zu bringen". 148 Worin dieser Abschluß allerdings bestehen soll, ist damals wie heute schwer auszumachen. Individualisierung ist schon um 1900 nicht einsinnig als Überwindung der patriarchalischen Familienstruktur zugunsten eines gleichberechtigten Aushandelns individueller Geltungsansprüche der Eheleute zu deuten. Georg Simmel, der mit seiner Theorie sozialer Differenzierung und der damit einhergehenden Überschreitung, Kreuzung und Rekombination „sozialer Kreise" als erster ein soziologisches Deutungs146 Der Begriff „Individualisierung" ist gewiß mißverständlich, weil er auch ein gesellschaftlicher Trendbegriff des ausgehenden 20. Jahrhunderts gewesen ist, mal als modische Selbstbeschreibung, mal als polemischer Begriff: einmal nämlich fungierte er als Chiffre für ein als epochal apostrophiertes Selbstverständnis, wonach die Menschen „individueller", also einzigartiger und unverwechselbarer bzw. auch: „freier", „flexibler" und „ungebundener" würden, dann aber, auf der neokulturkritischen Kehrseite des Diskurses über „Individualisierung", musste der Begriff dafür herhalten, daß die Menschen ich-bezogener und egoistischer geworden seien. In soziologischer Perspektive hat der Begriff dagegen nach wie vor einen heuristisch wertvollen Kern, der auch seine Rückprojizierung auf die Debatte um „1900" erlaubt. „Individualisierung" meint nämlich einen Strukturwandel der gesellschaftlichen Synthesis: ihre Umstellung von Herkunfts- zu Wahlbindungen. Das ist kein beliebiger Vorgang. Der Individualisierungstheorie zufolge entfallt die Tradition als legitimer Bezugspunkt der Lebensführung und das Individuum muß den Wertebezug wie den Modus seiner Lebensführung nunmehr selbst wählen. Dabei kann es auch die Tradition wählen. Die Bewertung der so verstandenen Individualisierung bleibt ambivalent: mal werden die „riskanten Entscheidungen" betont, die das Individuum zu treffen hat, mal wird in freiheitsoptimistischer Lesart konstatiert, daß nunmehr alles, oder doch vieles, „ausgehandelt" werden könne und damit die Enttraditionalisierung der individuellen Gestaltungsräume auf ihre Vergrößerung hinauslaufe. Insofern aber „Individualisierung" als Signum des Neuen, einer „zweiten Moderne" etwa, präsentiert wird, zeigt sich die historische Vergeßlichkeit solcher Diagnosen. Individualisierung ist bereits das Thema der „klassischen Moderne" - der Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft hat ihm allenfalls neue Facetten hinzugefügt: die neue Mobilität des „Job-hoppers" etwa und das Schwinden der Bedeutung von Arbeitsbiographien für die soziale Identität. 147 Vgl. Sven Papcke, Warum trennen sich bloß alle? Paarbildung in der posttraditionalen Gesellschaft, in: Merkur, Heft 5, Mai 2001, S. 443-447. 148 Helene Lange, Die Frauenbewegung in ihren modernen Problemen, Leipzig 1908, S. 19.

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modell für Individualisierungsprozesse formuliert hat, sieht mit dem Wandel der sozialen Beziehungen keineswegs nur die tradierte Form der Ehe in Frage gestellt, sondern die dauerhafte Zweierbeziehung schlechthin: Das „Zusammenpassen zweier Individuen" werde immer fraglicher und seltener: „die abnehmende Heiratsfrequenz, die sich allenthalben in sehr verfeinerten Kulturkreisen findet, ist sicher teilweise dadurch veranlaßt, daß äußerst differenzierte Menschen überhaupt schwer die völlig sympathische Ergänzung ihrer selbst finden".149 Ähnlich bemerkt Robert Michels als ein Grundproblem der Ehe, daß sie nur noch ein Arrangement auf Zeit sei, weil nicht vorauszusehen sei, „in welcher Richtung sich die unausbleibliche Veränderung der Gatten vollziehen wird. Der Mensch entwickelt sich auch in der Ehe weiter [...] Es wäre naiv, anzunehmen, daß der Moment des Eheschlusses den Abschluß des Sexualempfindungslebens bedeute". Für die Frau - die zu jener Zeit meist noch sehr jung in den Stand der Ehe tritt - , sei „die Ehe häufig nicht stazione d'arrivo, sondern stazione di partenza, für den Mann meist stazione di passaggio". Aufgrund der dramatischen Wandlungsfähigkeit des „Liebesideals", also der Tatsache, „daß wir es bei ein und demselben Menschen mit je nach der Phase seines Lebens verschiedenen geistigen und geschlechtlichen Persönlichkeiten zu tun haben", schlußfolgert er: „Es ist deshalb grausam, die letzteren [Persönlichkeiten] für die von ersteren begangenen Verfehlungen verantwortlich zu machen und zeit ihres Lebens für sie leiden zu lassen".150 Michels hat damit - trotz seines Ideals der lebenslangen Verantwortungspartnerschaft zunächst einmal die „Lebensabschnittspartnerschaft" biographietheoretisch legitimiert: die Solidarität und gegenseitige Verantwortung, die jede Partnerschaft, ob ehelich oder unehelich, von den Liebenden auch in Zeiten der Krise abfordert, läuft ins Leere, weil von einer biographischen Einheit des wandlungsfähigen Subjekts keine Rede sein kann und damit der Adressat von partnerschaftlichen Solidaritätsforderungen ausfällt, weil er gar nicht mehr derselbe sei und mit der Verantwortung von einst nichts mehr ;cu tun habe. Liebe ist bei Michels eine Auswahl aus einer Vielzahl von Bindungsmöglichkeiten: „Vorliebe entsteht erst bei Auswahl. Die Liebe nimmt erst höhere Formen an, wenn die Möglichkeit der Wahl gegeben ist".151 In der Tönniesschen Begrifflichkeit formuliert, hat Michels damit die Liebe zwischen Mann und Frau nicht in der „Gemeinschaft", sondern in der „Gesellschaft" verortet; d. h. die Ehe beruht nicht auf dem „Wesenwillen", sondern dem „Kürwillen" der Akteure, namentlich auf der von Tönnies thematisierten zweiten Stufe der drei „Gestaltungen" des Kürwillens: dem „Belieben".152 Während der Kürwille bei Tönnies durch eine Reflexivität des Handelns gekennzeichnet ist, also durch die Trennung von Denken und Handeln zugunsten von Zweck-Mittel-Kalkulationen und Präferenzabwä149 Georg Simmel, Philosophie des Geldes (1900), Frankfurt a.M. 1989 (= Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 6), S. 521 150 Grenzen, S. 115, 116. 151 Grenzen, S. 11. 152 Vgl. Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, 3. Aufl. Berlin 1920, S. 89 (II. Buch, § 11).

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gungen, aus denen erst der Entschluß zum Handeln folgt, bezeichnet der „Wesenwille" eine ungeschiedene Einheit von Denken und Handeln. Eben dadurch wird der Wesenwille zur nicht-reflexiven, gemeinschaftsbildenden Kraft, die Bindungen um ihrer selbst willen bejaht. Die „Keimformen" des auf dem Wesenwillen beruhenden Gemeinschaftsprinzips sind die Liebe zwischen Mutter und Kind, zwischen Mann und Frau sowie die Geschwisterliebe. Das „ganze Haus" ist bei Tönnies die Urform der Gemeinschaft, die sich auf die politische wie die Sphäre der Produktion übertragen läßt, insofern das Verhältnis des Vaters zu seinen Kindern als ein wechselseitiges Bestimmen und Dienen aufgefaßt wird und analog dazu das Verhältnis des guten Königs gegenüber dem Untertanen oder des Meisters gegenüber dem Knecht gedacht wird. „Gemeinschaft" in all diesen Fällen bezeichnet ein Wechselverhältnis von Ungleichen, das nicht als Folge eines bewußten Entschlusses von Individuen, einer vertraglich begründeten Assoziation etwa, zu denken ist. Vielmehr geht der Gemeinschaftsbegriff von Individuen aus, die sich nicht als selbständige Personen mit privaten Rechts- und Besitzansprüchen wahrnehmen, sondern von vornherein nur als Glieder einer organischen Gemeinschaft. Dichotomisch hebt sich davon der Begriff der „Gesellschaft" ab, in der die Individuen a priori als isolierte aufeinandertreffen und erst über den Tausch von Gütern oder Arbeitskraft in Beziehung treten. Was sie an einander bindet, muß ausgehandelt werden: Der Kontrakt oder die Konvention sind die Integrationsmodi der „Gesellschaft". Die Tönniessche Begriffsoperation ist in diesem Zusammenhang wegen ihrer „Erfolgsgeschichte" von Bedeutung, völlig unabhängig davon, ob die Rezeption der Begriffe auch Tönnies' Intentionen entsprochen hat. Die dichotomische Unterscheidung der beiden Begriffe wird nämlich in Verbindung mit einer verfallsgeschichtlichen Lesart, dem Übergang von der „organischen" Gemeinschaft zur „entfremdeten", „mechanischen" Gesellschaft zum dominanten Topos kulturkritischer und antimodernistischer Gegenwartsdiagnosen. 153 In diesem geistesgeschichtlichen Kontext fallt es umso mehr auf, daß sich bei Robert Michels nicht die Spur des modernekritischen Problembewußtseins des Gemeinschaftsdiskurses und seiner neoidealistischen Grundpositionen findet. Das wird in seinem Buch zur „Geschlechtsmoral" besonders deutlich: Normativer Ausgangspunkt ist der radikale Individualismus, wonach der „der zivilisierte Mensch [...] ein Recht auf sich selbst" habe.154 Daraus resultiert, daß Michels die Institution der Ehe im Modus kontraktualer Vergesellschaftung denkt, also dem Vergesellschaftungsprinzip par excellence: dem Vertrag. Michels ist dabei von der neoidealistischen Konfiguration des „Gemeinschafits"-Diskurses sogar so weit entfernt, daß sich seine Position strenggenommen gar nicht innerhalb der Dichotomie von „Gesellschaft" und „Gemeinschaft" darstellen läßt, weil letztere für ihn noch nicht einmal als Objekt der theoretischen Abgrenzung taugt. Der Gegensatz zur als „höhere" Liebe ausgezeichneten Wahl-Bindung ist bei ihm 153 Vgl. zu Inhalt und Nebenwirkung von Tönnies ' Hauptwerk René König, Ferdinand Tönnies, in: ders., Soziologie in Deutschland. Begründer/Verächter/Verfechter, München/Wien 1987, S. 122197, S. 178f. 154 Grenzen, S. 179.

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nämlich die „primitive Liebe", die allein in „der Geschlechtsverschiedenheit und der daraus resultierenden Anziehungskraft" wurzelt.155 Auf der Folie der Tönniesschen Dichotomie läßt sich diese Michelssche Unterscheidung von „höherer" und „primi tiver" Liebe allenfalls abbilden, wenn man daran denkt, daß der „primitive" Sexualinstinkt bei Tönnies als biologisches Substrat des in der Natürlichkeit wurzelnden Wesenwillens fungiert. Mag dieser auch auf seiner höchsten Stufe zur ergänzenden ideal-gemeinschaftlichen Einheit von männlichem und weiblichem Prinzip führen, so ist bei Tönnies' biologischer Fundierung des Wesenwillens doch immer die Möglichkeit gegeben, daß das Verhältnis zwischen Mann und Frau am instinktgeleiteten Anfang eines der Unteijochung ist. Die den beiden Geschlechtern von Tönnies ganz im Einklang mit dem dominierenden Geschlechtsstereotypen der Zeit156 zugeschriebenen Qualitäten - der Mann als aktiver, rationaler, starker und herrschender Typus, die Frau als passiver, emotionaler, schwacher und sich unterordnender Typus - schließen diese Möglichkeit explizit ein. Abgesehen von seiner schon semantischen Distanz zum Gemeinschaftsdiskurs, der gerade in der Tönniesschen Gegenüberstellung zum Gesellschaftsprinzip um die Jahrhundertwende als kulturpessimistische Verfallsgeschichte zu einem Deutungsmuster des fin de siècle avanciert, läßt sich Michels insbesondere auch als Antipode zu den geschlechtsspezifischen Implikationen der Tönniesschen Begriffsoperation lesen. Die Begegnung von Mann und Frau im Modus der Ungleichheit oder sogar der ursprünglichen Unterwerfung ist für Michels zwar faktisch beobachtbar, aber eben normativ nicht zu rechtfertigen. Sein individualistischer Ausgangspunkt, dem der Gedanke an eine Verwirklichung von ,wesensmäßigen' Anlagen der Geschlechter in der organischen Arbeitsteilung des „ganzen Hauses" fremd ist, mündet folgerichtig in einer Reformulierung des Geschlechterverhältnisses anhand der Leitmaximen der Gleichheit, der Fairneß und der Reziprozität, womit sich Michels explizit in die Tradition des vernunftrechtlichen Kontraktualismus Immanuel Kants stellt: „Die konkrete Geschlechtsliebe aber muß auf ihre Berechtigung hin erst am Gradmesser des kategorischen Imperativs gemessen werden [...] die Geschlechtsliebe darf, da sie zwei Personen betrifft, nicht in der Ausnützung der einen durch die andere bestehen. Ihr sind in der Freiwilligkeit beider Teile Schranken gezogen. Danach wäre jeder Geschlechtsgenuß als unsittlich zu betrachten, der unter Verletzung der physischen oder der moralischen Persönlichkeit des Einen vor sich geht".157 Michels' Programm einer Versittlichung des Geschlechterverhältnisses leitet sie Ii aus der Idee der universalen Menschenrechte ab, aus dem „elementaren allgemein menschlichen Sittengesetz [...], das gleiche Behandlung und gleiche Rechte für alle forde)!".158 155 Grenzen, S . l l . 156 Stölting, S. 256 sowie Sidonia Blättler, Der Pöbel, die Frauen etc. Die Massen in der politischen Philosophie des 19. Jahrhunderts, Berlin 1995, S. 14. 157 Michels, Grenzen der Geschlechtsmoral, S. 17. 158 Grenzen, S. 101.

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Wenn er dem hinzufügt, daß die kulturelle Ungleichbehandlung von Mann und Frau nur auf „akzessorischen, nicht in der Wesensverschiedenheit der beiden Geschlechter begründet liegenden Ursachen" basiere, argumentiert er zumindest der Sache nach gegen die polare Geschlechterphilosophie, die zu jener Zeit nicht nur den Antifeminismus159 prägt, sondern - unter anderen Vorzeichen - das dominante Diskursmuster im Spektrum der bürgerlichen Frauenbewegung ist. Wenn Helene Lange etwa davon spricht, „es sollen der Kultur Eigenschaften zu gute kommen, die der Mann nie hatte, hat noch haben kann",160 dann folgt sie dem Leitmotiv einer substantiellen Differenz zwischen einem genuin weiblichen und einem typisch männlichen Charakter. Die charakterologische Bestimmung der Geschlechter hat dabei entwicklungsgeschichtliche Implikationen, die sich besonders plastisch an Georg Simmels geschlechtstheoretischer Deutung des Modernisierungsprozesses ablesen lassen. Simmel hat, in auffälliger Affinität zu Positionen innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung, den Prozeß der Rationalisierung und Intellektualisierung, die fortschreitende Arbeitsteilung und das damit einher gehende Berufsmenschen- und Spezialistentum als einseitige Durchsetzung eines „männlichen Prinzips" dechiffriert, was nicht zuletzt mit der Arbeitsteilung der Geschlechter zusammenhängt: es ist ja der Mann, der in der kapitalistischen Industriemoderne im Zuge des Funktionsverlustes der traditionellen Hauswirtschaft freigesetzt und in den marktbezogenen Produktionsprozeß eingegliedert wird, während die Frauendomäne vorläufig das Haus bleibt. Der Mann erlebt so in der Simmelschen Deutung die Sozialisation zum modernen Individuum, die Frau dagegen hat ihre Verbindung mit dem „Urgrund des Seins" noch nicht gekappt, hat ihre „vordifferentielle Einheit" weitgehend bewahrt. „Aufgrund ihrer ,niedereren' entwicklungsgeschichtlichen Stellung und ihrer reproduktiven Funktionen für die Gattung ragt sie gleichsam wie ein monolithischer Block aus der Vorzeit in die Moderne hinein".161 Ganz ähnlich hatte auch Ferdinand Tönnies den Gegensatz von „Gemeinschaft" und „Gesellschaft" mit dem „psychologischen Gegensatz der Geschlechter" parallelisiert: weibliche Gefiihlskultur und männliche Verstandesleistung sind somit beides: Ausdruck natürlich-biologischer Anlagen und Folge des Dififerenzierungsprozesses. „Es ist eine verbrauchte Wahrheit, umsomehr aber wichtig, als der Niederschlag einer allgemeinen Erfahrung: daß die Weiber durch ihr Gefühl meist sich leiten lassen, die Männer ihrem Verstände folgen. Die Männer sind klüger. Sie allein sind des Rechnens, des ruhigen (abstrakten) Denkens, Überlegens, Kombinierens, der Logik fähig; die Weiber bewegen sich in der Regel nur auf mangelhafte Weise in diesen Bahnen. Also fehlt ihnen die wesentliche Voraussetzung des Kürwillens".162 159 Vgl. Otto Weininger, Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung, Wien/Leipzig 1926 (Erstauflage 1903). 160 Helene Lange, Wissen und sittliche Kultur, Berlin 1903, S. 11. 161 So die Reformulierung Klaus Lichtblaus, in ders., Kulturkrise und Soziologie ..., S. 296. Dort auch die Nachweise für die Simmel-Zitate. 162 Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 119 (II. Buch, § 33).

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Ergo: die Frau ist anders als der Mann kaum zum Gesellschaftsmenschen prädisponiert. Tönnies' Sexualontologie generiert den männlichen und den weiblichen Geschlechtstypus aus archaischen Urerfahrungen der menschlichen Existenz. Wie in der Tierwelt sei der Mann als der „Stärkere und Kämpfer", als „Jäger" und als „Räuber" mit der „Nahrungssorge" beschäftigt, „ist er in die Ferne zu spähen und zu horchen angeregt", und ist sein Charakter damit immer schon durch einen strategischen Bezug zu Welt und Natur sowie durch Aktivitäten außerhalb des Hauses geformt. Tönnies hat so gesehen die allgemeine, geschlechtsunspezifische Sozialanthropologie eines Thomas Hobbes als spezifisch maskuline Charakterontologie reformuliert. Das weibliche Prinzip wiederum ist bei Tönnies eben nicht durch die permanente Antizipation und kalkülrationale Maximierung von Glücksgütern gekennzeichnet, sondern avanciert vielmehr zum Hort neoaristotelischer Glückseligkeit: „Ihrer passiveren, stetigen, in engem Kreise sich bewegenden Tätigkeit gemäß" ist der Weltbezug der Frau einer der „passiven Apperzeption" und damit „empfänglicher und empfindliche:-" für unmittelbare Eindrücke: „lieber das nahe gegenwärtige fortwährende Gute genießend, als nach entferntem zukünftigem seltenem Glücke strebend". Das „unmittelbare Verhältnis zu den Dingen, welches den Wesenwillen bezeichnet" kennzeichnet die Frau als Gemeinschaftswesen, „dem in jedem Bezüge natürlicheren Menschen" kraft seiner „eigentümlichen Wahrhaftigkeit und Naivität, Unmittelbarkeit und Leidenschaftlichkeit". 163 Daraus folgt, daß die „Sphäre des gemeinschaftlichen Lebens und Arbeitens den Frauen vorzüglich angemessen, ja notwendig" und ihnen „das Haus und nicht der Markt [...] natürliche Stätte des Wirkens" sei.164 Der dualistische Geschlechterdiskurs - das zeigt sich bei Tönnies besonders prägnant - ist so gesehen auch immer eine Auseinandersetzung mit den Zumutungen der Moderne und entfaltet so auch eine politische Programmatik. Denn wenn man einmal die Tönniesschen Voraussetzungen teilt, kann die Forderung nach einer universalen Emanzipation der Frau nur Skepsis, ja, Ablehnung hervorrufen. Vom Auszug der Frau aus dem Haus und ihrem Einzug in das Berufsleben wäre demnach alles andere als eine Humanisierung der Moderne und Rücknahme ihrer Entfremdung zu erwarten, sondern vielmehr eine nachholende Maskulinisierung und ergo Rationalisierung von Weiblichkeit: „Das Weib wird aufgeklärt, wird herzenskalt, bewußt. Nichts ist ihrer ursprünglichen, trotz aller erworbenen Modifikationen immer wieder angeborenen Natur fremdartiger, ja schauderhafter. Nichts ist vielleicht für den gesellschaftlichen Bildungs- und den Auflösungsprozeß des gemeinschaftlichen Lebens charakteristischer und bedeutender. Durch diese Entwicklung wird erst der .Individualismus', der Voraussetzung der Gesellschaft ist, zur Wahrheit."165 163 Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 122 (II. Buch, § 34). 164 Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 130 (II. Buch, § 39). 165 Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 134 (II. Buch, § 40). Das Zitat suggeriert eine verfallsgeschichtliche Lesart des Übergangs von der Gemeinschaft zur Gesellschaft, wie sie in der zivilisationspessimistischen Deutung von Tönnies' Werk ja auch anschlußfahig gewesen ist. Es

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Tönnies' polare Geschlechterphilosophie war damit auch in einem antimodernistischen Sinn auslegungsfähig. Dasselbe gilt auch für Georg Simmel.166 Simmel ist aber bereit, die dualistische Konstruktion zweier Geschlechterkulturen zu hinterfragen, wenn er feststellt, daß die Betonung der Differenz sich doch gerade in jenem Zeitraum durchsetzt, als sich die „prinzipielle Andersheit des Seins und Tuns" von Mann und Frau faktisch zu nivellieren beginnt. Und er erörtert daher auch die Frage, ob die sich vollziehende Auflösung der traditionellen Hauswirtschaft und die Integration der Frau in die „objektive Kultur" nicht auch mit positiven Tendenzen einer Bereicherung durch einen spezifisch weiblichen Beitrag zur Kultur einher gehen könne. Daher erfahren seine Überlegungen zur Geschlechterdifferenz in der bürgerlichen Frauenbewegung eine positive Rezeption. So kann Helene Lange schreiben, daß Simmeis' Erörterung der potentiellen Auswirkungen der „weiblichen Kultur" in „exakter Formulierung" festhalte, „was längst, wenn auch vielfach nur intuitiv, die Richtung der Frauenbewegung bestimmte. Und wenn Simmel dann als einzige große objektive Kulturleistung der Frau das Haus hinstellt, ... so hatte aus dieser analytisch gewonnenen Erkenntnis die Frauenbewegung im Grunde ... längst die Synthese gewonnen. Denn es wurde bei der Einheitlichkeit des weiblichen Wesens, bei der Verwurzelung der Frau in der Natur, die sie zur Mutterschaft bereitete und alle ihre Kräfte um diesen Punkt sammelte, immer klarer, daß auch ihr Wirken im Gemeinschaftsleben hier sein Kraftzentrum haben mußte. Daß sie in das Gesamtleben noch einmal alle die Kräfte hineintragen müsse, aus denen sie das Haus schuf und denen bisher in dem männlich durchorganisierten öffentlichen Leben jeder Spielraum fehlte."167 Der im semantischen Feld der „Gemeinschaft" verankerte Weiblichkeitsdiskurs lokalisiert das Wesen der Frau im „Haus" und in der „Natur" und grenzt es so gegenüber dem „männlich durchorganisierten", ergo rationalisierten und intellektualisierten „öffentlichen Leben" bzw. der „Cultur", der „Zivilisation" ab. Diese semantische Konstellation ist in ihrer politischen Auslegung durchaus ambivalent. Man kann damit die Ausschließung der Frau wie auch ihre spezifische Kulturmission begründen. In jedem Fall aber teilt sich in dieser semantischen Konstellation ein mehr oder minder starkes Unbehagen an den Zumutungen der Moderne mit.

muß deshalb fairerweise hinzugefügt werden, daß Tönnies selbst seine Gedanken an dieser Stelle in die Hoffnung münden läßt, daß die „Rekonstruktion gemeinschaftlicher Lebensformen" nicht gegen die Reflexivität in der Gesellschaft, sondern durch ihre Steigerung zum „sittlich-humanen Bewußtsein" vonstatten gehen könnte, d. h. durch die Erkenntnis der „Analogie des Loses der Frauen mit dem Lose des Proletariats". Trotz völlig konträrer weltanschaulicher Voraussetzungen wären sich Tönnies und Michels in diesem Punkt gewiß einig gewesen. 166 Lichtblau, Kulturkrise und Soziologie, S. 305. 167 Helene Lange, Phasen des weiblichen Kulturbewußtseins. Die innere Geschichte der Frauenbewegung, in: Die Frau, Jg. 30 (1923), Heft 11, S. 323-335, S. 334; zit. n. Lichtblau, S. 310.

11.2. Erotik, Feminismus und neue Sexualmoral

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Diese politischen und kulturphilosophischen Implikationen der Geschlechterde batte zu erwähnen, ist für die Analyse der Michelsschen Ideen bedeutsam, weil umgekehrt auch sein Frauenbild in eine tieferliegende Weltanschauung eingebunden ist, die allerdings zum Kulturpessimismus der Zeit auf bemerkenswerte Distanz geht. Ist der ,Jntellectualismus" für die Kulturkritik ein Denunziationsbegriff, so faßt Michels ihn durchweg positiv auf und verteidigt das „intellektuelle Weib" 168 und damit den Anspruch der Frau auf volle Ausbildung ihrer geistigen Fähigkeiten mit scharfem Spott gegen „das sogenannte ,Naturweib'". Dieses sei nämlich das „unpädagogischste Weib", dessen Erziehung wegen des „Mangels an hygienischer, sowie ethischer Anleitung" eine Kette von Fehlern produziere. So Michels, der die Pädagogik nicht dem „Mutterinstinkt" überlassen will, und überdies sich fragt, ob Mangel an Bildung nicht auch die weibliche Autorität in der Familie erodieren lassen müsse: „Die ungebildete Frau bleibt ihren Kindern nicht lange eine Respectsperson, hat sie doch vor der Plötz'schen Grammatik der Tochter, vor der lateinischen Syntax des Sohnes und überhaupt allen .Autoritäten' selber viel zu grossen Respect, als dass die Kinder den ihrigen vor ihr behalten könnten". 169 Die geringere Bildung der Frauen entspreche nicht biologischen Prädispositionen, wie „es sich die fanatischen Stehenbleiber und Rückwärtser unserer sozialen Ordnung einbilden", sondern dem „Intellektualismus des Weibes sind [...] in vielen Fällen schon durch den Egoismus des Mannes Grenzen gezogen". 170 Ebenso spöttisch bedachte er all diejenigen, „welche die Frau im Namen der Cultur bitten, doch nur ja ewig stehen zu bleiben [...], welche die Erhaltung der species nur von einer ,Hausfrau' garantirt sehen und die Zeter und Mordio schreien aus Angst, dass die Frau draussen in der Welt ,verderben' könne". 171 In seiner Abgrenzung vom polaren Geschlechterdiskurs wendet sich Michels auch gegen eine übertriebene Identifizierung der Frau mit der Mutterrolle und verweist auf die paradoxen Konsequenzen dieser Rolle in der „vulgären Ethik": „In der vulgären Ethik spielt die ,Mutterliebe' eine zu große Rolle. Heutzutage ist Sehnsucht nach dem Kinde Trumpf. Ihretwegen wird der Frau alles und jedes verziehen, mag sie sich nun [...] einem ungeliebten Manne um Geld und Geldeswert preisgeben, oder mag sie sich [...] aus Leichtsinn oder unüberlegter Sinnlichkeit dem ersten besten Männchen an den Hals werfen. Sie braucht nur txl einem Kinde gelangen zu wollen, oder [...] es doch, wenn es einmal da ist, tm

168 Grenzen, S. 183. 169 Michels, Das Weib und der Intellectualismus, in: Dokumente der Frauen, Mai 1902, Nr. 4, Bd. 7, S. 106-114. 170 Michels, Grenzen, S. 184, 183. 171 Michels, Intellectualismus, S. 112. Ähnlich wendet er sich in den „Grenzen" (S. 184) gegen „einige männliche Blaustrümpfe", die „wissen wollen, [daß] die Kultur die Frau in ihrer Eigenschaft als Weib verderbe und untauglich mache".

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II. Robert Michels' politische Struktur- und Sittenkritik des Kaiserreiches lieben, so wird ihr von der augenblicklich in der Moderne vorherrschenden Strömung vergeben werden."172

Dem Gedanken, daß sich im Kinderkriegen das Wesen der Frau erfülle, hat Michels eine denkbar klare Absage erteilt. Dahinter stehen im übrigen auch erziehungspragmatische Erwägungen, etwa daß die „Liebe zum Kind [...] oft ungesunde Formen" annehme, weil ihm eine überdimensionierte „Rolle im Hauswesen" eingeräumt werde und es „dasselbe ungestraft völlig auf den Kopf stellen d a r f . Auch befürchtet Michels als Folge einer übertriebenen Mutterrolle, daß neben der notwendigen „Kinderpflege" die Frau zu viel Zeit auf „Spielereien und Verwöhnereien" verwende und wegen all der „überflüssigen Beschäftigung mit den Kindern" als „geistige Kameradin" des Mannes ausfalle.173

7. Die psychologische Innenseite der Emanzipation: Selbstbehauptung Die Frauenfrage zählt in der politischen Publizistik des jungen Michels zu den drei wichtigsten Zeitfragen, die er dem Komplex der „sozialen Frage" subsumiert: namentlich die Gegensätze zwischen den einzelnen Klassen, Rassen und Geschlechtern. Dies in die Sprache politischer Wertüberzeugungen übersetzt, sind der Sozialismus, der Nationalismus im Sinne der nationalen Selbstbestimmung, wie wir noch sehen werden, und der Feminismus die drei gleichberechtigten wie eigenständigen Essentials von Michels' frühem politisch-publizistischen Programm.174 Was diese drei Programmpunkte verbindet, ist der identische normative Bezugspunkt ihrer praktischen Umsetzung: das demokratische Ethos. Der Sozialismus wird an die politische Ordnung der Republik175 gebunden, der Nationalismus an das Selbstbestimmungsrecht der Völker und der Feminismus an die individuelle Autonomie sowie die demokratische Teilhabe am Gemeinwesen. Nur eine den Männern ebenbürtige Ausstattung der Frau mit allen Rechten, insbesondere dem Wahlrecht, gewährleiste die ausdrücklich erwünschte „Teilnahme am nationalen Leben". Und erst mit der vollen politischen Gleichberechtigung vollende sich, wie Michels 1905 in einem Interview meint, die „Demokratisierung der Massen", eine Aufgabe, die freilich auch noch zusätzliche „Erziehungsarbeit" erfordere.176 Der Hinweis auf die Erziehungsarbeit macht auch deutlich: die Emanzipation der Frau aus überkommenen Rollenbildern und aus ihrem soziomoralisch verankerten

172 Michels, Grenzen, S. 189. 173 Grenzen, S. 190f. 174 Vgl. R. Michels, Soziale Bewegungen zwischen Dynamik und Erstarrung. Essays zur Arbeiter-, Frauen- und nationalen Frage, hg. v. Timm Genett, Berlin 2007. 175 Quod erat demonstrandum. Vgl. Kapitel IV.1.3. und IV.2. 176 Vgl. Michels, [Antworten], in: Il voto alla donna? Inchiesta e notizie, Sonderausgabe der „Unione Femminile", Milano 1905, S. 94-98, S. 97: „[...] sono convintissimo, che il dare il diritto di voto alle donne non farà retrocedere, ma progredire l'umanità nel suo sviluppo, e che tanto più presto avverrà questo, quanto più presto si completerà la democratizzazione delle masse."

II.2. Erotik, Feminismus und neue Sexualmoral

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subalternen Verhältnis gegenüber dem Mann ist für Michels kein Ziel, das sich durch einen formalen Rechtsakt allein realisieren ließe. Eine Modernisierung des Bürgerlichen Gesetzbuches 177 allein kann ihm zufolge an den realen Verhältnissen nur wenig ändern. Hierzu bedarf es vielmehr eines völlig neuen Frauentypus. Wie Michels sich Giesen vorstellt, wird an einer Stellungnahme zur Gewalt gegen Frauen deutlich, die wohl auch heute noch mancher Leser und manche Leserin als ketzerisch empfinden wird: „Von Fällen absoluter Wehrlosigkeit abgesehen - [...] - ist die Genotzüchtigte ¡in der an ihr verübten Handlung in irgendeiner Form mitschuldig. Meist ist es die gliederlähmende Feigheit, die sie ihrem Schicksal überliefert. Feigheit aber ist Schuld. Die Schuld mag durch eine unselbständige weibliche Erziehung, durch die künstlich genährte übertriebene Vorstellung von der grenzenlosen physischen Überlegenheit des Mannes sowie die Suggestion, die manches Mädchen vor jedem Mannsbild hat, gemildert werden. Getilgt wird sie dadurch nicht. Geglückte Notzucht setzt bei der Frau einen hochgradigen Mangel an körperlicher und geistiger Widerstandsfähigkeit, an Energie und Selbstverteidigungskunst voraus [...] Man mag trotzdem diesen Frauen das Mitleid nicht versagen, das alle Schwachen verdienen. Aber solche Frauen gehören einem alten Typus, von dem wir hoffen, daß er in der Zukunft immer mehr verschwinden wird, dem Typus der Leiderinnen und Dulderinnen aus Feigheit, derer, die es nicht wagen, ein Joch, das sie erniedrigt, abzuschütteln. Solche Frauen lassen in der Ehe alles über sich ergehen, Schimpf und Schmach, Prügel und Betrug, nicht so sehr aus einem Gefühl tiefer, alles überwindender, alles verstehender Liebe zum Manne, als aus blöder Resignation und jenem Fatalismus, der zwar nicht selbst Böses schafft, weil er nichts zu erschaffen vermag, aber der doch durch seine Passivität allem Bösen Vorschub leistet und deshalb als die kulturwidrigste Mentalität des Menschen angesehen werden muß. Eine freie Frau, wie der moderne Mann sie sich wünschen muß zur stolzen, selbstbewußten, mitschaffenden Gefährtin, die klaren Blickes sich selbst beherrschen und andere in Distanz zu halten gelernt hat, die durch festes Auftreten zu imponieren weiß und ein hochgespanntes Ehrgefühl im Leibe hat, eine solche Frau ist der Gefahr der Notzucht bei Überfällen so gut wie nicht ausgesetzt." 178 Der Typus der „freien Frau" deutet darauf hin, daß sich hinter den Begriffen „Demokratisierung" und „Emanzipation" bei Michels eine sehr anspruchsvolle Vorstellung vom selbstbestimmten und selbstbewußten mündigen Staatsbürger verbirgt. Dessen leicht heroische Züge deuten einerseits auf den zeitgenössischen Diskurskontext vom „neuen Menschen" hin, andererseits aber auch auf die enorme republikanische Erziehungsarbeit, die Michels zufolge auf diesem Gebiet noch zu leisten ist: denn seines

177 Vgl. zur langwierigen Ablösung des Patriarchalismus auch Peter Derleder, Das Jahrhundert des deutschen Familienrechtes, in: Kritische Justiz, Bd. 33, Heft 1, 2000, S. 1-21. 178 Grenzen, S. 90, 91.

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II. Robert Michels' politische Struktur- und Sittenkritik des Kaiserreiches

Erachtens haben unglückliche Umstände der deutschen Nationalstaatsbildung bislang den demokratischen Reifeprozeß der Deutschen verzögert, ja geradezu vereitelt. Damit wenden wir uns Michels' Kritik an der politischen Verfassung und Moral des Kaiserreiches zu.

II.3. „Ein Land aus Stuck" Michels' Kritik an der unvollendeten Modernisierung des Deutschen Reiches „Es gibt in Deutschland keinen Republikanismus außerhalb des sozialistischen [Spektrums]"179 „Der deutsche Sozialismus ist der Erbe der demokratischen und liberalen Traditionen des Landes."180 (Robert Michels 1903)

Es gibt gute Gründe, die Jahre zwischen 1866 und 1878 als Kapitulationsphase des politischen Liberalismus in Deutschland zu bezeichnen. Mit der sogenannten „inneren Reichsgründung" von 1878 nämlich, als die Nationalliberalen für die Sozialistengesetze stimmen und mehrheitlich die Entliberalisierung des politischen Systems mittragen, vollendet sich, was in der Kooperation mit Bismarck nach der Schlacht von Königgrätz 1866 begonnen hat: liberale Verfassungsprinzipien werden suspendiert oder ganz zu den Akten gelegt - zugunsten der nationalen Einheit im preußisch dominierten Machtstaat. Damit nicht genug, vollzieht sich in diesem Kontext auch die „Umwandlung des Nationalismus von einer ,linken' in eine ,rechte' Integrationsideologie".181 An die Stelle des „Liberalnationalismus" mit seinen emanzipatorischen, demokratischen wie antifeudalistischen Sinngehalten tritt der „reichsdeutsche Nationalismus",182 eine Synthese von nationalem Machtstaatsideal, zunehmend expansivem Reichsgedanken und monarchischem Legitimitätsprinzip. Robert Michels hat diese politische wie mentale Transformation im liberalen Bürgertum einmal in einer Skizze familiengeschichtlich exemplifiziert: am frankophilen

179 Michels, Psicologia e statistica delle elezioni generali politiche in Germania (Giugno 1903), in: Riforma Sociale, Vol. XIII, fase. 7, 1903, S. 541-567, S. 552: „Come ho già detto non c'è repubblicanesimo in Germania fuori del socialistico." 180 Michels, Le congrès socialiste de Dresden et sa psychologie, in: L'Humanité Nouvelle. Revue internationale, 7e année, N. 53, S. 740-754, S. 747: „II résulte de tout ce qui précède que le socialisme allemand est l'héritier de tout ce qu'il y a eu de traditions démocratiques et libérales dans le pays." 181 Heinrich-August Winkler, Vom linken zum rechten Nationalismus: Der deutsche Liberalismus in der Krise von 1878/79, in: ders., Liberalismus und Antiliberalismus. Studien zur politischen Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 1979, S. 36-51. 182 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 1849-1914, München 1995, S. 946ff.

II.3. „Ein Land aus Stuck"

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Großvater einerseits und dem im „deutschen Krieg" von 1866 in einer preußischen Division kämpfenden Vater Julius andererseits.183 Der erste deutsche Nationalstaat von 1871 hat den Historikern immer wieder .\nlaß zu Kontroversen gegeben. Einer in den vergangenen zwanzig Jahren stark revidierten184 modernisierungstheoretischen Sicht zufolge, die die Synchronisierung von Industriemoderne und Demokratisierung im Nationalstaat zum normativen Maßstab einer gelungenen Modernisierung erhebt, hat Deutschland auf seinem Weg zur nationalen Einheit im Vergleich zu den westlichen Demokratien einen „verhängnisvollen Sonderweg"185 eingeschlagen, mit weitreichenden Folgen, insofern sich die Präponderanz konservativer, aristokratischer Eliten als Hemmschuh für die Demokratisierung und Ausbildung einer demokratischen politischen Kultur erweisen sollte. Der „Sündenfall des Liberalismus" zur Zeit der „konservativen Wende" von 1878/79 ist nach 1945 so immer wieder auch als eine Weichenstellung für die nationalsozialistische Diktatur verstanden worden. Diese linksliberale, einer kritischen Nationalgeschichtsschreibung verpflichtete Perspektive führte damit einerseits Argumente fort, die von amerikanischen Intellektuellen, namentlich Thorstein Veblen, in Reaktion auf und als Erklärung für den Ersten Weltkrieg erstmals entwickelt worden sind.186 Andererseits läßt sich die These vom deutschen Sonderweg auch als Umwertung eines bereits zur Jahrhundertwende sich etablierenden nationalen Selbstbildes verstehen, das etwa in der Weltkriegspublizistik deutscher Intellektueller zum Ausdruck kam, die aus der Abweichung der deutschen nationalpolitischen „Kultur" von der westlichen „Zivilisation", aus dem „deutschen Weg" eben, die nationale Identität der Deutschen destillierten.187 Seit den achtziger Jahren hat man sich von der Sonderwegsthese zunehmend verabschiedet. Das Kaiserreich gilt seitdem nicht mehr als schlechthin modernisierungsfeindlich, obrigkeitsstaatlich, militaristisch und feudalistisch. So wurde das Sonderwegsadom, daß der erste deutsche Nationalstaat essentiell durch ein „Defizit an Bürgerliclikeit" gekennzeichnet gewesen sei, im Zuge der neueren Bürgertumsforschung tendenziell fallengelassen, zugunsten der konträren These einer Verbürgerlichung von Gesellschaft, Recht und Kultur. Die illiberalen Elemente des Gesellschafts- und Herrschaftssystems

183 Michels' Vater Julius hatte dabei an der Besetzung Kassels teilgenommen. Diese Episocie und andere finden sich in R. Michels, [Mio bisnonno era stato francofilo], in: Appunti di Roberto Michels, ARMFE, einer vermutlich in den dreißiger Jahren verfaßten Familienskizze über den rheinisch-liberalen, frankophilen Großvater Peter und den mit der Tradition brechenden, „prussifizierten" Vater Julius. 184 Zum Forschungsstand vgl. Thomas Kühne, Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918 und seine politische Kultur: Demokratisierung, Segmentierung, Militarisierung, in: Neue Politische Literatur, Jg. 43, 1998, S. 206-263. 185 Hans-Ulrich Wehler, Das deutsche Kaiserreich 1871-1918, Göttingen 1988 ( 1973), S. 11. 186 Hans Joas, Die Sozialwissenschaften und der Erste Weltkrieg: eine vergleichende Analy se, in: Wolfgang J. Mommsen (Hg.), Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996, S. 17-29. 187 Vgl. dazu Bernd Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980.

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II. Robert Michels' politische Struktur- und Sittenkritik des Kaiserreiches

wurden in komparatistischer Perspektive formalisiert'. In dieser Sicht nämlich schienen die Schwäche des Liberalismus und die Beharrungskräfte obrigkeitsstaatlicher Strukturen kein exklusiv deutsches Phänomen zu sein, sondern eher eine westeuropäische Gemeinsamkeit. Die Geschichte des Kaiserreiches läßt sich so gesehen auch nicht mehr als eine Geschichte der halbierten Modernisierung, der Verspätung (Nationalstaat) und des Mangels (Demokratisierung) sowie der Prädominanz traditionaler Eliten und ihrer Wertmuster lesen, die erst mit der sozialen Revolution der nationalsozialistischen Zeit beendet worden sei und gleichzeitig die nationalsozialistische Diktatur vorbereitet habe.188 Anstelle der einen auf ,1933' hinauslaufenden Kontinuitätshypothese hat die Kaiserreichsforschung somit ein vielschichtiges Feld von Entwicklungsdynamiken und -potentialen entdeckt. Das Pendel der Bewertung hat sich von der These einer „sozialen Feudalisierung des deutschen Bürgertums"189 abgewandt und ist in Richtung der - nicht minder pauschalen - Gegenthese ausgeschlagen, daß Deutschland sehr wohl seine „bürgerliche Revolution" gehabt habe - in Gestalt der Bismarckschen „Revolution von oben", die zwischen 1864 und 1871 den modernen bürgerlichen Klassen- und Nationalstaat durchgesetzt hat.190 Die Sonderwegsthese hat, insofern sie das Kaiserreich als Hort der Vormoderne und der Feudalisierung interpretierte, zahlreiche Einschränkungen und Widerlegungen erfahren, die sie in dieser Form unhaltbar erscheinen lassen. Einerseits nämlich hat sich der Adel bereits seit den preußischen Reformen im 19. Jahrhundert einer Modernisierung unterziehen müssen, infolge derer er zu einer Großagrarierklasse mit privilegierten Zugriff auf den zivilen und militärischen Staatsapparat wurde. Und andererseits hat die „bürgerliche Kultur" dem Kaiserreich so sehr ihren Stempel aufgedrückt, daß man inzwischen von einer allgemeinen Tendenz von Verbürgerlichung von Gesellschaft und Kultur zu sprechen geneigt ist, die gleichermaßen auf die adlige Schicht wie auch die Unterschicht ausstrahlte. Schaut man auf das Rechtssystem, die Verwaltung, insbesondere der Kommunen, sowie das Bildungs- und Wissenschaftssystem, so hatten sich bürgerliches Rechts- und Leistungsdenken sowie sein Bildungspathos sozial durchgesetzt. Die heute insgesamt differenziertere Wahrnehmung des Reiches darf aber über eines nicht hinwegtäuschen. In einem Kern ist die Sonderwegsthese erhalten geblieben: im politischen Institutionengefuge, insbesondere was die Stellung des Reichstages betrifft, war die Handschrift des politischen Liberalismus kaum zu erkennen. Wer an einem nor-

188 Vgl. Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965, S. 447. Vgl. auch S. 432: „Der Nationalsozialismus hat für Deutschland die [...] durch die Wirrnisse der Weimarer Republik aufgehaltene soziale Revolution vollzogen". 189 Arno J. Mayer, Adelsmacht und Bürgertum. Die Krise der europäischen Gesellschaft 1848— 1914, München 1988 (1981), S. 100. Mayers Buch ließe sich allerdings auch als Relativierung der deutschen Sonderwegsthese lesen, insofern er eine Anpassung des Bürgertums an die aristokratische Kultur und eine soziokulturelle Dominanz des Adels bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs als Charakteristikum der europäischen Gesellschaften insgesamt behauptet. 190 David Blackbourn/GeofF Eley, Mythen deutscher Geschichtsschreibung, Berlin 1980. Vgl. auch die Kritik und Verteidigung der Sonderwegsthese von Heinrich August Winkler, Der deutsche Sonderweg: Eine Nachlese, in: Merkur Nr. 8, 1981, S. 793-804.

II.3. „Ein Land aus Stuck"

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mativen Begriff von liberaler Bürgerlichkeit festhält, wird auch weiterhin die ausgebliebene Parlamentarisierung als Mangel an Modernität, oder präziser: an Liberalität werten. Robert Michels hat dem deutschen Bürgertum eben dies in einer Reihe von Aufsätzen vorgeworfen: daß es auf die Parlamentarisierung des Nationalstaates verachtet und die Idee der Nation von der Idee der Republik entkoppelt habe. Die Identifikation von Nation und autoritärem Machtstaat ist in seinen Augen der Sündenfall des Lieberalismus. Michels hat dabei dem Bürgertum nicht nur einen Verrat an den Werten des politischen Liberalismus vorgeworfen, sondern auch eine historische Verirrung auf dem Pfad der Moderne, der doch beides: die ökonomische und die politische Emanzipation des Bürgertums vorschreibe. Deutschland dagegen stehe nur ökonomisch an der Spitze des Fortschritts, politisch habe es den Bruch mit der Adelsmacht versäumt. Die Durchsetzung des Industriekapitalismus ohne die Durchsetzung der Parlamentsherrschaft das ist für den jungen Michels der zentrale Widerspruch des deutschen Nationalstaats. Michels hat damit, wie im folgenden zu zeigen sein wird, das Kaiserreich nicht nur aus einer implizit modernisierungstheoretischen Grundannahme analysiert, er hat auch in nuce die These vom deutschen Sonderweg vorweggenommen, insofern er das Kaiserreich als Sonderfall vom Normalfall der den politischen Standards der Industriemoderne eher genügenden westlichen Ländern abgrenzt. Für die politische Einordnung des jungen Michels ergibt sich daraus ein neues Bild: die Physiognomie eines radikclliberalen Intellektuellen - radikal insofern, als seine Forderung nach einer Parlamentarisierung des Kaiserreiches eine geradezu umstürzlerische Position gewesen ist und praktisch auf eine Machtprobe mit der Reichsleitung hinausgelaufen wäre, die den meisten Reichstagsabgeordneten einschließlich der Sozialdemokraten undenkbar erschien. Beim Nachweis dieser Thesen stütze ich mich vor allem auf Michels' Schilderungen der deutschen Politik in italienischen Zeitschriften, namentlich in der „Riforma Sociale" von Luigi Einaudi, die in der deutschsprachigen und angelsächsischen Michels-Forschung bislang keine Rolle gespielt haben. 191 Dazu zählt auch Napoleone Colajannis republikanische Zeitschrift „Rivista popolare", in der Michels 1908 die Widersprüche des Deutschen Kaiserreiches wie folgt darlegt: „Die Antinomie des heutigen Deutschland besteht genau darin: daß seinem äußerst fortgeschrittenen und zivilen Wirtschaftsleben überhaupt keine adäquate politische Form korrespondiert [...] Deutschland, das am ausgeprägtesten kapitalistische und industrialisierte Land unter den Staaten des europäischen Kon:inents [...] ist auf konstitutionellem Gebiet ein fast mittelalterlicher Verband geblieben, in dem sich die absolute Macht der Dynastie, gestützt auf eine Schar von

191 Allein Pino Ferraris (a.a.O.) hat bislang die These vertreten, daß die „rottura politica", d. h. die demokratische Transformation der Reichsinstitutionen ein zentraler Programmpunkt des Politikers Michels gewesen ist und daß aus diesem Grund das in der Forschung dominierende Bild von Michels als eines rousseauistischen Anhängers der „democrazia pura illusoria" revidiert werden müsse.

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II. Robert Michels' politische Struktur- und Sittenkritik des Kaiserreiches Land- und Schwertadligen, gegenüber einem Pseudoparlament ohne Prärogativen und Kompetenzen als Herr aufspielt."192

In Deutschland, und deshalb sei das Land für Soziologen wie für die „amateurs de curiosité" im allgemeinen so interessant, ist die „logische Konsequenz" des bürgerlichen Industrie- und Finanzregimes, die politische Herrschaft des Bürgertums, ausgeblieben: „[...] das deutsche Reich ist zweifellos als die Negation eines der Eckpunkte der marxistischen Theorie zu betrachten".193 Die politisch unvollendete Modernisierung Deutschlands findet bei Michels ihren Ausdruck darin, daß das Bürgertum weder die politische Macht übernommen hat noch daran interessiert zu sein scheint, die Machtfrage überhaupt zu stellen. Mit einem Blick auf die „rückständige und ,absolutistische' Verfassung" des Deutschen Reiches kommt Michels zu dem Schluß: „Das deutsche Bürgertum hat nicht den Platz erobern können, den ihm der moderne Industrialismus zuweist. Matt, schwätzerisch und vor allem phrasenhaft, mangelt es ihm an Mut, dem Feudalismus ein Ende zu setzen und seine Emanzipation als Klasse zu erkämpfen. Die politische Suprematie überlassen sie dem Adel und fordern allein die Finanzherrschaft über das Vaterland und, wenn möglich, über die Welt".194

1. Reichsverfassung, Reichstagsfraktionen und das liberalrepublikanische Erbe Die Rückständigkeit der Reichsverfassung besteht in Michels' Analyse in der relativen Machtlosigkeit des Parlaments. Diese äußere sich darin, daß die Regierung weder aus seinen Reihen heraus gebildet noch von ihm kontrolliert wird, sondern die Minister von der Dynastie eingesetzt werden und allein ihr verantwortlich sind. Die deutsche Ver192 Michels, Guglielmo II e il popolo tedesco, in: Rivista Popolare di Politica, Lettere e Scienze Sociali, Anno XIV, No. 24, 31. Dezember 1908, S. 659-662: „L'antinomia della Germania d'oggigiorno consiste appunto in questo: che alla sua vita economica progreditissima e civilissima non corrisponde affatto una forma politica adeguata. [...] la Germania, il paese più spiccatamente capitalistico ed industrializzato tra gli Stati del continente Europeo [...] è rimasta, nel campo costituzionale, un Ente quasi medievale, in cui di fronte ad un pseudo-parlamento senza prerogative e senza competenze continua a spadroneggiare il potere assoluto del dinastia appoggiato su una schiera di nobilotti di campagna e della spada" (659). 193 Michels, Guglielmo II..., S. 660: „[...] l'Impero Germanico è senza dubbio da considerarsi come la negazione di uno dei caposaldi della teoria marxista". 194 Michels, Psicologia e statistica delle elezioni generali politiche in Germania (Giugno 1903), in: Riforma Sociale, Vol. XIII, fase. 7, 1903, S. 541-567, S. 550: „La borghesia germanica non ha saputo conquistarsi il posto che l'industrialismo moderno le indica. Fiacca, pettegola, ed anzitutto parolaia non ha il coraggio sufficiente di metter fine al feudalismo operando la sua emancipazione di classe. Lasciando la supremazia politica alla nobiltà, non domandano altro che il dominio finanziario sulla patria, e, se si può, sull'universo".

II.3. „Ein Land aus Stuck"

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fassung kennt kein parlamentarisches Mißtrauensvotum wie die italienische und keine Regierungsbildung auf der Basis parlamentarischer Mehrheiten, wie die parlamentarische Monarchie Englands. 195 Was die Kompetenzen des Reichstages angelangt, so beschränken sie sich auf das Budgetrecht und die Abstimmung über Gesetzesvorlagen. Die vom Reichstag gebilligten Gesetze aber können jederzeit vom preußisch dominierten Bundesrat wieder kassiert werden. Gerade in der Zusammensetzung dieses föderativen Gremiums mit seiner Vetokompetenz gegenüber den Entscheidungen des Reichstages manifestiere sich die Prädominanz des Adels im politischen Entscheidungsprozeß, da die Bundesratsmitglieder Mandatäre der Fürstentümer des Reiches sind. Aufgrund der preußischen Dominanz sei der Bundesrat zudem praktisch „ein Instrument der Regierung gegen den Volkswillen".196 Für den Fall, daß dieses Instrument versagen sollte, läge die Letztentscheidungskompetenz ohnehin beim preußischen Monarchen und deutschen Kaiser, ohne dessen Billigung keine Vorlage Gesetzeskraft erlangen kann. Er hat zudem das Auflösungsrecht über den Reichstag und die Entscheidung über den Ernstfall sowie den Ausnahmezustand. 197 Michels' Analyse der Reichsverfassung wird der Historiker kaum widersprechen können, außer in dem einen Punkt, den Michels unterschlägt: die Reichsleitung war von Mehrheiten in der Legislative keineswegs unabhängig. Denn ebenso wie Entscheidungen des Reichstages von den monarchisch-aristokratisch geprägten Reichsinstitutionen kassiert werden konnten, konnte der Reichstag Gesetzesvorhaben der Reichsleitung blockieren. Nicht zuletzt aufgrund einer stetig steigenden Beteiligung der Bürger an den Reichstagswahlen hatte der Reichstag als demokratisch gewähltes Repräsentationsorgan um die Jahrhundertwende erheblich an politischem Gewicht gewonnen. Michels dagegen beleuchtet die prinzipielle Machtverteilung, wie sie sich etwa in der Reichstagsauflösungspraxis auch in aller Deutlichkeit gezeigt hat (1878, 1887, 1893, 1907). „Es ist offensichtlich", folgert Michels daher, daß die „Verfassung des Reiches keinen freien Ausdruck der Kräfte der Nation erlaubt, wie es in Ländern möglich ist, die mit einem System des wahren Parlamentarismus regiert werden". 198 „In den anderen Ländern", und Michels nennt hier neben der parlamentarischen Monarchie Englands die „republikanischen Systeme" Frankreich, Schweiz und USA sowie die „konstitutionellen Monarchien" wie u. a. Dänemark, Holland und Italien, „provoziert der Konflikt zwischen den Kammern und der Regierung in der Regel einen Regierungswechsel, die Minister reichen die Demission ein [...] In Deutschland käme ein solcher Vorgang einem subversiven Akt gleich. In Deutschland

195 196 197 198

Psicologia e statistica, S. 542. Psicologia e statistica, S. 542. Psicologia e statistica, S. 542. Meine Hervorhebung. Vgl. das Original (Michels, Psicologia ..., S. 543): „È evidente che la summenzionata costituzione legale dell'Impero non permette affatto il libero spiegarsi delle forze della nazione come succede appunto in paesi governati col sistema del vero parlamentarismo".

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II. Robert Michels' politische Struktur- und Sittenkritik des Kaiserreiches läßt der Konflikt zwischen Volk und Krone das Kabinett auf seinem Posten und es folgt der Sturz des Parlaments, das aufgelöst wird."199

Kompensiert werde die parlamentarische Rückständigkeit der führenden Industrienation allein durch das gleiche Reichstagswahlrecht für alle Männer ab 25 Jahren. Der Verzicht auf Bildungsschranken und Zensusabstufungen im Wahlrecht habe zur Folge, daß das deutsche Parlament weitaus adäquater die Volksmeinung repräsentiere als andere Parlamente, wie etwa das mächtigere italienische. Allerdings bemängelt Michels in diesem Zusammenhang den permanenten Verstoß gegen das Wahlgesetz von 1869, demzufolge ein Reichstagswahlkreis etwa 100.000 Einwohnern entsprechen müsse und bei Bevölkerungsanstieg die Zahl der Abgeordneten zu erhöhen oder eine Neueinteilung der Wahlkreise vorzunehmen sei. Da diese Bestimmung aber nie umgesetzt worden und die alte Einteilung beibehalten worden ist, sei es aufgrund der Bevölkerungszunahme in den industriellen Zentren hier zu einer Entwertung der Stimmen gekommen. Eine Stimme im Wahlkreis Schaumburg-Lippe zählt soviel wie vierzehn Stimmen in Berlin VI: „In seiner Anwendung ist dieses Wahlsystem folglich das ungleicheste, das man sich vorstellen kann". „Die politische Überzeugung" eines Wählers aus SchaumburgLippe „wiegt vierzehn Mal mehr als jene des Berliners".200 Daß der Reichstag trotz der erwähnten Defekte gleichsam Indikator wie Faktor der Fundamentalpolitisierung201 der Gesellschaft gewesen ist, wird von Michels dabei im übrigen nicht übersehen: „Und doch spielt unser Parlament eine große Rolle im Geistesleben der Nation, und zwar, weil es das Theater ist, auf dessen Bühne sich die sozialen Bewegungen und die großen Strömungen des deutschen Geistes offen darstellen. ,Wirf einen Blick auf das deutsche Parlament und du wirst die innersten Nervenfasern erkennen, die die Massen jenes Landes durchdringen', könnte man ohne Emphase sagen. Kein anderes Parlament, außer vielleicht das Englische, spiegelt so wunderbar das Denken und das Leben wider, die Vergangenheit und die Zukunft, das Mittelalter und die Hoffnung eines ganzen Volkes."202

199 Michels, La Vittoria dei Conservatori nelle elezioni germaniche del 1907, in: Riforma Sociale, fase. 2, anno XIV, Vol. XVII, sec. Serie, 1907, Estratto, 21 Seiten, S. 4: „Negli altri paesi sopranumerati lo scoppio di conflitti tra le Camere e il Governo suole di regola provocare un cambiamento di Governo, i ministri dando le dimissioni [...] In Germania una tale cosa sembrerebbe un atto sovversivo. In Germania il conflitto tra popolo e Corono lascia il Ministero als suo posto, ma rovescia la Camera che viene sciolta". 200 Psicologia e statistica, S. 544. 201 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd.3. 1849-1914, München 1995, S. 1039. 202 Psicologia, S. 545: „Eppure il nostro parlamento ha una gran parte nella vita intellettuale della nazione, e ciò perché è il teatro sul palcoscenico del quale si disegnano chiaramente i movementi sociali e le grandi correnti del genio germanico. ,Getta un'occhiata sul parlamento tedesco e tu conoscerai le più intime fibre che pervadono le masse di quel paese', si potrebbe dire senz'enfasi.

II.3. „Ein Land aus Stuck"

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Der doppelte Singular - „die Hoffnung eines ganzen Volkes" - ist in diesem Zusammenhang ein grammatikalischer Fehlgriff. Das gänzlich von „Programmparteien" dominierte Parteiensystem Deutschlands ist nämlich, wie Michels ausdrücklich hinzufügt, entlang vielfaltiger Konfliktlinien „geteilt und fragmentiert"203. Diese Fragmentierung verdeutlicht Michels anhand der verschiedenen Cleavages der Parteienlandschaft, seien sie regionaler,204 konfessioneller,205 weltanschaulicher206 oder nationaler207 Art. Von besonderem Interesse ist für misere Frage seine Charakterisierung der liberalen Parteien. Im Ton schärfster Ablehnung ist sein Kommentar zu den Nationalliberalen gehalten. „Vor 1870 konnte sich diese Partei als deutsche Irredenta bezeichnen. Als die deutsche Einheit vollendet war, wurde sie die Partei der nationalen, kapitalistischen und konfessionellen Unterdrückung". Die „Partei Bismarcks" wurde zum glühenden Verfechter zahlreicher Ausnahmegesetze und „spielte den Protagonisten im Kampf der Regierung gegen die Katholiken im Kulturkampf, dann gegen die Polen und die Sozialisten". „Es ist die Partei des Opportunismus", ungeeignet zur Opposition gegen die Regierung. In der Entwicklung, die die Nationalliberale Partei in den vergangenen dreißig Jahre genommen hat, finden die Prussifizierung und Militarisierung des deutschen Großbürgertums und der politische Substanzverlust des Liberalismus ihren augenfälligsten Ausdruck: „Vom Liberalismus hat sie nur den Namen".208 Die Nationalliberalen rubriziert Michels unter den Sammelbegriff der „moderaten Rechten", um sie von der „subversiven Rechten" (u. a. Deutsche Reichspartei, Deutschkonservative Partei) unterscheiden zu können. Die „subversive" Gesinnung der konservativen Parteien kommt für Michels darin zum Ausdruck, daß ihre politischen Ziele weniger im „status quo" als vielmehr im „status quo ante" wurzeln.209 In ihrer sozialen

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Nessun altro parlamento, meno forse l'Inglese, risplende tanto mervigliosamente nel suo specchio l'anima e la vita, il passato e l'avvenire, il medioevo e la speranza di tutto un popolo". Psicologia, S. 545. Vgl. auch Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 3, S. 1044. Michels bemerkt hier die gegensätzlichen Positionen innerhalb der katholischen Zentrumspartei: in Bayern vertrete sie antimilitaristische Positionen, in Preußen sei sie eine militaristische Pirtei. Die Zentrumspartei kennzeichnet Michels als katholische „Volkspartei", die alle sozialen Schichten, insofern sie katholisch sind, zu integrieren und ihre Interessengegensätze zu harmonisieren vorgibt. In der Post-Kulturkampf- und Nach-Bismarck-Ära haben die Katholiken den Part einer „Regierungspartei" übernommen, nicht ohne sich dabei Verdienste um die Sozialgesetzgebung erworben zu haben. Neben der Konfrontationslinie zwischen Sozialismus und Antisozialismus geht Michels auch auf die Antisemiten ein, die „nur in der Zeit der Wahlen als Partei [existieren], „Sie möchten die Interessen des Kleinbürgertums repräsentieren, aber sie repräsentieren nichts. Gleichermaßen bestechlich wie korrumpierend führen fast alle ihrer Abgeordneten den Rassenkrieg gegen die Juden [...] Politisch und moralisch sind es unreife Leute" (551). Im Reichstag von 1903 sitzen 26 Vertreter der polnischen, elsaß-lothringischen und dänischen Irredenta. Außerhalb des Parlaments haben sich auch irredentische Bewegungen der Litauer, Masuren und Franzosen formiert. Psicologia, S. 550. Psicologia, S. 551.

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II. Robert Michels' politische Struktur- und Sittenkritik des Kaiserreiches

Zusammensetzung seien diese „Feudalherren" zwar das Rekrutierungsreservoir der Regierung und in diesem Sinne Regierungspartei. Politisch dagegen besteht ihre Zielsetzung in der „absoluten Hegemonie der feudalen Oligarchie" und „hassen sie sogar das kleine bißchen an Parlamentarismus, das die modernen Zeiten dem deutschen Volk zugestanden haben".210 „Wenn die Konservativen im Wahlkampf ihr Programm unverhüllt als das präsentieren würden, was es ist, würden sie nur die Stimmen jenes Mikrokosmos erhalten, dessen Namen sich im Gotha'schen Almanach nachlesen lassen".211 Das fundamentale Differenzierungskriterium in Michels' Präsentation der deutschen Parteienlandschaft ist die Frage, welche Affinität bzw. welche Distanz die politischen Gruppierungen zum Liberalismus, insbesondere zur Parlamentarisierung und zu den individuellen Freiheitsrechten aufweisen. Ergänzt wird diese Sortierung der Parteienlandschaft durch die Kriterien des Antimilitarismus und der arbeitnehmerfreundlichen Sozialpolitik. Hieraus resultiert Michels' ambivalentes Urteil über die linksliberalen Parteien. So sei bspw. die Deutsche Freisinnige Partei Theodor Barths ein „Wächter aller verfassungsmäßigen Freiheiten" und trete insbesondere für eine freiheitliche Entwicklung der Arbeiterschaft ein, ja habe sich sogar mit den Sozialdemokraten im Kampf gegen die Schutzzölle auf Weizen verbündet; andererseits aber gehe sie mit der Regierung in militärischen und kolonialen Fragen konform.212 Der jüngsten unter den linksliberalen Parteien, der Nationalsozialen Partei (Friedrich Naumann, Hellmut von Gerlach), kann Michels dagegen gar nichts Positives abgewinnen. In ihrem Ziel eines Bündnisses zwischen Proletariat und Monarchie manifestiert sich Michels zufolge einmal mehr die paradoxe Lage des bürgerlichen Liberalismus, der mit der Abwendung vom Leitmotiv der Republik seine politische Essenz zu Grabe getragen hat. Spöttisch kommentiert er: „Während die Radikalen der anderen [linksliberalen] Gruppen das protestantische Kleinbürgertum vertreten, hat diese sich mit dem Anspruch zu Wort gemeldet, das Proletariat zu repräsentieren und ... den Kaiser. Es sind seltsame Träumer [...]", ihre „politica reale"213 besteht „in dem ideologischen Paradoxon 210 „Persuasi che solamente l'egemonia più assoluta dell'oligarchia feudale possa fare il bene alla patria, odiano siceramente perfino quel po' po' di parlamentarismo che i tempi moderni hanno concesso al popolo tedesco" (Psicologia, S. 549) 211 „Se dicessero il loro programma rondo e tondo tale qual'è non avrebbero che i voti di quel microcosmo di cui si leggono i nomi nell'almanacco di Gotha" (Psicologia, S. 549). Michels dürfte hier auf die Gothaischen Genealogischen Taschenbücher anspielen, welche von 1763 bis 1943 (!) die Fürstenhäuser und den übrigen Adel verzeichneten. 212 Psicologia, S. 552. 213 An dieser Stelle spielt Michels offenbar mit dem doppelten Wortsinn der Worte „reale" (real, königlich) und „realisti" (Realisten, Royalisten). Der ganze Satz, dessen Wortspiel ich aus übersetzungstechnischen Gründen weggelassen habe, lautet: „Mentre i radicali degli altri gruppi rappresentano la piccola borghesia protestante, questo si è fatto vivo colla pretesa di rappresentare il proletariato e ... l'Imperatore. Sono sognatori originali, ma sono realisti quantunque facciano pompa della loro ,politica reale', la quale consiste nel paradossismo ideologico del seguente dogma: l'Imperatore non ama l'aristocrazia e vorebbe governare cogli operai. Ma questi si sono

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des folgenden Dogmas: der Kaiser liebt nicht die Aristokratie und möchte mit den Arbeitern regieren. Aber diese haben sich in den republikanischen Sozialismus hineinziehen lassen. In dem Moment, in dem sie von ihrer Idee einer sozialen Republik ablassen, wird der Kaiser folglich auf ihrer Seite stehen und das Reich des Proletariats und Wilhelms II. wird beginnen". Der Befund dieser Parteienrundschau lautet: ,JLs gibt im deutschen politischen Leben keine extreme bürgerliche Linke wie in Italien [...] Eine antimonarchische und offen antimilitaristische extreme Linke existiert nicht\214 Die politischen Ziele der „extremen bürgerlichen Linken" sieht Michels exklusiv im proletarischen Lager vertreten: „Es gibt in Deutschland keinen Republikanismus außerhalb des sozialistischen [Spektrums]".215 Die Sozialdemokratie, daran läßt Michels keinen Zweifel, ist der designierte Modernisierungsagent des Kaiserreichs, der nachholen soll, woran das Bürgertum seiner geschichtsphilosophischen Mission zum Trotz gescheitert ist: „Der deutsche Sozialismus ist der Erbe der demokratischen und liberalen Traditionen des Landes".216 Auf Michels' dezidiertes Eintreten für einen liberalen Institutionentransfer, seine Kritik des Reiches aus einer linksliberalen Perspektive (Republikanismus und Antimilitarismus), die die Machtfrage gar nicht so sehr klassenkämpferisch-ökonomisch, sondern vielmehr politisch-rechtlich stellt, wird noch einmal zurückzukommen sein, wenn wir den Sozialdemokraten Michels genauer unter die Lupe nehmen. So viel kann an dieser Stelle als Zwischenresümee wie im Vorausblick aber festgehalten werden: als motivierender Faktor spielt die Suche nach einem Erben der liberaldemokratischen Tradition eine ebenso große Rolle für Michels' Eintritt in die Sozialdemokratie wie seine Verankerung im progressiven Sozialdarwinismus und Positivismus der Zeit.217 Und neben der allmählichen Implosion des positivistischen Fortschrittsgedankens wird es der unüberbrückbare Dissens zwischen Michels und der sozialdemokratischen Parteiführung in der Frage nach den praktischen Konsequenzen des Republikanismus wie des Antimilitarismus sein, der 1907 zu Michels' Parteiaustritt führt.218

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lasciati trascinare nel socialismo repubblicano. Dunque nel momento in cui quelli lascieranno le loro idee di repubblica sociale, l'Imperatore sarà con loro ed il regno del proletariato e ... di Guglielmo II. comincierà" (Psicologia, S. 552). Kursive Hervorhebung von mir. Psicologia, S. 551: „Non esiste nella vita politica tedesca una estrema sinistra borghese cotne in Italia [...] Un 'estrema sinistra antimonarchica e schiettamente antimilitarista non esiste". Psicologia, S. 552: „Come ho già detto non c'è repubblicanesimo in Germania fuori del socialistico". Michels, Le congrès socialiste de Dresden et sa psychologie, in: L'Humanité Nouvelle. Revue internationale, 7e année, Ν. 53, S. 740-754, S. 747: „II résulte de tout ce qui précède que le socialisme allemand est l'héritier de tout ce qu'il y a eu de traditions démocratiques et libérales dans le pays." Vgl. auch Michels, I progressi del Repubblicanesimo in Germania", in: Rivista popolare di politica, lettere e scienze sociali, anno IX, Nr. 15, 1903, S. 400-402, S. 401, wo Michels neben dem Antimilitarismus den Republikanismus als Eckpfeiler der sozialistischen Politik bezeichnet. Hierzu ausführlicher Kapitel III. Vgl. das Kapitel „Probelauf für den Weltkrieg".

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Dieses Kapitel kann bei der Rekonstruktion der politischen Beweggründe, die den jungen Michels zum Bruch mit dem Bürgertum veranlaßten, noch einen Baustein hinzufügen: Die Arbeiterbewegung rückt als potentieller Agent einer nachholenden Liberalisierung Deutschlands auch deshalb in Michels' Blickfeld, weil er in ihrer Theorie und Praxis eine neue politische Kultur vermutet. Bevor nämlich Michels als Sozialdemokrat und dann als Soziologe zum selbsternannten ,Psychologen' des Sozialismus wird, versteht er sich als ,Psychologe' des wilhelminischen Bürgertums, dessen Defizite in der politischen Kultur und Mentalität er analysiert.

2. Feudalisierung und Militarisierung: zur Psychologie des Wilhelminischen Bürgertums Was Michels unter der Etikette des in seinen Frühschriften bereits von Beginn an inflationär auftretenden Begriffs „Psychologie" betreibt, ist genaugenommen eine historisch-deskriptive Sozialpsychologie, die man heute eher als politische Kulturforschung bezeichnen würde. Mit ihrer Hilfe sucht er die Frage zu beantworten, warum Deutschland zwar ökonomisch an der Spitze der industriellen Entwicklung steht, politisch aber hinter den Standards der Industriemodeme zurückgeblieben ist. Das ist nicht nur für Marxisten eine harte Nuß, sondern steht im Widerspruch zum Drehbuch der emanzipatorischen Geschichtsphilosophie überhaupt. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, der Umstand, daß die bürgerliche Revolution ökonomisch, aber nicht politisch stattgefunden hat, interpretiert der junge Michels signifikanterweise als Sonderfall der Entwicklung. Auf der Suche nach einer Erklärung für die Abweichung des Modells Deutschland von der Norm beschreitet Michels von Beginn an methodisch eher unmarxistische Wege: die seinen Schriften zugrunde liegende implizite Gesellschaftstheorie behauptet nämlich die relative Selbständigkeit sozialpsychologischer Faktoren, denen Michels als retardierenden Faktoren der Entwicklung von Anfang an einen hohen Stellenwert einräumt. Die liberaldemokratischen Defizite des Kaiserreiches werden von ihm konsequent auf die mentale Lage des Bürgertums, seine Sitten und Gewohnheiten und den darin zum Ausdruck kommenden Wertorientierungen zurückgeführt. In anderen Worten: Die konstitutive Innenseite des scheinkonstitutionellen Systems ist in Michels' frühen Analysen eine demokratisierungsrenitente politische Kultur. Ganz im Gegensatz zu seinen späteren massenpsychologischen Arbeiten ist diese frühe Michelssche Sozialpsychologie, die im folgenden exemplarisch vorgeführt werden soll, nicht am Nachweis eherner Gesetze im kollektiven Handeln interessiert, sondern argumentiert historisch und kontextuell. Die Mentalität des deutschen Bürgertums ist in dieser Perspektive vor allem der Ausdruck der geschichtlichen Lage des deutschen Reiches, der Mangel an einer dominanten demokratischen Nationalkultur ist Folge der Reichsgründung von oben und der Suspendierung des politischen Liberalismus in den bürgerlichen Parteien. Dieser Geburtsfehler des deutschen Nationalstaates hat Michels zufolge weitreichende Auswirkungen auf die politische Sozialisation der Bürger gehabt. Gemessen an der oben skizzierten Forschungskontroverse in der Geschichtswissenschaft über die Bürgerlichkeit

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des Reiches könnte man bei Michels auch von einer sozialpsychologisch fundierten pränatalen Rehabilitierung der Sonderwegsthese sprechen. Seiner Meinung nach steht das Kaiserreich nicht im Zeichen der Verbürgerlichung, sondern vielmehr der Feudalisierung des Bürgers. Die klassische bürgerliche Moderne bestimmt zwar zweifelsfrei die sozialen Standards im Hinblick auf die kapitalistische Wirtschaft, den technischen Fortschritt, die Einheitlichkeit des Rechts und des Währungsraums sowie in der Urbanisierung und den großstädtischen Verkehrsformen. Das alles hat Michels auch nicht angefochten. Wenn er dennoch das Vormodeme und „Mittelalterliche" des deutschen Reiches in polemischer Zuspitzung moniert, dann hat das seinen Grund darin, daß bei Michels die Sphäre der Politik zum Lackmustest auf Bürgerlichkeit schlechthin avanciert. Bürgerlichkeit und politischer Liberalismus fallen bei Michels zusammen. Im Zusammenhang mit diesem normativen wie politikzenmerten Verständnis des Bürgers hätte er gegenüber den Revisionisten der These vom deutschen Sonderweg auch geltend gemacht, daß die mangelnde Bürgerlichkeit und Liberalität der Reichspolitik eng mit kognitiven Defiziten und antiliberalen politischen Bewußtseinsformen korrespondiere, die der Politik ihren habituellen und soziomoralischen Unterbau liefern.219 Das Bürgerlichkeitsdefizit der Reichsverfassung reproduziert sich Michels zufolge insbesondere in der sozialen Wertordnung des Reiches: „Trotzdem wir schon längst im Zeitalter des Industrialismus stehen, haben wir hier in Deutschland doch noch lange nicht den Feudalismus restlos verdaut. [...] Wirtschaftlich schon längst über die Periode des Agrarstaates hinaus, stecken wir gesellschaftlich und politisch immer noch tief in dessen Auffassungen drin. Während in den sozial fortgeschritteneren Ländern, wie in England und Amerika, ja selbst in ökonomisch noch weit hinter uns liegenden Ländern, wie ζ. B. Italien, sich die industrielle Bourgeoisie [...] bis zu einem sehr hohen Grade vom Feudalismus emanzipiert hat und im Staate und in der Gesellschaft die Rolle spielt , welche ihr die heutige Entwicklung des Privatkapitalismus angewiesen hat, ist die roture in Deutschland sozial immer noch nicht faktisch gleichberechtigt. Wenn sie .gesellschaftlich' bei uns überhaupt etwas bedeuten will, dann kann sie das nur, indem sie feudales Wesen annimmt, d. h. so gut es eben geht zu kopieren sucht. Und selbst dann noch sind ihr die ersten Stellen im Heer, in der Marine u. s. w. hermetisch verschlossen."220

219 Vgl. zur Sonderwegsdebatte Wolfgang Hardtwig, Bürgertum, Staatssymbolik und Staatsbewußtsein im Deutschen Kaiserreich 1871-1914, in: ders., Nationalismus und Bürgerkultur in Deutschland, Göttingen 1994, S. 191-218, der gegenüber der Annahme, die Sonderwegsthese sei nur in einem letzten überlebenden Kern haltbar, einwendet, „daß zu diesem Kem auch eine erhebliche Verformung des bürgerlichen Staatsbewußtseins bzw. der Staatsgesinnung gehörte". 220 Michels, Analyse einer Verlobungskarte (Soziales und Ethisches), in: Ethische Kultur, XI. Jg., Nr. 27, 1903, S. 210-211; ebenfalls erschienen in: Frankfurter Zeitung, 47. Jg., Nr. 183, 1903, sowie in erweiterter Fassimg in Michels, Grenzen der Geschlechtsmoral, S. 134f. Die Hervorhebung der „fortgeschrittenen Länder England und USA" ist von mir. Gerade in solchen lapidaren

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Nicht das Bürgertum, sondern der Adel übt Michels zufolge im Kaiserreich die soziokulturelle Hegemonie aus. Nicht das Bürgertum prägt die Münzen des sozialen und kulturellen Kapitals, sondern es übernimmt, verinnerlicht und imitiert die ,feudalen' Wertmuster und Statusorientierungen der Aristokratie. Michels zeigt dies unter anderem in seiner ,»Analyse einer Verlobungskarte", die exemplarisch für sein Bemühen steht, jene sozialen Bedeutungen und politischen Sinngehalte aufzuspüren, die sich oft in ganz gewöhnlich, ja bedeutungslos erscheinenden Bräuchen verbergen, die aber hinsichtlich des impliziten Einverständnisses in eine spezifische Ordnung der Dinge oft wirkungsmächtiger sind als die Explikationen dieses Einverständnisses. Die Verlobungsanzeige, an der Michels die Feudalisierung des Bürgers abliest, lautet: „Die Verlobung ihrer Tochter Ella mit Herrn Rittergutsbesitzer Α. B. auf Groß-J. b. R. beehren sich anzuzeigen M. N. und seine Frau Anna, geb.T." Und daneben steht: „Meine Verlobung mit Fräulein Ella N., einzigen Tochter des Herrn M. N. und seiner Frau Gemahlin Anna, beehre ich mich anzuzeigen Rittergut Groß-J. bei R. A.B. Auf den ersten Blick scheint es in dieser Anzeige nichts Ungewöhnliches zu geben, aber dieser Anschein entpuppt sich als Verblendungszusammenhang: „So tief sitzt der heutigen Generation die Gewohnheit im Blute, auch das Anormalste als normal zu empfinden und mit in den Kauf zu nehmen".221 Es ist der Ausdruck „Rittergutsbesitzer", an dem Michels Anstoß nimmt. Der Bräutigam gibt nicht an, was er tut, sondern was er besitzt. Der Vater des jungen Mädchens, ein erfolgreicher Kaufmann, könnte sich dementsprechend auch, .Millionenbesitzer" nennen, aber er verschweigt seine soziale Position. Daß der Landbesitz in der Verlobungsanzeige als legitime Statusbeschreibung des Bräutigams Erwähnung findet, auch wenn er vielleicht erst vor einigen Monaten erworben worden ist und der Bräutigam möglicherweise andere Tätigkeiten ausübt als die Landwirtschaft; daß dagegen nichts auf die über Jahrzehnte erfolgreiche Unternehmensführung des Brautvaters hinweist, spiegelt die ungebrochene Dominanz feudaler Werte in der öffentlichen Anerkennung wider: „Es ist [...] Scham. Der Kaufmann betitelt sich nicht gern als solcher".222 Die kleine, so unscheinbar wirkende Verlobungs-

Bemerkungen wird die wie selbstverständlich verinnerlichte Norm des liberalen Fortschrittsgedankens beim jungen Michels besonders deutlich. Man muß daran erinnern, daß insbesondere die USA im historischen Kontext der Michelsschen Aussagen von der Kulturkritik als „Kulturhölle" (Sombart) rezipiert wurden und neben England zum Feindbild der Zivilisationsskeptiker, schließlich auch zum Feindbild der im Ersten Weltkrieg dominierenden nationalen Selbstauslegung der Deutschen avancierten. 221 Analyse einer Verlobungskarte (1903), S. 210. 222 Verlobungsanzeige, S. 211.

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anzeige steht Michels zufolge für die mangelnde soziale Anerkennung, aber auch für das mangelnde Selbstbewußtsein - die „politische und soziale Rückgratlosigkeit" - des deutschen Bürgertums sowie für das „höhere Ansehen, in welchem der Agrarkapitalismus dem industriellen und merkantilen gegenüber steht. Der ,Rittergutsbesitzer', selbst wenn er, wie in unserem Falle, einer sogenannten ,Parvenu'familie angehört, gilt weit mehr als der Handelsherr, ja, während ersterer mit seinem Besitztum wissentlich oder unwissentlich herumzuprotzen pflegt, empfindet der letztere eine unüberwindliche Scheu vor dem Namen ,Kaufmann'. Während der Eine als seinen ,Stand' einen Besitz angiebt, der dazu noch nicht einmal mit einem Beruf logisch verbunden zu sein braucht, zieht der Andere es vielfach vor, den seinen überhaupt zu verschweigen. Der erstere erfreut sich eben eines gewissen feudalen Abglanzes, der letztere entbehrt dessen nicht nur, sondern ihm wird auch noch obendrein sogar eine gewisse, freilich nicht immer unverdiente, Geringschätzung zu teil".223 Dies wird auch an der seltsamen Formel im Text des Bräutigams deutlich, der, offenbar um den Verdacht einer Deklassierung durch die Heirat einer Kaufmannstochter zu vermeiden, daraufhinweist, daß er sein Wappenschild, wennschon nicht mit einer Tochter eines Adligen, so doch mit der „einzigen Tochter" einer bürgerlichen Familie vergolde.224 Die implizite sozialtheoretische Grundannahme, die Michels bei seiner Beschäftigung mit der widersprüchlichen Lage des deutschen Bürgertums die Feder führt, ist die Interdependenz von Politik und Sozialmoral, von institutionellen Machtverhältnissen und sozialen Interaktionsmustern. Die Kritik der gesellschaftlich sanktionierten Sprechakte und Rituale ist kein Selbstzweck, sondern wird von Michels im Licht der „politischen Resultante all dieser Gebräuche und Gewohnheiten"225 betrieben. Denn die darin sich vollziehenden Akkulturationsprozesse sind politisch folgenreich, insofern die Bürgerkultur nicht nur ihr liberales Ethos verloren, sondern an seiner Statt und in Anpassung an aristokratische Wertmuster den preußischen „Militarismus als Gemütszustand" verinnerlicht habe. Die Militarisierung der bürgerlichen Mentalität bedeute ι dabei nicht, daß das Bürgertum „bellizistisch" sei: in 35 Jahren der friedlichen ökonomischen Expansion haben die Bürger durchaus einen „konservativen Instinkt" entwickeil, der allen kriegerischen Abenteuern zunächst einmal mißtraut. Mit dem Begriff der „M ilitarisierung" bezeichnet Michels dagegen das „Eindringen militärischer Verhältnisse in das bürgerliche Leben selbst",226 d. h. die politische Sozialisation und Prussifizierung des

223 Verlobungsanzeige, S. 211. 224 Dieser Gedanke findet sich erst in einer erweiterten Fassung des Aufsatzes in: Michels., Geschlechtsmoral, a.a.O., S. 139. 225 Robert Michels, Divagazioni sullo Imperialismo germanico e la questione del Marocco, iti: Riforma Sociale, Fasc.l, Anno XIII, Vol. XVI, sec. Serie, 1906, Estratto, 23 Seiten, S. 7. 226 Michels, Divagazioni, S. 7: „quella penetrazione delle relazioni militari nella stessa vita borghese".

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II. Robert Michels' politische Struktur- und Sittenkritik des Kaiserreiches

Bürgers, seine Erziehung zu einem politischem Denken in den Kategorien von Hierarchie, Disziplin, Loyalität (zur Hohenzollernmonarchie) und zu einem Patriotismus „sans phrase":227 „Wir stecken beinahe noch in den Windeln, da sind wir schon patriotisch. Mit einem Jahr verstehen wir schon Hurra zu schreien - [ . . . ] - mit zweien tragen wir schon, stolzen Bewußtseins voll, eine Pappepickelhaube auf dem Kopf, mit dreien haben wir schon ,unsern Kaiser' ,lieb', mit vieren singen wir schon die ,Wacht am Rhein' - wie sollen wir da nicht im neunzehnten bewußtes oder unbewußtes Mitglied des ,Vereins deutscher Studenten' werden, wie sollen wir da nicht .patriotisch' sein?"228 Prominentestes Gliedstück in dieser „unerbittlich logischen Kette"229 primärer und sekundärer Sozialisation ist die Institution des Reserveoffiziertitels, jener unverzichtbaren Bedingung für Abkömmlinge des Bürgertums, wenn sie eine juristische, diplomatische oder eine Laufbahn im Regierungsapparat einschlagen wollen: „Das Erreichen des Rangs eines Reserveleutnants bedeutet für den deutschen Bürgersohn nicht nur einen Ruhmestitel [...], sondern auch einen sozialen Vorteil höchsten Grades. Für den jungen Mann, der nicht der feudalen Klasse angehört, ist der Rang des Reserveleutnants die einzige offene Tür zur - wenn schon nicht ersten - zumindest zweiten Gesellschaft'". 230 Industrielle und Kaufleute halten große Stücke auf den Reserveoffiziertitel, weil ihre Söhne ohne ihn weder jemals Staatsanwalt, Richter noch Unterpräfekt werden könnten. Die hohe soziale Wertschätzung militärischer Ämter und Würden kommt nicht zuletzt in dem Usus zum Ausdruck, daß in Deutschland - im Gegensatz zu „anderen Ländern der zivilen Welt" - die Ehefrauen mit dem militärischen Titel des Mannes angeredet werden („Frau Rittmeister von Schmidt"). Wenn ein Ausländer diesen Gepflogenheiten zum ersten Mal beiwohne, werde er vermuten müssen, daß im kaiserlichen Heer ein „zahlreiches Armeekorps von ... Amazonen" seine Dienste verrichtet.231 Über den Titel des Reserveoffiziers dringt der militärische Ehrenkodex, dem der Bürgersohn auch dann noch unterworfen ist, wenn er friedlich seine Geschäfte treibt, in das öffentliche Leben ein und wird das öffentliche Tragen der Uniform an Nationalfeiertagen zum sozial akzeptierten Privileg. Mittels dieser „Militarisierung", d. h. der Priorisierung der militärischen Ehre in der sozialen Wertehierarchie, gewinnt die

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Michels, Divagazioni, S. 6, 7. Michels, Patriotismus und Ethik. Eine kritische Skizze, Leipzig 1906, S. 10, 11. Patriotismus und Ethik, S. 11. Divagazioni, S. 7: „L'istituzione della ufficialità di complemento inchioda le classi abbienti al militarismo. Il raggiungere il grado di tenente di complemento significa, per il figlio della borghesia germanica, non soltanto un titolo di gloria seria e degna di grandi sacrifizi di tempo e perfino di danaro, ma anche un vantaggio sociale di primissimo ordine. Per il giovanotto non appartenente alla classe feudale, il grado di tenente di complemento significa la sola porta aperta alla - se non prima - almeno seconda .società'" 231 Divagazioni, S. 7.

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Regierung eine außerordentliche Macht über das Bürgertum und die Mittelschichten: Welche Richtung auch immer der Regierungskurs einschlagen möge, die Regierung „kann sicher sein, daß ihr diese Schichten blind folgen werden".232 Die - im Michelsschen Sinn „psychologisch" bzw. soziomoralisch zu verstehende Militarisierung verbindet sich mit dem deutschen „Volkscharakter", dem „eine unendliche dynastisch-absolutistische Geschichte jeglichen rebellischen Elan ausgetrieben hat, um ihm beharrlich jenen heiligen Respekt vor allem, das sich Autorität, Macht und Disziplin nennt, in die Seele zu pflanzen." 233 Die Modernisierung Deutschlands liest sich in Michels' Analyse somit nicht zuletzt deshalb als halbierte, auf ihre industriekapitalistischen Aspekte verkürzte Modernisierung, weil es in der deutschen Geschichte nicht zu einer liberaldemokratischen Traditionsbildung gekommen ist bzw. die liberaldemokratischen Traditionsbestände mit der Reichseinigung sukzessive devitalisiert worden sind. Die dominante politische Kultur konserviert und prämiert den Untertanengeist. Begrifflich ist Michels' Darstellung in diesem Punkt nicht gerade präzise: sowohl die Rede vom Untertanen als auch die Klassifizierung des Reiches als „absolutistisch" oder gar „mittelalterlich" sind polemische Begriffe, denen die zumindest im Hinblick auf das Kaiserreich problematische modernisierungstheoretische Annahme zugrundeliegt, die Monarchie als bloß vormodernes Relikt von der Moderne (Industriekapitalismus) analytisch separieren zu können. Die Modernität des vermeintlich Vormodernen gerät dabei leicht aus dem Blick: das Kaiserreich war schließlich ein Nationalstaat, die „Untertanen" hatten die „Nationalisierung der Massen" (Mosse) durchlaufen und waren als „deutsche Nation" herrschaftslegitimatorisch zum obersten Referenzpunkt des staatlichen Handelns avanciert. Dies hat Robert Michels durchaus gesehen: der Nationalismus, insbesondere die variantenreichen Selbstauslegungen des Nationalbewußtseins, ist ein Thema, das sich wie ein roter Faden durch sein gesamtes Werk zieht. Und wenn Michels die Rückständigkeit der deutschen Nationalkultur angreift, dann zielt er damit auf die Kopplung von Nation und Monarchie, von Nation und Reich. Diese wird von ihm einerseits als Herrschaftsstrategie im Selbsterhaltungsinteresse der aristokratischen Führungsschicht interpretiert, die mittels der reichsnationalen Pädagogik „diese mittelalterliche Form des Patriotismus, die sich historisch noch auf das alte Hörigkeits-, später das Vasallenverhältnis zum König bezieht, noch heute im Volk lebendig zu halten" versuche. Andererseits ist der monarchische Reichspatriotismus nicht nur ein Strategem des

232 Divagazioni, S. 7: „Per questa militarizzazione il Governo germanico (feudale) tiene la sua borghesia e le sue classi medie nelle sue mani. In qualunque direzione le sue redini tendono, esso può essere sicuro di essere seguito ciecamente da quei ceti". 233 Divagazioni, S. 8: „A queste istituzioni, che servono di base alla militarizzazione della Germania, aggiungasi il carattere del popolo stesso, a cui una sterminata storia dinastico-assolutistiea ha soffocato ogni slancio ribelle e gli ha invece impiantato saldamente nell'anima quel santo rispetto di tutto quanto chiamasi autorità, forza e disciplina."

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II. Robert Michels' politische Struktur- und Sittenkritik des Kaiserreiches

Volksbetrugs, dessen sich die Eliten kalkülrational bedienen; die Hypertrophie des Reichspatriotismus, mit seiner prätentiösen Erwartungshaltung, aber auch seiner immensen Verletzbarkeit, entspricht in Michels' Darstellung durchaus dem Gefühlshaushalt der Eliten selbst: „Der hervorstechendste Zug des aktuellen Deutschland - Regierung, Diplomatie, Parlamentsmehrheit - ist die Eitelkeit. Daher rühren diese parvenuehafte Ruhmsucht und jene nicht geringe Dosis von Überheblichkeit, die jedem aufmerksamen Beobachter der deutschen Verhältnisse ins Auge springen." 234 Diese emotionale Disposition verkörpere insbesondere Wilhelm II.

3. Kaisertreue Der Kaiser ist bei Michels weniger ein Repräsentant der Vormoderne als vielmehr Produkt und Inkarnation der historischen Lage des Reiches und des gesellschaftlichen Ambientes. Deutschland, metaphorisiert Michels 1908, sei nicht ein Land aus Marmor wie Italien oder aus Granit wie England und Frankreich: „es ist ein Land aus Stuck. Seine Herrlichkeit währt nicht einmal vierzig Jahre, während sein Ehrgeiz grenzenlos ist". Weder habe es sich dem beschleunigten Wandel anzupassen noch habe es seinem Ehrgeiz eine aristokratische Form zu geben vermocht: „Es ruft folglich keine Verwunderung hervor, wenn der hervorstechendste Charakterzug dieses Kaisers einer Bourgeosie parvenue der absolute Mangel an Maß und Verstand ist, der sich auf bizarre Weise mit seinem mißratenen Geschmack am Prunk mischt." 235 234 Divagazioni, S. 8: „II tratto più saliente della Germania ufficiale - Governo, diplomazia, maggioranza del Parlamento - è la vanità. Da essa derivano poi questa vanagloria un po' parvenue e quella non esigua dose di prepotenza, che saltano agli occhi di ogni acuto osservatore delle cose germaniche". 235 Michels, Guglielmo II e il popolo tedesco, S. 660: „Ma non si deve dimenticare l'esame dell' ambiente quando si parla del prodotto. La Germania non è un paese di marmo come l'Italia, o di granito come l'Inghilterra e la Francia; è un paese di stucco. La sua gloria data da quarant'anni appena, mentre la sua ambizione è sterminata. Ora la Germania non ha ancora trovato né il tempo per abituarsi alle sue furie ed alle sue previsioni nel mondo; né dare alla sua ambizione una forma aristocratica. Non desta quindi nessuna meraviglia se il tratto più sagliente del carattere di quest'imperatore di una borghesia parvenue è la sola assoluta mancanza di misura e di buon senso, che mescolasi stranamente col suo gusto smisurato per lo sfarzo." Vgl. dazu Volker Ullrich, Als der Thron ins Wanken kam. Das Ende des Hohenzollemreiches 1890-1918, Bremen 1993, S. 11: Wilhelm II. „verkörperte in ganz ungewöhnlichem Maße die Widersprüchlichkeit der Nation, die innerhalb weniger Jahrzehnte zur führenden Wirtschaftsmacht in Europa aufgestiegen war: Er war unsicher und arrogant, intelligent und impulsiv, vernarrt in die moderne Technik, aber zugleich verliebt in Pomp und Theatralik".

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Wilhelm II., so Michels, ist die „kürzeste Formel", auf die sich die Widersprüchlichkeit der deutschen Verhältnisse bringen lasse. Der Kaiser sei ein „Prototyp der altorientalischen Dynastie": Das Bewußtsein seiner souveränen Berufung treibe Wilhelm b:s zu dem Punkt, daß er sich wie der Papst für ein Instrument Gottes halte; nur gegenüber Gott und seinem eigenen Gewissen glaube er verantwortlich zu sein, nicht gegenüber den Menschen. Seit Ludwig XIV, vermutet Michels, sei kein Souverän mehr so überzeugt von der Güte des monarchischen Regierungsprinzips wie Wilhelm II. In die goldenen Bücher der Städte trage er sich nicht ein, ohne ein ,JSic volo, sic jubeo" oder „lex suprema regis voluntas" hinzuzufügen. Seine „exzentrische Manie" kenne keine Grenzen: nicht nur das Heer, auch die Justiz werde vom kaiserlichen Possessivum usurpiert („meine Soldaten" und „meine Richter"). Den Künstlern übertrage er die Aufgabe, die Geschichte „Meiner Familie" zu illustrieren. „So wie Wilhelm die Dinge sieht, ist die ganze Welt nur erschaffen worden, um seiner erlauchten Majestät die größte Bedeutung beizumessen." 236 Wilhelm, und das ist der eigentliche Clou der Michelsschen Charakterstudie, ist der lebendige Beweis, daß die Beschwörung der traditionalen monarchischen Legitimität ein Reflex ihrer Traditionsvergessenheit ist, eine Camouflage von Traditions- und Kulturverlust: die kaiserliche Liebe zum Prunk sei „ein Schlag ins Gesicht der Geschichte"; romanische Bauwerke werden im gotischen, gotische Bauwerke im romanischen Stil rekonstruiert. Zehnmal am Tag wechsele der Kaiser die Kleidung und präsentiere sich der Öffentlichkeit in wechselnden Uniformen, in blau, grün oder auch kastanienrot. Er sei ein Militarist in der Kunst und ein Ästhet im Kriege: seine Kavallerieattacken, die er zu seiner Unterhaltung anordnet, würden „im Kriegsfall niemanden am Leben lassen". „Wilhelm II. ist ein Halbgott wie Lorenzo di Medici, aber [...] verdorben und ohne Geschmack". In Erinnerung an sein persönliches Erleben des Kaisers bei einer Militärparade in Wiesbaden beschreibt Michels den Kaiser in Kürassieruniform mit glitzerndem Panzer, auf dem Haupt ein Helm mit großem Silberadler, in der Hand den Marschallstab, in der Pose eines antiken römischen Triumphators: „Aber die allgemeine Haltung des Kaisers war müde, das Auge erloschen, das Gesicht aufgedunsen. Das Ganze weckte in mir eher Gefühle des Mitleids als eine Gefühl der Rebellion gegen soviel kriegerische und autokratische Anmaßung. In mir überwog der Eindruck, mich nicht einem blutrünstigen Sieger gegenüber zu befinden, sondern einem Ohnmächtigen und irrsinnig Eitlen [...]. Ein Kaiser von China, verkleidet als Ludwig XIV. von Frankreich." 237

236 Guglielmo II, S. 660: „Secondo il modo di vedere di Guglielmo il mondo intero non è stato creato se non a scopo di dar maggior rilievo alla sua augusta maestà". 237 Guglielmo II, S. 660: „Ma l'atteggiamento generale del Kaiser era stanco, l'occhio spento, la faccia gonfia. L'assieme destava in me piùttosto sentimenti di misericordia che un sentimento di ribellione contro tanta baldanza bellicosa e autocratica; prevaleva in me l'impressione di trovarmi non di fronte ad un vincitore sanguinoso, ma ad un impotente pazzamente vanitoso e la cui vanità non riesce a cancellare dai suoi tratti l'immanente impotenza. Un imperatore della Cina

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II. Robert Michels' politische Struktur- und Sittenkritik des Kaiserreiches

In jedem anderen Land, so Michels, wäre die Antwort auf einen solchen Kaiser die Revolution gewesen, an der auch die Monarchisten teilgenommen hätten. „Wie ist es möglich, daß eine in Handel und Industrie fortschrittliche Nation, so oft Lehrmeisterin in den Wissenschaften, einen solchen Mann erträgt [.. ,]?" 238 Nun hat die Daily-Telegraph-Affäre, die Michels zu seinem Kaiserportrait veranlaßt hat, allerdings eine Lawine der öffentlichen Kritik los getreten, eine Protestwelle, die durch alle Parteien und Gruppen ging: „Tatsächlich spürte man, zum erstenmal seit März 1848, wieder einen Hauch von Demokratie". 239 Michels' Optik dagegen ist ganz auf die Folgenlosigkeit dieses Sturms der Entrüstung gerichtet und sieht darin den „unterwürfigen Wesenszug des teutonischen Stammes". Der „Durchschnittsdeutsche" sei ein „geborener Monarchist", freilich in der bizarren Variante, daß er Wilhelm II. zuweilen verwünschen und verdammen werde, den Kaiser aber nie. Darüber hinaus sehe das Bürgertum in der Institution der Monarchie nicht zuletzt die Schutzburg des „Gottes Staat" und begleite den „ignoranten und wutentbrannten Antisozialismus des Kaisers", selbst wenn es diesem um die Wahrung aristokratischer Geburtsvorrechte geht, im eigenen Interesse mit Wohlwollen. Neben der Abwehrhaltung gegenüber den zu unrecht als „revolutionär" apostrophierten Ansprüchen der Arbeiterklasse, identifizieren sich die Ober- und Mittelschichten aber auch in einem positiven Sinne mit der Monarchie: der Kaiser sei ihnen Symbol der Stärke und des Ruhms der Nation. 240 Der Kaiser verfügt damit im nationalen Bewußtsein des Bürgertums über Stabilitätsreserven, die gar nicht Gefahr laufen, durch die oft beißende und spöttische Kritik an Wilhelm II. verbraucht zu werden. Aber selbst Wilhelm hat, zumindest wenn man Michels hier folgen will, durchaus auch Bewunderer: weil er sich gestern mit einem berühmten Erfinder, heute mit einem reichen Industriellen zeige und morgen eine Frage der Theologie erörtere, werde er von vielen auch voller Anerkennung ein „moderner Kaiser" genannt: „Der Snobismus der Modernität, der bei wahren Parvenüs eine der

camuffato da Luigi XIV di Francia". Vgl. John C. G Röhl, Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik, München 1987, S. 10, der in der operettenhaften Regierungsweise das auffalligste Charakteristikum des wilhelminischen Kaiserreiches sieht. 238 Guglielmo II, S. 661 239 So Volker Ullrich, Als der Thron ins Wanken kam, S. 47. 240 Wolfgang Hardtwig, Bürgertum, Staatsbewußtsein ..., S. 197, weist auf die Funktion des Kaisertums hin, in einem Kontext heftiger Parteienkämpfe zumindest dem Eindruck und der Erwartungshaltung der bürgerlichen Öffentlichkeit nach „Stetigkeit und Sicherheit" symbolisiert zu haben, und folgert: „So setzte das bürgerliche politische Bewußtsein in Deutschland Nation und Monarchie miteinander gleich. Wilhelm II. brachte das Kaiseramt zwar in den heftigen Widerstreit der öffentlichen Meinung, aber auch die radikale Kritik bestritt kaum die Legitimität des persönlichen Führungsamtes selbst und verlangte nur seine konsequente Ausübung. In seinen Grundabsichten entsprach gerade der persönliche, dann allerdings durch Mißerfolge gebrochene Führungswille Kaiser Wilhelms II. den Wünschen der Bürger. Von der ostentativen Zurschaustellung der kaiserlichen Majestät erhofften sie sich die große ,nationale Suggestivwirkung'".

II.3. „Ein Land aus Stuck"

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intimsten Leidenschaften ist, malt ihnen den Kaiser im Lichte eines heroischen bengalischen Feuers".241 Die größte Krise des „persönlichen Regiments" Wilhelms II. endet so, und das ist für Michels der Skandal des Skandals, mit einem Übergang zur Tagesordnung, anstatt die Verfassungsfrage zu stellen: „Die Sozialisten ausgenommen [...] hat ganz Deutschland seinen Frieden mit seinem Kaiser und König gemacht und sich mit dem verbalen Versprechen zufriedengegeben, daß er die Staatsgeheimnisse nicht mehr gegenüber englischen Journalisten ausplaudern will. Ansonsten ist alles wie gehabt: Deutschland wird weiterhin ein Parlament ohne parlamentarische Regierung haben und unverantwortliche Minister von Kaisers Gnaden erhalten, wird weiterhin von einem bizarren Autokraten regiert werden und auch in Zukunft der Geschichte dieses seltene Phänomen präsentieren, von den anderen Völkern gleichzeitig gehaßt und verspottet zu werden."242 Michels' Analyse des Kaiserreiches bewegt sich unübersehbar in jenem Deutungsrahmen, der von der späteren modernisierungstheoretisch ambitionierten Geschichtswissenschaft als die vereitelte „Synchronisierung von sozialökonomischer und politischer Entwicklung" (Hans-Ulrich Wehler)243 bezeichnet worden ist. Sein Begriff der Modernität politischer Institutionen hat als Maßstab England, das „im Kontext der modernen Regierungssysteme unter den Völkern zweifellos den ersten Platz innehat."244

241 Guglielmo II, S. 662: „Lo snobismo della modernità, che da veri parvenus è una delle passioni più intime della loro anima, loro dipinge l'imperatore nella luce di eroico fuoco bengalo" Der „Snobismus" gehört auch anderer Stelle zu den negativ aufgeladenen, ja geradezu feindbildträchtigen Vokabeln in Michels' Wortschatz: „Der Snob ist gesinnungslos, zu allem fähig, biegsam, stets sprungbereit, um in die gute Gesellschaft, insofern er ihr nicht schon angehört, hineinzukommen und in ihr zu Ansehen zu gelangen. Durch seine - echte wie falsche - Bewunderung für alles was reich, groß, glänzend und zumal erfolgreich ist, sind seine Erfolgschancen selbst dann erheblich, wenn er nicht einmal über Mittel verfügt." Der Snob sei der , Antipode des Bohème" (R. Michels, Zur Soziologie der Bohème und ihrer Zusammenhänge mit dem geistigen Proletariat, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 136, III. Folge, Bd. 81, 1932, S. 801-816, S. 810. 242 Guglielmo II, S. 662: „All'infuori dei socialisti tutta la Germania dopo un po' di bufera carnevalesca, ha fatto la pace col suo Imperatore e Re, accontentandosi della promessa verbale d: non comunicare più ai giornalisti inglesi i profondi segreti dello stato. Nel rimanente tutto è rimasto al suo posto: la Germania continuerà ad avere un parlamento senza regime parlamentare, continuerà a ricevere ministri irresponsabili dalla grazia del sovrano, continuerà ad essere governata, anima e corpo, da un autocrate bizzarro e continuerà a presentare alla storia questo fenomeno raro di essere dai popoli stranieri simultaneamente odiata e derisa." 243 Hans-Ulrich Wehler, Das deutsche Kaiserreich 1871 -1918, 6. Aufl., Göttingen 1988, S. 17. 244 Michels, La vittoria dei conservatori, S. 3. Michels begründet die Modernität Englands mit der langen Tradition von Repräsentativsystem und eben konstitutionell gebundener Monarchie.

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II. Robert Michels' politische Struktur- und Sittenkritik des Kaiserreiches

Für die in dieser Sonderwegs-Debatte virulent gewordene Frage nach dem Verhältnis von politischen Eliten und Mittelstand im Kaiserreich liefert Michels Argumente sowohl für Wehlers früher stärker als heute vertretene These von der Manipulation des Mittelstandes durch die regierenden Eliten, wie auch für die Umkehrung dieses Verhältnisses, wonach eine relativ autonome Bewegung des Mittelstands nach rechts die Regierung zu einer nationalistischen Politik getrieben habe, die keineswegs aus der Strategie einer „negativen Integration" allein zu erklären sei.245 So führt Michels die regionale Unterschiedlichkeit der Zentrumspartei - im Rheinland demokratisch, antikaiserlich und antikolonialistisch, in Ostelbien „reichs"nationalistisch - auf den Einfluß von Arbeitern und Bauern im Westen und einer eher kleinbürgerlichen Mitgliedschaft im Osten zurück.246 Die zentrale These von Michels bleibt dabei die von der Feudalisierung des Bürgers, hier in jenem Sinn von Staatsbürgerlichkeit und politischer Kultur zu verstehen, wie sie oben entfaltet wurde. Der „Bourgeoisie parvenue", deren politische Apperzeptionen und politische Wertmaßstäbe sich in vielerlei Hinsicht am aristokratischen Herrenstand orientieren und deren so gewonnenes staatsbürgerliches Selbstbewußtsein antiliberale Traditionsbestände verfestigt, dieser „Bourgeoisie parvenue" entspricht allerdings auch ein umgekehrter Orientierungswandel im Adel im Sinne seiner tendenziellen Verbürgerlichung, die einem Imperativ der Machterhaltung geschuldet ist: in Wahlkampfzeiten zumindest zeigen sich die Altkonservativen extrem anpassungsbereit und -fähig und treten mit der „heißen Bitte um Majorität" in Erscheinung: „Der konservative Geist des alten Herrenstandes, so tiefeingewurzelt er auch ist, bedarf [...] eines verhüllenden, weithin flatternden Gewandes mit demokratischem Faltenwurf'. 247 Michels' Kaiserreich präsentiert sich als eine Dialektik von alt und neu, „aristokratischem" Bürgertum und „bürgerlicher" Aristokratie, kapitalistischer Massengesellschaft und konservativ bzw. antiliberal geprägten Institutionen, kurz: als konfliktträch-

245 Vgl. hierzu Thomas Nipperdey, Wehlers Kaiserreich. Eine kritische Auseinandersetzung, in: ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie, Göttingen 1976, S. 360-389; Heinrich-August Winkler, Mittelstand, Demokratie und Nationalsozialismus, Köln 1972; Jürgen Kocka, The first world-war and the Mittelstand: German White Collar Workers, in: Journal of Contemporary History, Januar 1973, S. 101-124; sowie die Antwort von Wehler, Kritik und kritische Antikritik, in: ders., Krisenherde des Kaiserreiches, 2. Aufl., Göttingen 1979, S. 404-426. 246 Michels, La vittoria dei conservatori, S. 9. Vgl. im Hinblick auf die den regionalen Cleavages entsprechenden widersprüchlichen Optionen von Zentrum und Nationalliberalen auch David Blackbourn/George Eley, Mythen deutscher Geschichtsschreibung, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1980, S. 120. 247 Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens, 1911, S. 8. Vgl. Arno J. Mayer, Adelsmacht und Bürgertum. Die Krise der europäischen Gesellschaft 1848-1914, München 1988, S. 19: „Erleichtert wurde der Aristokratie ihre geschickt kalkulierte Anpassungsstrategie durch den brennenden Drang des Bürgertums, von der .guten Gesellschaft' anerkannt und aufgenommen zu werden. Währen die Aristokratie sich durch Anpassungsfähigkeit auszeichnete, tat sich die Bourgeoisie durch blinden Nachahmungseifer hervor."

II.3. „Ein Land aus Stuck"

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tige Koexistenz traditioneller Wertsysteme und moderner sozialer Prozesse.248 Wie ein roter Faden durchzieht dabei ein sozialpsychologisches Phänomen die Analyse·, das Michels ganz offensichtlich mit dem Kollektivsingular „Deutscher" schlechthin identifiziert und in dem letztlich seiner Meinung nach die Sonderstellung des deutschen Nationalstaates begründet ist: die Prädisposition zur Unterordnung, zur Militarisierung des Selbst, aber auch zur kollektiven Unterdrückung der „Reichsfeinde". Dieser Dominanz des, wie man sagen könnte, „autoritären Charakters" spürt Michels nicht nur im politischen Leben nach, sondern auch beim Theaterbesuch: „Wenn der Deutsche - kollektiv, nicht individuell genommen - im Theater sitzt, applaudiert er immer. Nach jedem Aktschluß. Ob's ihm gefallt, oder nicht [...] Der Deutsche geht nicht ins Theater wie der Franzose oder der Italiener. Er fühlt sich nicht als Kritiker, als Mitglied einer Jury, dazu berufen, über Autor, Ausübende und Regisseure des Stückes zu Gericht zu sitzen. Der Deutsche ist auch im Theater kein freier Bürger, kein Demokrat. Was anderen als ein selbstverständliches Komplementärrecht des Klatschens gilt, das Pfeifen bzw. Zischen als hörbares Symptom des Mißfallens [...] gilt ihm, dem päsiblen,249 an Gehorsam und Ruhe gewohnten Manne, als Ungehörigkeit, als ,grober Unfug' [...] Und außerdem [...] ist der Deutsche nie gewohnt, sein eigenes Wort mitzureden, weder im Staat noch in der Gemeinde, weder in der Wissenschaft noch in der Kunst."' 50 Diese Elemente des deutschen Charakters, der Autoritätsglaube, der an Kritiklosigkeit grenzt, und die einzigartige Fähigkeit zur Kollektivdisziplin, münden Jahre später in die Prognose: „die Deutschen, das Proletariat keineswegs ausgeschlossen, besitzen ein besonders stark ausgeprägtes Führungsbedürfnis und sind deshalb, psychologisch genommen, fruchtbarste Muttererde zur Entstehung eines gewaltigen Führertums".25

248 Talcott Parsons hat noch den Nationalsozialismus als Folge dieses ungelösten Konflikts begriffen: als Flucht in einen extremen Traditionalismus und radikale Ablehnung der Moderne. Vgl. Parsons, Democracy and Social Structure in Pre-Nazi Germany, in: des., Essays in Sociological Theory, London/Toronto 1949. Mit dem Reflexivwerden des Modernisierungsbegriffs seit den sechziger Jahren ist diese das NS-Regime als Erfüllung einer spezifisch deutschen antimodernistischen Sehnsucht interpretierende Sichtweise überholt. Vgl. exemplarisch Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965. Jeffrey Herf hat schließlich den NS-Staat mit dem Begriff der „reaktionären Modernität" belegt (Herf, Reactionary Modernism. Technology, Culture and Politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge 1984). 249 Es handelt sich hier offensichtlich um die von Michels verdeutschte Form des französischen „paisible". 250 R. Michels, [Wenn der Deutsche im Theater sitzt], in: Appunti di Roberto Michels, ARMFE; findet sich dort in derselben losen Blättersammlung von Apercus und autobiographischen Notizen, in der ich auch den Aphorismus „Liebe und Aristokratie" gefunden habe. 251 Michels, Soziologie des Parteiwesens, 1911, S. 54

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II. Robert Michels' politische Struktur- und Sittenkritik des Kaiserreiches

4. Neue Nationalpädagogik In Michels' Suche nach den Ursachen der Antinomien des Kaiserreiches nimmt das Nationalgefiihl einen prominenten Platz ein. Michels selbst hat in der Kritik und Reform des Patriotismus in Deutschland durch eine „sozialpädagogische" Publizistik nicht zuletzt seine eigene Aufgabe als Intellektueller gesehen. Das Nationalgefühl der Deutschen fungiert Michels zufolge als sozialpsychologischer Unterpfand des Status Quo, da es die „falsche These: Monarchismus gleich Patriotismus" verinnerlicht habe. Die Durchsetzung dieser Gleichung im öffentlichen Bewußtsein hat zur Folge, daß der „Republikaner ein Vaterlandsloser gescholten" wird und umgekehrt die „Wahrung dynastischer Sonderinteressen" als „,patriotische Pflicht'" gilt: „Das Pro Rege mori wird zum höchsten Sittengesetz des Patriotismus".252 Eine Variante dieser logischen wie emotionalen Verirrung des Nationalbewußtseins sei die Gleichsetzung der Nation mit der Reichsidee: „Die Menschen, die von diesem Patriotismus erfüllt sind, sind meist zu großem Opfer fähig [...] ,Die Idee' ist ihnen alles. Ob es dem menschlichen Inhalt des Reiches schlecht geht, ob ihn Wassernot und Syphilis, Seuchen und Pauperismus dezimieren, das läßt ihr Patriotenherz kühler, als wenn irgendein haitianischer oder feuerinsulanischer Diktator-Präsident das Reich beleidigt". Der reichspatriotische Nationalstolz ist einer rationalen politischen Selbstauslegung nicht fähig, seine Identifikation resultiert aus emotionalen-ästhetischen Suggestivwirkungen: „Machtentfaltung nach außen - und innen, Protz, Prunk, militärisch-herrisches Gebahren gelten ihm als Attribute des ,Reichs'gedankens, der ihm zum Patriotismus geworden ist". Um keine Mißverständnisse hinsichtlich der Repräsentativität dieses Phänomens aufkommen zu lassen, fügt Michels hinzu, daß der Reichspatriotismus ,glicht nur hohlen Phantasten, sondern auch sehr klaren und nüchternen Köpfen zu eigen" sei. Die Ursache dafür ist in der Schulerziehung zu suchen: „Der abstrakte Vaterlandskult mit seinen pomphaften, aber durch vieltausendfache Wiederholung auch auf nichtphantasiebegabte Schüler ihre Wirkung selten verfehlenden Schilderungen nationalen Heldentums, wie sie auf unseren Schulen aller Grade Usus und ... Ukas geworden, nimmt schon die Gedanken unserer Jugend verwirrend in Beschlag, und wenn Hänschen später zum Hans geworden ist, erweist sich das Unkraut meist als unausrottbar."253 Michels' Kritik am politischen wie nationalen Selbstbewußtsein der Deutschen mündet in sein nationalpädagogisches Programm einer „Renaissance des Patriotismus". Das infolge der Identifikation mit den Zwecken der Hohenzollernmonarchie vollständig korrumpierte Nationalbewußtsein müsse auf eine neue Basis gestellt werden. Programma-

252 Michels, Die Formen des Patriotismus, in: Ethische Kultur, 13. Jg. Nr. 3, S. 18-19, Nr. 4, S. 26-28, 1905, S. 27. 253 Michels, Formen des Patriotismus, S. 26.

II.3. „Ein Land aus Stuck"

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tisch greift er dabei in seinen „kulturpatriotischen", ergo: anti-staatspatriotischen Schriften ein Motto Werner Sombarts auf: „Weimar contra Potsdam". 254 Ob beide Autoren dasselbe darunter verstanden haben, ist indes zweifelhaft. Zwar greift Michels auch auf die Weimarer Klassik zurück und zitiert Goethe, um seiner alternativen Auslegung patriotischer Gesinnung bildungsbürgerlichen Nachdruck zu verleihen. 255 Aber bei Michels zielt die Arbeit am Begriff der Nation in eine völlig andere Richtung. Während Sombart aus einer kulturkritischen Perspektive der deutschen Politik den Mangel an Geist und „Persönlichkeit" vorwirft und somit die Chiffre „Weimar" als Antithese zum „Omnibus-Prinzip", der kulturellen Hegemonie der,glasse", konzipiert, 256 richtet sich Michels' „Renaissance des Patriotismus" gegen die Synonymie von Monarchie und Vaterland und somit gegen eine nationale Leitkultur, in der der „Republikaner ein Vaterlandsloser gescholten" werde. 257 Der Michelssche Kulturpatriotismus ist gar nicht so unpolitisch, wie das der Begriff der Kultur zunächst nahezulegen scheint. Kulturpatriotismus hat bei Michels eine normative Meßlatte, die in den Ideen von 1789 wurzelt: „im Prinzip der Selbstbestimmung und der theoretischen Bürgerrechts-Gleichheit", der er das „persönliche Regiment" gegenüberstellt. In dieser Konstellation erlangt die Dissoziation von Nation und Staat eine politisch höchst brisante Dimension: „Es gibt Momente im geschichtlichen Leben der Völker - man denke nur an die heutigen Russen - in denen dem wahren Patrioten nicht der Sieg, sondern die Niederlage, bisweilen selbst die zeitweilige Vernichtung seines Vaterlandes wünschenswert erscheinen muß - in allen den Fällen wiederum, in denen sich Patriotismus nicht mit dem allgemeinen Kulturfortschritt deckt." 258 Die Vokabel „Kulturfortschritt" fungiert hier als das Füllhorn von Michels progressiven Orientierungen: Völkerverständigung statt Völkerkrieg, Nationalitätenprinzip, republikanische Ordnung und Sozialismus im weitesten Sinn: „Der wahre Patriot ist nicht der, der die Vaterlandsliebe in der Unterdrückung fremder Nationen [...] und der Niederhaltung der unteren Klassen des eigenen Landes erblickt, sondern umgekehrt der, der sein ganzes Hirn, seine ganzen

254 Michels, Patriotismus und Ethik, S. 6. 255 Patriotismus und Ethik, S. 31-32: „Wenn ein Dichter lebenslänglich bemüht war, schädliche Vorurteile zu bekämpfen, engherzige Ansichten zu beseitigen, den Geist seines Volkes aufzuklären, dessen Geschmack zu reinigen und dessen Gesinnungs- und Denkweise zu veredeln, was soll er dann Besseres tun und wie soll er dann patriotischer wirken?" 256 Vgl. Friedrich Lenger, Werner Sombart 1863-1941. Eine Biographie, 2. Aufl. München 1995; Lawrence A. Scaff, Sombart's Politics, in: Jürgen Backhaus (Hg.), Werner Sombart (1863-1941) Social Scientist, 3 Bd., Bd. 1: His Life and Work, Marburg 1996, S. 151-172; sowie Klaus Lichtblau, Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende, S. 232-242. 257 Michels, Formen des Patriotismus, S. 27. 258 Michels, Patriotismus und Ethik, S. 30.

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II. Robert Michels' politische Struktur- und Sittenkritik des Kaiserreiches

Nerven auf das eine Ziel konzentriert: die große Masse moralisch, ökonomisch und intellektuell zu heben, ihr zu einem wahrhaft menschenwürdigen Dasein, zu einer voll abgerundeten Teilnahme an den Gütern der Wissenschaft zu verhelfen und das Recht auf den vollen Ertrag ihrer eigenen Arbeitsleistung in ihrem ,Vaterlande' zu sichern." 259 Der Appell an den „wahren Patrioten" ist nicht anders als eine Reaktion auf das zu verstehen, was Georg Bollenbeck den „Wandel der Universalsemantik des deutschen Bürgertums um 1900" genannt hat: die Okkupierung des Nationsbegriffs durch die sogenannten nationalen Kreise, in deren Nationendiskurs das , Vaterland' nicht nur gleichbedeutend mit dem preußisch dominierten Staat ist, sondern auch zur Chiffre eines gesellschaftspolitischen Programms avanciert: Aufwertung des Militärischen und soldatischer Tugenden, Vorliebe für „Härte" sowie Abwertung von Mitgefühl und universalen Moralvorstellungen. Dieser Vaterlandsbegriff ist expansiv und aggressiv, was seine Vorstellung von Deutschlands Mission in der Welt betrifft, und er ist exklusiv, was seine Frontstellung gegenüber der „vaterlandslosen" Arbeiterbewegung anbelangt. Robert Michels hat diesen Wandel des deutschen Nationalbewußtseins, der mit dem „Ende der liberalen Ära" korrespondiert, mehrfach unter die Lupe genommen. 260 Schaut man sich seine Gegenargumente an, so können wir unserer Analyse seiner intellektuellen Physiognomie den Befund hinzufügen, daß Michels in diesem Kontext eine ältere politische Semantik wieder aufleben läßt, nämlich die des bürgerlichen Radikalismus vor 1848, als ein emphatischer Bildungsbegriff, liberale Kultur und demokratische Institutionen noch scheinbar untrennbar mit der Idee der Nation zusammenfielen. 261 Zur Soziologie dieser gegen die Deutungsmacht der nationalen Kreise' gerichteten Semantik zählt das Forum, auf dem Michels fast ausnahmslos seine Gedanken zur Reform des kulturellen Selbstverständnisses der Deutschen vorgetragen hat: die „Ethische Kultur", Zeitschrift der Gesellschaft gleichen Namens, die von sozialdemokratischer Seite zwar durchaus Sympathien genießt, aber auch mißtrauisch beäugt, ja sogar als ein „Musterbeispiel bürgerlicher Phrasenhumanität" 262 bezeichnet wird. Die „Ethische Kultur" darf als eine Insel im Kulturdiskurs des Wilhelminischen Bürgertums gewertet werden, auf der man den Begriff der Nation noch mit dem kategorischen Imperativ de-

259 Patriotismus und Ethik, S. 30-31. 260 Vgl. neben den in diesem Kapitel zitierten Schriften auch: Michels, l'affare Krupp e l'idea repubblicana, in: La Strada, Jg. 2, Nr. 2, 1903, S. 37-38; ders., I progressi del repubblicanesimo in Germania, in: Rivista popolare di Lettere e Scienze Sociali, Jg. 9, Nr. 15, 1903, S. 400-402; ders., Monarchie oder Republik?, in: Volksstimme, 15. Jg., 1904, Nr. 213; ders., Patriotische Anmassung und patriotische Märchen, in: Volksstimme, 16. Jg., Nr. 89, 1905; ders., Divagazioni sull'imperialismo germanico e la questione del Marocco, in: Riforma Sociale, Bd. 16, Jg. 13, Heft 1, 1906, Sonderabdruck, 23 Seiten. 261 Vgl. Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, 2. Aufl. Frankfurt a.M./Leipzig 1994, S. 217ff. 262 Kurt Eisner, Eine Reise um die Welt in drei Tagen. Romfahrt via Eisenach, Frankfurt, Zürich, in: ders., Taggeist. Culturglossen, Berlin/Edelheim 1901, S. 56-68, S. 58.

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kliniert. Sie versteht sich zwar als ein Parteigrenzen transzendierendes Diskussionsforum, setzt aber im Untertitel eine Duftmarke: „Wochenschrift für sozial-ethische Reformen". Politsch artikuliert sie sich eher verhalten und neigt einem den sozialen Verhältnissen oftmals allzu enthobenen Sittlichkeitsdiskurs zu: nach den Worten ihres Mitbegründers Georg von Gizycki geht es um die „Ethisirung" der politisch-ökonomischen Kämpfe. Das empfinden überzeugte Marxisten wiederum als verräterisch.263 Robert Michels dagegen wird mit seinem Eintritt in die SPD ständiger Mitarbeiter dieser Zeitschrift. Für ihn ist eine „ethische Reform" zweifellos ein verlockendes Angebot, hebt doch seine Analyse des Kaiserreiches immer wieder darauf ab, daß scheinbar vorpolitische Orientierungen wie sozialpsychologische und sittliche Verhaltensmuster eine bedeutende Stabilitätsreserve des so widersprüchlichen deutschen Nationalstaates sind. Robert Michels hat denn auch in der „Ethischen Kultur" Ansätze eines sozialpädagogischen Geschichtsunterrichtes264 vorgetragen und das Forum genutzt, auf die seiner Meinung nach brutalisierenden Folgen der Sozialisation in Schule und Familie verwiesen: wer Kriege, Duelle und Mordtaten beseitigen wolle, der müsse neben den ökonomischen auch ihre psychischen Ursachen beseitigen.265 In diesem Sinne prangert er die Kriegsberichterstattung bürgerlicher Tageszeitungen an, von der eine „unendlich verrohende" Wirkung ausgehe, und wendet sich gegen Gewaltverherrlichung in jeglicher Form. Den Dolch in der Hand des Arbeiters nennt er den „Feind ... jeder menschlichen Kultur".266 Damit scheint er sich in die Phalanx bürgerlicher Intellektueller zu stellen, die sich die „Ethisierung des Klassenkampfes" auf die Fahnen geschrieben haben. Es ist aber ebenfalls die „Ethische Kultur", in der sich Robert Michels im Dezember 1903 als intransigenter Sozialist präsentiert und in einer mehrwöchigen Debatte mit dem Herausgeber Rudolf Penzig das Argument der „Ethisierung" umdreht, d. h. den Klassenkampf 263 Vgl. Edith Hanke, Prophet des Unmodernen. Leo N. Tolstoi als Kulturkritiker in der deutschen Diskussion der Jahrhundertwende, Tübingen 1993, S. 90. Gerade weil von sozialdemokratischer Seite bezweifelt wurde, daß es eine über den Klassengegensätzen stehende, allgemein-verbindliche Ethik geben könne, blieb die Mitarbeit auf wissenschaftlich-bürgerliche Kreise bescliränkt. Die Ethische Kultur war Organ der „Deutschen Gesellschaft für Ethische Kultur" (DGEK), die 1892 von Wilhelm Julius Foerster, Rektor der Berliner Universität, seinem Sohn, dem später als Pazifist und Pädagoge bekannt gewordenen Friedrich Wilhelm Foerster, Ferdinand Tönnies, dem Philosophen Theobald Ziegler und dem Ethik-Professor Georg von Gizycki gegründet worden war. Die DGEK hatte sich die „sittliche Höherbildung" der Gesellschaft, die „Verbreitung von Geistes- und Gemütsbildung in allen Volksschichten" sowie das „Streben nach einem Zustand der Gesellschaft [...],.in dem Lebensgüter gerecht verteilt sind" sind, zur Aufgabe gemacht (ein Abdruck des Programms der DGEK findet sich in: Das freie Wort, Nr. 16, 1. Jg., 20.11.1901, S. 507/508). 264 Michels, Geflügelverkäuferin und Geschichtsunterricht. Eine Parabel, in: Ethische Kultur ( = EK), 11. Jg., 1903, S. 189. 265 Michels, Der innere Zusammenhang von „Schlachten" und „Morden", in: EK, 11. Jg., S. 1)8. 266 Michels, Die Verrohung eine Begleiterscheinung des Krieges, in: EK, 11. Jg., 1903, S. 286; ders., Die Erziehung des Proletariats zur Selbstbeherrschung, in: EK, 11. Jg., 1903, S. 229.

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vom genitivus objektivus in einen genitivus subjektivus verwandelt und dessen moralisierende Wirkung behauptet.267 Einen lupenreinen Materialismus, wonach sich die Moral, das sozialistische Bewußtsein aus der ökonomischen Lage und den daraus resultierenden sozialen Kämpfen ergeben, hat Michels aber nie verfochten. Als bloße Funktion der wirtschaftlichen Produktionsverhältnisse ist die Welt der Sitten und des Geistes offensichtlich nicht zu begreifen. Sie konstituieren vielmehr bereits für den jungen Sozialdemokraten eine relativ autonome, ja hartnäckige Sphäre, ohne die die widersprüchliche Modernisierung des Kaiserreiches nicht zu erklären wäre. Sein Engagement auf der bildungsbürgerlichen Bühne der „Deutschen Gesellschaft für Ethische Kultur" macht das deutlich: hier gibt er sich ganz als intellektueller Aufklärer, dessen Mandat nicht weniger als die Reformulierung der nationalen Identität ist. Mehr noch: gerade seine Schriften zum Kulturpatriotismus enthalten eine Rezeptur, eine Handlungsanleitung für den kritischen Intellektuellen. Mag die Arbeiterbewegung der Träger der materiellen Seite des Fortschritts sein, so tritt mit dem Intellektuellen als „Aufklärer und Erzieher" ein weiterer Modernisierungsagent auf den Plan: „Aufgabe der Wissenschaft ist es, alles zu zersetzen und zu zerlegen. Selbst vor den ,heiligsten Gütern' der öffentlichen Meinung darf sie nicht Halt machen. Natürlich ist diese Zerlegung nicht Selbstzweck, sondern dient lediglich als Erkenntniskritik. Nicht eine Zertrümmerung des untersuchten Gegenstandes an und fur sich, sondern ein, nach nach geschehener teilweiser oder vollständiger kritischer Demolierung, Wiederaufbau - Schaffung einer neuen Norm, eines neuen Begriffs - ist als das Endziel jeder Einzeluntersuchung zu betrachten."268 Aufgabe des Intellektuellen ist die „kritische Zergliederung der Grundbegriffe des menschlichen Zusammenlebens."269 Dieses anspruchsvolle Programm hat Michels vor allem mit den Begriffen Nation, Vaterland, Patriotismus umgesetzt. Eine alternative, demokratische Nationalpädagogik muß Michels zufolge jedes Stadium der menschlichen Sozialisation in Blick nehmen, wenn jene „unerbittliche logische Kette" durchbrochen werden soll, die mit der Pickelhaube aus Pappe auf dem Kinderhaupte beginnt, sich im gemeinsamen Singen der „Wacht am Rhein" in der Schule und dem „Verein deutscher Studente" fortsetzt und irgendwann in Völkerverachtung und Krieg enden wird.270 Um die Kette zu zergliedern, muß das scheinbar

267 Michels, „Endziel", Intransigenz, Ethik. Ein sozialdemokratisches Thema, in: EK, Jg. 11, Nr. 50, S. 593-595; Nr. 51, S. 403-404, 1903; Rudolf Penzig, Die Unvernunft des Klassenkampfes. Eine Antwort auf Dr. Michels, in: EK, 11. Jg., Nr. 52, S. 409-411, 1903; R. Michels, Zur Ethik des Klassenkampfes [im Anschluß eine Replik von Penzig und Schlußwort zur Debatte von Wilhelm Foerster], in: EK, 12. Jg., Nr. 3, S. 21-23, 1904. Vgl. zu dieser Debatte das Kapitel IV.2. Republikanische Intransigenz. 268 Michels, Formen des Patriotismus, S. 18. 269 Michels, Patriotismus und Ethik, S. 9. 270 Michels, Patriotismus und Ethik, S. 10-11.

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Selbstverständliche und nicht Hinterfragbare der herrschenden Auslegungen vaterländischer Tugenden benannt und präzisiert werden, mit Attributen, die den sittlichen Schein des Begriffes „Patriotismus" in das grelle Licht der Kritik tauchen. Michels' Analyse der Phänomenlogie der Vaterlandsèegrz^ê - allein die Feststellung ihre:: Pluralität ist bereits eine Kritik an der von den politischen Eliten prätendierten nebu lösen Eindeutigkeit des „Patriotismus" - läßt sich als Versuch interpretieren, den Begriff der Nation der Definitionsmacht deijenigen zu entziehen, die sie mit preußischer Machtstaatspolitik oder der Exekution völkischer Überlegenheitsansprüche identifiziert haben. Auf dem Forum der „Ethischen Kultur" demontiert Michels die kursierenden Vaterlandsbegriffe, indem er ihren megalomanischen, pseudo-ethischen, phantastischen, interessierten und atavistischen Kern freilegt. Ihn interessieren dabei nicht nur die „persönlichen Interessen", die sich die Liebe zum Vaterland zunutze machen, sondern vor allem die „psychischen Stimmungen", die diese Liebe sowie ihre Ausbeutung erst möglich machen. „Megalomanisch" etwa ist jene zeittypische imperialistische Selbstauslegung der Nation, die „daraufhinstrebt, das eigene Volk [...] als das auf allen Gebieten entwickelteste hinzustellen, sowie die Willensausrichtung (ihr Korrelat), es zum in der Welt herrschenden zu machen". Was im privaten Leben als Untugend gilt, erhebt sie auf der „rassenkollektivistischen" Ebene zur Tugend: „Selbstüberschätzung und Selbstüberhebung". Die Megalomanie macht es unmöglich, zuzugeben, daß man auch mal im Unrecht sein kann. Im öffentlichen Diskurs mache sich die megalomanische Form der Vaterlandsliebe aber nur selten in dieser rohen Form kenntlich. Sie hängt sich ein „moralisches Mäntelchen" um, pflegt eine „pseudo-ethische" Selbstbeschreibung und betreibt so die „Penetration der Moral auf dem Wege ihrer zunächst objektiven Anerkennung". Die „,Ausbreitung des Kulturgedankens'" werde zum „Zauberwort, das allen Fluch der bösen Tag lösen soll". Michels' Beispiel ist die Kolonisierung Afrikas. Als Zivilisierung unterentwickelter Völker gefeiert, habe sie genau das Gegenteil hervorgebracht: „Entrechtung, Eigentumsberaubung, Aufpropfung einer keineswegs gereinigten Religion, Schnaps und endliche Ausrottung der Eingeborenen." Wer aber sich des eigenen höheren zivilisatorischen Standards als Legitimationstitel auf die Unterwerfung anderer Nationen bedient, der verdrängt Michels zufolge zweierlei: die eigene Nationalgeschichte, in der nicht „eigenes Vermögen", sondern „Zufall" die Deutschen vor einem Schicksal wie dem der Polen bewahrt haben, sow:e die Antinomie des Kultur-Oktrois: „Die höhere Kultur schändet sich selbst, wenn sie sich anderen Kulturen mit Gewalt aufdrängen will. Durch eine solche Willensrichtung beweist sie nichts als ihre Negative: den Fonds von Barbarei, den sie versteckt noch in sich birgt."271

271 Michels, Formen des Patriotismus, S. 19.

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Mit dem Begriff des „interessierten" Patriotismus kritisiert Michels die Selbststilisierung des egoistischen Nutzenkalkül einzelner Gruppen zur patriotischen Tat. Als Beispiel für diese Form nennt Michels die Lohnkämpfe: wenn etwa von Unternehmerseite der Arbeiterbewegung vorgeworfen wird, daß deren Forderungen die Konkurrenzfähigkeit und den „nationalen Reichtum" aufs Spiel setzen. Dieser Vorwurf kulminiere in der Unterstellung, die Arbeiterbewegung stehe im „vaterlandsverräterischem Bunde mit dem Ausland". Tatsächlich, so Michels, stünden aber bei Lohnverhandlungen nicht patriotische Moral und Verrat, sondern Interessen auf beiden Seiten gegenüber: Dem Interesse an der Lohnkostensenkung des Unternehmers die Zielsetzung des lohnabhängigen „Miniaturkaufmanns", seine Arbeitskraft so teuer wie möglich zu verkaufen. Hinter der Chiffre des „nationalen Reichtums" verberge sich in Wahrheit das Leitmotiv „ubi bene, ibi patria" einer ganz unpatriotischen kapitalistischen Moral, die die „Tendenz des Kosmopolitismus auf wirtschaftlichem Gebiet" verfolge. Im übrigen neige das egoistische Profitinteresse im Konflikt zwischen Unternehmenserfolg und nationaler Solidarität dazu, stets zugunsten des ersteren zu optieren, so Michels mit einem Blick auf den internationalen Waffenhandel und die „KruppGeschosse, von denen die Leiber unserer Seeleute durchbohrt wurden".272 Patriotismus sei in diesem Zusammenhang nur die „sehr euphemistische Ausdrucksform für Dividende".273 Die Bedingung der Möglichkeit, daß der „interessierte Patriotismus der Minorität" sein Eigeninteresse als nationales Interesse verkaufen kann, ist der „atavistische Patriotismus der Mehrheit". Fragen der politischen Kultur, Verfassung und Rechtsstellung des Bürgers sind diesem Nationalbewußtsein fremd. Der Stolz, ein Deutscher zu sein, beruft sich vielmehr auf die „Quantität der Fäuste" und die „Qualität der Knochenstärke". Daß der „Hymnus auf die große gewaltige physische Kraft des Volkes", den der atavistische Patriotismus anstimmt, in der wilhelminischen Gesellschaft auf eine günstige Prädisposition breiter Massen rechnen kann, ist insbesondere aus Sicht der fortschrittlichen Evolutionslehre irritierend: „Das Bezeichnende an dieser Sorte von Patriotismus ist - wie das auch Spencer bemerkte - daß sich zivilisierte sogenannte Kulturnationen mit einer Eigenschaften brüsten, in welcher sie von den auf primitiver Stufe der species homo sapiens stehenden Völkern, ja, selbst von niederen Tiergattungen bei weitem übertroffen werden."274 Die Hypostasierung physischer Merkmale zur überzeitlichen Kollektividentität, und das heißt ja immer auch: Wunschvorstellung von dieser Identität, ist ein bedeutsames Element im deutschen Nationalbewußtsein seit der Reichseinigung. Es korrespondiert zweifellos auch mit neuen Entwicklungen in den Humanwissenschaften, namentlich der

272 Patriotismus und Ethik, S. 22. 273 Formen des Patriotismus, S. 26. 274 Formen des Patriotismus, S. 27. Vgl. auch Patriotismus und Ethik, S. 22.

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Soziobiologie und Rassenanthropologie, die dem Erbmaterial einen prominenten Stellenwert für die Zukunft der Nation und ihrem Erfolg und Mißerfolg im , Kampf ums Dasein' beimessen.275 Robert Michels ist von sozialdarwinistischen Deutungsangeboten des sozialen Lebens, die gewissermaßen der ,letzte Schrei' einer in die Krise geratenen positivistischen Soziallehre gewesen sind, keinesfalls unbeeinflußt gewesen.276 So lange es aber um die Frage geht, was eine Nation ist, hat Michels stets - auch zu späteren Zeiten - einen westlich-subjektiven Nationsbegriff im Mancinischen Sinne277 gepflegt und dies in bewußter Absetzung gegenüber den zeitgenössischen rassistischen oder antisemitischen Versuchen nationaler Identitätsstiftung. Das Zugehörigkeitsgefühl als conditio sine qua non der Bestimmung nationaler Identität ist eine der wenigen Kontinuitätslinien seines Denkens.278 Der Gedanke, das Blut könne ein soziales Band und nationales Solidarität generieren, ist ihm derart absurd, daß er seinen Zuhörern in der „Berliner Gesellschaft für Ethische Kultur" spöttisch das Szenario eines deutsch-englischen Krieges vorführt, in dem balkanische Fürsten auf der deutschen, der Kaiser aber auf britischer Seite kämpfen würde und sämtliche nationale Minderheiten in Deutschland von der Heerespflicht befreit wären: „Der Rassenpatriotismus würde in dem heutigen Reichs-Deutschland sein Vaterland nicht erblicken können. Es wäre ihm einesteils zu groß und anderenteils zu klein [...] Sind wir Deutschen nicht eine der am meisten blutgemischten anthropologischen Erscheinungen der Erde? [...] Ist es denn nicht offenbar, daß etwa 4/5 der Deutschen jenseits der Elbe, die so gerne im Namen des aggressivsten Deutschtums das Wort ergreifen, die sich als Wächter des Deutschtums gegenüber dem Slawentum fühlen, nicht selber Slawen sind? Wie sollen wir unseren Patriotismus nach einer Rasse bemessen, wenn es gar keine feststellbare Rasse gibt?"279

275 Dieses Primat physischer Eigenschaften bei der nationalen Selbstauslegung erinnert an den von Helmuth Plessner thematisierten Konstitutionsunterschied zwischen der französischen und der deutschen Nationalstaatsbildung, dort im Zeichen von Vernunft, Aufklärung und Selbstbestimmung, hier im Zeichen einer als vorvertragliche, schöpferische Naturintensität gedachten deutschen Identität. Vgl. H. Plessner, Die verspätete Nation. Über die politische Verfiihrbarkeit bürgerlichen Geistes, Frankfurt a.M. 1992, insb. S. 46f.: Über die Entfremdung vom „Westen". 276 Das haben wir bereits im Kapitel über „Geschlechtsmoral" gesehen und wird auch in den Kapiteln II.4. (Demokratischer Nationalismus), III (Darwinomarxismus; Lombrososchule). sowie VI.2. (Einfluß der Konfliktsoziologie Ludwig Gumplowicz') thematisiert werden. 277 Vgl. II.4. „Demokratischer Nationalismus". 278 Vgl. Michels, Der Patriotismus. Prolegomena zu seiner soziologischen Analyse, München/Leipzig 1929, S. 179: „Vom voluntaristischen Standpunkte betrachtet, ist der Vaterlandsbegriff ein kontraktualer Begriff, vom Wohlbefinden und Wohlwollen der Kontrahenten abhängig." 279 Michels, Patriotismus und Ethik, S. 15.

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Auch das Prinzip des Geburtsortes läßt Michels nicht als plausible Begründung nationaler Identität gelten, da die affektiven Bindungen an den Geburtsort zunächst einmal nur den in seiner Reichweite beschränkten Lokalpatriotismus evozieren und keinesfalls die Verbundenheit mit den vielen Unbekannten des gesamten Staatsgebietes erklären können. Und selbst der Lokalpatriotismus werde aufgrund von Technik und Mobilität einen Großteil seiner Bindungskraft verlieren: „In unserem Zeitalter des Dampfes und der Elektrizität wird die Zahl derer immer mächtiger, die überhaupt nirgendwo einen Geburtsort haben", weil ihnen das Leben zum „Festwurzeln in einem Lokalpatriotismus" keine Zeit lasse.280 Die Sozialpsychologie der Auswanderung und die Fähigkeit zur Assimilation in der Fremde sind für Michels vielmehr Indizien der prinzipiellen Wandelbarkeit des Vaterlandsgefühls}%x Und dies führt Michels aus ethischen Gründen immer wieder auf den Willenspatriotismus als letzten verbindlichen Grund der nationalen Zugehörigkeit zurück - gegen jede Form von zwanghafter Ethnisierungspolitik.282 Mit seiner Demontage des „Patriotismus" hat Michels keine Aporie des Nationalbewußtseins ausgespart: sei es die Schwierigkeit, ein ,objektives' Kriterium von Nationalität zu etablieren, sei es die offenkundige Instrumentalisierung eines ethisch zunehmend inhaltsleeren283 Begriffs der nationalen Solidariät: als unentbehrliche Requisite der Karriere, als Kampfbegriff gegen die , vaterlandslosen Gesellen' oder als schlichter staatlicher Gesinnungszwang. Nicht zuletzt hat er die Fragmentierung der Gesellschaft in unterschiedliche und widerstreitende Interessenlagen gegen die dem Begriff der Nation eigene Unterstellung einer nationalen Einheit ausgespielt und dabei auf seinen Vorträgen auch vor bürgerlichem Publikum klassenkämpferische Töne angeschlagen: „die Scheidungslinie liegt nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen den Klassen."284 Der Marxismus ist in Michels' Arbeit am Begriff der Nation aber allenfalls am Rande hörbar. Die widersprüchliche Lage des Reiches mit seiner - der materialistischen Geschichtsauffassung zuwiderlaufenden - rückschrittlichen politischen Verfassung und Geisteshaltung verlangt vielmehr nach einem kulturellen Ansatz, nach einer Renaissance des Nationalbewußtseins durch Rückgriff auf jene liberaldemokratischen und menschenrechtlichen Konstruktionsprinzipien, die noch den Vormärzdiskurs über die Nation geprägt hatten. Das für Michels auf diesem Politikfeld offenkundige Theoriedefizit der II. Internationale sucht er durch eine explizite Anbindung seines Patriotis-

280 Michels, Patriotismus und Ethik, S. 13. 281 Materialreich und systematisch ausgeführt in: Michels, Die Soziologie des Fremden, in: ders., Der Patriotismus, a.a.O., S. 106-180. 282 Diese von Beginn an greifbare normative Vorstellung hat Michels interessanterweise noch in den zwanziger Jahren in seiner Soziologie des Patriotismus entfaltet, zu einer Zeit, als das italienische Regime in Südtirol wenig Rücksicht auf das nationale Zugehörigkeitsgefühl der dort lebenden Nichtitaliener nimmt. 283 Vgl. dazu Hardtwig, Bürgertum, a.a.O., S. 216: „Im Generationen-Umbruch der neunziger Jahre löste sich ein Teil des Bürgertums nur noch entschiedener von alten Leitbegriffen bürgerlicher Liberalität; man diskreditierte die ,drei Fremdworte: Patriotismus, Toleranz, Humanität' und erklärte sich statt dessen für ,national schlechthin'. 284 Michels, Patriotismus und Ethik, S. 20.

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musbegriffs an den Neukantianismus zu überbrücken, insbesondere an die SyntheseBemühungen seines Freundes Karl Vorländer285 und an Überlegungen Paul Natorps, die in einer Kontinuität mit dem nationalen Altruismus Mancinis stehen.286 Die Aponen des Nationsbegriffs und die das öffentliche Leben beherrschenden Degenerationsformen des real existierenden Nationalismus im Kaiserreich mit ihrem kriegerischen Potential veranlassen Michels somit nicht zu einer definitiven Erledigung des Patriotismus, sondern zu einem Plädoyer für eine Wiederaneignung seiner freiheitlichen Potentiale. Bevor wir uns den Wurzeln und Aporien seines „demokratischen Nationalismus" widmen, sei hier noch eine für Michels' Leben zentrale persönliche Angelegenheit erwähnt. Es kann kein Zweifel sein, daß er seinen Beitrag zur neuen Nationalpädagogik am liebsten auf dem Lehrstuhl einer deutschen Universität geliefert hätte. Daran aber hinderte ihn die berufliche Diskriminierung von Sozialdemokraten im Kaiserreich. Seine eigene vereitelte Universitätskarriere sowie seine Kritiken an der eingeschränkten Lehrfreiheit im Wilhelminismus komplettieren sein reichsdeutsches Sittengemälde.

5. Die voraussetzungsvolle Voraussetzungslosigkeit der Geschichtswissenschaft und die Verhinderung einer akademischen Karriere Robert Michels' 1900 in Halle verteidigte Dissertation „Zur Vorgeschichte von Ludwigs XIV. Einfall in Holland"287 erläutert die französische Intervention weniger unter ihren rechtlichen Voraussetzungen als unter Rückgriff auf ihre sozioökonomischen und machtpolitischen Hintergründe. Wenn man will, zeigt sich in diesem einer soziologischen

285 Sein Vortrag „Patriotismus und Ethik" trägt die Widmung: „Dem Kantforscher und Meischen Karl Vorländer in Freundschaft gewidmet". Vorländer ging es - wie schon Hermann Cohen - um eine Verbindung von Sozialismus und deutschen Idealismus. Die Attraktivität dieses Ansatzes unter manchen sozialdemokratischen Intellektuellen ist symptomatisch für die Krise und Revision des parteioffiziellen Marxismus. Vgl. K. Vorländer, Kant und der Sozialismus, in: KantStudien 4, 1900, S. 361-412; ders., Die neukantianische Bewegung im Sozialismus, in: KantStudien 7, 1902, S. 23-84; ders., Kant und Marx. Ein Beitrag zur Philosphie des Sozialismus, Tübingen 1911, 2. neubearb. Aufl. Tübingen 1926. 286 An diesem Zitat Paul Natorps hat Michels seine Freude gehabt: „Der echte Internationalismus streitet überhaupt nicht mit dem echten Nationalismus. Das wäre keine rechte Familie, in der nicht jedes Glied das Recht seiner Eigenart behaupten dürfte. Aber auch das wäre keine rechte Familie, in der das einzelne Glied seine Eigenart nur durch Mißachtung der anderen und Oberhebung über sie glaubte zur Geltung bringen zu können". Vgl. Paul Natorp, Zum Gedächtnis Kants, Leipzig 1904, S. 6. Michels hat dieses Zitat seinem Aufsatz „Der Internationalismus der Arbeiterschaft", Ethische Kultur, 12. Jg., Nr. 15, 1.8.1904, S. 113/114 vorangestellt. 287 Inaugural-Disseration, Halle a.S. 1900.

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Konzeption von historischer Wissenschaft verpflichteten Ansatz auch die Handschrift seines Leipziger Lehrers Karl Lamprecht. 288 N a c h einem einjährigen Aufenthalt mit seiner Frau in Italien v o n Mai 1900 bis 190 1 2 8 9 zieht es die beiden dann aber nicht nach Halle, sondern nach Marburg, w o Michels seinen akademischen Weg in Richtung Habilitation fortzusetzen gedenkt. Er folgt damit dem Rat seines Schwiegervaters, dem Geschichtsphilosophen Theodor Lindner. 290 Vermutlich gibt das liberalere akademische Klima den Ausschlag fur Marburg, hat hier doch die neokantianische Schule v o n Hermann Cohen und Paul Natorp ihren Sitz. So hat Cohen 1896 Aufsehen erregt, als er Immanuel Kant als den „wahren und wirklichen Urheber des deutschen Sozialismus" bezeichnet. 2 9 1 Cohens „geradezu charismatische Ausstrahlung" zieht seinerzeit nicht nur zahlreiche Studenten an, der Philosoph bewegt seine Zuhörerschaft auch dazu, sich stärker grundsatzethischen Positionen in Fragen des sozialen und politischen Handelns im besonderen zuzuwenden. 2 9 2 Zu den bekanntesten Sozialdemokraten, die durch die neukantianische Schule gegangen bzw. v o n ihr beeinflußt worden sind, zählen Kurt Eisner, Philipp Scheidemann, Ernst Reuter und Robert Michels, der die Verbindung v o n kritischem Idealismus und Sozialismus zuweilen zur politischen Losung erhoben hat. 293 A u f diesen neukantianischen

288 Joachim Hetscher, Robert Michels. Die Herausbildung der modernen Politischen Soziologie im Kontext von Herausforderung und Defizit der Arbeiterbewegung, Bonn 1993, S. 104. Vgl. auch Gerhard Schäfer, Wider die Inszenierung des Vergessens. Hans Freyer und die Soziologie in Leipzig 1925-1945, in: Jahrbuch für Soziologiegeschichte, Opladen 1990, S. 124: „Die Anregungen, die von Lamprecht auf die, um die Jahrhundertwende in Leipzig studierende [...] Soziologengeneration ausgingen (etwa in ihren Dissertationen), sind bislang kaum in aller Breite beachtet worden: Johann Plenge, Erich Rothacker, Hans Freyer, Alfred Vierkandt, Robert Michels, Hendrik de Man und Willy Hellpach." Siehe auch die Schriftensammlung Karl Lamprecht, Alternativen zu Ranke. Schriften zur Geschichtstheorie, Leipzig 1988, sowie Elfriede Üner, Kultur- und Universalgeschichte der Leipziger Schule in den deutschen Sozial- und Geschichtswissenschaften, Karl-Lamprecht-Vortrag 1993, hg. v. Gerald Diesener, Leipzig 1993. 289 Zu den Hintergründen vgl. Kapitel III.2. 290 Brief von Theodor Lindner an Robert Michels vom 16.9.1900, ARMFE. 291 Hermann Cohen, Einleitung mit kritischem Nachtrag zur .Geschichte des Materialismus' von F. A. Lange, zit. n. 3. Aufl., Leipzig 1924, S. 112. 292 Ulrich Sieg, Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus. Die Geschichte einer philosophischen Schulgemeinschaft, Würzburg 1994, S. 225. 293 R. Michels, Vorwärts mit Kant und Marx!, in: Volksstimme, 16. Jg., Nr 48, 1905. Jahrzehnte später hat Michels über einen Marburger Intellektuellenzirkel geschrieben, dem neben dem Ehepaar Michels auch die Brüder Ernst und Curt Thesing, der spätere SPD-Reichsminister in der Weimarer Republik Adolf Köster, damals Verfasser des Romans „7 Schornsteine", sowie der Cohen-Schüler Otto Buek angehörten. Nach Michels' Worten vermischten sich in diesem Kreis „kantianische und tolstoianische Elemente, Pflichtbewußtsein, Wahrheits- und Bekennermut [...] mit der marxistischen Grundauffassung von der Geschichtsphilosophie." Vgl. Michels, Eine syndikalistische Unterströmung im deutschen Sozialismus (1903-1907), a.a.O., S. 346. Zur Kritik dieser autobiographischen Betrachtung im einzelnen vgl. das Kapitel IV. 1. (Die Legende von Dresden). Zum Einfluß des Tolstoianismus auf die politisch-philosophische Diskussion um 1900

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Einfluß in Michels' politischen Positionen bezieht sich Max Weber Jahre später, als er Michels, der in Webers Sicht dem Idealtypus des Gesinnungsethiker recht nahe kommt, mangelnden Rigorismus vorwirft: „Und überhaupt: diese Messung der ,Ethik' am .Erfolge'. Haben Sie Ihren Cohen ganz vergessen? Das wenigstens konnte er Ihnen austreiben."294 Als sich Michels in Marburg habilitieren will, haben bereits zwei wissenschaftspolitische Skandale die engen Grenzen akademischer Lehrfreiheit im Kaiserreich illustriert. So hat die Regierung dem Sozialdemokraten Leo Arons durch eine „Lex Arons" von 1898 die Lehrbefugnis entzogen und damit gegen die verbrieften Freiheiten der Universität verstoßen. Ebenso verkommt die venia legendi zu einem Instrument der Regierungspolitik, als dem jungen katholischen Historiker Martin Spahn 1901 per Oktroi ein Lehrstuhl in Straßburg verschafft wird.295 Beide Fälle veranlassen Michels 1902 zu einer Kritik an dem Topos der akademischen Freiheit und der „Voraussetzungslosigkeit" der Geschichtswissenschaften, auf welches sich zeitgenössische Historiker wie Theodor Mommsen und Lujo Brentano gerne berufen. Michels bemerkt, daß im Fall Arons „kein Mommsen für die Voraussetzungslosigkeit eine Lanze gebrochen" habe und konfrontiert die beanspruchte Liberalität der Gelehrten mit dem „konservativen und nationalliberalen Kolorit" der geschichtswissenschaftlichen Fakultäten in Deutschland, zu denen in jüngster Zeit allenfalls noch einer „genügend nationalistisch gefärbten Weltanschauung" der Zugang gestattet sei. 2,6 Es sind nicht die nationalistischen Tendenzen oder die „krasse" Subjektivität eines Treitschke allein, mit denen Michels zu veranschaulichen sucht, daß die „Voraussetzungslosigkeit" zur „hohlen Phrase" verkommen sei - und oft auch zum Feigenblatt universitärer Seilschaften. Der Lamprecht-Schüler wendet sich auch gegen die „objektive Weltanschauung" der Ranke-Schule, der man Voraussetzungslosigkeit nur attestieren könne, wenn man darunter eine „gewisse gleichmäßig nüchterne Erzählungsweise" verstehe, „in der die Gegensätze von Gut und Böse in einem über alles erhabenen Cavalierstone nivelliert werden." Michels' Selbstverständnis eines historischen Soziologen zeigt sich übrigens an seinem Einwand gegen Rankes Methode: diese stütze sich nur auf höfische Quellen und könne in ihrer Marginalisierung des Volkes nie objektiv sein. Wenn Michels vor dem „Täuschungsversuch der leichtgläubigen Laienwelt" durch die Etikette der „Voraussetzungslosigkeit" warnt, ist dies keine Absage an den akademi-

vgl. Edith Hanke, Prophet des Unmodernen. Leo N. Tolstoi als Kulturkritiker in der deutschen Diskussion der Jahrhundertwende, Tübingen 1993. 294 Brief von M.Weber an R. Michels, 19.2.1909, MWG, Abt. II, Briefe, Bd. 6, S. 60-62. 295 Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 1, Arbeitswelt und Bürgergeist, 3. Aufl. München 1993, S. 575; Fritz K. Ringer, Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890-1933, München 1987, S. 132f. 296 Michels, Die Voraussetzungslosigkeit der Geschichtswissenschaft auf den deutschen Hochschulen, in: Das freie Wort. Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens, I. Jg. Nr. 22, 20.2. 1902, S. 673-676.

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sehen Betrieb als solchen, sondern vielmehr ein Plädoyer für die Pluralität wissenschaftlicher Ansätze: „Was soll der Unparteiische, der Voraussetzungslose aber erst sagen, wenn er erfahrt, daß eine strengwissenschaftliche Schule [...] von der ,voraussetzungslosen Forschung' mit Bann und Acht belegt und ihr die Thür zum Allerheiligsten verschlossen ist? Eine Weltanschauung, die von dem Grundsatz höchster Gerechtigkeit - und sei er auch zehnmal ,utopistisch'! - ausgehend, unsere bestehende ökonomische Ordnung erklärt und begründet [...]. Würde die sozialistische Weltidee nicht sogar noch viel mehr Gewähr für eine voraussetzungslose Forschung bieten, aus dem einfachen Grunde, weil bei ihr eine ganze Reihe von Voraussetzungen [...] wegfallen müßten? Ein sozialistischer Historiker wäre, wenn auch er freilich keineswegs ganz frei von Voraussetzungen' sein würde, doch jedenfalls aller deijenigen Vorurteile bar, die eine geschichtliche Untersuchung [...] fast immer entstellen, d. h. der kirchlichen und sogenannt nationalen'." 297 Bei aller Kritik wird hier nicht etwa die , Wahrheit' der einen gegen alle übrigen Lehren ausgespielt. Vielmehr formulieren diese Zeilen den Wunsch, das Ausgegrenzte möge in den Kanon der Methoden aufgenommen werden. Ganz offensichtlich hat Michels damit auch angestrebt, als sozialistisch ambitionierter Gelehrter in Deutschland Karriere zu machen. Dafür spricht auch sein im Frühjahr 1903 formulierter Katalog ethischer Richtlinien für die Rezension wissenschaftlicher Bücher, einen Vorgang, den Michels so ernst nimmt, daß er ihn mit einem „anhängigen Gerichtsprozeß"298 vergleicht, der dem Richter nicht nur sachliche, sondern auch ethische Kompetenz abverlange. Seine Vorschläge zielen auf eine Reform der wissenschaftlichen Kritik und Umgangsformen: er fordert das gründliche Lesen des Rezensionsexemplars, was wohl auch im Kaiserreich keine Selbstverständlichkeit gewesen ist; eine möglichst unpersönliche und von den Suggestionen anderer unbeeinflusste Beurteilung; das „Kritisieren mit offenem Visier", also mit Unterzeichnung des vollen Namens; Trennung von Darstellung und Kritik des Buches usw. Er wendet sich sowohl gegen die Kritik als „Selbstzweck", die nur die Irrtümer der Autoren erwähne, als auch gegen die Phraseologien von Rezensenten, die glauben, daß sich bei jeder Besprechung von Lob und Tadel die Waage halten müssen. Im Sommer 1903 widmet sich Michels dann erneut den wissenschaftlichen „Kampfmethoden", diesmal aber mit sehr viel schärferen Tönen als in dem moderaten Aufsatz zur Rezensenten-Ethik. Er moniert an den fachwissenschaftlichen Auseinandersetzungen die „Waffen des ,Feuer und Schwert'", mit denen der wissenschaftlich Andersdenkende traktiert werde.299 Für das oft rücksichtslose Vorgehen im Wissenschaftsbetrieb gebe es keine sachlichen, sondern meist psychologische Gründe: „größenwahnwitzige 297 Michels, Die Voraussetzungslosigkeit der Geschichtswissenschaft, a.a.O., S. 674. 298 Michels, Die ethischen Pflichten des Bücherrezensenten, in: Ethische Kultur, 11. Jg., Nr. 12, 1903, S. 90-93. 299 Michels, Kapitalismus in der Wissenschaft, in: Ethische Kultur, 11. Jg., Nr. 24, 1903, S. 186-188.

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Eitelkeit" und „Selbstverherrlichung" treiben die Gelehrten zur „erbarmungslosen Vernichtung" all deijenigen, die eine potentielle Konkurrenz in ihrem Fachgebiet darstellen. Michels' Fazit zu diesem Professorenverhalten ist allerdings nicht minder vernichtend: sie seien „Schmarotzer der Wissenschaft". Die Ursache für ihre Erscheinung bezeichnet er als den „Kapitalismus in der Wissenschaft". Michels setzt dabei die fortschreitende Spezialisierung der Fächer mit dem Bestreben von Karrieristen in Beziehung, ihre „Duodezwissenschaft", sei sie auch noch so klein, zu monopolisieren. Wie der Kapitalist unter Ausschaltung der Konkurrenz zum Alleinanbieter seiner Produktpalette werden wolle, so schwinge sich die „Autorität" im Universitätsbetrieb zum „Allein- oder Fastalleinherrscher" in seinem Spezialgebiet auf. Protektion, Sitzfleisch und Charakterbiegsamkeit seien dabei die entscheidenden Ressourcen auf dem Weg zur Macht. Um der eigenen Persönlichkeit die größtmögliche Geltung zu verschaffen, schare die „Autorität" eine große Zahl von Schülern - ,Anbeter" und „Epigonen", wie sein Pauschalurteil lautet - um sich, die sich in das „Joch des Herrn" spannen ließen und diesen dadurch zu Anerkennung und Dankbarkeit verpflichteten. Mit der Herausgabe von Fachzeitschriften usurpiere die Schule schließlich das Definitionsmonopol darüber, wem wissenschaftliche Anerkennung gebührt und wem nicht. In Michels' Resümee ist deutlich die persönliche Betroffenheit des wissenschaftlichen Außenseiters herauszuhören: „Außerhalb dieses um die Autorität durch das gegenseitige Interesse wie mit einem cerchio di ferro zusammengeschmiedeten Kreises wissenschaftlich arbeiten m wollen, gehört nun wahrlich nicht zu den leichtesten Dingen. Die Autorität und ihre Anhängerschaft scheut nichts, den Gegner mundtot zu machen. Schreiberhände, Druckerschwärze, Papier, alles steht ihnen zur Verfügung. Die wissenschaftlichen Ansichten werden seciert, kritisiert und ridikulisiert [...] mit vollem Bewußtsein der krassesten egoistischen Subjektivität, [...] aber mit der Masice und im angeblichen Interesse des zu allem Unfug aus seinem Schlupfwinkel wieder hervorgeholten Berufsgottes: der , Wissenschaft'". 300 Durch die Heftigkeit einzelner Formulierungen, z. B. die Diffamierung der etablierten Gelehrten als „Schmarotzer der Wissenschaft", ist der Artikel für einen produktiven Dialog mit der Wissenschaft wohl völlig ungeeignet gewesen. Fast möchte man vermuten, daß bereits im Sommer 1903, ein halbes Jahr nach dem Eintritt in die SPD, Michels' Habilitationsvorhaben gescheitert ist. Andererseits forscht Michels noch im September 1903 über die „diplomatischen und militärischen Beziehungen zwischen den Höfen Berlin und Turin am Ende des 17. Jahrhunderts", ein Thema der neuzeitlichen Geschichte also, das in einer gewissen Affinität zu seiner Dissertation steht, aber von ihm nie zu Ende gebracht worden ist.301 Es ist also denkbar, daß Michels sich auch nach 300 Michels, Kapitalismus in der Wissenschaft, S. 188. 301 Vgl. Corrado Malandrino, Lettere di Michels e di Hamon, a.a.O., S. 499f. Am 13.9.1903 sendet Michels Augustin Hamon einen curriculum vitae zu, in dem es heißt: „Maintenant il est occupé à deux livres, l'un desquels doit traiter Les relations diplomatiques et militaires entre les cours de

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der Kritik am „Kapitalismus in der Wissenschaft" weiterhin auf eine Habilitation in Marburg vorbereitet. Erst in der Folgezeit dürften sich dann die akademischen Pforten in Marburg und schließlich auch 1906 in Jena 302 verschlossen haben. Die Gründe für die Ablehnung werden der Öffentlichkeit durch Max Weber bekannt, der den Fall Michels als „Schmach und Schande für eine Culturnation" 303 bezeichnet, auch weil er prinzipiell an Michels' akademischer Qualifikation nicht zweifelt. 3 0 4 Wie Weber den Lesern der Frankfurter Zeitung mitteilt, ist Michels nicht nur das sozialdemokratische Parteibuch zum Verhängnis geworden, sondern auch seine ungetauften Kinder. In Deutschland, so Webers Fazit, „besteht die ,Freiheit der Wissenschaft' innerhalb der Grenzen der politischen und kirchlichen Hoffáhigkeit - außerhalb derselben nicht." 305

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Berlin et de Turin à la fin du XXVII siècle, et l'autre desquels traitera Le développement du socialisme en Italie" (ebd., S. 523). Auf Anraten von Max Weber (vgl. Brief von Weber an Michels, 18.4.1906, MWG Abt. II, 5, Briefe 1906-1908, Tübingen 1990, S. 84, 85) wendet sich Michels am 28.4.1906 mit einem informellen Habilitationsgesuch zunächst persönlich an den Jenenser Universitätsprofessor Julius Pierstorff, um auszuloten, ob das Vorhaben schon im Ansatz aus politischen Gründen zum Scheitern verurteilt ist: „Ich trage mich [•·•] mit dem Gedanken, mich eventuell in Jena für Nationalökonomie zu habilitieren. Zu diesem Behufe möchte ich mir zunächst nur gestatten, Ihnen die höfliche Frage vorzulegen, ob nach Ihrer Kenntnis [...] die Tatsache, daß ich Mitglied der sozialdemokratischen Partei bin, an und für sich als Hinderungsgrund für die Habilitation gelten würde." (Vgl. Michels' Brief im Universitätsarchiv Jena, M 650, Bl. 172-173). In seiner Antwort an Michels am 7.5.1906 (Original ARMFE; zentrale Passage zitiert in FN 2 zum o. g. WeberBrief in der MWG), hat Pierstorff die Stellen genannt, die über ein Habilitationsgesuch zu entscheiden hätten: die Fakultät, der akademische Senat und die Regierungen der vier Erhalterstaaten. Fazit: „Nach den erhaltenen Informationen halte ich es für ausgeschlossen, daß Ihre Bewerbung diesen ganzen Instanzenzug erfolgreich passieren würde." Brief von Weber an Michels, 24.1.1907, MWG II, 5, a.a.O., S. 223. Brief von Weber an Michels, 27.11.1906, MWG II, 5, a.a.O., S. 185:,Auf Grund Ihrer Arbeiten und Ihrer Qualifikation würde [,..]jede deutsche Universität Sie mit Freuden aufnehmen, wenn Sie nicht Sozialdemokraten wären." Zum Verhältnis Weber-Michels vgl. Wolfgang J. Mommsen, Gesinnungsethischer Fundamentalismus versus verantwortungsethischer Pragmatismus, in: ders./ W. Schwentker, Max Weber und seine Zeitgenossen, Göttingen 1988, S. 196-215. Daß diese idealtypische Kontrastierung so nicht aufgeht und auch der junge Michels verantwortungsethisch argumentierte, werde ich u. a. auch in Kapitel V (Demokratische Sozialpädagogik im Vorfeld der Parteiensoziologie) anhand von Michels' Kritik am Turiner Generalstreik vom November 1907 zeigen. Max Weber, Die sogenannte „Lehrfreiheit" an den deutschen Universitäten, in: Frankfurter Zeitung, Nr. 262, 20.9.1908. Eine aktengestützte Aufarbeitung des durch den Einsatz Max Webers zum Politikum gewordenen „Fall Michels" steht bis heute aus, nicht zuletzt deshalb, weil sich im Universitätsarchiv wie im Hessischen Staatsarchiv Marburg keine Unterlagen bezüglich des Habilitationsverfahrens finden. Das Staatsarchiv teilte mir mit, daß der Habilitationsplan vermutlich informell abgewürgt worden sei. Die Sekundärliteratur ist daher auch nicht besonders ergiebig. Vgl. Heinz-Gerd Hofschen, „Sozialdemokratische Gesinnung und ungetaufte Kinder". Ein Berufsverbotsfall vor siebzig Jahren: Robert Michels, in: Dieter Kramer/Christina Vanja (Hg.), Universität und demokratische Bewegung. Ein Lesebuch zur 450-Jahr-Feier der Phillips-Universität Marburg, Schriftenreihe für Sozialgeschichte und Arbeiterbewegung 5, Marburg 1977, S. 115-

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Robert Michels wird sich 1907 in Turin habilitieren. Danach allerdings, und dies ist einer der überraschendsten Befunde dieser Arbeit, wird er von Turin und Basel aus weiter eine Professur in Deutschland anstreben und seine Etablierung in der deutschen Wissenschaftslandschaft erfolgreich vorantreiben. Erst der Ausbruch des Ersten Weltkrieges wird Michels' akademische Pläne in Deutschland endgültig vereiteln.306

II.4. „Demokratischer Nationalismus": Michels' Engagement für das Selbstbestimmungsrecht der Völker „Der Antinationalismus bedeutet also keinen wirklichen Fortschritt über den Chauvinismus hinaus; er setzt nur an Stelle der ehrlich-brutalen Unterdrückung die heuchlerische." (Ladislaus Gumplowicz) 307

Für den Sozialdemokraten Robert Michels bezieht sich die „soziale Frage" keineswegs allein auf die ökonomische Situation der lohnabhängigen Unterschichten und ist auch nicht allein durch die organisierte Arbeiterbewegung zu lösen. Mit dem Begrifi" der „sozialen Frage" sucht er vielmehr die Herrschaft des Menschen über den Menschen in einem dreidimensionalen Sinn zu fassen: als ökonomische, sexuelle und ethnische Herrschaft. So fließen in seine Definition von „sozialer Frage" die fur ihn drei „wichtigsten Zeitfragen" ein: die „Gegensätze zwischen den einzelnen Klassen, Rassen und Geschlechtern".308 Dies in die Sprache politischer Wertüberzeugungen übersetzt, sind Sozialismus, Feminismus und Nationalismus (im Sinne der nationalen Autonomie) drei gleichberechtigte und eigenständige Essentials von Michels' frühem politisch-publizistischen Programm. Was diese drei Programmpunkte miteinander verbindet, ist der normative Bezugspunkt ihrer praktischen Umsetzung: das demokratische Prinzip. Der Sozialismus wird von Michels, wie wir noch sehen werden,309 an die politische Form der Republik gebunden, der Feminismus, wie bereits gezeigt, an die individuelle Auto-

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120; Bernhard vom Brocke, Marburg im Kaiserreich 1866-1918. Geschichte und Gesellschaft, Parteien und Wahlen einer Universitätsstadt im wirtschaftlichen Wandel der industriellen Revolution, in: E. Dettmering/R. Grenz (Hg.), Marburger Geschichte. Rückblick auf die Stadtgeschichte in Einzelbeiträgen, 2.Aufl., Marburg 1982, S. 367-540, S. 503; zu den universitätsrechtlichen Aspekten vgl. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 4: Struktur und Krisen des Kaiserreiches, Stuttgart usw. 1969, S. 952-958. Vgl. das Kapitel IX. Der Fremde im Kriege. Brief von Ladislaus Gumplowicz an Michels, Mai 1902, in: Timm Genett, Lettere di Ladislaus Gumplowicz a Roberto Michels (1902-1907), in: Annali della Fondazione Einaudi, Vol. XXXI, Torino 1997, S. 417-473, S. 430-433. Michels, Grenzen der Geschlechtsmoral, S. 130-131. Vgl. u. a. die Kapitel IV. 1. und IV.2.

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nomie und gleiche Teilhabe an den politischen Rechten,310 der Nationalismus, wie ich im folgenden demonstrieren werde, an das Selbstbestimmungsrecht der Völker.311 Das Thema des Patriotismus und der nationalen Identität ist somit keines, das Michels erst nach seinem desillusionierten Abschied von der Sozialdemokratie als neuen politischen Werthorizont für sich entdecken wird. Es durchzieht Michels' Œuvre von seinen Anfängen 312 bis zu seinem Ende.313 Und im Gegensatz zur Thematisierung von Demokratie gibt es in Michels' Beschäftigung mit der Idee der Nation durchaus auch Fixpunkte einer normativen Kontinuität: So bleibt sein Begriff der Nation durch all die Jahre seiner politisch-ideologischen Entwicklung mit ihren politischen Brüchen und Wendungen dem sogenannten ,westlich-subjektiven' Ansatz treu, wonach die Letztbegründung nationaler Identität nicht in ,objektiven' Merkmalen wie Abstammung oder Sprache zu suchen sei, sondern im Willen des einzelnen, in seinem persönlichen Zugehörigkeitsgefühl. Und im Hinblick auf die internationale Politik bleibt das „Selbstbestimmungsrecht der Völker" eine Norm, die Michels zeitlebens vertritt. Diesen Befund müssen wir allerdings in einer Hinsicht einschränken: da er später dem italienischen Imperialismus in Afrika 1912 (Libyen) und 1936 (Äthiopien) nicht mit Kritik, sondern mit Wohlwollen begegnet ist, hat er offensichtlich das „Selbstbestimmungsrecht der europäischen Völker" gemeint. Dieser Eurozentrismus in der praktischen Auslegung des Selbstbestimmungsrechts charakterisiert im übrigen - aller universalen Menschenrechtssemantik zum Trotz - bereits die Publizistik des jungen Sozialdemokraten.314

310 Michels hat sich vom Wahlrecht der Frau versprochen, daß dieses die „Demokratisierung der Massen" vollenden werde, weil nur unter der Bedingung der gleichen politischen Teilhabe auch unter den Frauen ein Reifungsprozeß, eine „Erziehungsarbeit" in Gang gesetzt werde, der sie langfristig aus ihrer subalternen Position gegenüber dem Mann befreien werde.Vgl. Michels, Antwort auf die Umfrage „II voto alla donna?", in: Pubblicazioni della Rivista .Unione Femminile', Milano 1905, S. 94-98, S. 97: [...] sono convintissimo, che il dare il diritto di votto alle donne non farà retrocedere, ma progredire l'umanità nel suo sviluppo, e che tanto più presto avverrà questo, quanto più presto si completerà la democratizzazione delle masse"; „La donna senza diritti politici non è altro per l'uomo che un oggetto di oppressione istintiva, che non vale la pena di rendere collega o compagna di lotta; ma la donna col diritto del voto potrà offrire qualcosa all'uomo che la fa degna del suo lavoro educativo." 311 Vgl. auch Michels, Soziale Bewegungen zwischen Dynamik und Erstarrung. Essays zur Arbeiter-, Frauen- und nationalen Frage, hg. v. Timm Genett, in: Schriften zur europäischen Ideengeschichte, hg. v. Harald Bluhm, Berlin 2007. 312 Michels, Nationalismus, Nationalgefühl, Internationalismus, in: Das freie Wort, 2. Jg., Nr. 4, 1902, S. 107-111. 313 Michels, Orme italiane nei paesi renani, in: Nuova Antologia, 16. Aprii 1936, S. 458-466. 314 So argumentiert Michels 1905 in einem Beitrag zum Problem des Kolonialismus, daß eine zivilisierte sozialistische Gesellschaft - im Gegensatz zur militaristischen bürgerlichen Gesellschaft durchaus die „heilige Pflicht" haben könnte, den „barbarisch oder halbbarbarisch gebliebenen Gesellschaften" durch kolonialen Oktroi die „auf Gerechtigkeit und persönlicher Integrität basierende Zivilität" zu verordnen. Vgl. Michels, Il problema coloniale di oggi e di domani, in: Il Divenire sociale, 1. Jg., Nr. 19, S. 307-308: „E poi la società socialistica [...] avrà il sacrosanto

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Beim näheren Hinsehen unterscheidet sich Michels' Beschäftigung mit der Nation allerdings erheblich.315 In der ersten Phase (1902-1907) favorisiert er einen republikanischen Patriotismus mit einer sozialpatriotischen Komponente nach innen und einer kosmopolitisch-internationalistischen Komponente nach außen. 316 Darauf folgt, z weitens, im Kontext der Parteiensoziologie (1907-1913) eine desillusionierte Analyse des Nationalismus: hier wird Michels auf die universalistischen Implikationen des nationalen Autonomiegedankens - Stichwort: Nationalitätenprinzip - nur noch als Facerte in der Theoriegeschichte zu sprechen kommen und den Akzent auf ihre Instrumentalisierbarkeit im Kampf um Herrschaft setzen. In der dritten Phase, den Jahren 1913 bis 1923, verstärkt durch den Ersten Weltkrieg, sind Michels' Schriften vom nationalpatriotischen Engagement des späteren Adoptivitalieners - die italienische Staatsbürgerschaft erhält Michels 1921 - geprägt. Und ebenso loyal, wie er in den turbulenten Weltkriegsund frühen Nachkriegsjahren die Außenpolitiken aller nationalliberalen Regierungen von Salandra bis Nitti als Publizist unterstützt hat, wird er nach Mussolinis Regierungsantritt in durchweg freundlichen Worten der Welt die Wiedergeburt der italienischen Nation im Zeichen des Faschismus verkünden. In dieser vierten Phase werden seine Patriotismusstudien sich signifikanterweise den mythologischen Fundamenten der Nation zuwenden, im italienischen Fall dem „alten Rom" und der „Latinität". Im folgenden konzentrieren wir uns allein auf die „erste Phase" von Michels' Schriften. Nachdem wir seine Plädoyers für eine republikanische Renaissance des deutschen Nationalbewußtseins bereits im Zusammenhang mit seiner Kritik der politischen Kultur des Kaiserreichs kennengelernt haben, steht hier nun allein sein Engagement für die nationale Selbstbestimmung in den Jahren 1902 bis 1907 auf dem Prüfstand.

1. Mancini statt Marx Michels' Definition der „sozialen Frage", die den Nationalitätenkampf auf eine Stufe mit dem Klassenkampf stellt, dürfte in der sozialistischen Bewegung höchst umstritten gewesen sein. Ebenso umstritten wie seine programmatischen Äußerungen im Vorfeld des Kongresses der II. Internationale in Amsterdam 1904, als er deklariert, daß die „nationale Autonomie der Nationalitäten" zu den „absoluten und unverletzlichen Prinzipien des internationalen Sozialismus" zähle. 317 Wie auch immer man diesen Sozialis-

dovere di dar parte della sua relativa felicità [...] anche a quest'altra società rimasta barbara o semibarbara, dandole [...] questa vera civiltà che consiste nella giustizia e nella integrità personale [...]". 315 Die folgende für die Orientierung nützliche zeitliche Gliederung stammt von Corrado Malandrino, Pareto e Michels: Riflessioni sul sentimento del patriottismo, in: S. 363-382, S. 371. 316 Vgl. auch Kapitel II.3.4. zur „Neuen Nationalpädagogik" im Kaiserreich. 317 Vgl. Michels, Le Incoerenze internazionali del socialismo contemporaneo, in: Riforma Sociale, Heft 8, Jg. 10, Bd. 13, 1904, Estratto, 11 Seiten, S. 11: „La completa libertà di opinione in fatto di religione, la proibizione del duello, l'autonomia nazionale delle nazionalità [...] mi sembrano essere altrettanti principii assoluti e inviolabili del socialismo internazionale".

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mus-Begriff bezeichnen möchte: marxistisch ist er gewiß nicht, wenn man ihn nicht sogar als anti-marxistisch bezeichnen möchte. Das Postulat der nationalen Autonomie war Marx und Engels eher ein Dorn im Auge gewesen. Sie empfanden zumindest die Selbstbestimmungsaspirationen kleiner Völker als hinderlich für die Bildung großer staatlicher Einheiten, die ihnen als Voraussetzung für eine dynamische kapitalistische Entwicklung galten.318 Marx und Engels hatten der sozialen Emanzipation der internationalen Arbeiterklasse den Vorrang vor der nationalen Emanzipation ethnischer Minderheiten gegeben, weil letztere Gefahr lief, die Lokomotive der Geschichte auf ihrer Fahrt unnötig aufzuhalten. In der Marx-Rezeption wurde ,national' dann ohnehin mit bürgerlich' gleichgesetzt und das Ringen um nationale Identität unter Ideologieverdacht gestellt. Besonders greifbar war die Mißachtung nationaler Bewegungen in der Theorie Kautskys, der aufgrund der internationalisierenden Wirkungen des Kapitalismus ein Unter- und Aufgehen kleiner Nationen in immer größere Einheiten erwartete und fest an eine „Zusammenfassung der gesamten Kulturmenschheit in einer Sprache und Nationalität" als Ziel des historischen Gesamtprozesses glaubte.319 Aus solchen Theoremen entstand in der Praxis eine widersprüchliche Lage der deutschen Sozialdemokratie. In bürgerlichen und namentlich den ,nationalen' Kreisen der deutschen Gesellschaft wurden die Sozialdemokraten bekanntlich als ,Vaterlandsfeinde' wahrgenommen und denunziert. Die durch Kautskys Theoreme gestützte Ignoranz der Nationalitätenkämpfe hatte aber auch zur Folge, daß nationale Autonomiebewegungen die in Russland, Polen und in Österreich-Ungarn durchaus Sozialrevolutionäre' Züge trugen - den sozialistischen Internationalismus nicht weniger als ihren Gegner empfanden. Gleichzeitig ist im zeitlichen Kontext um 1900 aber auch ein „schleichender Nationalisierungsprozeß"320 der europäischen Arbeiterbewegung selbst zu beobachten, der in Widerspruch zur internationalistischen Phrase tritt und diese zunehmend unglaubwürdig macht. Robert Michels hat diese Doppeltendenz - der ideologisch motivierten Indifferenz gegenüber nationalem Autonomiestreben einerseits und der De-facto-Nationalisierung der sozialdemokratischen Politik andererseits - in zahlreichen Kritiken aufgegriffen. Als August Bebel etwa 1904 auf dem Bremer Parteitag in einem Anflug von Reichspatriotismus verkündet, er würde im Fall eines Angriffskrieges das Deutsche Reich verteidigen und „keinen Fetzen Landes preisgeben" wollen, erinnert Michels an die imperiale Ausdehnung des Reiches, das über die Siedlungsgebiete der deutschen Nation hinaus expandiert sei und auch polnisches, dänisches und elsässisches Terrain umfasse. Bebels Vorsatz, kein Stück des Reichsgebietes herausgeben zu wollen, stehe daher im Widerspruch zum Parteiprogramm: 318 Vgl. Hans Mommsen, Die sozialistische Arbeiterbewegung und die nationale Frage in der Periode der I. und II. Internationale, in: Heinrich-August Winkler (Hg.), Nationalismus, 2. erw. Auflage, Königstein/Ts. 1985, S. 85-98, S.88. 319 Karl Kautsky, Nationalität und Internationalist, in: Ergänzungshefte zur ,Neuen Zeit', Jg. 26, Heft 1, 1908, Erg. Heft 1, S. 17; zit.n.Fetscher, Der Marxismus, a.a.O., S. 632. 320 Hans Mommsen, Sozialistische Arbeiterbewegung und nationale Frage, a.a.O., S. 91.

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„Ich bin allerdings der Meinung, daß der Satz, wir würden jeden Fetzen des Reiches verteidigen, dem Parteiprogramm widerspricht. (Bebel: Na, na!) Ich meine den Satz unsres Programms über das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Ja, hätten wir den abgeschlossenen Nationalstaat, so hätte Bebel Recht. Aber wir leben in einem Staatswesen, welches sich dänische, französische und polnische Gebietsteile angeeignet hat. Denken Sie sich nun den Fall, die Hakatisten 3 ' 1 trieben die polnische Bevölkerung zum Aufstande; müßte dann nicht unsre Sympathie auf Seiten der Polen stehen? Sollten wir da bis zu unsrem letzten Blutstropfen kämpfen, um die Polen zaristisch niederzuwerfen?"322 Das ist der unmißverständliche Aufruf an die Partei, im Konfliktfall dem Prinzip des nationalen Selbstbestimmungsrechts gegenüber dem Prinzip der Unantastbarkeit bestehender Staatsgrenzen den Vorzug zu geben. Diese politische Option vertritt Michels mit besonderem Nachdruck auch im Hinblick auf Österreich-Ungarn und solidarisiert sich von Beginn an weitgehend mit den Zielen der italienischen „Irredenta".323 Seine Sympathie fur nationale Emanzipationsbewegungen begründet er stets mit dem „Nationalitätenprinzip", das er nicht zuletzt deshalb für ein adäquates Lösungsmodel] der Nationalitätenkonflikte hält, weil es einer „demokratischen Weltanschauungsform"324 entspringe. Bevor ich auf die empirischen Widersprüche eingehe, auf die Michels' nationalitätenpolitisches Engagement insbesondere im Hinblick auf die multinationale Situation in Österreich-Ungarn stößt, soll der weltanschauliche Hintergrund rekonstruiert weiden, der Michels in Widerspruch nicht nur zur politischen Praxis und Rhetorik führender SPD-Politiker, sondern auch zur marxistischen Weltanschauung geraten läßt. Zur theoretischen Untermauerung seiner „Renaissance des Patriotismus" hat Michels immer wieder auf den ideengeschichtlichen Hintergrund des Menschenrechtsuniversalismus verwiesen: namentlich die Theorie des Nationalitätenprinzips nach Stanislao Mancini sowie Patriotismus-Positionen aus der Zeit der deutschen Aufklärung und ihre Fortfuhrung im Neukantianismus eines Paul Natorp. „Eine der bedeutendsten theoretischen Rechtfertigungen" des Nationalitätenprinzips ist für Michels Stanislao Mancinis Turiner Antrittsvorlesung aus dem Jahre 1851. Warum er die Theorie des italienischen Völkerrechtslehrers so überzeugend hält, biingt ein Referat aus späteren Tagen zum Ausdruck, sein Vortrag auf dem Deutschen Soziologentag von 19 1 2.325 Im Anschluß an Mancini klassifiziert Michels das Nationa litä-

321 Bezeichnung für Mitglieder des 1904 von //ansemann, ATennemann und 7iedemann gegründeten „Vereins zur Förderung des Deutschtums in den Ostmarken". 322 Protokoll Bremer Parteitag, S. 206. 323 Vgl. Michels, Das unerlöste Italien in Österreich, in: Politisch-Anthropologische Revue, 1. Jg., Nr. 9, Dezember 1902, S. 716-724. 324 Michels, Nationalismus, Nationalgefühl, Internationalismus, a.a.O. 325 Michels, Die historische Entwicklung des Vaterlandsgedankens, in: Verhandlungen des Zweiten Deutschen Soziologentages vom 20.-22. Oktober 1912 in Berlin, S. 140-184, hier S. 161 164. Die folgenden Zitate entnehme ich der überarbeiteten Vortragsfassung: Michels, Zur historischen

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tenprinzip als „Erweiterung des Prinzips der Menschenrechte". Indem es ethnischen Kollektiven ein Grundrecht auf Selbstbestimmung zuspreche, stehe es in einem engen logischen Verhältnis zur Kantschen Sittenlehre: „Wie der kategorische Imperativ, so impliziert auch das Nationalitätenprinzip den Verzicht auf die Benutzung des Nebenmenschen zu eigenen, ihm fremden Zwecken". Da das Nationalitätenprinzip einen „altruistischen Nationalismus" zur Lösung der Nationalitätenfrage postuliert, besteht seine Voraussetzung allerdings „in der Annahme, daß jedes Volk sich mit dem Genuß der erworbenen Selbständigkeit und Unabhängigkeit genug tun lasse und die Nebennationen nicht antaste." Michels' Option für die Mancinische Prägung des Nationalitätenprinzips hat ihren Grund nicht zuletzt darin, daß Mancini die objektiven Kriterien der Nationalität - geographische, ethnographische, linguistische, religiöse, tranditionelle, juridische - von dem subjektiven Kriterium des „Zugehörigkeitsgefühls" trennt und dieses als Kernkriterium von Nationalität allen anderen überordnet. Nationalität sei somit ein „Willensakt", die Methode des Nationalitätenprinzips das Plebiszit. Damit habe Mancini einen revolutionären Grundsatz formuliert, der „auf dem ethischen Gedanken von der Berechtigung des Menschenwillens basiert", nämlich: „Ausgangspunkt für das internationale Recht darf nicht der Staat sein, sondern die Nation." Revolutionär sei das Nationalitätenprinzip insofern, als damit alle Staaten in Frage gestellt würden. Im Prinzip haben wir hier alle Grundpositionen des von Michels verfochtenen Programms einer ethischen Erneuerung des Patriotismus: seine Verankerung in der Zustimmung des einzelnen, der kategorische Imperativ als Leitmaxime zur Regelung der internationalen Beziehungen und die analytische Separierung von Nation und Staat als zwei unterschiedlichen, in der Praxis meist entgegengesetzten Ordnungsmodellen. Indes wäre die Schlußfolgerung, daß Mancinis Nationalitätenprinzip den ideengeschichtlichen Hintergrund von Michels' frühen Patriotismus-Schriften bildet, nicht ganz korrekt. Dem Sinn nach lassen sich zwar die frühen Aufsätze als ,mancinisch' interpretieren. Eine namentliche Rezeption Mancinis läßt sich aber anhand der Michelsschen Publikationen frühestens im Jahr 1913 dokumentieren.326 Es stellt sich daher die Frage, ob die weltanschauliche Initialzündung für Michels' Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Nation in einem anderen Rezeptions- oder Diskussionszusammenhang zu suchen ist. Meine These ist, daß es tatsächlich im ersten Halbjahr 1902 zu einer solchen Initialzündung gekommen ist. Anlaß ist eine Monographie des polnischen , Irredentisten' und Sozialisten Ladislaus Gumplowicz und ein daran anschließender Briefwechsel gewesen. Erst infolge dieses Briefwechsels haben Michels' Kritik des ,abstrakten Internationalismus' und sein Plädoyer für eine Revision des Begriffs der Nation ihre scharfen Konturen bekommen. Und nicht nur das: sein prägnantestes Theorieangebot zu diesem Thema, vorgetragen in dem Aufsatz „Die Formen des Patriotismus" von 1905, bezieht seine zentralen Aussagen, zum Teil wortwörtlich, aus einem Brief Analyse des Patriotismus, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 36. Bd., Heft 1, S. 14-43, Heft 2, S. 394-449, Tübingen 1913, hier S. 402-409. 326 Michels, Zur historischen Analyse des Patriotismus, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 36. Bd., Heft 1, S. 14-43, Heft 2, S. 394-449, Tübingen 1913, S. 402-409.

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Gumplowicz' vom Mai 1902. Der folgende Exkurs dokumentiert diesen in der MichelsForschung bislang unbekannten Rezeptionszusammenhang in vier Schritten: von Ladislaus Gumplowicz' Ausgangsthesen über Replik und Kontrareplik zur Adaption.

2. Ladislaus Gumplowicz und die Dichotomie von „demokratischem Nationalismus" und „abstraktem Internationalismus" Ladislaus Gumplowicz' Thesen zum Nationalismus In seiner Schrift „Nationalismus und Internationalismus im 19. Jahrhundert"327 rechnet Ladislaus Gumplowicz, Sohn des Soziologen Ludwig Gumplowicz, die Trends der Zeit hoch und kommt dabei zu einem ganz anderen Befund als der parteioffiziöse Mai"xismus: er beobachtet als wirkungsmächtiges Erbe des 19. Jahrhunderts eine Gleichzeitigkeit von Nationalisierung und Internationalisierung im Leben der Völker. Durch die technischen Revolutionen wie Dampfschiff, Lokomotive, Telegraph und Telefon sei es zu einem weltumspannenden Austausch von „Kulturelementen" gekommen: „Die Erde ist klein geworden, und alle Menschen Nachbarn." Die, wie man heute sagen würde, .technische und kulturelle Globalisierung' um 1900 führe aber nicht automatisch zu einer Abnahme der internationalen Konflikte. Im Gegenteil: „Die Nachbarn streiten sich am meisten".328 Die Nation ist in diesem Szenario nicht, wie die Internationalisten vermuten, ein bloßes Durchgangsstadium zur Weltgesellschaft, sondern sie ist seiner Prognose nach das neue und siegreiche Ordnungsmodell in Europa, das aus dem Grundkonflikt zwischen dem Nationalitätenprinzip und den großen Reichen hervorgegangen ist bzw., wo dieser Konflikt noch besteht, in ihm sich erfolgreich behaupten wird. Die „künstliche Zusammenpferchung" der Nationalitäten in den großen Reichen habe nur in einer Zeit zustande kommen können, „wo die Völker als solche in der Politik nicht mitsprachen" und die „Lehnsherren der Völker" die Geschichte machten.329 Der Siegeszug der Nation sei die logische Konsequenz der Demokratisierung der geistigen und technischen Kultur sowie des Staatslebens.330 Daß die Nationalisierung gleichzeitig auch neue Konfliktpotentiale mit sich bringt, resultiere daraus, daß Staat und Nation selten zusammenfallen. Gumplowicz plädiert daher - ganz ähnlich wie dies später Michels tun wird - für eine Aufhebung der Identitätsfiktion von Staat und Nation und prangert es als einen „menschenunwürdigen Grundsatz" an, „daß die Staatsangehörigkeit die Nationalität bestimme."331 Sein Lösungsvorschlag für die Nationalitä-

327 Berlin 1902. 328 Ladislaus Gumplowicz, Nationalismus und Internationalismus im 19. Jahrhundert, VII. Heft der Reihe „am Anfang des Jahrhunderts", Berlin 1902, S. 45. 329 Ladislaus Gumplowicz, Nationalismus und Internationalismus im 19. Jahrhundert, S. 12-13. 330 Ladislaus Gumplowicz, Nationalismus und Internationalismus im 19. Jahrhundert, S. 38. Demokratisierung meint hier Teilhabe. Ein Beispiel für die „Demokratisierung der geistigen Kultur " ist die Entwicklung der „Volkssprache zur Literatursprache". 331 Ladislaus Gumplowicz, Nationalismus und Internationalismus, S. 6.

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tenkonflikte ist nicht die Neuordnung Europas in möglichst homogenen Nationalstaaten, sondern der föderative Vielvölkerstaat. Die Schweiz dient ihm als Nachweis, daß dies auch möglich ist, während für Österreich-Ungarn ein multinationales Verfassungsdesign ihm zufolge sogar die einzige realistische gesamtstaatliche Überlebensperspektive böte. Gumplowicz optiert in diesem Zusammenhang für die föderativen Reformvorschläge der österreichischen Sozialdemokratie. Alle alternativen Versuche einer ,Lösung' der Nationalitätenkonflikte durch Zwangsassimilierung oder Unterdrückung nationaler Minderheiten seien dagegen entweder vergeblich, weil sie den Widerstand der unterdrückten Nation hervorrufen und damit auf eine Stärkung nationaler Identität hinauslaufen, oder führten zum zivilisatorischen Rückschritt, weil sie ihr Ziel nur über den Abbau der bürgerlichen und politischen Freiheiten erreichen könnten: „Es ist, wie wenn ein dummer Junge im Frühling eine kräftige saftstrotzende Pflanze köpft: sie wächst um so üppiger, und war sie schon vorher stachlig, so zeigt sie sich nun zwiefach stachelbewehrt. Will man aber die Wurzeln dieses Wachstums abgraben, so mache man alle jene demokratischen Reformen des öffentlichen Lebens rückgängig, welche der Stolz unserer Zeit sind. Man schaffe die Freizügigkeit ab, denn sie ermöglicht es jeder einzelnen Nation, ihre von ihr politisch getrennten Volksgenossen aufzusuchen und ihnen jene Kulturgüter mitzuteilen, dir ihr rechtmäßiges Erbe sind. Man vernichte die Selbstverwaltung der Gemeinden mit Stumpf und Stiel, denn sie bildet selbst für die bescheidensten Bauernvölker eine Schule selbständigen, bodenwüchsigen politischen Lebens. Man schaffe die Preßfreiheit ab, denn sie ermöglicht es jeder, von den Mächtigen dieser Welt noch so kategorisch totgesagten Volkssprache, sich zur Litteratursprache zu erheben. Man schaffe das allgemeine Wahlrecht ab, denn es zwingt die Agitatoren aller Parteien, mit dem letzten Tagelöhner in der hintersten Provinz in dessen Muttersprache zu reden."332 Mit der These, daß die Nationalisierung systematisch mit der Demokratisierung und der Schaffung freiheitlicher Rechtsinstitute verbunden ist, sie nicht nur bedingt, sondern auch gleichsam zur Voraussetzung hat, gelingt es dem polnischen Sozialisten, das Phänomen der Nation vom „Ideologie"-Verdacht freizusprechen und allen emanzipativen Gesellschaftsentwürfen ins Stammbuch zu schreiben, daß am modernen nationalen Autonomiegedanken vorbei keine freiheitliche Gesellschaft zu errichten sei.

332 Ladislaus Gumplowicz, Nationalismus und Internationalismus, S. 42.

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Replik Diese Überlegungen haben in Michels offensichtlich einen dankbaren Leser gefunden. In seiner Rezension, die im Frühjahr 1902 in der Zeitschrift „Das Freie Wort" 3 ' 3 erscheint, erklärt er Gumplowicz' Monographie zum „Meisterwerk". Allerdings überwiegt bei ihm im Hinblick auf die Nation insgesamt ein eher pessimistischer Ton. Michels nimmt die Rezension zum Anlaß, in einem Essay seine eigenen Weirtpräferenzen zu präsentieren, indem er eine Art moralisches Stufenmodell kollektiver Identität konzipiert: Der „Nationalismus" befindet sich hier auf der ethisch niedrigsten Stufe, weil er durch das Bestreben gekennzeichnet sei, „das eigene Volkstum auf alle Weise möglichst zum herrschenden zu machen". Der Nationalismus, den die Engländer „Jingoismus", die Franzosen „Chauvinismus" nennen und der in Deutschland „leider" - für Michels begriffsmißbräuchlich - „Patriotismus" genannt werde, sei „aggressiv"; er achte nichts Fremdes und sei „unendlich leicht gereizt". Gegenüber sprachlichen, kulturellen oder konfessionellen Minderheiten verhalte er sich „gemeingefährlich". Die zweite Stufe auf der moralischen Leiter kollektiver Identität ist das „Nationalbewusstsein". Dieses sei „etwas durchaus Gesundes", weil sein Streben auf die Wahrung des eigenen Volkstums gerichtet sei und sich theoretisch am „Nationaliiätenprinzip" 334 orientiere. Es sei im allgemeinen defensiv und nicht aggressiv gegen andere gerichtet. Michels hebt diese Klassifizierung aber sogleich zugunsten einer höchst ambivalenten Einschätzung auf, indem er das ,Nationalbewußtsein' im selben Atemzuge als „noch nicht ausgewachsenen Nationalismus" bezeichnet. Aus einer unheimlichen I^ogik heraus müsse es zwangsläufig in den Nationalismus pervertieren. Eine bedeutsame Ursache dafür sieht Michels ebenso wie Gumplowicz im Staat. Die europäischen Staaten seien nicht in Rücksicht auf Nationalitäten gebildet worden, sondern das Ergebnis dynastischer Eroberungen und diplomatischer Verträge. Ist eine Nation numerisch oder über ihren Zugriff auf den bürokratisch-militärischen Staatsapparat in einer herrschenden Position, amalgamiert sich ihr Nationalbewußtsein mit dem Staatsbewußtsein und erzeugt den Nationalismus im oben skizzierten Sinne. Der Nationalismus der herrschenden Nation setze so den „Kampf des Staates gegen die Nationalität" im Namen der Mehrheitsnation fort. Auch wenn er damit dem Staat die Schuld für den chauvinistischen Nationalismus in die Schuhe schiebt: die Skepsis gegenüber der Tragfähigkeit eines defensiven und selbstgenügsamen Entwurfs nationaler Identität ist

333 Michels, Nationalismus, Nationalgefühl, Internationalismus, a.a.O. 334 Die ideengeschichtlichen Wurzeln des „Nationalitätenprinzips" bleiben dabei im Dunkeln. Ein Mancini-Verweis findet sich nicht. Stattdessen beläßt es Michels bei Bemerkungen über die „von dem sogenannten Nationalitätenprinzip geleitete Politik Napoleons III.", „zu welcher demokratischen Weltanschauungsform die französischen Sozialisten des Jahres 1848 unbekanntlich die Anregung gegeben hatten." Angesichts dieser Rekonstruktion vermute ich, daß Michels zu diesem Zeitpunkt Mancini noch nicht rezipiert hat und im übrigen auf die Ausführungen von Gumplowicz (S. 6f.) Bezug nimmt.

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II. Robert Michels' politische Struktur- und Sittenkritik des Kaiserreiches

unübersehbar. Das ,Nationalbewußtsein' befindet sich für Michels offensichtlich nur temporär auf einer moralisch höheren Stufe als der Nationalismus. Es neigt in dem Moment zu einem Rückfall auf dessen niedrigeres Niveau kollektiver Identität, sobald das Ziel der politischen Autonomie erreicht ist und die eigene Nation selbst Staatsnation ist. Das „Nationalbewußtsein" sei nur bei Völkern anzutreffen, die „viel zu sehr in die Defensivstellung hineingedrängt sind, um selbst offensiv mit Erfolg vorgehen zu können".335 Unter der Hand dementiert Michels so sein Stufenmodell. Denn aggressiver Nationalismus und defensives Nationalbewußtsein sind im Grunde zwei von den jeweiligen politischen Gelegenheitsstrukturen abhängige Varianten ein und derselben Sache. Die Anerkennung friedlicher Entwürfe nationaler Identität steht in diesem frühen Stadium somit den ständig präsenten Degenerationspotentialen nationaler Identität zu einem aggressiven Chauvinismus gegenüber. Als „höchste Form des menschlichen Zusammenlebens" zeichnet Michels Anfang 1902 daher den „Internationalismus" aus, den er nicht als Nivellierung der nationalen Unterschiede - „nicht als eine Art von Gleichmacherei, etwa durch allgemeine zwangsweise Einführung der Weltsprache Volapiik336" verstanden wissen will, aber doch als ein kollektives Wertesystem, das die „nichtvölkischen Werte den rein nationalen gegenüber" privilegiert.337 Wie man sieht, distanziert sich Michels, auch wenn er das ,Nationalbewußtsein' ambivalent beurteilt und den Internationalismus' zur moralischen Leitnorm erhebt, mit seiner Absage an die „Gleichmacherei" deutlich von einer beliebten Zukunftsvision des zeitgenössischen Internationalismus, wie sie sich insbesondere bei Kautsky findet. Aber auch wenn Michels wie Gumplowicz die Schweiz als ein empirisches Indiz dafür wertet, daß Nationalität und Internationalität in der Praxis nicht immer in einer kontradiktorischen Beziehung stehen müssen, sondern durchaus in ein komplementäres Verhältnis treten können,338 dominiert bei ihm eine skeptische Sicht, die sich beispielsweise darin äußert, daß er das italienische Nationalbewußtsein wörtlich als eine A u s nahme" unter den europäischen Völkern bezeichnet, die zumindest „vorderhand" vor den regressiven Tendenzen des Nationalismus gefeit sei.339

335 Michels, Nationalismus..., S. 109. 336 Kautsky dagegen vertrat einen Internationalismus, dem die Entwicklung einer vereinheitlichenden Weltsprache nicht nur wahrscheinlich, sondern auch grundsätzlich wünschenswert erschien. 337 Michels, Nationalismus, Nationalgefühl, Internationalismus, a.a.O. 338 „Während in Österreich alle Nationalitäten, soweit sie nur irgend die Macht dazu haben, nationalistisch auftreten, indem sie, jede selbst getreten, da, wo sie Oberwasser haben, ihrerseits drücken und bedrücken, durchweht die Schweiz trotz aller linguistischer und kultureller Verschiedenheit ihrer Bewohner ein entschieden - in beschränktem Sinne - internationaler Zug." (Michels, Nationalismus, Nationalgefühl, Internationalismus, S. 110). 339 Michels, Nationalismus, Nationalgefühl, Internationalismus, S. 108.

II. 1 „Demokratischer Nationalismus"

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Kontrareplik Michels' pessimistische Untertöne veranlassen Ladislaus Gumplowicz im Mai 1902 zu einem umfangreichen Brief. Es ist insbesondere Michels' Überzeugung, daß der Internationalismus eine moralisch höherwertige, weil über dem Kampf um nationale Identität stehende Weltanschauung sei, die Gumplowicz nicht unwidersprochen so stehen lassen will. Die alternative Stufenleiter, die der Pole nun Michels entgegenhält, findet sich in keiner von seinen Schriften. Er hat sie ganz seinem Rezensenten gewidmet. Und dieser wird davon nicht unbeeindruckt sein. Die folgenden Zeilen aus dem Brief Ladislaus Gumplowicz' werden in den folgenden Jahren zu Michels' patriotischem Credo avancieren. Michels wird sie zum Teil wörtlich reproduzieren. Ihr Grundgedanke ist die Vermittlung der internationalistischen Friedensperspektive mit dem Gedanken nationaler Selbstbestimmung als gleichrangigem Faktor jeglicher Friedensordnung. Damit aber bekommt die Absage an den „abstrakten Internationalismus" eine neue Schärfe. Die Korrespondenz zwischen den beiden Sozialisten Michels und Gumplowicz steht somit im zeitgenössischen Kontext der Revision und Kritik des Sozialismus. Ladislaus schreibt im Mai 1902: „Was nun die begriffliche Dreiteilung (,Nationalismus - Nationalbewusstsein Internationalismus') [betrifft], so freue ich mich, dass meine Erfahrung mich dazu berechtigt, Ihrer Auffassung eine bedeutend optimistischere entgegenzustellen, die ihren Ausdruck findet in der Dreiheit: Chauvinismus - Antinationalismus (= abstrakter Internationalismus) - konkreter Internationalismus (aufgebaut auf dem demokratischen Nationalismus). Das ist so gemeint: auf der ersten Stufe steht der Chauvinismus, die naive Überzeugung von der auf Erden einzig dastehenden Vortrefflichkeit der eigenen Nation und davon, dass bei allfälligen Konflikten mit Nachbarnationen die eigene Nation überall und jederzeit unbedingt im Recht sei. Der Erkenntniswert einer so primitiv befangenen Anschauung ist nahezu gleich Null; denn sie könnte nur richtig sein, wenn außer der eigenen Nation des Chauvinisten alle anderen Nationen aus unheilbar kultuiunfahigen Barbaren bestünden - eine These, die, zu Gunsten welcher Nation sie auch immer aufgestellt werden mag, der vergleichenden Ethnologie und Kulturgeschichte nicht standhält. Die Willensrichtung des Chauvinismus geht nun im Grunde immer darauf, nicht nur das ethnographische Terrain der eigenen Nation ungeschmälert zu behaupten, sondern auch darüber hinaus möglichst ausgedehnte Gebiete und möglichst viel Menschen sich zu unterwerfen, ohne Rücksicht auf die besonderen Neigungen und Bedürfhisse dieser Menschen. Ob es dieser Willensrichtung infolge einer günstigen äußeren Konstellation vergönnt ist, auch wirklich aggressive Thaten zu verüben (Ihr »Nationalismus') oder ob sie, dank ungünstigen äußeren Umständen, vorläufig auf die Defensive beschränkt bleibt (Ihr ,Nationalbewußtsein'), das scheint mir nur einen Unterschied der temporären Erscheinungsform auszumachen, nicht des Princips. Nicht selten ist trotz der aufgezwungenen Defensivstellung der Chauvinismus schon jetzt als solcher erkennbar. So gibt es ζ. B. schon jetzt Chauvinisten unter den Serben, die

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doch auf lange hinaus beide Hände voll mit der Defensive zu thun haben. Ihr eigenes Staatswesen umfasst kaum ein Drittel des serbischen Sprachgebietes, würde ihnen aber ein Stück bulgarischen oder rumänischen Bodens geboten, sie würden ohneweiters zugreifen - und trotzdem fortfahren, über das Unglück der bosnischen und südungarischen Serben zu jammern. Als nächste und naivste Reaktion auf den Chauvinismus ersteht jener doktrinäre, abstrakte Internationalismus, der die nationalen Unterschiede nicht nur als ^^unterschiede, sondern auch als ^¿unterschiede schlechthin leugnet, beziehungsweise nur als schädliche Zufallsprodukte mangelnden Verkehrs oder als täuschende Erzeugnisse einer volksfeindlichen Absonderungspolitik gelten lässt und somit entweder alle nationalen Fragen grundsätzlich ignoriert oder gar für mechanische Gleichmacherei mittelst irgend eines Volapiik340 eintritt - sich somit in der Praxis als Antinationalismus entpuppt. Besonders gefahrlich wird dieser Antinationalismus (der sich ehedem bei epigonenhaften, geistig unselbständigen Heißspornen des Liberalismus öfters vorfand, heute aber bei ebenso gearteten Heißspornen des Marxismus) in solchen Gebieten, wo eine nationale Fremdherrschaft besteht, denn hier leistet er durch sein systematisches Totschweigen (oder Tothöhnen) der brennenden nationalen Frage dem Chauvinismus der herrschenden Nation direkt Vorschub, während er die unterdrückte Nation durch verständnislose Schroffheit erbittert und so indirekt auch bei ihr den Chauvinismus großzieht. Der Antinationalismus bedeutet also keinen wirklichen Fortschritt über den Chauvinismus hinaus; er setzt nur an Stelle der ehrlich-brutalen Unterdrückung die heuchlerische. Einen wirklichen Fortschritt bedeutet dagegen die Umbildung des Chauvinismus in den demokratischen Nationalismus, der im Verkehr mit anderen Völkern diese als dem eigenen principiell gleichwertig würdigen gelernt hat und sich bescheidet, dem eigenen Volke das Recht auf seinen eigenen Boden und sein eigenes Menschenmaterial zu wahren. [*] Strebt der Chauvinismus nach unbegrenzten Eroberungen nach außen hin, so strebt der demokratische Nationalismus in die Tiefe; er sucht auch in den untersten Schichten der eigenen Nation das schlummernde Bewußtsein kultureller Eigenart zu erwecken und in bodenwüchsiges KulturschafFen umzusetzen, welches das Konzert der Menschheitskultur um eine neue Note bereichert. Aber der Wert und die Schönheit eines solchen eigenartigen Kulturtypus beruhen nicht zum mindesten gerade darin, dass er sich von anderen gleichwertigen, aber ungleichartige« Typen charakteristisch abhebt; schon deshalb führt der demokratische Nationalismus ganz von selbst zu dem Wunsch, dass die Nachbarnationen sich ebenso frei und original entfalten mögen wie die eigene. Demokratischer Nationalist sein, heißt mit fremdem Gebiet und mit fremdem Volksbestandteilen nichts anzufangen wissen -

340 Kunstwort, dem das englische „World-Speech" zugrundeliegt, und das die von Johan Martin Schleyer im 19. Jahrhundert erfundene „Weltsprache" bezeichnet, ein Konkurrenzunternehmen zum „Esperanto" also.

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aber ebendeshalb auch auf den kleinsten Teil eigenen Volkstums und Volksbodens nicht verzichten können, noch wollen. Sind demnach Chauvinismus und abstrakter Internationalismus unversöhnliche Feinde, die einander immer wieder zu fanatischer Fehde entflammen, so verlangt umgekehrt der demokratische Nationalismus nach dem konkreten Internationalismus als nach seiner natürlichen Ergänzung.[*]341 Und hier ist der Punkt, wo ich von uns beiden der größere Optimist bin; ich glaube, namentlich in sozialistischen Kreisen, rasch wachsende und ungemein entwicklungsfähige Ansätze jenes demokratischen Nationalismus zu bemerken, der sich keineswegs als ,noch nicht ausgewachsener' Chauvinismus charakterisiert, vielmehr seiner Willensrichtung nach von vornherein etwas anderes ist als der Chauvinismus."342 Gumplowicz' Feindbild des „doktrinären, abstrakten Internationalismus" läßt sich auch personifizieren: es handelt sich um Rosa Luxemburg.343 Seine optimistische Einschätzung, daß der „demokratische Nationalismus" als Leitmotiv der internationalen sozialistischen Bewegung Fuß zu fassen beginne, entbehrt gewiß nicht völlig der Empirie: durch Gumplowicz' Verwandten344 Otto Bauer, des Theoretikers der ,Vereinigten Staaten von Österreich', hatte das Nationalitätenproblem zumindest innerhalb der Sozialistischen Partei Österreichs einen neuen Stellenwert bekommen. Die internationalistische Phrase erschien hier angesichts der Nationalitätenkämpfe hohl und unangebracht. Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß Gumplowicz' „demokratischer Nationalismus" schon angesichts der oben skizzierten theoretischen und praktischen Defizite der II. Internationale in Fragen des Nationalismus genauso eine Sonderstellung

341 Die zwischen den beiden Sternchen [*] stehende Passage wird von Michels vollständig zitiert in: R.Michels, Die Formen des Patriotismus, II.Teil, in: Ethische Kultur, 13. Jg., Nr. 4, S. 26-28, 1905. 25 Jahre später findet sich das Textstück noch einmal in: Michels, Neue Polemiken und Studien zum Vaterlandsproblem, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 66, Nr. 1, 1931, S. 92-131, S. 111. 342 Brief von Gumplowicz an Michels, Mai 1902, in: Timm Genett, Lettere di Ladislaus Gumplowicz a Roberto Michels (1902-1907), in: Annali della Fondazione Einaudi, Vol. XXXI, Torino 1997, S. 417-473, S. 430-433. Gumplowicz' Beispiel für den „demokratischen Nationalismus" ist die Sozialistische Partei Polens, die seiner Meinung nach nur für die eigene staatliche Unabhängigkeit des polnischen Volkes kämpfe, aber dabei auf keinen Fall die einstige Herrschaft Polens über die Ruthenen in Ost-Galizien reetablieren wolle, sondern den Kampf der Ruthenen gegen die polnischen Junker nach Kräften unterstütze. 343 Luxemburg hatte Gumplowicz' Partei, die Sozialistische Partei Polens, aufgrund eines Dissenses über die eher irredentistische oder internationalistische Orientierung verlassen und eine eigene Partei gegründet, die Sozialdemokratische Partei des Königereiches Polens und Litauens. In seinen Briefen an Michels hat Gumplowicz Rosa Luxemburg mehrmals als Verräterin am polnischen Unabhängigkeitskampf vorgeführt. Vgl. Timm Genett, Lettere di Ladislaus ..., S. 443, 451 (FN 80), 464. 344 Später zumindest, 1914 oder 1920 - meine Quellen sind da widersprüchlich - hat Ladislaus' Nichte Helene Gumplowicz Otto Bauer geheiratet. Vgl. T. Genett, Lettere di Ladislaus Gumplowicz, a.a.O., S. 473, FN 116.

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einnimmt wie Michels. Dieser wird sich in der Folge ja nicht weniger als die „Renaissance des Patriotismus"345 auf die Fahnen schreiben und dabei sich den nationalen Optimismus Gumplowicz' zu eigen machen.

Adaption Michels hat die von ihm noch Anfang 1902 vertretene Hierarchie der Werte, in der das Nationalbewußtsein nur insofern einen moralischen Wert beanspruchen konnte, als es sich an der höheren universalen Moral des Internationalismus orientierte, nach seiner Auseinandersetzung mit den Thesen Gumplowicz' ad acta gelegt. Von nun an sucht er nach einem normativen Rahmen, der es ihm erlaubt, nationale Identität und internationale Orientierung nicht einander über- bzw. unterzuordnen, sondern miteinander zu vermitteln und die einseitige Verabsolutierung des Partikularen bzw. des Universalen zu vermeiden. Entgegen der allgemeinen „Begriffsverwirrung" will Michels zeigen, daß Rationalität' und ,Internationalität' keine kontradiktorischen, sondern komplementäre Faktoren der kollektiven Identität sein können und hinsichtlich einer gelungenen Identitätsbildung sein müssen: „Internationalismus bedeutet nicht Vaterlandslosigkeit. Man kann sein Vaterland sehr lieb haben und dabei doch sehr international gesinnt sein. Heimatliebe schließt die Liebe zum Menschengeschlecht nicht aus. Täte sie es, so wäre sie wahrlich nicht viel wert. Ein aufrichtiger Patriot müßte gerade durch seine Vaterlandsliebe dazu kommen, auch den anderen Nationen die ihren Fähigkeiten und überdies schon allein ihrem Menschentum schuldige Achtung entgegenzubringen."346 Wie sehr sich Michels Gumplowicz' Dreischritt zum „konkreten Internationalismus" respektive „demokratischen Nationalismus" zu eigen gemacht hat, zeigen sein Vortrag „Patriotismus und Ethik"347 sowie seine Analyse der „Formen des Patriotismus".348 Letztere paraphrasiert auch über einen wörtlich zitierten Teil hinaus weite Strecken von Gumplowicz' Brief. Der „antinationale Internationalismus" wird hier als nicht minder kulturschädlich vorgeführt wie die expansiv-kriegerischen, chauvinistischen und machtstaatlichen Varianten des Patriotismus. Die „Doktrin vom absoluten und abstrakten Internationalismus" wird von Michels als eine für die Ideengeschichte typische, aber eben auch verfehlte Reaktion auf den Nationalismus gewertet. Ihr Kardinalfehler be-

345 Michels, Patriotismus und Ethik, [Vortrag am 17. Juni 1906 in der Berliner Gesellschaft für Ethische Kultur], Leipzig 1906, S. 31. Siehe auch Michels, Renaissance des Patriotismus, in: Magazin für Literatur, 73. Jg., Nr. 5-6, 1907, S. 153-156. 346 Michels, Der Internationalismus der Arbeiterschaft, in: Ethische Kultur, 12. Jg., Nr. 15, 1. August 1904, S. 113-114, S. 113. 347 A.a.O. 348 A.a.O.

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stehe darin, „dem Gedanken der Nation rundweg den Krieg zu erklären". Damit habe der Internationalismus einen theoretischen und einen praktischen Fehler begangen: „Sein wissenschaftlicher Fehler ist es, daß er einen vitalen Faktor der Kulturentwicklung, die Nation, absichtlich übersieht. Eine Rechnung aber, bei welcher ein Faktor unberücksichtigt geblieben ist, kann weder in der Geldrechnung noch in der wissenschaftlichen Synthese stimmen." Noch gravierender ist die Konsequenz der internationalistischen Orientierung in der Praxis, wo sie unweigerlich zum Gehilfen der nationalen Unterdrückung wird: „Praktisch aber wirkt der abstrakte Internationalismus - zumal da, wo wegen der noch bestehenden politischen Herrschaft einer Nation über die andere, noch ungelöste ,nationale Fragen' bestehen - in höchstem Grade verderblich: er verlängert durch sein systematisches Verneinen eines von weitesten Massen im innersten Herzen gefühlten idealen Bedürfnisses einen unwürdigen Zustand, bekräftigt die herrschende Nation in ihrem falschen Rechtsbewußtsein und erbittert die unterdrückte Nation bis zur Bildung eines Chauvinismus auch in ihr."349 Ladislaus Gumplowicz ist zwar in Michels' sozialdemokratischer Phase nicht der einzige normative Bezugspunkt seiner Überlegungen zur Nation. Es finden sich auch Verweise auf neukantianische Autoren, die sich wie etwa Paul Natorp ähnlich zum Verhältnis von partikularen und universalen Identitätsmustern geäußert haben.350 Diese unterstreichen aber in erster Linie die universalistische Rahmung von Michels' Programm einer „Renaissance des Patriotismus", das die Theoriedefizite der II. Internationale durch Anbindung an den Neukantianismus zu überbrücken sucht, insbesondere an die Synthese-Bemühungen seines Freundes Karl Vorländer.351 So prominent Vorländer und Natorp auch sind: Im Hinblick auf das Thema Nationalität und Intemationalität fungieren Rückbezüge auf sie eher als Fußnoten und Erläuterungen zu dem bereits im Frühjahr 1902 im Anschluß an Gumplowicz erfolgten Paradigmenwechsel im politischen Denken des jungen Michels. 349 Michels, Formen des Patriotismus, S. 27. 350 Vgl. etwa Michels, Der Internationalismus der Arbeiterschaft, in: Ethische Kultur, 12. Jg., Nr. 15, 1.8.1904, S. 113-114, wo Michels seinen Überlegungen das folgende Natorp-Zitat voranstellt: „Der echte Internationalismus streitet überhaupt nicht mit dem echten Nationalismus. Das wäre keine rechte Familie, in der nicht jedes Glied das Recht seiner Eigenart behaupten dürfte. Aber auch das wäre keine rechte Familie, in der das einzelne Glied seine Eigenart nur durch Mißachtung der anderen und Ueberhebung über sie glaubte zur Geltung bringen zu können." 351 Sein Vortrag „Patriotismus und Ethik" trägt die Widmung: „Dem Kantforscher und Menschen Karl Vorländer in Freundschaft gewidmet". Vorländer ging es - wie schon Hermann Cohen - um eine Verbindung von Sozialismus und deutschen Idealismus. Die Attraktivität dieses Ansatzes unter manchen sozialdemokratischen Intellektuellen ist symptomatisch für die Krise und Revision des parteioffiziellen Marxismus. Vgl. K. Vorländer, Kant und der Sozialismus, in: Kant-Studien 4, 1900, S. 361-412; ders., Die neukantianische Bewegung im Sozialismus, in: Kant-Studien 7, 1902, S. 23-84; ders., Kant und Marx. Ein Beitrag zur Philosphie des Sozialismus, Tübingen 1911, 2. neubearb. Aufl. Tübingen 1926.

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Michels' Argumentation kulminiert denn auch in dem Aufsatz über die „Formen des Patriotismus" im Gumplowiczschen Postulat des „demokratischen Nationalismus", den Michels zum „wahren Patriotismus" erklärt.352 Dieser impliziert eine zweifache Ausrichtung: erstens das Projekt einer sozialen Innenpolitik: „Der wahre Patriotismus weist uns auf unsere menschheitlichen Aufgaben im eigenen Land hin". Zweitens wird das Selbstbestimmungsrecht der Völker zur conditio sine qua non einer friedlichen Regelung der internationalen Beziehungen. Die „Wahrung der kulturellen Integrität des Volkes" ist von nun an nicht nur die „einzig ethisch berechtigte Form des Patriotismus"; die „nationale Emanzipation aus fremder Unterdrückung" und die „nationale Einheit und Freiheit" sind nun auch die „unerläßliche Vorbedingung zu sozialer Freiheit und zum freien Menschentum". Damit wird „die Verteidigung des Vaterlandes zur heiligsten Pflicht", insbesondere in Fällen „fremdsprachlicher Unterdrückung". Denn die Verschiedenheiten der nationalen Sprachen haben auch Verschiedenheiten der Kulturen, Künste und Literaturen mit sich gebracht, „deren Eigenarten zu den höchsten ästhetischen Schätzen der Menschheit gehören. Das ist der Grund, weshalb mir jede kosmopolitische Gleichmacherei [...] als eine frivole Beraubung der Menschheitskultur erscheinen will." Das „Recht auf die Muttersprache" sei „Teil jenes unveräußerlichen Menschenrechtes vom Selbstbestimmungsrecht der Völker". 353

3. Der blinde Fleck des „demokratischen Nationalismus" in der Theorie und seine Instrumentalisierbarkeit in der Praxis Michels hat mit der Übernahme von Gumplowicz' optimistischen Modell auch dessen blinden Fleck übernommen. In seiner Rezension hatte Michels ja Gumplowicz in einem Punkt an Komplexität überboten, als er eine Ambivalenz des im Prinzip defensiven „Nationalbewußtseins" konstatierte, nämlich das Umkippen von „Nationalbewußtsein" in „Staatsbewußtsein" nach einem erfolgreichen Kampf um nationale Autonomie. Diese Prognose ist ja alles andere als unrealistisch: denn nationale Befreiungsbewegungen zielen zunächst zwar immer auf die Wahrung von Identität, erkennen dann aber alsbald, daß der beste Garant dieser Identität nicht die oft fragilen Autonomieabkommen mit der Mehrheitsnation in einem gemeinsamen Staat sind, sondern der eigene Nationalstaat. Wie dagegen der „demokratische Nationalismus" sich staatlich organisieren soll, ohne daß die in diesem Staat dann verbleibenden ethnischen Minderheiten in die Falle der Fremdbestimmung durch die allein zahlenmäßig herrschende Nation geraten - das ist eine Frage, die stillschweigend dem guten Willen der erfolgreich emanzipierten nationalen Autonomiebewegung überlassen wird. Gumplowicz hat diese Aporie begrifflich wegdefiniert, indem er Michels' defensives „Nationalbewußtsein" zwar wie dieser als „temporäre Erscheinungsform" des „Nationalismus" wertet, davon aber losgelöst eine völlig neue Form des nationalen Selbstverständnisses postuliert: den „demokratischen

352 Michels, Formen des Patriotismus, a.a.O., S. 28. 353 Michels, Formen des Patriotismus, a.a.O., S. 28-29.

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Nationalismus". Ein Konzept, in dem sich Kantscher Altruismus und Herdersche Nationalromantik (In die Tiefe streben) schön verbinden, das aber mit der Realität gewiß nicht mehr vermittelt ist als Michels' zwischen Defensive und Aggression changierendes „Nationalbewußtsein". Indem Michels die Gumplowiczsche ,Lösung' übernimmt, dissoziiert er das nationale Emanzipationsstreben von den Folgen seiner staatlichen Zielperspektive und hält die darin enthaltene verfassungspolitische Problematik latent. Gewiß hat dieser theoretische Schachzug, Nation und Staat voneinander analytisch zu trennen und die Konfliktstruktur zwischen diesen beiden Ordnungsprinzipien in den Blick zu nehmen, einiges für sich: die freiheitliche Dimension des Nationalitätenprinzips leuchtet um so heller auf, wenn sie vom „Zwangsinstitut" des Staates einmal losgelöst betrachtet wird. Dann kann dem Staat, der in der Michelsschen Diktion „durch Waffengewalt entstanden [ist] und durch Waffengewalt zusammengehalten" wird und dessen Geschichte sich in einem „chassez-croisez der brutalen Gewalt erschöpft", angelastet werden, daß die Befreiung der einen Irredenta in der Regel zur Bildung einer neuen Irredenta führt. Der Austausch der deutschen Irredenta gegen eine dänische in Schleswig-Holstein infolge des deutsch-dänischen Krieges von 1864 ist dann nicht dem Prinzip der nationalen Autonomie, sondern dem Expansionsstreben des (preußischen) Staates geschuldet. Für Michels' strikte Unterscheidung spricht auch, daß die in der öffentlichen Debatte vielfach anzutreffende Gleichsetzung von Vaterland und Staat eine in vielerlei Hinsicht absurde „Liebe zu dem historischen Gebilde des von Grenzpfahlen umschlossenen Staates" fordere. Eine solche Vaterlandsliebe könne nur aus der „Erfolgsanbeterei" entstanden sein, nicht aber aus der Solidarität und Identifikation mit einer nationalen Kultur und Geschichte. 354 In diesem Sinn kann Michels auch schreiben, daß die „Gleichung: Vaterland = Hohenzollernmonarchie" falsch sei und den „Patriotismus auf das allertiefste degradiert." Die Dissoziation von Nation und Staat hat fur Michels nicht zuletzt in dieser polemischen Dimension ihren hauptsächlichen heuristischen Nährwert, da sie ihm, wie im vorherigen Kapitel gesehen, erlaubt, im Kaiserreich für einen alternativen, republikanischen Vaterlandsbegriff zu werben und die gängige Synonymie von Monarchie und Patria zu demontieren. 355 Gleichzeitig allerdings hat die analytische Separierung von Staat und Nation zur Folge, daß das größte Problem der nationalen Selbstbestimmung unterbelichtet bleibt: die Regelung der Teilhabe an und Ausübung von politischer Macht in ethnisch heterogenen Ländern. Dies ist bei Michels um so gravierender, als er die föderativen Vorschläge der österreichischen Sozialdemokratie zwar gutheißt, diese aber in seinem Denken tatsächlich nur eine höchst marginale Rolle spielen.356 Im Grunde bleibt Michels'

354 Michels, Patriotismus und Ethik, S. 22-24. 355 Vgl. Kapitel II.3. „Ein Land aus Stuck" 356 Ich habe neben entsprechenden Passagen in seiner Gumplowicz-Rezension nur eine weitere Stelle gefunden, an der Michels als institutionellen Lösungsvorschlag für die Nationalitätenkonflikte auf die föderativen Ideen der österreichischen Sozialdemokratie Bezug nimmt. Er tut dies im Vorfeld des Amsterdamer Kongresses der II. Internationale. Vgl. Michels, Le incoerenze del socialismo contemporaneo, a.a.O., S. 5, wo er die föderative Organisation der SPÖ als ein

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Eloge auf das Selbstbestimmungsrecht ganz dem Spannungsfeld zwischen nationaler Autonomie und transnationalen Staatsgrenzen verhaftet. Seine Überlegungen führen nicht auf eine institutionelle Zielvorstellung hinaus, sondern bleiben ganz auf den Gegner, die transnationalen Reiche mit monarchischer Spitze, fixiert. Im Hinblick auf die europäischen Nationalitätenkonflikte läuft die mangelhafte Reflektion der institutionellen Alternativen zum Nationalstaat, wie etwa einem multiethnischen Föderationsstaat, bei Michels sogar darauf hinaus, daß sein Programm der nationalen Emanzipation in der Vision ethnisch homogener Nationalstaaten endet. Michels steht in dieser Hinsicht in der Tradition John Stuart Mills, der die kollektive Selbstbestimmung an die Koinzidenz von Staats- und Nationalitätsgrenzen geknüpft hat. Der Gedanke von Lord Acton, daß gerade das Zusammenleben verschiedener Nationalitäten in einem gemeinsamen Staat eine besondere Sicherungsfunktion der Freiheit erfüllen könne, liegt ihm fern.357 Explizit wird Michels sich die Alternativlosigkeit des Nationalstaates im Ersten Weltkrieg zu eigen machen. Aber implizit dürfte der homogene Nationalstaat von Anfang an sein politisches Credo gewesen sein. Schon 1902 fällt Michels in einem Aufsatz mit dem vielsagenden Titel „Das unerlöste Italien in Oesterreich"358 zu den Konflikten zwischen Deutschen und Italienern in Österreich-Ungarn nicht mehr ein, als das „unerlöste Italien", d. h. Trentino und Triest, in den italienischen Nationalstaat einzugliedern. Besonders interessant ist seine Rechtfertigung dieser Kernforderung der italienischen ,Irredentisten':359 dem Deutschtum drohe durch die italienische Irredenta kein Nachteil. „Das Trentino ist ein in sich abgeschlossenes, durchaus italienisches Gebiet, und im Triestino besteht nur [!] ein Rassenkampf mit den Slaven". Was die Italiener wirklich bedrohten, sei nur der „österreichische Gedanke". Diesem habe aber bereits Bismarck [!] jegliche Existenzberechtigung abgestritten.360 Neben der Inanspruchnahme Bismarcks als Zeugen der Anklage gegen den österreichischen Vielvöl-

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„glückliches Modell der Versöhnung" bezeichnet, das es jeder nationalen Gruppe erlaube, auch innerhalb der Partei seinen Kampf um Autonomie zu fuhren. Das österreichische Modell führt er gegen den Umgang der SPD mit den polnischen Sozialisten in Deutschland ins Feld. Zu John Stuart Mills Nationalstaats-Modell und Lord Actons Alternative einer mulinationalen Föderation vgl. Ulrich Schneckener, Das Recht auf Selbstbestimmung. Ethno-nationale Konflikte und internationale Politik, Hamburg 1996, S. 47, 53. In: Politisch-Anthropologische Revue, Dezember 1902, 1. Jg., Nr. 9, S. 716-724. Irredentismus ist eine Facette des italienischen Nationalismus, die sich nach der nationalen Einheit in den frühen 1870er Jahren bildet und den Anschluß noch unter Fremdherrschaft stehenden italienischen Territoriums an das „Mutterland" propagiert. Die Irredentisten beziehen sich mit ihrer Forderung auf Trento, Triest und Dalmatien. Ideell sieht die Bewegung ihre Wurzeln im Denken Mazzinis und argumentiert mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker. Auch im allgemeinen ist der Irredentismus dem linksliberalen und radikaldemokratischen Spektrum der italienischen politischen Kultur zuzuordnen. Der Irredentismus wandelt sich aber im Laufe der Jahre und verbindet sich Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Nationalismus Corradinis und dem italienischen Imperialismus. Damit erweitern sich auch seine territorialen Ansprüche - bis hin zur Forderung, daß das gesamte Südtirol bis an die Brennergrenze dem italienischen Staat zustehe. Der Begriff kommt von irredento (unfrei, unerlöst) bzw. redimere (befreien, erlösen). Michels, Das unerlöste Italien in Österreich, a.a.O., S. 724.

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kerstaat wirbt Michels für die Sache der italienischen Irredenta in Österreich mit dem Argument, daß diese sich in einer „sehr ähnlichen Lage wie die Deutsch-Nationalen befinden, die ja im Grunde ebenfalls eine Wiedervereinigung mit dem Reichsdeutschland anstreben."361 Diese Rücksichtnahme auf deutsche Interessen mag vor dem Hintergrund des bisher Gehörten seltsam klingen, scheint aber theoretisch konsequent zu sein. Der Verfechter des Nationalitätenprinzips billigt selbstverständlich jedem, auch dem deutschen Volk, das Recht auf nationale Einheit zu. Nach Michels' Auffassung ist der deutsche Nationalstaat nur an einigen Stellen zu groß geraten und müsste sich aus polnischem und dänischem Gebiet zurückziehen. Die ,Heimkehr' der Deutsch-Österreicher in das Deutsche Reich scheint für ihn dagegen zustimmungsfähig zu sein.362 Insofern hier das Recht auf nationale bzw. nationalstaatliche Selbstbestimmung jeder Nation gleichermaßen zugestanden wird, bleibt die Argumentation theoretisch dem Menschenrechtsuniversalismus treu. Aber schon der Hinweis, daß es in Triest „nur einen Rassenkampf mit den Slaven" gebe, wirft Zweifel an der Konsequenz seiner Argumentation auf. Außerdem läßt sich an Michels' Plädoyer ablesen, wie leicht der Selbstbestimmungsdiskurs in das Fahrwasser nationalideologischer Vorurteile gerät. Michels macht sich die Kernforderungen des italienischen Irredentismus zu eigen: während im Fall des Trentino die behauptete „Italianität" noch empirische Gültigkeit beanspruchen mag, ist die ethnische Homogenität Istriens allenfalls eine Fiktion: „Die Italiener im Küstenland bildeten [...] nur eine relative Majorität unter den [...] Volksgruppen und waren daher in vielen Bezirken nur eine Minderheit."363. Die Italianität Istriens wurde schon damals auch von italienischen Autoren bestritten.364 Michels dagegen behauptet, daß in Istrien und auch in Dalmatien das „italienische Element" ebenso überwiege wie in der Stadt Triest. Und er jongliert mit Zahlen, die ganz offensichtlich aus der ideologischen Luft des Irredentismus gegriffen sind: „Fast die Hälfte der Einwohnerzahl der Grafschaft Tirol [...] spricht italienisch oder das verwandte ladinisch. Es ist das sogenannte Süd- oder Welschtirol mit der Hauptstadt Trient."365 Abgesehen davon, daß dieser Nachweis der italienischen Prägung Südtirols wenig Respekt vor den Ladinern zeigt, die ungefragt in das Erlösungsprogramm mit aufgenommen werden, wird hier die Frage der Italianität des Trentino mit der Südtirols vermengt. Nur wenige Orte des Tiroler Unterlandes hatten aber vor 1919 eine italienischsprachige Mehrheit.

361 Michels, Das unerlöste Italien, a.a.O., S. 718. 362 Soweit die Theorie. Ansonsten darf man Michels' Entwarnung, daß deutsche Interessen nicht berührt seien, auch als Ironie oder auch als Rücksicht auf den Leserkreis der „Politisch-Anthropologischen Revue" werten, deren Herausgeber Ludwig Woltmann die Angst vor einem „Untergang der Germanen" umtrieb. Vgl. zu Woltmann und seinem rassen- und sozialanthroplogischen Forum Erhard Stölting, Die anthroposoziologische Schule, in: Carsten Klingemann (Hg.), Rassenmythos und Sozialwissenschaften in Deutschland, Opladen 1987, S. 130-171, S. 138. 363 Robert A. Kann, Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie. Geschichte und Ideengehalt der nationalen Bestrebungen vom Vormärz bis zur Auflösung des Reiches im Jahre 1918. Erster Band: Das Reich und die Völker; Zweite, erw. Auflage, Graz/Köln 1964, S. 267. 364 Vgl. Angelo Vivante, Irredentismo adriatico, Trieste 1984 (1. Aufl. Florenz 1912). 365 Michels, Das unerlöste Italien in Österreich, S. 717.

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Im heutigen Südtirol wurden 1910 über 221.000 Deutsche, 9350 Ladiner und nur ca. 7.000 Italiener gezählt. Eine Stadt wie Bozen hatte damals über 28.000 Einwohner, nur knapp über 1.600 von ihnen sprachen Italienisch.366 Michels hat zwar in dem Aufsatz nur die Forderung nach dem Trentino und dem Triestino unterstützt, sein Zahlenmaterial impliziert aber Aspirationen, die darüber weit hinausgehen. Es nimmt Wahrnehmungen und Wirklichkeitsverzerrungen auf, die seit Mazzini im italienischen Nationalismus kursierten und in die Forderung nach einer Ausdehnung des Nationalstaates bis an die Brennergrenze mündeten. Ein Projekt, das im Ersten Weltkrieg in dem Londoner Geheimabkommen von 1915 und schließlich im Friedensvertrag von Versailles auch verwirklicht werden sollte und in den zwanziger Jahren zu einer Assimilierungspolitik führte, die den noblen Sinn des Selbstbestimmungsrechts pervertiert hat. Michels wird diese Politik - unter dem Banner des ,Selbstbestimmungsrechts' - verteidigen.367 Seine späteren Äußerungen zur alpinen und adriatischen Ausdehnung des italienischen Nationalstaats lassen sich vor dem Hintergrund seiner frühen Publizistik nicht als Bruch verstehen, sondern als Konsequenz seiner mangelhaften Reflektion der institutionellen Gestaltungsmöglichkeiten des Nationalitätenprinzips, dem damit verbundenen impliziten Festhalten am homogenen Nationalstaat sowie ungeprüft übernommener nationaler Identitätsfiktionen, die bereits der junge Sozialist als empirische Tatsachen präsentiert.

4. Die Rationalität des Völkerfriedens und die Realität des Imperialismus Neben der ideologischen Anfälligkeit des Selbstbestimmungsparadigmas auch in seiner praktisch-publizistischen Anwendung durch Michels ist es ein weiteres Kennzeichen seiner frühen Publizistik, daß sich eine wachsende Kluft zwischen seiner aufklärerischen normativen Ausgangsposition und der Beobachtung empirischer Gegentendenzen auftut. Gewiß hat er mit der Adaption von Gumplowicz' „demokratischen Nationalismus" bzw. „konkreten Internationalismus" die unabweisbare Realität des Nationalbewußtseins und der mit ihm verbundenen Konfliktpotentiale zum Anlaß einer realistischen Revision des dogmatischen Internationalismus gemacht. Indes ist die einem rationalen und aufklärerischen Menschenbild verpflichtete Lehre des „demokratischen Nationalismus" nicht weniger starken Irritationen durch die empirische Wirklichkeit ausgesetzt als der abstrakte Internationalismus. Daß nationale Unabhängigkeitsbewegungen eine internationalistische Norm implizieren und das Partikulare, die Selbstbestimmung jeder einzelnen Nation, keine Negation, sondern ein Anwendungsfall des Universellen, die Probe auf das Postulat allgemeiner Menschenbefreiung, sei - diese Lehre vom kategorischen Imperativ des internationalen Nationalismus gerät immer mehr zur reinen Sollensforderung. Der Grund dafür ist, daß Michels die Indizien für eine friedliche Lösimg der Nationalitätenkonflikte eher aus Vernunft und sozialistischer Ideologie, weniger aber

366 Vgl. Rudolf Lill, Südtirol in der Zeit des Nationalismus, Konstanz 2002, S. 23. 367 Michels' Positionen im Ersten Weltkrieg und zur Nachkriegsordnung referiert das Kapitel „Der Fremde im Kriege".

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aus der Empirie selbst beziehen kann. So etwa, wenn er darauf verweist, daß ein Krieg zwischen den Staaten immer den Irrsinn eines „Bruderkrieges" bedeute, da die große Mehrheit der lohnabhängigen Bevölkerung in den Industriestaaten ein ähnliches, wenn nicht sogar identisches proletarisches Schicksal teile, die Unterschichten mit den Bourgeoisien der einzelnen Länder dagegen nichts gemein hätten.368 Die internationale Arbeiterbewegung scheint ihm zuweilen schon aufgrund ihrer vermeintlichen Interessen- und weltanschaulichen Identität der Garant für das Verschwinden des Krieges aus der menschlichen Geschichte zu sein: „Von der sozialistischen Fraktion Yokohamas bis zu den sozialistischen Gruppen am Rande des Vesuvs [...] werden genau dieselben Postulate von der Vergesellschaftung der großen Produktionsmittel, vom Selbstbestimmungsrecht der Völker, von der Gleichheit der Frau usw. erhoben." Die „volkswirtschaftliche Einsicht" zeige, daß „der Krieg nur ein Mittel zur Bereicherung der bereits Reichen und der Militarismus ein vorzügliches Mittel ist, von der Entwicklung bereits überholte Regierungssysteme noch weiter künstlich aufrecht zu erhalten."369 Unter diesen Vorzeichen erscheint Michels die Spekulation, daß eines Tages von den Staatenkriegen ebenso geredet werden würde wie von den mittelalterlichen Städtekriegen, nämlich „wie von den völlig unbegreiflichen Taten einer Horde Kannibalen", gar nicht utopisch. Derartige geschichtsphilosophisch und weltanschaulich motivierte Vorstellungen von der pazifizierenden Rolle eines am Krieg nicht interessierten internationalen Proletariats stehen bei Michels einer eher ,empirischen' Diagnose vom Chauvinismus gerade auch innerhalb des sogenannten Proletariats unvermittelt gegenüber. Eine Botschaft nämlich, die wir ebenfalls von Michels von Anfang vernehmen können, lautet, daß Militarismus und ein imperialistisch ausgreifender Nationalismus allen „volkswirtschaftlichen Einsichten" zum Trotz gerade auch in den Unterschichtenmilieus ein attraktiveres Angebot als die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes der Nachbarvölker darstellten. Schon 1903 beschäftigt er sich erstmals mit der Faszinationskraft des Imperialismus, jener Tendenz der Gegenwart also, die im schärfsten Widerspruch zur Hoffnung auf eine „Renaissance des Patriotismus" im demokratisch-„altruistischen" Sinne steht. Und es ist ausgerechnet England - ein Staat, der von Michels aufgrund seiner demokratischen Verfassung zu den fortschrittlichen Kulturstaaten Europas gezählt wird - , welches das „Zeitalter des demokratischen Industrialismus" hinter sich gelassen zu haben und in der „Blütezeit des pseudo-demokratischen Imperialismus" angekommen zu sein scheint.370 Michels zufolge hat die überseeische Expansion Englands historisch immer ein humanes Antlitz gehabt, solange sie sich mit einer liberalen Sprach- und Nationalitätenpolitik verbunden habe. Um die Jahrhundertwende, spätestens mit dem Burenkrieg, ist es seiner Meinung nach aber zum Traditionsbruch gekommen. Die Motive des 368 Michels, Entwicklung und Rasse, in: Ethische Kultur, 13. Jg., Nr. 20, S. 155-157, Nr. 21, S. 163-164, 1905, S. 164. 369 Michels, Der Internationalismus der Arbeiterschaft, a.a.O., S. 114. 370 Michels, Englands gegenwärtiger Kulturwert, in: Politisch-Anthropologische Revue, Bd. III, Nr. 1, 1904, S. 53-63.

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englischen Imperialismus unterscheiden sich ihm zufolge kaum von denen der anderen europäischen Staaten: neben der Beseitigung von Zollschranken und der Erschließung neuer Arbeitsmärkte diene er vor allem als Ventil für ungelöste innenpolitische Probleme, der „Ablenkung des breiten Stromes der sozialen Frage in das schmale Bett des Chauvinismus". Der Erfolg dieser Strategie liegt nicht zuletzt in dem Chauvinismus der englischen Arbeiterschaft selbst begründet: „Ein Wort genügte, ein hingeworfenes Schlagwort, um sie zu betäuben: the integrity of the British Empire."371 Michels' Begriff des „modernen Imperialismus" folgt dem marxistischen common sense, wonach der „Industrialismus [...] im Zeitalter des Kapitalismus [...] als natürliche Folgeerscheinung den Imperialismus" habe. Namentlich bezieht sich Michels aber auf einen eher unbekannten Autor, der damals sowohl die expansive Kapitalverwertung als auch die Stabilisierung innenpolitischer Machtbeziehungen als gleichrangige Motive des Imperialismus veranschlagt und dabei einen Begriff ins Spiel bringt, der uns noch öfter begegnen wird: „Die politische und ökonomische Oligarchie im Inlande werden dem Auslande gegenüber zum Imperialismus." (Olindo Malagodi)372 Die sozialistische Imperialismustheorie hat allerdings Michels' Irritationen nicht auf die Stufe einer höheren geschichtsphilosophischen Logik heben können, dergestalt etwa, daß der Imperialismus den Kapitalismus auf die Spitze und damit an sein Ende treibe. Der Imperialismus negiert bei Michels die Idee des nationalen Altruismus. Um ihm beizukommen, bedarf es vor allem der sozialpädagogischen Aufklärung über die normative Gültigkeit des reziprok zuzugestehenden demokratischen Selbstbestimmungsrechtes. Dieses Axiom seines progressiven Denkens wird Michels erst einige Jahre später, etwa zeitgleich mit seiner Parteiensoziologie, revidieren, als er erkennt, daß „Selbstüberhebung und Unterschätzung des Fremden [...] normale Attribute" - nicht der Aristokratie, sondern der Demokratie sind.373 Offensichtlich hat Michels 1902, als er die Ambivalenz des zwischen Defensive und Aggression changierenden „Nationalbewußtseins" bemerkt, gar nicht so falsch gelegen - zumindest was seine eigene theoretische Entwicklung betrifft. In den Jahren 1909 ff. wird er nämlich zu dieser skeptischen Einschätzung zurückkehren und sie als soziologisches „Gesetz der nationalen Transgression" reformulieren, wonach sich auf das Nationalitätenprinzip nur unterdrückte Nationen berufen, und zwar so lange, bis ihnen die errungene nationalstaatliche Selbstbestimmung erlaubt, ihrerseits zur Unterdrückung anderer Ethnien zu schreiten. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, so ließe sich Michels' Transgressionsgesetz resümieren, geht stets in dem Moment unter, in dem seine Bekenner ihre Emanzipation von der Fremdherrschaft vollzogen haben.374

371 Michels, Englands gegenwärtiger Kulturwert, a.a.O., S. 59. 372 Olindo Malagodi, Imperialismo, la civiltà industriale e le sue conquiste. Studii inglesi, Milano 1901, S. 27 [m. Hvhbg.]; Der Autorensonderdruck einer Rezension von Michels hierzu findet sich im Privatarchiv Genett. 373 Michels, Zur historischen Analyse des Patriotismus, a.a.O., S. 426. 374 Vgl. zum theoriegeschichtlichen Ort von Michels' Soziologie das Kapitel VI.2. Die Vergeblichkeit der Demokratisierung. Zum epistemologischen Hintergrund von Robert Michels' Parteiensoziologie.

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5. Rassenanthropologische Einflüsse und die Dialektik des Selbstbewußtseins Eingeleitet wurde dieses Kapitel mit dem Befund, daß Michels die „soziale Frage" in einem dreidimensionalen Sinne verstanden hat: als ökonomische, sexuelle und ethnische Unterdrückung. Den daraus resultierenden sozialen Bewegungen - Sozialismus, Feminismus und nationale Autonomiebewegungen - ist in Michels' normativer Auslegung ein demokratischer Lösungsansatz gemeinsam. Es gibt aber noch eine weitere Gemeinsamkeit, die möglicherweise ein Schlüssel fur Michels' gehaltvolles Demokratieverständnis ist: alle drei sozialen Bewegungen und die in ihnen agierenden Individuen werden an ihrer Befähigung zu „Selbstbewußtsein" gemessen. Erinnern wir uns nur an Michels' Leitbild von der emanzipierten Frau: „Eine freie Frau, wie der moderne Mann sie sich wünschen muß zur stolzen, selbstbewußten, mitschaffenden Gefährtin, die klaren Blickes sich selbst beherrschen und andere in Distanz zu halten gelernt hat, die durch festes Auftreten zu imponieren weiß und ein hochgespanntes Ehrgefühl im Leibe hat f...]."375 Dieses Leitbild der selbstbewußten Frau geht, wie gesehen, mit einer spürbaren Verachtung für die schwächeren Charaktere einher. Auch im Hinblick auf die Arbeiterbewegung werden wir diesem Michelsschen Leitmotiv des „Selbstbewußtseins" als Voraussetzung für Selbstbestimmung und demokratischer Teilhabe noch öfter begegnen.376 Ebenso läßt sich das Selbstbewußtsein als Prämisse des „demokratischen Nationalismus" rekonstruieren. Das mag zunächst wenig überraschend sein, weil das , Erwachen nationalen Selbstbewußtseins' ein fester Topos der Nationalismusforschung jener und späterer Zeiten gewesen ist. Wenn Michels aber auf das „Selbstbewußtsein" zu sprechen kommt, dann schwingt hier mehr mit als die nüchterne Konstatierung, daß eine Gruppe von Menschen eine gemeinsame Vorstellung ihrer kollektiven Identität und nationalen Zusammengehörigkeit hege. Selbstbewußtsein hat hier stets den normativen Überschuss von Selbstsicherheit, Ehrgefühl und Selbstbeherrschung, kurzum: ein psychisch gefestigtes, starkes Ich ist gefordert, das da über sich selbst bestimmen soll. Welchen zentralen denksystematischen Stellenwert diese gehaltvolle Idee des Selbstbewußtseins in Michels' frühem politischen Denken zukommt, aber auch welche Verachtung all denjenigen entgegenschlägt, die dem Maßstab des Michelsschen „Selbstbewußtseins" nicht genügen - das verdeutlicht ein bislang kaum beachteter, aber bemerkenswerter Beitrag von Michels zur Antisemitismus-Debatte: „Judentum und öffentliche Achtung".377 Dieser Aufsatz ist aus zwei Gründen bemerkenswert: neben der in ihm zum Ausdruck kommenden Philosophie des Selbstbewußtseins zeigt er, daß Michels trotz seines ,westlich-rationalistischen' Begriffs von Nation stärker von rassenanthropologischen 375 Grenzen der Geschlechtsmoral, S. 90, 91. 376 Insbesondere an Michels' Bewegungsanalysen der italienischen Landarbeiterschaft (Kapitel III.2.1. Neue Soziale Bewegungen) und seiner Kritik des Turiner Generalstreiks (Kapitel V) läßt sich zeigen, daß „Selbstbewußtsein" und „Selbstbeherrschung" für den jungen Michels eine zwingende Voraussetzung für die individuelle wie demokratische Selbstbestimmung sind. 377 Michels, Judentum und öffentliche Achtung, in: Jüdische Rundschau. Organ der zionistischen Vereinigung für Deutschland, Jg. 8, Nr. 17, 1903, S. 151-153.

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Einflüssen geprägt war, als das bislang angenommen worden ist. Noch überraschender mag die Kernaussage anmuten. Implizit reformuliert Michels nämlich das Argument Heinrich von Treitschkes aus dem Berliner Antisemitismusstreit,378 wonach die Juden selbst am Antisemitismus schuld seien. Seine Begründung ist allerdings eine völlig andere: „Was sind die Entstehungsursachen des heutigen Antisemitismus? Die rein physische oder rein intellektuelle oder aus beiden gemischte Abneigung, die, bei der noch so unendlich niederen Kulturstufe, auf welcher alle Völker heutzutage noch stehen, jedes Volk vor dem anderen empfindet, weil es ihm eben fremd, daher unverständlich und deshalb wieder verhasst ist? Oder der Neid des ungewandteren Konkurrenten gegen den begabteren Zuvorgekommenen? Oder der aristokratische Hochmut den Parvenus gegenüber? Zweifellos haben alle diese Motive, ethnisches Missverstehen sowie Neid der kleinen Gewerbetreibenden und Hochmut der ,guten Gesellschaft', an der Wiege des Antisemitismus gestanden, aber der Wechselbalg, den sie gebaren, wäre nie zu solch einer Gliederkraft, wie wir sie an ihm jetzt leider gewahren, herangereift, hätte ihm nicht die große Majorität der Judenschaft selbst ausgezeichnete Nahrung gespendet. Und diese Nahrung heisst: mangelndes Selbstbewusstsein."379 Das ist die Wurzel allen Übels. Wenig später ergänzt Michels, daß sich die „hochanständig denkenden und feinfühlenden Naturen", die sich ja auch unter den Antisemiten befanden, „mit Abscheu vom Antisemitismus abwenden" würden, „wenn sie sich nicht mehr mit Abscheu vom ... Semitismus abzuwenden brauchten, weil dieser keine Selbstachtung besitzt."380 Diesem Fazit seines Artikels, dessen politische Botschaft lautet, daß die „Überwindung des Antisemitismus [...] nur durch eine Stärkung des Nationalbewußtseins im Judentum möglich" sei, liegt eine höchst polemische Wertung der Assimilation zugrunde. Während Treitschke in seiner Schuldzuweisung an die Juden über zwanzig Jahre zuvor diesen den Vorwurf machte, daß sie Widerstand gegen die Assimilation an das Deutschtum leisteten,381 lautet Michels' Vorwurf an die Juden umgekehrt, daß sie zuviel Assimilation betrieben. Er wendet sich gegen die „fahnenflüchtig gewordenen Juden", gegen die ,jüdischen Deserteure", die sich haben taufen lassen oder - noch schlimmer - im kaiserlichen Heer es zum „Reserveoffizier" gebracht haben, gleichzeitig aber ihre jüdische Abstammung verleugnen. Er stellt sich damit auf die Position des Zionisten Max Nordau, der die Notwendigkeit eines jüdischen Staates mit

378 379 380 381

Vgl. Walter Boehlich (Hg.), Der Berliner Antisemitismusstreit, Frankfurt a.M. 1965. Michels, Judentum und öffentliche Achtung, a.a.O., S. 152 [Hervorhebung von Michels], Michels, Judentum, ebd. [meine Hvhbg.]. Vgl. Heinrich von Treitschke, Aufsätze, Reden und Briefe, hg. v. Martin Schiller, 5 Bd., Merseburg 1929, Bd. IV: Unsere Aussichten (1879), S. 466-482; Noch eine Bemerkung zur Judenfrage (1880), S. 494-503; Zur Judenfrage (1880), S. 504-505.

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der Unmöglichkeit der Assimilation begründete, die aus einer unablegbaren „Sonderphysiognomie" der Juden resultiere.382 Michels' Begründung geht in eine ähnliche Richtung. Sie relativiert unseren Befund des Willenspatriotismus und zeigt die Einflüsse der rassenanthropologischen Schule in Michels' Denken auf. Er wirft den „Deserteuren" nicht nur mangelndes Selbstbewußtsein vor, er spottet über ihren Assimilationswunsch auch als ein vergebliches Unterfangen, weil es „ethnisch-anthropologische Metamorphosen von heute auf morgen" nicht gebe, die „ganze anthropologische Struktur" der Juden aber eine andere sei als die der „Nichtjuden": „Darum kann eben auch der Stammesjude seine Rasse nicht nur verdammen das ist ebenso wohlfeil als menschlich niedrig - sondern auch verleugnen, so viel er will, er kann, wie er früher seine Kinder beschneiden Hess, nun seinen eigenen Namen beschneiden lassen, um den blöden Verdacht zu erwecken, er sei mitten im Teutoburger Wald geboren, es wird ihm doch alles nicht dazu verhelfen, die Kennzeichen seiner Völkerrasse auch nur um ein einziges zu vermindern. Und das nicht nur äusserlich!"383 „Nicht nur äußerlich" - offensichtlich gibt es neben den äußeren, körperlichen Erscheinungsmerkmalen auch innere stammesanthropologische Strukturmerkmale des „Judentums". Michels weiß auch welche. Er folgt dabei den rassensoziologischen Studien Guglielmo Ferreros. Insbesondere, was dieser in seinem Buch „L'Italia Giovane" - es zählt zu Michels' persönlichen Standardwerken - über den „Semitismus" schreibt, nennt Michels „feingeistig", „originell" und „zweifellos richtig". Die mentalen Merkmale des Juden sind demnach: „ethische Weltverbesserungssucht", „revolutionärer Drang", ,Jiang zur Kritik", „das selbstlose Aufopfern für höhere selbstgebildete Ideale und schliesslich eine in einem seltsamen Kontrast zu letzterem stehende Art von Pessimismus."384 Diese Beispiele pseudowissenschaftlich untermauerter Pauschalurteile sollen genügen, um zu illustrieren, daß Michels' Begriff der Nation nicht allein vom Individualismus des voluntaristischen Vaterlandsbegriffs und von der milieutheoretischen Wandelbarkeit des Vaterlandsgefühls385 geprägt war, sondern unser Autor für modische geistesgeschichtliche Trends der Jahrhundertwende wie Völkerpsychologie und soziobiologischer Physiognomik durchaus empfanglich war. Wir werden diese Einflüsse noch

382 Michels zitiert diese These aus Max Nordaus Schrift „Der Zionismus und seine Gegner". Zu Nordaus Assimilationsskepsis vgl. Christoph Schulte, Psychopathologie des Fin de siècle. Der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau, Frankfurt a.M. 1997, S. 275. 383 Michels, Judentum, S. 151. 384 Michels, Judentum, S. 151-152. 385 Wir werden noch an seinen soziologischen Studien zur Nation (vgl. Kapitel VII) sehen, daß Michels immer dort, wo er sich allgemein und theoretisch äußert, einen strikten milieutheoretischen Ansatz verfolgt, wo er aber über bestimmte nationale Gruppen spricht, Pauschalurteile über ,den' Volkscharakter und Annahmen von deren Verwurzelung in Abstammung und Vererbung einfließen.

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vertiefen, wenn wir auf Michels' Beziehungen zur Schule Cesare Lombrosos zu sprechen kommen. 386 Aber zurück zum Ausgangspunkt, zur Frage des „Selbstbewußtseins" und Michels' Empfehlungen an die deutschen Juden. Wie Heinrich von Treitschke sieht Michels die Ursache des Antisemitismus im Verhalten ,der Juden' selbst. Anders als Treitschke sieht er den Fehler aber im Verzicht auf kollektive Selbstbehauptung und verbindet dies mit der These der Vergeblichkeit von Assimilation überhaupt. Auch dies unterscheidet ihn von Treitschke, dessen Kritik am jüdischen Widerstand gegen die Assimilation ja auch so verstehen ist, daß Assimilation möglich und im Sinne der inneren Einheit des jungen deutschen Nationalstaates wünschenswert wäre. 387 Bei Michels ist sie das nicht, offensichtlich auch aus anthropologischen Gründen. Deshalb sollen sich die deutschen Juden auf ihre Eigenart besinnen und mit Stolz auf ihre herausragenden Kulturleistungen verweisen und als selbstbewußte Gruppe ihre politische und rechtliche Anerkennung - als Juden, nicht als deutsche Staatsbürger - auch dort einfordern, wo sie faktisch auch nach der Judenemanzipation um 1869/71, etwa hinsichtlich des Zugangs zu bestimmten Berufsgruppen, verweigert wird. Wer hier andere Präferenzen hat und seine jüdische Abstammung möglicherweise auch deshalb nicht demonstrativ mit sich herumträgt, weil ihm der Aufstieg in der deutschen Gesellschaft mehr bedeutet, dem unterstellt Michels karrieristisch motivierte Feigheit und überzieht ihn Spott und Verachtung. Er sei mitschuldig, wenn es den Juden nicht gelingt, „sich nationalen Respekt zu verschaffen": „Die ängstliche Scheu, erkannt zu werden, das feige Leugnen der Existenz selbst der offenbarsten Sondereigentümlichkeiten, das sind Eigenschaften, die sicherlich nicht dazu beitragen, dass der christliche Arier das von ihm seit Jahrtausenden mit solche brutaler Sachkenntnis getriebene Geschäft des Judenprügelns [...] aufgibt und in dem Juden nicht nur ein häufig vorhandenes intellektuelles Plus, sondern auch eine moralische Vollwertigkeit erkennen lernt."388 So fragwürdig seine Empfehlungen im einzelnen auch sein mögen, ist andererseits nicht zu verkennen, daß Michels' Beitrag in der „Jüdischen Rundschau" ein gerade auch in der inneijüdischen Debatte seinerzeit thematisiertes Erfahrungssubstrat zugrunde liegt: eine Identitätsunsicherheit, die sich für viele deutsche Juden aus der Gleichzeitigkeit der unterschiedlich gerichteten Prozesse der Emanzipation und der Assimilation ergab.389 386 Kapitel III.2.2. 387 Die Sorge um die nationale Einheit der Deutschen und die Abwehrhaltung gegenüber allem Fremden kennzeichnet auch Nipperdey als Wurzel von Treitschkes Antisemitismus. Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. II: Machtstaat vor der Demokratie, 2. Aufl., München 1993, S. 297. 388 Michels, Judentum, S. 152. 389 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, Bd. II, a.a.O., S. 292, wo es zur „psychologisch besonderen Lage der Juden" heißt: „Die Emanzipation betonte die jüdische Identität, die Assimilation forderte ihre Relativierung oder gar die Tendenz, sie aufzugeben, aber sie machte Identität oder ihr Fehlen gerade dadurch zum Problem. Das Identitätsproblem machte einen Unterschied zu „den andern" mit

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Von den Pauschalaussagen über die deutschen Juden einmal abgesehen, läßt sich aus dem Text eine Theorie nationaler Bewegungen ableiten, die in modifizierter Form auch Michels' Analysen der sozialen Bewegungen des Sozialismus und des Feminismus leiten.390 Diese Theorie macht das nationale Selbstbewußtsein zum zentralen Angelpunkt im Kampf um Emanzipation und unterschätzt in ihrem Emanzipationsoptimismus weitgehend die Kehrseite dieses Selbstbewußtseins. Es ist zwar plausibel, daß ohne .Selbstbewußtsein' der Kampf um politische Rechte mißlingen muß. Aus Mitleid wird in der Regel nicht das Staatsrecht reformiert. Nur durch Selbstbewußtsein und mutige Selbstbehauptung werden sich Minderheiten jene öffentliche Achtung und Beachtung erkämpfen, ohne die ihre Anliegen schlicht übersehen werden und ohne die eine corporate identity als politische Bewegung nicht generiert werden kann. Selbstbewußtsein ist aber auch Machtbewußtsein, und dieses kann die schöne demokratisch-altruistische Rahmung, die Michels dem Nationalismus verpassen will, schnell sprengen, weil Machtbewußtsein - das Bewußtsein eigener Fähigkeiten und Möglichkeiten, die der andere nicht hat - zur Verstetigung der eigenen Möglichkeiten in Herrschaft tendiert. Die Neigung, von allen sich bietenden Möglichkeiten, die ,anderen' vom Zugang zu Ämtern und Pfründen auszuschließen, auch Gebrauch zu machen, ist gerade beim auf den eigenen Nationalstaat zielenden Nationalismus besonderes ausgeprägt. Der junge Michels hat diese Dialektik des Selbstbewußtseins in seinem Aufsatz „Entwicklung und Rasse" auf den Punkt gebracht, wo er den Chauvinismus als eine perverse Steigerungsform des nationalen Selbstbewußtseins deutet: als „grauenhafte Umkehrung des schönen und stolzen Gedankens: ,ich bin ich' in die tollhäuslerische Prahlerei: ,ich bin mehr als du' und die damit zusammenhängende Forderung: ,weil ich mehr bin als du, mußt du werden wie ich und mir gehorchen'." 391 Diese Ambivalenz des Selbstbewußtseins, die Gründe für sein Umschlagen von legitimem Stolz in unerwünschten Hochmut, hat Michels in seinen Frühschriften nicht weiter verfolgt. In seinen späteren vom soziologischen Geschichtspessimismus getragenen Aufsätzen wird er diesen Vorgang als ein ehernes Gesetz der Völkerpsychologie ausgeben. In seinen geschichtsoptimistischen Frühschriften dagegen kann Michels den Chauvinismus noch als einen temporär vom Pfad des humanen Fortschritts abweichenden „Afterpatriotismus" kritisieren, obwohl die empirische Beobachtung ihm immer mehr zu der Vermutung Anlaß geben müsste, daß die Abweichung vorerst die Regel in den internationalen Beziehungen darstellen werde, sitzt der „Afterpatriotismus" doch seiner eigenen Überzeugung nach wie „ein Pfahl im Fleische" der „heutigen Generation

sicherer Identität. Der schnelle Aufstieg und die schnelle Akkulturation schufen das Problem des Arrivierten, des Parvenus, das ein häufiges Thema des Romans oder des - selbstkritischen - jüdischen Witzes und dann natürlich aller Arten von Antisemitismus wurde: das Aufdringliche und Vordrängende, aber auch die Unsicherheit oder die Verlegenheit [...] Und natürlich, Zurückweisung oder Distanzierung durch Nicht-Juden steigerte wieder Unsicherheiten und Überkompensationen". 390 Vgl. Kapitel III.2.1 : Neue Soziale Bewegungen. Das zivilgesellschaftliche und das sentimentale Paradigma. 391 Michels, Entwicklung und Rasse, a.a.O., S. 156.

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bis tief in die Arbeiterschaft aller Länder hinein" ein.392 Was seine optimistische Weltanschauung gegen derartige empirische Irritationen zunächst noch immunisiert, ist das Vertrauen auf die Macht der Aufklärung. Seine Erklärung für die chauvinistischen Tendenzen im Proletariat spricht diesbezüglich Bände: Alle Bemühungen der sozialpädagogischen Intellektuellen seien bisher fehlgeschlagen! Exemplarisch für den Typus des Intellektuellen, der die öffentliche Meinung aufklären soll, nennt Michels in diesem Zusammenhang eine illustre und heterogene Schar: den Zionisten und Kulturkritiker Max Nordau, Ladislaus Gumplowicz, den Gründer der „Deutschen Gesellschaft für Ethische Kultur" Wilhelm Foerster und den sozialistischen Kriminalisten und Lombroso-Schüler Enrico Ferri.393 Damit bekräftigt Michels seine Überzeugung von der besonderen Rolle des bürgerlichen Intellektuellen bei der Formierung progressiver Denkanstöße und Bewegungen in der Gesellschaft. Es ist aber bereits ein Indikator der Krise des spätaufklärerischen Diskurses um 1900, daß in die sozialpädagogische Semantik Metaphern des medizinischen Denkens einwandern. Der bürgerliche Intellektuelle hat gerade das Krankenbett der eigenen Klasse verlassen, da findet er sich bereits am Krankenbett des Proletariats wieder. Michels nennt seine bunte Intellektuellenschar nämlich nicht ,Aufklärer', sondern signifikanterweise „gesund denkende Ärzte".394 Das ist kein Zufall: bei Michels wird die Arbeiterbewegung bekanntlich auf dem „Seziertisch"395 landen, ohne große Hoffnung auf Heilung. In der Arzt-Metapher, mit der das Wirken aufklärerischer Intellektueller umschrieben wird, kündigt sich der leise Abschied von der alten Sozialpädagogik an, die noch für Bildungsoptimismus und den Gedanken einer Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen durch gute Erziehung stand. Stattdessen gewinnt - das gilt nicht nur für Michels - zunehmend ein medizinischer Blick an Plausibilität, der gesellschaftliche Entwicklungen in Analogie zu den Naturwissenschaften zu rekonstruieren und die Anatomie des Sozialen über gesetzliche Wirkzusammenhänge zu erklären versucht, die der Verfügung des Einzelnen entzogen bleiben. Michels hat in seiner Auseinandersetzung mit dem Nationalismus somit zwei unterschiedliche Wege beschritten: in den Frühschriften hat er seine imperialen und fremdenfeindlichen Varianten als „Rassengrößenwahnsinnsanfälle" pathologisiert und den von ihnen betroffenen das Medikament „Sozialpädagogik" verschrieben, in den späteren hat er sie zu einer nomothetischen Tatsache erhoben, die vom sezierenden Gesellschaftsbeobachter zwar diagnostiziert, aber nicht mehr geheilt werden könne. Der ,blinde Fleck'

392 Michels, Entwicklung und Rasse, a.a.O., S. 156. 393 Während der Einfluß von Ladislaus Gumplowicz hier eingehend gewürdigt, Michels' Beziehungen zur „Ethischen Kultur" bereits skizziert worden sind und ich die einzige mir bekannte starke Bezugnahme auf Max Nordau im Zusammenhang mit „Judentum und öffentliche Achtung" kenntlich gemacht habe, werde ich mich dem Einfluß der positivistischen Kriminalistik Ferris im Zusammenhang mit der Lombroso-Schule in Kapitel III.2.2. widmen. 394 Michels, Entwicklung und Rasse, a.a.O., S. 156. Die Formulierung enthält gleich zwei Aussagen in einer, da „gesund" als Adverb (auf gesunde Weise denken) und als Effekt des Denkens interpretiert werden kann (jemanden durch die Kommunikation des aufklärerischen Gedankenguts heilen). 395 Michels, Soziologie des Parteiwesens, S. XLV.

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ist in beiden Fällen derselbe: das ambivalente Entwicklungspotential des nationalen Selbstbewußtseins wird zunächst pathologisiert, später naturalisiert. Es wird aber nicht als ein Grundproblem jeglichen Autonomiestrebens anerkannt, dessen Lösung neben dem Werben für eine politische Kultur der Toleranz vor allem institutionelle Phantasie erfordert hätte. Von diesen Aponen des „demokratischen Nationalismus" abgesehen, lassen sich die bis hierhin rekonstruierten Grundpositionen des Republikanismus, der weiblichen Emanzipation sowie des nationalen Selbstbestimmungsrechts alle aus der politischen Kultur des Liberalismus ableiten, ohne daß ein Rekurs auf Theoreme der sozialistischen Arbeiterbewegung, gar auf den marxistischen Positivismus der II. Internationale erforderlich wäre. Wie Michels zu diesem gelangte, ist die Frage des folgenden Kapitels.

III. Die Brücke zur Zweiten Internationale

1. Der Positivismus der zweiten Phase Auch wenn sie zeitlich in die Phase von Michels' sozialistischem Engagement (1900 1909) fallen, sind die bis hierhin rekonstruierten politischen Positionen Michels' nicht zwingend an ein Bekenntnis zum Sozialismus gebunden. Sein Plädoyer für eine Pluralisierung der Wissenschaftskultur und für die politische wie rechtliche Emanzipation der Frau; seine Forderung nach einer Republikanisierung des Deutschen Reiches und die dezidierte Ablehnung der Monarchie wie der Aristokratie, namentlich der Junker; sein Pazifismus und sein Antimilitarismus, der nicht erst die Gewalt im politischen Kampf, sondern auch im zivilen Leben perhorresziert, sein Eintreten für das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung; sein Fortschrittsoptimismus und sein Glauben an eine Perfektibilität des Menschen durch eine intellektuelle Sozialpädagogik, die scheinbar ,gottgegebene' Zustände als ,Menschenwerk' zu verstehen lehrt und damit der Gestaltungsmacht der durch sie betroffenen Menschen überantwortet; last but not least: sein normativer Referenzpunkt der individuellen Autonomie, das Pathos des Selbstbewußtseins - all dies sind die Eckpunkte eines politischen Wertekosmos, den man ideengeschichtlich dem emanzipatorischen Programm der Aufklärung im weitesten Sinne zurechnen kann und der sich politisch zunächst im progressiven Bürgertum artikuliert hatte. In der landläufigen, auf den sozialdemokratischen Politiker Michels fixierten Forschung sind die bis hierhin fokussierten Themen und Positionen - von der Ausnahme Ferraris' abgesehen - gar nicht oder nur marginal gewürdigt worden. Dabei ist der Befund der ersten Kapitel doch erstaunlich: Inhaltlich wie semantisch ist der junge Michels ein Autor der ,präreflexiven Moderne' gewesen, und dies in einem zeithistorischen Kontext, den man als Durchbruch der reflexiven Moderne bezeichnen kann: im Ausgang des 19. Jahrhunderts befinden sich die fortschrittsoptimistischen Sinngehalte der bürgerlichen Aufklärung in einer Krise, d. h. sie werden von einer moderneskeptischen bürgerlichen Kulturkritik mindestens in ihrer Ambivalenz thematisiert, wenn nicht - in den radikaleren Varianten der Kulturkritik - generell verworfen. Vom Unbehagen an der „Über-Kultur" (Lexis) und von der Krise der Fortschrittsidee zeigt sich der junge Michels ebenso wenig berührt wie er auch an den intellektuellen Mobilmachungen gegen die Leitmaximen der politischen Aufklärung infolge des „Kulturpessimismus"1 keinen Geschmack findet, obwohl diese zweifellos ,moder-

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Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, München 1986.

III. 1. Der Positivismus der zweiten Phase

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ner' und ,neuer' sind als das politische Credo der französischen Revolution und insbesondere auf die Jugend um 1900 eine starke Anziehungskraft ausüben. Dies festzustellen, mag angesichts der Fülle des vorgeführten Materials banal und redundant erscheinen. Es ist aber notwendig: dem tradierten und bis heute wirkungsmächtigsten Deutungsparadigma der Michels-Forschung gilt Michels als ein Repräsentant der neoidealistischen Revolte gegen den Positivismus. Sein Sozialismusverständnis, so Wilfried Röhrich u. v. a.,2 sei von einer unmarxistischen, weil idealistisch-voluntaristischen Revolutionssehnsucht geprägt, die im revolutionären Syndikalismus eines George Sorel, insbesondere im Mythos des General- und Gewaltstreiks die ideale Projektionsfläche für ihr Streben gefunden habe. Auch wenn er einige Jahre das sozialdemokratische Parteibuch besessen habe, so diese Lesart, habe ihn sein romantischrevolutionärer Dezisionismus sowohl auf Distanz zum Marxismus als auch zu den politischen Leitmaximen der Aufklärung und zum demokratischen Sozialismus gehalten. Die Einordnung Robert Michels' in die Streitkultur der Zweiten Internationale ist ganz offensichtlich der springende Punkt jeder Michels-Interpretation und sie ist bis heute eine kontroverse Frage geblieben. Ihre Beantwortung muß dabei nicht nur die politische Entwicklung Michels' zwischen Parteieintritt (1903) und Parteiaustritt (1907) rekonstruieren, sie muß auch rekonstruieren, welche weltanschaulichen und welche politischen Motive Michels zum Sozialismus führen. Ein Motiv ist bereits genannt worden: die Kapitulation des politischen Liberalismus in Deutschland. Michels versteht die Partei, in der er sich seit 1903 engagiert, ja explizit als Erben der liberalen Tradition des Landes. Wenn dies freilich das einzige Motiv gewesen wäre, hätte Michels auch gut Bersteinianer werden können, der ganz ähnlich den Sozialismus „nicht nur der Zeitfolge, sondern auch dem geistigen Gehalt nach" als einen „legitimen Erben" des Liberalismus bezeichnet hat.3 Michels aber sieht sich 1903 ausdrücklich mehr als „Kautskyaner" denn als „Bernsteinianer"!4 Diese positive Identifikation mit dem Chefinterpreten der Marx-Orthodoxie ist erklärungsbedürftig. Bevor ich in einer Analyse der politischen Ereignisse auf die politischen Motive dafür eingehe, möchte ich die weltanschaulichen Prädispositionen rekonstruieren, die Michels' selbsterklärte Affinität zu Kautsky vielleicht plausibel machen können. Wir müssen dabei noch einmal auf den kulturellen Hintergrund des Michelsschen Denkens zurückgreifen und begeben uns in die Universität Halle-Wittenberg des Win-

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Die Ferne zum damaligen positivistischen Marxismus' der II. Internationale behaupten auch Mitzmann, Linz, Pfetsch und Albertoni. (Vgl. unsere Literaturbesprechung in der Einleitung.) Ich dagegen schließe mich den Überlegungen Sivinis und vor allem Ferraris an, in dessen nicht näher erläuterten Begriff vom „Positivismus in der Krise seiner Epoche" ich einen Schlüssel zur politischen Biographie von Robert Michels sehe und den ich in diesem Kapitel wie auch in meiner Interpretation der Parteiensoziologie explizieren werde. Vgl. Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Reinbek b. Hamburg 1969, S. 159. So in einem Brief an Augustin Hamon vom 5. August 1903. Vgl. Corrado Malandrino, Lettere di Roberto Michels e di Augustin Hamon, a.a.O., S. 519f: „Du rest suis-je plutôt ,Kautskyen' que ,Bernsteinien'."

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III. Die Brücke zur Zweiten Internationale

tersemesters 1898/99, in welchem Michels offensichtlich plante, Vorlesungen und Seminare bei den Historikern Gustav Droysen und Theodor Lindner (dem späteren Schwiegervater), dem Philosophen Edmund Husserl, dem Neukantianer Hans Vaihinger und dem Nationalökonomen Johannes Conrad zu belegen. Ganz sicher hat Michels in diesem Semester aber auch die Gänge der naturwissenschaftlichen Fakultät frequentiert, wo Arthur Kirchhoff eine Vorlesung über „Darwinismus, besonders angewandt auf die Völkerentwicklung" hält.5 Das Interesse, mit dem Robert Michels diese Veranstaltung besucht hat, dokumentiert seine sorgfältige Vorlesungsmitschrift, die ein ganzes Heft füllt. 6 Auch dies war ein geistesgeschichtlicher Trend der Epoche: Darwin und insbesondere die zahlreichen Popularisierungen darwinistischen Denkens wirkten in bürgerlichen wie in sozialistischen Kreisen im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert wie eine Offenbarung. Ludwig Büchners „Kraft und Stoff' (bis 1904 21 Auflagen) oder Ernst Häckels „Welträtsel" (400.000 verkaufte Exemplare in 20 Jahren) sowie die Bücher von Ostwald, Dodel-Port und anderen Darwinisten „erzielten Auflagenhöhen, deren Quantität ihre geringere philosophische Qualität in die neue Qualität eines bildungssoziologischen Phänomens ersten Ranges umschlagen ließ." 7 Die Evolutionstheorie hat auch auf den jungen Michels einen starken Eindruck gemacht: wie bereits gesehen8, sind sozialdarwinistische Begriffe im Sinne einer verschwiegenen Dimension', d. h. nicht weiter explizierten, selbstverständlichen Grundannahme seines Weltbildes immer wieder in seine politischen Urteile eingeflossen. So etwa, wenn er dem bürgerlichen Standesdünkel bei Eheschließungen entgegenhält, daß es Darwins Prinzip der natürlichen Auslese zuwiderlaufe, oder wenn er das moderne Egalitätsprinzip mit dem Argument untermauert, daß der Abbau künstlicher Ungleichheit der „Rassenveredlung" zugute komme. Eine darwinistische Semantik verwendet Michels auch, wenn er den Kampf der arbeitenden Frau für ihre Rechte wie für die ihrer Klasse, den englischen Begriff direkt übernehmend, als „struggle for living" 9 bezeichnet und einer Zivilisierung des Existenzkampfes durch „eine juridische und ökonomische Evolution" 10 das Wort redet. An anderer Stelle wiederum verteidigt er den Rückgang der Geburtenrate in der Zivilisation als „darwinistische Anpassungsmaßnahme" an verbesserte Lebensbedingungen. 11 Schließlich kommt er in einem Vergleich des südita-

5 Das rekonstruiere ich aus Michels' handsigniertem „Vorlesungs- und Personalverzeichnis der Universität Halle-Wittenberg Wintersemester 1898", Archiv Genett, in dem sich entsprechende Ankreuzungen finden. 6 Michels, Kirchhoff. Darwinismus, in: Appunti di Roberto Michels, ARMFE. Es handelt sich übrigens um die einzige im Turiner Nachlaß befindliche Vorlesungsmitschrift aus seiner Studienzeit. 7 Hermann Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland, Basel/Stuttgart 1963, S. 132. 8 Vgl. das Kapitel über „Erotik, Feminismus und neue Sexualmoral". 9 Vgl. Michels, Attorno ad una questione sociale in Germania, a.a.O., S.2. 10 Michels, Die öffentliche Sicherheit der Frauen auf der Straße, in: Ethische Kultur, 11. Jg., 1903, S. 310-311. 11 Michels, Das Weib und der Intellectualismus, in: Dokumente der Frauen, Bd. VII, Nr. 4, 15. Mai 1902, S. 106-114, S. 109.

III. 1. Der Positivismus der zweiten

Phase

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lienischen mit dem norditalienischen Sozialismus zu dem Schluß, daß der religiöse Aberglaube des sizilianischen Bauernvolkes vom aufgeklärteren Norditaliener als „Erniedrigung des ernsten Kampfes ums Dasein" erlebt werde. 12 Symptomatisch ist nicht zuletzt auch seine Skizze der modernen Geschichte unter der Überschrift „Entwicklung und Rasse".13 Neben der auffällig akkuraten Mitschrift aus der Kirchhoff-Vorlesung findet sich im Turiner Michels-Nachlaß ein kleines Notizheftchen, das ebenfalls ein wenig Licht auf die Michelssche weltanschauliche Orientierung am Anfang seiner Karriere als politischer Publizist, wenn nicht sogar früher, zu geben vermag. 14 Unter den in dem Heftchen versammelten Aperçus und Stichworten, die sich in pointierter Form u. a. mit der Sozialpsychologie des Bürgertums, der Geschlechtsmoral und der „kaiserlich-deutschen Stickluft" - also den zentralen Themen der Gesellschaftskritik des jungen Michels auseinandersetzen, findet sich auf der ersten Seite, von Michels selbst durch ein Kreuzchen hervorgehoben, die Gleichung: „Wunder = Vergewaltigung d. Naturgesetze". Dieser Satz wird von Sentenzen aus dem geistigen Fundus der politischen Aufklärung umgeben, wie etwa: „Das Recht soll keine Sprachgrenzen kennen", „Der Monarchismus: entweder ein utopischer Idealismus oder ein System centralisierender und centralisierter Unmoral" oder „Das deutsche Bürgertum holpert u. stolpert immer noch über Dinge, die in anderen weniger politisch zurückgebliebenen Ländern längst sein Eigen-

12 Michels, Fortschritte, Rückschritte und Aussichten der Frauenbewegung im Jahre 1893 (aus der Artikelserie: „Rückblick auf die Geschichte der proletarischen Frauenbewegung in Italien"), in: Die Gleichheit, Nr. 8, 13. Jg., 8.4.1903. 13 Michels, Entwicklung und Rasse, in: Ethische Kultur, 13. Jg., Nr. 20, S. 155-157. 14 Michels, Notizheft [manche Leute sehen nur das Gänseblümchen, aber nicht die Blutlache drumherum], in: Appunti di Roberto Michels, ARMFE. Von den insgesamt vier Notizbüchern, die sich unter der Rubrik „Appunti" im ARMFE finden, ist es m. E. das älteste. Ich datiere es - mit Blick auf Schriftbild (das sich in Michels' Entwicklung bis in die zwanziger Jahre mehrmals drastisch verändert) und Themen (Psychologie des deutschen Bürgertums, Erkenntnistheoretisches, aber keine Spur von „Partei" und nur wenig „Sozialismus") - auf die Zeit vor 1903. Da das Schriftbild an einigen Stellen noch von der Sütterlinschrift geprägt ist, läßt sich sogar vermuten, daß das Heftchen vielleicht sogar aus der Zeit vor Michels' politisch-publizistischem Engagement, d. h. aus der Studienzeit stammt. Wie die übrigen Privatnotizen ist auch dieses Notizheft eine ergiebige, aber bislang noch nie genutzte Quelle. Das mögen ein paar Kostproben verdeutlichen. Neben der schon erwähnten Abneigung Michels' gegenüber dem spontanen Geschlechtsakt zwischen Unbekannten (vgl. „Erotik, Feminismus, neue Sexualmoral") findet sich hier eine Reihe weiterer Gedanken, so etwa über die Psychologie des Staates: „Die Angst ist eines der treibenden Elemente unseres Staatslebens". Über die Menschenrechte: „Das Recht soll keine Sprachgrenze haben". Zur politischen Sittenkritik: „Die Wacht am Rhein ist nicht mehr die Sturmglocke, sondern die Herdenglocke am Halse des Rindviehs"; „sie essen nicht um sich zu ernähren, sondern um sich über ihren Hunger hinwegzutäuschen", „manche Leute sehen nur das Gänseblümchen, aber nicht die Blutlache drumherum".

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tum geworden sind, Vereins u. Versammlungsfreiheit, Zulassung der Frau zu den Universitäten etc. etc.". Nun ist ein Notizheft generell der Aufbewahrungsort für meist unausgegorene Gedanken und für aufgeschnappte Gesichtspunkte aller Art. In diesem Fall aber haben wir allen Anlaß zu der Vermutung, daß eine geistige Grundorientierung die Notizen zusammenhält. Das antimetaphysisch-naturgesetzliche Denken und die republikanisch-antimonarchische politische Option stehen bei Michels nicht in einem kontingenten, sondern in einem systematischen Verhältnis: 1903 hat er nämlich das Regierungssystem des Monarchismus mit dem „Republikanismus" konfrontiert und diesen ausdrücklich als „Resultante des wissenschaftlichen Positivismus" präsentiert, der die „erbliche Bestimmung eines Aristos kai Kallistos nicht erlauben kann".15 Wenn ein Autor um 1903 seine politischen Optionen mit einer affirmativen Bezugnahme auf die positivistische Wissenschaftskultur zu fundieren sucht, dann ist das allein schon eine bemerkenswerte Positionierung. Denn kaum ein Begriff ist um die Jahrhundertwende derart mit polemischen Bedeutungsinvestitionen kontaminiert und aufgrund dieser Investitionen in seiner Semantik so vage wie der „Positivismus". „Positivismus" ist zu diesem Zeitpunkt nicht nur eine weltanschauliche Selbstbezeichnung, sondern ist zugleich der denunziatorische Sammelbegriff für alles, was die neoidealistische Revolte16 zu ihrem Feindbild erkoren hat: philosophische Konzepte wie „Materialismus", „Mechanismus" und „Naturalismus" fallen ebenso darunter wie das politische Konzept der Demokratie. Insbesondere in Deutschland ist der „Positivismus" die begriffliche Projektionsfläche für die Aversionen gegen einen ,geistlosen' und oberflächlichen' „Relativismus", dem die Unfähigkeit zur allgemein verbindlichen Normbildung und kulturellen Vergemeinschaftung vorgehalten wird.17 Die Zersplitterung des Wissens und die Fragmentierung des Lebens, der Verlust ganzheitlicher Sinnorientierungen im Sog des empirischen Skeptizismus, die „Auflösung von Verbindlichkeiten" und die „materialistische Veräußerlichung des Lebens" lauteten die weiteren Facetten eines Krisenszenarios, für das die Neoidealisten den Positivismus verantwortlich machen.18 Geht man allerdings von der denunzierenden Begriffsbestimmung durch seine Gegner zur Frage nach dem positivistischen Selbstverständnis über, wird man überrascht feststellen, daß dieser im 19. Jahrhundert keineswegs auf das Projekt einer ganzheitli-

15 Michels, Le Congrès socialiste de Dresden et sa psychologie, in: L'Humanité Nouvelle, 1903, S. 747, a. VII, η. 53, November 1903, S. 740-754, S. 747. Michels erklärt hier den Umstand, daß sich die SPD nicht wie die meisten Schwesterparteien .sozialistisch', sondern sozialdemokratisch' nennt, damit, daß in Deutschland die Gründung der demokratischen Republik erst noch bevorstehe, und fügt dann erläuternd hinzu: „II est la résultante aussi de son positivisme scientifique qui ne peut pas admettre un règlement héréditaire d'un Aristos Kai Kallistos." 16 H. Stuart Hughes, Coscienza e società. Storia delle idee dal 1890 al 1930, Torino 1967, S. 44 (Originai: Consciousness and Society, New York 1958). 17 Klaus Christian Köhnke, Neukantianismus zwischen Positivismus und Idealismus?, in Gangolf Hübinger/Rüdiger vom Bruch/Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Kultur und Kulturwissenschaften um 1900 II: Idealismus und Positivismus, Stuttgart 1997, S. 41-52. 18 Friedrich Wilhelm Graf, Die Positivität des Geistigen. Rudolf Euckens Programm neoidealistischer Universalintegration, in: Hübinger/vom Bruch/Graf, Idealismus und Positivismus, S. 53-85.

III. 1. Der Positivismus der zweiten Phase

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chen Sinnstiftung verzichtet hat und daß seine Fortschrittsgläubigkeit und wissenschaftlicher Naturbeherrschungsoptimismus bereits bei seinem Namensgeber, Auguste Comte, in die Vision einer säkularen, irdischen Religion der Menschheit münden. In Comtes „Drei-Stadien-Gesetz" bezeichnet der Begriff das letzte von drei Stadien in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Die zentrale Grundannahme des Comteschen Geschichtsbildes besteht darin, daß diese drei Stadien - das „theologische", das „metaphysische" und eben das „positivistische" - als Etappen einer irreversiblen und progressiven Entwicklung verstanden werden, an deren Ende nicht nur die Ersetzung metaphysischer Abstrakta und theologischer Gottheiten durch eine methodische Erkenntnis der Welt und ihrer Gesetze steht, sondern auch altruistische wie universalmenschheitliche Orientierungen als adäquate Moral des „positivistischen Stadiums" sich an die Stelle der nationalen oder kontinentalen Partikularsolidaritäten und -identitäten setzen würden. Der Positivismus beerbt damit im 19. Jahrhundert den Erkenntnis Optimismus der Aufklärung, aber auch ihren Gestaltungsoptimismus. Auch wenn das positivistische Fortschrittsvertrauen eine Umkehrung der nun einmal als unaufhaltsam gedachten Entwicklung zur positivistischen Gesellschaft ausschließt, so schreibt es dem Menschen doch immerhin so viel Gestaltungskompetenz zu, daß er die Probleme und Nebenkosten des Fortschritts rationalen Lösungen zuführen könne und daß er kraft seiner Einsicht in die Gesetze der Entwicklung diese auch befördern und beschleunigen könne.19 Der zweite Hohepriester des Positivismus, Herbert Spencer, hat die Grundthese vom fortschrittlichen Charakter der Entwicklung um das für die Sozialtheorie des 20. Jahrhunderts wirkungsmächtige Theorem der sozialen Differenzierung ergänzt und dabei im Geist einer naturgesetzlichen Evolutionstheorie reformuliert. Mit Spencer wird der Positivismus, ganz auf der Höhe der naturwissenschaftlichen Erkenntniseuphorie der zweiten Jahrhunderthälfte, sozialdarwinistisch. Zentrale Begriffe Darwins, wie den „survival of the fittest" als Motor der Entwicklung, hat Spencer sogar vorweggenommen.20 Paradox mag dabei anmuten, daß für Spencer das progressive Ziel der Entwicklung auf eine Erweiterung der individuellen Freiräume bis zur praktischen Selbstgesetzgebung des Menschen ohne staatliche Bevormundung hinausläuft, während der Weg dorthin vom Menschen allerdings nicht zu beeinflussen sei. Mit Spencer und Darwin wandelt sich das positivistische Weltbild: es behält zwar seinen Zukunftsoptimismus bei, die Idee einer rationalen Gestaltung dieser Zukunft weicht aber einem naturwissenschaftlichen Geschichtsfatalismus, der das Individuum von „erblichen Anlagen", vom „Milieu", der Not des Existenzkampfes und der Notwendigkeit der, Anpassung" determiniert sieht.21

19 Frank E. Manuel, The prophets of Paris, Cambridge Mass. 1962, S. 280; Michael Bock, Auguste Comte, in: Dirk Käsler, Klassiker der Soziologie I, München 1999, S. 39-57. 20 Michael Kunczik, Herbert Spencer, in: Käsler, Klassiker der Soziologie I, S. 74-93, S. 75. 21 Vgl. Hughes, Coscienza e società, S. 45.

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III. Die Brücke zur Zweiten Internationale

Mit der Adaption an den Sozialdarwinismus und die Evolutionstheorie tritt der Positivismus in seine „zweite Phase": 22 diese zweite Phase ist dadurch gekennzeichnet, daß in ihr der progressive Strang des Positivismus im Sinne des linearen, gesellschaftsoptimierenden Geschichts- und Zukunftsbildes fortlebt - hier wäre zum Beispiel an den Monismus 23 zu denken - , gleichzeitig aber die bisherigen Gewißheiten des rationalen Weltbildes zur Disposition stehen. Wenn nämlich das Handeln der Menschen aus der Naturnotwendigkeit folgt, dann wird man von einer vernunftgestützten Gestaltungskompetenz des Subjektes kaum noch reden können. Mit der Auszeichnung der Naturgeschichte als normativer, systematischer und logischer Grundstruktur der Gesellschaftsgeschichte verliert das Subjekt vielmehr die zentrale Handlungsposition im Geschichtsprozeß, die ihm die Aufklärungsphilosophie zugewiesen hatte. Mit dem Verlust des vernünftigen Akteurs als Substrat der Geschichte diffundiert das positivistische Weltbild der zweiten Phase in verschiedene Richtungen. So zeigt sich im sogenannten fin de siècle, daß es theoretisch nur ein kleiner Schritt ist, um von der Dehumanisierung der Geschichtsmotorik zur Dehumanisierung des historischen Telos zu gelangen, d. h. zu der Erkenntnis, daß sich in der sozialen Naturgeschichte alles andere als eine humane Teleologie entfalte, ja, daß die natürliche Entwicklung möglicherweise fur menschliche Belange gänzlich blind ist.24 Infolge dieser Erosion seiner aufklärerischen Leitmaximen verbindet sich der Positivismus der zweiten Phase mit sehr gegensätzlichen geschichtsphilosophischen und politischen Optionen, deren Gemeinsamkeit allenfalls noch auf der epistemologischen Abwehrhaltung gegenüber metaphysischen Abstrakta und theologischen Wahrheiten, bzw., positiv gewendet, auf der epistemologischen Grundorientierung an ,harten', kraft naturwissenschaftlicher ,Objektivität' verbürgten ,Fakten' besteht. In dieser Arbeit werden exemplarisch zwei Ausgestaltungen des Positivismus in der Krise seiner zweiten Phase vorgestellt: der zukunftsoptimistische der Marx-Orthodoxie sowie der kriminalanthropologischen Schule Cesare Lombrosos einerseits und der pessimistische Positivismus des Grazer Soziologen Ludwig Gumplowicz 25 andererseits. Wenn es in dem von intellektuellen Suchbewegungen, Synthesen und Eklektizismen geprägten geistigen Klima um 1900 in einem zumindest idealtypischen Sinne lokalisierbare epistemologische Felder gegeben hat, auf denen Michels sich in den Jahren von 1900 bis 1914 bewegte, dann auf diesen. Auf diese Weise versuche ich auszuloten, was Pino Ferraris mit seiner Rede vom „Positivismus in der Krise seiner Epoche" angedeutet hat.

22 Vgl. André Kaiser, Politik als Wissenschaft. Zur Entstehung akademischer Politikwissenschaft in Großbritannien, in: Hübinger, vom Bruch, Graf (Hg.), Idealismus und Positivismus, a.a.O., S. 277-295, S. 279. 23 Vgl. Gangolf Hübinger. Die monistische Bewegung. Sozialingenieure und Kulturprediger, in: Hübinger, vom Bruch, Graf (Hg.), Idealismus und Positivismus, a.a.O., S. 246-259. 24 Paradebeispiel für diese positivismusimmanente Denkbewegung ist der Soziologe Ludwig Gumplowicz. Vgl. Timm Genett, Das Ende der Neuzeit. Ludwig Gumplowicz und die Urzeitklänge auf dem Boulevard der Zivilisation, in: Karsten Fischer (Hg.), Neustart des Weltlaufs? Fiktion und Faszination der Zeitwende, Frankfurt a.M. 1999, S. 113-138. 25 Vgl. Kapitel VI.2 Die Vergeblichkeit von Demokratisierung.

III. 1. Der Positivismus der zweiten Phase

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Michels' Bekenntnis zum „wissenschaftlichen Positivismus" von 1903 ist nicht singulär geblieben. Einige Jahre später, in einem Aufsatz von 1908 über das Verhältnis von Sozialismus und Ethik, hat er sich zur Weltanschauung des „positivistischen Sozialismus" bzw. zur „positivistischen Schule von Karl Marx" bekannt.26 Nun führt vom „wissenschaftlichen Positivismus", gerade wenn man an die Ambivalenz seiner zweiten Phase denkt, gewiß keine Einbahnstraße in den „positivistischen Sozialismus". Bei Herbert Spencer etwa legitimierte das Theorem vom „survival of the fittest" den Manchester-Kapitalismus. Es gibt aber eben auch eine sozialistische Variante in der Darwin-Rezeption, die im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert das geistesgeschichtliche Phänomen des „Darwinomarxismus" hervorgebracht hat. Und es gibt Hinweise darauf, daß Robert Michels auf seinem ideologischen Weg in die Sozialdemokratie eine deutsche und eine italienische Variante dieses Darwinomarxismus rezipiert hat. Versuchen wir zunächst eine Rekonstruktion der deutschen Variante.

1.1. Der deutsche Darwinomarxismus Auf dem Dresdner Parteitag von 1903 hat Robert Michels seine Hinwendung zu sozialistischen Positionen zeitlich in seine Militärzeit eingeordnet: „Als ich noch auf der Kriegsschule zu Hannover war, las ich in der ,Post' und der ,Kreuzzeitung' die Bebeischen Reden. Sie waren beschnitten, aber sie veranlaßten mich doch, mich mit der sozialistischen Literatur zu befassen, die mich schließlich denn zu dem machte, was ich bin".27 Die Frage, welche „sozialistische Literatur" Michels zu dem machte „was ich bin", und zwar ab 1896!,28 wird erschöpfend wohl nie beantwortet werden können. Aber zumindest einen Titel können wir nachträglich auf der imaginären sozialistischen Literaturliste des Studenten Michels eintragen: August Bebels „Die Frau und der Sozialismus".29 Für eine weltanschauliche Affinität des jungen Michels zu August Bebel spricht allein der Umstand, daß die oben referierte Annahme Michels', „wissenschaftlicher Positivismus" und Republikanismus30 stünden in einem logischen Begründungsverhältnis,

26 Vgl. R. Michels, Le coté éthique du Socialisme positiviste, in: La Société Nouvelle, 14me année, 2me série, nr. 3, septembre 1908, S. 305-312. Das Verhältnis des „positivistischen Sozialismus", d. h. der von Kautsky repräsentierten Marx-Orthodoxie, war neben dem Revisionismus-Streit das Reizthema der theoretischen Debatte innerhalb der Partei. Auf den zitierten Aufsatz und Michels' Beitrag zur Ethik-Debatte in der Sozialdemokratie werde ich später zurückkommen. 27 Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten zu Dresden vom 13. bis 20. September 1903, Berlin 1903, S. 229. 28 Die Militärzeit folgte dem Abitur (1895) und dauerte nur ein Jahr. 29 Pino Ferraris ist der erste gewesen, der daraufhingewiesen hat, daß in Michels' Publikationsdebut von 1901 („Attorno ad una questione sociale ...", a.a.O.) Bebel der einzige sozialistische Gewährsmann bei Michels' Überlegungen zur Frauenfrage ist. Vgl. Ferraris, Saggi su Roberto Michels, S. lOf. 30 Neben der im folgenden explizierten Bebeischen Begründung des Zusammenhangs von Positivismus und Demokratie ließe sich das von Michels konstatierte Begründungsverhältnis auch im

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III. Die Brücke zur Zweiten Internationale

sich in Bebels Bestseller im Sinne einer explizit demokratischen Rezeption des Darwinismus wiederfindet: 31 „Der Darwinismus ist wie jede wirkliche Wissenschaft eine eminent demokratische Wissenschaft". 32 Bebel zufolge besteht die Lehre, die der Sozialverband aus der Evolutionstheorie zu ziehen hat, darin, daß er „für alle gleich günstige Daseinsbedingungen" zu sichern hat: „Es handelt sich also darum, die sozialen Zustände in der Weise zu gestalten, daß jeder Mensch die Möglichkeit zur vollen ungehinderten Entwicklung seines Wesens erhält, daß die Gesetze der Entwicklung und Anpassung, die nach Darwin mit der Bezeichnung des Darwinismus belegt werden, zweck- und zielbewußt für alle Menschen zur Wirksamkeit kommen. Das ist aber nur möglich im Sozialismus." 33 Bebel gibt damit dem Pathologen Rudolf Virchow Recht, der auf einer Versammlung der deutschen Naturforscher 1877 von der Darwinschen Theorie - allerdings in diskreditierender Absicht - behauptet hatte, daß sie zum Sozialismus führe. Virchow widersprach damit Ernst Häckels sozialaristokratischem Darwinismusverständnis, demzufolge der Darwinismus gerade die Unterschiede in Besitz und Bildung naturgesetzlich legitimiere.34 Während die marktliberale Variante des progressiven Positivismus, wie etwa bei Spencer, die menschlichen Entwicklungspotentiale durch den reglementierenden Staat gefährdet sieht und die Dynamik der Entwicklung dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen will, sieht die sozialistische Evolutionstheorie a la Bebel gerade in den durch unterschiedliche soziale Ausgangsbedingungen zementierten Abhängigkeitsverhältnissen und den daraus resultierenden ungleich verteilten individuellen Entwicklungsmöglichkeiten in der kapitalistischen Gesellschaft einen Widerspruch zur Evolutionstheorie: die „blinde Herrschaft" der kapitalistischen Wirtschaft erhebe „weder den Besten, noch den Geschicktesten, noch den Tüchtigsten auf die gesellschaftliche Höhe [...], oft aber den Geriebensten und Verdorbensten". Letzterer werde von der herrschenden Ordnung obendrein in die privilegierte Lage versetzt, „die Daseins- und Entwicklungsbedingungen für seine Nachkommen zu den angenehmsten zu machen, ohne daß diese dafür einen Finger zu krümmen brauchen." 35 Die individuellen Fähigkeiten und guten Eigenschaften eines Menschen als solche würden in den tatsächlichen Ausleseverfahren der kapitalistischen Wirtschaftsordnung dagegen nicht prämiert. Bebel bestreitet damit der kapitalistischen Ordnung, daß ihre Lebensbedingungen und sozioökonomischen Repro-

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Denken des von Marx und Engels so genannten „Proletarierphilosophen" Joseph Dietzgen nachweisen, dem zufolge sich aus der Weltanschauung des materialistischen Monismus die „demokratischen Konsequenzen" zwingend ableiten lassen. Vgl. Joseph Dietzgen, Gesammelte Schriften, Berlin 1930, Bd. I, S. 126-133; zit. n. Iring Fetscher, Der Marxismus. Seine Geschichte in Dokumenten, 4. Auflage der einbändigen Ausgabe, München 1984, S. 191. Im folgenden zitiert nach August Bebel, Die Frau und der Sozialismus, 58. Auflage, Dietz-Verlag Berlin 1954 (= N D der 55. Aufl. v. 1946). Bebel, Frau, S. 324. Bebel, Frau, S. 323. Nachweise bei Steinberg, S. 47; Bebel, S. 325f. Bebel, Frau, S. 326.

III. 1. Der Positivismus der zweiten Phase

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duktionsformen zu einer - „naturwissenschaftlich derb ausgedrückt" - „Züchtung" der „Fähigsten und Besten" imstande seien.36 Begrifflich wie semantisch bewegt sich Robert Michels exakt auf dem epistemologischen Boden des sozial progressiven Darwinismus eines Bebel, wenn er 1904 das Skandalon der kapitalistischen Gesellschaft in dem Umstand erblickt, daß in ihr die ungleichen sozialen Milieus die Entwicklung des Menschen determinieren und seine individuellen Anlagen kaum zur Entfaltung kommen lassen: „Wie mancher Knabe, der vielleicht für Zend37 oder Sanskrit eminente Begabung hat, geht nicht im Kampfe ums Dasein elendiglich unter, ohne daß er oder ein anderer seine Begabung auch nur geahnt hätte!"38 Neben dieser kapitalismuskritischen Adaption der Milieutheorie läßt sich ein weiteres Theorem identifizieren, das bei Bebel explizit, bei Michels eher implizit auftaucht und das gleichsam das Essential dieses linkspositivistischen Biomaterialismus darstellt: die Annahme nämlich, daß die in der Evolution enthaltene humane Teleologie und qualitative „Höherentwicklung" der Spezies sich als eine menschliche Emanzipation vom tierischen Daseinskampf vollziehe. So sieht Bebel im „Kampf ums Dasein" das Grundbewegungsprinzip aller „Organismen" in der Natur wie in der Menschenwelt. „Im Laufe der Entwicklung" aber nehme der Daseinskampf „den Charakter von Klassenkämpfen an, die sich auf immer höherer Stufenleiter abspielen". Und in urpositivistischer Manier, nämlich im ungebrochenen naiven Grundvertrauen auf den fortschrittlichen genetischen Code der Entwicklung und auf die Steigerung der menschlichen Kompetenz zu einer rationalen Daseinsbewältigung, fügt er hinzu, daß diese Kämpfe „zu immer höherer Einsicht in das Wesen der Gesellschaft [führen] und schließlich zur Erkenntnis der Gesetze, welche ihre Entwicklung beherrschen und bedingen. Schließlich haben die Menschen nur nötig, diese Erkenntnis auf ihre politischen und sozialen Einrichtungen anzuwenden und diese entsprechend umzuformen". Der Fehler der sozialaristokratischen Lesart Darwins, wie sie von Häckel und seinen Anhängern favorisiert wird, besteht Bebel zufolge in einer unzulässigen Identifizierung von menschlichem und tierischem Daseinskampf. Der fundamentale Unterschied zwischen Mensch und Tier sei aber, daß „der Mensch ein denkendes Tier genannt werden kann, das Tier aber kein denkender Mensch ist".39 Der positivistische Sozialismus Bebels legt damit den Evolutionsgedanken so weit aus, daß die Evolution auf einen optimalen Gesellschaftszustand - die sozialistische Zukunftsgesellschaft - hinarbeitet, der eines Tages das Entwicklungsprinzip, den Kampf ums Dasein, tilgen wird: „Die Interessenharmonie muß an die Stelle der Interessengegensätze treten, die heute die Gesellschaft beherrschen." - Wir werden noch anhand der Sozial- und Elitentheorie Ludwig Gumplowiczs sehen, daß die neuen pessimistischen Tendenzen im Positivismus der zweiten

36 Bebel, Frau, S. 323. 37 Vielleicht handelt es sich hier um eine Abkürzung für das Zendawesta, einer Sammelbezeichnung für die heiligen Schriften des Parsismus. 38 R. Michels, Die deutsche Frau im Beruf, in: Die Gleichheit, 14. Jg., Nr. 11, 18. Mai 1904, S. 8284, S. 84 (meine Hervorhebung). 39 Bebel, Frau, S. 326, 327.

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Phase sich exakt an dieser zukunftsoptimistischen Prognose der Möglichkeit einer Tilgung des historischen Entwicklungsprinzips von Kampf, Unterwerfung und Herrschaft im „Zukunftsstaat" entzündet haben. Der naive Evolutionsoptimismus Bebels ist hier referiert worden, weil er Begriffe expliziert, die bei Robert Michels an verschiedenen Stellen ohne nähere Erläuterung auftauchen. Vor dem Hintergrund der Bebeischen Schrift tritt Michels' geistige Verwandtschaft mit dem positivistischen Evolutionsoptimismus aber deutlich zutage: wenn er etwa die „Fortdauer des Daseinskampfes in seiner jetzigen thierischen Form" verwirft und er eine progressive Matrix der Entwicklung unterstellt, deren Potentiale durch eine adäquate Anpassung der Menschen verwirklicht werden können: „Hat man einmal angenommen, dass ein weiteres Fortschreiten der Culturentwicklung notwendig und wünschenswert ist, so muß die Frau unbedingt mitfortschreiten, sich mitweiterentwickeln".40 So hohl diese Phrase auch klingt, diese dreigestaltige wie einfältige Einheit von Notwendigkeit, Wünschenswertem und fortschrittlicher Entwicklung ist ein Credo, ein Bekenntnis zum positivistischen Geschichtsfatalismus der zweiten Phase in seiner optimistischen Variante. Und ganz ähnlich wie Bebel liest auch Michels den Code der Evolution als eine sukzessive Emanzipation der menschlichen Zivilisation vom „primitiven Thierzustand" des „Urmenschen", in dem das „Zugrundegehen die Regel" war.41 Wenn Michels schließlich der Gegenwartsgesellschaft polemisch vorhält, daß sie Zustände wie die Prostitution aus ökonomischer Not zeitigt, die moralisch noch unterhalb der „darwinianischen Epochen"42 stehen, dann spricht sich, wenn auch implizit, so doch deutlich genug, darin das evolutionstheoretisch genormte Bild einer „auf immer höherer Stufenleiter" (Bebel) progredierenden Geschichte aus. Michels bekennt sich zu diesem Geschichtsbild auch dann, wenn er dem Begriff der Revolution abstreitet, überhaupt eine „Antithese zur Evolution" darzustellen, und ihn dieser unterordnet: „Revolution ist [...] nur eine mögliche, durch bestimmte Ursachen bedingte Phase derselben [Evolution]."43 Die Rede von einem sozial progressiven Darwinismus, ja, wenn man zuspitzen will, einer linken Rezeptionsvariante des Biologismus, mag vielleicht irritieren, weil unser historisches Normalbewußtsein und unsere politische Topographie geneigt sind, das biologistische Denken dem rechtskonservativen bis rechtsrevolutionären Diskurs der klassischen Moderne zuzuordnen. Was dagegen den Darwinismus für das progressive Lager im weitesten Sinne - und wir werden dies noch mit Blick auf Kautskys MarxOrthodoxie sowie den sozialistischen Positivismus der italienischen Kriminalistik spezifizieren - so attraktiv macht, sind zwei Grundthesen: Erstens gibt der evolutionäre Biomaterialismus - der Begriff soll alle Spielarten einer komplementären, analogen oder strukturidentischen Beziehung zwischen Biologismus und Materialismus umfassen - den Progressiven unumstößliche, weil natur40 41 42 43

Michels, Das Weib und der Intellectualismus, S. 110. Michels, Das Weib und der Intellectualismus, S. 109. Michels, La zitellona proletaria. La prostituta, in: Unione femminile, Jg. 3, Nr. 1, Januar 1903, S. 1-4. Michels, Zur Geschichte der Sozialismus, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. XXIII, Heft 3, November 1906, S. 786-843, S. 793.

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wissenschaftlich objektive .Tatsachen' an die Hand, mit denen sich Opposition gegen Kirche und „Pfaffenglauben" sowie gegen die „idealistischen Schrullen" des Bildungsbürgertums machen läßt. Aus der Naturwissenschaft als Modell aufklärerischen Wissens gegenüber den Mächten der Religion, des Obskurantismus und des Aberglaubens kann man historisches Selbstbewußtsein destillieren - unüberhörbar in Bebels beliebter Anleihe bei Francis Bacon: „Wissen ist Macht". Zweitens läßt sich die darwinistische Identifikation von „Erbanlagen" und „Milieu" als Entwicklungsfaktoren zugunsten des sozialreformerischen Gedankens interpretieren, daß die Verbesserung der Umweltbedingungen langfristig auch den „Stamm" auf eine entwicklungsgeschichtlich höhere Stufe heben werde.44 Nicht zufällig sind die Sozialisten jener Zeit daher in einem erstaunlich hohen Maß an Fragen der Sozial- und „Rassen"-hygiene interessiert - das gilt, wie noch zu zeigen ist, sowohl für den Sozialisten als auch für den Soziologen Robert Michels und es gilt ebenso für Karl Kautsky.45 Die schon erwähnte Virchow-Häckel-Kontroverse gibt freilich bereits einen Hinweis auf die politische Ambivalenz der Darwin-Rezeption. Auf dem Feld der politischen Ideologien des Kaiserreichs haben sich zwei Interpretationsstränge herausgeschält, die Darwins Theorie völlig unterschiedlich akzentuieren: Der Selektionsgedanke wird insbesondere von einem sich in seiner sozialen Stellung bedroht fühlenden Bürgertum dankbar in Anspruch genommen, das mittels eines Transfers des „survival of the fittest" von der Natur auf die gesellschaftliche Sphäre seine privilegierte Position naturwissenschaftlich auszuzeichnen und zu untermauern sucht. Der auf den „Kampf' verengte Sozialdarwinismus, eine Variante, die Hans-Ulrich Wehler als „antiegalitären Sozialdarwinismus" bezeichnet und in die „Verfallsgeschichte des Positivismus" einordnet, lieferte gleichzeitig eine biologische Begründung für „kapitalistischen Konkurrenzkampf und imperialistische Expansion, untermauerte [...] rassische Überlegenheitsgefühle" und „gab der bevorzugten Stellung des eigenen Landes und Volkes eine naturgesetzliche Weihe".46 Die „Schlüsselstellung",47 die der Darwinismus dagegen in der Arbeiterbewegung einnimmt, rührt weniger aus seinem Selektions-, als vielmehr aus seinem Evolutionsgedanken. Die Synthese von Marx und Darwin bzw. von Natur- und Gesellschafts-

44 Vgl. Jaap van Ginneken, Crowds, Psychology and Politics 1871-1899, Cambridge University Press 1992, S. 60. 45 Vgl. Karl Kautsky, Rassenhygiene, in: ders., Vermehrung und Entwicklung in Natur und Gesellschaft, Stuttgart 1910, S. 261: „In der heutigen Gesellschaft macht die Entartung rasche und beängstigende Fortschritte". Bei „fortschreitender Technik" nämlich drohe „immer mehr die Rasse zu verschlechtem". Als Symptome für die ,Rassenverschlechterung' nennt Kautsky: „die zunehmende Ausschaltung des Kampfes ums Dasein, die wachsende Möglichkeit auch für die Schwächlichen und Kränklichen, sich zu erhalten und fortzupflanzen". Es fragt sich, ob diese „terminologische Assimilierung an den bürgerlich-sozialdarwinistischen Rassendiskurs" wirklich bloß „mißverständlich" ist. So H.-G Marten, Sozialbiologismus. Biologische Grundpositionen der politischen Ideengeschichte, Frankfurt a.M./New York 1983, S. 101. 46 Hans-Ulrich Wehler, Sozialdarwinismus im expandierenden Industriestaat, in: ders., Krisenherde des Kaiserreiches 1871 - 1 9 1 8 , 2 . Aufl., Göttingen 1979, S. 281-289, S. 286. 47 Steinberg, Sozialismus und deutsche Sozialdemokratie, Bonn/Hannover 1967, S. 45ff.

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geschichte geht von Friedrich Engels aus. Sein „Anti-Dühring" (1878), der als die authentische Darstellung der Marxschen Lehre gilt, ist vielleicht sogar eine notwendige Voraussetzung dafür, daß eine ganz im Banne der Evolutionstheorie stehende Generation die Marxsche Lehre überhaupt rezipiert. Karl Kautsky und Eduard Bernstein zumindest werden erst um 1880 unter dem Eindruck des „Anti-Dühring" zu überzeugten Marxisten. Was die Engelssche Darstellung so attraktiv macht, ist die darin vollzogene „Verflachung der Marxschen Dialektik" (Steinberg) und ihre Transformation in ein allgemeines Entwicklungsgesetz. Vorangetrieben von dem autorisierten Chefinterpreten nach Engels' Tod, Karl Kautsky, avanciert die Synthese von Naturgeschichte und ökonomischen Materialismus, der sogenannte „Darwinomarxismus" (Groh), schließlich zum theoretischen Credo der Zweiten Internationale. Kautsky betreibt marxistische Geschichtsphilosophie in explizit biomaterialistischer Absicht: „Dabei trachtete ich, das Gebiet der materialistischen Geschichtsauffassung so weit auszudehnen, daß es sich mit dem der Biologie berührte. Ich untersuchte, ob die Entwicklung der menschlichen Gesellschaften mit der der tierischen und pflanzlichen Arten nicht innerlich zusammenhänge, so daß die Geschichte der Menschheit nur einen Spezialfall der Geschichte der Lebewesen bildet, mit eigenartigen Gesetzen, die aber in Zusammenhang stehen mit den allgemeinen Gesetzen der belebten Natur".48 Dieser kognitive Hintergrund hat für die von Kautsky ausgestaltete Ideologie des „Zentrismus" erhebliche semantische, theoretische und politische Folgen. Semantisch führt die Analogisierung von Natur und Gesellschaft unter der Hand zu einer naturalisierenden bzw. biologisierenden Letztbegründung des Sozialen. Soziomoralische Phänomene etwa werden von Kautsky aus der menschlichen Triebnatur abgeleitet: „Aber nicht nur sind die sozialen Triebe etwas durchaus nicht Konventionelles, sondern etwas tief in der Menschennatur, der Natur des Menschen als sozialen Tieres Begründetes; auch die sittlichen Satzungen sind nichts Willkürliches, sondern entspringen den gesellschaftlichen Bedürfnissen".49 Polemisch hat Karl Korsch dazu bemerkt, das Fundament der Kautskyschen Anthropologie sei „Brehms Tierleben".50 Mit der naturgesetzlichen Semantik verändert sich auch die Semantik der Revolutionsprognose: Kautskys Begriff der „sozialen Revolution" bezeichnet nicht einen historisch lokalisierbaren Kulminationspunkt des Umschlagens einer Gesellschaftsordnung in die nächste, sondern fungiert als Sammelbegriff für die „stete Verschärfung der Klassenkämpfe", für das - man beachte die biologische Metapher -hineinwachsen in eine Epoche großer, entscheidender Klassenkämpfe", das für Kautsky wiederum mit dem hineinwachsen in den Sozialismus" identisch ist. Klassenkampf, Revolution und das „Hineinwachsen in den Sozialismus" fungieren bei Kautsky als jeweils „nur ein anderer

48 Karl Kautsky, Die materialistische Geschichtsauffassung, Bd II: Der Staat und die Entwicklung der Menschheit, Berlin 1927, S. 630 49 Karl Kautsky, Ethik und materialistische Geschichtsauffassung (1906), Stuttgart 1910, S. 123, zitiert nach Iring Fetscher, Der Marxismus. Seine Geschichte in Dokumenten, 4. Aufl. der einbändigen Ausgabe, München 1984. 50 Karl Korsch, Die materialistische Geschichtsauffassung. Eine Auseinandersetzung mit Karl Kautsky, Leipzig 1929, S. 39; zit. n. Steinberg, S. 48.

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Ausdruck" ein und derselben Sache.51 So definiert, bezieht sich der Kautskysche Revolutionsbegriff auf einen revolutionären Wandel à la longue durée, der sich vom evolutionären Progressus ad infinitum nur durch das vage bleibende Ziel des Zukunftsstaates unterscheidet. Karl Korsch, ein späterer, wieder am Hegel-Marxismus anknüpfender Kritiker des „Kautskyanismus", hat untersucht, worin der theoretische Bruch der Marx-Orthodoxie der zweiten Internationale mit der Marxschen Geschichtsphilosophie besteht und inwiefern es zu einer „Verflachung der Dialektik" kommt.52 Korsch zufolge steht zwar der „Begriff der Entwicklung" sowohl bei Marx und Engels als auch bei Kautsky im Mittelpunkt und bilde den „zentralen Begriff der materialistischen Geschichtsauffassung". Die Entwicklung werde aber von Marx und Engels in „dreifacher Bedeutung" aufgefaßt: „als Denken (Dialektik), als Werden (Entwicklung im engeren Sinne, in Natur und Gesellschaft) und als Tat (Klassenkampf)". Von dieser dreifachen Bedeutung des Marxschen (und Engelsschen, wie Korsch meint) Entwicklungsbegriffs bleibe bei Kautsky „nur eine einzige übrig·, die Entwicklung als objektives geschichtliches Werden in Natur und Gesellschaft"Ρ Mit dieser Einengung des Entwicklungsbegriffs auf das objektive, naturanaloge, ja, naturgeschichtlich fundierte „Werden" und mit der Entsorgung der für Marx eminent revolutionären Handlungskategorien des „Denkens" und der „Tat", habe Kautsky den Marxismus der Zweiten Internationale in eine theoretische Form gebracht, die sich vom einstigen Anspruch einer Philosophie der ,/evolutionären Praxis"54 verabschiedet. Kautsky selbst hat das in aller Deutlichkeit in seiner berühmten Definition der Sozialdemokratie zum Ausdruck gegeben: „Die Sozialdemokratie ist eine revolutionäre, nicht aber eine Revolution machende Partei".55 Der Sinn dieses Satzes läßt sich mühelos aus Kautskys Kommentar zum Erfurter Parteiprogramm dechiffrieren, wo es heißt, daß die „Erhebung des Proletariats aus seiner Erniedrigung" ein „unvermeidlicher, naturnotwendiger Prozeß" sei.56 Der revolutionäre Umschlag wird hier von den Handlungskategorien des Denkens und der Tat entkoppelt, er gilt nicht wie beim frühen Marx als das „Zusammenfallen des Ändem[s] der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung", sondern als ein mit mathematischer Sicher-

51 Karl Kautsky, Der Weg zur Macht, Politische Betrachtungen über das Hineinwachsen in die Revolution, Berlin 1920 (1. Aufl. 1909), S. 26 [kursiv von mir], 52 Engels' Vermittlerrolle im geistesgeschichtlichen Übergang vom dialektischen Materialismus zum „platten Evolutionismus" der Zweiten Internationale wird von Korsch aber unterschlagen. 53 Karl Korsch, Die materialistische Geschichtsauffassung. Eine Auseinandersetzung mit Karl Kautsky, in: Grünbergs Archiv, XIV. Jg., 1929, S. 196, 199; zit. n. Fetscher, S. 174. 54 Vgl. die dritte These über Feuerbach (1845), in: Karl Marx/Friedrich Engels, Studienausgabe Band I: Philosophie, hg. v. Iring Fetscher, ergänzte Neuausgabe Frankfurt a.M. 1990. 55 Bei allen sicher nötigen Differenzierungen der von mir nur grob skizzierten Positionen Kautskys, der ja über einen Zeitraum von fünf Jahrzehnten publizierte, ist diese Auffassung zweifellos eine konstante. Sie findet sich ebenso in dem Aufsatz „Ein sozialdemokratischer Katechismus" (Neue Zeit, Nr. 1, 1893/94, S. 368) sowie in seinem Buch „Der Weg zur Macht" (Berlin 1909, S. 44). 56 Zit. n. Otto Kallscheuer; Marxismus und Sozialismus bis zum Ersten Weltkrieg, in: Pipers Handbuch der politischen Ideen, hg. v. Iring Fetscher u. Herfried Münkler, Bd. 4: Neuzeit. Von der französischen Revolution bis zum europäischen Nationalismus, München 1986, S. 515-588, S. 524.

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heit nahendes Ereignis, dessen Kommen man zu beobachten und auf dessen Eintreten man sich vorzubereiten hat.57 In Kautskys offiziöser Marx-Orthodoxie reproduziert sich somit jener Geschichtsfatalismus, der wie oben skizziert den „Positivismus der zweiten Phase" insgesamt kennzeichnet. Politisch ist die zentristische Marx-Orthodoxie folgenreich - weil sie folgenlos bleibt. Das behauptet zumindest eine Reihe von Autoren der Radikalen Linken, die gegen den „Kautskyanismus" den Vorwurf erhebt, daß der als wissenschaftlich verbürgte Zukunftsgewißheit verstandene Sozialismus zur ,faulen Revolution', zum quietistischen Abwarten und zur Passivität einlade. Anton Pannekoek etwa bezeichnet Kautskys Auslegung des Marxismus als eine „Theorie des aktionslosen Abwartens" und als Theorie des „passiven Radikalismus".58 Dabei sind Kautskys Lehren keineswegs unpraktisch. Aus ihnen folgt doch immerhin als Handlungsmaxime der forcierte Aufbau der Parteiorganisation zur mitgliederstärksten sozialistischen Partei der Welt um die Jahrhundertwende. Denn wenn die Verhältnisse selbst langfristig für die Sozialdemokratie arbeiten, dann erscheint es zweckmäßig wie sinnvoll, über einen Apparat zu verfügen, der es im Zuge des naturnotwendigen Zusammenbruchs der kapitalistischen Ordnung und ihres staatlichen Überbaus erlaubt, die Dinge in die Hand zu nehmen. Die Parteiorganisation ist so gesehen der Nukleus des Zukunftsstaates. Und sollte die Prognose der Zusammenbruchstheorie auch nicht eintreffen, so scheint die von der Zweiten Internationale gepflegte Verelendungs- und Polarisierungstheorie doch zu garantieren, daß die Sozialdemokratie stetig ihre Wählerbasis erweitert, um eines Tages die Revolution mit der Mehrzahl der Stimmzettel vollziehen zu können. Der Höhepunkt und die vermeintliche Bestätigung dieser Strategie des „Elektoralismus" sind die Reichstagswahlen von 1903, als es erstmals gelingt, über drei Millionen Wählerstimmen zu gewinnen. Die zwei Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg sind allerdings die Krisenjahre der Marx-Orthodoxie, die erst in den Jahren der Verfolgung unter dem Sozialistengesetz zur Leitideologie der Partei avanciert ist. Von der Radikalen Linken um Rosa Luxemburg, Pannekoek und anderen wird der Einwand erhoben, daß der revolutionären Theorie eine nur reformistische Praxis gegenüberstehe und daß die elektoralistische Taktik auf eine Einrichtung der Partei im politischen wie ökonomischen System des Kaiserreiches hinauslaufe. Das Lager der Reformisten sieht das im Prinzip genauso, nur daß es diese faktische Aufgabe der revolutionären Praxis bei Beibehaltung des revolutionären Pathos und der revolutionären Phraseologie bejaht. Den Reformisten bzw. „Praktizisten" ist nämlich die realistische Einschätzung gemein, daß der Vulgärmarxismus mit seiner Beschwörung von „Klassenkampf' und „Endziel" die Rolle einer erstklassigen Integrationsideologie fur eine sozial stark differenzierte Mitglieder- und Wählerschaft spielt. Die Taktik des Reformismus lautet daher: Sowas - praktische, reformistische Politik tut man, aber man spricht darüber nicht. Der Wortführer des Revisionismus dagegen,

57 Steinberg, S. 60. 58 Anton Pannekoek, Massenaktion und Revolution, in: Die Neue Zeit, XXX. Jg. (1912), Bd. II, S. 541-550; 585-593; 609-616, S. 591. Zit. η. I. Fetscher, Der Marxismus, a.a.O., S. 775, 776.

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Eduard Bernstein, spricht darüber - nämlich über die Unhaltbarkeit zentraler Grundannahmen der Marx-Orthodoxie - und isoliert sich so in einer Partei, der die Hoffnung auf den „großen Kladderadatsch", die Gewißheit des Sieges, zum identitätsstiftenden Religionssurrogat geworden ist. Ohne Kautskys Mitverantwortung für das Entstehen einer vulgärmarxistischen Integrationsideologie, die in der Praxis tatsächlich zum Argument des Reformismus wird, in Abrede stellen zu wollen, ist spätestens an dieser Stelle differenzierend darauf hinzuweisen, daß der von linken Marxisten, Kommunisten sowie von theoretischen Revisionisten wie Bernstein attackierte „Kautskyanismus"59 und Kautsky selbst nicht dasselbe sind, sondern daß ihre Identifikation miteinander Produkt einer polemischen Debatte ist, die Kautsky nicht immer gerecht wird. So darf nicht vergessen werden, daß der oft für den ,/evolutionären Attentismus" verantwortlich gemachte „Orthodoxe" Kautsky in seinem Kommentar zum Erfurter Parteiprogramm eigentlich unmißverständlich erklärt hat, daß die wissenschaftliche Objektivierung und Erkenntnis des historischen Entwicklungsstandes den subjektiven Faktor des Eingreifens in den historischen Prozeß keineswegs überflüssig macht: „Wenn man von der Unwiderstehlichkeit und Naturnotwendigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung spricht, so setzt man selbstverständlich dabei voraus, daß die Menschen Menschen sind und nicht Puppen [...] Tatlose Ergebung in das Unvermeidliche heißt nicht, der gesellschaftlichen Entwicklung ihren Lauf zu lassen, sondern sie zum Stillstand zu bringen."60 Und an anderer Stelle, nämlich dort, wo er seinen longue-durée-Begriff der „sozialen Revolution" als „Hineinwachsen in den Sozialismus" expliziert, entwickelt Kautsky einen zweiten Revolutionsbegriff mit unüberhörbar aktivistischen Zungenschlag. Die eigene These von der ,/evolutionären, aber nicht eine Revolution machende Partei" modifizierend, ja, im Prinzip ihr widersprechend, schreibt Kautsky: „Wir sind die Revolutionäre, und zwar nicht bloß in dem Sinne, in dem die Dampfmaschine ein Revolutionär ist. Die soziale Umwälzung, die wir anstreben, kann nur erreicht werden mittels einer politischen Revolution, mittels der Eroberung der politischen Macht durch das kämpfende Proletariat. Und die bestimmte Staatsform, in der allein der Sozialismus verwirklicht werden kann, ist die Republik, und zwar im landläufigen Sinn des Wortes, nämlich die demokratische Republik."61

59 Vgl. Steinberg, S. 75. 60 Karl Kautsky, Das Erfurter Programm. In seinem grundsätzlichen Teil erläutert, Stuttgart 1920 (zuerst 1892), S. 102. 61 Karl Kautsky, Der Weg zur Macht, Berlin 1909, S. 44. Der Band findet sich im Archiv Genett und enthält Michels' persönliche Anstreichungen. Den Hinweis auf Kautskys Akzentuierung der politischen Revolution in jenen Jahren verdanke ich Ferraris.

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In dieser Akzentuierung der politischen Revolution, dieser unverhohlenen Ankündigung, nicht bloß die Dinge für sich arbeiten zu lassen, nicht bloß das „Hineinwachsen" in die Zukunftsgesellschaft zu beobachten und sich organisatorisch darauf vorzubereiten, sondern den politischen Bruch mit der Verfassung des Kaiserreichs ins Auge zu fassen, kommt die verstärkte revolutionäre Haltung zum Ausdruck, die Kautsky in den Jahren von 1900 bis 1910 an den Tag gelegt hat. Mit diesem Insistieren auf dem politischen Bruch aber hat Kautsky eben nicht, wie die Rede vom „Kautskyanismus" als einer „Integrationsideologie" suggeriert, als Chefideologe der „attentistischen" Parteiführung gehandelt. Er hat vielmehr einen Konflikt mit dieser Führung hervorgerufen, infolgedessen es ihm versagt wird, sein Buch „Der Weg zur Macht", in dem diese Thesen versammelt sind, in einem Parteiverlag zu publizieren!62 Diese grobe Skizze der sozialdemokratischen Streitkultur soll dem Leser einen ersten Schlüssel in die Hand geben, ohne den ein Verständnis der Positionierungen Robert Michels' in den ersten Jahren seines sozialdemokratischen Engagements unverständlich bliebe. 1903 nämlich, im ersten Jahr seiner Mitgliedschaft in der SPD, wird Michels Augustin Hamon gegenüber bekennen: „Du reste suis-je plutôt ,Kautskyen' que ,Bernsteinien'" 63 . Abgesehen von konkreten politischen Fragen, die ich im Zusammenhang mit den Wahlen von 1903 noch rekonstruieren werde, gründet Michels' Vorliebe für Kautsky in zwei Grundpositionen. Mit Kautsky teilt Michels etwas, was Bernstein zu diesem Zeitpunkt bereits in Frage gestellt hat: die geschichtsphilosophische Annahme einer immanenten fortschrittlichen Entwicklungslogik des ,Klassenkampfes'. Und es sind die für Kautsky, wie auch für die vulgärmarxistische Orthodoxie im allgemeinen, zentralen Denkkategorien des evolutionären Marxismus, die Natur und die Notwendigkeit, die auch Michels in den Rang von essentiellen Bestimmungsmerkmalen des Sozialismus überhaupt erhebt. So schreibt er über die bürgerliche Sozialreformerin Laura Solera Mantegazza, daß sie über die Arbeiterinnenfrage Ansichten entwickelt habe, „die vollständig als sozialistische hätten bezeichnet werden können, wenn ihnen nicht der Glaube an die Notwendigkeit des bestehenden Klassengegensatzes und des daraus als naturgegeben entstandenen Klassenkampfes gefehlt hätte".64 Zweitens teilt Michels mit Kautsky aber eben auch eine durchaus revolutionäre und politische Perspektive, die bei Kautsky in der oben skizzierten Rede von der „politischen Revolution" zum Ausdruck kommt, bei Michels in seiner republikanischen wie „antilegalen" Agitation zugunsten eines Bruches mit der Wilhelminischen Reichsverfassung. Michels' Identifikation mit Kautsky vollzieht sich aber auch unter dem Druck von politischen Ereignissen, die im Zusammenhang mit dem Dresdner Parteitag 1903 zu rekonstruieren sind. Vorher in den Jahren 1901 bis Sommer 1903 begegnen wir einem 62 Steinberg, ebd. 63 Brief von Robert Michels an Augustin Hamon, 5. August 1903 (ARMFE), abgedruckt in: Corrado Malandrino, Lettere di Roberto Michels e di Augustin Hamon (1902-1917), in: Annali della Fondazione Luigi Einaudi, Vol. XXIII, 1989, S. 487-562. 64 R. Michels, Die ersten Anfänge der proletarischen Frauenbewegung in Italien bis 1893 (aus der Artikelserie: „Rückblick auf die Geschichte der proletarischen Frauenbewegung in Italien bis 1893", in: Die Gleichheit, Nr. 1, 13. Jg., 1.1.1903.

III.2. Die sozialreformistische Periode von 1900 bis 1903

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anderen Robert Michels, der uns zeigt, daß sich der evolutionäre Sozialismus, der „Glaube an die Notwendigkeit", wie schon angedeutet, eben so gut mit dem Sozialreformismus verbinden läßt.

2. Die sozialreformistische Periode von 1900 bis 1903 Michels' publizistisches Engagement in den Jahren von 1901 bis 1903 ist für die Forschung in der Regel eine chose négligeable gewesen, oder es ist allenfalls sehr selektiv in die Deutung mit einbezogen worden. Das mag damit zusammenhängen, daß diese Jahre so gut wie gar nicht in das fur die Michels-Rezeption wirkungsmächtige Deutungsparadigma des zum Faschisten gewordenen Sorelianers, des „idealistischen Revolutionärs" und affektgeleiteten Eticosozialisten passen, dessen angeblich weltfremder Idealismus letztlich pathologische Züge annehmen mußte. In der älteren Literatur über Michels findet sich nur bei Arthur Mitzman eine kurze und durchaus treffende Kennzeichnung dieser Frühphase von Michels' Denken: „lauer Sozialreformismus". Allerdings reduziert Mitzman diesen Sozialreformismus auf eine bloße Ouvertüre, wenn er die entsprechenden Artikel und Aufsätze von Michels unter „the ideological development of their author from tepid social-reformism to revolutionary intransigence in the years from 1901 to 1905"65 subsumiert. Und die Attributierung des Michelsschen Sozialreformismus als ,lau(warm)' sagt eigentlich gar nichts aus, außer daß sie den Leser unter der Hand auf die zu erwartenden Temperaturanstiege im Michelsschen Gemüt vorbereitet, auf das Bild vom jugendlichen Heißsporn und intellektuellen Hitzkopf, das Michels sehr viel später im persönlichen Rückblick auf seine sozialistische Phase selbst in Umlauf gebracht hat. Es war Pino Ferraris' Pionierarbeit vorbehalten, hier etwas gründlicher nachzuforschen, und dabei den geistigen Hintergrund herauszuarbeiten, der zu den prägenden Einflüssen auf Michels', wenn man das so sagen kann, sozialistische Sozialisation gezählt werden muß: die Schule der positivistischen Kriminalanthropologie, deren bekannteste Vertreter zu diesem Zeitpunkt allesamt entweder Mitglieder des Partito Socialista Italiano waren (Cesare Lombroso, Enrico Ferri) oder zumindest deutlich ihre philosozialistischen Sympathien zum Ausdruck brachten (Scipio Sighele, Alfredo Niceforo). Ferraris' Nachweis der Einflüsse des italienischen Positivismus weist sogar über den hier in Betracht kommenden Zeitraum hinaus, insofern die italienische Kriminalanthropologie auch auf den späteren Soziologen Michels eine außerordentliche intellektuelle Anziehungskraft ausgeübt hat.66 Die „sozialreformistische" Phase von Michels, d. h. die drei Jahre, die seinem Bekenntnis zur ,/evolutionären Intransigenz" bzw. zum revolutionären Zentrismus Kautskys vorausgehen, sind nicht zuletzt deshalb auch von Interesse, 65 Arthur Mitzman, Sociology and Estrangement, S. 284. 66 1910 wird Michels Alfredo Niceforos „Anthropologie der nichtbesitzenden Klassen" ins Deutsche übersetzen. Mit Ferdinand Tönnies wird er sich schließlich streiten, ob Cesare Lombroso ein Soziologe ist oder nicht. Vgl. hierzu unser Kapitel „Der Fremde im Kriege".

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III. Die Brücke zur Zweiten Internationale

weil sich Michels in diesem Zeitraum auch in einem Alter befindet, in dem sich in der Regel prägende kognitive Dispositionen bereits weitgehend entwickelt haben. Blicken wir daher nun eingehend auf die politischen Phänomene, geistesgeschichtlichen Einflüsse und persönlichen Erfahrungen, die in dieser Phase Michels' politische Optik konstituiert haben. Der politische Kontext seines, wie wir noch sehen werden, dezidierten und keineswegs ,lauen' Sozialreformismus ist Italien. Und es sind zwei Themenstränge, die wie zwei rote Fäden Michels' Textproduktion dieser Jahre durchlaufen: erstens die soziale Reformgesetzgebung in Italien zum Arbeiter-, insbesondere Arbeiterinnenschutz, zum Kinderschutz, zur Fabrikhygiene, zur Unfallversicherung und zur Bildungspolitik; zweitens ist sein Blick in dieser Phase so gut wie gar nicht auf den Parteisozialismus, sondern in erster Linie auf den Assoziationssozialismus der zeitgenössischen sozialen Bewegungen gerichtet, wobei Michels' hauptsächliches, in einer beeindruckenden Zahl von Aufsätzen sich dokumentierendes Interesse der proletarischen Frauenbewegung sowie den Landarbeiterbewegungen in Italien gilt.

2.1. Neue soziale Bewegungen: das zivilgesellschaftliche und das sentimentale Paradigma Mit seiner sozialreformistischen Grundorientierung hat sich Michels in den ersten Jahren seines publizistischen Engagements offensichtlich ganz im Einklang mit den ,objektiven' Tendenzen der Epoche gesehen, zumindest mit Blick auf den italienischen Kontext: „Vom Baume neuzeitlicher politischer Freiheit sind noch stets soziale Vollfrüchte gewachsen, und deshalb, glaube ich, sieht Italien, wenn nicht alles täuscht, einer langen Ära sozialreformatorischer Arbeiten entgegen". 67 Den Partito Socialista Italiano präsentiert Michels als das Modell einer sozialistischen Politik, die sich zwar programmatisch mit den Zielen der deutschen Sozialdemokratie decke, für die aber die „Idee eines Zukunftsstaates" eine nur untergeordnete Rolle spielt, unter anderem deshalb, weil das italienische Volk „mehr nach handgreiflichen Erfolgen", wie den AchtStunden-Tag und Lohnerhöhungen, „strebt, als nach weitliegenden problematischen". 68 Es ist umstritten, wann Michels genau der SPD - und in etwa zeitgleich dem Partito Socialista Italiano (PSI) - beigetreten ist. Irgendwann zwischen Ende 1900 und dem 31. Dezember 1902 muss es gewesen sein, möglicherweise hat Michels sogar zunächst den Mitgliedsausweis der eher pragmatischen italienischen Variante beantragt. 69 Der frühe

67 Michels, Der Kampf um eine Arbeiterinnenschutzgesetzgebung in Italien, in: Die Frau, Jg. IX, Nr. 9, Juni 1902, S. 513-518, Nr. 10, Juli 1902, S. 612-618, S. 618. 68 Michels, Der Sozialismus in Italien, in: Das Freie Wort, 1. Jg., Nr. 16, 20. November 1901, S. 492498, S. 494. 69 Im Archivio Roberto Michels der Fondazione Luigi Einaudi finden sich Mitgliedsausweise vom 15.11.02 (PSI; bis 1909) und 1.1.1903 (SPD, bis 1907). Es gibt Äußerungen von Michels, die diese Eckdaten bestätigen (vgl. Corrado Malandrino: Patriottismo, Nazione e Democrazia nel Carteggio Mosca-Michels, a.a.O., S. 223) und solche, die ein gut zwei Jahre früheres Eintrittsdatum behaupten (vgl. Tuccari, Una città di idealisti..., a.a.O.).

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Eintritt in den PSI bedarf einer besonderen biographischen Erklärung, gerade weil sein gelebtes Europäertum auch eine Affinität zu den linken Parteien anderer Länder plausibel erschienen ließe: so hat Michels zwischen 1901 und 1907 zwar seinen Hauptwohnsitz in Marburg, laut Lebenslauf dürfte er indes die „Hälfte jener Jahre" mit akademischen und politischen Reisen in Deutschland, Italien, Frankreich, Holland und England verbracht haben, übrigens meist von seiner in dieser Zeit ebenso sozialwissenschaftlich wie sozialistisch engagierten Frau begleitet.70 Unter anderem lehrt Michels von 1903 bis 1905 regelmäßig als Gastdozent an der Université Nouvelle in Brüssel sowie im Jahr 1905 am Collège Libre des Sciences Sociales in Paris. In Paris wird er auch 1904 Mitglied der französischen Gesellschaft für Soziologie und 1906 des berühmten „Institut International de Sociologie", beide unter der Ägide von Réné Worms. Gleichwohl stellt sich eben doch eine spezifische, außergewöhnliche Affinität gerade zu Italien schon sehr früh ein und sie wird durch ganz besondere Umstände verstärkt. Nach seiner Hochzeit mit Gisela Lindner, der Tochter des Leipziger Historikers Theodor Lindners, im Mai 1900 führt die Hochzeitsreise die beiden Jungvermählten nach Norditalien, ausgerechnet ins Biellesische,71 in einen kleinen Ort namens Cossila San Grato,72 wo sie sich bis Dezember aufhalten. Es könnte sich um eine Art Exil gehandelt haben.73 Im August 1900 nämlich wird in dem Örtchen ihre Tochter Italia geboren, die nur wenige Monate später, im Dezember, verstirbt. Italias früher Geburtstermin nur drei Monate nach der Ehe ist ein Verstoß gegen das Gebot der geschlechtlichen Enthaltsamkeit vor der Ehe und seinerzeit in bürgerlichen Kreisen ein Skandal. Michels' spätere Kritik der „Brautstandsmoral"74 dürfte somit auch von den ganz persönlichen Erfahrungen und Auseinandersetzungen mit dieser Moralvorstellung beeinflusst sein. Nach dem Tod ihrer Tochter ziehen die Michels weiter nach Turin und sind dort bis in den Mai 1901 regelmäßige Nutzer des Staatsarchivs. Dieser relativ lange Zeitraum von einem guten Jahr,75 den Michels zunächst aus privaten Gründen, dann auch zur Vorbereitung

70 „Professore Roberto Michels Torino", ARMFE (m. Übs.). 71 Das Textiluntemehmen der Familie Michels hatte auch Geschäftspartner in der Industriestadt Biella in der Nähe von Turin. Robert Michels hat möglicherweise die eine oder andere Repräsentationsreise dorthin unternommen. Vgl. Corrado Malandrino, Roberto e Gisella Michels e il socialismo piemontese, a.a.O. 72 Es ist der seltsame unbekannte Ort, der sich in der von Gisela Michels-Lindner erstellten Bibliograpie findet, die jeder Schaffensperiode geograpische Schwerpunkte zuordnet: 1900-1907 ist das neben Cossila S. Grato (Biella) Turin und Marburg, 1907-14: Turin, 1914-28: Basel, Antagnod d'Ayas im Aosta-Tal, 1928-36: Perugia, Rom und San Vito di Cadore in den Dolomiten. Vgl. Opere di Roberto Michels, Estratto da: Studi in memoria di Roberto Michels; Vol. XLIX degli Annali della Facoltà di Giurisprudenza della R. Università di Perugia, Padova 1937, 42 Seiten. 73 Die These vom Bielleser Exil verdanken wir Francesco Tuccari, Una città di idealisti e scienzati, a.a.O. Tuccaris Recherchen korrigieren in diesem wichtigen biographischen Punkt die immer wieder zitierte Angabe, Italia sei wenige Tage nach ihrer angeblichen Geburt im Dezember gestorben. Vgl. Claudio Pogliano, Tra passione e scienza. Robert Michels a Torino, a.a.O., S. 20/21. 74 Vgl. Kapitel II.2. Erotik, Feminismus und neue Sexualmoral. 75 Im o. g. Lebenslauf „Professore Roberto Michels Torino" von höchstwahrscheinlich 1912, heißt es lapidar: „Er verbrachte das erste Jahr der Ehe (1900-01) in Italien [...]" (m. Übs.).

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einer Habilitationsarbeit76 in Norditalien verbracht hat, erklärt, warum er so plötzlich über zahlreiche Kontakte in das Turiner Geistesleben verfügt, warum er sogar an der Gründung einer Kunstzeitschrift mitwirkt,77 warum sich seine frühen Bewegungsreports mit Vorliebe um italienische Arbeiterinnen- und Arbeiterfragen drehen und warum nicht nur sein erster Aufsatz - übrigens zur Frauenfrage in Deutschland - gleich auf italienisch erscheint, sondern auch der zweite und der dritte,78 von seinen ersten Büchern über den Marxismus und die sozialistische Bewegung in Italien ganz zu schweigen. 79 Gleichzeitig fuhrt ihn sein italienisches Exil' in einem kulturhistorisch exzeptionellen Moment in das Turiner Intellektuellenmilieu ein, dessen außergewöhnliche Liberalität Paolo Spriano auf den Begriff des „Sozialismus der Professoren" gebracht hat. Die Sympathie von Wissenschaftlern, Schriftstellern und Künstlern für den Sozialismus genießt, und zwar auch noch dann, wenn sie bis zum offenen politischen Engagement fuhrt, ein besonderes „kulturelles Prestige".80 Einer Umfrage der Zeitschrift „La Vita moderna" von 1893 zufolge scheint nahezu die gesamte Gelehrten- und Künstlerwelt philosozialistisch eingestellt zu sein und eine der bekanntesten wissenschaftlichen Fachzeitschriften, die „Nuova Antologia", öffnet ihre Spalten dergestalt für sozialistische Autoren, daß sie Michels zufolge „fast ein marxistisches Diskussionsblatt zu nennen" sei.81 Im Piemontesischen schließt Michels auch die lebenslange Freundschaft mit Luigi Einaudi, dem liberalen Nationalökonomen, Senator und späteren Staatspräsidenten Italiens nach dem Zweiten Weltkrieg; er lernt die sozialistischen Akademiker Enrico

76 Arbeitstitel der Habilitation war: „Die diplomatischen und militärischen Beziehungen zwischen den Höfen Berlin und Turin am Ende des 17. Jahrhunderts". Vgl. Michels' Brief vom 13.9.03 in: Corrado Malandrino, Lettere di Michels e di Hamon, a.a.O., S. 523. 77 Es handelt sich um „La Commedia", in der er 1901 zwei Artikel veröffentlicht: „II dramma moderno tedesco" (Nr. 9, 7.4.1901) und „La ,Pochade' in Germania" (Nr. 7, 24.3.1901. In ihnen verteidigt Michels die „modernen Dramen" von Sudermann, Otto Erich Hartleben, Arthur Schnitzler u. a. gegen die Vorwürfe seitens bürgerlicher und adliger Kreise, es mangele den Modernen an Ästhetik und nationalem Empfinden. Insbesondere diejenigen, die gegen die Moderne mit ästhetischen Argumenten zu Felde ziehen, bemerkt Michels süffisant, frequentieren mit Vorliebe Lustspiel niedrigsten Niveaus (die „Pochade"). Den Hinweis darauf, daß Michels die „Commedia" hat „starten helfen", gibt Michels selbst in einer Anmerkung zu seinem Aufsatz „Der ethische Faktor in der Parteipolitik Italiens", in: Zeitschrift fur Politik, III. Band, Heft 1, 1909, S. 56-91, S. 66. 78 Michels: Attorno ad una questione sociale in Germania, a.a.O.; sowie ders., Il dramma moderno tedesco, in: La Commedia, Nr. 9, 7.4.1901; ders., La ,Pochade' in Germania, in: La Commedia, Nr. 7, 24.3.1901. 79 1) Michels, Proletariato e borghesia nel movimento socialista italiano, Torino 1908 - hier steht die Analyse der heterogenen sozialen Zusammensetzung der sozialistischen Arbeiterbewegung in Italien und der daraus resultierenden inneren Divergenzen im Vordergrund; 2) Michels, Storia del marxismo in Italia, Roma 1910 - hier steht die ideengeschichtliche Rekonstruktion des italienischen Marxismus im Vordergrund, insbesondere der Einfluss Bakunins. 80 Paolo Spriano, Socialismo e classe operaia a Torino dal 1892 al 1913, Torino 1958, S. 57. 81 Vgl. Michels, Fortschritte, Rückschritte und Aussichten der Frauenbewegung im Jahre 1893 (aus der Aufsatzreihe: „Rückblick auf die Geschichte der proletarischen Frauenbewegung in Italien"), in: Gleichheit, Nr. 8, 13. Jg., 8.4. 1903, S. 58-60, S. 59.

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Ferri kennen, der sich als Anwalt von Anarchisten und Sozialisten in einer Reihe von erfolgreichen Verteidigungen einen Namen gemacht hat, und Guglielmo Ferrerò, der die Moral des Antimilitarismus um das ökonomische Argument ergänzt hat, daß ein stehendes Heer und die allgemeine Wehrpflicht für finanzschwache Länder wie Italien entwicklungsgefáhrdend seien; außerdem trifft Michels auf den vom Militaristen zum PSI konvertierten Novellisten und ehemaligen Rittmeister Edmondo de Amicis und die Dichterin Ada Negri. „Während in Deutschland", stellt Michels fest, „die Partei sich hauptsächlich aus der Arbeiterklasse rekrutiert und die große Mehrzahl der Begüterten und Gebildeten den neuen Ideen feindlich oder im besten Falle gleichgültig gegenübersteht, so sind in Italien fast alle Bevölkerungsschichten gleichmäßig in ihren Gedankenkreis hineingezogen."82 Zwar referiert Michels neben der programmatischen Nähe von PSI und SPD auch die „Ähnlichkeit ihrer Gegner", etwa die auch in der öffentlichen Debatte Italiens kursierenden antisozialistischen Topoi der „Religionslosigkeit und Vaterlandslosigkeit", aber er stellt eben auch einen „gewaltigen Unterschied" fest. In Italien widerfährt dem Sozialismus bei weitem nicht die gesellschaftliche Ächtung, die in Deutschland an der Tagesordnung ist - der PSI ist nicht politisch isoliert: „Während beispielsweise in Deutschland die Partei in starrer Abgeschlossenheit verharrt und ein Bündnis mit anderen [bürgerlichen Parteien] einem Gifttrunk gleich erachtet", seien im italienischen Parlament Abstimmungskoalitionen zwischen Sozialisten und den linksliberalen Parteien der „Radikalen" und der „Republikaner" die Regel. Sich selbst als „partiti popolari" bezeichnend und von ihren Gegnern „partiti estremi oder sovversivi" genannt, befinden sich diese drei Parteien nominell sogar unter einem gemeinsamen Dach -„während in Deutschland die extrem liberalen Elemente oft nichts besseres zu thun wissen als sich mit ihrer ganzen Schärfe gegen den Feind zur Linken zu wenden, mit dem sie doch weit weniger Unterschiede der Gesinnung haben als mit denen zur Rechten [...]".83 Damit aber nicht genug, bemerkt er beim Vergleich der deutschen und italienischen Parlamentsfraktionen, daß in Italien „überhaupt sämtliche Parteien bedeutend weiter nach links stehen. Diejenigen, die sich in Italien ,conservatori' nennen, würden bei uns etwa zum Anhang Heinrich Rickerts gehören, und für die Grundsätze der extremen DeutschKonservativen dürften sich in Italien kaum noch Anhänger finden lassen". Neben der heterogeneren Zusammensetzung der Mitgliederbasis des PSI, die sich aus Industrie- und Landarbeitern sowie aus dem akademischen Milieu rekrutiert, ist es Michels zufolge auch der allgemeinen politischen Kultur Italiens zuzuschreiben, nämlich einem „demokratischen Zug des ganzen Volkes" und einer „angeborenen Duldsamkeit bei Meinungsverschiedenheiten", „daß der Sozialist dort keineswegs gesellschaftlich geächtet erscheint und seine Meinung frei und offen zu sagen sich nicht zu scheuen braucht". „Es erscheint einem Deutschen kaum glaubhaft, daß Denunziationen wegen Majestätsbeleidigung zu den Seltenheiten gehören".84 Daß dieses politische Klima, ins-

82 Michels, Der Sozialismus in Italien, a.a.O., S. 496. 83 Sozialismus in Italien, S. 496. 84 Sozialismus in Italien, S. 497.

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besondere die ungebrochene Existenz eines republikanischen Liberalismus, auf Michels angesichts der von ihm analysierten Defizite des Liberalismus in Deutschland und des sozialen Ostrakismus gegenüber den „vaterlandslosen Gesellen" geradezu enthusiasmierend gewirkt haben muß, läßt sich leicht begreifen. Aber nicht nur in den Städten Norditaliens, auch auf dem Lande sieht Michels fortschrittliche Tendenzen am Werke: „Der Sozialismus, der in Italien wie in Deutschland seinen Sitz zuerst in den großen Industriestädten hatte, ist mit fliegenden Fahnen a u f s Land hinausgezogen, freilich ohne deshalb die Städte zu verlieren."85 Den Nachrichtenwert dieses Satzes kann man nur ermessen, wenn man an die Mißerfolge der deutschen Sozialdemokratie bei der Mobilisierung der Landbevölkerung denkt. Michels gibt nur die allgemeine sozialdemokratische Verstimmung hinsichtlich der Bauernschaft wieder, wenn er schreibt: „Bei der unbegreiflichen Rückständigkeit unserer Bauern, dieses schwerfälligen Altmöbelstückes aus dem Mittelalter, in allen die Politik betreffenden Dingen, stehen wir vor dem Kuriosum, daß uns die Landbevölkerung mit einer langen Reihe von konservativen, ultramontanen, antisemitischen, im besten Falle noch bayrisch-partikularistischen Parteimännern beschenkt und auf diese Weise nicht zum wenigsten mit daran schuld ist, daß wir [...] Brotverteuerung und ähnliche Dinge zum Gesetz erhoben werden sehen müssen." Eine Prognose Ladislaus Gumplowicz' 86 übernehmend, befürchtet Michels sogar: „Es kann wirklich noch so kommen, daß [...] selbst in späteren Zeiten, wenn die Gesellschaft bereits ganz andere Formen angenommen haben sollte, in manchen Agrargegenden noch jahrhundertelang Rudimente vorzeitlicher Zustände persistieren werden."87 Freilich hatte auch die SPD, was Michels hier übersieht, eine erhebliche Mitschuld an ihrem Versagen beim ländlichen Wählerreservoir. 1895 hatte ein sozialdemokratischer Parteitag sogar mehrheitlich gegen die Agitation unter den Bauern gestimmt, weil man erstens in der Überzeugung von der „Naturnotwendigkeit" des eigenen Sieges auf solche Anstrengungen verzichten zu können glaubte und weil man zweitens einem vulgärmarxistisch borniertem Diktum Kautskys folgte, der meinte, daß „nur ein verelendeter Bauer [...] Sozialdemokrat" werde.88 Die historischen Konsequenzen des sozialdemokratischen Unvermögens in der Landarbeitermobilisierung liegen auf der Hand: Ähnlich wie im Fall der bürgerlichen Mittelschichten tat sich auch bei der Landbevölkerung eine Mobilisierungslücke auf, in die ganz neue politische Kräfte eindringen sollten: die antisozialistischen, antiparlamentarischen und imperialistischen Massenorganisationen, wie der „Alldeutsche Verband" oder der „Bund der Landwirte", die diese Wählerschichten dann erst recht gegenüber 85 Der italienische Sozialismus auf dem Lande, in: Das Freie Wort, Nr. 2, II. Jg., 1902, Separatabdruck, 14 Seiten, S. 4. 86 Vgl. Ladislaus Gumplowicz, Ehe und freie Liebe, 2. Aufl. Berlin 1902, S. 26. 87 Der italienische Sozialismus auf dem Lande, S. 3 88 Dieter Groh, Negative Integration und revolutionärer Attentismus, a.a.O., S. 67.

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der Sozialdemokratie immunisiert haben. 89 Die Irritationen, die die Landarbeiterfrage im ideologischen Selbstverständnis der SPD auslösten, waren im übrigen von einer solchen Qualität, daß, auch wenn die sozialdemokratische „Agrardebatte" in den neunziger Jahren zugunsten der Orthodoxie entschieden worden war, in ihr das Verhältnis von marxistischer Theorie und politischer Theorie doch bereits so grundsätzlich diskutiert worden ist, daß sie den Revisionismusstreit in vielem vorweggenommen hat. 90 Die Entstehung einer sozialistischen Landarbeiterbewegung in Italien und die erfolgreiche Durchsetzung ihrer Forderungen in den Lohnkämpfen des Frühjahres 1901 sind somit im sozialdemokratischen wie im soziologischen Sinne ein brandaktuelles und brisantes Thema. Die Ausgangsbedingungen für den „italienischen Sozialismus auf dem Lande" waren dabei den deutschen Verhältnissen durchaus ähnlich. Auch die italienische Bauernschaft, so Michels, habe noch bis vor kurzem jenen passiven Hang zur Unterwürfigkeit aufgewiesen und habe die Vertretung ihrer Interessen allzu gern den Gutsbesitzern überlassen - mit der Folge, daß Konservative wie Francesco Ambrosoli sich sogar fiir das allgemeine Wahlrecht einsetzten, im Glauben, daß dies das beste Kampfmittel gegen die sozialistischen Ideen sei. Hinsichtlich der sozialen Entwicklung bemerkt Michels, daß, „wie bei uns in Ostelbien", das Ende der Erbuntertänigkeit auch in Italien den Bauern nicht die Freiheit brachte, sondern neue Abhängigkeiten aufzwang, weil die Kleinbetriebe meist unrentabel gewesen waren. Zum Verkauf ihrer Kleinbetriebe gezwungen, wurden viele Kleinbauern Tagelöhner und Pächter. „Da die großen Gutsbesitzer überdies noch eine große Anzahl von Bauern ,legten', wurde der Unterschied zwischen besitzenden und nichtbesitzenden Landwirten immer bedeutsamer." Schließlich habe die Durchsetzung der modernen Agrartechnik - „ein im übrigen sehr glücklicher Umstand" - in den großen, über städtisches Kapital verfügenden Agrarunternehmen die „schroffen Gegensätze zwischen Arm und Reich" verschärft. Kleine Familienbetriebe wurden so ganz von der agrartechnischen Entwicklung abgekoppelt. Der Agrarkapitalismus hatte aber mitnichten eine Homogenisierung der abhängig Beschäftigten bewirkt, sondern eine Diversifizierung, die die Landarbeiterbewegung vor eine „ungeheuer komplizierte" Lage stellte.91 Die vielfaltigsten Sonderinteressen kreuzten sich unter den heterogenen Gruppen der italienischen Landarbeiter, und den-

89 Groh, Negative Integration ..., S. 68. 90 Vgl. Ingrid Gilcher-Holtey, Das Mandat des Intellektuellen. Karl Kautsky und die Sozialdemokratie, Berlin 1986, S. 103-118. 91 Michels unterscheidet den Großpächter, den Halbpächter, der die Hälfte des Ertrags an den Besitzer abzugeben hat, den Drittelpächter, die „obbligati", die sich für ein Jahr vertraglich zur Arbeit auf einem Grundstück verpflichtet haben, den Stalldienst leistenden „bifolco", die Tagelöhner. Die prekäre Lage dieser Gruppen ergibt sich daraus, daß entweder die Löhne zu gering sind oder die Pacht sehr hoch ist. Daneben gibt es die verbliebenen selbständigen Kleinbauern, die mehrmals im Jahr die Seiten wechseln, weil sie in bestimmten Perioden Tagelöhner „anmieten" und in anderen selbst sich als Tagelöhner auf anderen Gütern verdingen müssen. Die „schlimmsten Zustände" herrschen aber auf den Reisfelder der Poebene, wo die „Reismädchen" eine Arbeit verrichten, wie „sie kein Tolstoi grausenhafter schildern könnte". Vgl. Michels, Der italienische Sozialismus auf dem Lande, a.a.O., S. 5-7.

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noch sei es gelungen, ein gemeinsames Programm zu verabschieden (Forderung nach Institutionalisierung von Tarifverhandlungen; Einigung auf Mindestlöhne, unter denen kein Mitglied einen Arbeitsvertrag eingehen darf; genossenschaftliche Arbeitslosenund Krankenversicherung) und sich eine Organisationsstruktur zu geben („Leghe di miglioramento" und „Leghe di resistenza", die für die Koordinierung und materielle Unterstützung von Arbeitskämpfen zuständig waren). Das bemerkenswerteste Ergebnis von Michels' Analyse besteht nun darin, daß die Initialzündung für die Landarbeiterbewegung nicht von den Regionen ausgegangen ist, in denen die miserabelsten Arbeitsbedingungen und die höchsten Krankheits- und Todesraten herrschten: „Bezeichnend für die ganze Bewegung nun ist die Thatsache, daß eine Gegend hiermit den Anfang machte, welche sowohl moralisch als wirtschaftlich zu den bestgestellten von ganz Italien gehört. Das Proletariat im Mantovano hatte es weit besser als die Landarbeiterschaft aller übrigen Provinzen."92 Die moralischen Vorzüge des Mantovano liegen für Michels gewissermaßen objektiv auf der Hand, verbuche die Provinz in der Kriminalitätsstatistik Italiens doch die niedrigsten Werte und spielen in ihr vor allem Eigentumsdelikte und Gewaltverbrechen keine nennenswerte Rolle. Die relativ gute wirtschaftliche Lage erweist sich ebenfalls als ein die mantuanische Zivilität begünstigender Faktor: der mantuanische Landmann zeichne sich nämlich durch ein gesteigertes „Bildungsbedürfnis" aus. Aus diesen Indizien folgert Michels: „Hier konnte also eine Bewegung, die sich eine höhere Menschlichkeit als Ziel setzte, eher festen Fuß fassen als irgendwo sonst."93 Nicht die Verelendung und ihre Existenznöte, sondern im Gegenteil eine relativ gute soziale Lage der Lohnabhängigen, in der dem einzelnen Arbeiter die Teilhabe an Bildungsgütern bereits ein Bedürfnis ist - so Michels' implizite Absage an die „Verelendungstheorie" - , waren der Nährboden für den solidarischen Kampf sozial recht ausdifferenzierter Gruppen.94 Das spezifische Dilemma von Arbeitnehmerorganisationen, daß mit der Mitgliederzahl auch ihre Heterogenität wächst und damit Ressourcen gemeinsamer Handlungsfähigkeit wie kollektive Identität und Solidarität schwinden,95 ist in diesem frühen Stadium der italienischen Landarbeiterbewegung noch nicht akut, wenngleich es von Michels als Hürde wahrgenommen wird, die übersprungen werden musste.96

92 Der italienische Sozialismus auf dem Lande, S. 8. 93 Der italienische Sozialismus auf dem Lande, S. 8. 94 Später hat sich Michels auch explizit mit der Verelendungstheorie beschäftigt. Vgl. R. Michels, Dilucidazioni sulla teoria dell'immiserimento, in: Giornale degli economisti, 39. Bd., seconda serie, 1909, S. 417-453; ders., Die Verelendungstheorie. Studien und Untersuchungen zur internationalen Dogmengeschichte der Volkswirtschaft, Leipzig 1928. 95 Vgl. Claus Offe und Helmut Wiesenthal, Two Logics of Collective Action, in: ders., Disorganized Capitalism. Contemporary Transformations of Work and Politcs, sec. print., Cambridge, Massachusetts 1989, S. 170-220, S. 187. 96 Über die lokal und regional „wie Pilze" aus dem Boden schießenden Camere di Lavoro, Leghe di miglioramento, Genossenschaften und „Schutz- und Trutzgesellschaften aller Arten" schreibt Michels (Italienischer Sozialismus auf dem Lande, S. 9): ,3untscheckig ist ihre Zusammensetzung. Die

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Liest man die Studie über die mantuanische Landarbeiterbewegung nicht isoliert, sondern betrachtet man sie in einer Synopse mit den übrigen Frühschriften von Michels, dann wird deutlich, daß sich in der 1891 gegründeten „Federazione Mantovana delle Società di Operai e Contadini" fur Michels ganz offensichtlich ein seinen Überlegungen implizit zugrunde liegendes normatives Paradigma sozialer Bewegung exemplifiziert; ein Modell, welches wiederum in einem starken Spannungsverhältnis zu einem zweiten, negativ konnotierten Bewegungsmodell steht. So unüberschaubar vielfältig das Bewegungspanorama Italiens auch sein mag, das sich in Michels' frühen Schriften wiederfindet, ob er sich mit Streik- und Lohnbewegungen, mit den Selbstorganisationen der Zigarrenarbeiterinnen, den Reisarbeiterinnen oder sogar Kinderprotestgruppen beschäftigt - durchgängig kommt Michels immer wieder auf diese zwei Modelle zu sprechen: In dem ersten, ich nenne es in Anlehnung an Paolo Farneti97 das zivi¡gesellschaftliche Bewegungsparadigma, worunter auch die mantuanische Landarbeiterbewegung fällt, zeigt sich die „zunehmende soziale Reife" 98 der disprivilegierten Klassen. Praktisch ist dieses Modell durch die Fähigkeit kollektiver „Selbsthilfe",99 psychologisch durch das „Gefühl der Selbstverantwortlichkeit",100 durch das gesteigerte Selbstbewußtsein der Akteure wie auch durch ihre Fähigkeit zur Selbstbeherrschung gekennzeichnet. Die notwendigen Milieubedingungen für das zivilgesellschaftliche Paradigma bestehen in den Fortschritten der Allgemeinbildung einerseits und der Abnahme der Delinquenz andererseits: „Wie der Analphabetismus, sind auch die Kapitalverbrechen im Rückgang begriffen."101 Die moralische Ressource dieses Bewegungsmodells der Arbeiterselbsthilfe wiederum ist der ausgeprägte „Sinn für Solidarität, der sich zunächst in gegenseitiger Hilfe äußerte, sodann aber zu einem festen Zusammenschluß in Schutz- und Trutzvereinen führte".102 Demgegenüber kommt Michels immer wieder auch auf ein zweites Modell zu sprechen, das im Gegensatz zu dem oben skizzierten positiven Paradigma die soziale Unreife

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verschiedensten Interessen kreuzen sich. Vom mittleren Pächter bis zum Tagelöhner sind alle Schichten in ihnen vertreten. Dennoch hat man bis jetzt geeint vorgehen können" (meine Hervorhebung). Paolo Farneti, Sistema politico e società civile, Torino 1971, S. 47: „Per Michels la società civile è il locus della solidarietà mentre la società politica è il locus della leadership e della autorità". Die Entdeckung Farnetis verdanke ich Ferraris, R. Michels e l'eclissi della „solidarietà spontanea e volontaria", in: ders., Saggi su R. Michels, a.a.O., S. 263-272. Michels, Das ,böse Jahr' 1898, aus der Artikelserie: Rückblick auf die Geschichte der proletarischen Frauenbewegung in Italien, in: Die Gleichheit, Nr. 17, 13. Jg., 12.8.1903 , S. 131-133, S. 131. Der Begriff der „Selbsthilfe" ist ein Leitmotiv von Michels' Bewegungsreports. Vgl. Michels, Das ,böse Jahr' 1898, a.a.O., S. 132.; Michels; Ein italienisches Landarbeiterinnen-Programm, in: Dokumente der Frauen, Bd. VII, Nr. 6, 15. Juni 1902, S. 159-166, S. 161; Michels, Landleute, Kinder und Frauen in Süditalien, in: Neues Frauenleben, Nr. 6, Juni 1905, S. 9-11, S. 9; Michels, Ein Kapitel aus den Kämpfen der Florentiner Cigarrenarbeiterinnen, in: Neues Frauenleben, XV. Jahrgang, Nr. 3, 1903, S. 14-17, S. 15. Michels, Landleute, Kinder und Frauen ..., a.a.O., S. 9. Michels, Der italienische Sozialismus auf dem Lande, S. 10. Michels, Das ,böse Jahr' 1898, a.a.O., S. 132.

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des Proletariats dokumentiert. Prominenteste Symptome der Unreife sind vor allem das Abdriften von Lohn- und Streikbewegungen in Exzesse kollektiver Gewalt sowie das Phänomen des Führerkults. Ich nenne es das sentimentale Modell - mit dem Begriff des „sentimentalismo" nämlich hat Michels die gewalttätige Tendenz kollektiver Emotionen in Arbeitskämpfen als ein Indiz dafür gewertet, „daß das Proletariat noch nicht gelernt hat, seiner Instinkte Herr zu werden", und „die doch so einfache Wahrheit" vergessen habe, „daß das Leben auch im Streikbrecher und im Carabiniere heilig ist".103 Die Ethik des Gewaltverzichts ist eine Position, die Michels als Sozialist durchgängig vertreten hat, gerade auch gegenüber dem revolutionären Syndikalismus, mit dem er zwar in einigen Punkten sympathisiert, gegenüber dem er aber geltend macht: „Wir müssen antilegalitär im juridischen Sinne sein, nicht im physischen Sinne".104 Der normativ gehaltvolle Maßstab des dichotomischen Rasters von Selbstbeherrschung versus Instinkte, Selbstverantwortlichkeit und Selbstbewußtsein versus sentimentalismo, dem Michels die sozialen Bewegungen Italiens unterzieht, bringt es mit sich, daß Michels zu keiner Zeit mit jener Apologie der Gewalt sympathisiert, der zufolge die Gewaltanwendung des proletarischen Straßenkämpfers prinzipiell als eine legitime Reaktion der Gegen-Gewalt zu verstehen sei. Das kommt in Michels' Kommentar zu den blutigen Zusammenstößen zwischen Ordnungskräften und Streikenden im „bösen Jahr" 1898 deutlich zum Ausdruck. Gewiß, so Michels, gebe es eine Mitverantwortlichkeit der „herrschenden Klassen", die einer „blutigen Lösung der sozialen Frage [...] keineswegs abgeneigt" gewesen seien, und auch der Polizei, die „noch nicht recht daran gewöhnt" gewesen sei, „mit Streikenden und Hungernden umzugehen". Dann aber widmet sich Michels eingängig der Verantwortung der Arbeiter: „Auch das Proletariat selber traf zweifellos ein Teil der Schuld an diesem Unglück, das über es hereinbrechen sollte. Noch hatten sich sehr beträchtliche Teile desselben mit den sozialistischen Ideen nicht so vertraut gemacht, um zu dem 103 So in einem Interview für den „Grido Proletario die sindacalisti torinesi" (numero unico vom 2.11.1907) unter der Überschrift „II Pensiero di Robert Michels", S. 2-3. Ich werde auf dieses Interview an späterer Stelle zurückkommen, weil es ja zeitlich nicht in die ,sozialreformistische' Phase fällt. Ich erlaube mir diesen Vorgriff aber deshalb an dieser Stelle, weil m. E. Michels' Kritik am „sentimentalismo" von 1907 inhaltlich völlig mit seinen Positionen der , sozialreformistischen' Phase übereinstimmt. Die zitierte Stelle lautet im Original: „II sciopero di solidarietà si fa dominare troppo facilmente da un sentimento, sia pure elevato e nobile, e diventa poi sentimentale. Ma sentimentalismo è altrettanto pericoloso per lo sviluppo proletario quanto la mancanza di ogni sentimento e il gretto praticismo. Il sentimentalismo dello sciopero generale di solidarietà [...] può anche essere, facilmente, l'indizio che proletariato non ha ancora imparato ad essere padrone dei suoi instinti [...]". „Noi tutti a qualunque tendenza apparteniamo [...] abbiamo commesso il grave torto di non dire e ridire al proletariato ad ogni debita occasione quale e quanta colpa gli incomba nei conflitti sanguinosi colla forza pubblica. Ci siamo dimenticati di affermare anche davanti ai nostri seguaci, la verità pur così semplice che la vita è santa anche nel krumiro e nel carabiniere" (meine Hervorhebungen). 104 Michels, Violenza e legalitarismo come fattori della tattica socialista, in: Il Divenire Sociale, anno I, Nr. 2, 16.1.1905, S. 25-27.

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Einsehen zu gelangen, daß man mit roher Gewalt und Zerschlagen von Laternenund Fensterscheiben keine soziale Revolution machen könne. Noch war ihnen der Sozialismus nicht so in Fleisch und Blut übergegangen, daß sie gewußt hätten, mit dem Kopfe durch die Wand zu rennen dürften zwar Kinder, nicht aber klassenbewußte Vollmenschen versuchen". Als vorbildhaft stellt Michels dagegen das Differenzierungsvermögen der „wahren Sozialisten" heraus: die „Hand- und Kopfarbeiter, welche, Theorie und Praxis verbindend, die soziale Revolution und die unbesonnene Barrikadenrevolte sehr wohl zu unterscheiden wissen."105 Theoretisch reformuliert Michels den Gegensatz zwischen „roher Gewalt" und „sozialer Revolution" in der Alternative Bakunin oder Marx, wenn er es der „wissenschaftlichen" Erörterung und Verbreitung sozialistischer Ideen durch Zeitschriften wie der von Filippo Turati und Anna Kulischoff geleiteten „Critica Sociale" zuschreibt, „daß die italienischen Sozialisten, denen immer noch ein gut Teil Bakuninscher Revoltenmacherei im Blute steckte, zu einer ernsten und sachgemäßen Auffassung der sozialen Probleme im Geiste von Karl Marx erzogen wurden."106 Die beiden Modelle, das zivilgesellschaftliche und das sentimentale, werden von Michels aber auch geographisch unterschiedlich lokalisiert. Zeichnet man anhand der Michelsschen Bewegungsreports eine Geographie der sozialistischen Bewegungen Italiens, wird man unweigerlich eine Nord-Süd-Dichotomie erkennen, die einem zivilisationstheoretischen Koordinatensystem regionaler Entwicklung und Unterentwicklung aufliegt. Michels stimmt nämlich vorbehaltlos dem positivistischen Kriminalisten Alfredo Niceforo zu, der in einer seinerzeit Aufsehen erregenden Studie über Süditalien dieses als „L'Italia barbara contemporanea"107 bezeichnet hat: „Und es ist ganz richtig, eine ganze Welt scheidet Nord- und Süditalien voneinander. In mehr als einer Beziehung befindet sich Süditalien auf einer durchaus barbarischen Vorstufe. Der ganze Süden der Appeninen-Halbinsel, in welchem sich nach der Hyperbel Enrico Ferris nur wenige Oasen guter Menschen in einer Wüste von Korruption befinden, und welcher nicht nur in der Kultur des Geistes,

105 Michels, Das ,böse Jahr' 1898, a.a.O., S. 133. 106 Michels, Das ,böse Jahr' 1898, a.a.O., S. 132. Vgl. auch die sinnidentische Bemerkung von Michels in: ders., Fortschritte, Rückschritte und Aussichten der Frauenbewegung im Jahre 1893 (aus der Aufsatzreihe: „Rückblick auf die Geschichte der proletarischen Frauenbewegung in Italien"), in: Gleichheit, Nr. 8, 13. Jg., 8.4. 1903, S. 58-60, S. 58: „Es ist bekannt, daß sich in Genua [Parteitag der italienischen Sozialisten von 1892] nach harten Kämpfen die scharfe Scheidung zwischen marxistischen Sozialisten und cafieristischen Anarchisten [gemeint sind die Anhänger von Carlo Cafiero] bis zur völligen Trennung der Wege verschärfte, eine taktische Notwendigkeit [...], deren gute Folgen später aber umsomehr offenbar wurden, als die sozialistische Partei in demselben Maße erstarkte, in welchem die vernünftigen Elemente unter den Anarchisten ihre Partei verließen und zu den Sozialisten übergingen" (meine Hervorhebung). 107 Alfredo Niceforo, L'Italia barbara contemporanea: studi e appunti sull'Italia del Sud, Palermo 1898; Vgl. ders., Italiani del Nord e italiani del Sud, Torino 1901.

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sondern auch in der des Bodens unendlich weit hinter dem Norden zurücksteht, ist von den Mikroben des Sozialismus - gleichzeitig auch fast von jedem die Schaffenskraft stärkenden Gefühl der Selbstverantwortlichkeit und Selbsthilfe weit entfernt."108 Die fortschrittlichen Tendenzen, die den jungen Michels von Beginn an so fasziniert auf den caso italiano blicken lassen, verkehren sich auf Sizilien und in den südlichen Provinzen des Festlandes in ihr Gegenteil. Vom „Bildungsbedürfnis" des mantuanischen Landmanns gewissermaßen ganze Entwicklungsepochen entfernt, sind hier fast achtzig Prozent der Bevölkerung Analphabeten und somit vom Wahlrecht ausgeschlossen, wodurch sich die „Machtlosigkeit des südlichen Proletariats" vollendet, eines Proletariats, das den „Zufälligkeiten der Jahre" und den „Launen der Latifondisti" schutzlos gegenübersteht. Das Elend der Landarbeiter manifestiert sich hier in der „entsetzlichsten Kinderausbeutung" der minderjährigen „Servitorini", die als „Waren in Menschengestalt" an Grundbesitzer vermietet werden. Die alternative Laufbahn für diese Unterschichtkinder ist ihre frühe Einarbeitung ins „Delinquententum". Auch das Verhältnis von Mann und Frau ist unterentwickelt: während im norditalienischen Proletariat ein „freier Verkehr und ein kameradschaftliches Gefühl" zwischen den Geschlechtern eine Selbstverständlichkeit ist, dominiert im Süden die „fast sklavische Unterordnung des weiblichen Geschlechtes unter das männliche". Elend, Delinquenz, Analphabetismus, Mangel an „kameradschaftlichem Gefühl" eine derartige soziale Konfiguration scheint die Lösung der sozialen Frage im zivilgesellschaftlichen Sinne gerade zu verhindern: „Arbeitsausstände", deren erfolgreiche Durchführung wie oben gesehen einer organisatorischen Infrastruktur und kognitiver wie soziomoralischer Kompetenzen der Akteure bedarf, „gehören zu den Seltenheiten, [...] Hungerrevolten sind an der Tagesordnung."109 Denken wir daran, daß Michels die Rückständigkeit des süditalienischen Proletariats auch daran bemißt, daß es „von den Mikroben des Sozialismus [...] weit entfernt" sei, und daß er umgekehrt den fortgeschrittenen Entwicklungsstand des norditalienischen Proletariats an der größeren Verbreitung sozialistischer - Marxscher, nicht Bakuninscher - Ideen festmacht, dann wird man sagen können, daß der Sozialismus für Michels ganz offensichtlich Indikator wie Faktor einer Zivilisierung und Modernisierung der sozialen Kämpfe ist. Im Norden hat die Gedankenwelt des Sozialismus den Aspirationen der Landarbeiter demnach nicht zuletzt eine handlungspragmatische Orientierung gegeben, welche die Energien im Aufbau einer handlungsfähigen institutionellen Infrastruktur bündelt, die imstande ist, einen Arbeitskampf durchzustehen. Das süditalienische Proletariat dagegen greift, mangels einer sozialistischen ,Schulung', zu den politisch sterilen Protestformen der Hungerrevolte: es „entbehrt [...] zum grössten Teil

108 Michels, Landleute, Kinder und Frauen ..., S. 9 (meine Hervorhebung). 109 Michels, Landleute, Kinder und Frauen ..., S. 10-11.

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noch gänzlich der beruflichen Organisation, welche es zur Erlangung eines gewissen Selbstbestimmungsrechts so notwendig bedarf." 110 Der prominenteste Akteur des sentimentalen Paradigmas, und damit der Antipode zum zivilgesellschaftlichen Paradigma der Lega mantovana sind die sizilianischen „Fasci" [Bünde] des Jahres 1893. Geradezu bedauernd stellt Michels mit Blick auf die „Fasci" fest, daß der Sozialismus „sehr plötzlich und leider auch ziemlich unvermittelt [...] an die sikulischen Gestade verschlagen worden" war. Auch wenn er zugesteht, daß „der sozialistische Gedanke sich den verschiedenen Volkscharakteren nach in den einzelnen Rassen naturgemäß auch verschieden umsetzen darf', so stecke in der „Verbindung von Marxismus und Sizilianismus" doch „etwas für uns Fremdes". Von den Höhen des norditalienischen Klassenbewußtseins betrachtet, und dies ist die normative Perspektive, die sich Michels zu eigen macht, fällt an den „Fasci" das „orientalische Wesen" [!], der „kindlich-religiöse Aberglaube" und die,Autoritätsanbetung" auf: „Den Führern der Bewegung brachten Männer und Frauen eine fast abergläubische Verehrung entgegen. In ihrer naiven Verquickung der sozialen Frage mit religiösen Zutaten glaubten sie, die geistigen Leiter der Bewegung [...] seien direkt vom Himmel herabgestiegen, um das arme Volk auf Erden zu erlösen. Bei ihren Umzügen sah man oft das Kruzifix mitgetragen werden, neben der roten Fahne und den Tafeln, auf denen Marxsche Sentenzen standen. Zu Vorträgen holten Männer wie Frauen mit Musik, Fackeln und Lampions ihre Führer ab. Viele warfen sich zur Begrüßung selbst auf die Erde, genau so, wie sie es früher zur Begrüßung ihrer Bischöfe getan hatten. In Piana de' Greci standen bei den Versammlungen Männer und Frauen nach orientalischem Ritus getrennt. Andächtig hörten sie zu, sie faßten den Sozialismus auf wie einen neuen großen Glauben, dem sie nicht nur mit dem Zutrauen, sondern auch mit den äußeren Zeichen des alten begegneten." 111 Wie unter einem Brennglas verdichtet, finden sich das sentimentale Paradigma und seine geographisch-zivilisatorischen Koordinaten auch in einem anderen Kommentar wieder, den Michels einige Jahre später dem blutigen Volksaufstand der separatistischen Lega

110 Michels, Landleute, Kinder und Frauen ..., S. 11. Vgl. auch Michels, Die deutsche Sozialdemokratie, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. XXIII, 1906, S. 471-556, S. 513514, wo Michels auf das Lumpenproletariat zu sprechen kommt, das den eigentlichen Kern der „Hurrahkanaille" bilde, „die bei allen Festen und Feiern grundsätzlich dem jeweilig Machthabenden zujauchzt, und, wenn nötig, als Machtmittel gegen das bewußte Proletariat sich gebrauchen läßt" (m. Hvhbg.). Demgegenüber seien die sozialdemokratischen Vereine „in der Regel ebenso frei von den Ärmsten und Allerärmsten, als von den Unehrlichen und gemeiner Verbrechen wegen Vorbestraften. Sie bestehen aus den Besten - [...] - die Elite der industriellen Arbeiterschaft." Vgl. auch ebd., S. 517, wo Michels am Beispiel der ungelernten Arbeiter den Zusammenhang von kollektiver Solidarität und Bildungsressourcen reflektiert. 111 Michels, Fortschritte, Rückschritte und Aussichten der Frauenbewegung im Jahre 1893, a.a.O., S. 60.

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siciliana widmet. Der Anlaß des Aufruhrs ist die Verhaftung des der Bereicherung im Amt angeklagten Unterrichtsministers Nunsio Nasi, des einzigen Sizilianers in der italienischen Regierung. Die Straßenschlachten zwischen Anhängern der Befreiungsbewegung fur Nasi und den staatlichen Ordnungskräften bezeichnet Michels als „Fall kollektiven Wahns", als „Delirien", die „in ihrer Spontaneität und ihrer sturmartigen Wildheit Europa erschrecken". Die Ursachen des antigouvernementalen Aufruhrs führt Michels auf die „Rassenverschiedenheiten in Italien", die „Gefühls- und Empfindungskluft" zwischen dem „griechisch-arabischen Palermitaner" und dem „keltisch-römischen Turiner" zurück, auf ethnische Differenzen also, die durch die ökonomischen Diskrepanzen zwischen Nord und Süd und durch das kulturelle Klima gegenseitiger Beleidigungen und Vorurteile aufgeladen worden seien. Die Motive der geschlossenen sizilianischen Frontstellung gegen die Regierung in Rom sind freilich unterschiedlich zu gewichten: Während es für die oberen Schichten Siziliens die aus dem politischen Klientelsystem von „Koterien und Klüngel" resultierende „Ehrenpflicht" sei, ihrem „Wohltäter", der sie kraft seines Amtes mit Ämtern und Posten versorgt hat, beizustehen, sei Nasi für das Volk - trotz seiner Vergehen - zum Symbol der sizilianischen Kollektividentität, ihrer „Eigenliebe" und ihres „Stolzes" geworden. „Sie sind bestrebt, ihn ihrem Vaterland als den ,kommenden Mann' zu bewahren". Und exakt diese Projektion kollektiver Aspirationen in den „großen Mann" liefert Michels den Nachweis für die Unterentwicklung des politischen Selbstbewußtseins\ „Die Sehnsucht nach dem ,großen Mann', der ,starken Faust' und ähnlichen Inventarstücken eines Raritätenkabinetts ist stets das Zeichen noch primitiven politischen Reifegrades."112 Umgekehrt gilt, daß nur selbstbewußte Akteure in sozialen Bewegungen der Verselbständigung von einzelnen zu selbstherrlichen Parteidiktatoren Einhalt gebieten können: „Hätte er - statt blindlings folgenden Jüngern - selbstbewußte Proletarier um sich gehabt, Lassalle wäre ein anderer geworden."113 Die Lega siciliana und die Fasci siciliani sind sich aber eben nicht nur im Hinblick auf ihren primitiven politischen Reifegrad ähnlich, der in der „abergläubischen Verehrung" des Führertums bzw. der „Sehnsucht nach dem ,großen Mann'" zum Ausdruck kommt. Die Rückständigkeit ihres politischen Bewußtseins manfestiert sich ebenso in einem ausgeprägten Hang, die gewalttätige Konfrontation mit dem politischen Gegner zu suchen. Schauen wir kurz noch einmal auf Michels' Schlußresümee zur norditalienischen Landarbeiterbewegung. Signifikanterweise sind es wiederum die „Fasci", die als negatives Kontrastprogramm zur Zivilisierung der sozialen Kämpfe in Erscheinung treten, einer Zivilisierung, die Michels ausdrücklich dem Sozialismus in seiner institutionellen (Leghe di Resistenza, Camere di Lavoro) wie in seiner weltanschaulichen Dimension zuschreibt:

112 R. Michels, Ein Volksaufstand für einen diebischen Minister, in: Volksstimme, Nr. 170, Frankfurt a.M., 24.7.1907. 113 Michels, Ferdinand Lassalle, in: Mitteldeutsche Sonntagszeitung, 11. Jg., Nr. 35, 1904.

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„Der Sozialismus hat aber der Agrarbewegung nicht nur ihre Direktion verliehen, er hat auch, - und das ist sein großes Verdienst, wofür ihm Staat und Gesellschaft nicht genug danken können - die Bewegung in ruhige, würdige, gesetzmäßige Bahnen gelenkt, was in früheren Jahren, als er bei den Lohnkämpfen der Bauern noch nicht seine Hand im Spiel hatte, wie bei dem Ausbruch der sizilianischen ,Fasci', von keiner Seite irgendwie zu thun versucht worden war."114 Bei seiner Bewegungsanalyse bezieht Michels nicht nur seine Anschauungsbeispiele, sondern auch seine Argumente und theoretischen Grundannahmen aus dem italienischen Kontext: namentlich aus der Schule des sozialistischen Kriminalanthropologen Cesare Lombroso.

2.2. Die positivistische Kriminalistik der Lombroso-Schule Wenn Michels in seinem Resümee über die italienische Landarbeiterbewegung feierlich ihre „gesetzmäßigen Bahnen" betont und sie von der rebellischen Gewalt der ,,Fasci" abhebt, wenn er seine Nord-Süd-Topographie ziviler und „sentimentaler" Bewegungsformen entwickelt, dann zitiert er gelegentlich aus den Schriften Alfredo Niceforos und Enrico Ferris. Beide sind Vertreter der positivistischen Kriminalistik, die um die Jahrhundertwende die Sozialwissenschaft um einen neuen Untersuchungsgegenstand bereichert hat: die „Folla delinquente", die verbrecherische Menge. Es ist erstmals Pino Ferraris aufgefallen, daß Michels sich in seiner Analyse der italienischen Landarbeiterbewegung ein doppeltes Axiom des Cesare-Lombroso-Schülers und sozialistischen Strafrechtslehrers Enrico Ferri zu eigen macht. Dieses besagt einerseits, daß der Existenzkampf desto mehr zu sozialpathologischen, kriminellen Verhaltensformen sowie rein egoistischen Strategien der puren Selbsterhaltung tendiert, je größer das soziale Elend ist, in dem sich die Akteure befinden; und anderseits, in seiner positiven Reformulierung, besagt es: „Wenn die Subsistenzen, die physische Basis der Existenz, gesichert sind, dominiert das Gesetz der Solidarität".115 Wenn Michels in der Folge bei allen Affinitäten zur Marx-Orthodoxie der Zweiten Internationale für die Verelendungstheorie allenfalls so viel übrig hat, daß er sie „dogmengeschichtlich" interessant findet, wenn er als Sozialist zwar die progressive Matrix des historischen Materialismus und seine Gerichtetheit auf das „Endziel" immer wieder wie ein Glaubensbekenntnis beschworen hat, aber zu keinem Zeitpunkt den Glauben an die geschichtsphilosophischen Automatismen der Verelendungs- oder der Zusammenbruchstheorie teilt, so könnte dies den verelendungsskeptischen Einsichten geschuldet sein, die ihm die italienische Kriminalistik vermittelt hat.

114 Michels, Der italienische Sozialismus auf dem Lande, a.a.O., S. 13. 115 So paraphrasiert Pino Ferraris die Überlegungen Ferris. Vgl. Ferraris, Saggi, S. 21.

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Michels' theoretische Affinität und die persönlichen Kontakte mit Vertretern dieser Schule sind in der gesamten Michels-Forschung, von Pino Ferraris' Pionierarbeit116 abgesehen, ein weißer Fleck geblieben. Dabei hätte schon ein oberflächlicher Blick auf die Michelssche Literaturliste gezeigt, daß Michels sogar den Export der Ideen dieser Schule befördert hat, insofern er als Übersetzer von Ferri117 und von Niceforo 118 in Erscheinung getreten ist sowie in einer Reihe von Artikeln seine Kenntnis und Wertschätzung Cesare Lombrosos als Persönlichkeit wie als Theoretiker zum Ausdruck gebracht hat.119 Andererseits ist es auch leicht, über die Namen Lombroso, Ferri, Sighele und Niceforo nicht zu stolpern: die Namen wie ihr geistesgeschichtlicher Zusammenhang sind zumindest außerhalb Italiens weitgehend in Vergessenheit geraten; mit der Ausnahme vielleicht, daß die Anthropologie Cesare Lombrosos in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts quasi ein Synonym für erzreaktionäres, biologistisches Denken geworden ist. Lombrosos Theorie vom „geborenen Verbrecher", seine These, daß Genialität und Wahnsinn, Normalitäten und Abnormitäten im menschlichen Verhalten auf körperliche Eigenheiten der Menschen zurückzufuhren seien, galt nach der humanen Katastrophe der nationalsozialistischen Rassenpolitik in der Retrospektive vielen als deren wissenschaftlicher Überbau, als eine Art intellektueller Vorarbeit an der Selektion von „wertem" und „unwertem" Leben. Noch heute befindet sich im Turiner Corso Galileo Galilei das von Lombroso 1898 gegründete „Museum für Psychatrie und Kriminologie", aber das Gruselkabinett mit seinen ,Beweisstücken' wie den Wachsmasken des „französischen Giftmörders" und des „italienischen Kinderschänders" oder dem aus einem Einweckglas den Betrachter anstarrenden zerschnittenen Gesicht des Wiener Drogenhändlers Fleischmann - dieses Horrorkabinett der Wissenschaftsgeschichte mit seinen Mörderschädeln und Mordinstrumenten ist seit Jahrzehnten für den Besucherverkehr verschlossen.120 Es könnte aber sein, daß die linksliberale political correctness sich mit dieser makabren fin-de-siècle-Hexenkûche eine Vergangenheit weggeschlossen hat, mit der sie geistesgeschichtlich mehr zu tun hat, als ihr lieb ist. Wie schon im vorangehenden Kapitel an der politischen Semantik Kautskys und Bebels angedeutet, ist der Biologismus keine exklusive Domäne der rassistischen Rechten gewesen, sondern es hat auch linke Rezeptionsvarianten des Biologismus gegeben. Hierzu zählt insbesondere die kriminalanthropologische Schule.

116 Vgl. das Kapitel „L'adesione al socialismo" in Ferraris, Saggi, a.a.O., S. 8-27. 117 Enrico Ferri, Die revolutionäre Methode, aus dem Italienischen übersetzt und mit Anmerkungen sowie einer einleitenden Abhandlung über „Die Entwicklung der Theorien im modernen Sozialismus Italiens" versehen von Robert Michels, Leipzig 1908. 118 Alfredo Niceforo, Anthropologie der nichtbesitzenden Klassen, a.a.O. 119 Michels, Cesare Lombroso als Politiker, in: Leipziger Volkszeitung, 12. Jg., Nr. 20, 1905; Michels, Cesare Lombroso, der Gelehrte und ,Rebell', in: Die Gesellschaft, 2. Jg., Heft 4, S. 46-48, 1906; Michels, Cesare Lombroso zum Gedächtnis, in: Politisch-Anthroplogische Revue, 8. Jg., Nr. 9, Dezember 1909, S. 493-494; Michels, Cesare Lombroso, in: ders., Bedeutende Männer, Leipzig 1927, S. 71-89. 120 Vgl. Margit Knapp-Cazzola, Turin. Das Insider-Lexikon, München 1994, S. 22f.

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Robert Michels gehört wahrscheinlich bereits ab 1901121 zum „eisernen Bestände des Lombrosianischen Freundeskreises",122 einem Zirkel von Intellektuellen, Politikern und Künstlern,123 die sich Sonntagabends zu einem regelmäßigen Gedankenaustausch in Lombrosos Haus versammeln, „lange Jahre hindurch eines der wenigen gesellschaftlichen intellektuellen Zentren der hochintellektuellen Stadt [Turin]".124 Hier lernt Michels höchstwahrscheinlich auch Gaetano Mosca persönlich kennen.125 Und in Lombrosos Kreis führt er auch seinen Freund Max Weber ein, allerdings ohne daß sich zwischen den „beiden bedeutenden Männern ein geistiges gegenseitiges Verstehen entwickelt hätte";126 was Michels auf Webers mangelnde Italienisch-Kenntnisse zurückführen wird, ohne in Erwägung zu ziehen, daß hier fundamentale gesellschaftstheoretische Divergenzen eine Rolle gespielt haben mögen. 1913 wird Michels übrigens den Unmut eines anderen Gründervaters der Soziologie, Ferdinand Tönnies, auf sich ziehen, weil der ganz und gar nicht versteht, warum Michels in seinem Handwörterbuch der Soziologie Lombroso und seine Tochter Gina (!) unter das Dach der Soziologie rubrizieren will. 127 Für Weber und Tönnies, aber auch für Simmel und Sombart dürfte Lombroso mit seinem physiologischen Theoriedesign zumindest in soziologischer Hinsicht indiskutabel gewesen sein. Nicht so für Robert Michels. Für ihn ist Lombrosos Theorie

121 Die vom ARMFE aufbewahrten Briefe Lombrosos an Michels datieren von 1901 bis zu Lombrosos Tod 1909. 122 Michels, Cesare Lombroso, in: ders., Bedeutende Männer, Leipzig 1927, S. 71-89, S. 82. Den engen freundschaftlichen Kontakt von Robert und Gisela Michels zur Familie Lombroso indizieren auch die Briefwechsel mit Lombrosos Töchtern Paola Lombroso Carrara und Gina Lombroso Ferrerò. In seinem Lombroso-Portrait (ebd.) hat Michels sich zudem nicht zurückhalten können, die Gunst, die er im Hause Lombroso genoß, dem Leser dadurch zu demonstrieren, daß er auf mehreren Seiten von einem unangemeldeten Besuch zu später Stunde erzählt, den er eines Abends mit seiner Frau zu den Lombrosos unternommen hat, und wo ihm der Professor im Schlafrock öffnet. Nach einer ersten Irritation über das Türläuten zu später Stunde „begann Lombroso's Gesicht sofort jenes heitere, fast väterliche Lächeln anzunehmen, das ihm zur zweiten Gewohnheit geworden war, wenn er sich ihm liebgewordenen Menschen gegenüber befand" (S. 87). 123 Neben dem „Schreiber dieses" u. a. der Nationalökonom Achille Loria, an dessen Lehrstuhl Michels von 1907 bis 1914 als Privatdozent tätig war, der Mediziner Pio Foà, der Bildhauer Leonardo Bistolfi, Max Nordau, Ellen Key, Ferdinand Dómela Nieuwenhuis, Enrico Ferri, der Diplomat Marchese Raniero Paulucci de' Calboli, der in Michels' Leben eine äußerst wichtige Rolle spielen wird (Vgl. das Kapitel „Der Fremde im Kriege"). 124 Michels, Lombroso, 1927, S. 80. 125 Michels, Lombroso, 1927, S. 81. Die vom ARMFE aufbewahrten Briefe von Mosca an Michels datieren von 1907 bis 1936, d. h. der Kontakt beginnt, als Michels seine Zelte in Turin aufschlägt und erstmals nach den Jahren in Marburg den Lombrososchen Kreis wieder regelmäßig frequentieren kann. 126 Michels, Lombroso, 1927, S. 82. 127 Wenn der Erste Weltkrieg nicht dazwischen gekommen wäre, hätte Michels in den Jahren um 1916 das erste Handwörterbuch der Soziologie herausgegeben. Ein derartiges Projekt ist erst Ende der zwanziger Jahre von Alfred Vierkandt realisiert worden ist. Hierüber mehr in dem Kapitel „Der Fremde im Kriege".

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vom „geborenen Verbrecher" (1876)128 eine wissenschaftliche Revolution, mag Lombroso sie auch mit der „Einseitigkeit" vertreten haben, die aber letztlich doch allen „großen Erfindern [...] von Adam Smith bis Nietzsche, von Darwin bis Marx" zu eigen sei.129 „Die ,Bombe', die er warf, läßt sich [...] in dem Satz zusammenfassen: das Verbrechen hat seinen Ausgangspunkt nicht im Denkapparat, geschweige denn im ,schlechten Herzen', sondern ist ein Phänomen physiologischer Natur. Der Verbrecher ist ein kranker Mensch, und zwar ein als krank geborener Mensch".130 Mit dieser These von der willens-unabhängigen, physischen Prädestination des Delinquenten hat sich Lombroso, wie Michels meint, das Prädikat verdient, „der Bringer eines humanitären Lichtes [zu sein], das, aus experimenteller Beobachtung und nicht aus schwachherzigen Sentimentalismen geboren, die leidende Menschheit durchstrahlt und die Summe der Leiden zu vermindern dient". Die „humanitäre" Konsequenz des physiologischen Neuansatzes besteht nämlich in der Zurückweisung des Schuldbegriffs der tradierten Strafrechtspraxis: „Die neue, sog. positive Strafrechtslehre hat sich als Ziel gesetzt, aus dem Gerichtssaal und der Gefangenenstube mit eisernem Besen die alten Theorien von der strafenden und rächenden Göttin herauszufegen und an ihre Stelle die auf psychiatrischer Basis ruhende Unschädlichmachung des Patienten zu setzen." - „Unschädlichmachung des Patienten" klingt heute gar nicht mehr human, sondern so, als bewerbe sich hier jemand um einen Eintrag ins ,Wörterbuch des Unmenschen'. Die fortschrittliche Dimension der „Unschädlichmachung" besteht für Michels allerdings in der Umstellung der Strafrechtsnorm von der Vergeltung des Verbrechens auf den Schutz der Gesellschaft vor dem Delinquenten. Mag der physiologische Ansatz Lombrosos für Michels also durchaus theoretisch anschlußfahig sein - er kritisierte ja nur dessen „Einseitigkeit" - , so kann andererseits kein Zweifel daran sein, daß ihn vor allem der ,späte' Lombroso besonders interessiert. Im Laufe der Jahre hat Lombroso nämlich den kruden biologistischen Ausgangspunkt milieutheoretisch modifiziert und den „sozialen oder ambientalen Faktor" der Delinquenz einbezogen und darüber es zur gesellschaftlichen Aufgabe erklärt, „die Weiterbildung der im geborenen Verbrecher liegenden gefährlichen Keime durch eine günstiger gestaltete Umwelt zu hemmen, zu unterbinden, zu eliminieren, kurz, den geborenen Verbrecher für sein Leben zu einem brauchbaren Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu machen"131. Wir sehen an Michels' wohlinformierter Skizze der Lombrososchen Theorie und ihrer Entwicklung erneut die zwei Elemente, die den Darwinismus aus Sicht der politischen Linken generell attraktiv erscheinen lassen: erstens die antimetaphysische, antireligiöse Stoßrichtung gegen die „strafende Göttin" und das positivistische Pathos 128 Cesare Lombroso, L'uomo delinquente - studiato in rapporto alla antropologia, alla medicina legale ed alle discipline carcerarie, Milano 1876. 129 Lombroso sei ein „Revolutionär in der Wissenschaft". Vgl. Robert Michels, Cesare Lombroso zum Gedächtnis, in: Politsch-Anthropologische Revue, VIII. Jg., Nr. 9, Dezember 1909, S. 493-494. 130 Robert Michels, Cesare Lombroso zum Gedächtnis, in: Politsch-Anthropologische Revue, VIII. Jg., Nr. 9, Dezember 1909, S. 493-494. 131 Michels, Lombroso ( 1909), a.a.O.

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.harter Fakten'. Lombroso dürfte für Michels den Idealtypus eines gegen die .idealistischen Schrullen' gerichteten positivistischen Denkens verkörpert haben, hebt er an Lombroso doch hervor, daß dieser seinen Glauben an die „Besserungsbedürftigkeit und Besserungsmöglichkeit der Menschheit" nicht aus „philanthropisch-spekulativen Träumereien" bezogen habe, sondern seinen „immanenten Idealismus auf dem notwendigen steinernen und anscheinend trostlosen Boden der realen Tatsachen"132 erhärtet und befruchtet habe. Zweitens kommt mit der Milieutheorie wie schon beim Darwinomarxismus wieder der evolutionstheoretische Optimismus ins Spiel: Renovierungen im gesellschaftlichen Ambiente verbessern das Gedeihen der Spezies - und lenken auch die Prädispositionen des .geborenen Verbrechers' in sozial verträglichere Bahnen. Der linke Biologismus ist allerdings ein höchst ambivalentes Unterfangen, denn physiologische Begründungen des Sozialen tendieren ,naturgemäß' zur Legitimation der sozialen Ungleichheit. Das milieutheoretische Argument, man könne über die Änderung der Entwicklungsbedingungen eine egalitäre Evolution der Gesellschaft auf den Weg bringen, hat, läßt man sich erst einmal auf die biologistische Perspektive ein, im sozialpolitischen Alltagsstreit immer den Nachteil, zunächst nichts als eine langfristig angelegte Arbeitshypothese zu sein. Und eben hier steckt die Crux des linken Biologismus: Was passiert nämlich mit denjenigen, für die es selbst langfristig keine ,ambientalen' Möglichkeiten gibt, ihre .Leiden' zu lindern? Bei der Beantwortung dieser Frage zeigt sich, daß die Verbindung der vermeintlichen humanitären Perspektive mit dem inhumanen Vokabular des „Unschädlichmachens" und des „Eliminierens" keine kontingente begriffliche Marotte ist, sondern diese Semantik auch inhaltlich auf die sozialpolitischen Positionen einige Durchschlagskraft entfalten kann. Exemplarisch sei hier aus Robert Michels' eugenetischen Schriften ein Satz zitiert, der, ohne daß es eines weiteren Kommentars bedarf, die Konsequenzen der sozialbiologistischen Nützlichkeitsperspektive vorführt: „Auch heute noch kann man, so sehr gewiß nicht nur der ethische, sondern auch der ökonomisch berechenbare Nutzen der Krankenhäuser - wirtschaftliche Wiederflottmachung verloren gegangener oder verminderter Arbeitskraft - auch in die Augen springt, unter rein materiellen Gesichtspunkten gegen die Hospitalpflege große Bedenken darüber hegen, ob die durch sie bewirkte Heilung dauernd Arbeitsunfähiger und unproduktiver Personen, z. B. von Greisen, ein Werk gesellschaftlichen Nutzens darstelle."133 Als er diese „Bedenken" vorträgt, ist Michels zwar bereits ein dezidierter Propagandist des italienischen Faschismus, es gibt aber zwischen dieser politischen Option und seinen sozialbiologischen Nützlichkeitserwägungen keine systematische Beziehung. Viel132 Michels, Lombroso, 1909, S. 494 (meine Hervorhebung). 133 Die katholische Zeitschrift „Abendland", in der Michels dies veröffentlichte, sah sich in einer Anmerkung dazu veranlaßt, auf „die Gefahr einer so eugenetischen Betrachtung" hinzuweisen. Vgl. Michels, Aphorismen zum Problem der Elite, in: Abendland, Jg. 3, Heft 5, Februar 1928, S. 139-140, S. 140.

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mehr ziehen sich eugenische Gedanken durch das Gesamtwerk134 und steht auch fur den jungen Michels der individuelle Schutz- und Unversehrtheitsanspruch des Kranken unter dem Primat der Gesellschaftshygiene und ,Volksgesundheit'.135 So sehr der kriminalistische Diskurs langfristig geholfen hat, die Resozialisierung als neue Norm rechtsstaatlicher Sanktionen zu verankern, ist der Abgesang auf die moralische Schuld des Delinquenten im biologistischen Kontext seiner Zeit ein zweischneidiges Schwert: denn mit der Verwandlung des Verbrechers in einen Kranken verliert dieser exakt jene persönliche Autonomie, die es ohne die Möglichkeit des , Schuldigwerdens' nicht gibt. Aber zurück zur Jahrhundertwende: Parallel zur milieutheoretischen Erweiterung der Kriminalanthropologie löst sich Lombroso von der ursprünglichen Fixierung auf die physiologischen Eigentümlichkeiten der Einzelindividuen und wendet sich den „Massenerscheinungen und Massenkämpfen" zu. Und diese theoretischen Modifikationen verbinden sich mit einer politischen Konsequenz: Lombrosos „Adhäsion zur Partei" zum Partito Socialista Italiano, dem er zwar nie als Mitglied beitritt, aber zu dem er sich entschieden in aller Öffentlichkeit bekennt, als Mitarbeiter der Parteizeitung „Avanti" und als Stadtverordneter in der sozialistischen Sektion Turins.136 In seinem Lombroso-Portrait hat Michels Entwicklungen in der positivistischen Kriminalistik herausgearbeitet, die insbesondere von Lombrosos „Lieblingsschüler"137 Enrico Ferri und dessen Schüler Scipio Sighele in den neunziger Jahren vorangetrieben worden sind.138 Beide haben den biologistischen Erklärungsansatz der Delinquenz zu einer verhaltenspsychologischen Theorie des kollektiven Verbrechens erweitert und die Perspektive vom „Uomo delinquente" auf die „Folla delinquente"139 (Sighele) - die verbrecherische Menge - verschoben. Ähnlich wie in Lombrosos ursprünglichem Ansatz besteht das Erkenntnisinteresse darin, die Antiquiertheit einer richterlichen Strafpraxis nachzuweisen, welche kollektive gewalttätige oder räuberische Handlungen nach der Norm einer individuellen moralischen Schuld beurteilt. Da in der Masse nämlich, so 134 Michels, Der Eugenismus, in: Neues Frauenleben, 24. Jg. (1912), Nr. 12, S. 316-319; Michels, Eugenics in party organization (= Referat auf dem ersten internationalen Eugenik-Kongress in London 1912), Sonderdruck, 8 Seiten. 135 Michels, Bestrafung geschlechtlichen Verkehrs Geschlechtskranker, in: Ethische Kultur, 12. Jg. 1903, S. 223. 136 Michels, Cesare Lombroso (1927), a.a.O., S. 74-75. Interessant sind die von Michels analysierten Motive Lombrosos: neben dem Glauben „an den Sozialismus als an eine ökonomisch besser ausgeglichene Gesellschaftsordnung" und „Sympathien für die Sache des revolutionären Proletariats" habe Lombrosos Engagement auch patriotische Motive: „gerade in seiner Eigenschaft als Patriot" habe er den Sozialismus als „den letzten Rettungsanker eines sonst dem Untergang geweihten Volkes" gesehen. Außerdem habe er die Möglichkeit gesehen, „daß der Sozialismus auch zur Entstehung einer höheren Rasse Veranlassung geben könne", was Michels als einen „Vorbehalt" gegenüber der Parteiideologie kennzeichnet. 137 Michels, Lombroso (1927), S. 74. 138 Vgl. hierzu Jaap van Ginneken, Crowds, Psychology and Politics, 1871 - 1 8 9 9 , Cambridge 1992, S. 52-99. 139 Scipio Sighele, La folla delinquente, Torino 1891.

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Sighele, das Verantwortungsgefühl des einzelnen zum Verschwinden gebracht werde, könne er nicht im nachhinein für kollektiv begangene Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden. Sighele kombiniert hierbei .klassische' massenpsychologische Erklärungsfaktoren - moralische Ansteckung, soziale Imitation und hypnotische Suggestion mit sozioökonomischen wie den Lebensbedingungen von Unterschichten. Gerade bei Protestaktionen von Disprivilegierten nämlich schlage das tägliche Ohnmachtsgefühl der einzelnen in ein plötzliches Gefühl kollektiver, temporärer Macht um - was den Verlust individueller Selbstkontrolle nur verstärke. Ganz ähnlich ersetzt Enrico Ferri das Konzept der moralischen Verantwortlichkeit durch das der gesellschaftlichen Verantwortlichkeit und damit das Prinzip der moralischen Sanktion durch das der sozialen Sanktion und begründet so die Priorität der Prävention gegenüber der Repression.140 Als Anwalt führt Ferri in einer Reihe von Prozessen die Erkenntnis der Eigendynamik sozialer Protestaktionen gegen ihre repressive Bestrafung ins Feld. Er vertritt - überdies sehr erfolgreich - fast ausnahmslos politische Aktivisten sozialistischer und anarchistischer Bewegungen und wird Mitglied im PSI, dem Sighele zumindest intellektuell verbunden ist.141 Zur Jahrhundertwende avanciert Ferri sogar zum Führer des „revolutionären" Parteiflügels und stellte in seinen öffentlichen Reden unter Beweis, daß der Theoretiker der Massenpsychologie auch ihr Praktiker sein kann.142 Ideengeschichtlich ist das ein bemerkenswerter Befund. Denn in der Regel verstehen wir die „Massenpsychologie" der Jahrhundertwende als eine intellektuelle Reaktion auf den Prozeß der Fundamentalpolitisierung im 19. Jahrhundert im konservativen Erkenntnisinteresse. Der berühmteste massenpsychologische Autor, Gustave Le Bon, hat mit der These einer gesetzesmäßigen Irrationalitätsmultiplikation, die überall da erfolge, wo Menschen nicht einzeln, sondern versammelt auftreten, ja nicht zuletzt der demokratischen Mehrheitsentscheidung ihre rationale Grundlage bestritten. Das Theoriedesign dieser antidemokratischen Massenpsychologie ist extrem naturalistisch, d. h. es veran-

140 Vgl. Antonio Scaglia, La sociologia europea del primo Novecento. Il conflitto fra sociologia e dittatura, Milano 1992, S. 285-289. 141 Vgl. neben van Ginnekens Hinweisen (a.a.O., S. 76) auf Sigheles Philosozialismus auch dessen Beitrag in einer Agitationsbroschüre des PSI, das sich im Archivio Gallino befindet: S. Sighele, L'anima collettiva, in: Partito Socialista Italiano, 1. Maggio - numero unico, Roma 1902, S. 9. 142 Politisch wie juristisch endet Ferris Weg dagegen im italienischen Faschismus, der ihm Gelegenheit bieten wird, seine Massenpsychologie nunmehr an autoritativer Stelle in Gesetzestexte zu gießen - abermals zugunsten der Straffreiheit einer „verbrecherischen Menge", nur daß diese sich dann „squadre fasciste" nennen wird. Vgl. van Ginneken, Crowds, Psychology and Politica, a.a.O., S. 98. Michels weist übrigens darauf hin, daß Ferri, bevor er zum „linksradikalen Sozialisten" wurde, sich als ,rechtsradikaler Bürgerlicher" politisch betätigt habe. (Vgl. Michels, Lombroso 1927, S. 74). Ferris Rechts-Links-Rechts-Wenden unterstreichen einmal mehr die politische Ambivalenz des Positivismus der Jahrhundertwende, und sie legen auch nahe, den italienischen Professoren-Sozialismus um 1900 als eine intellektuelle Modewelle zu verstehen, die ja auch bereits um 1908 ziemlich ,out' gewesen ist. Vgl. hierzu das Kapitel über Michels' Rückkehr nach Turin 1907.

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kert seine nomothetischen Aussagen in einer Anthropologie der kollektiven Affekte, die through time and space Gültigkeit beansprucht. Trotz der zahlreichen inhaltlichen Affinitäten der italienischen Schule zu den Theorien Le Bons, wie sie in der Suggestions- und Hypnosetheorie zum Ausdruck kommen, darf aber nicht übersehen werden, daß das massenpsychologische Paradigma tatsächlich keinen gemeinsamen politischen Nenner hat und ideologisch wie geographisch divergiert: „The French authors were mostly conservatives; the Italians, by contrast, were mostly radicals".143 Neben den politischen Unterschieden unter den Massenpsychologen zeigen sich auch signifikante Differenzen im Theoriedesign. Die „radikale" Tendenz der positivistischen Kriminalistik entwickelt nämlich eine stärker ausgeprägte soziologische und historische Perspektive auf soziale Bewegungen. In diesem Sinne empfiehlt es sich, mit Blick auf Lombroso, Ferri und Sighele, von einer sukzessiven Erweiterung der Kriminalanthropologie zur Kriminalsoziologie zu sprechen. Gewiß bleiben in der Scuola di criminologia positiva auch antisozialistische massenpsychologische Theoreme virulent, wie etwa die Rädelsführertheorie des Mitbegründers der Kriminalanthropologie, Raffaele Garofalo: Garofalo reformuliert im Prinzip die Suggestionstheorie der beliebigen Manipulation von Massen durch demagogisch versierte Verführer, wenn er behauptet, daß erst die sozialistische Propaganda unter den Lohnabhängigen eine Unzufriedenheit mit den herrschenden Zuständen erzeugt habe, die es ohne die „aufhetzenden Reden" gar nicht gegeben hätte. Aber dieselbe Schule bringt eben auch soziologisch fundierte Gegenargumente hervor, und Michels schlägt sich zustimmend auf die Seite der Kriminalsoziologie von Ferri: „Ferri hat unbedingt Recht, wenn er sagt, die individuelle Arbeit der Propagandisten könne doch unmöglich eine psychologische Kollektivlage schaffen, ohne daß diese bereits durch eine entsprechende und vorher bestehende soziale Gestaltung der Dinge vorher bestimmt sei. Eine Entwicklung können selbst sobillatori (Aufhetzer) nicht aus dem Boden stampfen."144

2.3. Positiver Massenbegriff und verkappter Elitismus Blicken wir nach diesem Exkurs zur Lombroso-Schule und zu Michels' persönlichen und theoretischen Beziehungen zur Kriminalanthropologie und -Soziologie noch einmal auf Michels' dichotomische Modellierung sozialer Bewegungen, dann wird deutlich, daß Michels nicht nur im einzelnen Argumente der positivistischen Kriminalistik übernommen hat, sondern sich bereits als junger Sozialist kognitiv wie thematisch auf dem epistemischen Feld des massenpsychologischen Diskurses der Jahrhundertwende bewegt. Auch wenn Michels - im Gegensatz zu seinen späteren soziologischen Arbeiten -

143 Van Ginneken, Crowds, Psychology and Politics, S. 53. 144 Michels, Der italienische Sozialismus auf dem Lande, S. 13. (Format wie im Original).

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den intellektuellen Mode- und Denunziationsbegriff der „Masse" nur sparsam gebraucht bzw. ganz bewußt in Anfuhrungszeichen setzt,145 adaptieren seine frühen Schriften zur Arbeiterbewegung die Semantik des Massenbegriffs, auch wenn diese Semantik eine politisch progressive Stoßrichtung im Sinne der italienischen Schule erfährt. 1.) So fallt in kognitiver Hinsicht auf, daß Michels' Dichotomie zwischen dem zivilgesellschaftlichen und dem sentimentalen Modell sozialer Bewegungen exakt die dichotomische Struktur des Massendiskurses reproduziert. Die Fundamentalunterscheidung des Massendiskurses besteht ja darin, das selbstbewußte und selbstbeherrschte, kurz: zivilisierte' Individuum normativ auszuzeichnen und von der Triebmacht kollektiver Gefühle zu separieren, von der größte Gefahr drohe, weil sie die Vernunft und Affektkontrolle des Einzelnen aufhebe und ihn wieder in einer vorzivilisatorisches Stadium regredieren lasse.146 Bei Michels finden wir dieselbe dichotomische Trennlinie, die der Massendiskurs zwischen Individuum und Masse zieht, wieder, aber Michels zieht diese Trennlinie im Spektrum der Massenbewegungen selbst: Kollektive Selbstbeherrschung, kollektives Selbstbewußtsein, Selbsthilfe, Selbstverantwortlichkeit versus kollektive Affekte und „Delirien" wie die Straßenschlacht und die „abergläubische Verehrung" des leitenden Polit-Personals. 2.) Auch thematisch bewegt sich Michels auf massenpsychologischem Terrain, nehmen seine frühen Bewegungsreports doch die beiden zentralen Themenstränge der Massenpsychologie auf: einerseits ist „Masse" der Inbegriff der Ordnungsdestruktion infolge der kollektivpsychologischen Entfesselung barbarischer Gewaltpotentiale. Blicken wir auf Michels' Unterscheidung zwischen dem gebildeten mantovanischen Landarbeiter' und den ,rebellischen Analphabeten' der Fasci, dann steht hier unüberhörbar das Theorem der „verbrecherischen Masse" im Hintergrund. Andererseits ist „Masse" auch der Inbegriff der autoritätshörigen Gefolgschaft, der „Herde". Die doppelte Optik des massenpsychologischen Diskurs erblickt, was zunächst paradox anmutet, in der „Masse" sowohl ein ordnungsdestruierendes als auch ein ordnungsstiftendes Moment: die psychische (Selbst)-Unterwerfung von Kollektiven unter politische Führer. In Le Bons „Psychologie der Massen" sind beide Momente sogar logisch miteinander verzahnt, insofern das „Rätsel der Sphinx", d. h. die Frage, wie die Politik auf das Zeitalter der Massen reagieren soll, cäsaristisch, mithilfe des

145 Vgl. Michels, Begriff und Aufgabe der ,Masse', in: Das freie Wort, II. Jg., Nr. 13, 1902, Separatabdruck, 8 Seiten. In diesem Aufsatz behandelt Michels den Massenbegriff, der ja semantisch immer auch ein Denunziations- und Distanzierungsvehikel ist, mit einem Problembewußtsein, das ihm später als Soziologe gänzlich abhanden gekommen ist. Michels bemerkt nämlich im alltäglichen Sprachgebrauch eine individuell millionenfache Differenzierung des Massebegriffs, weil der „unhistorisch denkende Mensch [...] den Begriff der Masse eben haarscharf unter seinen eigenen konventionell festgesetzten sozialen Stellung beginnen läßt". „Masse" sei daher „etwas unendlich Variables" und erweise sich „wissenschaftlich als nicht verwertbar" (S. 3). 146 Vgl. Helmut König, Zivilisation und Leidenschaften. Die Massen im bürgerlichen Zeitalter, Hamburg 1992.

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politischen Virtuosen gelöst wird, der die Affekte der Massen herrschaftstechnisch verwertet und sie nur so am Abdriften in die Anarchie hindern kann.147 Robert Michels hat auch diesen zweiten Themenstrang des massenpsychologischen Diskurses von Anfang an in seinem publizistischen Programm, und hat ihn nicht erst als Soziologe und Elitentheoretiker ,entdeckt'. Wer jemals die „Soziologie des Parteiwesens" gelesen hat, wird in den oben angeführten Passagen zum politischen Führerkult der „Fasci siciliani" und der damit verbundenen Denunziation der politischen Unreife des süditalienischen Proletariats unweigerlich bis in die Begrifflichkeit und die Phänomenschilderungen hinein jene Passagen aus Michels' Massenpsychologie antizipiert sehen, die in seinem Hauptwerk von 1911 unter dem Aspekt des Führungsbedürfnisses der Massen als mitursächlich für die Stabilisierung oligarchischer Macht behandelt werden. Ein dezidierter Evolutionsoptimismus und die geographische Verortung des Anbetungsbedürfnisses in eine zivilisatorisch rückständige Region erlauben es ihm freilich, dieses nicht als massenpsychologische Gesetzmäßigkeit, sondern als mentalitätsgeschichtliches Relikt vormoderner Sozialstrukturen zu interpretieren. Die Revision der sozialreformistischen Phase von Michels kommt damit zu einem überraschenden Befund, wenn man an das tradierte Bild der älteren Forschung denkt, die den jungen Michels als Sozialromantiker der Emanzipation verstanden hat, der in die proletarischen Massen seinen pathologischen Neoidealismus projiziert habe, um sich dann erst, im Zuge der notwendigerweise folgenden Enttäuschung über die Realität, dem Massendiskurs und seiner psychologischen Abteilung Le Bonscher Provenienz zuzuwenden. Wenn auch richtig ist, daß Michels Le Bons naturalisierende, anthropologische und in diesem Sinn ,anti-soziologische' „Psychologie der Massen", erst nach seinem Ausstieg aus dem aktiven Parteiengagement 1907 für sich entdecken und in seiner Parteiensoziologie von 1911 adaptieren wird, so ist der erste Teil dieses ,Enttäuschungs'-Dramas falsch konstruiert. Das Problembewußtsein für die selbst in vermeintlich aufgeklärten' sozialistischen Bewegungen um sich greifende post- oder neoreligiöse Führer-Idolatrie sowie das Wissen um die „Delirien" des Massenauflaufs sind bereits beim jungen Michels stark ausgebildet. Und auch seine enthusiastischen Bewegungsreports bilden mit der oben skizzierten „verbrecherischen Masse" der italienischen Kriminalistik ein Spannungsfeld, so daß die positiv gestimmten Bewegungsanalysen der ersten Jahre meines Erachtens nicht so sehr einer a priori idealisierenden Massenvision, sondern einer tiefer liegenden Massenskepsis ihren Stimulus verdanken. Pointierter: Der junge Michels ist ein verkappter Elitist. Dies belegt auch ein Aufsatz, der das Thema im Titel bereits ankündigt: „Begriff und Aufgabe der ,Masse'". Daß Michels hier den Begriff in Anführungszeichen setzt, zeugt von einem begrifflichen Problembewußtsein des jungen Sozialisten, das ihm 147 Vgl. Gustave Le Bon, Psychologie der Massen, mit einer Einführung von Peter R. Hofstätter, 15. Aufl., Stuttgart 1982, S. 34, 46, 78; Helmut König, Zivilisation und Leidenschaften, a.a.O., S. 168; Sidonia Blättler, Der Pöbel, die Frauen etc. Die Massen in der politischen Philosophie des 19. Jahrhunderts (= Politische Ideen Bd. 3), Berlin 1995, S. 233f.; Timm Genett, Angst, Haß und Faszination. Die Masse als intellektuelle Projektion und die Beharrlichkeit des Projizierten, in: npl, Jg. 44, 2/1999, S. 193-240, S. 21 Of.

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später als Soziologen gänzlich abhanden kommen wird. Treffend reflektiert Michels den alltagssprachlichen Gebrauch des Begriffs als soziales Distinktionsvehikel: „der unhistorisch denkende Mensch läßt den Begriff der Masse eben haarscharf unter seiner eigenen konventionell festgesetzten sozialen Stellung beginnen". Deshalb sei der Begriff kein objektiver, sondern „individuell millionenfach differenziert", „etwas unendlich Variables", eine „Größe, die sich weder mathematisch berechnen noch sozial fixieren läßt, und die sich deshalb als wissenschaftlich nicht verwertbar erweist". 148 Gleichwohl Michels daher für eine Überfuhrung des problematischen Massenbegriffs in den der „Kollektivität" plädiert, kann sich der Autor der Massensemantik mit ihrem konstrastierenden Strukturprinzip Masse versus Individualität nicht entziehen. Kategorisch unterscheidet er den hervorragenden Einzelnen, das intellektuelle „Genie" von der „Kollektivität". Auch wenn Michels zweifellos auf größtmöglicher Distanz zum weltfremden Geniekult mit seinem Ideal der heroischen Einsamkeit steht, weil seiner soziologischen Optik zufolge die „Individualität" nun einmal „tausendfach" vom gesellschaftlichen Umfeld beeinflußt wird und ohne die „Kollektivität" auch existenzunfähig sein würde, 149 hält der junge Sozialist das Genie für eine einzigartige und naturaliter nicht generalisierbare Ausnahmeerscheinung. Die marxistische Anthropologie, die den Menschen als Funktion der sozioökonomischen Bedingungen und somit als wandelbares Wesen begreift - und daher streng genommen keine Anthropologie ist, weil sie das menschliche Wesen mit dem sich dynamisch verändernden „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse" identifiziert 150 - findet schon in dieser Frühphase bei Michels ihre Grenzen an einem irreduziblen Grundbestand natürlicher Ungleichheit. Für Zukunftsstaatsentwürfe, die von den sozialistischen Produktions- und kollektiven Besitzverhältnissen auch die Entstehung eines neuen Menschen, des allseitig gebildeten Handund Kopfarbeiters, erwarteten, hat Michels bezeichnenderweise nichts als Spott übrig.151 Michels reproduziert sogar stellenweise mustergültig den kulturkritischen und kulturaristokratischen Massendiskurs, wenn er feststellt, im Gegensatz zu den geistig schöpferischen Individuen bleibe die „eigentliche Masse [...] durchaus passiv. Sie empfängt, verallgemeinert und erhält, wenn auch in fast allen Fällen das Geschenkte nicht in seiner Tiefe durchdringend, ja, es beinah immer verflachend". 152 Freilich ist Michels hier von dem Gestus der Massenverachtung, mit dem sich ein Teil der zeitgenössischen bürgerlichen Intelligenz seiner Distinktionen versicherte, weit entfernt. Vielmehr gibt er sich als bürgerlicher Volkspädagoge, der die „Verflachung" intellektueller Geniestreiche

148 Michels, Begriff und Aufgabe der ,Masse', in: Das freie Wort, II. Jg., Nr. 13, 1902, Sonderdruck, 8 Seiten. 149 Michels, Begriff und Aufgabe ..., S. 5: Die „Individualität" gehöre in die Kollektivität mit hinein, „als sie tausendfach von ihr angeregt und beeinflußt wird, ja, ohne sie nicht einmal existieren kann, denn ein Neugeborenes, fern von der Kollektivität aufwachsend, würde, und wäre es zu einem Goethe geboren, zeitlebens in rein animalischem Zustande verbleiben". 150 Karl Marx, Deutsche Ideologie, in: Frühschriften (hg. v. Siegfried Landshut), Stuttgart 1952, S. 340. 151 Michels, Der vierunddreißigste Bebel, in: Die Gleichheit, 14. Jg., Nr. 15, 13. Juli 1904, S. 113-115. 152 Michels, Begriff und Aufgabe ..., S. 6.

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eben nicht perhorresziert, sondern darin einen ganz normalen Vorgang, eine Gesetzmäßigkeit sieht, welche die volkspädagogisch wertvolle Popularisierung des Geistes notwendigerweise begleitet: „Die Masse [...] war dazu berufen, das Goethesche Geisteswerk aufzunehmen, zu verbreiten und sich an ihm ,emporzubilden', welche Emporbildung natürlich mit einem gewissen Herunterziehen des Vorbildes auf eine niedere Stufe Hand in Hand ging und gehen mußte, denn nach einem uralten Gesetz - dem einzigen, welches den Gang der Geschichte wahrhaft beherrscht - bewegt sich die Entwickelung nur in sanften Übergängen, und sind daher plötzliche Steigerungen wie diejenige vom Niveau eines Durchschnittsmenschen zu dem eines Goethe unmöglich."153 Aus der Ungleichheit zwischen „Individualität" und „Kollektivität" deduziert Michels allerdings eine geschichtsphilosophische Funktion der Vielen, die diese gegenüber den Wenigen, die der Masse immer schon eine Epoche voraus sind, rehabilitiert. In affirmativem Bezug auf Scipio Sighele154 schreibt Michels: „Der Gegensatz von Kollektivität und Individualität besteht also nicht so sehr in der Beeinflussung der einen durch die andere - denn diese ist unter allen Umständen eine wechselseitige - als in der Verschiedenheit der Kulturaufgaben, welche sie zu erfüllen haben, nämlich die Individualität als Trägerin des intellektuellen und die Kollektivität als Trägerin des moralischen Fortschritts der Menschheit."155 Weit entfernt also von der kulturkritischen Annahme eines kontradiktorischen Verhältnisses von Masse und Individuum, denkt Michels beide als komplementäre Faktoren einer arbeitsteiligen gesellschaftlichen Entwicklung. Im Unterschied zum intellektuellen Fortschritt, der mit dem Namen Einzelner - Voltaire, Rousseau, Montesquieu, Descartes usw. - illustriert werden kann, bleibt die Moral namenlos, ihr Fortschritt ist anonym, weil er aus der „langen mühsamen Arbeit der Kollektivität" resultiert. Das epistemische Hinterland der positivistischen Kriminalistik und insbesondere die Sighelesche Differenzierung zwischen intellektuellem und moralischem Fortschritt erlauben es Michels in dieser Phase, auf dem semantischen Feld des Massendiskurses gegen dessen massenfeindliche Implikationen zu argumentieren:

153 Michels, Begriff und Aufgabe ..., S. 6. 154 Michels bezieht sich auf den Aufsatz Sigheles in einer Agitationsbroschüre des P.S.I: Scipio Sighele, L'anima collettiva, in: Partito Socialista Italiano, 1. Maggio - Numero Unico, Roma 1902, S. 9. 155 Michels, Begriff und Aufgabe ..., S. 5.

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„Wer die Masse aber schilt, sie als leichtgläubig und ewig zurückbleibend verhöhnt, tut ihr [...] bitterstes Unrecht. Die Geschichte ist ihr ewigen Dank schuldig, denn sie leistet mehr als die Individualität je zu leisten vermag, sie entwickelt unsere Moral."156 Es ist vielleicht der selektiven Wahrnehmung solcher emphatisch anmutender Sentenzen des frühen Michels geschuldet, daß in der Forschung sich hartnäckig das Konstrukt eines etwas weltfremden Neoidealisten reproduzieren konnte. Die Rehabilitierung der Masse basiert bei Michels aber nicht auf einer ihr substantiell zugeschriebenen Idealität das wäre schon im Rahmen seiner kognitiven Verwandtschaft mit dem bürgerlichen Normaldiskurs unmöglich - , sondern liegt auf der Linie einer entwicklungsgeschichtlichen und zivilisationstheoretischen Prognose: Die „Masse", genauer: die kollektive Moral, oder noch genauer: die in einer konkreten historischen Situation Verbindlichkeit beanspruchende Sittlichkeit, ist der allein maßgebliche Lackmustest auf die Validität des Moralfortschritts. In der unbekannten „Kollektivität" - und nicht in den großen Einzelnen, lautet Michels' moraltheoretische Relativierung der „Große-Männer-Theorie" entstehen die moralischen Dispositionen, die für den sozialen Fortschritt im allgemeinen Relevanz beanspruchen können. Das evolutionäre Verständnis der Kollektivmoral, das Gesetz der sanften Übergänge, hat zudem revolutionstheoretische Implikationen, die vor vorschnellen Illusionen warnen und das Augenmerk des Beobachters gerade auf das Defizitäre lenken: Die longue durée der kollektiven Moralentwicklung läßt eine revolutionäre Umwertung der gesellschaftlichen Werte prinzipiell vergeblich erscheinen: „der moralische Einfluß des Individuums auf die Masse, selbst wenn er einmal, wie bei Savonarola, stattgefunden hat, [hält] historisch nachweisbar nur kurze Zeit an. Er durchdringt sie eben nicht, sondern berührt sie nur an der Oberfläche, und die Kollektivmoral bleibt deshalb unverändert. Nach Savonarolas Tod war die Moral weder begrifflich noch angewandt höher stehend als vor seinem Auftreten." Ahnlich liegt der Fall bei der französischen Februar-Revolution von 1848. Eine Reihe „bedeutender Individualitäten", wie Louis Blanc, Ledru-Rollin, Proudhon, Blanqui u. a., hatten sich eine „neue Moral ausgedacht, welche der bestehenden unendlich überlegen war". Die Revolutionäre scheiterten aber bei dem Versuch, „diese Moral [...] zu dekretieren", weil es unmöglich ist, „der Kollektivität eine fortschrittliche Moral aufzudrängen, wenn sie noch nicht reif dazu ist". „Selbst der strengste Marxismus anerkennt, daß nur durch eine stufenweise Evolution die Ablösung des individualistischen Systems durch das sozialistische geschehen kann". Die „soziale Umgestaltung", zitiert Michels an dieser Stelle aus den „Discordie positivistiche sul Socialismo" von Enrico Ferri157 „wird erst dann möglich sein, wenn im Proletariat der zivilisierten Welt, als natürliche

156 Michels, Begriff und Aufgabe, S. 8. 157 Palermo 1895, 2. Aufl. Palermo/Milano 1899. Hier setzte sich Ferri mit den Thesen Garofalos auseinander.

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Wirkung seiner jetzigen ökonomischen Lage, sich bereits vorher die Moral umgewertet hat,"158 Michels' dezidiertes Plädoyer für einen evolutionären Weg in den Sozialismus impliziert auch eine demokratische Norm, insofern er argumentiert, daß eine neue gesellschaftliche Moral sich nur über die „Einzelarbeit der Kollektivität" im sozialen Normenhaushalt sedimentieren und nicht dekretiert werden kann. Das politische Handeln hat sich demzufolge an dem jeweiligen Stand der kollektiven Moralentwicklung zu orientieren, und nicht etwa an der technischen Möglichkeit einer revolutionären Ergreifung der Macht. Von einer ,Revolutionsromantik', die Michels immer wieder attestiert worden ist, scheint der Autor nicht nur weit entfernt, sondern zumindest theoretisch scheint er sogar davor ,gefeit' zu sein.

2.4. Der positivistische Moralbegriff Nicht nur die Thematisierung der ,Masse', auch Michels' Begriff der Moral eignet sich für einen Lackmustest auf den positivistischen Hintergrund seines Denkens. Einen ersten erfolgreichen Test haben bereits die Bewegungsreports geliefert, in denen der Gedanke der Meßbarkeit von Moral anhand von Kriminalitäts- und Bildungsstatistiken auf die Rezeption der italienischen Kriminalistik zurückgeführt werden konnte. Die zweite Probe auf Michels' Moralbegriff ist sein Versuch einer formalen Definition von Moral, bei dem er sich signifikanterweise die Thesen des positivistischen Historikers Ernst Bernheim159 zu eigen macht: „Man kann, glaube ich, von der Moral das sagen, was Ernst Bernheim von einem verschwindenden Teile derselben, dem Patriotismus, gesagt hat. Sie existiert nur in Vorstellung und Empfindung der einzelnen und bildet erst in ihrer Summe ein eigenartiges Ganzes, welches nach außen und innen eigenartige Wirkungen ausübt, namentlich jedoch nach innen, indem gerade das Bewußtsein, daß dieselbe Gesamtvorstellung auch in den übrigen Volksangehörigen lebt, bei jedem einzelnen die - moralische - Empfindung erhält und steigert."160 Die Moral existiert nur in Vorstellung und Empfindung der einzelnen, und sie entfaltet ihre normative Kraft aufgrund des Bewußtseins, daß dieselbe Gesamtvorstellung auch in den übrigen Volksangehörigen lebt - eine solche Definition nimmt von vornherein die Moral der sozialen Praxis in den Blick. Wir haben es hier mit einem moralge158 Michels, Begriff und Aufgabe, S. 8. 159 Ernst Bernheim hat in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Göttingen mit Michels' späterem akademischen Lehrer Karl Lamprecht die „klassischen Texte des europäischen Positivismus" rezipiert. Vgl. Roger Chickering, Das Leipziger ,Positivisten-Kränzchen' um die Jahrhundertwende, in: Hübinger/vom Bruch/Graf (Hg.), Idealismus und Positivismus, a.a.O., S. 227-245. 160 Michels, Begriff und Aufgabe ..., S. 6 (meine Hervorhebung). Michels nimmt hier Bezug auf Ernst Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode, Leipzig 1889, S. 451.

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schichtlichen bzw. moralsoziologischen Ansatz zu tun, dessen Optik die konkrete, aktuell wirksame Sittlichkeit einer Gesellschaft vor dem moralphilosophischen Traktat privilegiert. Freilich verbindet sich diese Moraldefinition beim jungen Michels mit geschichtsphilosophischen Annahmen, die das, was einer Gesellschaft zu einem gegebenen Zeitpunkt als gut erscheint, nicht einfach historisch kontingent und in Relation zu den Umständen auffassen, sondern der Moralgeschichte - makroskopisch betrachtet - insgesamt eine fortschrittliche Entwicklungslogik unterstellen. In seiner geschichtsphilosophischen Dimension steht Michels' Moralbegriff ganz deutlich in der Tradition der positivistischen Aufklärung der „ersten Phase" und ihrem progressiven Credo, insofern er die Moral als fortschrittliches sittliches Regelwerk von früheren Epochen der theologischen Wertintegration abhebt und ihre Entwicklungsgeschichte als sukzessive Erweiterung des Adressatenkreises von der Partikularität zur Universalität interpretiert: „Wie der Gottesbegriff der ersten Generationen klein war und die Menschen ihn nach und nach größer gemacht haben, so war auch der Begriff der Moral zunächst sehr eng und unvollständig; er hat sich aber unmerklich erweitert, bis daß er, Fortschritt auf Fortschritt häufend, schließlich dahin gekommen ist, die Pflicht der Liebe gegen alle Menschen zu proklamieren."161 So naiv dieser universal-humanistische Moralentwicklungsoptimismus uns heute - und schon vielen Zeitgenossen seiner Zeit - auch erscheinen mag: zumindest dem methodischen Selbstverständnis nach hat der zivilisationsoptimistische Positivismus, übrigens genauso wie sein pessimistisches Pendant,162 seine Prognosen nicht aus einer geschichtsphilosophischen Spekulation, sondern aus der Korrespondenz von Theorie und Fakten abzuleiten beansprucht. Eben dieses empirisch-theoretische Korrespondenzerfordernis kommt besonders plastisch in Michels' Brief an Joseph Bloch vom Februar 1902 zum Ausdruck, in dem er dem Herausgeber der „Sozialistischen Monatshefte" u. a. einen Aufsatz folgenden Inhalts anbietet: „2) Der Sozialismus als Konsequenz menschlichen Fortschrittes - Dieser Aufsatz würde zunächst kurz die Ethik des Soz. streifen um sodann an der Hand von Zahlen zu beweisen, daß das Vorhandensein des Soz. in den einzelnen Ländern als Kulturmesser dienen kann."163 Wer so schreibt, dem erscheint die Korrespondenz von fortschrittsphilosophischer Norm und sozialstatistischen Fakten noch als evident. Die kleine Skizze ist zweifellos das Dokument eines ungebrochenen Fortschrittsoptimismus mitten in der Kulturkrise: der 161 Michels, Begriff und Aufgabe ..., S. 7. Diesen Gedanken entnimmt Michels einem Werk von Fustel de Coulanges: La Cité Antique, Paris 1864, S. 600. 162 Darauf werde ich am Beispiel Ludwig Gumplowicz' eingehen. 163 Brief von Robert Michels an Joseph Bloch, 7. Februar 1902, Kopie im ARMFE, Archivio Michels, busta Joseph Bloch (Original befindet sich im Bundesarchiv Koblenz).

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Sozialismus, so meint der Autor, sei die historische wie logische Resultante („Konsequenz") einer fortgeschrittenen Entwicklung; Kulturentwicklung und Sozialismus stehen in einem proportionalen zahlenmäßig nachweisbaren Verhältnis: je mehr Sozialismus, desto größer der Reifegrad der Kultur eines Landes. Die quantifizierbare räumliche Expansion des Sozialismus indiziert aber nur deshalb eine fortschrittliche Entwicklung, weil der Sozialismus auch ein qualitatives Merkmal besitzt, das im Gegensatz zu konkurrierenden Weltanschauungen bereits ,auf der Höhe der Möglichkeiten' der Kulturentwicklung steht: nämlich seine „Ethik", die Michels an den Anfang seiner Projektskizze stellt. Hätte Michels dieses Aufsatzprojekt realisiert, hätte er sich mit großer Wahrscheinlichkeit bei der Explikation seiner These, daß die Existenz der sozialistischen Ethik symptomatische Folge und somit Indikator einer fortschrittlichen Entwicklung ist, auf einen zeitgenössischen Autor gestützt: Napoleone Colajanni, einen gelernten Arzt, der um die Jahrhundertwende für die republikanische Partei im römischen Parlament sitzt und mit dem Kreis der o. g. italienischen Intellektuellen, die maßgeblich das Denken des jungen Michels beeinflußt haben, die Eigenschaft teilt, daß er über Kriminalsoziologie und -anthropologie publiziert164 und „scharf auf der Messerschneide des Sozialismus" steht.165 Michels' Aufsatzhypothese vom „Sozialismus als Konsequenz menschlichen Fortschrittes" ist nahezu identisch mit Colajannis These, „die Existenz dieser Partei [des PSI] bedeute nichts anderes als die Fortentwickelung des altruistischen Gewissens der Menschheit".166 Michels' gesamte Bewegungsliteratur der ersten drei Jahre ist unübersehbar von diesem Erkenntnisinteresse geleitet: aus dem Material der sozialen Kämpfe empirische Proben auf die These vom Fortschritt altruistischer, solidarischer, universal menschheitlicher Orientierungen und Moralvorstellungen zu entnehmen. Dies ist in der MichelsRezeption meist übersehen worden, möglicherweise weil Michels' Thematisierung von altruistischer Moral, zuweilen in Verbindung mit der tautologischen Attributierung ihrer Reinlichkeit („purster und reinster Altruismus") und oft gefolgt von Bemerkungen über die Bereitschaft Streikender „zu allen Opfern",167 leicht einen heroisierenden und ro164 Hier eine kleine Auswahl aus Napoleone Colajannis (1847-1921) Œuvre: La Sociologia criminale: appunti, due vol., Catania 1889; Il socialismo, sec. ed., Palermo 1898; Gli avvenimenti di Sicilia e le loro cause, Palermo 1894; L'Italia nel 1898: tumulti e reazione, Milano 1898; La delinquenza in Sicilia e le sue cause, Catania 1885; La corruzione politica, Catania 1888; Latini e anglosassoni (razze inferiori e razze superiori), sec. edizione, Napoli 1906; Un sociologo pessimista: L. Gumplowicz, Milano 1886. Diese Titelauswahl komprimiert noch einmal die beliebtesten Themen des linksradikalen italienischen Positivismus: Kriminalsoziologie; Rassenanthroplogie; die „Tumulte" des süditalienischen Proletariats; Korruption; der Sozialismus als Indikator und Faktor einer fortgeschrittenen Zivilisation, und außerdem einen Herrn namens Ludwig Gumplowicz, auf den zurückzukommen sein wird. 165 So Michels' Einschätzung der politischen Präferenzen Colajannis um 1902. Vgl. Michels, Der Sozialismus in Italien, a.a.O., S. 496. 166 Michels referiert hier aus Colajannis „Appunti sul Socialismo". Vgl. Michels, Der Sozialismus in Italien, a.a.O., S. 496. 167 Michels, Ein Kapitel aus den Kämpfen der Florentiner Cigarrenarbeiterinnen, a.a.O., S. 16,17.

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mantisierenden Geschmack hinterlassen kann und daher so manchen Leser befremdet haben mag. Hören wir nur stellvertretend für viele andere Thematisierungen der kollektiven Moral Michels' Resümee zur italienischen Landarbeiterbewegung: „Selten in der Geschichte wirtschaftlicher Kämpfe hat sich das Proletariat so selbstbewußt aber auch gleichzeitig selten so opferfreudig und uneigennützig gezeigt".168 Arthur Mitzmann hat aus solchen Worten den Schluß gezogen, daß Michels den idealistischen Altruismus der - längst verloren gegangenen - Kölner Familientradition in das Proletariat projiziert habe. Der Schlüssel für diese Deutung ist eine familienbiographische Arbeit von 1930, in der Michels seinen Großvater mit den Worten zitiert: „Ich habe in meinem Leben gefunden, daß der größte Egoismus[,] das größte Glück, welches man sich selbst zu schaffen im Stande ist, darin besteht, andere glücklich zu machen".169 Dieser vermeintlich rückwärtsgewandte romantische Idealismus reproduziert aber tatsächlich, wie Ferraris zeigt, das für die positivistische Moral typische Verständnis von ,Egoismus' und ,Altruismus'. In den Worten Herbert Spencers: „Der Gemütszustand, der das altruistische Handeln begleitet, ist ein angenehmer und muß in die Reihe der Freuden gestellt werden, die das Individuum empfinden kann, und in diesem Sinne kann er nichts anderes als egoistisch sein."170 Mitzmanns psychologisierendem Zugriff auf die frühen Bewegungsreports, die unter dieser Lupe nur als Varianten einer nostalgischen Prädisposition des Autors erscheinen, entgeht nicht nur, daß der „Altruismus" in Michels' Denken, wie dies ja auch schon das Colajanni-Zitat gezeigt hat, positivistischer Provenienz ist. Ihm entgeht zudem, daß die Merkmale der Opferfreude und Uneigenniitzigkeit von Michels gleichberechtigt auf einer Linie mit dem Selbstbewußtsein genannt werden und daß letzteres bereits eine eminent moralische Kategorie ist, die wiederum den Sinn der Opfersemantik aufzuhellen vermag. Die Opfer, um die es Michels in seinen Bewegungsreports geht, haben nichts mit einer neoreligiös motivierten Selbstaufgabe um der ,heiligen' Mission willen oder mit der Heiligung des sein Leben aufs Spiel setzenden proletarischen Kriegers zu tun. Michels benennt mit diesen Begriffen schlichtweg Vorgänge von einer außerordentlichen moralischen Qualität: solidarisches Handeln aus Gerechtigkeitssinn. So, wenn etwa die Florentiner Zigarrenarbeiterinnen sich in einen „moralischen Ausstand" begeben und nicht für die eigene Lohnerhöhung streiken, sondern sich mit dem Ausstand der Arbeiter einer Eisengiesserei solidarisieren, um deren Forderungen Nachdruck zu verleihen, und, damit nicht genug, wenn sie obendrein noch aus ihren geringen finanziellen Mitteln einen Soldaritätsgroschen für die Streikkasse entrichten. Derart sind die Opfer beschaffen, die Michels in diesen Jahren so großen Respekt abverlangen. Ihr Nachrichtenwert ergibt sich für Michels nicht zuletzt daraus, daß die altruistische, aus einem

168 Michels, Der italienische Sozialismus auf dem Lande, a.a.O., S. 10. 169 Robert Michels, Peter Michels, a.a.O., S. 97. 170 Herbert Spencer, Le basi della morale, Torino 1908, S. 195, zitiert nach Ferraris, Saggi, S. 20.

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Sinn fur Gerechtigkeit resultierende Handlungsmotivation die Handlungstheorie vom nutzenmaximierenden homo oeconomicus dementiert: „Der Nationalökonom [...] hat in seiner Wissenschaft gelernt, dass der Streik ein Kampfmittel zwischen Arbeit und Kapital ist, in welchem erstere möglichst viele materielle Vorteile für sich zu erringen bestrebt sei [...] Den sigariae nicht zum wenigsten gebührt das Verdienst, der Welt einmal gezeigt zu haben, dass es nicht nur wirtschaftliche, sondern auch moralische Ausstände gibt, dass nicht nur Hunger, sondern auch Entrüstung über Ungerechtigkeiten, die anderen zugefügt worden, Ursache zu einem anscheinenden Wirtschaftskampfe werden kann."171 Das Selbstbewußtsein steht in Michels' Bewertung der sozialen Bewegungen Italiens mit dem Altruismus mindestens auf derselben Stufe, geht es diesem doch systematisch voraus. Das Erwachen des politischen Selbstbewußtseins nämlich wäre ein durchaus passender Titel für alles, was Michels über die basisdemokratischen Bewegungen Norditaliens geschrieben hat.172 Über die „risaiole", d. h. die Arbeiterinnen auf den Reisfeldern der Po-Ebene, die vom Volksmund um 1900 die „schiave bianche" [weiße Sklavinnen] genannt wurden, weil sie bei ihrer körperlich überanstrengenden, durch die alljährlichen Reisfelderepidemien sogar lebensgefahrlichen Arbeiten, die niedrigsten Löhne auf dem Agrarsektor erhielten, schreibt Michels: „Lange hat der todähnliche Schlummer gedauert, den diese Frauen schliefen. Sie waren von einer Genügsamkeit, die man beinahe rührend nennen könnte. An das Leben stellten sie keine weiteren Anforderungen. Wenn sie so viel zu essen hatten, dass sie wenigstens nicht Hungers sterben zu brauchten, und so viel freie Zeit, dass sie ihren kirchlichen Verpflichtungen nachkommen konnten, so priesen sie ihr Leben noch glücklich. Ihr Verstand reichte eben aus für ihre Frohnde,173 ihr Blick ging nicht weiter als der Campanile ihres Heimatdorfes. Für die grosse Menschheit draussen, in der man um Brot und Ideen kämpft, waren sie todt. [...] In den grossen Industriestädten des Nordens hatte sich das weibliche Proletariat schon längst kraftvoll gerührt, auf dem platten Lande herrschte noch Kirchhofsstille. Die Agrararbeiterschafit, vor allen Dingen die weibliche, war für die fortschreitende Cultur einfach nicht vorhanden, schlimmer noch, sie war ein Hemmschuh."174 Dann aber, im Sommer 1901, der fieberhaften Gründungszeit, als junge Berufsgenossenschaften und Agrarvereine „wie Pilze aus dem Boden" schössen und sich in der später in der „Federazione Nazionale dei Lavoratori della Terra" (Volksverein der 171 Michels, Florentiner Cigarrenarbeiterinnen, a.a.O., S. 17. 172 Bzw. das „Erwachen eines sozialen Gewissens". Vgl. Michels, Ein Kinderstreik, in: Die Frau, Heft 1, 10. Jg., 1902, S. 16-19. 173 Fronde (eigtl. ohne h!), ist in diesem Kontext der veraltete Begriff für Fron. 174 Michels, Ein italienisches Landarbeiterinnen-Programm, a.a.O., S. 160.

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Landarbeiter) zusammenschlössen, sei es zu einem wundersamen Umschwung der Dinge gekommen. Michels zufolge hat dies vor allem mit dem Eindringen des Sozialismus in die Provinz zu tun gehabt, weil dieser es den Disprivilegierten und Depravierten erst ermöglicht habe, die Welt auch anders zu interpretieren, nämlich so, daß nichts bleiben muß, wie es ist: „Mit der Schmach ihrer Lage lernten sie gleichzeitig auch die Möglichkeit einsehen, sie auf gesetzlichem Wege zu bessern. In ihr dumpfes, ödes Leben brachte der Sozialismus neue Ideale. An die Stelle des Beichtstuhles trat das Zusammengehörigkeitsgefühl. Die oberflächlich-kirchliche Moral machte der rein menschlichen Moral gegenseitiger Hilfe Platz. Nicht nach dem Tode galt es nun glücklich sein zu wollen, sondern möglichst in diesem Erdenleben."175 Man darf sich auch an dieser Stelle vom Enthusiasmus dieser Worte, der ja angesichts der oben erwähnten Mißerfolge der SPD bei der Landbevölkerung durchaus nachzuvollziehen ist, nicht dazu verleiten lassen, hier nichts weiter als eine „idealisierende" Beschreibung zu sehen. Das erwachte politische Selbstbewußtsein und die solidarischen Orientierungen sind beim jungen Michels analytisch immer auf sein normatives Bewegungsmodell bezogen. Und dieses „Muster proletarischer Selbsthilfe"176 ist nun einmal von moralischen Ressourcen der Akteure abhängig, die alles andere als selbstverständlich sind. Michels' Interesse an den motivationalen Voraussetzungen solidarischer Arbeitskämpfe und „moralischer Ausstände" - sei es die kognitive Ressource des Gerechtigkeitssinns, sei es die moralische Ressource altruistischer Orientierungen - , scheint vielmehr aus einer generellen Einschätzung menschlicher Handlungsmotive zu resultieren, die alles andere als idealistisch ist, sondern durch und durch der Tradition des Realismus verhaftet bleibt: „Im sozialen Leben darf man nicht allzuviel mit dem Faktor der Moral rechnen. Sicherlich wird auch dieser bei Bestimmung der treibenden Gewalten nicht außer acht gelassen werden dürfen, aber als erstes Movens jeder Bewegung wird doch stets der menschliche Egoismus zu gelten haben."177 Wohlgemerkt: der Egoismus ist hier nicht irgendein Faktor unter anderen, der zum Zustandekommen einer sozialen Bewegung beiträgt, sondern er ist deren „erstes Movens". Hätte Michels etwas anderes behauptet, so wäre spätestens an dieser Stelle seine Einordnung in den progressiven Positivismus der „zweiten Phase" revisionsbedürftig. Denn für den Positivismus, ob wir an den milieutheoretischen Sozialreformismus der Lombroso-Schule denken oder an den Darwinomarxismus der deutschen Sozialdemokratie denken, sind ja nicht in erster Linie Ideen der Motor der Kulturentwicklung,

175 Michels, Landarbeiterinnen-Programm, S. 161. 176 Michels, Florentiner Cigarrenarbeiterinnen, S. 15. 177 Michels, Die deutsche Frau im Beruf, in: Die Gleichheit, 14. Jg., Nr. 11, 18. Mai 1904.

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sondern der „Kampf ums Dasein", d. h. der egoistische oder gruppenegoistische Kampf um Selbsterhaltung. Dieser ist die objektive biomaterialistische Gewähr dafür, daß die sozialtheoretischen Prognosen keine Kopfgeburten im Reich der Spekulation blieben, sondern immer schon mit der ,harten', unabweislichen Faktizität der humanen und sozialen Grundantriebe vermittelt sind. Michels dementiert diesen Ansatz nie, sondern er ergänzt ihn, insofern er geltend macht, daß soziale Bewegungen nicht allein aus dem Selbsterhaltungstrieb und aus dem Wunsch nach Bedürfnisbefriedigung hervorgehen, sondern daß sie stets auch von interpretativen Leistungen der Akteure begleitet werden müssen, von kollektiven Sinndeutungen, ohne welche die „soziale Frage" sich gar nicht als solche stellen würde. Die positivistische Motivationshierarchie stellt er nicht in Frage, sondern bestätigt sie, wenn er schreibt: „neben der materiellen Seite, wohl abhängig von ihr, aber deshalb von nicht weniger offenbarer Wichtigkeit, liegt die moralisch-kulturelle Seite des Problems."178 Wenn Michels die „moralisch-kulturelle" Dimension der sozialen Frage hervorhebt, dann hat er die Fundamentaldemokratisierung der „Kulturvölker Europas" im Blick. Denn hier - und nicht in der antiken Sklavenhaltergesellschaft, nicht im mittelalterlichen Lehnswesen, und weder in Indien, Ägypten noch in China - ist etwas völlig neues entstanden: „Dieses Bewußtsein sozialer, nationaler und ökonomischer Verunrechtung ist erst in neuerer Zeit entstanden oder doch wenigstens erst in neuerer Zeit in weite Massen hineingetragen worden". Wiederum, wie bei den „risaiole", ist die neue Qualität von Moralvorstellungen - der Altruismus, die universal-menschliche an Stelle der tradierten universal-theologischen Orientierung, die Selbstverpflichtung auf eine radikal innerweltliche Daseinsbewältigung an Stelle der Vertröstung auf das ,Jenseits' eng mit kognitiven Kompetenzen verzahnt, welche die Akteure sich erst aneignen mußten, um die Verhältnisse überhaupt als gerecht oder ungerecht beurteilen zu können. Der Fortschritt der Moral verhält sich somit beim jungen Michels proportional zum Fortschritt der Aufklärung und des humanen Selbstbewußtseins: „Die unterdrückten Klassen, Rassen und Geschlechter usw. waren sich zwar auch früher des starken Unterschiedes, der zwischen ihnen und den herrschenden Klassen usw. bestand, bewußt, aber sie faßten diesen Zustand als etwas natürlich Gegebenes, ,Gottgewolltes' auf. Erst wenn eine Masse aufgeklärt ist und ihren Zustand als eine Unterdrückung, ein Unrecht empfindet, und sich überdies darüber klar wird, daß es nichts oder doch wenigstens fast nichts Gegebenes und Gottgewolltes gibt, sondern daß alles Menschenwerk ist und wieder beiseite geschoben oder in wichtigen Bestandteilen geändert werden kann, erst dann entsteht aus der Verschiedenheit ein Gegensatz, das heißt eine soziale Frage."119

178 Michels, Entstehung der Frauenfrage als soziale Frage, in: Die Frauenbewegung, IX. Jg., Nr. 3, S. 17-18. Ich zitiere aus Michels, Grenzen der Geschlechtsmoral, a.a.O., S. 129-133, S. 130 (meine Hervorhebung). 179 Michels, Geschlechtsmoral, S. 132 (meine Hervorhebung).

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Der von Michels unterstellte notwendige Konnex von moralischer und kognitiver Kompetenz wird auch deutlich, wenn er im Anschluß an die primär materiellen Grundlagen der sozialen Frage, dem Mißverhältnis von Bedürfnissen" und ungleich verteilten „Befriedigungsmitteln", fortfährt: „Der Gegensatz von Wunsch und Erfüllung läßt ein Mißvergnügen, eine Gärung entstehen und, da die Mißvergnügten ihre Lage naturgemäß mit der ihrer mehr begünstigten Nachbarn vergleichen, so wird sich leicht persönliche Gehässigkeit bemerkbar machen, wenn von seiten der Intelligenteren unter den Benachteiligten nicht stets von neuem darauf hingewiesen wird, daß man für eine Änderung der gesamten Zustände kämpfen müsse, anstatt subjektiv die Gegner zu hassen."180 Damit sind zwei Reaktionen auf die Erfahrung sozialer Ungerechtigkeit formuliert: die politisch sterile Reaktionsweise des subjektiven Hasses und des Ressentiments einerseits, andererseits die aus Bildungsressourcen, der Deutungskompetenz der „Intelligenteren", schöpfende politische Option, eben nicht den „begünstigten Nachbarn" (den Fabrikbesitzer, Großgrundbesitzer etc.) persönlich zu attackieren, sondern für eine Veränderung der „Zustände" zu kämpfen. Überflüssig zu erwähnen, daß diese beiden Formen des Umgangs mit sozialer Ungerechtigkeit exakt dem eingangs dargestellten dichotomischen Modell sozialer Bewegungen: dem sentimentalen einerseits, dem zivilgesellschaftlichen Paradigma andererseits, entsprechen. Nicht überflüssig ist es dagegen, den verbliebenen weißen Fleck in Michels' Bewegungsparadigma auszufüllen. Die kognitive bzw. „moralisch-kulturelle" Dimension der sozialen Frage hat nämlich einen prominenten und soziologisch höchst interessanten Träger: „Aber ein Phänomen ist allen Bewegungen für eine gerechtere Lösung der strittigen sozialen Fragen eigen: sie entstammen keineswegs der Hefe der betreffenden Klassen, Rassen und Geschlechter, sondern gehen stets zuerst von der privilegierten Klasse usw. angehörigen Idealisten aus, um dann von der Elite der benachteiligten Klasse aufgenommen zu werden."181 Der „Idealist" ist in diesem Zusammenhang der bürgerliche Intellektuelle und Renegat, der für Michels schon aus historischen Gründen ein bewegungssoziologischer Faktor ersten Ranges ist, weil der Sozialismus als Idee zunächst von bürgerlichen Intellektuellen entwickelt worden ist, um dann erst in der Arbeiterschaft Fuß zu fassen. In den meisten Fällen hat die Option für das Proletariat für die sozialistischen Intellektuellen eine Selbstdeklassierung zur Folge gehabt und ist etwa mit dem Verzicht auf die akademische Karriere bezahlt worden. Für dieses Phänomen des sozialistischen Intellektuellen und bürgerlichen Renegaten, dem er sich ja mit guten Gründen selbst zurechnen

180 Michels, Geschlechtsmoral, S. 131. 181 Michels, Geschlechtsmoral, S. 133 (meine Hervorhebung).

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darf, hat der junge Michels den Begriff des „Idealismus" zur Kennzeichnung einer Handlungsmotivation reserviert,182 die sich eben ,materialistisch' nicht mehr auflösen läßt. Vor dem Hintergrund eines positivistischen Weltbildes, in dem egoistische Handlungsantriebe den Normalfall darstellen und das Auftreten altruistischer Orientierungen als Indikator einer Höherentwicklung des menschlichen Kampfes ums Dasein, aber nicht als Indikator seiner Überwindung zu werten ist, ist der bürgerliche Selbstdeklassierer ein soziologischer Sonderfall. Das Mandat des Intellektuellen im Klassenkampf resultiert aus Michels' Unterscheidung zwischen einem altruistisch-solidarischem „sozialistischen Bewußtsein" einerseits und einem rein materiell motivierten „Klassenbewußtsein". Es wäre aber falsch, daraus zu schließen, Michels habe eine ideale Leitung der Arbeiterbewegung durch die Intellektuellen angestrebt und sich von Beginn an in einer Außenseiterposition zum mechanistischen Marxismus der sozialdemokratischen Parteiorthodoxie befunden.183 Übersehen wird dabei, daß der Chefinterpret dieser Orthodoxie, Karl Kautsky, zur selben Zeit exakt diese Differenzierung zwischen dem materialistischen Klassenkampf des Proletariats und dem „sozialistischen Bewußtsein" anmahnt und letzteres als notwendiges Importprodukt aus den Kreisen bürgerlicher Intellektueller begreift.184 182 Ansonsten ist die Semantik des „Idealismus" beim jungen Michels dagegen höchst ambivalent. Der Begriff ist nicht schlechthin positiv konnotiert, sondern wird von ihm mitunter auch gebraucht, um sich von einem weltfremden Festhalten an überkommenen Sittlichkeitspostulaten abzugrenzen, die der „Idealist" den realen menschlichen Handlungsmotiven und sozialen Zwängen bloß resignativ gegenüberstellt, ohne sie mit den „realen Tatsachen" vermitteln zu können. Beispiel: In Michels, Die deutsche Frau im Beruf, a.a.O., S. 83, heißt es über den Autor eines Handbuches zur Frauenberufsfrage: „Wilbrandt ist ein Idealist. Aus diesem Grunde zieht er gegen das späte und wenige Heiraten zu Felde". An dieser Stelle nennt Michels den Egoismus das „erste Movens" des sozialen Lebens. Auf dieser Linie einer Idealismus-Kritik steht auch seine Würdigung Lombrosos, der sich nicht in „philanthropisch-spekulative Träumereien verloren" habe, sondern seinen „immanenten Idealismus" auf dem „Boden der realen Tatsachen" erhärtet habe (Michels, Lombroso 1909, a.a.O., S. 494) 183 Vgl. die entsprechende Kritik Ferraris' an Mitzmann: Saggi, a.a.O., S. 24, 25. 184 Karl Kautsky, Die Revision des Programms der Sozialdemokratie in Oesterreich, in: Neue Zeit, X X , Nr. 1, 1901-02, S. 68-82, S. 79: „Das sozialistische Bewußtsein ist also etwas in den Klassenkampf von Außen hineingetragenes, nicht etwas aus ihm urwüchsig Entstandenes". Zu Kautskys Rolle als „Lehrmeister der Klasse" in der SPD vgl. Ingrid Gilcher-Holtey, Das Mandat des Intellektuellen. Karl Kautsky und die Sozialdemokratie, Berlin 1986. Allerdings, und hier liegt in der Tat eine fundamentale Differenz zwischen Michels und Kautsky vor, hatte bei Kautsky das „sozialistische Bewußtsein", das die Intellektuellen ins Proletariat hinein tragen sollten, eben nichts .Ethisches' zum Inhalt, sondern die „ökonomische Wissenschaft" der materialistischen Geschichtsauffassung. Für Kautsky, und die gesamte Marx-Orthodoxie, war die Moral erstens ein Epiphänomen der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse, eine Erscheinung des ideologischen Überbaus der bürgerlichen Gesellschaft, und stand damit zweitens immer im Verdacht, als bürgerliche Phrase im Interesse der herrschenden Klasse die tatsächlichen ökonomischen Gegensätze zu verwässern. Nichts war dem historischen Materialismus Kautskys suspekter als die in der Praxis, angesichts der determinierenden Handlungszwänge der ökonomischen Basis, ohnmächtige Forderung eines moralischen „Sollens". Sittliche Ideale hatten Kautsky zufolge

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Für Michels dürfte dieses Modell nicht zuletzt vor dem Hintergrund seiner eigenen Bewegungsstudien plausibel sein: das pathologische Sozialverhalten verelendeter Milieus im besonderen sowie das Überdauern von - im Sinne des progressiven Drehbuchs der Geschichte - anachronistischen Bewußtseinsformen und Sitten im allgemeinen sind in Michels' Studien zu präsent, als daß er die Rede von der „Selbstbefreiung des Proletariats" wörtlich nehmen könnte. Die Emanzipation des Proletariats ist nichts, was man als notwendige Resultante des materiell motivierten Klassenkampfes sich selbst hätte überlassen könnte. Letzterer dürfte für Michels allenfalls die optimistisch stimmende Grundtendenz der historischen Entwicklungsmöglichkeiten verbürgen. Aber um das progressive Potential dieser materialistischen Tendenz auch wirklich auszuschöpfen, bedarf die Arbeiterbewegung eben auch des edukativen Beistands des Intellektuellen. Diese - mit Kautskys Überlegungen durchaus kompatible - Sonderrolle des Intellektuellen in Michels' Geschichtsbild bestätigt aber auch, gerade wenn wir an die Ausführungen zur Vorbildfunktion des geistigen Genies und die progressive Umdeutung des Massendiskurses denken, Riccardo Fauccis Behauptung, wonach Michels nicht nur als Elitentheoretiker „Krypto-Sozialist" bleibe (zumindest eine Zeit lang), sondern auch als junger Sozialist bereits „Elitist" sei.185 Problematisch an Michels' Überlegungen zu Massenmoral und Sozialpädagogik ist freilich, dass er unter der Hand ein schon mehrfach gescheitertes intellektuelles Relikt aus der Zeit des Vormärz rehabilitiert: den „Glauben an ein tragfahiges Bündnis zwischen Geist und Masse",186 den politischen Erziehungsoptimismus, der in Deutschland einst vor allem im Lager der „Demokraten" um Julius Fröbel vor 1848 seine Hochkonjunktur gehabt hat, sowie die in diesem Kontext vertretene und äußerst gehaltvolle Vorstellung vom autonomen Individuum und „citoyen" als Substrat vernünftiger politischer Entscheidungsprozesse. Die Krise dieses spätaufklärerischen Diskurses um 1900 wird bereits dadurch indiziert, daß in die pädagogische Semantik Metaphern der medizinischen Sprache eindringen. Der bürgerliche Intellektuelle hat gerade das - marxistisch gesprochen - ,Krankenbett' der eigenen Klasse verlassen, als er sich bereits am Krankenbett des Proletariats wiederfindet: Michels' „Aufklärer", der „éclaireur" wird nämlich zum „gesund denkenden

„nichts zu suchen im wissenschaftlichen Sozialismus, der wissenschaftlichen Erforschung der Entwicklungs- und Bewegungsgesetze des gesellschaftlichen Organismus zum Zwecke des Erkennens der notwendigen Tendenzen und Ziele des proletarischen Klassenkampfes." Kautskys Marxismus ist nur bereit, eine moralische Sollensforderung zu akzeptieren, die sich als zwingende „Konsequenz der Einsicht in das Notwendige" ergibt. Vgl. Karl Kautsky, Ethik und materialistische Geschichtsauffassung, Bonn-Bad Godesberg 1973, S. 141. Zit. n. Alfred Schmidt, Ethik und materialistische Geschichtsphilosophie - Komplement oder Korrektiv?, in: Helmut Holzey, Ethischer Sozialismus. Zur politischen Philosophie des Neukantianismus, Frankfurt a.M. 1994, S. 67-93, S. 81. 185 Riccardo Faucci, Intorno alla .giusta' collocazione intellettuale di Roberto Michels, in: ders. (Hg.), Roberto Michels: Economia - Sociologia - Politica, Torino 1989, S. 23-44, S. 35. 186 Sidonia Blättler, Der Pöbel, die Frauen etc. Die Massen in der politischen Philosophie des 19. Jahrhunderts, a.a.O.

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Arzt".187 Zumindest semantisch, was uns allerdings die noch vor uns liegende Deutungsarbeit leider nicht erspart, können wir von hier eine direkte Linie zur „Soziologie des Parteiwesens" ziehen, wo das Proletariat bekanntlich auf den „Seziertisch"188 landet und „der strengsten Autopsie"189 bzw. einer „ätiologischen" Untersuchung unterzogen wird. Zunächst aber ist Michels' Ambition als politischer Intellektueller unerschütterlich. Sie wird auch sein Verhältnis zur sozialdemokratischen Partei noch erheblichen Irritationen aussetzen. Erst aus diesen Irritationen resultiert schließlich sein klassisches Buch zur Elitentheorie. Vorher aber werden wir in den nun folgenden „Stationen eines Mißverständnisses" einen Robert Michels erleben, der sich geradezu begeistert in die Partei integrieren läßt, der sich nicht nur mit dem ^evolutionären' Zentrum der Partei um Bebel und Kautsky identifiziert, sondern auch auf deren Parteitagsregie Rücksicht zu nehmen weiß.

187 Diese ,medizinische' Aufgabe des Intellektuellen hat Michels u. a. Enrico Ferri, Wilhelm Foerster und Ladislaus Gumplowicz - und implizit sich selber - zugeschrieben. Vgl. Michels, Entwicklung und Rasse, in: Ethische Kultur, XIII, Nr. 20, S. 155-157, Nr. 21, S. 163-164, S. 156. „Gesund" kann in diesem grammatikalischen Kontext sowohl als Adverb (auf gesunde Weise denken) als auch als Effekt des Denkens interpretiert werden (jemanden durch aufklärende Kommunikation von seinen Irrtümern heilen). 188 Michels, Soziologie des Parteiwesens, 4. Aufl. 1989, S. XLV. 189 So lautet die Version in der italienischen Ausgabe (1. Aufl. 1912): Michels, La sociologia del partito politico, Bologna 1966, S. 7.

IV. Am Krankenbett des Proletariats: Der Intellektuelle und die Arbeiterpartei (1903 - 1907)

„Mißtrauen ist würdig einer Sekte, nicht aber einer großen Partei."1 (Robert Michels 1903)

1. Die Legende von Dresden und die politische Wende vom Sozialreformismus zur revolutionären Intransigenz (1903) 1.1. Die Legende von Dresden Nach gut anderthalb Jahren engagierter politischer Publizistik betritt Robert Michels im Jahr 1903 erstmals die Bühne der Politik. Im sozialdemokratischen Terminkalender dieses Jahres sind vor allem zwei Ereignisse dick unterstrichen: Im Juni überwindet die SPD bei einer Reichstagswahl erstmals die magische Grenze von drei Millionen Stimmen (im Vergleich zu 2.107.100 Stimmen bei den Wahlen davor) und erhöht ihre Sitze im Reichstag um 24 auf 82 - ein Sieg, der nicht nur die führende Position der SPD in der II. Internationale eindrucksvoll unter Beweis zu stellen, sondern der auch die Richtigkeit der elektoralistischen Strategie zu bestätigen scheint: die gewaltige Stimmenmaximierung nährt weiter die Hoffnung, daß sich in Deutschland die Revolution über kurz oder lang mit dem Stimmzettel durchführen lasse. Robert Michels selbst tritt in den Juniwahlen als wahlpolitischer Agitator und erfolgloser - Reichstagskandidat im oberhessischen Alsfeld-Lauterbach auf, einem ländlichen, für die Sozialdemokratie aussichtslosen Wahlkreis: „Ohne Aussicht auf einen Sieg bekam ich 1.100 Stimmen aus bäuerlichen Kreisen".2 Bemerkenswert ist das Wahlprogramm, mit dem Michels angetreten ist: es trägt der ländlichen Sozialstruktur Rechnung und setzt auf eine Sammlungspolitik der „kleinen Leute" unter Einschluß des Mittelstandes, der Kaufleute und Kleinbauern.3 Damit betreiben Michels bzw. das

1 2 3

Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten zu Dresden vom 13. bis 20. September 1903, Berlin 1903, Neudruck Osaka 1970, S. 229. Michels, La tattica dei socialisti tedeschi alle Elezioni Generali Politiche, in: Avanguardia Socialista, Anno II, Nr. 28, 5. Juli 1903, S. 1-2. In der Wahlkampfbroschüre („An die Wähler des Wahlkreises Alsfeld-Lauterbach-Schotten!"; ein Exemplar fand ich im Privatarchiv von Michels' Enkelin Maria Gallino, Torino) haben Michels

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IV. Am Krankenbett des Proletariats

regionale Wahlkomitee im oberhessischen Vogelsberg interessanterweise in der Wahlk'âmpîpraxis eine Ausweitung der sozialdemokratischen Rekrutierungsbasis, die auch nach dem Urteil zeitgenössischer sozialwissenschaftlicher Analysen dem De-factoVolksparteicharakter der SPD und ihren zunehmend heterogenen Wählermilieus durchaus entspricht.4 Das Ansinnen, als Lehre aus den Reichstagswahlen den proletarischen Exklusivismus in der parteioffiziösen, vulgärmarxistischen Semantik zugunsten der Integration der alten und neuen Mittelschichten aufzugeben, 5 ist im polemischen Kontext um 1903 allerdings ein Programmpunkt des „Revisionismus". In ihrer „hochideologischen Wagenburgmentalität"6 ist die SPD für eine selbstbewußte, auch offiziell vollzogene

bzw. das unterzeichnende „sozialdemokratische Wahlkomitee" eine integrative, den ,MassenparteiCharakter' der SPD betonende Strategie gewählt. Der Klassengegensatz wird in Metaphern reformuliert, die die Arbeiterpartei auch für nicht-proletarische Gruppen offenhalten: „Wähler! Nicht an alle von Euch wende ich mich [...] Habt Ihr jemals davon gehört, daß sich ein Verein aufgetan hätte, der sowohl fiir die Katzen, als auch fiir die ... Mäuse zu sorgen vorgegeben hätte?" Während dies aber die „Dummheit" sei, auf die das „Mischmaschprogramm" der übrigen Parteien hinausläuft, „in welchem eine Forderung immer wieder die andere aufhebt", „das reine Gesellschaftsspiel", sei die SPD Anwalt der Interessen der „kleinen Leute": Arbeiter, Handwerker, Kleinbauern („Ihr seid zwar ,Besitzer', aber Ihr lebt schlechter als die besitzlosen Arbeiter in den Städten"), Kaufleute („selbständige Arbeiter"), kleine und mittlere Beamte („Proletarier mit vergoldeten Knöpfen") bzw. „Mittelstandsleute" im allgemeinen. Was diese sozialen Gruppen miteinander verbindet, ist laut Wahlprogramm das Interesse an einer progressiven Lohnpolitik (was selbst den kleinen Selbständigen infolge der erhöhten Kaufkraft ihrer Kunden zugute komme) und ihre Entlastung als Konsumenten durch Beseitigung der indirekten Steuern. Darüberhinaus präsentiert der Wahlaufruf die SPD als Vertreterin „bürgerlicher Freiheit" und einer antimilitaristischen Haushaltspolitik („Einschränkung der wahnsinnigen Ausgaben für Heer, Marine und Kolonien und Verwendung dieser Ausgaben für Hebung des Schulunterrichts, Durchführung der Witwen- und Waisen- sowie der Arbeitslosenunterstützung, Erhöhung der kleinen Beamtengehälter [...]" Die „zeit- und geldraubende Militärzeit" soll „vorläufig auf ein Jahr" verkürzt werden. Die Sprache des Klassenkampfes scheint hier und da kurz auf („Hieraus folgt [...], daß ich mich nicht an die - bewußt oder unbewußt - Unterdrückenden oder Ausbeutenden, an die Großgrundbesitzer, Manschettenbauern, Fabrikherren und hohen Staatsbeamten wende"), ein Anspruch auf revolutionäre Gesellschaftsveränderung wird aber nicht formuliert. Allenfalls schlummert er in dem vagen Bekenntnis: „Unser Endziel ist die politische und soziale Geltendmachung der Rechte aller kleinen Leute auf den Staat und die Gesellschaft bis zur Abschaffung der Klassenwirtschaft und Herstellung eines wirtschaftlichen Gleichgewichts im politischen Volksstaat". Eine verfassungspolitische Präzisierung, was mit „Volksstaat" gemeint sein könnte, etwa das Ziel der Parlamentarisierung, bleibt aus. 4 Rudolf Blank, Die soziale Zusammensetzung der sozialdemokratischen Wählerschaft Deutschlands, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik XX, 1905, S. 507-550. Vgl. auch Sven Weber, „Trotz unserer Minderheit hoffen wir zu siegen". Sozialdemokratie in Marburg-Biedenkopf von 1869 bis 1914. Marburg/Berlin 1994. 5 Eduard Bernstein, Wird die Sozialdemokratie Volkspartei?, in: Sozialistische Monatshefte 1905, S. 663ff 6 Thomas Welskopp, Im Bann des 19. Jahrhunderts. Die deutsche Arbeiterbewegung und ihre Zukunftsvorstellungen zu Gesellschaftspolitik und „sozialer Frage", in: Ute Frevert (Hg.), Das neue

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Öffnung zur Volkspartei noch längst nicht reif und beharrt auf der Fiktion ihrer sozialen Homogenität als proletarische Klassenpartei. So steht das zweite große parteipolitische Ereignis des Jahres 1903, der Parteitag zu Dresden im September, ganz im Zeichen einer orthodoxen Taktik des „Gegensteuerns" durch den Parteivorsitzenden Bebel. Die überwältigende Mehrheit für den ^evolutionären' Leitantrag von Kautsky und Bebel führt dem theoretischen Kopf des Revisionismus, Eduard Bernstein, eine empfindliche Niederlage zu. Der Verbalradikalismus der Parteitagsresolution zementiert die sozialdemokratische Selbstisolation im Kaiserreich. Auf diesem Parteitag wird Robert Michels als Delegierter aktiv teilnehmen. Im Gepäck hat er unter anderem einen Antrag des Marburger Ortsverbandes, der mit Bezug auf die Marburger Stickwahlaffäre ein Votum des Parteitages gegen den Revisionisten Wolfgang Heine fordert. Wie Michels mit diesem Antrag verfährt und wie er Jahre später seinen Parteitagsauftritt beurteilt, ist so rätselhaft und interpretationsbedürftig, daß dieser Vorgang im Zentrum dieses Kapitels steht. Die Ereignisse von Dresden müssen dabei sowohl in den Kontext von Michels' Beurteilung der Reichstagswahlen gestellt werden als auch im Lichte ihrer Folgen gedeutet werden. Nach Dresden nämlich erleben wir erstmals einen .radikalen' Michels, der im Dezember 1903 dezidiert in der Revisionismusdebatte Stellung bezieht und sich auf den Standpunkt des „unverkümmerten, intransigenten Zielgedankens" stellt.7 Beginnen wir mit der Rekonstruktion der Ereignisse und der Michelsschen Handlungsmotive von 1903 im Jahre 1932. Knapp dreißig Jahre nach den Reichstagswahlen und dem Dresdner Parteitag stellt Michels in seinen berühmt-berüchtigten autobiographischen Betrachtungen, ohne den leisesten Hinweis auf seinen moderaten Reformismus bis 1903, seine politisch-ideologische Position in einer Weise dar, die das „mystifizierte Stereotyp" (Ferraris) vom sorelianischen Syndikalisten für die spätere Michels-Rezeption auf folgenreiche Weise festschreiben wird. Weil in Deutschland aufgrund der Hegemonie der reformistischen „freien Gewerkschaften" die Voraussetzungen für eine syndikalistische Politik ebenso fehlten wie für die „Entstehung einer Elite Sorelscher Observanz, die geistig wohl vorhanden war, aber eher bei den Revisionisten, politisch aber, d. h. im Sinne energischen Machtstrebens auf dem opfervollen Weg einer action directe, nirgends zu finden war", „war Michels in Deutschland ganz auf die linksrevolutionären, mehr oder minder marxistischen Kreise angewiesen." 8 Das sei der Grund fiir seine Freundschaft mit Konrad Haenisch und sein gutes Verhältnis zu Karl Kautsky und Rosa Luxemburg gewesen. So Michels 1932 über Michels 1903f., keinen Zweifel daran lassend, daß die sozialistische Entscheidung die eines Jungen Brauskopfes" bzw. eines „Revolutionsromantikers" und eines „Idealisten von reinstem Wasser" war, dem aber schon damals die Demokratie als ein „Kult der Inkom-

7 8

Jahrhundert: europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900 (= Geschichte und Gesellschaft: Sonderheft 18), Göttingen 2000, S. 15-46, S. 27. Michels, .Endziel', Intransigenz, Ethik. Ein sozialdemokratisches Thema, in: Ethische Kultur, XI. Jg., Nr. 50, 12.12.1903, S. 393-395, Nr. 51, 19.12.03, S. 403-404. Michels, Eine syndikalistisch gerichtete Unterströmung im deutschen Sozialismus (1903-1907), a.a.O., S. 362.

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petenz" und „von einer schnöden Angst vor jeder männlichen Verantwortlichkeit beseelt" erschienen sei.9 In seinem Rückblick von 1932 präsentiert sich Michels somit als Außenseiter in der Sozialdemokratie und emphatisiert die „ethisch-ästhetische Weltanschauung" seines Marburger Intellektuellenzirkels aus Sozialisten, Akademikern, Kantianern, Tolstoianern und Dichtern zusammensetzenden Marburger Intellektuellenzirkels, dem er die Etikette „syndikalistische Unterströmung" verpaßt. Er versäumt auch nicht hervorzuheben, daß die Marburger Zeit eine „Zufallsperiode" seines Lebens gewesen sei, während der er von Anfang an bereits „lebendige Beziehungen" mit dem italienischen Syndikalismus, namentlich Arturo Labriola und Enrico Leone, und dem französischen Syndikalismus, namentlich Georges Sorel, Hubert Lagardelle, Edouard Berth, gepflegt habe.10 Zwar habe er „zu der isolierten Action Directe und dem Mythus des Generalstreiks als periodisch auf die kommende Gesellschaft vorbereitendes Manöver einige Distanz"11 bewahrt, aber er habe sich doch „substantiell für die neue Richtung gewinnen" lassen, „die mit großer Energie und Kühnheit durch den Versuch der Verschmelzung Marxens mit Proudhon und Pareto eine Neubelebung der idealen und energetischen Potenzen in der Arbeiterbewegung erstrebte."12 Dieses Selbstportrait eines Latino-Linken am falschen Ort hat nicht nur eine große Suggestionskraft auf die Michels-Interpretationen der Nachkriegszeit ausgeübt. Schon in den dreißiger Jahren inspirierte es den französischen Schriftsteller Jules Romaines im vierten Band seines Werkes „Les hommes de bonne volonté" - , Robert Michels noch zu Lebzeiten als Romanfigur zu verewigen. 13

9 Michels, Unterströmung, S. 350, 352, 362, 363. Der junge, mit dem radikalen Feminismus sympathisierende Michels hätte über die „Männlichkeit" als Kriterium guter Politik sicherlich gespottet. In der politischen Rhetorik des späten Michels dagegen stoßen wir, was hinsichtlich der faschistischen Option auch nicht weiter verwunderlich ist, häufig auf sexuelle Metaphern. So, wenn er bspw. meint, „die deutsche Sozialdemokratie sei einem Riesen ähnlich, der trotz seiner Gliedmaßen keine Jungfrau zu schwängern imstande sei", und sich damit brüstet, daß Benito Mussolini „in einer bekannten Genueser Rede" diesen Vergleich machtpolitisch paraphrasiert habe. Vgl. Michels, Unterströmung, S. 350. 10 Michels, Unterströmung, S. 350. 11 Ein Fünkchen Wahrheit: die „Distanz" des jungen Michels insbesondere zum Gewaltstreik ist tatsächlich die einer entschiedenen Opposition. Vgl. dazu auch unser Kapitel „Michels und der revolutionäre Syndikalismus". 12 Michels, Unterströmung, S. 351. 13 Vgl. Jules Romaines, Die guten Willens sind, 5 Bände, 4. Bd.: Èros von Paris, Berlin 1936, Übersetzung des französischen Originals „Les hommes de bonne volonté", 4. Bd., Èros de Paris, Paris 1932. Romaines geht noch einen Schritt weiter als der späte Michels selbst und präsentiert den jungen Sozialisten als Apologeten der Gewalt: „Die alte italienische virtù dränge darauf, die junge Theorie der Gewalt in Taten umzusetzen" und „die Idee der Revolution aus dem Sumpf der Demokratie zu reißen", soll Michels 1906 in Pariser Intellektuellen-Salons verkündet haben, der übrigens schon damals ein Mussolini-Bewunderer gewesen sei (S. 191f., dt. Ausg.). Romaines ist ein ausgezeichneter Kenner faschistischer Rhetorik. Der von ihm präsentierte Robert Michels ist allerdings, was die Position zur Gewalt betrifft, eine schlichte Erfindung.

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Obwohl schon in der Semantik des autobiographischen Berichts unverkennbar sich das Bemühen ausdrückt, die politische Tätigkeit v o n 1903 bis 1907 retrospektiv in einer faschistischen Perspektive wiederzugewinnen, 1 4 hat die Forschung bislang w e n i g e Versuche unternommen, die Fakten in M i c h e l s ' tendenziöser Schrift v o n 1932 v o n den späten Selbstdeutungen zu separieren und im Kontext der Ereignisse v o n 1903 neu zu bewerten. 1 5 1

1.1.1. D i e Heine-Affäre Michels' autobiographische Schrift v o n 1932 beginnt mit einer Auseinandersetzung zwischen den Marburger Genossen und der Berliner Parteizentrale, in deren Mittelpunkt Michels selbst steht. Blicken wir zunächst auf die Fakten. N a c h den Reichstagswahlen v o m 16. Juni 1903 werden in 180 Wahlkreisen Stichwahlen nötig, weil dort kein Kandidat das nötige Quorum erreicht hat. Die Sozialdemokratie steht so vor der heiklen Frage eines Wahlbündnisses mit den linksliberalen Parteien, deren Kandidaten ja im allgemeinen denen der Konservativen vorzuziehen sind. Mit einer Einschränkung: Ein Jahr zuvor hat der Münchener SPD-Parteitag auf einen Antrag Bebels hin einstimmig beschlossen, daß man in Stichwahlen nur dann Kandidaten bürgerlicher Parteien unterstützen dürfe, wenn diese sich bereit erklärten, im Falle ihrer Wahl gegen neue Militär- und Marinevorlagen zu stimmen. 1 6

1934 hat Romaines Michels ein Exemplar seines Buches mit einer Widmung überreicht, in der er sich dafür entschuldigt, die Freiheiten in Anspruch genommen zu haben, die ihm die Romankunst zugestehe (Abschrift der Widmung findet sich im Privatarchiv Gallino). Am Ende seines Lebens war Michels mit Vorarbeiten zu einer Autobiographie beschäftigt. Im Privatarchiv Gallino finden sich elf Seiten mit dem Titel „Pagine autobiografiche. Titolo molto provvisorio". In ihnen setzt sich Michels mit einem Kapitel in Romaines' Buch auseinander, in welchem Michels Revolutionsabsichten in Frankreich unterstellt werden. Michels' Kommentar: „Halb Dichtung, halb Wahrheit". Der Kontext, den Romaines unterschlage, sei die Marokko-Krise gewesen, und nicht die Revolution, sondern den Generalstreik habe er anvisiert - als ein Druckmittel, um die französische Regierung an Kriegshandlungen zu hindern, welches freilich nur dann angewendet werden dürfe, wenn es auch in Deutschland zu einem antimilitaristischen Generalstreik komme. Daher sei Michels' Agitation in der Konsequenz darauf hinausgelaufen, den französischen Genossen, die noch an die Möglichkeit einer solidarischen antibellizistischen Aktion seitens der SPD glaubten, „die Augen zu öffnen" (Vgl. die französischen Anmerkungen auf dem Blatt „Pro Memoria", Privatarchiv Gallino) und von einem Generalstreik gerade abzuraten! Diese Ausführungen entsprechen durchaus dem Michelsschen Denken um 1906. Vgl. das Kapitel „Probelauf für den Weltkrieg. Die deutsche Sozialdemokratie in der Marokko-Krise". 14 Vgl. Giordano Sivini, Introduzione, in: ders. (Hg.), Michels. Antologia di scritti sociologici, Bologna 1980, S. 7-52, S. 9. 15 Die rühmlichen Ausnahmen, auf die ich aufbauen kann, sind Ferraris, Saggi ..., a.a.O., S. 27f.; Hetscher, a.a.O., S. 109. 16 Protokoll über die Verhandlungen des Parteitags der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1902, Berlin 1902, S. 88f.

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In Marburg, wo der SPD-Kandidat Paul Bader gescheitert ist, hat Hellmut von Gerlach vom Nationalsozialen Verein die meisten Stimmen erhalten (4907), gefolgt von dem Konservativen von Pappenheim (3605).17 Da Gerlach offen für die Forcierung der kaiserlichen Flottenpolitik eintritt, beschließen die Marburger Genossen am 20. Juni mit 72 gegen 23 Stimmen, Gerlach die Unterstützung zu verweigern und sich bei der Stichwahl zu enthalten. Die „sozialistische Stimmenthaltung in Marburg" lässt sich „klar aus dem bindenden Wortlaut des Parteitagsbeschlusses" ableiten.18 Aber handelt es sich um das schlichte Befolgen einer Satzung - oder handeln die Marburger Genossen doch aus purem „Doktrinarismus"? So lautet wiederum der Vorwurf des von der Entscheidung betroffenen Hellmut von Gerlach. Ihm zufolge hat bei den Marburger Sozialdemokraten die politische Unvernunft gesiegt, für die er gleich eine soziologische Erklärung parat hat: Die städtische, unter dem Einfluß Intellektueller19 stehende Parteibasis habe sich gegen die vernünftigere ländliche Basis hinweggesetzt, die im nationalsozialen Kandidaten sehr wohl das weitaus „kleinere Übel" gegenüber dem Konservativen von Pappenheim zu erkennen vermocht habe.20 Tatsächlich würde für Gerlach gerade aus sozialdemokratischer Sicht das sozialpolitische Argument sprechen, daß er im Wahlkampf als Gegner der ZolltarifVorlage und des Brotwuchertums aufgetreten ist. „Von Gerlach genoß Sympathien unter den Arbeitern."21 Ihm ist es mit der Zollfrage gelungen, das große Thema des Wahlkampfs zu besetzen, das, wie Michels in seinen Erinnerungen vermerkt, im Wahlkampf „alle Interessen in den Hintergrund" gedrängt und „alle Ideale zum Schweigen" gebracht habe.22 Angesichts dieser Konstellation ist zu erwarten, daß die sozialdemokratischen Wähler eine weitaus weniger eindeutige Meinung zur Frage der Wahlabstinenz haben werden, als dies der eindeutige Mehrheitsbeschluß in der Sektion nahezulegen scheint. In dieser Situation brüskiert die Marburger am 24. Juni 1903 ein Artikel im damals von Kurt Eisner herausgegebenen Zentralorgan der Partei „Vorwärts", der die Marburger Basis dazu aufruft, aus sozialpolitischen Gründen für von Gerlach zu stimmen. Damit nicht genug: Der SPD-Reichstagsabgeordnete Wolfgang Heine telegraphiert noch vor 17 Vgl. Michels, Unterströmung, S. 343f.; sowie Sven Weber, „Trotz unserer Minderheit hoffen wir zu siegen". Sozialdemokratie in Marburg-Biedenkopf von 1869-1914, Marburg 1994, S. 154ff. 18 Ein Abdruck der Resolution findet sich in Michels, Unterströmung, S. 344-45. Dort heißt es unter anderem: „Es ziemt sich nicht, daß Sozialdemokraten dem letzten Vertreter einer Gruppe in den Sattel helfen, die in das politische Leben mit der arroganten Verkündigung eingetreten ist, die Millionenpartei der Sozialdemokratie - ablösen zu wollen." Gerlach war als einziger der nationalsozialen Kandidaten in eine Stichwahl gekommen, alle anderen, auch Friedrich Naumann, waren schon vorher gescheitert. 19 Neben Robert Michels und seiner Frau Gisella formierten die Brüder Curt und Otto Thesing sowie der Tolstoi-Übersetzer Otto Buek die Gruppe der Jungen Akademiker" in der Marburger Sektion. (Michels, Unterströmung, S. 345-46). 20 Helmuth von Gerlach, Sozialdemokratische Irrungen und Wirrungen, in: Die Nation, Nr. 50, 1903, S. 790. 21 Vgl. Sven Weber, a.a.O., 155. 22 Michels, Unterströmung, S. 346.

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Drucklegung an den mit ihm befreundeten von Gerlach und setzt diesen von dem Wahlaufruf in Kenntnis. Von Gerlach kommt die Berliner Position propagandistisch sehr gelegen und er läßt in Marburg Extrablätter verteilen. Dieser Coup dürfte für von Gerlachs knappen Wahlsieg (7.815 zu 7.037 Stimmen) von ausschlaggebender Bedeutung sein, hat doch der sozialdemokratische Kandidat Paul Bader im ersten Wahlgang fast 1.500 Stimmen für sich verbuchen können, die nun zu einem großen Teil dem Nationalsozialen Kandidaten zugute kommen. Die ganze Affare provoziert aus zweierlei Gründen den Unmut der Marburger. Zum einen hat Michels zuvor das Stichwahlverhalten zur praktischen Überlebensfrage erklärt: Wenn von Gerlach der Einzug in den Reichstag gelinge, könnten die Nationalsozialen auf Jahre in Marburg die sozialpolitischen Themen besetzen und die SPD wäre hier zur Erfolgslosigkeit verdammt. In der Tat hat die Marburger SPD in den folgenden Jahren erhebliche Verluste hinnehmen müssen, während die Liberalen sich die Reichstagssitze gesichert haben. 23 Neben dem ethischen Prinzip des Antimilitarismus ist es also nicht weniger eine Erfolgsarithmetik des Politischen, die Michels den Standpunkt der Stimmenthaltung favorisieren läßt. Gegenüber von Gerlach äußert er in einem persönlichen Gespräch: „Wenn Sie gewählt werden, hat die Sozialdemokratie keine Aussicht, den Wahlkreis später zu erobern. Siegt dagegen der Reaktionär, so stehen unsere Chancen gut." 24 In derselben, weniger vom Standpunkt der Ethik als vielmehr vom Standpunkt des Erfolges argumentierenden Perspektive wird Michels übrigens in dem einzigen zeitgenössischen Artikel, in dem er kurz auf die Heine-Affare eingeht, feststellen, daß sich das sozialdemokratische Eintreten für die bürgerliche Linke in den Stichwahlen gar nicht bezahlt gemacht habe, da umgekehrt die Linksliberalen den sozialdemokratischen Stichwahlkandidaten ihre Unterstützung verweigert haben und der zweite Wahlgang somit für die SPD weitaus weniger erfolgreich verlaufen sei als der erste.25 Der zweite Punkt des Anstoßes, so Michels 1932, sei die Mißachtung demokratischer Regeln durch höhere Parteifunktionäre gewesen, die, ausgestattet mit der Machtfiille des höchsten Presseorgans der Partei den Münchener Parteitagsbeschluß durchbrochen und den Marburger Ortsverband bevormundet haben:

23 Hetscher, S. 111. 24 Vgl. Hellmut von Gerlach, Von Rechts nach Links, Zürich 1937, S. 173. Zit. n. Hetscher, S. 111. Es handelt sich bei von Gerlach übrigens um den späteren Pazifisten und kurzfristigen Leiter der „Weltbühne" nach der Inhaftierung Ossietzkys im Mai 1932. Von Gerlachs politischer Weg hat seinen Ausgangspunkt in konservativen und antisemitischen Positionen gehabt. Um 1903 noch Nationalsozialer mit den oben erwähnten Präferenzen für Flottenpolitik, ist es der Erste Weltkrieg gewesen, infolge dessen sich neben den linksliberalen bis radikaldemokratischen Positionen in seinem Denken nunmehr auch eine pazifistische Grundhaltung herausschält. Von Gerlach ist während des Krieges Befürworter eines Verständigungsfriedens und erkennt danach öffentlich die deutsche Kriegsschuld an. 1920 entgeht er knapp einem Mordanschlag. Vgl. Biographisches Lexikon zur Weimarer Republik, hg. v. Wolfgang Benz u. Hermann Grami, München 1988, S. 103-104. 25 Michels, La tattica dei socialisti tedeschi alle elezioni generali politiche, in: Avanguardia Socialista, anno II, Nr. 28, 5. Juli 1903, S. 1-2.

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„Das war Nicht-Beachtung eines Parteitagsbeschlusses und der Demokratie durch eine Gruppe von Machthabers die im Besitze der Leitung von Parteiorganen oder Reichstagsmandaten waren und sich auf diese Weise für berechtigt hielten, sich über die unbequemen Satzungen hinwegzusetzen."26 Der Konflikt verschärft sich, als wenige Wochen später wiederum im „Vorwärts" folgende Erklärung von Wolfgang Heine zu lesen ist, mit der er auf ein vorher eingesandtes Tadelsvotum der Marburger reagiert: „Der Grund des Lärms ist einfach, daß die Marburger Genossen, die für Stimmenthaltung votiert haben, fühlen, daß sie sich blamiert haben. Ich begreife, daß sie das ärgert, aber sie sollten, anstatt krankhaft nach einem Sündenbock zu suchen, die Schuld an ihrer peinlichen Lage bei sich selber finden und dankbar sein, wenn man sie davor bewahrt haben sollte, sich und die ganze Partei in weit höherem Grade dadurch zu blamieren, daß sie einem Reaktionär wirklich zu einem Reichstagssitz verholfen hätten."27 Jetzt schaltet sich auch der Parteivorsitzende in die Debatte ein. In einem Brief an Michels sieht August Bebel die Blamage ganz und gar nicht auf Seiten der Marburger, sondern bei Heine: „Nun ist das Techtel-Mechtel, das er mit Gerlach hat, offenbar und er ist blamirt."28 Die Marburger Genossen hätten sich dagegen „durchaus korrekt" verhalten. Nicht sie, sondern allenfalls die Münchner Resolution und den Parteitag könne man in diesem Fall angreifen, der 1902 eine Resolution angenommen habe, „die wenn sie auch den Liberalen noch so weit entgegenkam, nicht weit genug ihnen entgegenkam.'''' So Bebel, der in dem Schreiben allerdings auch bemerkt, daß es sich im Fall Gerlach nur um einen „halben Reaktionär" handele: „Gerlach ist für Flotten, Militär, Colonial und Weltpolitik wie sie bisher im Reich betrieben wurden, aber auch für Aufrechterhaltung des allgemeinen] Stimmrechts, Coalitionsrechts, Social-Reform etc. Also war er eine Nuance besser als sein Gegner. Aber eine solche Situation sah die Münchn[er] Resolution nicht vor und die Heine, Vollmar, Auer, die , Vorwärts'leute etc haben sie auch nicht vorgesehen, sonst war es ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit vor der Annahme der Resolution zu warnen oder ihre Abänderung zu beantragen. Das thaten sie nicht, sondern stimmten ihr zu".

26 Michels, Unterströmung, S. 347. 27 Vorwärts, 12.8.1903, zit. n. der Resolution 139 („Robert Michels und 24 Genossen") vom Dresdner Parteitag. Vgl. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten zu Dresden vom 13. bis 20. September 1903, Berlin 1903, Neudruck Osaka 1970, S. 134. 28 August Bebel in Zürich an Robert Michels in Marburg, 15. August 1903 (= Brief 119), in: August Bebel. Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. 9: Briefe 1899 bis 1913), Κ G Saur 1997, S. 57-59.

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Indem Bebel die Heine-Affäre und den „Vorwärts" in einem Atemzug mit den Namen Ignaz Auer und Georg von Vollmar nennt, stellt er die Affare in einen größeren ideologischen Zusammenhang: den Kampf gegen den „Revisionismus". Diesen auf die Tagesordnung zu setzen und mit einer möglichst einmütigen Resolution zu schlagen, ist das erklärte Ziel von Bebels Regie für den kommenden Parteitag. Die Ereignisse im Vorfeld der Marburger Stichwahlen dürften gut in Bebels antirevisionistisches Parteitagskonzept passen. Zumindest fordert er die Marburger zur Intervention auf und scheut sich auch nicht, ihnen seine Unterstützung anzubieten: „Und wenn in Dresden die Marburger Angelegenheit zur Sprache kommt, und ich möchte wünschen, daß die Marb[urger] Genossen Jemanden nach Dresden senden, der Haare auf den Zähnen hat, dann werde auch ich meine Meinung sehr unverhohlen sagen. Geben Sie dann dem betreffenden diesen Brief mit." 29 Es ist Robert Michels selbst, der als Marburger Delegierter in Dresden mit Heine die Klingen kreuzen soll. Im Gepäck hat er einen von „Robert Michels und 24 Genossen" unterschriebenen Antrag, der fordert, das Verhalten Heines zu mißbilligen, da dieser glaube, „daß die Marburger Genossen sich und die ganze Partei durch Befolgung eines Parteitagsbeschlusses ,blamiert' hätten", und die „Taktlosigkeit besessen hat, zu Gunsten eines ihm persönlich befreundeten politischen Gegners unsrer Partei [...] einzugreifen." 30 Insbesondere der , linke' Flügel der Partei ist bereit, Michels zu unterstützen. „Rosa Luxemburg, Arthur Stadthagen und Georg Ledebour hatten ihn einer nach dem anderen beiseite gezogen und ihm nahegelegt, das Mißtrauensvotum gegen die Revisionisten aufrechtzuerhalten" - auch wenn es strenggenommen ja nur ein Mißtrauensvotum gegen Heine ist, das aber in der strömungspolitischen Konstellation von 1903 unweigerlich in den Bahnen der Konfrontation von „Revolutionären" und „Revisionisten" verlaufen muß. 31 Welch eine Enttäuschung aber muß es für die Heine-Gegner und Antirevisionisten in Dresden sein, als Robert Michels - der unbeugsam-intransigente und hitzköpfig-romantische Revolutionär, als den er sich dreißig Jahre später in der Rückblende bezeichnet - seinen Antrag gegen Heine nach ein paar Bemerkungen zum Thema zurückzieht! Die Motive für Michels' Rückzieher sind nie geklärt worden. Die Begründung, die Michels selbst später für sein Handeln anführt, wird in jüngeren Arbeiten als völlig unbefriedigend abgelehnt, ist aber auch in der älteren Forschung bereits als „verwunderlich" bezeichnet worden. 32 In der Tat: in Michels' autobiographischer Nacherzählung

29 Brief von Bebel an Michels, a.a.O., S. 58. 30 Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zu Dresden 1903, Berlin 1903, S. 134-135. 31 Vgl. Michels, Unterströmung, S. 348. 32 Ferraris, Saggi, S. 32; Hetscher, S. 109, Röhrich 1972, S. 21. Auch Sven Weber, der in seiner Marburger SPD-Parteigeschichte Michels nur anläßlich der Stichwahlaffare behandelt und sich mit Michels persönlicher Entwicklung gar nicht beschäftigt, stellt angesichts der unten folgenden Erklärung fest, daß „diese schwach und daher unbefriedigend wirkt". Vgl. Sven Weber, a.a.O., S. 158.

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tut sich, gemessen an der in Anspruch genommen Position eines gesinnungsethischen Radikalismus, ein Widerspruch auf. Hören wir ihn selbst: „Es waren zwei Gründe, die mich zur Reserve bewogen. Es konnte mir, dem Jungen, nicht in den Sinn kommen, die Verantwortung für den Ausschluß33 so vieler hervorragender Männer zu tragen. Ferner aber auch sah ich das Ungeneröse, das darin gelegen haben würde, den nicht immer von persönlichen Motiven freien Haß, welchen die sogenannten Radikalen den ihnen im Durchschnitt geistig und an Bildung weit überlegenen Revisionisten entgegenbrachten, auszunützen, und sei es auch nur zu höheren Zwecken ,..".34 Bei dieser Erklärung, so selbstverklärend und - wie wir noch sehen werden - fragwürdig sie auch ist, handelt es sich ausnahmsweise nicht um eine Erfindung des späten Michels. Dieselbe Motivlage hat Michels bereits 1908 geltend gemacht, als er in einer Polemik mit Eduard Bernstein schreibt: „Die grossen Massen35 wären damals zu jedem Schlag bereit gewesen. Schreiber dieses stand so stark unter dem Eindruck dieses Fanatismus, dass er ein von ihm eingebrachtes Tadelsvotum gegen einen als Revisionisten bekannten Genossen zurückzog, weil er sich sagte, der Parteitag würde diesem Antrag zweifellos stattgeben, aber nur aus dem ganz unsachlichen Grunde der allgemeinen Erbitterung und Verbitterung gegen eine Gruppe von Genossen, es wäre also eine unnoble Tat, wollte man diese Stimmung blindlings ausnutzen."36 Von diesen beiden Erklärungen abgesehen gibt es keinerlei explizite Äußerung Robert Michels' zu seinem Antragsverhalten von Dresden. Bevor ich anhand des Parteitagsprotokolls zeigen werde, daß der reale Verlauf der Ereignisse im Widerspruch zu Michels' späterer Darstellung steht, möchte ich mich in einem Exkurs den beiden Textstücken von 1908 und 1932 zuwenden. Denn auch wenn sie alles andere als ein authentischer Ausdruck der Michelsschen Motive von 1903 sind, so verraten sie doch eine Menge über ein zentrales Problem der Geschichtsschreibung im allgemeinen und der MichelsForschung im besonderen: nämlich über die schöpferische Erfindung der Vergangenheit im Modus der autobiographischen Erinnerung.

33 Um einen „Ausschluß" geht es im Antrag 139 des Dresdner Parteitages gar nicht! 34 Michels, Unterströmung, S. 349. Michels sagt 1932, diese Sätze „damals" in sein Tagebuch geschrieben zu haben. Leider fand sich ein solches unter den persönlichen Notizbüchern des Turiner Archivs nicht. 35 Wohlgemerkt: es handelt sich hier um knapp 300 Parteitagsdelegierte. 36 R. Michels, Einige Randbemerkungen zum Problem der Demokratie. Eine Erwiderung, in: Sozialistische Monatshefte, 25. Heft, 17.12.1908, S. 1615-1621. Michels antwortet hier auf Eduard Bernstein, Die Demokratie in der Sozialdemokratie, in: Sozialistische Monatshefte, 18. u. 19. Heft, 3.9. 1908, S. 1106-1114.

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1.1.2. Die narrative Konstruktion der Lebensgeschichte Wenn alle Kommentatoren immer wieder bemerkt haben, daß Michels' Erklärung von 1932 unglaubhaft oder zumindest verwunderlich sei, dann liegt das u. a. auch an der Neigung des späten Michels zur Textmontage, ein Phänomen, das nicht nur für den autobiographischen Bericht von 1932 typisch ist, sondern auch viele andere Aufsätze charakterisiert. Sie erhalten oft durch die Kombination neuerer und älterer, oft vor Jahrzehnten geschriebener Passagen ein widersprüchliches Gepräge, das ihre Deutung äußerst schwierig macht. Denn die divergierenden Bedeutungsebenen und Erkenntnisinteressen aus den verschiedenen Schaffensperioden des Autors kollidieren miteinander. So auch in diesem Fall: inmitten der übrigen Selbstdeutungen von 1932 wirkt das Textstück von 1908 wie ein Fremdkörper. Einerseits nämlich sucht Michels 1932, sein frühes politisches Engagement in jener vitalistisch-dezisionistischen, gegen den Rationalen' Diskurs der Aufklärungsphilosophie gerichteten Tradition in der europäischen Geistesgeschichte seit der Jahrhundertwende zu verankern, die sich mit dem Namen Georges Sorels verbindet. Michels reklamiert so seine Teilhabe an der intellektuellen Vorgeschichte des Faschismus, als welche der revolutionäre Syndikalismus im Italien der zwanziger und dreißiger Jahre auch offiziell betrachtet wurde.37 Andererseits wird dieses Sturm-und-Drang-Motiv seiner autobiographischen Betrachtung durch das Selbstbild des besonnenen, verantwortungsbewußten, ja, sich seiner vermeintlichen Verantwortung für die Einheit der Partei bewußten38 Delegierten von Dresden durchbrochen, der den Primat der Sachlichkeit einfordert und den Überschwang kollektiver Leidenschaften in der politischen Debatte perhorresziert. Wir haben allerdings keinen Grund, die Erklärung von 1908 aufgrund ihrer größeren zeitlichen Nähe nun als authentisches Zeugnis der Michelsschen Handlungsmotive von 1903 zu akzeptieren und Michels' Selbstbild des verantwortungsbewußten Vernunftpolitikers zu übernehmen. In den fünf Jahren, die zwischen Dresden und dieser Erklärung liegen, hat sich viel verändert: Michels lebt als Privatdozent in Turin, er ist zwar noch passives Mitglied des PSI (bis 1909), aber nicht mehr der SPD. Michels hat, als er 1908 seine Parteitagserfahrungen von 1903 resümiert, bereits seinen Rückzug aus der Politik vollzogen.

37 Ferraris, Saggi, S. 7. 38 „das Schicksal der deutschen Sozialdemokratie und vielleicht noch mehr stand auf dem Spiele. [...] Es war vorauszusehen, daß in Anbetracht der Erregung, welche den Kongreß kennzeichnete, das Votum durchgegangen wäre; es war zum mindesten wahrscheinlich, daß dieses zum Bruch geführt haben würde" (Michels, Unterströmung, S. 348). Wenn bis heute kein Historiker der Arbeiterbewegung jemals darauf eingegangen ist, wie Robert Michels durch sein besonnenes Auftreten von 1903 die Einheit der SPD gerettet hat, dann liegt hier indes kein Versäumnis der Geschichtsschreibung vor. Die Zeilen legen allein Zeugnis ab von der maßlosen Selbstüberschätzung des Autobiographen. Die Rekonstruktion der Parteitagsereignisse (siehe unten) zeigt vielmehr, daß die Schlacht gegen den Revisionismus zum Zeitpunkt von Michels' Rede längst geschlagen war und Michels mit seinem Antrag schlicht zu spät gekommen ist.

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Es lohnt sich aber allein deshalb, einen Augenblick bei der Erklärung von 1908 zu verweilen, weil sie einen Befund der Erinnerungsforschung bestätigt und daher stellvertretend für viele andere autobiographische Zeugnisse das grundlegende Problem verdeutlicht, das die Benutzung von Memoiren für die Rekonstruktion historischer Ereignisse aufwirft: „Wahrnehmungen und Erinnerungen sind [...] datengestützte Erfindungen."39 Die Rede von „Erfindungen" imputiert der Erinnerung keinerlei Täuschungsabsicht die sie auch leiten kann - , sondern bezeichnet die gewissermaßen anthropologische' Strukturdeterminante allen Erinnerns: dadurch, daß die ,Daten' der Erinnerung nämlich in einem durch den Lauf der Zeit veränderten narrativen Kontext der Lebensgeschichte eines Autors Wiederaufleben, wird die Erinnerung durch das Erinnern immer auch in diese neuen Zusammenhänge eingebettet bzw. von diesen aus ,integriert'. Insbesondere der Erzählmodus der Kohärenz der Lebensfiihrung führt dazu, daß Vergangenes im Licht späterer Entwicklungen interpretiert und dabei aktiv verändert wird. Ereignisse bekommen dadurch neue Bedeutungen, die sie mitunter zum Zeitpunkt ihres Eintreffens gar nicht gehabt haben. Sie werden in der Erinnerung „überformt und verändert durch all die weiteren Erfahrungen, die der Beobachter seit der Ersterfahrung des Erinnerten gemacht hat."40 Nicht von ungefähr ist Michels' Erklärung von 1908 viel zu reflektiert, um als authentische ,Live-Aufnahme' seiner inneren Beweggründe vom September 1903 gewertet werden zu können. Vielmehr hat sie den Charakter eines persönlichen Rechenschaftsberichts, in dem der Autor seine Gesamthaltung zur Politik zu artikulieren versucht. Wie in jeder autobiographischen Betrachtung fließen auch hier in die Berichterstattung eines zurückliegenden Ereignisses Erfahrungen, Wissensbestände und Selbstdeutungen ein, die zum Zeitpunkt des Ereignisses selbst noch gar nicht vorlagen. Das wird schon an dem ,klassischen' Deutungsmuster deutlich, das Michels 1908 verwendet. Er verortet nämlich die Daten der Erinnerung auf dem bipolaren Feld von Sachlichkeit versus Emotion, von Geist versus Politik. „Dresden" wird in dem Textstück von 1908 zum Medium der Identitätsbildung des frischgebackenen Privatdozenten der Turiner Universität. Die Botschaft lautet: Ich bin zwar ein politischer Geist, aber ein Politiker, dessen Geschäft im Ausnutzen von Stimmungen besteht, bin ich nie gewesen. Das ist meine Distanz zur Politik. In anderen Worten: In seiner Begründung von 1908 unterstreicht Michels sein wenig zur Politik geeignetes intellektuelles Naturell. Denn wenn die Situationsdeutung vom allgemeinen Erregungszustand des Parteitages richtig ist, dann hat Michels ja in der Tat im September 1903 wider alle Regeln der politischen Erfolgsarithmetik die Chance in den Wind geschlagen, als gerade gescheiterter Reichstagskandidat und parteipolitisch weitgehend Unbekannter bereits im sechsten Monat seiner „Parteikarriere" mit einer Parteitagsmehrheit hinter sich auf die Titelseiten der

39 So der Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt a.M.: Wolf Singer, Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft: Eröftnungsvortrag des 43. Deutschen Historikertages, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.9.2000, Nr. 226. 40 Wolf Singer, a.a.O.

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Morgenblätter des folgenden Tages zu gelangen! Wohlgemerkt: wenn seine Situationsdeutung, die wir noch überprüfen müssen, stimmt... Gewiß gibt es einige Indizien, die eine Fremdheit des Sozialdemokraten Michels gegenüber dem politischen Betrieb von Anfang an bezeugen. Hier wäre nur daran zu erinnern, daß der junge Michels, bei allem .Realismus' in der Analyse und bei allem .Materialismus' in der Weltanschauung einem damit unvermittelten idealistischen politischen Handlungskonzept anhängt, das eine ganze Generation deutscher Bildungsbürger an der Faktizität der doch so .schmutzigen' Politik verzweifeln lassen sollte. Es handelt sich um sein eigentlich so sympathisches normatives Leitmotiv von der Versittlichung des politischen Streits: dem „freundschaftlichen Verkehr politischer Antipoden." 41 Nicht daß dieses Ideal von vornherein weltfern ist, aber seinen Platz im Leben hat es eher in der Gelehrtengeselligkeit oder in der Salonkultur (und selbst dort nicht immer). Die Übertragung dieses Geselligkeitsprinzips auf die Politik abstrahiert von den soziomoralischen Bedingungen des , freundschaftlichen' Austausche konfligierender Argumente und erleichtert gewiß nicht die Akzeptanz einer Massendemokratie, in der der Kampf um die Stimmen und Stimmungen der Mehrheit auf derart vornehme Umgangsformen nicht immer Rücksicht nehmen kann, weil das Bemühen um Unterscheidbarkeit und Sichtbarkeit auf der politischen Bühne nun einmal die rhetorische Polarisierung, selektive Wahrnehmung und gezielte Verzerrung der Position des politischen Konkurrenten erfordert. Idealistische Leitmotive wie die vom „freundschaftlichen Verkehr politischer Antipoden" müssen aber nicht zwingend in das Fahrwasser der Kulturkritik und Antipolitik geraten. Bei Michels hat sich das antipolitische Potential bildungsbürgerlicher Moralvorstellungen, d. h. ihr Umschlagen in antipolitisch-resignative Moralistik, erst im Zuge seines Rückzuges aus der Politik aktualisiert, im Zuge der Akademisierung seines Denkens. Das Deutungsmuster von Geist versus Politik finden wir erstmals in seiner Turiner Antrittsvorlesung Ende 1907. Dort nämlich, wo er in seinem Schlußwort eine Trennlinie zwischen dem „traurigen Schauspiel" der sozialen Kämpfe und dem „häßlichen Egoismus" der Interessengruppen einerseits und der „Wissenschaft" als „reinste und vornehmste Form der Kooperation" andererseits zieht, um sich persönlich mit großer Emphase auf die „vorurteilsfreie und gerechte Suche nach der Wahrheit"42 im vermeintlich interesselosen akademischen Diskurs zu begeben. Eben dies ist der narrative Kontext, in dem die Ereignisse von Dresden 1908 für Michels einen Sinn bekommen, den sie ganz sicher 1903 nicht gehabt haben. Beide Erklärungen, die Michels Jahre später für sein überraschendes Zurückziehen des Marburger Antrags gegen Wolfgang Heine gegeben hat, fallen somit in den Bereich der narrativen Konstruktion und Integration der persönlichen Lebensgeschichte. Für dieses literarische Genre ist es charakteristisch, daß dieselben Fakten zu unterschied41 R. Michels, Der Kaisergang und die Sozialdemokratie, in: Rheinische Zeitung, 12. Jg., Nr. 184, 13.8.1903. 42 R. Michels, Der Homo Oeconomicus und die Kooperation, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, XXIX. Band, 1909, S. 50-83 (= dt. Übs. der „Prolusione al Corso Libero di Economia Politica alla Reale Università di Torino", 1. Dezember 1908), S. 83.

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liehen Zeiten unterschiedlich gedeutet werden. 1908: der wahrheitssuchende Intellektuelle. 1932: der revolutionäre Dezisionist. Um dies letztere Selbstbild trotz der widersprüchlichen Textmontage durchhalten zu können, muß Michels freilich sein ganz und gar nicht umstürzlerisches oder radikales Parteitagsverhalten verklären, er muß dem Leser gegenüber das Zurückziehen des Marburger Antrags als besonders entschlossenes Handeln darstellen: „Mit der schwindelnden Schnelligkeit", fügt Michels nämlich 1932 hinzu, „mit der der entschlossene Mensch ernste Beschlüsse zu fassen und durchzufuhren pflegt, gerade wenn ihm zum Zaudern keine Zeit mehr zur Verfügung steht, hatte sich Michels in wenigen Sekunden ein Bild ergeben, von dem schon jeder einzelne Zug genügt haben würde, ihn von seinem Vorhaben Abstand nehmen zu lassen."43

1.2. Was geschah wirklich in Dresden? Nach dieser ersten .erinnerungstheoretisch' inspirierten Kritik der auf die Michels-Deutung der Vergangenheit ungemein einflußreichen autobiographischen Betrachtungen von 1932 wird der nächste Schritt der Dekonstruktion von Michels' Erinnerungen deren Faktizität selbst unter die Lupe nehmen. Es ist nämlich nicht nur so, daß die Motivationen, die Michels retrospektiv für sein Handeln angibt, auffällig das Selbstdeutungsinteresse des Autobiographen im jeweiligen lebensbiographischen Kontext bedienen. Das Szenario, das Michels von dem Dresdner Parteitag entwirft, um darin plausibel seine Motive einflechten zu können, verdreht auch die Tatsachen! Michels bedient sich einiger Elemente, die zweifellos den Dresdner Parteitag beherrscht haben und an die sich die Zeitgenossen auch später noch lebhaft erinnert haben werden: allen voran den Kampf gegen den „Revisionismus". Aber es ist die narrative Rekonstruktion dieser Elemente, die den tatsächlichen Ablauf der Dinge verfälscht. Michels schreibt 1932: „Nach der gleich am ersten Tage gehaltenen gewaltigen Anklagerede August Bebels gegen die Revisionisten, welche den Kongreß tief bewegt hatte, hatte Michels als nächster Redner die Fäden in der Hand. Wie die Dinge lagen, konnte es massenpsychologisch kaum zweifelhaft erscheinen, daß ein Tadelsvotum gegen Heine und den Vorwärts, welches die Reformisten als ganzes getroffen haben würde, angenommen worden wäre."44 Es bedarf keiner besonderen detektivischen Energien, sondern nur eines oberflächlichen Blicks in das Parteitagsprotokoll, um zu sehen, daß dieses „massenpsychologische"

43 Michels, Unterströmung, S. 349. 44 Michels, Unterströmung, S. 348 [m. Hvhbg.].

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Stimmungsbild allein deshalb in Zweifel zu ziehen ist, weil es die von Michels angeführte Chronologie der Ereignisse nie gegeben hat. Richtig ist zwar, daß Michels schon früh auf dem Parteitag - allerdings nicht am ersten Tag, sondern am zweiten Verhandlungstag nachmittags etwa kurz vor sechs - direkt im Anschluß an eine Rede Bebels zu Wort kommt. Falsch ist, daß Bebel zu diesem Zeitpunkt bereits seine Rede gegen den Revisionismus gehalten habe, und ebenso falsch ist Michels' Behauptung, er habe sich in dieser ersten Wortmeldung zum Antrag der Marburger gegen Heine geäußert. Die Marburger Angelegenheit gegen Heine wird von Michels erst am sechsten Verhandlungstag vorgetragen - und zwar nach der Abstimmung über die Parteitagsresolution von Kautsky und Bebel, und damit eben nicht im unmittelbaren Anschluß an die berühmt-berüchtigte Rede gegen den Revisionismus, die Bebel bereits zwei Tage vorher, am vierten Verhandlungstag, gehalten hat. Die Separierung des Antrages 139 (Michels) von der Beschlußfassung über den Revisionismus geht dabei auf eine persönliche Übereinkunft zwischen dem Parteitagsvorsitzenden Paul Singer und Wolfgang Heine zurück.45 D. h., ganz im Gegensatz zu Michels' Ausführungen von 1932 hat die sozialdemokratische Parteitagsregie während der Dresdner Konferenz einen neuen Zuschnitt der Tagesordnung vorgenommen, der eher dazu angetan war, eine ,emotionale' Verquickung des Antrages gegen Heine mit der Abstimmung über den Revisionismus zu vermeiden! Dieser zunächst nur formalen Beobachtung entspricht aber auch inhaltlich eine neue Dramaturgie der Ereignisse, die ich nun in vier Momentaufnahmen einfangen werde. Dabei werden erstmals Robert Michels' gesamte Parteitagsaktivitäten einschließlich seines Abstimmungsverhaltens unter die Lupe genommen. Die Synopse der vier Momentaufnahmen wird ergeben, daß Michels' Verhalten von 1903 alles andere als ,gesinnungsethisch' zu bewerten ist, sondern vielmehr eine auffällige Kompatibilität mit der Bebeischen Parteitagsregie aufweist. En passant werden wir dabei auch den letzten, vermeintlich .wahren' Kern von Michels' Altersaufsatz über die Heine-Affäre von 1932 ins Reich der Fabeln verweisen: seine Position in der Stichwahlfrage. Die Parteitagsresolution von München war für Michels nie der unumstößliche Maßstab, als den er sie später ausgegeben hat, sondern ist von ihm selbst zeitgleich mit der Eskalation der Heine-Affare zur Disposition gestellt worden!

1.2.1. Der „Fall Bernhard" und die , Akademiker-Frage" Michels' erster Beitrag auf dem Parteitag - und sein einziger im Anschluß an eine Rede August Bebels - steht im Kontext einer Debatte, die die ersten drei Tage des Parteitages ausfüllt. Es geht um die „Mitarbeit an bürgerlichen Blättern". Anlaß der Diskussion ist der „Fall Bernhard".

45 Vgl. Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zu Dresden 1903, Berlin 1903, S. 414 u. 417.

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Im Januar 1903 hatte der Sozialdemokrat Dr. Georg Bernhard - der akademische Titel ist in diesem Fall von besonderer Bedeutung - ausgerechnet in Maximilian Hardens46 Zeitschrift „Zukunft" einen Artikel über „Parteimoral" veröffentlicht. Auch wenn Bernhard nicht über eine bestimmte, sondern über Parteipolitik im allgemeinen schreiben wollte, wurden seine Aussagen als eine Art Insiderbericht aus der SPD gewertet. In Anbetracht dieses Rezeptionsverhaltens der Öffentlichkeit, war Bernhards Aufsatz aus Sicht der Parteiführung skandalös und verräterisch: Bernhard hatte nämlich erklärt, daß die Parteiführer „im engen Kreise" zu Urteilen und Entscheidungen kommen, über die sie dann öffentlich ganz anders reden. Er hatte dies im übrigen ohne Tadel, nämlich als unumstößliche, den Erfordernissen der Politik inhärente Tatsache vorgetragen und mit dem Kompetenzgefálle zwischen Führern und Basis begründet: Der Parteiführer „bedenkt nur, daß die Parteigänger eben erst aus der Masse kamen und die Spur solcher Herkunft noch an sich tragen; mit vollem Bewußtsein richtet er darnach sein Reden und sein Verschweigen. Auch unreifen Kindern verschweigen Eltern und Lehrer manches, schildern sie, schon um es zu vereinfachen, manches anders, als sie es in der Wirklichkeit sehen, und niemand schilt sie deshalb Lügner. Der politische Pädagoge muß damit rechnen, daß die Mehrheit seiner Parteiherde noch in den vom Massenempfinden geschaffenen Vorstellungen lebt, in einem Kindheitsstadium, und daß diese Mehrheit für den Kampf nicht zu entbehren ist."47 Im polemischen Kontext der Zeit drohte Bernhards paternalistische Betrachtung ausgerechnet jenen bürgerlichen Kritikern der SPD in die Hände zu spielen, die den Arbeiterführern seit Jahren vorwarfen, die Inkompetenz der politisch unreifen ,Massen' demagogisch auszuschlachten. Andererseits hätte die Partei auch allen Anlaß gehabt, über die vermeintliche ,Nestbeschmutzung' durch den weitgehend unbekannten48 Genossen Bernhard souverän hinwegzugehen und sich den politischen Konsequenzen aus ihrem überwältigenden Wahlerfolg vom Sommer zu widmen. Statt dessen aber sollte der „Fall Bernhard" einen weltanschaulichen Parteitagsfundamentalismus hervorrufen: drei Tage lang haben die Delegierten in Dresden nichts Besseres zu tun, als sich ihre

46 Harden war einer der einflußreichsten Publizisten des Kaiserreiches. Seine Kritiken des Hofstaates um Wilhelm II. führten sogar zu einer Regierungskrise, als Harden dem kaiserlichen Kreis homosexuelle Neigungen vorwarf. Auf der anderen Seite war Harden dezidierter Antisozialist. Die Sozialdemokraten pflegte er als „rote Primadonnen" zu bezeichnen. 47 Zit. nach der Kontrareplik der Redaktion der „Neuen Zeit", deren Autor vermutlich Kautsky ist, auf eine Replik Bernhards anläßlich des Streits um seinen Aufsatz in der „Zukunft". Vgl. Georg Bernhard, Parteimoral, in: Neue Zeit, Nr. 19, 21. Jg., Bd. 1, 7. Februar 1903, S. 602-606. 48 Bernhard sollte einige Jahre später die SPD verlassen und als linksliberaler Publizist in der Wiemarer Republik Karriere machen. 1933 landen Bernhards Publikationen auf dem Scheiterhaufen der Bücherverbrennung. Die Flucht fuhrt ihn in die USA, wo er 1944 weithin vergessen stirbt. Vgl. Johannes Mikuteit, Georg Bernhard (1875-1944): e. dt. Journalist in Presse und Politik vor dem Ersten Weltkrieg, Frankfurt (Oder): Univ., Diss., 1998, Mikrofiches.

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publizistischen Sünden aus der Vergangenheit vorzuhalten. Unter anderem werden dabei auch alte Aufsätze des Parteihistorikers Mehring aus seiner vorsozialdemokratischen Zeit diskutiert. Die Erörterung der „Mitarbeit an bürgerlichen Blättern" bringt dabei durchgängig das Verhältnis der Partei gegenüber ihren Intellektuellen und bürgerlichen Renegaten auf den Begriff. Kautsky etwa steht nicht an, in seiner Rede das „gesunde Mißtrauen" gegen die bürgerlichen Intellektuellen zum politischen „Prinzip" zu erklären. Der Antrag 120 bringt dieses Mißtrauen besonders klar zum Ausdruck und fordert, „die Partei nicht als Versorgungsanstalt von verkrachten bürgerlichen Elementen ausnutzen zu lassen und das zu große Anwachsen der Akademiker in der Partei zu verhindern." 49 Kautsky, seines Zeichens der Chefideologe der Partei, unterstützt diese Position, als er fordert: „Ich bin nicht dafür, daß man unbesehen jeden Doktor, der zu uns kommt, mit Hosianna begrüßt (Sehr gut!) und ihn vorzieht alten erfahrenen Genossen [...] Ich bin der Meinung, daß Akademiker, die zu uns kommen, eine Karenzzeit durchmachen sollten. (Sehr gut!)." 50 Und bezogen auf den Vorwurf, die von der Parteiführung in ihrem Antrag (7) gebotene Einschränkung der Mitarbeit an bürgerlichen Blättern sei ein Angriff auf die Meinungsfreiheit, der wohl auf die Etablierung einer „Index-Kongregation" (Heinrich Braun 51 ) hinauslaufen solle, bemerkt Kautsky geradezu in ,Newspeak'Manier: „Nein, es handelt sich nicht um eine Frage der Meinungsfreiheit, sondern um eine Frage der öffentlichen Reinlichkeit." 52 Robert Michels, der zu diesem Zeitpunkt ständiger Mitarbeiter der bürgerlichen Blätter' „Riforma Sociale" und „Ethische Kultur" ist, dürfte sich während der ersten drei Tage gleich mehrmals angesprochen fühlen. Verkündet doch der Delegierte Carl Ulrich unter lauter Zustimmung: „Ich bedauere es stets, wenn irgend ein junger Akademiker, ein Doktor, den man in der Partei noch gar nicht kennt, irgendwo als Kandidat aufgestellt wird." 53 Ähnlich Max Quarck, seines Zeichens „Dr.": „Ein Akademiker, der zu uns kommt, hat sich zunächst ganz still in Reih' und Glied zu stellen und in den schwierigsten Positionen mitzukämpfen. (Bravo!)". 54 In dieses Horn stößt auch Bebel: „seht Euch jeden Parteigenossen an, aber wenn es ein Akademiker ist oder ein Intellektueller, dann seht ihn Euch doppelt und dreifach an. (Stürmischer Beifall.)." Bebels Strategie ist es, den durch die mehrtägige Debatte völlig überdimensionierten Tagesordnungspunkt der „Mitarbeit an bürgerlichen Blättern" zum Probelauf auf den eigentlichen Schwerpunkt des Parteitages, die noch folgende Revisionismusdebatte, zu machen:

49 Vgl. Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zu Dresden 1903, Berlin 1903, S. 131-132. 50 Protokoll Dresden 1903, S. 174. 51 Protokoll 1903, S. 164. 52 Protokoll 1903, S. 173. 53 Das nämlich „bedeutet einen Mangel an Selbstbewußtsein der Genossen". Protokoll, S. 196. 54 Protokoll, S. 199.

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„Ich sagte mir, als ich ihn [Bernhards Aufsatz] las: es ist nicht Bernhard allein, der diese gefahrlichen, niederträchtigen Grundsätze über Parteimoral anerkennt, ich vermute, es giebt noch andere Leute in der Partei, die sie teilen, aber für sie trifft das Wort zu, das Auer in Hannover von Bernstein sagte: ,Lieber Ede, so was tut man - in diesem Falle denkt man - aber man sagt es nicht! V' 55 Bebel zufolge hat der mit dreißig Jahren noch sehr junge und in der Partei eigentlich völlig unbedeutende Bernhard mit seinem Aufsatz den aktuellsten Nachweis für das Vorhandensein unorthodoxer Strömungen abgeliefert, die im Verlauf der „letzten zehn Jahre" die „Einheit der Grundsätze und Überzeugungen" zu unterminieren begonnen haben. Allein deshalb scheint es Bebel nun opportun, an Bernhard ein Exempel zu statuieren und den Anwesenden einen Vorgeschmack davon zu geben, wie mit derartigen Masse-Führer-Kritiken, zumal wenn sie auf den Foren des Klassenfeindes veröffentlicht werden, zu verfahren sei. Bernhard muß nicht nur vor dem versammelten Plenum des Parteitages auf Aufforderung Bebels mit einem lauten „Nein" jeglicher zukünftiger Mitarbeit an Hardens Zeitschrift abschwören. Bebel macht auch deutlich, nachdem er vor aller Augen Bernhards Artikel seziert und dem Verfasser seine Entschuldigung dafür als »Armutszeugnis" um die Ohren gehauen hat, daß solche Aufsätze normalerweise ein Parteiausschlußverfahren nach sich ziehen.56 Der Fall Bernhard ist für den Fall Michels von erheblicher Bedeutung, unterstreicht er doch, wie sehr das sozialdemokratische Milieu mit seinem idealen Gesamtrepräsentanten August Bebel von seinen Intellektuellen Selbstdisziplinierung im Umgang mit dem geschriebenen Wort erwartet und wie es beim Überschreiten gewisser Grenzen der innerparteilichen Kritik wie auch beim Überschreiten gewisser Demarkationslinien im bürgerlichen Feindesland zu Disziplinarstrafen neigt. Die klassenkämpferische Normierung der Meinungsäußerung ergibt sich freilich aus einer geradezu militärischen Lageeinschätzung der Partei, gegen „eine ganze Welt von Feinden" (Bebel) zu stehen und daher erst recht die Reihen fest schließen zu müssen: „Ohne Einheit der Grundsätze und Überzeugungen, ohne Einheit der Ziele keine Einigkeit und keine Begeisterung für den Kampf (Sehr richtig!), keine Möglichkeit, die Regimenter, Brigaden und Armeekorps ins Gefecht zu bringen." Bebel meint mit den „Regimentern" die eigene Partei. Es dürfte vor allem der Erfahrung dieses für die Sozialdemokratie des Kaiserreiches typischen Festungsdenkens geschuldet sein, wenn Robert Michels einige Jahre später den generellen Schluß ziehen wird, daß die „moderne demokratische Partei" schlechthin eine „kriegführende Partei" sei und in ihrem Aufbau wie in ihrer Taktik zentrale Charakteristika mit der modernen Heeresorganisation gemeinsam habe.57 Als Michels dies schreibt, wird er mit seiner Vision, der Partei als kritischer Intellektueller dienen zu 55 Protokoll, S. 227. 56 „Wer solche Sätze aufstellt, der kann von rechtswegen nicht länger zur Partei gehören. (Sehr richtig! Und stürmischer Beifall)". Vgl. Protokoll, S. 228, wo Bebel auch hinzufugt, daß er selbst vorhatte, den Parteiausschluß Bernhards zu beantragen. 57 Soziologie des Parteiwesens, S. 38ff.

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können, allerdings längst gescheitert sein, unter anderem, weil er hinsichtlich der tatsächlichen „Parteimoral" zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommen sollte wie Georg Bernhard im besagten „Zukunft"-Artikel.58 1903 dagegen ist Michels, anders als bestimmte Äußerungen in seinem autobiographischen Aufsatz von 1932 nahelegen,59 von einer oligarchietheoretischen und massenpsychologischen Kritik der Partei, wie sie in Bernhards Darstellung der „Massen-Inkompetenz und der damit korrespondierenden „Führer"-Moral anklingt, weit entfernt. Als er das Wort ergreift, äußert er sich weder zu Bernhards Thesen noch zu dem Antrag 139 gegen Heine, sondern, was auch naheliegt, zum Tagesordnungspunkt der „Mitarbeit an bürgerlichen Blättern". Bebel hat diesbezüglich kurz zuvor dem Parteitag die Annahme des Antrags 7 des Parteivorstandes empfohlen, der nicht unumstritten ist, hat doch mancher Redner ihn als Angriff auf die Meinungsfreiheit und haben ihn andere wiederum als viel zu elastisch und dritte als praktisch nicht durchsetzbar kritisiert. Dem Antrag zufolge soll es Parteigenossen untersagt sein, an „bürgerlichen Preßunternehmungen" mitzuarbeiten, „in denen an der sozialdemokratischen Partei gehässige oder hämische Kritik geübt wird." An allen anderen Zeitschriften, wobei, wie sich in der Debatte zeigt, die Parteiführung an „wissenschaftliche" Publikationsorgane denkt, soll die Mitarbeiterschaft oder auch Anstellung als Redakteur gestattet sein. Allerdings empfiehlt der Antrag, den in solchen Stellungen befindlichen Genossen keine Parteiämter anzuvertrauen.60 Wer vermutet, daß die Akademikerdebatte, insbesondere die Polemiken gegen die , jungen Doktoren", Robert Michels - mit 27 Jahren obendrein der jüngste Delegierte in Dresden - , verunsichert haben müßte,61 täuscht sich jedoch. Michels' Antrag ist ja noch längst nicht aufgerufen worden, er meldet sich spontan und freiwillig in der Akademikerdebatte zu Wort. Das Podium des Parteitages dürfte Michels durchaus selbstsicher betreten haben: als er in den „langanhaltenden Beifall" (Protokoll) nach Bebels Rede hinein sprechen muß, nutzt er dies zu einer humorvollen Bemerkung über die rhetori-

58 Vgl. Michels' Aufsätze zu den Parteitagen von Jena und Mannheim im Mouvement Socialiste in den Kapiteln: „Autoritarismus in demokratischer Form" und „Probelauf für den Weltkrieg". 59 Vgl. Michels, Unterströmung, S. 347. 60 Vgl. Antrag 7 (Parteivorstand), Protokoll, Seite 117-118: „1. Kann es mit den Interessen der Partei für vereinbar erachtet werden, daß Parteigenossen als Redakteure und Mitarbeiter an bürgerlichen Preßunternehmungen tätig sind, in denen an der sozialdemokratischen Partei gehässige oder hämische Kritik geübt wird? Antwort: Nein! 2. Kann ein Parteigenosse Redakteur oder Mitarbeiter eines bürgerlichen Blattes sein, auf welches obige Voraussetzung nicht zutrifft? Diese Frage ist zu bejahen, soweit Stellungen in Betracht kommen, in denen der Parteigenosse nicht genötigt wird, gegen die sozialdemokratische Partei zu schreiben oder gegen dieselbe gerichtete Angriffe aufzunehmen. Im Interesse der Partei sowohl wie im Interesse der in solchen Stellungen befindlichen Parteigenossen liegt es jedoch, daß den letzteren keine Vertrauensstellungen übertragen werden, weil solche sie früher oder später in Konflikt mit sich und der Partei bringen müssen." 61 Hetscher, S. 112, spricht von einer „prekären Lage" für Michels und zieht diese als Begründung dafür heran, daß Michels vier Tage später (!) den Antrag gegen Heine zurückzieht.

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sehen Qualitäten des Vorredners.62 Und inhaltlich münden seine Ausführungen zur Resolution des Parteivorstandes in ein klares Bekenntnis zur ,orthodoxen' Taktik: „Auch ich bin ein sogenannter Akademiker, aber weil ich es bin, stehe ich vollständig auf dem Standpunkt Hoffmanns, 63 Kautskys und Bebels.64"65 Gemessen an der polemisch-ideologischen Struktur der damaligen innerparteilichen Debatte ist dies ein Schlüsselsatz. Michels, der für die meisten Delegierten noch unbekannte Genösse aus Marburg, hat sich damit selbst positioniert, und zwar weniger in der konkreten Frage, welche Kontakte Sozialdemokraten mit der bürgerlichen Presse pflegen dürfen, sondern vielmehr darüber hinaus. Die Selbstzuordnung zu Kautsky und Bebel ist Ausdruck eines Grundkonsenses mit der Revolutionären' Linie. Diese Deutung scheint mir um so mehr zutreffend zu sein, als Michels' Ausführungen zum Antrag 7 des Parteivorstandes im einzelnen differenzierend, skeptisch und abweichend sind. Michels betont nämlich die Schwierigkeit einer klaren Normvorgabe im Umgang mit der bürgerlichen Presse und schlägt vor, es wie bisher dabei zu belassen, publizistisches Fehlverhalten von Parteigenossen auf den Parteitagen zu erörtern. Darüberhinaus verteidigt er sogar die punktuelle Mitarbeit an bürgerlichen Zeitschriften, wenn diese sich etwa „dem Kampfe gegen Einzelerscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft widmen, ζ. B. die Suprematie der Männer gegen die brutalen Anmaßungen der Gesellschaft vom ethischen Standpunkt aus bekämpfen". Auch die Möglichkeiten einer „Bekehrung zum Sozialismus durch Artikel in bürgerlichen Blättern" beurteilt Michels keineswegs so negativ wie seine Vorredner: Der Sozialismus werde dort nämlich zuweilen auch „unfreiwillig" propagiert, was Michels anhand seiner eigenen „Bekehrung" als Militärdienstleistender durch die Berichte der konservativen Presse über Bebels Reichstagsreden illustriert.66 In seinem Schlußwort bringt Michels außerdem ein gewisses Unbehagen angesichts der mehrtägigen Debatte zum Ausdruck. Implizit gegen eine Aussage Kautskys gerichtet,67 heißt es dort:

62 „Ich habe die Befürchtung, daß nach den schwerwiegenden Worten Bebels, die mit so jugendlichem Feuer, in so ergreifender Weise vorgetragen wurden, meine Ausführungen Ihnen senil erscheinen werden" (Protokoll, S. 229). 63 Auch Hoffmann hatte sich wie Kautsky dafür ausgeprochen, Akademikern erst nach einer „Karenzzeit" Parteiämter zu übertragen. Vgl. Protokoll, S. 183. 64 Zur Position Bebels ist hier der Vollständigkeit halber zu ergänzen: „Wir brauchen die Intelligenz der Akademiker und Intellektuellen". Allerdings ständen diese um so mehr in der Pflicht, „sich bei den Proletariern zu informieren, wie diese Massen denken, wie sie fühlen und was sie wollen" (Protokoll, S. 225). 65 „Auch mir imponieren parteigenössische Organisationen nicht, die einen bisher uns feindlich Gesinnten, der noch vor kurzem in Offiziersuniform stramm ,Helm ab zum Gebet!' kommandiert hat, sofort aufnehmen und auf Ehrenstellen berufen." (Protokoll, S. 229). 66 „Als ich noch auf der Kriegsschule zu Hannover war, las ich in der ,Post' und der ,Kreuz-Zeitung' die Bebeischen Reden. Sie waren beschnitten, aber sie veranlaßten mich doch, mich mit der sozialistischen Literatur zu befassen, die mich schließlich denn zu dem machte, was ich bin." (Protokoll, S. 229). 67 Vgl. Kautskys Beitrag zur „Mehring-Debatte": „Ich stand damals Mehring sehr mißtrauisch gegenüber, es ist ein Prinzip von mir, dem manche von ihnen mehr huldigen sollten, das Mißtrauen

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„Das Mißtrauen, ist gesagt worden, sollte eigentlich Punkt 1 unserer Parteivorschriften sein. Das halte ich für falsch. Beherrscht uns nicht alle ein einziger Gedanke? Ist nicht jeder in irgend einem Momente seines Lebens mit Opfern in die Partei eingetreten? Und das Resultat sollte Mißtrauen sein? Mißtrauen lähmt die Arbeitskraft und den Mut und bringt uns soweit, in persönlichen Fragen aufzugehen, wo wir das Endziel vor Augen haben sollten. Mißtrauen ist würdig einer Sekte, nicht aber einer großen Partei."68 Trotz dieses Einwands gegen die Form der Auseinandersetzung und trotz seiner offensichtlichen Skepsis gegenüber dem Vorhaben der Parteiführung, eine .Mitarbeit an bürgerlichen Blättern' durch einen Verhaltenskodex zu reglementieren, votiert Michels in der anschließenden namentlichen Abstimmung für den Antrag 7 der Parteiführung, der mit 283 gegen 24 Stimmen bei vier Enthaltungen angenommen wird. Allerdings unter einem kleinen Vorbehalt: „Block, Haenisch, Michels, Katzenstein und Gradnauer geben schriftlich zu Protokoll die Erklärung, daß sie für den Antrag gestimmt haben, obgleich sie mit seiner Fassung im einzelnen nicht einverstanden seien".69 Diese Einschränkung ist für das Ergebnis bedeutungslos: Die Parteiführung hat für ihren Antrag, der ja im damaligen Selbstverständnis für eine ,orthodoxe' Linie der sozialdemokratischen Klassenpartei steht, eine überwältigende Mehrheit erhalten und darf nach diesem Probelauf für die noch anstehende Resolution 130 gegen die „revisionistischen Bestrebungen" guter Hoffnung sein. Diese taktische Maßgabe der Bebeischen Parteitagsregie dürfte auch ausschlaggebend für Michels' Zustimmung zum parteiinternen Pressegesetz' sein. Denn gemessen an seinen inhaltlichen Vorbehalten wäre wenigstens eine Enthaltung von ihm zu erwarten . Seine ostentative Positionierung auf dem „Standpunkt Hoffmanns, Kautskys und Bebels" und sein Bekenntnis zur ideologischen Duftmarke des „Endziels" am Ende seiner Rede aber sind deutliche Signale, daß Michels den über die praktische Frage der „Mitarbeit" hinausgehenden parteitaktischen Sinn des Antrages im Blick hat, als er für ihn stimmt. Im September 1903 dürfte sich Michels im sozialdemokratischen Parteimilieu eher gut akklimatisiert haben als sich in ihm - wie er 1932 suggeriert - von Anfang an fremd gefühlt zu haben. Dafür spricht ein weiteres Indiz vom Dresdner Parteitag, eines, das uns zeigt, daß Michels nicht nur bereit ist, den taktischen Vorgaben der Führung Folge zu leisten, sondern daß er sich auch pragmatischen Abweichungen vom .Prinzip' keineswegs a priori in den Weg stellt. Es findet sich am dritten Verhandlungstag in der

gegen jeden, der von den bürgerlichen Parteien zu uns kommt und früher gegen uns gekämpft hat. (Sehr richtig!)" (Protokoll, S. 174). 68 Protokoll, S. 229. In seinem autobiographischen Bericht von 1932 hat Michels nur dieses Schlußwort annähernd korrekt wiedergegeben: er „endete, sich selbst ziemlich unverhofft [sie] und unter dem lebendigen Impuls, die schwere heiße Luft durchbrechen zu müssen, mit einem Appell gegen das alles Leben ertötende Mißtrauen, d. h. also mit einem Appell an die Einheit und Brüderlichkeit." (Unterströmung, S. 349). 69 Protokoll, S. 264.

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IV. Am Krankenbett des Proletariats

Debatte über die „Differenzen zwischen Bebel und dem ,Vorwärts' Marburger Stichwahlaffare kurz andiskutiert wird.

wo erstmals die

1.2.2. Die Marburger Stichwahlaffare als innerparteilicher Betriebsunfall Anlaß des Streitpunktes ist der Umstand, daß der ,Vorwärts' sich in den Wochen vor dem Parteitag weigert, zwei Erklärungen von August Bebel abzudrucken, die dann erst nach Anrufung der sozialdemokratischen „Preßkommission" erscheinen können. Die Redaktion um Kurt Eisner, die ja federführend' mit zwei Artikeln die Marburger Affäre provoziert und angeheizt hat, stößt sich u. a. an Bebels „Bemerkungen gegen Heine wegen der Marburger Stichwahl".70 Bebels Ausführungen vor dem Parteitag liefern uns einen letzten Mosaikstein zur StichwahlafFäre, der unser Wissen darüber nicht nur komplettiert, sondern auch völlig neue Konsequenzen für die Bewertung dieser Affare hat. Gleich am Tag nach den Wahlen vom 16. Juni, so Bebel, habe der Parteivorstand die peinliche Lage erkannt, in der sich die Partei nach Bekanntgabe der Stichwahlkandidaten befand: die bindende Münchener Resolution versagte angesichts einer Konstellation, in der sich eine Reihe von „Freisinnigen" mit konservativen „Bauernbündlern, mit unseren zollwütigsten Gegnern" messen mußten. „Nach der Münchener Resolution hätten wir dem kleineren Uebel" - d. h. den Liberalen, die immerhin für das allgemeine Wahlrecht und gegen den Brotwucher eintraten - „die Unterstützung versagen müssen. Damit hätten wir es darauf ankommen lassen müssen, daß das größere Uebel, das nach jeder Richtung hin schlimmer ist, gewählt wird". Hin- und hergerissen zwischen dem Münchner Beschluß und den schädlichen Folgen, die seine Befolgung haben würde, habe der Vorstand dann beschlossen, „daß eine offizielle Erklärung nicht abgegeben werden könne, daß aber auf offiziösem Wege den Parteigenossen ein Wink gegeben werden sollte, wie sie sich verhalten sollten" - nämlich, in der angegebenen Konstellation der zwei „Uebel", aktiv für eine Stimmabgabe zugunsten der liberalen Kandidaten einzutreten, auch wenn diese neue Militärvorlagen unterstützten! Trotz der zu erwartenden Beschwerden gegen diese der Münchner Resolution zuwiderlaufenden Revision der Taktik sei man insgesamt der Ansicht gewesen, daß der kommende Parteitag für diesen politisch vorteilhafteren Weg dem Vorstand die Absolution erteilen würde. Von dieser Entscheidung des Vorstandes hätten allerdings weder die Marburger etwas gewußt noch Wilhelm Pfannkuch, Leiter des Parteibüros, der am selben Tag eine Anfrage der Marburger SPD erhalten und nach offizieller Aktenlage beschieden habe, daß die Anwendung der Münchner Resolution in den Stichwahlen rechtens sei. Wenn wir Bebel, dessen Darstellung in Dresden unwidersprochen bleibt, Glauben schenken wollen, ist die Marburger Affäre zunächst ein .Betriebsunfall' gewesen und Mängeln in der Kommunikation auf der Führungsebene sowie dem Zeitdruck zuzuschreiben, unter dem sich verschiedene Entscheidungen, die in Marburg und die in Berlin, überschnitten haben. Mit der Intervention des „Vorwärts" und dem Telegramm

70 Protokoll, S. 267.

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von Heine an seinen alten Bekannten von Gerlach sowie schließlich Heines „hochfahrendem Ton" gegenüber den Marburgern aber hat der Betriebsunfall eine neue Dynamik bekommen und ist aus ihm ein Streit ums Prinzip geworden: „Darf man sich wundern, daß die Marburger darüber ganz außer sich gerieten? Sie lesen am nächsten Tag die Depesche Heines, während sie die gegenteilige Erklärung des Parteisekretärs Pfannkuch erhalten hatten." Für diese Rekonstruktion der Ereignisse durch Bebel spricht nicht zuletzt die Aussage eines Hauptprotagonisten der Affäre, Robert Michels, der in einem Brief an Bebel erklärt hat: ,Ja, wenn wir rechtzeitig von der Entscheidung des Vorstandes unterrichtet worden wären, hätten wir auch so gehandelt. "71 - Man reibt sich verwundert die Augen. Glaubte man doch, daß an Michels' autobiographischem Bericht von 1932 wenigstens eines richtig gewesen sei: sein gesinnungsfiindamentalistisches Eintreten für den demokratischen Parteitagsbeschluß von München, sein jugendliches Rebellentum gegen eine „Gruppe von Machthabern, die im Besitze der Leitung von Parteiorganen und Reichstagsmandaten waren und sich auf diese Weise für berechtigt hielten, sich über die unbequemen Satzungen hinwegzusetzen".72 Und nun lesen wir: Ein „Wink" - des Parteivorstandes - und die Resolution von München hätte sofort ad acta gelegt werden können; die Marburger wären bereit gewesen, sich der vom Vorstand „auf offiziösem Wege" (Bebel), d. h. informell vorgegebenen neuen Taktik anzupassen! Ein rechtzeitig informierter Parteisekretär Pfannkuch - und eine Fehde zwischen Marburg und dem Vorwärts, zwischen Michels und Heine hätte es gar nicht gegeben! 73

71 Bebel referiert diese Antwort von Michels in seinem Hintergrundbericht zur Marburger Affare. Vgl. Protokoll, S. 268 (meine Hervorhebung). Da Michels weder hier noch in seiner Erklärung am sechsten Verhandlungstag Bebels Darstellung widerspricht, akzeptiere ich diesen von Bebel referierten Satz als Michels' authentische Aussage. Bebel selbst zitiert diesen Satz aus einem Brief von Michels bezeichnenderweise deshalb, weil dieser Satz „charakteristisch für die richtige Beurteilung des Falles" sei (ebd., S. 268). 72 Michels, Unterströmung, S. 347. 73 Im übrigen belegt auch Michels' Publizistik zur selben Zeit, daß für ihn zumindest der Streit mit dem Vorwärts gar nicht die prinzipielle Bedeutung gehabt hat, die er ihm 1932 beigelegt hat. In seiner Berichterstattung über die Reichstagswahlen vom Sommer 1903 kommt er ein einziges Mal auf die Stichwahlaffare zu sprechen, um anhand des Vorfalls die wahlarithmetischen Erfolgsperspektiven von Stichwahlallianzen mit der bürgerlichen Linken zu diskutieren, und zwar am 5. Juli, also unmittelbar nach dem Sieg von Gerlachs im zweiten Wahlgang. Vgl. Michels, La tattica dei socialisti tedeschi alle elezioni generali politiche, in: Avanguardia Socialista, anno II, N. 28, Milano, 5. Juli 1903, S. 1-2. Michels analysiert hier die Frage der Wahlallianz zwischen Sozialdemokratie und den linksliberalen Parteien bei Stichwahlen im Lichte des gerade vorliegenden Ergebnisses: Während die SPD im ersten, „intransigent" geführten Wahlgang auf Anhieb 56 Sitze gewonnen hat, bescherte ihr die „transigente" Taktik im zweiten Wahlgang in 118 Wahlkreisen gerade einmal 26 Mandate. Von wenigen Ausnahmen - in Mainz und in München etwa - abgesehen, habe sich die Unterstützung der linksliberalen Kandidaten für die Sozialdemokraten kaum ausgezahlt, weil die „bürgerlich-monarchistische Linke" umgekehrt dort, wo die SPD antrat, meist den konservativen Gegenkandidaten bevorzugt hätten. Während die Sozialdemokratie also kaum von linksliberalen Gegenleistungen profitiert habe, habe sie andererseits mitgeholfen, daß zehn Kreise an die

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Spätestens am Nachmittag des dritten Verhandlungstages hat die „Heine-Affäre" damit aber auch die Bedeutung eines Kampfes ums Prinzip eingebüßt und reduziert sich auf die Frage des angemessenen innerparteilichen Umgangs. Der Antrag 139 auf ein Tadelsvotum gegen Heine, den Michels noch einzubringen hat, thematisiert ja auch nichts anderes als eben dies: die „Taktlosigkeit" des Reichstagsabgeordneten Heine, der sich ohne Absprache mit den Betroffenen in die Angelegenheiten des Marburger Ortsverbandes „zu Gunsten eines ihm befreundeten politischen Gegners" eingemischt habe.74

1.2.3. Am Abend der gewonnenen Schlacht: Der Heine-Affäre letzter Akt Es zählt zu den maßlosesten Selbstüberschätzungen, zu den absurdesten Legendenbildungen des Autobiographen Michels, daß dieser 1932 ernsthaft den Leser glauben machen will, daß er, Robert Michels, durch das Zurückziehen seines Antrages gegen Heine die Sozialdemokratische Partei Deutschlands im September 1903 vor dem „Bruch" bewahrt habe.75 Tatsächlich sind am Abend des sechsten Tages, als Michels etwa kurz nach sechs Uhr endlich seinen Antrag einbringt, alle Redeschlachten bereits geschlagen. Und nicht die Spaltung der Partei, sondern ihre wundersame Einheit hat sich in der überwältigenden Mehrheit für die Resolution 130 des Parteivorstandes manifestiert; eine Resolution, die formal nur einen innerparteilichen Richtungsstreit zu regeln beansprucht, die aber schon tags darauf in der bürgerlichen und konservativen Presse eine enorme Außenwirkung erzielen und als Kampfansage an die bürgerliche Gesellschaft bewertet werden wird. Alle Gegner der Sozialdemokratie, insbesondere der sich nun gründende „Reichsverband gegen die Sozialdemokratie" werden diese Resolution als ultimativen Beweis dafür zitieren, daß die Rede von der Revolution kein Schreckgespenst, sondern eine höchst vitale Bedrohung sei: „Der Parteitag verurteilt auf das entschiedenste die revisionistischen Bestrebungen, unsere bisherige bewährte und sieggekrönte, auf dem Klassenkampf beruhende Taktik in dem Sinne zu ändern, daß an Stelle der Eroberung der politischen Macht durch Ueberwindung unserer Gegner eine Politik des Entgegenkommens an die bestehende Ordnung tritt. Die Folge einer derartigen revisionistischen Taktik wäre, daß aus einer Partei, die auf die möglichst rasche Umwandlung der bestehenden bürgerlichen in die sozialistische Gesellschaftsordnung hinarbeitet, also im besten Sinne revolutionär ist, eine Partei tritt, die sich mit der Reformierung der bürgerlichen Gesellschaft begnügt."76

bürgerliche Linke gingen - „mit einem nicht geringen Schaden für unsere künftige Selbstbehauptung". 74 Vgl. Antrag 139. 75 Vgl. Michels, Unterströmung, S. 348. 76 Vgl. Protokoll, S. 418.

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Michels selbst hat diese klassenkämpferische Resolution 130 nicht nur durch sein Votum gebilligt, sondern auch aktiv mitgestaltet. Gemeinsam mit Emanuel Wurm, Konrad Hänisch u. a. hat er nämlich das Amendement 143 eingebracht, 77 um das die Resolution von Kautsky und Bebel ergänzt und auch verschärft worden ist. „Im Gegensatz zu den in der Partei vorhandenen revisionistischen Bestrebungen" sucht das Amendement die Überzeugung festzuschreiben, „daß die Klassengegensätze sich nicht abschwächen, sondern stetig verschärfen." Die Konsequenz für die politische Praxis, die aus der These von der Verschärfung der Klassenkämpfe resultiert, besteht erstens darin, ,jegliche Bewilligung von Mitteln" zu verweigern, „welche geeignet sind, die herrschende Klasse an der Regierung zu erhalten", und zweitens darin, „daß die Sozialdemokratie einen Anteil an der Regierungsgewalt innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft nicht erstreben kann." Die Resolution 130 wird samt des Amendements 143 mit 288 zu 11 Stimmen vom Parteitag angenommen. Unter den Befürwortern findet sich neben der radikalen Linken um Rosa Luxemburg und den „revolutionären Zentristen" um die federführenden Bebel und Kautsky auch die gesammelte Prominenz des „Reformismus": Ignaz Auer, Georg von Vollmar und auch Wolfgang Heine. Geschlagen und an den Rand gedrängt ist dagegen Eduard Bernstein, der einzige, der überhaupt während der dreitägigen Diskussion sich zum Revisionismus der Theorie bekennt, während die übrigen zuvor als „Revisionisten" angegriffenen Delegierten, wie etwa Heine, sich vollmundig hinter die „Taktik der Partei" stellen und bemüht sind, den Revisionismus als eigentlich nicht existent darzustellen. Der Parteitag zu Dresden bringt genaugenommen ein prekäres Bündnis zwischen den „Revolutionären" im Sinne der Kautskyschen Orthodoxie und den„Praktizisten" zustande, die Hellmut von Gerlach einmal treffend als „Revisionisten der Tat" bezeichnet hat. Diese sind keineswegs ,Bernsteinianer", sondern halten zu Eduard Bernstein als dem „Revisionisten des Wortes" größtmögliche Distanz, weil die von Bernstein anvisierte Revision der Marxschen Entwicklungsprognose in ihren Augen der Partei nicht zuzumuten ist. Mit der revolutionären Phraseologie der Parteitagsresolution hat der Praktizismus dagegen keine Probleme, weil er den integrationspraktischen Wert des Vulgärmarxismus für die Einheit der Partei sehr hoch bewertet und daher gar nicht daran interessiert ist, den De-facto-Reformismus in einem veränderten Theoriedesign der Partei kenntlich zu machen bzw. durch ideologische Debatten möglicherweise zu behindern. 78

77 Das geht aus dem Parteitagsprotokoll (S. 135) nicht hervor, wo unter Punkt 143 nur von dem , Amendement Wurm und 40 Genossen zur Resolution Nr. 130" die Rede ist. Den Hinweis auf Michels Mitunteizeichnung entnehme ich Michels, I risultati del Congresso di Dresda, in: Avanguardia Socialista, Jg. II, Nr. 41,4. Oktober 1903, S. 3. 78 Vgl. zu dieser Differenzierung zwischen einem „Revisionismus der Tat" (reformististischer Praktizismus; Auer, Vollmar u. a.) und dem „Revisionismus des Wortes" (gemünzt auf Bernsteins Revision der theoretischen Selbstauslegung der Arbeiterbewegung) Hans-Josef Steinberg, Sozialismus und deutsche Sozialdemokratie, a.a.O., S. 123. Auch wenn sich hinter dem fast einmütigen Votum für die revolutionäre Linie gewiß eine äußerst heterogene Motivlage verbirgt, ist der Resolution ein entsprechendes Redefest revolutionärer Phraseologie vorhergegangen, auf dem auch

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Als Wolfgang Heine nach der Abstimmung über die Resolution 130 das Podium betritt, um sich zur Marburger Affare zu äußern, ist die Revisionismusdebatte bereits durch den radikalverbalen Schulterschluß aller Strömungen der Partei beendet. Heine selbst hat in den Tagen vorher durch demutsvolle Bekenntnisse zur „Taktik der Partei"79 sowie durch den demonstrativen Nachweis anhand seiner eigenen Veröffentlichungen, daß er die Bernsteinsche Revision der Theorie nicht teilt,80 und nicht zuletzt durch sein vorbehaltloses Votum für den Antrag gegen die „revisionistischen Bestrebungen" sich ganz im Sinne der Parteitagsregie von Kautsky und Bebel verhalten, deren Ziel das Hinüberziehen der Reformisten nach links und die Isolierung Bernsteins ist. Nicht, daß dieses Hinüberziehen ein reibungsloser Vorgang gewesen wäre: Heine muß wegen seiner Einmischung in Marburg und seiner , ominös guten' Beziehungen zum Nationalsozialen Hellmut von Gerlach einige Schmähungen über sich ergehen lassen, so daß er im Prinzip am Abend des sechsten Verhandlungstages längst abgeurteilt ist.81 Die kurze Konfrontation zwischen Heine und Michels dreht sich um ein Thema, das sich von der Debatte über die „Mitarbeit an bürgerlichen Blättern" bis zur Revisionismus-Debatte wie ein roter Faden durch diesen Parteitag des ideologisch motivierten Mißtrauens zieht: das Lob des politischen Gegners. Wer nämlich als Sozialdemokrat in der gegnerischen Presse oder von den bürgerlichen Parteien gelobt wird, steht in Dresden unter Verdacht, in seinen politischen Aktionen allzusehr der bestehenden Ordnung entgegengekommen zu sein bzw. Freundschaften auf der gegnerischen Seite zu unterhalten, die ihn, wenn auch unbewußt, zum schleichenden Verrat der Prinzipien verführen. Damit nicht genug erscheint das Loben als eine Waffe des Gegners: das „Auseinanderloben" als gegen die Einheit der Arbeiterpartei gerichtete Strategie des ,Klassenfeindes'. „Gelobt" worden zu sein, ist daher in Dresden ein wiederholt zu hörender Vorwurf, der die „Gelobten" immer wieder zu Relativierungen des Lobes oder demonstrativen Unterlassungsaufforderungen an die Adresse des lobenden politischen Gegners zwingt.82 So auch Wolfgang Heine, der in seiner Erklärung darauf verweist, daß er bereits auf dem Lübecker Parteitag Hellmut von Gerlach öffentlich aufgefordert habe, die ihn so kompromittierenden Lobeserhebungen einzustellen. Außerdem, beeilt sich Heine hinzuzufügen, sei „das Verhältnis zwischen mir und ihm nicht das einer persönlichen Freundschaft, sondern nur einer oberflächlichen Bekanntschaft". Mit Bezug auf die Stichwahl-

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die praktischen Reformisten' immer wieder betont haben, auf dem festen Boden des ,Klassenstandpunktes' zu stehen, und auf dem Eduard Bernstein von rechts bis links gleichermaßen attackiert worden ist. Der Höhepunkt des radikalen Pathos ist zweifellos der Auftritt Bebels, der in dem Satz kulminierte: „Ich will der Todfeind dieser bürgerlichen Gesellschaft und dieser Staatsordnung bleiben, um sie in ihren Existenzbedingungen zu untergraben und sie, wenn ich kann, beseitigen. (Stürmischer Beifall)." (Protokoll, S. 313). Protokoll, S. 234. Protokoll, S. 414. Vgl. Protokoll, S. 187 (Stadthagen), S. 268 (Bebel), S. 313-314 (Bebel) Vgl. Protokoll, S. 313, 363, 399: „Ich habe ja schon in London empfunden, daß das Lob der Gegner für mich das allerschlimmste und unangenehmste ist [...] Übrigens werde ich von den Nationalsozialen längst nicht mehr gelobt" (Bernstein).

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afíare gibt Heine zu, daß „die Form, in der ich mich da über die Marburger ausgelassen habe, weder nötig noch angemessen war [...] Ich bitte also die Genossen, sich mit meiner Erklärung zu begnügen und auf einen Beschluß zu verzichten". Allerdings betont er, in der Sache recht gehabt zu haben und liefert damit Michels für dessen Entgegnung eine Steilvorlage, da es ja in dem Streit nicht um die Sache, sondern um den ,Takt' geht: „Ich hätte eigentlich von dem Genossen Heine erwartet, daß er sich über die sachliche Frage überhaupt nicht aussprechen, sondern einfach die Form seines Artikels bedauern würde. (Sehr richtig! Lachen!) Er hat mich enttäuscht (Lachen), weil er hier wieder seine Meinung in einer Marburger Frage zum besten gegeben hat, wegen derer wir ihn gar nicht gefragt hatten. Heine erklärt sich hier gewissermaßen zum Prügeljungen, an dem wir Marburger unsre Wut auslassen wollten. Ich meine aber, wenn ein Parteigenosse einem politischen Gegner in einer internen Angelegenheit ein Telegramm sendet und dieses Telegramm nachher bekannt wird, so hat er sich nach meiner Auffassung, und wohl auch nach der Auffassung der Mehrzahl der Anwesenden, einfach blamiert (Gelächter), und wenn man sich blamiert hat, dann schweigt man. Freilich trifft der Ausdruck , Prügeljunge' doch vielleicht zu, denn der Junge, der blamiert ist und nichts anderes zu sagen weiß, der prügelt! (Gelächter.) Heine erklärte ferner, er habe schon in Lübeck Herrn von Gerlach aufgefordert, ihn nicht mehr zu loben. Da muß ich Herrn von Gerlach doch in Schutz nehmen (Unruhe. Rufe: Zur Sache!) Wenn man einem Gegner einen solchen Freundschaftsbeweis im Telegrammstil giebt, so giebt man ihm doch direkte Veranlassung, ja gewissermaßen das Recht, sich dafür durch Lobeserhebungen dankbar zu zeigen. {Heine: Ich bin ja vorher schon gelobt worden!) Nachher auch noch in der Wiener ,Zeit', worin Herr v. Gerlach schreibt, Sie hätten eine ganz tadellose Figur (Große Heiterkeit), die andren Parteigenossen wären nur kleine Geister, die für Sie noch nicht reif wären. (Große Heiterkeit.) Zum Schluß erkläre ich, daß wir, um die vielen Personalfragen, die uns auf diesem Parteitage schon beschäftigt haben, nicht um eine weitere zu vermehren, unsren Antrag zurückziehen. (Als sich Michels, nachdem er seine Ausführungen geendet, mit dem im Saale anwesenden Herrn von Gerlach unterhält, ruft ein Genösse: ,Lassen Sie sich nicht loben!' Große Heiterkeit.)." 83 Ganz im Gegensatz zu seinen Darstellungen aus den Jahren 1908 und 1932, als er sich von der ,massenpsychologischen' Erregung der Delegierten gegen Heine distanziert, hat Michels 1903 tatsächlich die - vom Parteitagsprotokoll festgehaltene - Stimmung gegen Heine bedient und ist sich auch nicht zu schade gewesen, Heine mit einer regelrechten Spottrede zu überziehen. Allerdings gibt das Protokoll auch Auskunft über den tatsächlichen Charakter der kollektiven Stimmung: „Große Heiterkeit". Was auch sonst? - nach der fast hundertprozentigen Manifestation des ,klassenkämpferischen' Grundkonsenses und der ,Einheit der Partei' kurz zuvor! Michels' Sottisen gegen Heine sind zu dieser Stunde eine Art Unterhaltungsprogramm, denn auszufechten gibt es schon 83 Protokoll, S. 421.

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längst nichts mehr. Jetzt, am Abend des sechsten Tages, ein Tadelsvotum gegen den ohnehin ,reuigen', den Vorfall bedauernden und um Verzicht auf den Antrag gegen ihn bittenden Heine zu beantragen, wäre so kleinlich wie überflüssig. Zumal die kollektive Stimmung auch durch ein zweites, leicht verständliches Charakteristikum geprägt ist: Müdigkeit. Allzu lange Ausführungen kann Michels an diesem Abend den Delegierten nicht mehr zumuten, wie das Protokoll an einer Stelle zeigt: „Unruhe. Rufe: Zur Sache!" So beschränkt er sich darauf, Heine kurz vorzuführen, indem er zur sozialdemokratischen Denunziationsmethode dieses Parteitags greift: zur Konfrontation des innerparteilichen Kontrahenten mit an diesen adressierten Sympathiebekundungen von politischen Gegnern, die den damit Konfrontierten in diesem Kontext unweigerlich der Lächerlichkeit preisgeben; sowie vage Anspielungen, die der Angegriffene über sich ergehen lassen muß, weil jede Verteidigung in einem Klima der Spottlust zwecklos ist: „Herr von Gerlach schreibt, Sie hätten eine ganz tadellose Figur (Heiterkeit)." Abgerundet wird das Ganze durch die scheinbar generöse Geste, den Parteitag mit dieser „Personalfrage", sprich: Lappalie, nicht länger befassen zu wollen. Zu unterstreichen ist in diesem Zusammenhang auch, daß dem Protokoll zufolge das Zurückziehen des Antrags keine „Unruhe" oder „Rufe" provoziert. Von der hitzigen Atmosphäre der Michelsschen Beschreibung von 1932 ist nichts zu spüren. Vielmehr endet Michels' Auftritt so, wie er begonnen hat: in „großer Heiterkeit", wobei Michels selbst nun das Objekt des Amüsements ist. Im Kontext der sechstägigen Debatten über Grenzziehungen und -Überschreitungen zwischen sozialdemokratischer und bürgerlicher Welt muß seine Unterredung mit von Gerlach einen Einwurf provozieren, nämlich den .running gag' des Parteitages: „.Lassen Sie sich nicht loben!' Große Heiterkeit".84 Auch dies spricht für die eher entspannte Atmosphäre am Abend des sechsten Tages.

Die ausfuhrliche Dekonstruktion und chrono- wie faktologische Widerlegung von Michels' autobiographischen Betrachtungen aus dem Jahr 1932 ist an dieser Stelle abgeschlossen. Auch wenn es sich bei der „Heine-Affare" um einen der bedeutungslosesten Vorfalle der deutschen Parteiengeschichte handeln dürfte, ist die Rekonstruktion dieser Affare in Verbindung mit Michels' Verhalten auf dem Dresdner Parteitag nötig gewesen, um hiermit exemplarisch meinen Generalverdacht gegenüber allen späteren Äußerungen von Robert Michels über seine sozialistische Vergangenheit zu begründen. Biographische Selbstinterpretationen des späten Michels sollten m. E. nur als heuristische Schlüssel für die erste Phase betrachtet werden, wenn ihnen auch entsprechende Quellen aus der sozialistischen Phase selbst zur Seite gestellt werden können.

84 Ganz anders an dieser Stelle lautet der Vorschlag Hetschers (a.a.O., S. 113), den Zuruf „Lassen Sie sich nicht loben!" als Ausdruck einer prekären Lage des gewissermaßen weltoffenen und von ,Berühungsängsten' freien Intellektuellen Michels im sozialdemokratischen Parteimilieu zu interpretieren. Isoliert betrachtet, mag das zwar plausibel sein, aber im Kontext der mehrtägigen Debatten und des darin immer wiederkehrenden Leitmotivs des „Lobs durch den politischen Gegner" plädiere ich hier für die zurückhaltende Interpretation des Vorgangs im Sinne des Situationshumors und nicht im Sinne des persönlichen Vorwurfs an Michels.

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An dieser Stelle aber wird es nun wieder Zeit, unsere Beobachtungen vom Parteitag hinsichtlich ihrer Aufschlußkraft für die politisch-ideologische Position bzw. Disposition des jungen Michels im Sommer und Herbst 1903 zu untersuchen. Die Heine-Kontroverse auf dem Parteitag erlangt im Licht der vorstehenden Rekonstruktion nicht nur eine völlig neue Bedeutung. Die Umstände wie die Details der Verhandlungsführung legen auch die Hypothese nahe, daß Michels' zurückgezogener Antrag im September 1903 Ergebnis eines politischen Kuhhandels auf den Nebenbühnen des Parteitages ist! Dafür spricht zumindest als Indiz, daß der Parteitagsvorsitzende und Koautor der Resolution 130, Paul Singer, am sechsten Verhandlungstag beiläufig bekannt gibt, in persönlichen „Verhandlungen" mit Wolfgang Heine darin übereingekommen zu sein, den Marburger Antrag (139) von der Debatte und Beschlußfassung über Antrag 130 zu separieren.85 Ursprünglich sollten beide Anträge unter dem Punkt „Taktik" gemeinsam verhandelt werden, 86 bis sich, so zwei plausible Vermutungen, erstens herausstellt, daß der Dissens Michels - Heine mehr den ,Takt' als die Taktik betrifft, und, zweitens, den federführenden Akteuren klar geworden sein dürfte, daß man unmöglich Heine mit einem Tadelsvotum brüskieren kann, wenn man gleichzeitig die Strategie verfolgt, ihn und möglichst viele seiner Sympathisanten auf dem rechten Flügel der Partei nach .links' zu ziehen. Daher, so meine Hypothese, haben sich Singer und Heine in ihren „Verhandlungen" darauf geeinigt, den Marburger Antrag auf einen Tagesordnungspunkt außerhalb der antirevisionistischen Kampfzone zu verlegen. Recht wahrscheinlich dünkt mir, daß auch Robert Michels als Antragsteller von vornherein über die Absicht einer Änderung der Tagesordnung informiert gewesen sein muß und diese gebilligt hat. Zumindest indirekt läßt sich diese Hypothese vom .Kuhhandel' zwischen Heine und Singer anhand der Haltung der radikalen Linken plausibilisieren, die an einem solchen Geschäft kein Interesse gehabt haben dürfte. Durch die Strategie des ,Hinüberziehens' hat die verbalradikale Resolution 130 ja keineswegs für die klaren Verhältnisse gesorgt, die man sich auf dem linken Flügel der Partei erhofft hatte. Michels' autobiographischer Bericht von 1932 kann an dieser Stelle ausnahmsweise erhellend sein, heißt es doch dort: „Der Unterstützung des extremen Flügels war Michels gewiß". 87 Es sei mir erlaubt, eigenmächtig zu ergänzen: Nur der extreme Flügel wäre weiter bereit gewesen, Michels' Antrag zu unterstützen. Der Antragsteller selbst hingegen wird sich schon einige Stunden vorher darüber im klaren gewesen sein, den Antrag gegen Heine eben doch nicht dem Parteitag zur Abstimmung vorzulegen, und nicht erst in dem Moment, als er auf dem Podium steht. Wenn es richtig ist, daß Rosa Luxemburg, Arthur Stadthagen und Georg Ledebour auch noch nach der Abstimmung über die antirevisionistische Resolution des Parteivorstandes Michels nahegelegt haben, sein Mißtrauensvotum gegen Heine aufrechtzuerhalten, 88 und wenn wir aufgrund unserer erinnerungstheore85 86 87 88

Vgl. Protokoll, S. 414. Vgl. Protokoll, S. 271. Michels, Unterströmung, S. 348. Dies vermerkt Michels in seinem autobiographischen Text über die „Unterströmung", was aufgrund der oben zur Genüge skizzierten Problematik dieses Textes natürlich zum mindesten die

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tischen Dekonstruktion von Michels' autobiographischen Begründungen von 1908 und 1932 diesen nicht zu folgen vermögen, dann bleibt keine andere Schlußfolgerung als diese: Michels' Verzicht auf ein Tadelsvotum gegen Heine im September 1903 liegt ganz auf der Linie der Parteitagsregie von Bebel und Kautsky89 und dürfte, wenn überhaupt, allein die radikale Linke enttäuscht haben. In anderen Worten: Michels hat sich 1903 mit seinem Rückzieher dem Ansinnen des linken Flügels, für klare Verhältnisse zu sorgen, verweigert und im Sinne des „Zentrismus" gehandelt. Dafür spricht auch sein taktisches Verhalten vorher: sein Votum für das parteiinterne Pressegesetz aller persönlichen Skepsis zum Trotz sowie andererseits seine ganz unorthodoxe, pragmatische Bereitschaft in seinem Brief von 17. Juni an Bebel, die Suspendierung des Münchner Parteitagsbeschlusses durch den Parteivorstand zu billigen. Indirekt spricht für diese These auch, daß Michels trotz zahlreicher inhaltlicher Affinitäten zur SPD-Linken weder in Dresden noch später je mit der Gruppe um Luxemburg eine politische Beziehung pflegen wird. Es ist nicht auszuschließen, daß gerade Michels' Rückzieher von Dresden eine inhaltlich durchaus denkbare Anbindung an den linken Flügel der Partei nachhaltig belastet hat. Ganz im Gegensatz zu Michels' späteren Selbstdarstellungen weisen alle diese Indizien daraufhin, daß sich in Dresden 1903 für Michels eine Entwicklung vollzieht, die er 1932 durch seine Reklamierung einer Teilhabe am linken Revisionismus bzw. Sorelianismus geleugnet hat: seine politische wie ideologische „Integration in die deutsche Sozialdemokratie" (Ferraris)90 unter dem Vorzeichen des ^evolutionären Zentrismus' a la Kautsky und Bebel. Allein das ist aber ein erklärungsbedürftiger Vorgang. Denn - erinnern wir uns: unsere Untersuchung von Michels' politisch-weltanschaulichen Profil für die Zeit von 1901 bis Anfang 1903 hat Mitzmanns und Ferraris' These von Michels' anfanglichem gemäßigtem Sozialreformismus bestätigt und dabei gezeigt, daß sich Michels' reformistische Grundhaltung der ersten zwei Jahre im italienischen Kontext konturiert und konkretisiert hat - weltanschaulich unter dem Einfluß der positivistischen Kriminalistik, politisch unter dem Eindruck der Reformpolitik des PSI sowie der neuen sozialen Bewegungen auf dem Land und in den Städten. Aus diesem Grunde ist sein Abstimmungsverhalten in Dresden, sein Votum für die ,klassenkämpferischen' Resolutionen 7 und 130 sowie seine Mitunterzeichnung des Amendements 143 als eine Radikalisierung zu werten, die vor dem Hintergrund seiner eher ,gemäßigten' Ausgangsposition alles andere als selbstverständlich ist. Wenn wir davon ausgehen, daß Robert Michels nicht die Radikalität um der Schönheit radikaler Gesten willen favorisiert hat, dann muß sich allerdings auch ein handFrage evoziert, wann diese Vertreter des linken Flügels ihm nahegelegt haben, den Mißtrauensantrag aufrechtzuerhalten. Am ersten Verhandlungstag, auf den Michels fälschlicherweise seinen Redebeitrag datiert? Oder eben am sechsten Verhandlungstag, als diesem Antrag allenfalls noch eine linke Minderheit zugestimmt haben dürfte? 89 Auf die Kompatibilität von Michels' Verhalten mit Bebels und Kautskys Strategie hat erstmals Ferraris aufmerksam gemacht. Vgl. ders., Saggi, S. 28f. 90 Vgl. Ferraris, Saggi, S. 47.

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festes politisches Motiv seiner Radikalisierung nachweisen lassen, das Michels im Sommer 1903 zum dezidierten Antirevisionisten bzw. Antireformisten werden und den Anschluß an die .revolutionäre' Linie von Kautsky und Bebel suchen läßt. Eine Linie übrigens, der die radikale Linke zu diesem Zeitpunkt bereits abstreitet, revolutionär' zu sein. Mit dem klassenkämpferischen Duktus des von Michels mitunterzeichneten Amendements selbst wird sich diese Frage - das Motiv seiner Radikalisierung - kaum beantworten lassen. Denn Parteitagsresolutionen sind nie wörtlich zu nehmen. Sie sind in der Regel der recht abstrakte Formelkompromiß zwischen heterogenen Überzeugungen und Strategien. Das gilt gerade für die SPD von Dresden. Sie sind, in anderen Worten, der in einer parteioffiziösen Semantik verkappte Ausdruck von divergierenden politischen Ansprüchen und Interessen und lassen den subjektiven Sinn, den die einzelnen der Resolution beimessen, im Unkenntlichen. Es wäre daher eine oberflächliche und unzureichende Interpretation, würde man es dabei belassen, Michels' bislang unbekannte aktive Rolle bei der Gestaltung der Dresdner Resolution dahingehend zu deuten, daß er im September 1903 weltanschaulich im orthodoxen parteioffiziellen Marxismus angekommen ist. Rhetorisch ist er das zweifellos, aber welchen Sinn hat er den Worten der Resolution beigemessen?

Das Motiv der Radikalisierung: der Sommer des Republikanismus Wiederum hilft uns das Parteitagsprotokoll bei der Rekonstruktion von Michels' politischem Denken im Sommer 1903. Michels hat dem Dresdner Parteitag nämlich noch eine weitere Resolution vorgelegt, den Antrag 69: „Das Verhalten der Reichstagsfraktion zur Regierung hat überall und jederzeit den republikanisch-demokratischen Prinzipien unserer Parteien zu entsprechen."91 Dieser Leitsatz impliziert nicht einen retrospektiven Vorwurf an die Fraktion für ihre Tätigkeit in der vergangenen Legislaturperiode, sondern hat ausschließlich einen prospektiven Sinn, wie Michels am vierten Verhandlungstag darlegt: „Die Resolution sollte nur ein Wegweiser, ein Schild, aufgehängt vor der Vizepräsidenten-Kammer, sein mit der Inschrift: Hier ist kein Eintritt! (Heiterkeit)".92 Die ,Vizepräsidentenfrage', d. h. die Frage, ob die sozialdemokratische Reichstagsfraktion einen der ihr verfassungsmäßig zustehenden Vizepräsidenten im Reichstag stellen und ob ein sozialdemokratischer Vizepräsident denn auch an dem mit diesem Amt verbundenen höfischen Zeremoniell teilnehmen solle, sorgt im Sommer 1903 für einigen Wirbel. Es ist Eduard Bernstein, der diese Frage aufwirft und bejaht, da ihm zufolge eine sozialdemokratische Vertretung im Reichstagspräsidium einen größeren Einfluß auf

91 Protokoll, S. 124 92 Protokoll, S. 284. Michels zieht diesen Antrag mit der Begründung zurück, daß die Frage bei der noch anstehenden Vizepräsidentendebatte ohnehin noch behandelt werden würde.

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die parlamentarischen Geschäfte mit sich bringen und die Partei vor „Überrumpelungen" wie in der Zolltariffrage in der vergangenen Legislaturperiode bewahren könne.93 Während Bernstein diese Frage allein unter dem Aspekt des politischen Nutzens diskutiert, stilisiert August Bebel diesen Vorstoß zur Prinzipienfrage und kündigte öffentlich an, den kommenden Parteitag zu einem „Tribunal gegen die Revisionisten" zu machen.94 Bernsteins Forderung ist für Bebel allein deshalb ein „Verrat", weil ihre Umsetzung ein „Entgegenkommen an die bestehende Ordnung" bedeutete. Zudem geistert seit geraumer Zeit das Gespenst des „Millerandismus" in der SPD: Eine Äußerung des Reichskanzlers von Bülow im Reichstag am 20.1.1903 hat bei den Reformisten die Hoffnung bzw. bei den Marxisten und Radikalen, insbesondere bei Kautsky, die Befürchtung genährt, die Reichsregierung würde schon bald bereit sein, nach dem Vorbild des französischen Ministerpräsidenten Waldeck-Rousseau, unter dessen Ägide der Sozialist Millerand Arbeitsminister geworden war, einen Sozialdemokraten ins Kabinett zu berufen. Dazu kommt es nicht zuletzt deshalb nicht, weil von Bülow nach den Wahlen und dann noch einmal unter dem Eindruck des ^evolutionären' Dresdner Parteitages alle ohnehin geringen Hoffnungen auf eine Zusammenarbeit mit einer reformistisch gewendeten SPD fahren läßt und sich zu einem entschiedenen Gegner der Arbeiterpartei wandelt. Die Praktizisten, d. h. die „Revisionisten der Tat" wie Heine und von Vollmar, machen für diese Entwicklung Bernstein verantwortlich, weil dieser erst mit seinem offenen Wort zur Vizepräsidentenschaft die Steilvorlage für Bebels Verbalradikalismus vor und in Dresden gegeben habe. Der „Revisionist des Wortes" (Gerlach über Bernstein) erscheint in diesen Tagen den „Revisionisten der Tat" immer mehr als ihr eigentlicher Gegenspieler: Bernsteins Debattenanstöße drohen nämlich die praktizistische Strategie zu untergraben, die darin besteht, über die ,wortlose', d. h. nicht durch programmatischen Streit gestörte Reformarbeit in den Kommunen und im Reichstag mittelfristig eine Aufgabe des nach ihrer Meinung überholten Klassenkampfstandpunktes zu bewirken. Stattdessen hat nun Bebel aus einer „einfachen Eselei eine Haupt- und Staatsaktion" (Molkenbuhr)95 machen können, mit der Folge, daß es auf dem Parteitag noch nicht einmal zu einer Diskussion der von der österreichischen Sozialdemokratie, namentlich Viktor Adler, angemahnten praktischen Konsequenzen des Wahlsieges gekommen ist. Anstatt sich auf das Feld der praktischen Politik zu begeben und ein Aktionsprogramm für die Arbeit der erheblich vergrößerten Reichstagsfraktion zu beschließen, hat Bebel auf die revolutionäre Pauke geschlagen und der Parteitag mit der Resolution 130 die prinzipientreue Verweigerungshaltung gegenüber der bestehenden Ordnung proklamiert.

93 Vgl. Eduard Bernstein, Was folgt aus dem Ergebnis der Reichstagswahlen?, in: Sozialistische Monatshefte, Jg. VII, Heft 2, 1903, S. 478-486. Vgl. auch Bernsteins Verteidigung seiner Position auf dem Dresdner Parteitag, Protokoll, S. 390-402, ibs. S. 395. 94 Dieter Groh, Emanzipation und Integration. Beiträge zur Sozial- und Politikgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung und des 2. Reiches, Konstanz 1999, S. 345. Vgl. Bebel, Ein Nachwort zur Vizepräsidentenfrage und Verwandtem, in: Neue Zeit, Jg. XXI, Heft 2, 1902/03, S. 708-729. 95 Zit. n. Groh, Emanzipation und Integration, S. 346.

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Daß Bebel es erneut verstanden hat, sich mit seiner politischen Linie durchzusetzen, erklärt Dieter Groh mit „sozialpsychologischen Motivationen [...], mit der Angst der Mehrheit der Mitglieder einer Arbeiterpartei, sich auf das Feld praktischer Politik zu begeben, und zwar über die Mitarbeit und die Stimmabgabe für einzelne Gesetze hinaus. Wäre Bebels Haltung nicht prototypisch für diese Aversion gewesen, die aus Angst vor unbekannten Politikfeldern resultierte, für die man aus historisch-soziologischen Gründen noch keine prospektiven Verhaltensmuster hatte entwickeln können, so hätte die Mehrheit der Partei seine Tyrannei und sein schroffes Auftreten, über das sich auch seine Freunde und Anhänger in unzähligen Briefen beschwerten, sicher nicht derart lange ertragen."96 Dresden und die Vorfelddebatte über die Vizepräsidentenfrage stehen dabei in einer tiefen Kontinuität mit den großen Strategiedebatten von 1891 und 1899, die in ihrem Kern nichts anderes indizieren und zementieren als die „Unmöglichkeit sozialdemokratischer Politik im Wilhelminischen Reich überhaupt."97 Der „revolutionäre Attentismus", wie ihm die Parteitage immer wieder die Absolution erteilten, läßt sich als verkappter Ausdruck einer uneingestandenen Ohnmacht der Partei unter den sozialen und politischen Strukturbedingungen des Reiches interpretieren. Dabei darf freilich nicht außer Acht gelassen werden, daß die Verweigerungshaltung bei gleichzeitiger Beschwörung der revolutionären Naherwartung, wie sie von Bebel gepflegt wird, mitunter auch tatsächliche Handlungsmöglichkeiten unterschätzt, weil sie sich in ihrer Optik auf das Reich in der Regel exklusiv von den rigiden politischen Verhältnissen in Preußen leiten läßt. Der Handlungsoptimismus der Reformisten andererseits ist ebenso mit Vorsicht zu genießen, da er sich aus einer nicht minder einseitigen Verallgemeinerung von politischen Möglichkeitserfahrungen speist, wie sie damals in den liberaleren süddeutschen Staaten von sozialdemokratischer Seite durchaus gemacht werden. Die Vizepräsidentenfrage hat in diesem Kontext eine taktische wie symbolische Bedeutung. Sie weist über sich hinaus und berührt das innere Machtgefuge als auch das offiziöse Selbstverständnis der Partei. Daher wird und kann sie gerade nicht, wie Bernstein das vorgeschlagen hat, unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit thematisiert werden, sondern wird zum Popanz einer revisionistischen Unterminierung der ^evolutionären' Einheit stilisiert und schließlich in der Resolution 130 .entsorgt', deren erster Satz festlegt: „Der Parteitag fordert, daß die Fraktion zwar ihren Anspruch geltend macht, die Stelle des ersten Vizepräsidenten [...] durch Kandidaten aus ihrer Mitte zu

96 Dieter Groh, S. 348, fügt an dieser Stelle hinzu: „Die Tatsache, daß Bebel seine politische Linie seit 1887 bis zu seinem Tod nur einmal, nämlich bei der Agrardebatte Mitte der 90er Jahre, nicht als Parteilinie durchsetzen konnte, allein mit seinem außerordentlichen taktischen Geschick erklären zu wollen, wie es in einer konspirationstheoretischen Variante viele Reformisten und Revisionisten taten, geht an diesem sozialpsychologisch-politischen Tatbestand vorbei. Denn erst er bildete die Grundlage für den Erfolg von Bebels Taktik". 97 D. Groh, Emanzipation, S. 349.

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besetzen, daß sie es aber ablehnt, höfische Verpflichtungen zu übernehmen [,..]."98 Um nicht am kompromittierenden „Kaisergang" teilnehmen zu müssen, verzichtet die Partei darauf, eine potentielle Einflußnahme auf die Geschäftsführung des Reichstages überhaupt nur zu diskutieren. Wie die eingangs erwähnte Aussprache in Dresden zeigt, ist auch der von Michels eingebrachte Antrag 69 mit dem Ziel, die Fraktion auf die „republikanisch-demokratischen Prinzipien unserer Partei" zu verpflichten, durch die Vizepräsidentenfrage motiviert. Michels bezieht hier eine prinzipielle Abwehrhaltung: „Hier kein Eintritt!" Und tatsächlich ist die von Bernstein aufgeworfene Frage, ob man nicht das höfische Zeremoniell unter Umständen zugunsten politischer Vorteile doch in Kauf nehmen solle, ausschlaggebend für die Radikalisierung der Michelsschen Position im Sommer 1903." Nicht die Verletzung des Münchner Parteitagsbeschlusses durch die Parteiführung, sondern die Aussicht auf einen Kaisergang hat bei Michels erstmals so etwas wie einen gesinnungsethischen Fundamentalismus hervorgerufen. Das unverrückbare Fundamentalprinzip, um das es Michels geht, ist somit sein Republikanismus und Antimonarchismus. In dieser Frage existiert für den jungen Michels im Sommer 1903 kein pragmatischer Handlungsspielraum. Und wir dürfen auch an dieser Stelle schon hinzufügen: insofern Michels 1903 glaubt, auch Bebels antirevisionistische Resolution sei von einem genuin antimonarchistischen Impuls und nicht bloß integrationstaktisch motiviert, hat der Intellektuelle den Parteiführer gründlich mißverstanden. Aber schauen wir zunächst darauf, wie Michels selbst im Sommer 1903 die Reichstagswahlen beurteilt. Denn die Kontroverse der Vizepräsidentenfrage ist von der Kontroverse um die Bedeutung des Wahlergebnisses nicht zu trennen. In sämtlichen Aufsätzen, die Michels im Anschluß an die Juniwahlen veröffentlicht, feiert er den Wahlerfolg, der die SPD zur mit Abstand stärksten Partei machte, als den Sieg eines anderen, eines demokratischen, republikanischen und friedlichen Deutschlands.100 Michels glaubt, Zeuge einer allmählichen Revolution des nationalen Selbstverständnisses zu sein: einer Emanzipation von jener Politik „physischer Stärke", in der er das unheilvolle Vermächtnis von 1870 sieht.101 Damit nicht genug, ist in Michels' Zukunftsoptimismus eine geradezu elektoralistische Euphorie deutlich heraus zu hören. Triumphierend schreibt er: „Im Namen der verhaßten sozialistischen Demokratie hat

98 Protokoll Dresden, S. 418. 99 So auch Ferraris, Saggi, S. 37, der daraufhinweist, dass die Distanzierung von Bernstein in einer eminent politischen Frage noch nichts über Michels' Verhältnis zu Bernsteins Revision der marxistischen Theorie aussagt. 100 Vgl. Michels, Psicologia e statistica delle elezioni generali politiche in Germania, in: Riforma Sociale, Vol. XII, 1903, S. 541-567; ders., I progressi del repubblicanesimo in Germania, in: Rivista popolare di politica, lettere e scienze sociali, anno IX, Nr. 15, 15.8.1903, S. 400-402; ders., Democrazia e socialismo in Germania (Dopo le elezioni), in: Avanti! Giornale Socialista, anno VII, Nr. 2375, 18. Juli 1903, S. 1; ders., La vittoria socialista in Germania, in: Il grido del popolo. Peridico socialista, anno VII, Nr. 30, 11. Juli 1903, S. 1-2. 101 Michels, Le elezioni politiche in Germania e la pace, in: La Vita internazionale. Organo ufficiale della Società per la pace e la giustizia internazionale, anno VI, Nr. 15, 5.8. 1903, S. 462-464, S. 462.

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man hat die Schönheit von mehr als 3.000.000, wörtlich drei Millionen Stimmen! Erlangt."102 „Unser Sieg ist überwältigend: 81 Parlamentssitze und - was noch mehr bedeutet - 3,008,000 Stimmen und ... vivant sequentes!"103 Vivant sequentes - Es leben die Folgenden! Im Sommer 1903 sind die Wahlurnen des Reiches für Robert Michels ein Unterpfand der sozialdemokratischen Zukunftsgesellschaft und der objektive, wahlstatistische Ausdruck ihrer historischen Notwendigkeit. Es unterstreicht wieder einmal das positivistische Profil des Intellektuellen Michels, wenn er in diesem Zusammenhang die zivilisationstheoretische Prognose eines Rückgangs kriegerischer Einstellungen in fortgeschrittenen Kulturen „in exakten und wissenschaftlichen Zahlen" zu messen beansprucht. Die Wahlstatistik von 1903 nämlich liefert ihm den Beleg für die massive „Tendenz zur Kontinuierung des stabilen Friedens": während mit der SPD die Partei die meisten Stimmen verbuchen kann, die als einzige eine konsequente Verrechtlichung der internationalen Konflikte mittels der Etablierung von Schiedsgerichten anstrebt, enden die Wahlen für die „zwei Bewegungen" des „neuen Imperialismus" - den „Alldeutschen Bund" und Naumanns „Nationalsoziale" - , die beide die „Machtpolitik" als Methode und die koloniale Expansion als Ziel auf ihre Fahnen geschrieben haben, mit einem „Fiasko."104 Dem „Nationalsozialen Verein", dessen Projekt, die sozialistische Arbeiterbewegung durch eine Sammlungsbewegung der Arbeitnehmer um ein „soziales Kaisertum" zu substituieren, gescheitert ist, hat der Vorsitzende Friedrich Naumann gleich nach den Wahlen die Selbstauflösung verordnet. Neben ihm haben aber auch die übrigen Parteien der bürgerlichen Linken eine schwere Niederlage einstecken müssen. Weder die „Freisinnige Vereinigung" Theodor Barths noch die „Fortschrittliche Volkspartei" Eugen Richters noch die „Süddeutsche Volkspartei" haben im ersten Wahlgang einen ihrer Kandidaten durchbringen können. Im zweiten Wahlgang gelingt ihnen dies nur deshalb in bescheidenem Maß, insofern sie von Konservativen wie von Sozialdemokraten als das jeweils „kleinere Übel" betrachtet werden: „Von all jenen 36 Deputierten der [bürgerlichen] Linken, denen es gelungen ist, ins Parlament zu gelangen, gibt es nicht einen, der es aus eigener Kraft geschafft hat. Alle sind entweder socialismi gratia oder reactions gratia hineingekommen." Hierin besteht Michels zufolge im Sommer 1903 neben der wahlarithmetischen politischen Niederlage die moralische Niederlage des Linksliberalismus in Deutschland.105 Während Eduard Bernstein das Wahldebakel der bürgerlichen Linken bedauert und darin einen Schaden für das politische Leben in Deutschland sieht, widerspricht ihm

102 Michels, La vittoria socialista in Germania, a.a.O. Hervorhebung im Original: „[...] sul nome della odiata democrazia socialista si è raggiunta la bellezza di più di 3.000.000, dico di tre milioni di voti!" 103 Michels, La tattica dei socialisti tedeschi, a.a.O.: „[...] la nostra vittoria è strepitosa: 81 aseggi parlamentari e - cosa che significa di più - 3,008,000 voti e ... vivant sequentes!" Vivant sequentes!: Es leben die Folgenden! 104 Michels, Le elezioni politiche in Germania e la pace, S. 463. 105 Michels, Psicologia e statistica delle elezioni generali politiche in Germania (giugno 1903), a.a.O., S. 565

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Michels im Juli und August 1903 in diesem Punkt deutlich.106 Schädlich ist seiner Meinung nach vielmehr die „germanische Demokratie", womit er die linksliberalen Parteien meint, bei denen es sich um eine „Pseudodemokratie" handele. Mit diesem Vorwurf an die Adresse der linksbürgerlichen Parteien hat Michels nicht auf deren ,oligarchische' Verfaßtheit oder dergleichen gezielt. Das ist zu diesem Zeitpunkt ebensowenig für ihn ein Thema, wie auch der Gedanke einer ,reinen', direkten Demokratie in den Texten aus seiner politisch aktiven Zeit zu keinem Zeitpunkt eine Rolle spielt. Der Demokratiebegriff, der bei Michels' Kritik der Linksliberalen Pate steht, ist vielmehr auf zwei inhaltliche Grundpositionen bezogen, die Michels in den Rang einer demokratischen' Haltung erhebt. Der Linksliberalismus sei in Deutschland pseudodemokratisch, weil er weder antimilitaristisch noch antimonarchisch sei. Diese Verschränkung des Demokratiebegriffs mit dem Pazifismus und dem Republikanismus ist aus politikwissenschaftlicher Sicht zwar alles andere als zwingend, aber sie ist nichtsdestotrotz die genuine politische Wertüberzeugung des jungen Michels, der im Sommer 1903 in diversen historischen Rückblicken immer wieder emphatisch an das einstige republikanische Bürgertum des Vormärz erinnert und dessen sukzessiven Traditionsverlust seit 1848 beklagt.107 Die .rousseauische' Romantik vom unentfremdeten, d. h. nicht durch institutionelle Differenzierung verstellten , Volkswillen' wird man dagegen beim jungen Michels vergeblich suchen. Angesichts der so verstandenen „pseudodemokratischen" Haltung des Linksliberalismus bedeutet dessen Niederlage für Michels alles andere als eine Beschädigung der progressiven Hoffnungen in Deutschland, sondern vielmehr die politische Quittung für Etikettenschwindel: „Indem sie sich mit dem heiligen Namen der Demokratie und des Liberalismus drapiert haben, üben diese Leute eine sehr schädliche Funktion in Deutschland aus; sie schläfern das kümmerliche Bürgertum im Namen der abstrakten Freiheit dergestalt ein, daß sie sich nicht mehr um die konkrete Freiheit kümmern".108 Die Verluste der bürgerlichen Linken und die Zugewinne der SPD zeigen daher für Michels eine höchst erfreuliche Wählerwanderung an: die Wähler erwachen ihm zufolge aus dem Schlummer einer progressiven Illusion und votieren für die „einzige Partei, die für die politischen und sozialen Freiheiten kämpft". 109

106 Michels, Democrazia e Socialismo, a.a.O. Michels schreibt „sulla questione, se questo sfacimento [der linksliberalen Gruppierungen] ha da essere considerato dal punto di vista socialista come un detrimento per la vita politica del nostro paese o non": „II nostro Eduard Bernstein crede di si. Io invece sono d'altro parere". 107 Michels, I progressi del Repubblianesimo in Germania, S. 400. 108 Michels, Democrazia e Socialismo, a.a.O. 109 Michels, Democrazia e Socialismo, a.a.O. Die Zitate im Original und im Zusammenhang: .Anzitutto la democrazia germanica è una pseudo democrazia. Già antimilitarista e antimonarchica, adesso è più o meno militarista e tutta monarchica, anzi, più bisantineggiante degli stessi uomini di corte. Ma drappegiantesi del santo nome di democrazia e di liberalismo questa gente compie una funzione politica molto nociva in Germania, addormentando la magra borghesia col nome della libertà ... astratta, di modo che non si cura più della libertà concreta".

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An der fortschrittlichen politischen Signatur des Sommers 1903 hat Michels somit keinen Zweifel, der Wahlgang belegt aus seiner Sicht die Fortschritte des Republikanismus in Deutschland": „Der enorme Sieg der Sozialisten bedeutet einen Schritt sogar einen Riesenschritt - voran auf der Magistrale, die in die Republik fuhrt."110 Denn: „Die Katabasis der deutschen Demokratie111 [...] bedeutet nicht die Katabasis der der republikanischen Idee im deutschen Volk. Im Gegenteil! Die Anabasis!"112 So diametral Michels' Beurteilung der linksliberalen Wahlniederlage auch der Bernsteinschen entgegensteht, in der damals vieldiskutierten Frage eines Bündnisses zwischen Sozialisten und Linksbürgerlichen steht Michels Bernstein näher als man denkt. Im Prinzip nämlich hält Michels eine Zusammenarbeit zwischen bürgerlicher und sozialistischer Demokratie sogar für geboten. Das zeigt seine Skizze der normativen Fronten beim ersten Wahlgang, die den Charakter einer prinzipiellen Richtungsentscheidung für das Deutsche Reich deutlich hervorhebt: „Es lagen zwei Welten im Kampf'. Der Grundbesitz, der für Schutzzölle auf Weizen und Fleisch eintrat, traf auf die Schutzzollgegner, die das existentielle Interesse der unteren Schichten an erschwinglichen Marktpreisen verteidigten; die einen befürworteten eine Steigerung der Rüstungsausgaben - als machtpolitischer Unterpfand einer privilegierten Stellung Deutschlands in der Welt - , während die anderen für ein friedliches Selbstverständnis der deutschen Kulturnation warben und weitere Militärvorlagen als unproduktive Ausgaben ablehnten. Die dritte Konfrontationslinie verlief Michels zufolge zwischen zwei sich diametral gegenüberstehenden Versionen des Staatsbegriffes: „Die eine Welt sagte: wir sind die Herren des Staates und wer immer auch sich nicht anpassen will, der wird durch Sondergesetze in die Schranken gewiesen. Darauf antwortete die andere Welt: Der Staat ist nicht Selbstzweck, sondern würde im Gegenteil keinen Existenzgrund haben, wenn er nicht durch die Wünsche seiner Bürger transformierbar wäre." Nicht zuletzt schieden sich die „zwei Welten" in der Frage, ob allen Bürgern dieselben politischen Rechte zukommen oder ob diese nach soziohierarchischem Muster zu verteilen seien. Bezeichnend ist nun Michels abschließender Kommentar zu diesem „Zwei-Welten"-Szenario: „Wie man sieht, zwei Welten ohne Kontakt, zwei Welten, die sich gegenseitig völlig fremd sind; die reaktionäre und die liberale Welt'.113

110 Michels, I progressi del Repubblicanesimo in Germania, a.a.O., S. 400: „La vittoria stragrande dei socialisti significa dunque un passo - e magari un passo gigante - avanti nella via maestra che conduce alla repubblica." 111 Mit „germanischer" bzw. „deutscher" oder „bürgerlicher Demokratie" bezeichnet Michels die Linksliberalen. 112 Michels, I progressi del Repubblicanesimo in Germania, a.a.O., S. 400: „La catabasi subita dalla democrazia tedesca nelle elezioni politiche del Giugno 1903 non significa dunque la catabasi dell'idea repubblicana nel popolo tedesco. Tutt'altro! L'anabasi!" 113 Michels, Psicologia e statistica, S. 553. Hervorhebung von mir. Die „zwei Welten" lauten im italienischen Original: „C'erano due mondi in lotta. Il primo diceva: la grande proprietà fondiaria deve essere difesa ad ogni costo; perciò vogliamo una tariffa doganale che ci grantisca lauti guadagni. L'altro rispondeva: la massa del popolo minuto ha bisogno di pane e di carne a buon mercato; perciò siamo nemici del dazio sul grano e sul bestiame. Il primo diceva: noi siamo la

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Wer so schreibt, dem müssten zumindest temporäre Bündnisse zwischen Arbeiterbewegung und progressivem Bürgertum zur Verteidigung und zur Durchsetzung von Freiheitsrechten, wie das Bernstein vorschlägt, nicht suspekt, sondern naheliegend erscheinen. Tatsächlich gibt es kaum einen Artikel in jener Zeit, in dem Michels nicht die linksliberale Taktik in den folgenden Stichwahlen als schweren Irrtum bezeichnet: „Anstatt sich entschieden auf die Seite der Sozialisten zu stellen, mit denen sie quasi das ganze Minimalprogramm, die Militärfrage einmal ausgenommen, gemeinsam haben, haben die [bürgerlichen] Demokraten fast überall, aber besonders in Preußen, für die konservativen Kandidaten gestimmt."114 Anstelle eines temporären Verteidigungsbündnisses mit den Sozialdemokraten gegen die reaktionären Kräfte im Parteienspektrum habe die bürgerliche Linke lieber Arm in Arm mit diesen gegen die „Feinde der gottgewollten Ordnung gekämpft". 115 Die in diesen Zeilen enthaltene Bekräftigung einer prinzipiellen programmatischen Gemeinsamkeit von Sozialdemokratie und bürgerlicher Demokratie' in der „ZweiWelten"-Theorie des ersten Wahlgangs kollidiert allerdings in Michels' Wahlanalysen mit den faktischen Bündnispräferenzen der Linksliberalen in der Praxis des Stichwahlkampfes. Und hier liegt die Quelle des Dissenses zwischen Bernstein und Michels: der normative Ausgangspunkt, die programmatische Kontinuität zwischen Liberalismus und Sozialismus, ist bei Bernstein und Michels nahezu identisch: Wie Bernstein, der den Sozialismus historisch und ideell als „legitimen Erben" des Liberalismus versteht,116 ist auch Michels zufolge „der deutsche Sozialismus der Erbe der demokratischen und liberalen Traditionen des Landes". Dies, so Michels, sei auch der Grund dafür, daß die

prima nazione del mondo e perciò abbisognamo un esercito altrettanto grande e non temiamo l'aumento delle spese militari. L'altro rispondeva: noi siamo una nazione colta e pacifica e non possiamo più sopportare le spese .. improduttive. L'uno diceva: noi siamo i padroni del nostro Stato e chiunque non vuole assimilarsi sarà sopraffatto da leggi speciali. L'altro rispondeva: lo Stato non è scopo a sè stesso, ma al contrario non avrebbe nemmeno ragione di essere se non fosse trasformabile dai desiderii dei suoi cittadini. L'uno - non diceva ad alta voce - ma fece trapelare: il voto politico dovrebbe essere valutato solamente secondo la coltura scolastica e specie secondo il posto che i singoli occupano nella gerarchia della società. L'altro rispondeva: la cosidetta gran massa molte volte possiede una coscienza ed una coltura politica assai superiore a quella di coloro che occupano un alto posto nella sedicente società, ed ogni cittadino deve avere gli stessi diritti politici. Come si vede, due mondi senza contatto, due mondi affatto estranei l'uno all'altro; il mondo reazionario ed il mondo liberale". 114 Michels, Psicologia e statistica, S. 565-566: „Sbagliatissima poi fu la loro tattica nei ballotaggi. Invece di mettersi risolutamente dalla parte dei socialisti, con cui hanno in comune quasi tutto il programma minimissimo meno il militare, i democratici hanno votato, quasi dappertutto, ma specie in Prussia, per i candidati conservatori" 115 Michels, La vittoria socialista, S. 2: „Invece di unirsi ai socialisti a scopo di difendersi almeno contro la monarchicheria più forcaiola, questi gruppi hanno preferito di lottare a braccetto con questa contro i,nemici dell'ordine voluta da Dio'." 116 Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Reinbek bei Hamburg 1969 (1. Aufl. 1899), S. 159

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deutsche Arbeiterpartei sich sozialdemokratisch nenne, während sich in allen anderen Ländern die Arbeiterparteien sozialistisch titulieren.117 Die Konsequenzen, die beide aus derselben normativen Grundüberzeugungen ziehen, gehen allerdings im Sommer 1903 diametral auseinander, weil Michels bezweifelt, daß in der bürgerlichen Linken auch empirisch etwas vom republikanischen Erbe Übriggeblieben sei. Für Michels steht nach den Stichwahlen von 1903 fest: „Es gibt in Deutschland keinen Republikanismus außerhalb des sozialistischen."118 Auch aus diesem Befund heraus radikalisiert sich schon vor dem Dresdner Parteitag Michels' Position. Trotz der von ihm erkannten kulturellen, konfessionellen, regionalen und auch politischen Fragmentierung des .bürgerlichen Lagers', seiner Differenzierung in verschiedene soziale Kreise und Identitäten, greift Michels nämlich an Stelle der noch relativ elastischen Zwei-Lager-Theorie von liberaler und reaktionärer Welt erstmals zu einer klassenkämpferischen Reformulierung. Das Fiasko der Linksliberalen und der „Riß des pseudodemokratischen Vorhangs", lautet jetzt die radikalere Version, erlaubten einen unverstellten Blick auf „zwei klar unterschiedene Blöcke": „der Block der rein bürgerlichen Welt und jener der rein sozialistischen Welt". Dies sei das definitive Ergebnis der Wahlen, ein „guter und heilsamer Ausgang, der der historischen Entwicklung entspricht und zum Triumph unserer Ideale fuhrt." 119 Sätze dieser Art belegen die klassenkämpferische Radikalisierung von Robert Michels in Reaktion auf die Reichstagswahlen. Sie sind gewiß hochideologisch eingefärbt, aber sie reflektieren auch auf ihre simplifizierende, propagandistische Weise tatsächliche Vorgänge, namentlich die Polarisierung des öffentlichen Lebens in Deutschland während der Wahlen, vor Dresden und danach.120 Die radikale, geradezu manichäische Optik - zunächst auf die „zwei Welten", dann auf die „zwei Blöcke" - wird für Michels in den wenigen Wochen vor dem Dresdner Parteitag auf jeden Fall zur wegweisenden Sichtschneise durch die komplexe und unübersichtliche politische Kulturlandschaft Deutschlands, die er an anderer Stelle noch mit viel Einfiihlsamkeit für ihre zahlreichen cleavages analysiert hat.121 Am Ende des Weges durch diese Sichtschneise wird Michels mit abstrakten Begriffen wie „Klassenkampf' oder „revolutionäre Intransigenz" jonglieren, für die Resolution Kautskys gegen Bernstein stimmen und Kautsky als größten Marx-Interpreten seiner

117 Michels, Le Congrès socialiste de Dresden et sa psychologie, in: L'Humanité Nouvelle. Revue internationale scientifique et litéraire, Jg. VII, Nr. 53, November 1903, S. 740-754, S. 747. 118 Michels, Psicologia e statistica, S. 552: „Come ho già detto non c'è repubblicanesimo in Germania fuori del socialistico" 119 Michels, Democrazia e socialismo, a.a.O.: „Così, la rottura del sipario pseudodemocratico lascia vedere un gran vuoto, il vuoto ha due blocchi ben distinti, il blocco del mondo schiettamente borghese e quello del mondo schiettamente socialista. Sarà questo il risultato definitivo delle ultime elezioni in Germania, esito buono, esito sano, esito conforme allo sviluppo storico che conduce al trionfo dei nostri ideali". 120 Vgl. Dieter Groh, Emanzipation und Integration, a.a.O., S. 350f. Man denke z. B. an die Gründung des Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie. 121 Vgl. das Kapitel „Ein Land aus Stuck"

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IV. Am Krankenbett des Proletariats

Zeit ansehen. Vor den Wahlen ist das noch anders: Im Mai 1903 etwa erleben wir noch einen Robert Michels, der sich jenseits der Alternative revolutionär versus reformistisch in der SPD zu positionieren versucht. In einer publizistischen Laudatio auf August Bebel vom 1. Mai würdigt Michels diesen als ausgleichende Figur im innerparteilichen Strömungsstreit der Sozialdemokratie: „Bebel ist weder transigent noch intransigent, er ist einfach Sozialist. Und das ist meiner Meinung nach die schönste Auszeichnung, derer sich Bebel rühmen darf." 122 Am 5. August 1903 dagegen rückt Michels ein Stück nach links, als er sich strömungspolitisch wie folgt lokalisiert: „Im übrigen bin ich eher ,Kautskyaner' als ,Bernsteinianer'." 123 Das Motiv für diesen Linksruck läßt sich aus einem Aufsatz ableiten, den Michels acht Tage später in der „Rheinischen Zeitung" veröffentlicht. Nach der divergierenden Beurteilung der linksliberalen Niederlage ist es nun nämlich die Vizepräsidentenfrage, in der Michels innerhalb weniger Wochen zum zweiten Mal Stellung gegen Eduard Bernstein bezieht. Die Offerte des „Kaisergangs" wird für Michels zur Probe auf die republikanische Integrität der Sozialdemokratie, für die er nun synonym den Begriff der „sozialistischen Republikaner" gebraucht. 124 Die Rhetorik der „revolutionären Intransigenz", mit der sich Michels im Dezember 1903 schließlich als „sozialdemokratischer Klassenkämpfer" präsentieren wird, wurzelt in diesem Kontext vom August 1903, als er den „sozialistischen Republikanismus" in den Rang eines gesinnungsethischen Fundamentalprinzips erhebt. Michels lehnt es ab, die Vizepräsidentenfrage nach Kriterien der politischen Opportunität zu diskutieren: „Es kann sich in vorliegender Frage überhaupt nur um eine Prinzipienfrage, in keinem Fall aber um eine Nützlichkeitsfrage handeln. Verlassen wir den Boden des Prinzips und stellen uns, wie Genösse von Vollmar das möchte, nur die eine Frage, ob nämlich die Vorteile oder die Nachteile überwiegen, dann öffnen wir dem schlimmsten Opportunismus Haus und Tür, dann führt der logische Weg weiter zum ,königlichen Sozialismus' unseres ehemaligen italienischen Genossen Enrico De Marinis. Die Werttrage hat unbedingt hinter der Prinzipienfrage zurückzustehen, wenn wir uns nicht mutwillig in die soeben verlassene Position

122 Michels, Augusto Bebel. Cenno biografico, in: Il Grido del Popolo, anno XII, Num. 18, 1. Mai 1903, S. 1-2: „Ma ciò che noi dobbiamo ammirare nel Bebel più di tutto, è la sua opera pacifica nei dissensi del nostro partito. Il Bebel non è nè transigente nè intransigente, è semplicemente socialista. Ed è questa, secondo il mio modo di vedere la più gloria che il Bebel possa vantare" [m. Hvhbg.]. 123 Vgl. Brief an Augustin Hamon, 5. August 1903, in: Corrado Malandrino, Lettere di Roberto Michels e di Augustin Hamon (1902-1917), in: Annali della Fondazione Luigi Einaudi, Vol. XXIII, Torino 1989, S. 487-562, S. 519/520: „Du reste suis-je plutôt ,Kautskyen' que ,Bernsteinien.'" 124 Michels, Der Kaisergang und die Sozialdemokratie, in: Rheinische Zeitung, 12. Jg., Nr. 184, 13.8.1903. Es handelt sich hier praktisch um die ,Replik' auf Eduard Bernstein, Was folgt aus dem Ergebnis der Reichstagswahlen?, in: Sozialistische Monatshefte, VII, 2, 1903, S. 478-486.

IV. 1. Die Legende von Dresden

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des weiland Nationalsozialismus oder gar in die des Nationalliberalismus hineinbegeben wollen."125 Die Gefahr der „psychologischen Metamorphose" durch die Ausübung politischer Amtsgeschäfte, die er ein paar Jahre später als Ursache fur den Wandel der Partei von einem revolutionären zu einem systemstabilisierenden Faktor thematisieren wird, ist in diesem frühen Text bereits impliziter sozialtheoretischer Hintergrund: „Eine höfische Berührung zwischen Republikanern und Monarchen, und mag sie sich auch auf parlamentarische Liebenswürdigkeiten beschränken", so Michels mit einem Blick auf die Parteiengeschichte, „hat zwar schon manchem Republikanismus den Garaus gemacht, aber man hat umgekehrt noch nie erlebt, daß ein Monarch durch sie zum Republikaner geworden wäre." Abgesehen von dieser Gefahr, daß die Opportunität in den Opportunismus führt, sprechen Michels zufolge auch noch andere Momente gegen die, „wenn auch nicht rechtlich, so doch gewohnheitsrechtlich" mit der Vizepräsidentenschaft verbundene „Verbeugung vor der Monarchie". Bernstein hatte über die Möglichkeit nachgedacht, die Audienz beim Kaiser könne auch in eine demonstrative Handlung gegen den Monarchen umfunktioniert werden. Michels dagegen beharrt darauf, daß eine Audienz eine „Gnadenbezeugung dessen" sei, „der sie gibt, dem gegenüber, der sie nachsucht. Man soll sich doch nur nicht einbilden, den Kaiser mit Audienzen anärgern zu können". Darüber hinaus fordere der politische Anstand auch deshalb einen Verzicht auf den Kaisergang, weil neben dem mit dem republikanischen Gedanken unvereinbaren monarchischen Amt auch schon die Person des Amtsträgers, Wilhelms II., eine ,Annäherung an den Redner von Essen und Breslau" schlichtweg verböte. Für die Michels-Forschung sind seine Erörterungen der Vizepräsidentenfrage aber vor allem deshalb von Interesse, weil Michels auch auf Eduard Bernsteins Einschätzung eingeht, die Reichsverfassung sei „relativ republikanisch" und, insofern er hier energisch widerspricht, in wünschenswerter Deutlichkeit die Eckpunkte seines Republikverständnisses nennt: „Die Verfassung des Deutschen Reiches mag dem Staatsrechtler manche harte Nuß zu knacken geben, für den Politiker dürfte sie zweifellos besonders leicht zu werten sein: sie ist der Form nach durchaus oligarchisch - ein Fürstenbund mit einem primus inter pares an der Spitze; dem Inhalt nach aber ist sie in zaristischer Stammverwandtschaft absolutistisch', von Republikanismus fehlt in ihr aber auch jede Spur! Keine Verfassung Europas - die österreichische vielleicht ausgenommen - gibt den Volksrechten so wenig Raum wie die deutsche Reichsverfassung. Wo in einer Verfassung, die nicht einmal das elementare Volksrecht der Ministerverantwortlichkeit kennt, der trait-d'union mit einer republikanischen sein soll, ist nicht recht erfindlich."126

125 Michels, Kaisergang, a.a.O. 126 Michels, Kaisergang.

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IV. Am Krankenbett des Proletariats

Schaut man sich das Pro und Contra in der Vizepräsidentenfrage an sowie die divergierenden Einschätzungen, ob die Reichsverfassung republikanische Spielräume eröffne oder nicht, dann geht es in der Debatte zwischen Bernstein und Michels letztlich um nichts anderes als um die Reformfahigkeit des Deutschen Kaiserreiches. Während Bernstein sich über eine Durchbrechung der ,negativen Integration' zugunsten einer ,positiven' Integration der Arbeiterpartei in das politische System substantielle Reformimpulse verspricht, konstatiert Michels die Reformunfähigkeit des preußisch dominierten Nationalstaates und setzt auf den politischen Bruch. „Die heutige Form zu benützen, um auf die Gestaltung des Morgigen Einfluß zu nehmen", wie es der Praktizist Georg von Vollmar formuliert,127 kommt für Michels einer gefährlichen Selbsttäuschung gleich: „Wie soll eine einsichtige Volksvertretung Gutes schaffen können, solange selbst ein einstimmiges Votum von ihr rechtlich durch den Federzug eines einzigen Menschen zu Nichte gemacht werden kann."128 Es ist Michels' Grundüberzeugung von der Prussifizierung des deutschen Bürgertums und der historischen Niederlage des bürgerlichen Liberalismus sowie ein fundamentalistischer Republikanismus, die seiner Wandlung zum ,intransigenten' Sozialisten zugrunde liegen. In Kautsky, dessen revolutionäre Haltung sich seit 1902 verschärft und der vom oftmals ihm selbst zugeschriebenen ^evolutionären Attentismus' insofern radikal abweicht, als er unverblümt die „politische Revolution", die „Eroberung der politischen Macht" als Voraussetzung der - evolutionär verstandenen - sozialen Revolution fordert, in diesem Kautsky sieht Michels die orthodoxe und intransigente Rechtfertigung seiner eigenen republikanischen Position und folgerichtig weitaus mehr Gemeinsamkeiten als mit Bernstein. Allerdings beruht Michels' republikanischer Optimismus, den er aus den Reichstagswahlen gewonnen hat, auf einer fundamentalen Fehleinschätzung. Hat er doch die „Fortschritte des Republikanismus in Deutschland" in seiner naiv-positivistischen Wahlarithmetik damit begründet, daß die drei Millionen Stimmen darauf beruhen, daß die „Agitation der Sozialisten noch nie eine derart antidynastische Spitze wie dieses Mal" gehabt habe.129 Die preußische Politische Polizei hat da eine andere und wohl realistischere Einschätzung: Der Wahlerfolg der SPD entspringe „nicht der Zunahme der wirklich überzeugten Genossen", sondern Stimmengewinnen bei den Wechselwäh-

127 Georg von Vollmar, Über die nächsten Aufgaben der Sozialdemokratie, München 1891, S. 8. Mit diesem Zitat soll keineswegs suggeriert werden, daß Bernstein sich im Ganzen mit den Positionen der Parteirechten identifiziert hätte. Sowohl in der Frage des Massenstreiks (1905) als auch in der Frage der Unterstützung der deutschen Kriegspolitik ab 1914 und schließlich in der Kriegsschuldfrage stehen Bernsteins Positionen dem rechten Flügel diametral gegenüber. 128 Michels, ,Endziel', Intransigenz, Ethik, in; Ethische Kultur, XI. Jg., Nr. 50, 12. Dezember 1903, S. 393-395; Nr. 51, 19.12.03, S. 403-404, S. 404. 129 Michels, I progressi del Repubblicanesimo, S. 400.

IV.2. Von der republikanischen Intransigenz zum revolutionären Revisionismus

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lern.130 Daß die sozialdemokratische Politik wie die Motive ihrer festen und temporären Anhänger höchst heterogen und widersprüchlich sind, das soll Michels erst einige Wochen später bewußt werden. Die Frage, ob nicht dieselbe verwirrende Vielfalt von Prioritätensetzungen, die das linksbürgerliche Lager kennzeichnen, auch das sozialdemokratische Wählermilieu charakterisiert, ob die Stimmabgabe wirklich mit der Vision der Republik einhergeht oder sie nicht von näherliegenden Existenzfragen wie dem ,3rotwucher" motiviert ist, stellt Michels sich im republikanischen Sommer' 1903 noch nicht. Stattdessen sieht er im Spätsommer 1903 das Heil für Deutschland immer mehr aus dem Zentrum der marxistischen Parteiorthodoxie kommen. Daß er dort auch phraseologisch wie emotional angekommen ist - und sich keineswegs, wie er 1932 suggerieren wird, auf einer Außenseiterposition wähnt - , zeigt ein zeitgenössischer Kommentar zum Dresdner Parteitag: „Der Kongreß von Dresden ist eine Etappe auf dem Weg zum Sieg. Nie gab es so .wenige' Reformisten wie jetzt. Die Einheit der Partei ist gerettet. Und wenn die Einheit des Gedankens nicht erreicht wurde - zum Glück! In gewissen Momenten ist auch reformistische Tendenz nötig und nützlich. Es genügt, daß allen der große Mehrheitswille in der Partei bewußt ist, daß ihre Vertreter die geradlinige und revolutionäre Marschroute des Klassenkampfes und der Abschaffung der Klassen selbst gehen sollen."131

IV.2. Von der republikanischen Intransigenz zum revolutionären Revisionismus (1904) 2.1. Der Reformismus als „stato d'animo" erfolgreicher Organisationen Am Morgen nach der revolutionären Einheitsparty von Dresden macht sich bei Robert Michels eine leichte Katerstimmung bemerkbar. Etwas irritiert ihn an den Parteitagsereignissen. Gewiß identifiziert er, der bis Mai 1903 eher reformistische Töne angeschlagen hat, sich nunmehr vorbehaltlos mit der ,revolutionären' Parteilinie a la Bebel und Kautsky und bewertet „Dresden" in der italienischen Parteipresse als eine „Etappe auf dem Weg zum Sieg".132 Andererseits nimmt er aber auch die Ambivalenz der Dresdner Resolution wahr: ihren Charakter eines dilatorischen Formelkompromisses 130 Zit. n. Dieter Groh, Emanzipation und Integration, S. 345. 131 Michels, I risultati del Congresso di Dresda, a.a.O., S. 3: „II Congresso di Dresda è una tappa sulla via della vittoria. Mai i riformisti furono così ,pochi' come adesso. L'unità del partito è salva. E se l'unità del pensiero non è raggiunta - meno male! In certi momenti anche la tendenza riformista è necessaria ed utile. Basta che tutti sappiano che la volontà della gran maggioranza del partito desidera che i suoi rappresentanti seguano la linea diritta e rivoluzionaria della lotta di classe, e dell'abolizione delle classi medesime". 132 Michels, I risultati del Congresso di Dresda, a.a.O.

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IV. Am Krankenbett des Proletariats

zwischen den heterogenen politischen Tendenzen innerhalb der Partei, der den Richtungsstreit nicht zu entscheiden vermag, sondern nur aufschiebt. In seinen Reflexionen nach Dresden verkehrt sich der Sinn der Dresdner Resolution für Michels mitunter sogar in sein Gegenteil. Kautskys und Bebels Strategie, das Lager der Revisionisten zu spalten, ist zwar aufgegangen. Aber sie scheint alles andere als einen Sieg über den Reformismus zu bedeuten: „Bebels Antrag hat nur den Bernsteinianismus geschlagen, der zwar ein Teil des Reformismus ist, aber sicherlich der heilsamste und sympathischste, da er aufrichtiger und demokratischer ist und mit gewissen wissenschaftlichen Thesen einher geht, die im allgemeinen nicht die Praxis des Klassenkampfes tangieren. Bernstein ist kein Ehrgeizling, der sich um jeden Preis herausstellen will. Geschlagen in einem offenen und anständigen Schlagabtausch, laudabiliter se subiecit."m Offensichtlich hat es auf dem Parteitag den Falschen erwischt, und zwar, wie wir aus Michels' bemerkenswerter Sympathieerklärung für Bernstein ersehen können, aus zweierlei Gründen. Erstens exemplifiziert sich für Michels am Kopf des theoretischen Revisionismus sein Idealbild einer demokratischen Streitkultur: der „aufrichtige" und „offene" Austausch der Argumente ohne taktische Rücksichten sowie die Akzeptanz der demokratischen Spielregel, daß man sich dem Votum der Mehrheit zu fügen hat, ohne deswegen sich die Mehrheitsmeinung zu eigen machen zu müssen. Verglichen mit den Praktizisten in der Partei, die verbal wider ihre persönliche Überzeugung in den r e volutionären' Schulterschluß einwilligt haben, ist Bernstein also eine Ausnahmeerscheinung im sogenannten reformistischen Lager. Zweitens ist Michels ganz offensichtlich der Meinung, daß Bernstein im Hinblick auf klassenkämpferische Aktionsformen keineswegs ein politischer Gegner ist, was sich ja spätestens in den Generalstreikdebatten der folgenden Jahre auch so herausstellen wird. Seine Revision der Marxschen Theorie berühre eben nicht die „Praxis des Klassenkampfes". Der eigentliche Reformismus dagegen, dessen Tendenz zu einem „Entgegenkommen an die bestehende Ordnung" der Parteitag Einhalt gebieten sollte, lebt auch nach Dresden in der Partei ungebrochen fort, weil sich seine politische Physiognomie jedem disziplinierenden Zugriff entzieht bzw. eine klare Physiognomie des Reformismus gar nicht existiert, wie Michels jetzt erkennen muß. Der Reformismus sei nämlich kein „neues System" mit expliziter Programmatik, sondern ein „Gemütszustand", eine „ununterbrochene Serie von Abirrungen von der Idee [...], denen man sich wie zufällig hingibt. Der eine [...] hat ein gewisses Faible für den Kolonialimperialismus, der zweite für

133 Michels, I risultati del Congresso di Dresda, a.a.O.: „Così avvenne, che la mozione Bebel non ha colpito che il bemsteinianismo, parte del riformismo, ma certamente la parte più sana e più simpatica, perché più sincera e più democratica e con certe tesi scientifiche che generalmente non toccano la pratica dell lotta di classe. Bernstein non è un ambizioso. Non vuol emergere ad ogni costo. Battuto nella lotta aperta ed onesta, laudabiliter se subiecit".

IV.2. Von der republikanischen Intransigenz zum revolutionären Revisionismus

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das stehende Heer, der dritte für den privaten Landbesitz etc., etc."134 Diese Art von Reformismus lasse sich gar nicht mit einem Parteitagsantrag bekämpfen, da ein solcher zwei oder drei Bände füllen würde. Während Kautsky offenbar die Isolation Bernsteins in der Annahme betrieben hat, daß der Revisionismus der Theorie die Quelle allen praktizistischen Übels sei, sieht Michels dagegen die größte Gefahr in einem durch Theorieabstinenz gekennzeichneten „Gemütszustand" der „Unruhe": „Meiner Ansicht nach ist gerade die Unruhe, möglichst schnell sichtbare Erfolge vor Augen zu haben, die gehabte Mühe möglichst bald zu einem greifbaren und nennbaren Gesetzchen umgemünzt zu sehen, wobei denn natürlich bei den heute vorhandenen Stärkeverhältnissen der Gegner etwas in sozialistischem Sinne Gründliches nicht herauskommen kann, eine der Hauptursachen der Entstehung des Revisionismus als einer Rückwirkung psychologischer Eigentümlichkeiten auf das politische Streben."135 Diese psychologische Quelle des als „stato d'animo" verstandenen Reformismus liegt für Michels weit tiefer, als die Kluft zwischen radikaler und revisionistischer Theorie innerhalb der Partei vermuten läßt. Den Streit um die Frage, was denn nun von höherer praktischer Bedeutung sei, das Ziel oder die Bewegung,136 bezeichnet Michels denn auch signifikanterweise im Dezember 1903 als „müßig".137 Auch der „Zukunftsstaat" ist für ihn, wie wir in seiner Polemik mit Bebel gesehen haben,138 nichts weiter als eine „Spekulation". In seinem ersten Aufsatz programmatischen Charakters zur sozialdemokratischen Lagerdebatte, „,Endziel', Intransigenz, Ethik", hat Michels denn auch das

134 Michels, I risultati del Congresso di Dresda, a.a.O.: „II riformismo non è un sistema nuovo. Esso è piuttosto uno stato d'animo. Esso consiste soltanto in una serie ininterotta di aberrazioni dall' idea, incongruenti, alle quali ci si abbandona come per caso. L'uno dei suoi fautori ha un certo faible per l'imperialismo coloniale, il secondo per l'esercito permanente, il terzo per la proprietà privata agraria, ecc., ecc., ed è questo stato di cose che rende quasi impossibile la condanna del riformismo intero mediante un ordine del giorno, il quale, si capisce, non può essere pubblicato in due o tre grossi volumi." 135 Michels, „Endziel", Intransigenz, Ethik. Ein sozialdemokratisches Thema, in: Ethische Kultur, XI. Jg., Nr. 50, 12.12.1903, S. 393-395, Nr. 51, 19.12.03, S. 403^04., S. 404. 136 Bernstein hatte sein gradualistisches Reformkonzept auf die Formel gebracht: „Das, was man gemeinhin Endziel des Sozialismus nennt, ist mir nichts, die Bewegung alles", und damit auch der Vorstellung von der „Naturnotwendigkeit der Entwicklung" eine Absage erteilt. Vgl. E. Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Bonn-Bad Godesberg 1973, Reprint der 5. Aufl, zuerst 1899, S. 200. Rosa Luxemburg hatte dem entgegnet: „Die Bewegung als Selbstzweck ist mir nichts, das Endziel ist uns alles. Vgl. R. Luxemburg, Parteitag der Sozialdemokratie 1898 in Stuttgart. Rede über das Verhältnis des trade-unionistischen zum politischen Kampf, in: dies., Gesammelte Werke, 5 Bände, Berlin (DDR) 1970-75, Bd. 1/1, S. 241. 137 Michels, „Endziel", S. 393. 138 Michels, Der 34. Bebel, a.a.O.

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IV. Am Krankenbett des Proletariats

„Endziel" bezeichnenderweise in Anführungsstriche gesetzt und mit einer Erläuterung versehen, die klar seine Verankerung im evolutionistischen common sense belegt: „Kein vernünftiger Sozialist wird glauben, daß eine ,Entwicklung' jemals vollendet' werden könne. Noch viel weniger aber wird es seine Annahme sein können, daß der Moment des, sagen wir einmal physischen und intellektuellen Sieges der Sozialdemokratie etwa den Gipfel- und Endpunkt der menschheitlichen Entwicklung überhaupt bedeute."139 Es verwundert angesichts dieses entspannten Umgangs mit den großen geschichtsphilosophischen Leitbegriffen der sozialistischen Arbeiterbewegung nicht, daß Michels sich im Dezember 1903 beim Versuch einer programmatischen Ortsbestimmung der Partei ausgerechnet argumentativ an Eduard David anlehnt, der gefordert hat, daß eben nicht das „Endziel", sondern das „nächste Ziel" die praktische Orientierungsmarke der SPD sein müsse. David, seines Zeichens dem Revisionismus Bernsteins und dem Neukantianismus nahestehend, hat seine Losung vom „nächsten Ziel" systematisch mit der prinzipiellen Revisions- und Falsifikationsfahigkeit der „Quadersteine der marxistischen Theorie" verknüpft. Nicht hierin, sondern im Kampf gegen die politische Unterdrükkung und wirtschaftliche Ausbeutung, so David, liege der Existenzgrund der Sozialdemokratie, die ihren Kampf auch dann weiterführen müsse, wenn das ganze theoretische Lehrgebäude von Marx von der Wert- bis zur Konzentrationstheorie zusammenstürzte.140 Erst diese fast schon demonstrative Adaption der Thesen Eduard Davids sowie die unverhohlenen Sympathiebekundungen gegenüber Bernstein komplettieren die politische Physiognomie des Sozialdemokraten Michels im ersten Jahr seines parteipolitischen Engagements. Derselbe Autor, der im September 1903 der radikalen Resolution Kautskys zustimmt, hat ganz offensichtlich keinerlei Berührungsängste mit Vertretern des vermeintlichen ,rechten' Flügels. So haben auch weder Bernsteins ökonomische Trendaussagen zum Fortbestand der Klein- und Mittelbetriebe noch seine Kritik an der marxistischen Staats- und Revolutionstheorie jemals Michels' Kritik provoziert. Es sind einzig und allein zwei praktische Fragen, die Michels im zweiten Halbjahr 1903 von Bernstein trennen: die Frage der Vizepräsidentenschaft und die der Bündnispolitik. Michels' Radikalismus bezieht seine Motive somit von Anfang an nicht aus dem theoretischen Disput der ,großen' Marx-Interpreten und -Revidierer, die er - was den Respekt vor ihrer wissenschaftlichen' Leistung betrifft - offensichtlich gleichermaßen schätzt. Es ist vielmehr der sich von den großen Deutungen emanzipierende Praktizismus', der nach Dresden Michels' moralischen Protest provoziert und ihn den Standpunkt der „ethischen Intransigenz" beziehen läßt:

139 Die betreffe insbesondere das „Gebiet der sexuellen Beziehungen", das auch nach einem sozialistischen Sieg noch lange nicht „auf der Höhe" stehen werde. Vgl. Michels, „Endziel", S. 403. 140 Michels, „Endziel", S. 393. Michels zitiert hier zustimmend eine längere Passage aus Eduard David, Zur vorläufigen Abwehr, in: Sozialistische Monatshefe, VII (IX), Bd. I, Nr. 5.

IV.2. Von der republikanischen Intransigenz zum revolutionären Revisionismus

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„Das Markten und Feilschen mit Prinzipien, das Volksrechte mit Kanonen Eintauschen, die Realpolitik', die, um nur ja für das Heute eine Bagatelle herauszuschlagen, das große Ideal des Morgen vergißt oder doch hintanstellt, alles das kann sicherlich kein Ethiker gutheißen. Eine Weltanschauung, wie der Sozialismus, welcher unzertrennlich mit dem Glauben an den sich in bestimmten Bahnen vollziehenden Fortschritt der Menschheit verknüpft ist, darf zu ihren politischen Vertretern keine Do-ut-Des-Diplomaten haben."141 Hiermit ist das Grundproblem angesprochen, das Michels nach Dresden und in den folgenden Jahren immer wieder beschäftigen wird. Wenn er 1903 und 1904 in der Frage des Republikanismus, 1905 und 1906 mit Blick auf den Pazifismus einer rigorosen Prinzipientreue das Wort redet, dann entspringt dies seiner Sorge, daß eine rein realpolitische Ausrichtung des politischen Handelns, das seine Maximen allein aus den verfassungspolitischen Möglichkeiten des status quo schöpft, die Grundziele des Sozialismus vergessen und verspielen wird und darüber auch die den Zielen zugrunde liegenden moralischen Antriebskräfte devitalisiert würden. Interessanterweise deutet Michels die opportunistischen Tendenzen in der Arbeiterpartei aber nicht als einen , Sündenfall', den man durch die Predigt des rechten Glaubens wieder rückgängig machen könne. Es ist für den späteren Parteiensoziologen, der so viel Gewicht auf den fortschreitenden Prinzipienverlust in politischen Organisationen legen wird, bereits 1903 offenkundig ein Axiom, daß „zwei große Tendenzen [...] unstreitig in allen sozialistischen Parteien existieren, die ihre erste rein idealistische Konstitutionsphase überwunden haben"142. An anderer Stelle beruft sich Michels auf die „feinsinnige Begriffsscheidung Karl Kautskys" und stellt das Problem der SPD als allgemeines Problem jeder sozialistischen Bewegung dar, die unvermeidlich in eine „Krise der Entwicklungsjahre [...] von einer rein agitatorischen' zu einer politischen' Partei" geraten müsse.143 Was Michels hier anspricht, ist ein seinerzeit brandaktuelles Thema und hat für die Erkenntnis der Entwicklung sozialer Bewegungen bis heute kaum an Plausibilität eingebüßt. Im italienischen Kontext etwa ist es Camillo Prampolini, der ähnlich wie Kautsky die Entwicklung systemoppositioneller Bewegungen in einem Drei-Phasen-Schema periodisiert und es gerade den Erfolgen im Kampf um Anerkennung und politische Rechte zuschreibt, daß der revolutionäre Ursprungskonsens spätestens in der dritten Periode des „normalen Lebens" sich überlebt und den Richtungsstreit zwischen „Revolutionären" und „Reformisten" zur zwingenden Folge hat.144 Es ist dieser eben nicht bloß moralischen, sondern auffällig nomothetischen Optik auf den politischen Opportunismus geschuldet, daß sich für Michels der Widerstreit

141 Michels, „Endziel", S. 404. 142 Michels, Le Congrès socialiste de Dresden et sa psychologie, a.a.O., S. 754: „Les deux grandes tendances qui incontestablement existent dans tous les partis socialistes, qui ont franchi leur première période d'affirmation purement idéaliste [...]". 143 Michels, Die neue Parteitaktik in Italien, in: 5. Beilage zu Nr. 81 der Leipziger Volkszeitung, 9. April 1904. 144 Camillo Prampolini ed Enrico Ferri, Libertà o Intransigenza, Gozzano 1903, S. 13.

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IV. Am Krankenbett des Proletariats

,transigenter' und ,intransigenter' Orientierungen bereits 1903 als ein letztlich unvermeidliches und, wie er schreibt, „unlösbares Problem" darstellt.145 Insofern die reformistische Tendenz für Michels der Entwicklungslogik einer gewachsenen Partei gleichsam natürlich entspringt, insofern der Reformismus trotz seiner schleichenden Unterminierung der Prinzipien „in gewissen Momenten auch [...] notwendig und nützlich ist",146 dürfte Michels selbst mit seiner Kritik des Reformismus nicht dessen Exkommunikation aus der „ecclesia militane" (Kautsky) im Auge gehabt haben, sondern vielmehr die Stärkung der antireformistischen Tendenz als Gegengewicht147 und Korrektiv zum reformistischen „Gemütszustand" favorisiert haben. Sein Sympathisieren mit dem revolutionären Syndikalismus wird schon bald dieses Motiv der Etablierung von Gegengewichten - und nicht des Austausche einer Strategie durch die andere - bestätigen.

2.2. Der Spagat des „sozialdemokratischen Klassenkämpfers" Zunächst einmal ist die Zeit des „lauen Sozialreformismus" (Mitzmann) endgültig vorbei. Den Lesern der Ethischen Kultur präsentiert sich Michels nach Dresden als „politischer Ethiker". Eine Selbstbezeichnung, die er synonym mit „sozialdemokratischer Klassenkämpfer" und in Abgrenzung zum „Rein-Ethiker" verwendet.148 Mit letzterem ist der Herausgeber der „Ethischen Kultur", Rudolf Penzig, gemeint, mit dem Michels zum Jahreswechsel 1903/04 die Klingen kreuzt.149 Penzig erklärt sich zwar ebenfalls mit Eduard Davids Vorschlag einverstanden, die sozialdemokratische Politik schrittweise auf das jeweils „nächste Ziel" im allgemeinen Kampf um soziale Gerechtigkeit auszurichten. Den Weg des „Klassenkampfes" lehnt er aber ab, weil er es diesem abspricht, ein geeignetes Beförderungsmittel ethischer Positionen zu sein, und weil er nicht Michels' marxistischer Überzeugung folgen mag, daß das proletarische „Klasseninteresse mit dem klassenlosen Menschheitsideal zusammenfällt"150. Penzig mokiert sich insbesondere über Michels' Äußerung, daß der Sozialismus „Weltanschauung ist und als solche Anderen mitgeteilt werden will", und antwortet:

145 Michels, Congrès de Dresden ..., S. 754. 146 Michels, I risultati del Congresso di Dresda, a.a.O.: „In certi momenti anche la tendenza riformista è necessaria ed utile." 147 Die Logik des .contrappeso' in Michels' Beiträgen zur sozialdemokratischen Debatte hat erstmals Pino Ferraris mit Blick auf den revolutionären Syndikalismus herausgestrichen. Vgl. Ferraris, Saggi, S. 89. 148 Vgl. Michels, „Endziel", S. 395. 149 Vgl. Michels, „Endziel", Intransigenz, Ethik, a.a.O., die Antwort darauf von Penzig, Die Unvernunft des Klassenkampfes, in: Ethische Kultur (= ΕΚ), XI. Jg., Nr. 52, 26.12.1903, S. 409-411, und darauf die Kontra-Replik von Michels, Zur Ethik des Klassenkampfes, in: EK, 12. Jg., Nr. 3, 1904, S. 21-23, in Verbindung mit einer direkt anschließenden Kontra-Kontra-Replik Penzigs sowie einem versöhnlichen Schlußwort Wilhelm Foersters (ebd., S. 23). 150 Michels, „Endziel", S. 395.

IV.2. Von der republikanischen Intransigenz zum revolutionären Revisionismus

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„Weltanschauungen, die so dringend Anderen mitgeteilt werden wollen, verraten durch diese Ungeduld zumeist ihren Zusatz von trübender Leidenschaft zu dem reinen Wahrheitsgehalt. Es giebt Nichts, was so göttlich ruhig zu warten versteht, als die Wahrheit."151 Damit ist Michels' intellektuelles Selbstverständnis angesprochen, als sozialistischer Akademiker bzw. als politischer Intellektueller die Theorie mit der Praxis verbinden zu wollen.152 Penzig dissoziiert die Theorie von der Praxis, um die „Wahrheit" vor den trübenden Leidenschaften des politischen Kampfes zu bewahren, was Michels zufolge auf ein Verständnis von Theorie als einer „über den Wolken thronenden Göttin des ewigen Wartens" hinauslaufe. Für den „politischen Ethiker" aber scheint die Theorie auf das Medium der Politik geradezu existentiell angewiesen zu sein: .„Wahrheit' ohne Kampf ist wie Freiheit ohne gesetzliche Bestimmungen, die sie umgrenzen, und ohne wirtschaftliche Möglichkeit, sie auszuüben."153 So ganz unrecht hat Penzig mit seiner Warnung vor den politisch-praktischen Eintrübungen sicherlich nicht. Als Penzig die schwache empirische Unterfütterung der Theorie vom Klassenkampf bemängelt, wird der Tribut deutlich, den Michels den simplifizierenden Begriffen der II. Internationale zu zahlen hat. Die Menschen, konzediert Michels zwar, ließen sich „nicht restlos fein gesäubert in Schachteln unterbringen, auf deren Etikette mit großen Lettern der Name jeder Klasse geschrieben stände. Alles ist im Flusse, auch die Klassen." „Zwischenschichten der verschiedensten Art" verwässerten den Klassenbegriff zusätzlich. Dann aber begibt sich Michels vom Fluß phänomenologischer Differenzierung wieder aufs Festland der Doktrin und behauptet den prinzipiellen Interessengegensatz zwischen Lohnabhängigen und Arbeitgebern mit der Begründung, daß das Ziel der ersten die Maximierung des Lohns bei Minimierung der Arbeitszeit, das Ziel der letzteren die Minimierung der Löhne und die Maximierung der Arbeitszeiten sei.154 Theoretisch mag dieser Interessengegensatz plausibel sein. Dennoch ist Michels' Argumentation hier ideologisch befangen, weil er das Kernproblem des „Klassenkampfes" ausblendet: empirisch resultiert weder damals noch später aus dem Gegensatz von Kapital und Lohnarbeit die Arbeiterklasse mit einer kollektiven Identität und einem revolutionären Klassenbewußtsein, wie es die Marasche Vision der „Klasse an und für sich" unterstellt hat. Der Spagat zwischen einer sensiblen soziologischen Beobachtung und der apodiktischen Bekräftigung des Klassenkampfes wiederholt sich während Michels' Parteimitgliedschaft einige Male. Der Einsicht in die komplexe soziale Wirklichkeit des Kaiserreiches mit seinen nicht nur sozialen, sondern auch konfessionellen, nationalen und regionalen Gegensätzen steht unvermittelt ein schematisches Insistieren auf die „zwei

151 Penzig, Die Unvernunft des Klassenkampfes, a.a.O., S. 409. 152 So begründet er ja auch gegenüber seinen Eltern sein Engagement für die SPD. Vgl. seinen Brief an die Mutter von Silvester 1902, ARMFE (Kapitel „Vater, Regiment, studentische Boheme"). 153 Michels, Zur Ethik des Klassenkampfes, a.a.O., S. 21 154 Michels, Ethik des Klassenkampfes, S. 21.

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Welten im Kampf gegenüber.155 Bei diesem Spagat des „sozialdemokratischen Klassenkämpfers" kann das Klassenkampfaxiom mitunter auch schon einmal ausgerechnet dort unter den Tisch fallen, wo seine Nennung geboten gewesen wäre: Im Vorfeld des Amsterdamer Kongresses der II. Internationale etwa fordert Michels die Deputierten auf, eine Einigung über die „absoluten und unverletzbaren Prinzipien des internationalen Sozialismus" herbeizuführen, die da wären: „Meinungs- und damit auch Religionsfreiheit, das Verbot des Duells, das Selbstbestimmungsrecht der Völker, eine strikt antidynastische Taktik."156 Was der „intransigente Revolutionär" hier zu den heiligsten Prinzipien des Sozialismus erklärt, ist vom Programm einer klassischen links-liberalen Partei nicht zu unterscheiden. Zur selben Zeit aber veröffentlicht Michels eine Attacke gegen Bernsteins „illusorischen", weil bloß ethischen Sozialismus, der die Dynamik des Klassenkampfes vernachlässige und sich in der Bündnisfähigkeit der „bourgeoisen Bürger" täusche, die schon beim nächsten Streik, bei der nächsten Wahl einen geschlossenen Block gegen die Sozialisten bilden würden.157 Dieses Schwanken zwischen progressiven Positionen des politischen Liberalismus, die er zuweilen mit den „absoluten Prinzipien" des Sozialismus verwechselt, und einem, wie Ferraris es bezeichnet, „rigorosen und isolierten Klassismus [classismo]" reproduziert sich beim Sozialdemokraten Michels ständig.158

155 Vgl. Michels, Psicologia e statistica delle elezioni, a.a.O., S. 553. 156 R. Michels, Le incoerenze internazionali del socialismo contemporaneo, in: Riforma Sociale, fase. 8, anno X, Vol. XIII, 1904, Estratto, 11 Seiten, S. 11. 157 Michels, A proposito di socialismo illusorio, in: Avanguardia Socialista, anno II, Nr. 88, 6. August 1904, S. 2. 158 Vgl. Ferraris, Saggi, S. 56. Ferraris vermutet, daß diese starken Kontraste in Michels' Publizistik dem Umstand geschuldet seien, daß sich die Tore der Marburger Universität im Laufe des Jahres 1903 endgültig geschlossen haben und dies die Radikalisierung von Michels' Positionen mit beeinflußt habe. Kautskys elitäre Vision des Verhältnisses zwischen Intellektuellen und Masse sowie sein energisches Eintreten für die Wissenschaftlichkeit des Marxismus seien in dieser Situation für Michels ein alternatives Modell der Vermittlung von Theorie und Praxis gewesen. Das von Michels zunächst bevorzugte Modell des moderaten italienischen Professorensozialismus habe sich in Deutschland eben nicht realisieren lassen. Daher die Wandlung zum Parteintellektuellen. Vgl. Ferraris, Saggi, S. 45. Die Erklärung hat etwas Bestechendes und sie vermag sich auf Arthur Mitzmanns Beobachtung berufen, daß von den beiden Artikeln zur Universität, die Michels 1902 und 1903 schreibt (Vgl. Kapitel II), der erste noch eine relative maßvolle Kritik äußere, der zweite hingegen in seiner marxistischen Terminologie dem „Kapitalismus in der Wissenschaft" so antagonistisch gegenübertrete, als wolle der Verfasser mit der akademischen Wissenschaft nicht mehr zu tun haben. Vgl. Mitzmann, a.a.O., S. 286. Allerdings sprechen, wie schon gezeigt (vgl. Kapitel II.3.5. Die voraussetzungsvolle Voraussetzungslosigkeit der Geschichtswissenschaft und die Verhinderung einer akademischen Karriere) einige Indizien dafür, daß Michels sich auch nach der Kritik am „Kapitalismus in der Wissenschaft" weiterhin auf die Habilitation in Marburg vorbereitet und offensichtlich die Tore der Universität noch längst nicht für ihn geschlossen wähnt.

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Welchen funktionalen Status der „Klassenkampf'-Begriff in Michels' politischer Publizistik hat, läßt sich zumindest ein Stück weit durch eine Exkursion in das weltanschauliche Hinterland seines ,Etico-Sozialismus' aufklären.

2.3. Das positivistische Hinterland des ,Etico-Sozialismus' Aus welchem epistemischen Feld bezieht Michels im Winter 1903/04 die moralisch aufgeladenen Kategorien seiner Problemdiagnose? Die in der Forschung übliche Rubrizierung des Autors unter die Etikette des „Etico-Sozialismus" ist viel zu unbestimmt, zumal ethische Reformulierungen der sozialistischen Weltanschauung angesichts der seit dem Revisionismusstreit offenkundigen Krise des Marxismus sich bei Autoren unterschiedlichster Provenienz finden lassen, auch beim selbsterklärten Anethiker Karl Kautsky.159 Die Frage ist deshalb bedeutsam, insofern Michels' „Etico-Sozialismus" ja oft pathologische Züge unterstellt werden, die ihn anfallig für den voluntaristischen und dezisionistischen Neoidealismus der Sorelschen Schule gemacht hätten. Der Türöffner zum epistemischen Hinterland der Michelsschen Moraloffensive im Herbst 1903 ist der wohl bizarrste Satz, der sich im Schrifttum des jungen Michels finden läßt. Ein Satz, der einerseits inhaltlich aufhorchen läßt, weil er nicht dem Begriff, aber der Sache nach bereits die oligarchischen Folgen für das Projekt des Sozialismus thematisiert, die aus der Erosion moralischer Grundpositionen der Arbeiterbewegung resultieren könnten. Die Sprache, in der das geschieht, ist andererseits so befremdlich, daß sie die Botschaft konterkariert: „Will die Eroberung der Macht durch das Proletariat nicht in die Diktatur einer proletarischen Sekte ausarten, so muß die sozialistische Agitation bis zu dem Zeitpunkt, wo sie sich vollziehn wird, so viel sozialistische Gewissen geschaffen haben, als sie bedarf, um den anderen unsicheren Elementen gegenüber, die sich ihrer Aktion alsdann anschließen werden, als Gegengewicht mit Erfolg auftreten zu können."160

159 Auch wenn Kautsky 1905 in der Fehde mit Kurt Eisner der „ethischen" Richtung entgegentreten wird, so hat er andererseits den „moralischen Faktor im Klassenkampf' keineswegs als Marginalie, sondern als wesentliches Charakteristikum der sozialistischen Arbeiterbewegung behandelt: „Proletarischer Klassenkampf und proletarisches Klassenbewußtsein", schreibt Kautsky, seien „ethische Faktoren ersten Ranges", weil sie das „Bewußtsein der Solidarität aller Proletarier" und damit die „Hingabe des einzelnen an die Gesamtheit seiner Klasse" implizieren und weil das Proletariat nicht nur die Aufhebung der eigenen Unterdrückung anstrebt, sondern „aller Unterdrückung, aller Ausbeutung ein Ende" bereiten wird, weil seine Selbstbefreiung mit der Befreiung der Menschheit schlechthin zusammenfalle. Das Proletariat sei daher „die einzige revolutionäre Klasse ... die ... ein soziales Ideal anstrebt - in diesem Sinne die einzige Klasse, in der Idealismus zu finden ist". Vgl. Karl Kautsky, Klassenkampf und Ethik, in: Die Neue Zeit, XIX. Jg, I. Hbb., S. 240; zit. nach Iring Fetscher, Der Marxismus, a.a.O., S. 285. 160 Michels, „Endziel", S. 404.

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Der Autor, der sich in seiner öffentlichen Selbstdarstellung so sehr der Humanität verpflichtet fühlt, formuliert hier derart politbürokratisch über Gewissensbildung, daß die Begründung seines Etico-Sozialismus unter der Hand zum performativen Widerspruch gerät. Semantisch weckt dieses abstrakte Satzgefüge Assoziationen von politischer Umerziehungsanstalt und Gesinnungskontrolle, auch wenn die Botschaft ja gerade auf Diktaturverhinderung161 zielt. Dieser Satz ist ein plastisches Beispiel für die semantische Dehumanisierung („Elemente") humanitärer Politikansätze und verdient einen weiteren Eintrag im „Wörterbuch des Unmenschen".162 Woher aber stammt das grauenhafte Wort von der „Schaffung sozialistischer Gewissen", das den neuen Abstrakta in Michels' sozialistischem Wortschatz wie dem „unverkümmerten Zielgedanken" und der „revolutionären Intransigenz" die stilistisch unrühmliche Krone aufsetzt? Bei diesem ,Unwort des Jahres 1903' samt der anderen Leitbegriffe handelt es sich nicht um Michels' eigene Kreationen, sondern um Importe aus dem Diskurskontext der italienischen Sozialdemokratie: um die Schlüsselbegriffe von Enrico Ferris programmatischen Werk „II metodo rivoluzionario", das bei Michels' seltsamen Satz Pate gestanden hat.163 An Michels' intimer Kenntnis dieser Schrift kann kein Zweifel sein. Noch 1908 hält er sie immerhin für so bedeutsam, daß er von ihr eine deutsche Übersetzung anfertigen wird.164 Michels' politische Sympathien für die Position Ferris sind seit dem Kongreß des PSI in Imola im September 1902 offenkundig.165 161 Inhaltlich zeigt der Satz, daß Michels in der von ihm beschworenen Moralpädagogik nicht nur einen Antivirus gegen den Opportunismus gesehen, sondern auch eine Immunisierung gegen Versuche, den Sozialismus mit diktatorischen Mitteln durchzusetzen. Die Gefahr der „Diktatur einer proletarischen Sekte", vor der Michels im Dezember 1903 warnt, ist ein in verschiedenen Varianten wiederkehrendes Thema bis zum Jahr 1911, als die „Soziologie des Parteiwesens" erscheint. Eugenio Ripepe hat darauf hingewiesen, daß Michels' Offenlegung des „demokratischen Zentralismus" der SPD und ihrer oligarchischer Tendenzen auch als die „luzideste und durchdringendste Kritik der kommunistischen Parteien und ihrer leninistischen Konzeption [...] ante factum" gelesen werden kann. Vgl. Eugenio Ripepe, Roberto Michels oggi, in: R. Faucci (Hg.), a.a.O., S. 7-22, S. 13. 162 Wo sich bereits Michels nutzentheoretische Betrachtung der Pflege unheilbar Kranker findet. Vgl. Unsere Ausführungen in Kapitel III zur Lombroso-Schule. 163 Die Anregung zum folgenden Textvergleich verdanke ich Michels' Hinweis auf das Buch von Ferri und Camillo Prampolini: „Libertà o Intransigenza" (Gozzano 1903), aus dem er zitiert, bevor in seinem „Endziel"-Aufsatz seine Gedanken zur „Intransigenz" ausführt. 164 Enrico Ferri, Die revolutionäre Methode. Aus dem Italienischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Robert Michels, samt einer einleitenden Abhandlung von Michels: „Die Entwicklung der Theorien im modernen Sozialismus Italiens", Leipzig 1908. Die Originalfassung erschien unter dem Titel „II metodo rivoluzionario", Rom 1902. 165 Auf dem 7. PSI-Kongreß vom 6.-9. September 1902 in Imola endet der Schlagabtausch zwischen „Transigenten", d. h. Reformisten, und „Intransigenten" mit einem Kompromiß. Zwar wird die reformistische Resolution Bonomi angenommen, aber dieser das Zugeständnis an die Intransigenten hinzugefügt, daß politische Bündnisse mit bürgerlichen Parteien nur im Fall der „Radikalen" und der „Republikaner" zulässig seien und daß die reformistische Strategie mit der fortgesetzten „Propaganda für Klassenkampf und Kollektivismus" einher gehen solle. Michels kommentiert dies mit den Worten, „daß der Beschluß über die Taktik der Partei ruhig um einige

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Es ist für die semantische Entschlüsselung von Michels' Gedanken zur „Intransigenz" sehr aufschlußreich, in jenes Buch zu schauen, das Michels in den Jahren 1902/03 gelesen hat und mit dessen Begriffen er sich in seinem programmatischen Aufsatz zur „ethischen Intransigenz" positioniert. Ferri nennt sich in „II metodo rivoluzionario" selbst einen,,,Revolutionär', weil sich meine Arbeit hauptsächlich auf die Propaganda des Endziels und des letzten Programms des Sozialismus erstreckt."166 Wie Michels das Wort „Endziel", hat Ferri das Wort „Revolutionär" in Anfuhrungsstriche gesetzt, so als sei der Begriff mit dem, was er meint, nicht umstandslos zu identifizieren und erklärungsbedürftig. Die Erklärung, was unter einem „Revolutionär" zu verstehen sei, steckt in dem Begriff,/evolutionäre Methode": „Diese Methode", schreibt Ferri, „verhindert nicht nur nicht die Reformen, sondern beschleunigt sie sogar, ohne dadurch freilich die mächtigen Aspirationen des Proletariats nach seiner integralen Emanzipation zu ersticken oder gar zu paralysieren."167 Ferri sieht seine „intransigente", „revolutionäre Methode" in Einklang mit seinem Verständnis der marxistischen Geschichtsphilosophie als einer,/evolutionären Evolution".168 Die selektive evolutionistische Rezeption von Marx wurzelt in Ferris Versuch einer Synthese Darwin-Spencer-Marx, den er 1894 in seinem Werk „Socialismo e Scienza positiva" unternommen hat. Seinem Gedanken, mit einer,/evolutionären Methode" den Reformprozeß und die soziale Evolution zum Sozialismus zu beschleunigen, liegt ein für die positivistische Geisteskultur typischer Analogieschluß von Naturgesetzen und Gesellschaftsentwicklung zugrunde: Reformen, so Ferri, seien stets die „Resultante des revolutionären Geistes im Proletariat und des reaktionären Geistes in der herrschenden Klasse". Wenn die Resultante dieser beiden gesellschaftlichen Kraftvektoren die Reform sein soll, dann müsse sich die Arbeiterklasse revolutionär verhalten·. „Es ist das genauso wie mit dem Quadrat der Kräfte in der Mechanik. Durch eine Kraft, die in einer bestimmten Richtung wirkt, und eine zweite, die in einer anderen Richtung wirkt, wird die Resultante der Kräfte gewonnen. Sobald eine der agierenden Kräfte eine Veränderung erleidet, wird notwendigerweise auch die Resultante verschoben, und zwar wird sie sich von derjenigen der beiden Kräfte entfernen, deren Kraft eine Einbuße erlitten hat."169

166 167 168 169

Schattiningen mehr ,ferrianisch' hätte ausfallen können", fügte allerdings - ganz im Sinne serer Ausführungen zu seinem „Sozialreformismus" bis 1903 - hinzu: „ein reiner Sieg Intransigenten wäre wohl ebenfalls nicht erfreulich gewesen". Vgl. Michels, 7. Kongreß der lienischen sozialistischen Partei zu Imola, in: Schwäbische Tagwacht, 15. September 1902, S. Ferri, Methode, S. 78. Ferri, Methode, S. 65. Ferri, Methode, S. 66. Ferri, Methode, S. 67/68.

under ita1.

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In anderen Worten: Die „revolutionäre Methode" setzt mit größtmöglicher „Intransigenz" am äußersten Rand des gesellschaftlichen Kräftefeldes an, und erreicht das, was der Reformismus notwendigerweise verfehlen muß: die substantielle Reform. „Die beste Art und Weise, die Demokratie zu erringen", besteht für Ferri folglich darin, „mit dem Sozialismus Propaganda zu machen."170 Ferris evolutionärer Revolutionarismus ist eigentlich ein verkappter Reformismus, der den offenen Reformismus deshalb ablehnt, weil von ihm nicht Weiterentwicklung, sondern Systemstabilisierung zu erwarten sei. Die „Schaffung von sozialistischem Bewußtsein im Volke" versteht Ferri als „revolutionäre Arbeit", weil das „sozialistische Bewußtsein [...] die revolutionärste Waffe [ist], über die wir im sozialistischen Kampfe verfügen. Nichts widersteht dem sozialistischen Bewußtsein: weder der Aberglaube, die Arbeiterschaft mit der Gewalt unterdrücken, noch der Aberglaube, die Arbeiterschaft mit der Religion niederhalten zu können."171 Ferris Rede von der „Schaffung von sozialistischem Gewissen",172 die Michels übernommen hat, zielt somit auf die moralpädagogische und propagandistische Aktivierung des „freien Staatsbürgers" und „klassenbewußten Arbeiters".173 Seine „revolutionäre Methode" entspricht einer Taktik des Mittelweges zwischen den Ferri zufolge gleichermaßen irrigen Positionen der „absolutesten Intransigenz" und des „ministerialistischen Reformismus",174 der seinerzeit die Unterstützung des liberalen Ministeriums GiolittiZanardelli favorisiert, nach der Logik des Fernsehen Kräfteparallelogramms aber nur „kleine Teilreformchen" erreichen könne. Unser Exkurs zeigt, daß nicht Georges Sorel, nicht der voluntaristische Neoidealismus französischer Provenienz und schon gar nicht die Suche nach einer „Elite Sorelscher Observanz", wie Michels in seinem autobiographischen Bericht von 1932 glauben machen will, die Referenzpunkte seiner moralpädagogischen Kritik des Opportunismus sind, sondern der Diskurskontext des positivistischen Sozialismus Italiens. Wie schon in seiner reformistischen Phase bezieht Michels zentrale Kategorien seiner Problemwahrnehmung von jenem Kriminalsoziologen, der „Marxens revolutionäre, sozialistische Doktrin" symptomatischerweise als eine gesellschaftliche „Heilmethode" versteht, die Ferri gerade dadurch überzeuge, daß „sie unanfechtbar wie die Lehre von den Mikroben in der Medizin" den pathologischen Ursachen „auf den Leib" gehe.175 An Ferris Synthese aus Marx und Darwin hat Michels symptomatischerweise nur zu tadeln, daß es Ferri aufgrund seiner geringen Marx-Kenntnisse nicht gelungen sei, „diese doch so evidente Synthese" von Marxismus und Darwinismus auch überzeugend darzulegen.176

170 171 172 173 174 175 176

Ferri, Methode, S. 83. Ferri, Methode, S. 59. Ferri, Methode, S. 57. Ferri, Methode, S. 60. Ferri, Methode, S. 52. Ferri, Methode, S. 58. Michels, Storia del marxismo in Italia, Roma 1910, S. 101-102: „Enrico Ferri s'accinse a più riprese di conciliare Marx con Darwin. Ma, siccome egli non ebbe mai agio di studiare adeguatamente le teorie di Marx, i suoi scritti non valsero a mettere in rilievo questa sintesi pur così evidente [...]" [m. Hvhbg.].

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Wenn Michels von den „unsicheren Elementen" spricht, denen es durch sozialistische Gewissensbildung entgegenzutreten gelte, dürfte dies vor allem der Durchschlagskraft der naturwissenschaftlichen Semantik und mechanistischen Logik geschuldet sein, in die der positivistische Sozialismus seine Gesellschaftsbetrachtungen zu kleiden pflegt. Ergänzend ist zu diesem weltanschaulichen Hintergrund neben Ferri noch ein zweiter Stichwortgeber der Michelsschen Moraloffensive zu nennen: Ettore Ciccotti, der das Spannungsverhältnis zwischen politischen Idealen und alltagspolitischer Nützlichkeit in den Kategorien der politischen Psychologie interpretiert und dem Michels wenige Jahre später seine „Storia del marxismo" widmen wird.177 In diesem Kontext, aus dem Michels seine Kategorien der Kritik und Problemwahrnehmung bezieht, werden die Leitbegriffe der Arbeiterbewegung wie „Klassenkampf', „Endziel" und „Revolution" weniger wegen ihres vermeintlichen gesellschaftsdiagnostischen oder prognostischen Wahrheitsgehaltes verwendet, sondern es ist offenkundig in erster Linie die Integrations- und Mobilisierungsfunktion, auf die es ankommt. Ferris ,/evolutionäre Methode" ist kein Arbeitsprogramm für eine revolutionäre Machtübernahme, sondern ihr Existenzgrund besteht darin, daß sie der Agitation einen „revolutionären" Zungenschlag gibt, der die „dynamische Energie" des „sozialen Fortschrittes wachzurufen und wachzuhalten vermag."178 Die „revolutionäre Intransigenz" zielt auf den Input einer möglichst prinzipientreuen, radikalen Grunddisposition im Parallelogramm der sozialen Kräfte, der damit anvisierte Output am Zielhorizont dagegen bleibt jenem evolutionären Grundzug treu, der den Sozialismus der II. Internationale prägt und dem sich auch der „Revolutionär" Michels verschrieben hat. Es ist darüber hinaus symptomatisch für die Krise des Marxismus, für die schwindende Überzeugungskraft der Entwicklungsprognosen des historischen Materialismus, daß in diesem Kontext des sozialistischen Positivismus die analytischen Kategorien von der Ökonomie zur Psychologie übergehen. Wie Michels sorgt sich auch Ferri um den .Gemütszustand' der Partei und geriert sich als Psychotherapeut des Proletariats: „Denn das revolutionäre Ideal ist die Seele des Sozialismus [...] ohne es würde er, schlapp und matt wie der ungeheure Körper eines zu Tode gekommenen Drachenungetüms, in sich selbst zusammenfallen."179 Befragt man dieses Denken nach einem positiven Gehalt des ,/evolutionären Ideals", ist es eher sprachlos. Ferris „revolutionäre Methode" läuft zwar unter der Flagge der Beschleunigung des historischen Prozesses, tatsächlich handelt es sich aber um eine Defensivideologie, die eher weiß, was sie nicht will. Das wird deutlich an einem Monitum Ferris, das wohl die Initialzündung für die Aufnahme des Themas der , Gewissensbildung' durch Michels gewesen ist180 und welches verrät, in welche Richtung sich der Lauf der Dinge tatsächlich beschleunigt hat: 177 Vgl. Ettore Ciccotti, Psicologia del movimento socialista, Bari 1903, sowie dessen Aufnahme in Michels, „Endziel", S. 404; Vgl. zur weltanschaulichen Verbundenheit der beiden Autoren die Widmung in Michels, Storia del marxismo, Roma 1910, S. 3. 178 Ferri, Methode, S. 92. 179 Ferri, Methode, S. 91. 180 Vgl. die Ferri-Zitate in Michels, Endziel, S. 404.

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„Ihr habt", so Ferri an die Adresse des reformistischen Flügels des PSI, „eure Erfolge viel zu schnell errungen, schneller als die Stufe, auf welcher das sozialistische Gewissen und die sozialistische Organisation heute stehen, es gestattete, weil ihr mit der künstlichen Hitze des Opportunismus die Pflanze Partei zu schnell habt schießen lassen."181 Für die ideologische Kontextualisierung der Michelsschen Ethikoffensive nach Dresden mögen diese Ausführungen genügen. Nun stellt sich aber die Frage nach dem politischen Kontext, nach dem politischen Erfahrungssubstrat, das dem Entstehen der „revolutionären Intransigenz" in Italien zugrunde liegt.

2.4. Der Ministerialismus als politisches Erfahrungssubstrat der Intransigenz Während es der deutschen Sozialdemokratie in Dresden gelungen war, sich auf eine fast einmütig gebilligte „revolutionäre" Resolution zu einigen, lagen die Konfliktlinien im caso italiano offen zutage. Die Differenzen zwischen der reformistisch dominierten Parlamentsfraktion des PSI und dem „Zentrum" um Ferri luden sich derart auf, daß Spaltungstendenzen unübersehbar wurden. Ferri sah sich zum Schulterschluß mit den Linksrevolutionären um Arturo Labriola veranlaßt. Die Reformisten wiederum denunzierten letzteren als , Anarchisten" - was in der II. Internationale mindestens so schlimm war wie der „Bourgeois"-Vorwurf - , und hofften so Teile des Zentrums auf ihre Seite zuziehen, in dem sich deutliche Konturen eines Links-Rechts-Risses zeigten. Die Polarisierung der Partei und das Erstarken des links-revolutionären Flügels, aus dem schon bald die „sindacalisti rivoluzionarii" hervorgehen sollten, hat Michels aus den um die Jahrhundertwende völlig gewandelten Milieu- und Handlungsbedingungen des italienischen Sozialismus erklärt: „Die herrschenden Klassen, die gesehen hatten, daß die Arbeiterbewegung mit den Kanonen des Bava Beccaris182 von 1898 nicht zu zerschmettern gewesen war, vermeinten nunmehr dasselbe Ziel auf dem entgegengesetzten Wege erreichen zu können. Statt, wie früher, Eisen, gaben sie den Arbeitern Zucker. Die sozialistische Partei aber, gelockt durch das Zuckerbrot der sozialen Reformen, die man ihr mit süßen Worten versprochen, folgte dem Irrlicht hinein in den Sumpf der Gefälligkeitspolitik. [...] Die Regierungsfreundlichkeit wurde in Permanenz erklärt [...] und die unbequeme Theorie der republikanischen Volkssouveränität ward durch die bequemere Fassung von der vorläufigen Neutralität der Staatsverfassung gegenüber - Amonarchismus statt Antimonarchismus — ersetzt."m 181 Enrico Ferri (zusammen mit Camillo Prampolini), Libertà o Intransigenza, Gozzano 1903, S. 19. 182 General der italienischen Armee, der die blutige Niederschlagung der Aufstände von 1998 in Mailand kommandierte. 183 Michels, Proletariat und Bourgeoisie in der sozialistischen Bewegung Italiens, a.a.O., S. 699-700 [m. Hvhbg.].

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Den „Amonarchismus" als neue Losung und die damit verbundene Suspendierung der republikanischen Systemtransformation hatte Filippo Turati ausgegeben, in dessen Biographie sich das neue Klima in Italien besonders exemplifizierte. War Turati noch 1898 zu 12 Jahren Freiheitsentzug verurteilt worden, von denen er auch ein Jahr absitzen mußte, so wurde dem politischen Gefangenen des italienischen Königreiches nicht einmal fünf Jahre später von der Regierung Giolitti ein Königlicher Ministersessel angeboten. Und Turati war nicht abgeneigt, in die Offerte einzuwilligen. Damit stand der Partei jenes Bild „des rot ausgeschlagenen Ministersessels und eines von der Hand des Königs unterzeichneten Ernennungsdekrets" vor Augen, das Michels mit der Vorstellung einer „Verbeugung vor Wilhelm II:" verglich, die Bernsteins Vorschlag einer sozialdemokratischen Vizepräsidentenschaft in den Köpfen der Dresdner Delegierten hervorgerufen habe.184 Den ,Turatianern' in der Partei erschien die Regierungsbeteiligung als eine akzeptable Perspektive, weil die Regierung an arbeiterfreundlichen Signalen tatsächlich nicht sparte. Erstmals verhielt sie sich in Arbeitskämpfen neutral. Und auch die Thronreden bekamen einen ganz neuen Ton: von den gerechten Forderungen der Arbeiterschaft und der Notwendigkeit einer freiheitlichen Entwicklung des Landes und der Arbeitnehmerorganisationen war nun die Rede. Dieser Schwenk in der Regierungspolitik bedeutete fur die sozialistische Arbeiterbewegung, wie Robert Michels später rückblickend feststellte, „eine Überraschung, auf die sie nicht recht vorbereitet, eine Neuheit, die ihr in ihrem politischen Leben noch nicht begegnet war. Wie sie sich der alten Oppressionspolitik gegenüber zu verhalten habe, das wußte sie - sie hatte es in ihren Kämpfen gelernt - , wie sie sich hingegen der neuen Konzessionspolitik gegenüber verhalten sollte, das wußte sie nicht. Sie verlor alsbald ihre Orientierung."185 Die Normalisierungstendenzen im Verhältnis zwischen Sozialisten, Staat und Bürgertum - von denen Michels ja anfangs noch euphorisch berichtet hatte, weil er in Italien gar nicht das Klima des sozialen Ostrazismus vorfand, mit dem in Deutschland die SPD leben mußte186 - entpuppte sich als Auftakt zu einer ungeahnten „Krise"187 des PSI, insofern die „Meinungen über den neuen Weg nach dem Mekka des Sozialismus [...] geteilt" waren,,glicht nur gezweiteilt, sondern etwa gesechsteilt."188 In dieser Orientierungskrise kristallisierten sich zwei Strömungen heraus, wie sie gegensätzlicher nicht sein konnten. Die Turatianer optierten für den sogenannten Ministerialismus. Die Linke um Ferri und Labriola dagegen zog sich auf den „reinen Klassenkampfstandpunkt" zurück und verhielt sich damit spiegelbildlich zu ihrem inner184 Michels, Revisionismus und Partei in Italien, in: Erste Beilage zum Hamburger Echo Nr. 79, 3.4.1904. 185 Michels, Proletariat und Bourgeoisie, a.a.O., S. 682. 186 Vgl. Kapitel III: „Die sozialreformistische Periode" 187 Michels, Proletariat und Bourgeoisie, a.a.O., S. 681. 188 Michels, Proletariat und Bourgeoisie, a.a.O., S. 683.

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parteilichen Gegner, der gerade die Idee einer „über den Parteien" stehenden und „klassenlosen Gerechtigkeitsattributen" verpflichteten Regierung entdeckt hatte. Die Ferri/ Labriola-Richtung dürfte sich insgeheim nach den Konfrontationen und Feindbildern der Vergangenheit zurückgesehnt haben, lautete ihre Konsequenz für das politische Handeln doch: „Lieber Abgang dieses arbeiterfreundlichen und Rückkehr eines offen reaktionären Ministeriums als Unterstützung des arbeiterfreundlichen unter Preisgabe auch nur eines sozialistischen Prinzips [...] Auf alle Fälle aber Verweigerung einer systematischen Unterstützung des ,meno peggio'." 189 Da die beiden Strömungen numerisch etwa gleich stark waren und gleichzeitig so diametral entgegengesetzte Standpunkte vertraten, drohte die Partei handlungsunfähig zu werden. Die vermeintliche Zauberkraft des Ferrischen Parallelogramms der Kräfte, in dem die Radikalität der Standpunkte den Fortschritt zu garantieren schien, versagte offensichtlich bei diesem innerparteilichen Konflikt: „Die einen sahen sich außerstande, ihre regierungsfreundliche Reformpolitik mit jener Ruhe in Angriff zu nehmen, deren sie, um ein politischer Faktor zu bleiben und mit Autorität und Gewicht auftreten zu können, unbedingt bedurften, weil sie sich in ihrer Tätigkeit von der Kritik ihrer eigenen Genossen jeden Tag gestört, ja, gedemütigt und nach oben wie nach unten hin diskreditiert sahen. Die anderen aber wurden mit Ingrimm gewahr, wie trotz aller von ihrer Seite geübten Kritik ihre Gegner in der Partei auf dem falschen Wege rücksichtslos weitermarschierten [...] und die Parteidisziplin wie die Parteiprinzipien in gleichem Maße mit Füßen traten."190 Turati hatte zwar zwischenzeitlich auf die Regierungsbeteiligung verzichtet, weil er sicher war, daß dies die Spaltung des PSI bedeutet hätte.191 Und angesichts der in der Partei im Jahre 1903 wachsenden Unzufriedenheit über die mageren Früchte, die die Unterstützung des bürgerlichen Kabinetts durch die sozialistische Parlamentsfraktion seit 1900 eingebracht hatte, war die PSI-Fraktion inzwischen wieder zur Oppositionspolitik übergegangen.192 Einer Politik der innerparteilichen Versöhnung bereitete dies aber nicht den Weg. Vielmehr saß der Frust über die vergangenen Jahre und die gegenseitigen Vorwürfe des Parteiverrats so tief, daß sich der Konflikt der zwei Tendenzen weiter zu-

189 So referiert Michels die Ferri-Labriola-Position in „Proletariat und Bourgeoisie", S. 683. 190 Michels, Proletariat und Bourgeoisie, S. 684. 191 Vgl. sein Schreiben an Giolitti, in: Franco Gaeta, La crisi di fine secolo e l'età giolittiana (= Storia d'Italia. Dall'unità alla fine della prima repubblica. Volume secondo), Milano 1996, S. 186. 192 Vgl. Ralph Bollmann, Zwischen Massenstreik und Ministerialismus. Italienische Sozialisten und deutsche Sozialdemokratie 1904-1912, Magisterarbeit in Neuerer Geschichte an der HumboldtUniversität Berlin o. J., S. 18.

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spitzte und der Partei auf dem nationalen Parteitag in Bologna im April 1904 eine Zerreißprobe bevorstand. In dieser Situation sollte auch Karl Kautsky zum Konflikt der italienischen Genossen Stellung nehmen. Auf dem lombardischen Regionalkongreß, der am 14. und 15. Februar 1904 in Brescia stattfand und für den Parteitag im April vorentscheidenden Charakter hatte, hatte sich eine Mehrheit für die Resolution der auf der extremen Linken stehenden Walter Mocchi und Arturo Labriola gefunden. Die Resolution attackierte die „Transformation der politischen Organisation der Arbeiterklasse in eine vorwiegend parlamentarische, opportunistische, konstitutionelle und monarchisch-possibilistische Partei" als eine „Degeneration des sozialistischen Geistes". Die Zusammenarbeit mit der bürgerlichen Regierung wurde rigoros abgelehnt, die Reformgesetzgebung, die am „fundamentalen Mechanismus der kapitalistischen Produktion" ja doch nichts ändere, wollte man ganz den bürgerlichen Kräften überlassen. Daneben enthielt die Resolution gleich mehrere Verurteilungen des „monarchischen Possibilismus" der Reformisten und Kampfansagen an die Monarchie als solche. Entgegen dem bisherigen parlamentarischen Schwerpunkt in der Taktik, behielten sich ihre Unterzeichner alle „Kampf- und Verteidigungsmittel gegen Staat und Regierung" vor, die ,Anwendung der Gewalt in den Fällen, in denen sie notwendig ist", eingeschlossen.193 Das von Arturo Labriola geleitete Mailänder Wochenblatt „Avanguardia Socialista" greift den Sieg der linksradikalen Resolution in Brescia auf und bittet zahlreiche prominente Exponenten des internationalen Sozialismus um eine Stellungnahme. Unter den Solidaritätsbekundungen, die der Linken für den nahenden Parteitag in Bologna den Rücken stärken sollten, findet sich neben Schreiben von Lafargue, Guesde, Lagardelle und Vaillant auch eines von Karl Kautsky, übersetzt von Robert Michels. Kautsky hatte diesem am 23.2.1904 seine Antwort an Labriola zugeschickt und um die Übersetzung und direkte Weiterleitung an die „Avanguardia Socialista" gebeten. Nicht nur ideologisch, auch hinsichtlich des persönlichen Vertrauens, wie diese Episode zeigt, stehen sich Michels und Kautsky, der es aufgrund seiner Stellung in der Internationale mit dem veröffentlichten Wort sehr genau nahm, zu diesem Zeitpunkt recht nahe.194 „In der Hauptsache", so Kautsky in seiner in der „Avanguardia Socialista" am 20. März 1904 veröffentlichten Antwort, habe er sich „natürlich sehr über die Resolution Mocchi gefreut", deren „Fundamentalprinzipien" er teile.195 Gleichwohl kritisiert Kautsky einzelne Passagen der Resolution, weil diese mißverstanden werden und den ,,Anarchie"-

193 Dokumentiert findet sich die Resolution Mocchi-Labriola in: Robert Michels, Storia del marxismo in Italia, Roma 1910, S. 132ff. 194 Vgl. Ferraris, 1993, S. 50 und 218. Kautskys Brief an die „Avanguardia Socialista" findet sich auch in Michels, Storia del Marxismo in Italia, a.a.O., S. 138f., wo Michels in seinen einleitenden Worten aus seiner Kautsky-Verehrung keinen Hehl macht: „Aber die interessanteste aller Antworten [...] war zweifellos der lange Lehrbrief [...] von Seiten des Haupttheoretikers [...] der marxistischen Internationale, [...] von Karl Kautsky" 195 Dokumentiert in Michels, Storia del marxismo, S. 138f. Wörtlich heißt es in dem vom 11. März 1904 datierenden Schreiben Kautskys: „In via di massima, io mi sono naturalmente molto rallegrato sull'ordine di giorno Mocchi, di cui condivido i principi fondamentali".

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Vorwurf auf sich ziehen könnten: Die Weigerung, sich an einer bürgerlichen Regierung zu beteiligen, sei zwar richtig, aber es sei falsch, grundsätzlich jeder Regierung die Unterstützung zu versagen. Die Erkenntnis, daß die bürgerliche Reformgesetzgebung „niemals die Basis der kapitalistischen Ausbeutung tangieren kann", entbinde die Arbeiterbewegung nicht von der Aufgabe, die Ausführung der Reformgesetzgebung „innerhalb und außerhalb des Parlamentes" zu kontrollieren. Seien die bisherigen Reformen, ζ. B. die Arbeiterschutzgesetzgebung, auch in vielerlei Hinsicht unbefriedigend und „anämisch", sie wären doch niemals umgesetzt worden, wenn die Arbeiterbewegung diese Maßnahmen gegen die „moralische und physische Degeneration des Proletariats" nicht gefordert und unterstützt hätte. Kautskys Vorschlag läuft daher darauf hinaus, „die permanente und systematische Unterstützung der Regierung" ebenso abzulehnen wie die prinzipielle Verweigerung der Mitarbeit an Reformgesetzen. Was die scharfen antimonarchischen Sätze der Resolution betrifft, so findet Kautsky diese „eccellentissimo", und wünscht den Linksradikalen auf dem Parteikongress von Bologna den „größten Erfolg". 196 Die PSI-Linke um Mocchi freut sich ihrerseits über den „enormen Kredit", den ihr diese Worte des „authentischsten und anerkannten Interpreten und Fortsetzer des marxistischen Denkens" verschafft hätten.197 Der rechte Flügel der SPD dagegen ist empört über Kautskys Einmischung in den Richtungsstreit des PSI, und Kurt Eisner verurteilt im „Vorwärts" die Unterstützung der „anarchischen" Resolution. In seiner Rechtfertigung versucht Kautsky daraufhin, den Vorwurf, er habe für die extreme Linke Italiens Partei ergriffen, zu entkräften, und will seinen Brief an die „ A v a n g u a r d i a Socialista" als einen „Ratschlag" und nicht als eine Solidaritätserklärung verstanden wissen.198 Offensichtlich hat Kautsky kein Interesse an einer Debatte über sein Verhältnis zum italienischen Linksextremismus, dem er kurz zuvor den „größten Erfolg" gewünscht hat. Neben dem taktischen Motiv, eine Beschädigung seiner Autorität als Chefideologe zu vermeiden und die Angriffsfläche für die Reformisten möglichst klein zu halten, kann Kautsky aber auch inhaltliche Motive für seinen Rückzug in Anspruch nehmen. Die Gruppe um Labriola vertritt nämlich zuweilen derart fundamentalistisch aufgeladene Positionen, die tatsächlich mit Kautskys politischen Konzepten, sei es die Rolle der Partei, sei es der Status der sozialistischen Intellektuellen bürgerlicher Herkunft oder sei es die Frage der .anarchischen' Gewalt, schwer zu vereinbaren sind. Es sind dieselben, die auch Robert Michels zu bemerkenswerten Distanzierungen vom Labriola-Flügel veranlassen werden.

2.5. Das Maß aller Dinge: Kautsky Direkt unter der Antwort Kautskys hat die „ A v a n g u a r d i a Socialista" in ihrer Ausgabe vom 20. März 1904 das Begleitschreiben des Übersetzers und .Brückenbauers' Robert Michels publiziert, seine erste öffentliche Sympathieerklärung für den späteren Syn196 Zit. n. Michels, Storia del marxismo, S. 140. 197 Vgl. Michels, Storia del marxismo, S. 141, wo Mocchi vom „enorme accreditamento" spricht. 198 Michels, Storia del marxismo, S. 146.

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dikalisten Labriola: „Was mich betrifft, so wißt Ihr, daß ich - in der Hauptsache - auf Eurer Seite stehe. Es ist besonders der Monarchismus, der mich von Turati trennt."199 Ebenso wie Kautsky gerade die antimonarchische Ausrichtung von Labriola und Mocchi ohne Einschränkung für „eccellentissimo" befunden hat, so hebt auch Michels eben diesen Programmpunkt als zentrales Motiv seiner Solidaritätsadresse hervor. Wie schon innerhalb der deutschen Sozialdemokratie folgte Michels' Radikalisierung auch im italienischen Kontext seinem fundamentalistischen Republikanismus. Anders als der pragmatische Republikanismus Bernsteins, der eine Mitarbeit in monarchisch überwölbten Institutionen nicht prinzipiell ausschließt, perhorresziert Michels die .Ansteckungsgefahr des Opportunitätsbazillus", die von derartigen Offerten ausgehe: „Die Übernahme eines Sitzes im Ministerium eines monarchisch regierten Staates durch einen Sozialisten kommt einer freiwilligen Gefangenschaft desselben oder einem Verrat aller Parteigrundsätze gleich."200 Wie schon ein Jahr im Vorfeld des Dresdner Parteitages reduziert Michels auch im Vorfeld der spannungsvoll erwarteten Konfrontation der beiden Flügel auf dem Parteitag zu Bologna alles auf die eine Frage nach dem antimonarchischen Selbstverständnis der Partei: „Die Entscheidung steht vor der Tür. Der Bologneser Parteitag wird entscheiden, ob der Sozialismus in Italien fortan proletarisch oder ... königlich sein, das heißt ob er sein oder nicht sein wird."201 In diesem Streit erscheint Labriola zwar - neben Ferri - als Verbündeter. Aber der deutsche Sozialdemokrat moniert in aller Deutlichkeit, daß „der Übereifer des Kampfes gegen den Legalitarismus und Akkomodismus" die Gruppe um Labriola „zu argen Seitensprüngen" verleitet habe. Was Michels von Labriola trennt, ist unter anderem dessen „Forderung der Entfernung aller aus der Bourgeoisie stammenden Genossen, sowie der kleinen Beamten und Bauern aus der Partei" sowie Labriolas „Betonung der Gewalt als eines notwendigen Mittels zur Erreichung des proletarischen Endsieges". Das Verdienst Labriolas besteht offenkundig in erster Linie darin, die „Gefahren" der „turatianischen Taktik" auf den Punkt gebracht und eine innerparteiliche Strömung dagegen ins Leben gerufen zu haben.202 Den radikalen Lösungsvorschlag Labriolas für die Parteikrise, daß die Turatianer die Partei verlassen und ihre eigene ,ministerialistische' Partei gründen mögen, bezeichnet Michels dagegen als „indiskutabel". Mit Verweis auf die Geschichte des französischen Sozialismus und dessen Fragmentierung in verschiedene Parteien warnt er vor dem Bologneser Parteitag: „Eine Scheidung aber bedeutet immer den Beginn eines Kampfes um die Futterkörbe, einen Kampf, der um so rücksichtloser und erbitterter gefuhrt wird, je 199 Zit. n. Ferraris, S. 50: „Credo sarete contenti, siccome il Kautsky non ha lasciato dubbi sulla sua simpatia nella lotta intestina del partito italiano. Per quanto a me sapete che - in via di massima sono con voi. È specialmente il monarchismo che mi separa da Turati". 200 Michels, Revisionismus und Partei in Italien, in: Erste Beilage zum Hamburger Echo, Nr. 79, 3.4.1904. 201 Michels, Vor einer Entscheidung, in: Sächsische Arbeiterzeitung, 2.4.1904. 202 Michels, Vor einer Entscheidung, a.a.O.

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glorreicher die gemeinsam erworbenen Parteitraditionen und je länger und intensiver das vorherige Zusammenarbeiten war. Das ist eine alte, psychologisch nur zu leicht verständliche Tatsache: gewesen Freund, doppelt Feind [...] Eine Zweiteilung der italienischen Sozialdemokratie würde auf lange Jahre hinaus eine Lahmlegung aller sozialistischen Kräfte bedeuten."203 Eine Spaltung der Partei gilt es also unter allen Umständen zu verhindern, zumal der „intransigente Revolutionär" Michels die Meinung vertritt, daß der „revisionistischen Richtung Turatis [...] ein guter Teil unser befähigsten und [...] uneigennützigsten Genossen in der Partei" angehöre.204 Den Spaltungstendenzen versucht er ihre Brisanz zu nehmen, indem er sie mit der „Pubertätskrise" des Mannes vergleicht und als eine n a türliche' Etappe im Sinne von Kautskys Entwicklungsschema von einer rein agitatorischen zu einer politischen Partei deutet. Irritiert zeigt sich Michels nur vom Zeitpunkt der PSI-Entwicklungskrise: „Aber daß er [der italienische Sozialismus] freilich seine Pubertätskrise schon jetzt erleben muß, das kann nicht als normal erscheinen. Noch ist seine Konstitution lange nicht stark genug, als daß er vernünftigerweise an jene siebenmal törichte Konvenienzehe denken dürfte, die man im revisionistischen Wortschatz als Teilnahme an der Macht des Staates' verzeichnet findet."205 Vor allem im Hinblick auf den Entwicklungsstand der Partei hält Michels den ,Ministeralismus' fiir verfehlt: mit ihren gerade einmal 33 Parlamentsmitgliedern, d. h. nur knapp 6,5 Prozent der Gesamtdeputierten, sei die Partei „nicht rückenstark genug", um sich in einer Regierung „ihr Teil ertrotzen zu können".206 Michels' Appelle an die Einheit der Partei im Vorfeld des Kongresses sowie sein Wunsch, die Delegierten von links und rechts mögen ihre „Prinzipientreue" in einer „unzweideutigen Willenserklärung" manifestieren, läßt vermuten, daß er sich für Bologna eine Art ,zweites Dresden' erhofft hat. D. h., einen theoretischen Formelkompromiß mit intransigentem Zungenschlag, der zwar für die politische Praxis vieles offen läßt, aber dafür die Einheit der Partei zu bewahren hilft. Mag Michels auch diesem Verfahren gegenüber nach Dresden eine leise Skepsis zum Ausdruck gebracht haben, so scheint es offensichtlich allen Alternativen überlegen zu sein. Die deutsche Arbeiterpartei und ihre vielbeschworene , glorreiche Taktik' hat für Michels im April 1904 durchaus Vorbildcharakter. Implizit kommt dies zum Ausdruck, wenn er anhand von Kautskys Entwicklungsschema dem PSI attestiert, sich noch in einer Phase der nachholenden Entwicklung zu befinden, und wenn er mahnend darauf hinweist, daß selbst die deutsche Sozialdemokratie, die mit ihren drei Millionen Stimmen einen ganz anderen Stel203 Michels, Die neue Parteitaktik in Italien, in: 5. Beilage zu Nr. 81 der Leipziger Volkszeitung, 9. April 1904. 204 Michels, Revisionismus und Partei in Italien, a.a.O. 205 Michels, Die neue Parteitaktik in Italien, a.a.O. 206 Michels, Die neue Parteitaktik, a.a.O.

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lenwert im politischen Leben als die italienische habe, eine Übernahme politischer Ämter im Obrigkeitsstaat rigoros ablehnt. Ganz offen äußert sich diese Überzeugung von der Überlegenheit des Modells SPD, als Michels auf der Eröffnungssitzung des Parteitages im Bologneser Opernhaus am 8. April 1904 die Grüße der deutschen Genossen übermittelt: Die deutsche Sozialdemokratie schaue auf den PSI „mit der Angst, mit der der größere Bruder auf den kleineren Bruder schaut, der sich in Gefahr befindet".207 Mit dieser Formulierung zieht Michels übrigens den Spott, zwar nicht der sozialistischen, aber der republikanischen Presse Italiens auf sich, weil seine Rede mit einer zeitgleichen Ansprache des in Italien weilenden deutschen Kaisers in einen Zusammenhang gebracht wird. Wilhelm II. hatte den italienischen Staat nämlich ebenfalls als „fratello minore" bezeichnet, und die Republikaner schließen aus dieser Koinzidenz der Worte des Kaisers und des deutschen Sozialdemokraten auf die Überheblichkeit der Deutschen sowie auf die unerträgliche servile Haltung der Italiener im allgemeinen.208 Der Kongreß von Bologna hat sich übrigens auf eine Kompromißformel Enrico Ferris geeinigt und damit auf einen „vorläufigen Waffenstillstand" der beiden Flügel, den Michels schon in seiner Berichterstattung für die „Sächsische Arbeiterzeitung" als äußerst fragil darstellt.209 Von weitaus größerem Interesse als die Ereignisse in Bologna ist an dieser Stelle aber die widersprüchliche Beobachtung, daß Michels im Frühling 1904 einerseits zwar unverhohlen mit der Richtung um Ferri und dem extremen Labriola sympathisiert, andererseits aber gerade zu letzterem in wesentlichen Punkten auf Distanz geht. Michels' Dissens zeigt sich besonders deutlich in seiner wenig freundlichen Aufnahme von Labriolas Buch „Riforme e Rivoluzione sociale", das vor dem Kongreß von Bologna erscheint und für eine stärker republikanisch und antimilitaristisch ausgerichtete Politik streitet, also im Prinzip Michels' Positionen vertritt.210 In seiner Rezension betont Michels wiederum die Kontextbedingungen, unter denen sich Labriolas Neuansatz entwickelt hat und ohne die er offensichtlich unverständlich wäre: das reformistische Klima seit der Jahrhundertwende, in dem „allein der Inhalt der Reform, nicht mehr aber die politische Staatsform, innerhalb welcher sie sich vollstreckt, als wichtig erklärt wurde." So weit sein Konsens mit Labriola. Dann aber referiert Michels eine Attacke Labriolas gegen die deutsche Sozialdemokratie: „Metaphorisch und periodisch bei allen Reichstagswahlen die kapitalistische Gesellschaft zu schlagen, nur um die Sachen beim alten zu lassen, das ist gewiß eine wenig vergnügliche Beschäftigung." Mit einem solchen Vorwurf kann Michels im April

207 Franco Pedone, Il partito socialista italiano nei suoi Congressi, Bd. 2: 1902-1917, Mailand 1960, S. 14: „con l'ansia con la quale il fratello maggiore guarda il fratello minore in pericolo". Zit. n. Ralph Bollmann, Zwischen Massenstreik und Ministerialismus, S. 21. 208 Nachweis in Michels, Proletariat und Bourgeoisie in der sozialistischen Bewegung Italiens, a.a.O., S. 442, Anm. 26. 209 Vgl. die Artikelserie von Michels, Der Kongreß der italienischen Sozialisten, in: Sächsische Arbeiterzeitung, 11./12./13./14./15./16. April 1904. 210 Arturo Labriola, Riforme e Rivoluzione sociale, Mailand 1904. Rezensiert von R. Michels in: Die Neue Zeit, 22. Jg., Nr. 28, 9.4.1904, S. 59-61.

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1904 offenbar gar nichts anfangen: Labriola fehle offensichtlich der „Maßstab der Dinge". Bei seiner Verteidigung der eigenen Partei kritisiert Michels dann auch Labriolas „Zügellosigkeit in Form und Gedanken", deren markanter Ausdruck seine Gewaltpropaganda sei. Und über Labriolas der Logik des Sektenwesens abgeschauten Idee, den revolutionären Impetus der Partei zu regenerieren, indem man sie von den bürgerlichen Intellektuellen in ihren Reihen säubere, spottet Michels: „Nun - auch Marx und — Arturo Labriola sind Bourgeois, und die Geschichte unserer ganzen Bewegung zeigt uns, daß [...] die aus der Arbeiterklasse selbst hervorgegangenen Arbeiterführer viel eher zum Eingehen von Kompromissen bereit gewesen sind, als die revolutionären Ex-Bourgeois, die alle Brücken hinter sich abgebrochen haben."211 Die Wege aus der Krise, die Labriola vorschlägt, hätten nach Michels nur einen Effekt: die Dezimierung der Partei und ihr Ende in „Bruderkämpfen". Das politische Primat der Partei und ihrer Einheit, die besondere Rolle der bürgerlichen Intelligenz als Träger des sozialistischen Bewußtseins, die rigorose Ablehnung der Gewalt - Michels' Positionen lassen deutlich erkennen, daß er die Kautskysche Schule besucht und sich einige ihrer Lektionen zu eigen gemacht hat. Der revolutionäre „Maßstab der Dinge" in Deutschland ist in dieser Phase des Jahres 1904 Kautsky. Über den eigentlich grundlegenden Teil in Labriolas Buch über Reform und Revolution heißt es denn auch nur lapidar: „Labriola, dessen Standpunkt hierin sich so ziemlich mit dem Kautskys decken dürfte, sagt, uns Deutschen wenigstens, darin nichts Neues." Der Standpunkt Kautskys findet sich in dessen Vortrag über „Soziale Reform und Revolution" - es hat Verweischarakter, daß Labriola seiner eigenen Schrift ebenfalls einen solchen Titel gegeben hat - vor dem „Sozialistischen Leseverein" in Amsterdam von 1902.212 Darin präsentiert Kautsky seine typologische Unterscheidung zwischen der „sozialen Revolution" und der „politischen Revolution". Erstere bezeichnet die Umwälzung des sogenannten gesellschaftlichen Überbaus als Folge der Umwälzung seiner ökonomischen Grundlagen. Sie ist der Zielpunkt des geschichtsphilosophischen Rahmenplans, als „Produkt besonderer historischer Vorbedingungen" ist sie geschichtlich determiniert und dem Proletariat als Ziel „prinzipiell" vorgegeben. Das Proletariat kann sich durch seine Organisation auf die „soziale Revolution" vorbereiten, ohne dabei ihr Eintreten beschleunigen oder verhindern zu können. Während die „soziale Revolution" somit in Kautskys Theorie jenen Baustein darstellt, der ihm den Vorwurf des „Fatalismus" und „Attentismus" eingebracht hat, ist sein Konzept der „politischen Revolution" durchaus aktivistisch, meinte er damit doch die „Eroberung der Staatsgewalt durch eine bis dahin unterdrückte Klasse". Die „soziale Revolution" ist das „Ziel" des historischen Prozesses, die „politische Revolution" ist

211 Michels, Labriola-Rezension 1904, a.a.O., S. 61. 212 Später aufgenommen in Karl Kautsky, Die soziale Revolution. I: Sozialreform und soziale Revolution, Berlin 1911, ibs. S. 9 u. 23.

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das „Mittel", um dem Proletariat die Machtmittel zu sichern, mit denen es die durch die „soziale Revolution" ermöglichte sozialistische Transformation der Gesellschaft, den Übergang der Produktionsmittel in den Besitz der Gesamtheit, verwirklichen soll. Institutionell zielt die „politische Revolution" auf die „demokratische Republik".213 Da die „soziale Revolution" auf objektiven Entwicklungsdaten der Gesellschaft beruht und weil in marxistischer Perspektive die dafür notwendigen Veränderungen des gesamten Ensembles der menschlichen Produktionsverhältnisse und ihres juristischen Überbaus nicht willkürlich herstellbar sind, steht Kautsky einem revolutionären Voluntarismus denkbar fern, ja feindlich gegenüber. Sein Vorwurf des Voluntarismus trifft vor allem die Anarchisten, die „sich einbilden, mittelst des Willens ihrer Person und einiger alter Flinten" die „neue Gesellschaft" herbeizufuhren. Kautsky grenzt sich damit von der Minderheitenrevolte der „tolldreisten Jungen" ab und insistiert darauf, daß eine Revolution von der „Masse des Volkes" ausgehen müsse.214 Die revolutionäre Reife der „Masse des Volkes" ist dabei keineswegs das Produkt einer selbstläufigen Entwicklung. Entschieden widerspricht Kautsky der Meinung, das „sozialistische Bewußtsein" sei „das notwendige direkte Ergebnis des proletarischen Klassenkampfes". Auf die Frage, wie denn das „moderne sozialistische Bewußtsein" entsteht, gibt er vielmehr jene Antwort, die den bürgerlichen Intellektuellen einen höchst prominenten Status in der Arbeiterbewegung zuweist: „Das moderne sozialistische Bewußtsein kann nur entstehen auf Grund tiefer wissenschaftlicher Einsicht. [...] Der Träger der Wissenschaft ist aber nicht das Proletariat, sondern die bürgerliche Intelligenz. In einzelnen Mitgliedern dieser Schicht ist denn auch der moderne Sozialismus entstanden und durch sie erst geistig hervorragenden Proletariern mitgeteilt worden. [...] Das sozialistische Bewußtsein ist also etwas in den Klassenkampf des Proletariats von außen Hineingetragenes, nicht etwas aus ihm urwüchsig Entstandenes".215 Wenn man Kautsky in diesem Punkt folgt, dann läuft der Arbeitersozialismus der extremen Linken in Italien und anderswo mit seiner Intellektuellenfeindlichkeit Gefahr, die Arbeiterbewegung kognitiv zu entkernen und das „sozialistische Bewußtsein" aufs Spiel zu setzen. Eben dies ist eines der Hauptargumente, die Robert Michels in seinen Polemiken gegen den italienischen und französischen Syndikalismus anführen wird. Diese Polemiken sind Bestandteil des übernächsten Kapitels, da sie bereits in Michels' philosyndikalistische Phase fallen. Vorher werden wir den Weg dorthin begutachten. In der zweiten Jahreshälfte 1904 nämlich beginnt Michels erstmals die Vor213 Vgl. Gilcher-Holtey, Das Mandat des Intellektuellen, a.a.O., S. 84f., die hier Kautsky gegen den Vorwurf des ,/evolutionären Attentismus" (Dieter Groh) oder des „Fatalismus" (Hans-Josef Steinberg) verteidigt. Robert Michels hätte ihrer Verteidigung zweifellos zugestimmt. 214 Vgl. Gilcher-Holtey, Das Mandat des Intellektuellen, a.a.O., S. 85. 215 Karl Kautsky, Wiener Parteitag (Zum Entwurf für das neue Programm der österreichischen Sozialdemokratischen Partei), in: Die Neue Zeit, 1901/1902, 20. Jg., Bd. I, S. 79f.; zit. η. I. Fetscher, Der Marxismus, a.a.O., S. 551.

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bildlichkeit des „großen Bruders" der II. Internationale in Frage zu stellen. Seine Kritik richtet sich nicht länger nur gegen den Reformismus, sondern auch gegen die Revolutionäre' Parteimehrheit. Michels wird die Konturen einer strömungspolitischen Neuformation der Linken erblicken, die er als „revolutionären Revisionismus" erwartungsfreudig begrüßt. Das zentrale Motiv seiner Kritik an der Gesamtverfassung der SPD ist abermals der Republikanismus. Das in dieser Frage mit Michels nicht zu spaßen ist, bekommt jetzt auch Kautsky zu spüren.

2.6. Der Wert der Republik Im Sommer 1903 war Michels' Dissens mit Bernstein akut geworden, weil Michels' republikanischer Fundamentalismus eine Amtsübernahme im monarchischen Staat kategorisch ausschloß, während Bernsteins pragmatischer Republikanismus die möglichen parteipolitischen Vorteile einer sozialdemokratische Vizepräsidentenschaft im Reichstag nicht ungenutzt lassen wollte. Ein Jahr später, im September 1904, erleben wir einen erneuten Vorstoß von Michels in der Republikfrage. Diesmal steht Karl Kautsky im Fokus seiner Kritik. Der Hintergrund ist eine Kontroverse auf dem Amsterdamer Kongreß der II. Internationale, anläßlich derer es im „Vorwärts" zu einem Streit über die Rückständigkeit des politischen Systems in Deutschland gegenüber Frankreich gekommen ist. Karl Kautsky hat dabei die These aufgestellt, daß die Monarchie in vielen Dingen dem Proletariat und seinen Wünschen näher komme als die den „Klassencharakter nackter zur Schau tragende Republik".216 Kautsky hat sogar von einem „republikanischen Vorurtheil" bzw. von einem „republikanischen Aberglauben" gesprochen, dem manche Genossen in Verkennung der viel entscheidenderen ökonomischen Machtstrukturen aufsitzen würden. Damit, so Michels in seiner Replik, habe Kautsky ausgerechnet ein Schlagwort des Reformisten Turati übernommen, mit dem dieser noch vor kurzem seine „amonarchistische", d. h. der Staatsform neutral gegenüberstehende Taktik begründet und gegen die republikanische Agitation der radikalen Linken um Arturo Labriola in Anschlag gebracht hat. Michels nimmt Kautskys „politisch sehr unangebrachte" Thesen zum Anlaß, nunmehr die ganze Partei - kurz vor dem Bremer Parteitag - vor die Frage zu stellen: „Monarchie oder Republik?" Der republikanische Schub, den sich Michels von den Juni-Wahlen versprochen hat, ist ganz offensichtlich nicht eingetreten, denn stattdessen muß ein sichtlich ernüchterter Michels feststellen: „Schon heute herrscht in unserer Partei über die Republik in der Regel Schweigen. Daran ändert auch nichts, daß der oder jener aus unseren Reihen in großen Momenten die Republik der Zukunft seiner platonischen Liebe versichert. Wo und wann ist zu unserer Zeit von sozialdemokratischer Seite aus eine Versammlung

216 Zit. n. Michels, Monarchie oder Republik?, in: Volksstimme, 15. Jg., Nr. 213, 10.9.1904, S. 1-2.

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abgehalten worden, auf deren Tagesordnung eine Vortrag über die Vortheile der Republik vor der Monarchie gestanden hätte?" Die Einfuhrung des Acht-Stunden-Tages, mag man auch noch so weit davon entfernt sein, genieße in der Sozialdemokratie einen weitaus höheren Stellenwert als die Frage nach der politischen Ordnung, in der man leben will. Noch allerdings ist Michels' Kritik moderat und geradezu verständnisvoll, macht er doch neben einer gewissen „Parteibequemlichkeit" auch die „Kautschukparagraphen der Majestätsbeleidigung" für die Probleme der Partei mit der republikanischen Agitation verantwortlich. Wenn Michels anschließend den „Werth der Republik" verteidigt und gegenüber Kautskys ökonomistischer, die unterschiedliche Qualität der politischen Systeme verfehlenden Argumentation eine eminent verfassungspolitische Perspektive wählt, zeigt sich einmal mehr das ungebrochene Fortbestehen von Motiven des politischen Liberalismus in Michels' Denken: „Es thut noth, einmal an all' Dasjenige zu erinnern, was die Republik - auch die blaueste - vor der Monarchie voraus hat. Zunächst viel Negatives, das Fehlen erblicher Privilegien in der Politik, des Gottesgnadenthums mit seinen Majestätsbeleidigungsparagraphen, der Unkosten der prinzlichen Unterhaltung aller Familienmitglieder des Staatsoberhauptes durch das Volk usw. Aber auch viel Positives: Ministerverantwortlichkeit, allgemeines, gleiches Wahlrecht, Preßfreiheit usw. Ein Grundunterschied zwischen Monarchie und Republik besteht aber in der staatsrechtlichen Thatsache, daß während der Volkswille in der Monarchie nur dann zum Ausdruck kommen kann, wenn er zufällig mit dem Willen des Dynasten zusammenfällt - jedes Gesetz in Deutschland bedarf der Zustimmung des Bundesraths und der Unterschrift des Kaisers! - in der Republik sämtliche Beamte vom Volke selbst wähl- und absetzbar sind und die von der Volksvertretung genehmigten Gesetze zur Rechtskraft keiner Bestätigung mehr bedürfen. Sind in einer Monarchie ungesunde Verhältnisse, so kann das die Schuld des werkthätigen Volkes mit sein. Es kann aber auch die Schuld der Monarchie allein sein, der das Recht zusteht, den Wünschen des Volkes die Gewährung zu versagen und so die Entwickelung hintanzuhalten. In der Republik sind die ungesunden Verhältnisse stets auf die Unreife der großen Masse der Bevölkerung selber zurückzuführen, da sie alle gesetzlichen Mittel in der Hand hat, um die ihr nicht genehmen Zustände und Persönlichkeiten zu entfernen. Je mehr die deutsche Sozialdemokratie praktisch arbeiten wird, desto mehr wird sie diesen Unterschied erfassen müssen, desto mehr wird sie die Forderung einer - und sei es noch so blauen - Republik als eine aktuelle empfinden."217 Ich habe mir erlaubt, so umfangreich zu zitieren, weil sich in diesem bislang von der Forschung übersehenen Dokument in wünschenswerter Präzision die Konturen des Mi-

217 Michels, Monarchie oder Republik?, S. 1.

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chelsschen Republikverständnisses abzeichnen: nicht eine entdifferenzierte identitäre Demokratie, sondern die Verantwortlichkeit der Minister vor der Volksvertretung und deren Absetzbarkeit durch die freie Volkswahl sind die Quadersteine der anzustrebenden Republik, die freilich in ihren formalen Institutionen nicht aufgeht, sondern erst in der Rückkopplung mit den Kompetenzen und Orientierungen der Bürger ihre spezifische Gestalt gewinnt. Die Schlußzeilen zeugen von Michels' Selbstverständnis eines die praktische Parteiarbeit kritisierenden und korrigierenden Intellektuellen, der in diesem Fall gegen den amtierenden Chefideologen der Partei ein republikanisches Aktionsprogramm einfordert. Hat Kautsky das Primat ökonomischer Machtstrukturen behauptet und die Republikfrage nicht nur als zweitrangig dargestellt, sondern mit seiner Rede vom „republikanischen Aberglauben" sogar diskreditiert, so tritt ihm Michels mit den Worten entgegen: „Wir müssen den Republikanischen Aberglauben' im Wortsinn verlieren und den Glauben an die Republik an seine Stelle setzen."218 Das Verwunderliche an diesem Streit ist, daß auch Kautsky in der demokratischen Republik die unverzichtbare Basis für den Zukunftsstaat sieht.219 Dies ist ja auch ein Grund dafür, daß sich Michels seit dem Sommer 1903 mit Kautsky zu identifizieren beginnt und von Bernstein wegen dessen Bereitschaft zum „Kaisergang" abwendet.220 Der Anlaß für Kautskys vorübergehenden ,Gesinnungswandel' ist derselbe, der Michels zu seiner ersten, die Partei als ganze und nicht etwa nur den Reformismus betreffenden Kritik bewegt. Beide nämlich reagieren auf eine unerhörte Begebenheit, die sich auf dem Internationalen Sozialisten-Kongreß in Amsterdam zugetragen hat. Dort ist es zwar wiederum der deutschen Sektion gelungen, wenn auch diesmal deutlich knapp, ihre Vorstellungen, sprich: die Dresdner Resolution mit der Absage an eine positive Zusammenarbeit mit bürgerlichen Regierungen, zum verbindlichen Richtwert für alle Parteien des internationalen Sozialismus zu erheben. Allerdings ist es in Amsterdam auch zu einem Eklat gekommen, der sich in den folgenden Jahren als Präludium eines unaufhaltsamen Prestigeverlustes der SPD in der Internationale erweisen soll. Der französische Reformist Jean Jaurès hält eine fulminante und ketzerische Rede, die den Gralshütern der siegreichen deutschen Taktik wie ein Sakrileg erscheint und insbesondere bei Kautsky Exkommunikationsgelüste gegenüber dem französischen Genossen weckt.221 Bislang haben die Sozialdemokraten eine derartige Attacke nur von anarchistischer Seite vernommen. Schon vor Amsterdam hat Jaurès über Kautskys Idee der „sozialen Revolution" gespottet, sie gleiche einer „tönernden Sparbüchse", in der Millionen auf Millionen Stimmen gehäuft werden, die aber unter keinen Umständen von den Ungeduldigen zu früh geöffnet werden dürfe. Dabei hat er auch das wachsende Unbehagen in den sozialistischen Bruderparteien angesichts des „intoleranten Dogmatismus" der

218 219 220 221

Michels, Monarchie oder Republik?, S. 1. Hans-Josef Steinberg, Sozialismus und deutsche Sozialdemokratie, a.a.O., S. 81. Vgl. Kapitel IV. 1.3. Vgl. Till Schelz-Brandenburg, Eduard Bernstein und Karl Kautsky. Entstehung und Wandlung des sozialdemokratischen Parteimarxismus im Spiegel ihrer Korrespondenz 1879 bis 1932, Köln/ Weimar/Wien 1992, S. 354.

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deutschen Sozialdemokratie artikuliert, indem er der SPD rät, von Belehrungen bis zu dem Tag abzusehen, an dem auch sie einmal mit Problemen konfrontiert sei, die in republikanischen Staaten schon heute auf der Tagesordnung stehen.222 In Amsterdam geht Jaurès zum Frontalangriff über. Er zieht den taktischen wie theoretischen Führungsanspruch der Deutschen in Zweifel, ja, er fuhrt ihn vor aller Augen ad absurdum, indem er die verbale Radikalität ihrer Resolutionen und Leitmaximen auf ihre tatsächliche Machtlosigkeit im wilhelminischen Obrigkeitsstaat zurückführt: „Zwischen eurer anscheinenden politischen Macht, wie sie sich von Jahr zu Jahr in der wachsenden Zahl eurer Stimmen und Mandate ausdrückt, zwischen dieser anscheinenden Macht und eurer wirklichen Macht an Einfluß und Tat besteht ein Gegensatz, der um so größer werden zu scheint, je mehr eure Wahlmacht zunimmt." Weder die „Traditionen eures Proletariats", noch der „Mechanismus eurer Verfassung" hätten es der SPD erlaubt, die drei Millionen Stimmen von 1903 in eine nennenswerte Aktion umzusetzen. „Warum? Weil euch eben die wesentlichen Bedingungen, die beiden wesentlichen Mittel der proletarischen Aktion noch fehlen - ihr habt weder eine revolutionäre noch eine parlamentarische Aktion." Dieser Mangel an einer „proletarisch-revolutionären Tradition" in der deutschen Sozialdemokratie sei gleichzeitig der Grund für die Nonchalance, die die Deutschen an den Tag gelegt haben, als „unsere belgischen Genossen [...] zur Eroberung des allgemeinen Wahlrechts auf die Straße gestiegen sind." Der Dogmatismus der deutschen Sozialdemokratie ist für Jaurès somit nichts anderes als der phraseologische Überbau ihrer tatsächlichen Handlungsunfähigkeit: „Und da habt ihr [die SPD] vor eurem eigenen Proletariat, vor dem internationalen Proletariat, eure Ohnmacht, zu handeln, hinter der Intransigenz theoretischer Formeln verhüllt, die euer ausgezeichneter Genösse Kautsky euch bis an sein Lebensende liefern wird."223 Es ist bezeichnend für Michels' intellektuelle Rolle, daß er auf diese scharfe Verurteilung seiner Partei nicht wie Kautsky mit einer Selbstverteidigung im Sinne der Parteiraison reagiert, sondern sich auf die Seite der Werteraison stellt,224 auch wenn sie von

222 Zit. n. Michels, Die deutsche Sozialdemokratie im Internationalen Verbände. Eine kritische Untersuchung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. XXV, Heft 1, 1907, S. 148-231, S. 171/2. 223 Internationaler Sozialisten-Kongreß zu Amsterdam, 14. bis 20. August 1904, S. 37-39. 224 In diesem Sinne trifft die Unterscheidung von Gilcher-Holtey durchaus zu, wonach Kautsky den Idealtyp des „Parteiintellektuellen" verkörpere, Michels dagegen den des „Kultur-Intellektuellen". Vgl. Ingrid Gilcher-Holtey, Intellektuelle in der sozialistischen Arbeiterbewegung: Karl Kautsky, Heinrich Braun und Robert Michels, in: Jürgen Rojahn, Till Schelz, Hans-Josef Steinberg (Hg.),

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einem Vertreter des französischen Reformismus verfochten wird: „Wie schade, daß solche Wahrheiten aus einem solchen Mund kommen".225 Ausgerechnet diese Stimme eines Reformisten soll für Michels zum Lockruf einer immer kritischeren Introspektion der sozialdemokratischen Befindlichkeit werden.

2.7. Das Warten auf die „faule Revolution" Der Bremer Parteitag im Oktober 1904 gibt Michels keinerlei Anlaß, die Kritik Jaurès' weniger ernst zu nehmen. Ganz anders als ein Jahr zuvor in Dresden bemerkt Michels in Bremen eine Stimmung des „Attentismus". Weder theoretisch noch praktisch habe die Versammlung etwas neues gebracht. Michels entschuldigt dies gegenüber den Lesern des „Avanti" damit, daß die Partei offensichtlich nach den „Übertriebenheiten und Vehemenzen" von Dresden, die sie in der öffentlichen Meinung isoliert haben, einen „Parteitag der Brüderlichkeit und Solidarität gegenüber dem Feind" für angemessener gehalten habe als eine erneute Dokumentation ihrer inneren Spannungen.226 Das sind versöhnliche Worte, die allerdings kaum die sich anbahnenden Differenzen zwischen Michels und dem Mainstream der Partei verbergen können. So hat Michels gemeinsam mit Kautsky und anderen eine Solidaritätsadresse zum italienischen Generalstreik eingebracht, die auch angenommen wird, allerdings erst, nachdem auf Druck von Vollmar und Bebel ein signifikanter Passus von Michels' Entwurf zurückgezogen wird. Lautete die ursprüngliche Resolution: „Der Parteitag der deutschen Sozialdemokratie beglückwünscht die italienischen Genossen zu ihrem tapferen und siegreichen, durch den politischen Massenstreik ausgefochtenen Kampfe auf das Herzlichste",227 so mag der Parteitag die Genossen jenseits der Alpen doch nur zu ihrem „tapferen Kampfe" beglückwünschen. Michels ist, so geht aus seiner Begründung des nun gekürzten Antrags hervor, während des Parteitages mitgeteilt worden, daß der Begriff „Massenstreik" mißverständlich sei und Anlaß zu einer Generalstreikdebatte geben könne,228 die man allerdings auf das nächste Jahr verschoben hat und daher in Bremen tunlichst vermeiden will. Während Michels diese Änderung bereitwillig akzeptiert, „da die Worte für den Sinn der Resolution unwesentlich sind", und es ihm offensichtlich in erster Linie auf die

225 226 227

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Marxismus und Demokratie. Karl Kautskys Bedeutung in der sozialistischen Arbeiterbewegung, Frankfurt a.M./New York 1992, S. 373-390. Michels, Les dangers du parti socialiste allemand, in: Mouvement Socialiste, VI. Année, Nr. 144, 1.12. 1904, S. 193-212, S. 193: „Quel dommage que de telles vérités sortent d'une telle bouche!" R. Michels, A Brema, in: Avanti, anno VIII, η. 2811, 1.10.1904. Vgl. auch ders., Bremer Erbschaften, in: Mitteldeutsche Sonntagszeitung, 11. Jg., Nr. 43, 1904. Vgl. den Antrag 145 in: Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten zu Bremen vom 18.-24. September 1904, Berlin 1904 (ND Osaka 1970), S. 145. Protokoll Bremer Parteitag, S. 321.

IV.2. Von der republikanischen Intransigenz zum revolutionären Revisionismus

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Demonstration internationaler Solidarität ankommt,229 treten die Konturen der zukünftigen Konfliktlinien zwischen Michels und der SPD in einem anderen Punkt schon schärfer hervor: dem Selbstbestimmungsrecht der Völker. Auch hier ist Bebel der Gegenspieler, dem Michels vorwirft, nicht ganz auf der Höhe des Parteiprogramms zu stehen: „Bebel hat in einer großen Reichstagsrede erklärt: die Sozialdemokraten würden das Vaterland mit verteidigen, wenn es angegriffen würde; wir würden keinen Fetzen Landes preisgeben. Ein organisierter Genösse schrieb mir damals, Bebel sei wohl nationalsozial geworden. (Heiterkeit.) Ich erwiderte ihm: ,Das glaube ich nicht. Bebel sei eine wunderbare Stradivarigeige, nur manchmal setze der Bogen falsch an, und dann komme ein Ton heraus, der um einen Ton zu hoch sei.' (Heiterkeit.) Ich bin allerdings der Meinung, daß der Satz, wir würden jeden Fetzen des Reiches verteidigen, dem Parteiprogramm widerspricht. (Bebel: Na, na!) Ich meine den Satz unsres Programms über das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Ja, hätten wir den abgeschlossenen Nationalstaat, so hätte Bebel Recht. Aber wir leben in einem Staatswesen, welches sich dänische, französische und polnische Gebietsteile angeeignet hat. Denken Sie sich nun den Fall, die Hakatisten230 trieben die polnische Bevölkerung zum Aufstande; müßte dann nicht unsre Sympathie auf Seiten der Polen stehen? Sollten wir da bis zu unsrem letzten Blutstropfen kämpfen, um die Polen zaristisch niederzuwerfen?"231 In seiner Replik verteidigt Bebel sich damit, daß die Sozialdemokratie seit jeher im Falle eines Angriffskrieges gegen Deutschland zur Verteidigung des Vaterlandes entschlossen sei, und übergeht damit die Frage, wie sich die Partei bei einem Aufstand ethnischer Minderheiten innerhalb des Reichsgebietes verhalten würde.232 Zu den Vorwürfen Jean Jaurès' äußern sich in Bremen weder Bebel noch irgendein anderer Redner, obwohl der Amsterdamer Kongreß einen eigenständigen Tagesordnungspunkt bildet. Diese befremdlichen Erfahrungen von Bremen dürften für Michels den letzten Anstoß zu einer Generalkritik seiner Partei gegeben haben. Noch im selben Monat, im Oktober 1904, unternimmt er erstmals den Versuch, die von Jaurès so prägnant benannten Widersprüche der sozialdemokratischen Politik einer Analyse zu unterziehen. Der Titel unterstreicht die Bedeutung, die Michels seiner Untersuchung beimißt: „Les dangers du parti socialiste allemand".233 In der Forschung wird zuweilen angenommen, daß mit diesem Aufsatz, Michels' erstem in der Zeitschrift des französischen Syndikalisten Hubert Lagardelle, seine 229 Protokoll Bremen, S. 321. 230 Bezeichnung für Mitglieder des 1904 von //ansemann, Äennemann und Tiedemann gegründeten „Vereins zur Förderung des Deutschtums in den Ostmarken". 231 Protokoll Bremer Parteitag, S. 206. 232 Protokoll Bremer Parteitag, S. 211/212. 233 Michels, Les dangers du parti socialiste allemand, in: Le Mouvement Socialiste, Jg.6, Nr. 144, 1.12.1904, S. 193-212. Der Artikel selbst ist mit „Marburg (Hesse), octobre 1904" unterzeichnet.

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IV. A m Krankenbett des Proletariats

„Mouvement Socialiste period" (Mitzmann) beginne, w a s nichts anderes heißen soll, als daß sich Michels v o n nun an mit dem revolutionären Syndikalismus identifiziere. 2 3 4 N u n hat Pino Ferraris völlig zu Recht argumentiert, daß die bloße Tatsache eines Beitrages in einer syndikalistischen Zeitschrift noch keine Rückschlüsse auf die ideologische Disposition eines Verfassers erlaube, der seine Artikel in Zeitschriften unterschiedlichster politischer Couleur veröffentlicht 2 3 5 und der nach eigener Auskunft „vom Schreiben leben" mußP6 Im übrigen steht der „Mouvement Socialiste" zunächst noch einem Kautsky sehr nahe. 2 3 7 Normativ steht Michels' erster „Mouvement Socialiste"-Aufsatz in der Kontinuität seines Republikanismus und seiner ,modernisierungstheoretischen' Auseinandersetzung mit der politischen, rechtlichen und soziokulturellen Rückständigkeit des Kaiserreiches. Seine Analyse erreicht allerdings insofern ein neues Niveau, als Michels hier den politischen Kontext des Kaiserreichs heranzieht, u m auf die „desaströse Sterilität" der SPD zu sprechen zu kommen. Seine Analyse beginnt somit dort, w o Jaurès' Polemik endet, und erörtert erstmals die Frage, warum die ihrem theoretischen Anspruch nach systemoppositionelle Sozialdemokratie tatsächlich Gefahr läuft, die bestehende Ordnung zu

234 Vgl. Mitzmann, a.a.O., S. 289f.; Beetham, a.a.O., S. 5-6, die in unterschiedlicher Akzentuierung Michels in den „Syndikalismus" einordnen. Während Beetham die ,wissenschaftlich-kritische' Seite des Syndikalismus und Mitzmann dessen .ideelle' Seite betont, versteht Wilfried Röhrich hingegen Michels' syndikalistisches Engagement als spezifisch ,sorelianisch' inspiriert und behauptet somit Michels' ideologische Nähe zum „Mythos der Gewalt" und des Generalstreiks. Auch hinsichtlich der Datierung von Michels' syndikalistischer Phase' unterscheidet sich Röhrich von den beiden anderen Autoren, insofern er sie nicht im Oktober 1904, sondern mit „1903" beginnen läßt. Dies begründet er mit einem undatierten Brief Anton Pannekoeks an Michels, in dem vom Utrechter Streik von 1903 die Rede ist. Das entsprechende Kapitel lautet „Die revolutionäre Aktionsform", in Röhrichs Sicht das beherrschende Thema des jungen Michels (Röhrich 1972, S. 27). Der von Röhrich zitierte Brief Pannekoeks geht aber nicht nur auf den Streik von 1903 ein, sondern auch auf Ereignisse des Jahres 1904, kann also frühestens 1904 geschrieben worden sein. (Der Brief befindet sich in Röhrichs Privatsammlung von Briefen an Michels, aus der mir Wilfried Röhrich dankenswerterweise eine Auswahl in kopierter Form hat zukommen lassen). Zur Kritik an Röhrichs Michels-Studie vgl. Corrado Malandrino, Note a margined! nuovi e vecchi studi su Michels, in: Il Pensiero politico, anno XXV, Nr. 3 (settembredicembre) 1992, S. 448-457. Zum Verhältnis Michels-Sorel vgl. Ferraris, Saggi, bzw. in dieser Arbeit das Kapitel IV. 3. Michels und der revolutionäre Syndikalismus. 235 Pino Ferraris, 1993, S. 59. 236 „Ich muß vom Schreiben leben", bittet Michels 1905 seinen Freund Luigi Einaudi um die zügige Auszahlung eines Honorars für einen Artikel in der „Riforma Sociale". Vgl. den Brief von Robert Michels an Luigi Einaudi, 14.12.1905, AFLE: „Debbo vivere scrivendo". Vgl. auch den Brief R. Michels an A. Hamon vom 25.2.1903: „Ich besitze nicht das geringste Privatvermögen, mein noch lebender Vater, ein alter Konservativer, der den Sozialismus seines Sohnes von ganzem Herzen mißbilligt, gibt mir nichts" (in: Malandrino 1989, S. 516: ,je n'ai aucune fortune personnelle, mon père encore vivant, vieux conservateur qui désapprouve le socialisme de son fils de tout coeur, ne me donne rien"). 237 Jean Luc Pouthier, Roberto Michels et les syndicalistes révolutionnaires français, in: Cahiers Georges Sorel 4/1986, S. 39-57, S. 44.

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stabilisieren, bzw. warum sie auch nach dem Wahlsieg vom Juni derart unsichtbar, wirkungslos und machtlos geblieben ist, daß sie nicht einmal imstande scheint, „den Staat auch nur in einem liberalen Sinne zu beeinflussen". Um dies zu verstehen, müsse man auch die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen berücksichtigen, unter denen sie agiert.238 Was die restriktiven Handlungsmöglichkeiten des politischen Ambientes betrifft, so zeichnet Michels seinen französischen Lesern, bei aller Berechtigung seiner Argumente im einzelnen, ein einseitiges Bild von Deutschland, das er mit Superlativen der Rückständigkeit belegt. Maßstab ist dabei seine Orientierung an der republikanischen Leitkultur Westeuropas, an der „modernen Zivilisation", die er Deutschland dichotomisch gegenüberstellt, das „politisch, mit Ausnahme Russlands und der Türkei, das rückständigste Land Europas", „das Land des beispiellosesten persönlichen Absolutismus" sei. - Wir schreiben das Jahr 1904, das Diskursmuster „Zivilisation versus Barbarei", mit dem französische Intellektuelle später die Schlachtordnung des Ersten Weltkrieges beschreiben werden, ist in Michels' Darstellung gleichwohl schon deutlich vorgezeichnet. Zur Begründung seines Kaiserreichsbildes fuhrt Michels einmal mehr an, daß nicht die ökonomisch leistungsfähige „bourgeoisie roturière", sondern die „noblesse rurale", der Landadel, politisch über das Land herrsche und insbesondere die Junker im Staatsdienst, im Heereswesen und in der Agrarwirtschaft - Stichwort ,Fideikommiß' 239 Privilegien genießen, welche „die moderne Zivilisation, ungeachtet ihrer kapitalistischen Formen, fast überall sonst abgeschafft hat". Die Gesindeordnung entziehe ganzen Bevölkerungsgruppen, den Landarbeitern und Hausbediensteten in den Gutsbezirken, die elementarsten Rechte wie das Versammlungs-, das Assoziations- und das Streikrecht. Ein „barbarisches" Vorrecht erlaube es dem Gutsherrn zudem, seinen Diener zu schlagen, ohne daß dieser seinen Herrn anklagen könnte. Als ein besonders schillerndes Mosaikstückchen im Portrait der deutschen Rückständigkeit nennt Michels nicht zuletzt den Disziplinierungsparagraphen der ,Majestätsbeleidigung', auf dessen Grundlage jedes Jahr Hunderte von Menschen im Gefängnis landen würden. Die Sanktion eines mindestens dreimonatigen Freiheitsentzugs würde auch all diejenigen treffen, die auf einer öffentlichen Versammlung sitzen bleiben, wenn „Es lebe der Kaiser!" ausgerufen wird. Ein „polizeilicher Absolutismus", durchorganisiert bis zum „Schutzmann" auf dem Dorfe, überwache streng die Wahrung und Anerkennung der kaiserlichen Autorität. Anders als im „bürgerlichen und republikanischen Frankreich" habe sich die deutsche Bourgeoisie mit der politischen Illiberalität engagiert, im festen Glauben, „daß die ,Materie' des

238 Michels, Les dangers, a.a.O., S. 193: „Mais si un parti, qui dispose d'une telle puissance électorale est à ce point incapable d'opérer le moindre changement; si un tel parti reste à l'état de microcosme, si non invisible du moins négligeable et impuissant à influencer même L'Etat dans un sens libéral, il donne par là le signe manifeste d'une désastreuse stérilité, d'un manque de forces à peine croyable pour tous ceux qui ignorent l'histoire du parti socialiste allemand et du milieu où il évolue". 239 Der ,Fideikommiß' sicherte auch im Fall eines agrarökonomischen Bankrotts den Landbesitz als exklusives unveräußerliches Familiengut.

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Mammons ihr durch nichts sicherer garantiert zu werden vermag, als durch Aufrechterhaltung des ,Ideals' der Monarchie".240 Die Sozialdemokraten leben unter diesen Umständen in einem Zustand der gesellschaftlichen Ächtung. „In diesem Land, wo ein Drittel der Wähler sozialistisch' ist, gibt es nicht einen einzigen von den unsrigen unter den 2100 Universitätsprofessoren: ein Gesetz untersagt dies."241 Gemessen an der Ausgangsfrage, ob die SPD das Land wenigstens „in einem liberalen Sinne" beeinflussen könne, wird Michels' pessimistische Wende in seiner Einschätzung der sozialdemokratischen Handlungsmöglichkeiten um so deutlicher: die Partei sei „außerstande" (!), die Institutionen und die Politik des Reiches zu modifizieren. Selbst ihre Zukunft als Partei stehe permanent auf dem Spiel, insofern das allgemeine Wahlrecht jederzeit abgeschafft werden könne, weil der Kaiser und seine Umgebung „gewisse ,katastrophische' Neigungen"242 hätten. Für den Fall, daß man der Sozialdemokratie die Früchte ihrer vierzigjährigen Arbeit entrisse oder daß die Regierung einen Krieg gegen England oder Frankreich beschlösse, setzt Michels schon jetzt kaum noch Hoffnung in das Widerstandspotential der Partei. Alle Vorschläge zugunsten außerparlamentarischer Aktionsformen wie etwa der Generalstreik finden entweder kein Gehör bei den deutschen Sozialdemokraten oder würden kurzerhand als „utopisch" abqualifiziert. Darin unterscheide sich die Partei erheblich von ihren Genossen in Frankreich und Italien, wo zumindest im Kriegsfall der Generalstreik als moralisch gebotene und auch praktisch mögliche Widerstandsform weitgehend akzeptiert werde.243 Dabei sei es doch die deutsche Partei, die aufgrund ihrer Organisation und ihrer finanziellen Ressourcen, ihrer großen und disziplinierten Anhängerschaft sowie der unzweifelhaften Autorität ihrer Führer eigentlich im Vergleich mit den übrigen sozialistischen Parteien Europas die besten Voraussetzungen für einen erfolgreichen Massenstreik erfülle: „Und dennoch läßt alles darauf schließen, daß die deutsche Sozialdemokratie ebenso eine Verstümmelung politischer Rechte geduldig ertragen würde, ohne darauf anders zu reagieren, als in irgendwelchen Vorstadtkneipen fern ab der Öffentlichkeit irgendwelche Resolutionen zu beschließen - , wie sie auch gleichermaßen unbeweglich vor dem fait accompli eines Kriegs stehen würde".244

240 Michels, Monarchie oder Republik?, a.a.O. 241 Michels, Les dangers, a.a.O., S. 195. 242 Michels, Les dangers, S. 195/196: „Ce qu'il y a de plus grave, ce n'est pas seulement que la social-démocratie se trouve hors d'état de modifier sensiblement les institutions et la politique du pays, mais que son lendemain même est compromis. Le suffrage universel - le seul droit que le prolétariat allemand possède - est atteint: à tout instant, il peut être aboli. L'empereur, la cour, les conservateurs ont des penchants catastrophiques'." 243 Michels, Les dangers, S. 196. 244 Im Original (Les dangers, S. 196-197) lauten Michels' Spekulationen über die organisatorischen Voraussetzungen eines Generalstreiks in Deutschland: „Or - si on réfléchit - les possibilités de réussite d'une grève générale en cas de guerre, par exemple, ne pourraient nulle part être si grandes qu'en Allemagne. Dans nul autre pays, les masses ne sont aussi compactes et ne rendent

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Die Gründe für die fatale Passivität245 der Partei erblickt Michels allerdings nicht in einer „trahison honteuse" der Führer, Delegierten und Abgeordneten. Er macht sich also nicht die von Anarchisten und Syndikalisten gepflegte Verratsthese zu eigen, der zufolge die Repräsentanten der Partei eine Politik des Abwartens im eigenen Interesse verfolgen, sondern verteidigt energisch den „guten Glauben" und den „Opfersinn" der „chefs".246 So erinnert Michels an Bebels Auftritt 1896 in Dresden kurz nach Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts, wo er vor 20.000 Menschen scharf gegen das von allen bürgerlichen Parteien im sächsischen Landtag einschließlich der Linksliberalen gebilligte Wahlrechtsattentat protestiert hatte. Eine Wahlrechtsbewegung entstand daraus gleichwohl nicht. Es ist die - von den obligatorischen, meist einmütig gefaßten Resolutionen am Ende sozialdemokratischer Manifestationen abgesehen - Folgenlosigkeit solcher Kundgebungen, die Michels irritiert und die ihn in einen Abgrund sozialdemokratischer Handlungsunfähigkeit blicken läßt, der weit tiefer sei als der „Verrat unser Führer" je sein könne.247 Es scheint nämlich, daß der geschichtsphilosophisch auserkorene Agent der Zukunftsgesellschaft, das deutsche Proletariat, weder ein Interesse an den republikanischen Freiheiten noch die Zivilcourage besitzt, für diese einzutreten. In dieser Einschätzung hat ihn auch eine der wohl spannendsten Innenansichten der damaligen Sozialdemokratie bestärkt - Edmund Fischers kurz zuvor publizierter Augenzeugenbericht über den inexistenten „Widerstand des deutschen Volkes bei Wahlentrechtungen": „Einige Hundert der Versammlungsbesucher zogen [nach Bebels Dresdner Rede] gruppenweise nach dem Innern der Stadt, einige riefen Hoch das Wahlrecht!, und als die Polizei kam, ging man ruhig auseinander. Das war eigentlich die ganze Bewegung! Denn die übrigen Versammlungen, die in kleineren Städten und in den Dörfern, waren meistens mittelmäßig oder schlecht besucht. Zitternd vor Empörung fuhr ich zu einer der ersten Versammlungen, die stattfanden, nach einem Industriestädtchen mit verhältnismässig starker und alter Arbeiterbewegung. Durch

plus réalisable une grève générale. Dans nul autre parti que le socialisme allemand, ni la discipline n'est plus forte, ni l'autorité des chefs n'est plus incontestée, ni les ressources financière ne sont plus grandes. Cependant, tout nous fait affirmer que le parti socialiste allemand, de même qu'il subirait patiemment une mutilation des droits politiques, sans prendre d'autre mesure que de voter quelques motions, sans publicité, dans quelques guinguettes de faubourg - resterait égalment impassible devant le fait accompli d'une guerre." 245 Dangers, S. 197: „On la [mutilation des droits politiques] subirait comme une ,destinée', un fatum inéluctable. On publierait un manifeste très révolutionnaire contre le gouvernement, en lui laissant la fameuse responsabilité devant l'histoire et devant l'humanité' [...]" 246 „II va sans dire que ces défaillances ne sont pas dues à quelque trahison honteuse des .autorités' socialistes. Nul ne pense à le soutenir. La bonne foi et le sens du sacrifice, sont, chez les ,chefs', au-dessus de tout soupçon" (Dangers, 197). 247 „Les faits déplorables que nous signalons ont une cause bien plus profonde qu'une trahison de nos leaders".

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die Presse, durch Flugblätter und grosse Placate war fur diese Protestversammlung Propaganda gemacht worden [...] Nicht die Hälfte des kleinen Saales war besetzt. Die Männer spielten Karten, die Frauen strickten Strümpfe, und als ich das Wort erhielt, vernahm ich vom Tische neben mir noch die Worte: ,Du, Karl, gib noch einmal, ich muss erst noch einen Grand machen!' [...] So waren die meisten grossen Protestversammlungen beschaffen [...] Die Masse, das Volk blieb völlig gleichgiltig, es hatte nichts von der Erbitterung, dem Zorne, der Aufregung, die uns zum Kampfe trieben."248 Ebenso wie Michels' pessimistische Inspektion der Partei ist auch Fischers rückblickender Kommentar von Jaurès Amsterdamer Rede provoziert worden. Jaurès hat dort nämlich insbesondere die Wahlrechtseinschränkung im ,roten Königreich' Sachsen als Indiz dafür angeführt, daß die SPD nicht einmal in der Lage wäre, die bereits bestehenden politischen Rechte der Arbeiter zu verteidigen.249 Edmund Fischer kann Jaurès' in diesem Punkt nur bestätigen, schließlich ist auch im Winter 1903 ein erneuter Versuch, eine Wahlrechtsbewegung ins Leben zu rufen, am fehlenden Engagement und Interesse der Basis gescheitert, während das sächsische Proletariat andererseits angesichts der ,Kronprinzessinnen-AfFáre' - eine sächsische Lady Di-Story, die zu ihrer Zeit die ,Herzen' bewegt hat - in „außerordentlicher Aufregung" auf die Straßen gegangen sei. In diesem Fall nämlich, so Fischer, habe der Unmut gegenüber Adel und Monarchie in der „modern denkenden" Prinzessin eine Identifikationsfigur gefunden. Fischer schließt aus diesen Beobachtungen, daß die Sozialdemokratie einer politischen Pädagogik bedarf, die vor allem auch emotionale und ästhetische Qualitäten besitzen muß: „Die Masse des Volkes ist also sehr wohl in Bewegung zu bringen, wenn es empfindet, dass ihm eine Gefahr droht, man ihm etwas Wertvolles, eine Freiheit, ein Recht nehmen will. Aber darin liegt es eben: es muss die Empfindung dafür haben, dass eine Gefahr droht, dass etwas Wertvolles auf dem Spiele steht, wenn es in Bewegung kommen soll."250 Kein Wunder, daß Michels sich diese Stelle in Fischers Aufsatz gesondert angestrichen hat.251 Der Revisionist' Fischer und der ,intransigente Revolutionär' Michels kommen in ihren Analysen der realsozialdemokratischen Verfassung zu nahezu demselben Ergebnis. Es fehlt der Partei an „Erregung und [...] Bewegung" (Fischer), an „Wille und [...] Energie" (Michels).

248 So Edmund Fischer, der Michels' Skepis in diesem Fall das ,empirische' Material liefert. Vgl. E. Fischer, Der Widerstand des deutschen Volkes gegen Wahlentrechtungen, in: Sozialistische Monatshefte, Heft 8,1904, S. 814-819, S. 816. 249 Vgl. E. Fischer, Der Widerstand des deutschen Volkes ..., S. 814. 250 Fischer, Widerstand, S. 816. 251 Die Sammlungen der „Sozialistischen Monatshefte" in der Bibliothek der Fondazione Einaudi sind aus Michels' Privatbesitz; die Anstreichungen mit Bleistift sind hinsichtlich der .Federführung' mit denen in meinem oder in Maria Gallinos Privatarchiv identisch.

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Derartige voluntaristische und ,psychische' Begriffe, die um die Jahrhundertwende von links und rechts in die Sprache des Sozialismus der II. Internationale eindringen und von ,orthodoxer' Seite oft als ,unmarxistisch' tituliert werden, sind dabei nicht notwendigerweise ein Dementi marxistischer Denkkategorien. Vielmehr handelt es sich um Renovierungsarbeiten an einer Geschichtsphilosophie, die ganz offenkundig in der Krise steckt, weil allem Anschein nach das, was sie verspricht, so nicht einzutreffen scheint. Michels' wie Fischers Selbstbedienung im Gemischtwarenladen psychologischer Semantiken folgt dabei nicht nur dem dominanten geistesgeschichtlichen Trend der Jahrhundertwende. In beiden Fällen läßt sich die Investition psychologischer - emotionaler, ästhetischer, voluntaristischer - Begriffe in das Theoriedesign des historischen Materialismus, der als solcher ja gar nicht in Frage gestellt wird, auch als eine Wiederaufnahme des Marxschen Postulats der notwendigen Korrespondenz von Theorie und Praxis verstehen. Beide Autoren reagieren schließlich auf ein erschreckendes empirisches Defizit der Theorie: das Fehlen des revolutionären Subjektes, die fehlgeschlagene Aktivierung des „freien Staatsbürgers" (Ferri). Michels' Erklärung des empirischen Defizits läuft auf eine Revision der Praxis als auch auf eine Revision der Theorie hinaus. Erstens besteht ihm zufolge aller sozialdemokratischer Laster Anfang in der ausschließlichen Nutzung der von der wilhelminischen Reichsverfassung konzedierten parlamentarischen und legalen Mittel: „Es ist absurd, alles auf eine Karte setzen zu wollen, und es ist noch absurder, wenn man diese Karte nur mit der Erlaubnis seiner Majestät, des Kaisers von Deutschland spielen kann."252 Angesichts der restriktiven parlamentarischen Möglichkeiten liege die „wahre sozialistische Macht" nicht im Reichstag, sondern außerhalb, „in den Massen" - potentiell zumindest. Mit diesem Plädoyer für außerparlamentarische Aktionsformen rückt Michels von der , siegreichen Taktik' der Partei ab, die das Heil im Ausbau der Organisation und dem Akkumulieren von Stimmen sucht, um so irgendwann den Gegner durch die Macht der Reichstagsmandate schachmatt zu setzen. Eben diese Taktik macht Michels für die politische Unreife des Proletariats letztlich verantwortlich, weil sie die moralisch-praktischen Erfordernisse des Klassenkampfes konterkariert habe. Die Passivität des Proletariats führt er nämlich auf das der exklusiv parlamentarischen Taktik geschuldete „underinvolvement"253 der Basis zurück: „Unsere Massen sind träge und unfähig zur

252 Michels, Dangers, S. 205: „II est absurde de vouloir tout miser sur une seule carte, et c'est plus absurde encore quand cette carte n'est jouable que par la permission de Sa Majesté l'Empereur d'Allemagne!" 253 Albert O. Hirschman hat mit diesem Begriff die Unterforderung des Bürger-Engagements in parlamentarischen Demokratien bezeichnet und damit Tendenzen wie Entpolitisierung, aber auch das Entstehen von Ein-Punkt-Bewegungen erklärt. Vgl. das Kapitel „Wahlen als politische Unterforderung des Bürgers", in: Hirschman, Engagement und Enttäuschung. Über das Schwanken der Bürger zwischen Privatwohl und Gemeinwohl, Frankfurt a.M. 1988, S. 113-123. (Orignalausgabe: Shifting Involvements. Private Interest and Public Action, Princeton N.J. 1982).

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Aktion, weil die Erziehung, die ihnen die deutsche sozialistische Partei gegeben hat, eher politisch und sogar diplomatisch ist als sozialistisch und moralisch. "254 Anstatt die Aktivierung des intervenierenden, couragierten Bürgers und den Bruch mit einer wirkmächtigen Tradition der Passivität und Staatshörigkeit255 voranzutreiben, scheint sich die SPD insgeheim der fatalen Hoffnung hinzugeben, eines Tages „die Republik mit der Unterschrift des Kaisers proklamieren zu können."256 Nicht minder revisionsbedürftig erscheint - zweitens - die Theorie. Michels macht für den herrschenden passiven Gemütszustand der SPD auch die vulgärmarxistische Leitideologie verantwortlich, die er wegen ihrer psychologischen Wirkungen in Frage stellt. Durch einen „mißverstandenen historischen Materialismus", der die strikte Abhängigkeit aller Ideen und Gefühle des Menschen von einer „ökonomischen Fatalität" gepredigt habe, sei jene „ewige Wahrheit" aus dem Blick geraten, daß „auch der Wille und die Energie einen starken Einfluß auf das Leben ausüben, zuweilen auch im Gegensatz zu den materiellen Erfordernissen des Lebens".257 Wenige Wochen später, ebenfalls im „Mouvement Socialiste", präzisiert Michels seine Kritik am „mißverstandenen historischen Materialismus": die herrschende Selbstauslegung der Partei habe ihr den Glauben an eine „faule Revolution" eingepflanzt, die „sich von jedem individuellen Kraftaufwand entbunden glaubt und auf jegliche psychologische Vorbereitung verzichtet", weil dem insgeheimen Parteidogma der „faulen Revolution" zufolge das revolutionäre Handeln automatisch einer „gegebenen Situation" entspringen soll, so „als ob die Menschen nicht selber die eigentlichen Schöpfer der , Situation' wären."258

254 Michels, Dangers, S. 200: „Nos masses sont paresseuses et inaptes à l'action, parce que l'éducation que leur a donnée le parti socialiste allemand est plutôt politique, et même diplomatique, que socialiste et morale" 255 Michels, Dangers, S. 199. 256 „Espère-t-on proclamer la République en Allemagne ... avec la signature de Guillaume II?" (Dangers, S. 206). 257 Dangers, S. 202: „Voilà une des lugubres conséquences d'un matérialisme historique mal compris. A force de prêcher tous les jours la stricte dépendance des sentiments et des idées de l'homme de la fatalité économique, on est arrivé, en fait, à nier l'éternelle vérité que la volonté et l'énergie peuvent, elles aussi, exercer une fort influence sur nos actions et parfois même en contradiction avec les exigences matérielles de la vie". 258 Diese Haltung exemplifiziert sich für Michels in der Rede George Ledebours auf dem Parteitag der preußischen Sozialdemokratie Ende Dezember 1904 in Berlin. Vgl. Michels, Le Congrès des socialistes de Prusse à Berlin, in: Mouvement Socialiste, Nr. 149, 15. Februar 1905, S. 239-251, S. 247/248: „On vit cette chose étrange: la majorité des congressistes, appartenant au type des .vieux révolutionnaires', mettre en pièces la proposition d'action dans la rue. Ils en sont encore à la notion de la révolution paresseuse, qui se croit dispensée de provoquer tout effort individuel et qui se moque de toute préparation psychologique. Leur speecher [sic], le citoyen George Ledebour, proclame comme premier principe la théorie de la croissance automatique de l'action dans une situation donnée, - comme si les hommes eux-mêmes n'étaient pas les acteurs actuels des .situations'!"

IV.2. Von der republikanischen Intransigenz zum revolutionären Revisionismus

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2.8. „Revolutionärer Revisionismus" Den Eindruck, die Partei befinde sich in einem Gemütszustand der „faulen Revolution", gewinnt Michels auf dem Parteitag der preußischen Sozialdemokratie Ende Dezember 1904. Gleichzeitig bemerkt er aber auch eine ,neue Unübersichtlichkeit' der politischen Lager innerhalb der Sozialdemokratie und sucht sie auf den Begriff zu bringen. Persönlich vollzieht er dabei den Bruch mit dem .revolutionären' juste milieu der Partei, und solidarisiert sich mit einer Minderheit, die er hoffnungsvoll als „revolutionären Revisionismus" begrüßt. Der ,Clou' des Parteitages besteht darin, daß sich auf ihm ein völlig neues, nach den überkommenen ideologischen Etikettierungen eigentlich unmögliches Bündnis anbahnt. Ausgerechnet Eduard Bernstein legt eine Resolution zugunsten breit angelegter Straßendemonstrationen vor, um mit diesem außerparlamentarischen Druckmittel für das allgemeine Wahlrecht zum preußischen Landtag zu kämpfen. Er tadelt zudem die „Feigheit" der deutschen Arbeiter gegenüber den Ordnungshütern und definiert es als vordringliche Aufgabe der Partei, „alles mögliche zu tun, um im deutschen Proletariat das rebellische Bewußtsein zu wecken". Dazu bedürfe es aber nicht der üblichen Propaganda, die immer alles auf einmal verspreche und niemanden mehr hinter dem Ofen hervorlocke, sondern einer Propaganda fur präzise definierte Einzelziele wie eben das allgemeine Wahlrecht zu den Landtagen.259 Hat Bernstein noch ein Jahr zuvor wegen seiner Vizepräsidentenofferte nahezu die ganze Partei gegen sich gehabt, so provoziert sein Vorstoß nunmehr einen Konflikt innerhalb der ,revolutionären' Mehrheitsfraktion, die noch im September 1903 aus der Kampfabstimmung gegen den Revisionismus' hervorgegangen ist. „Trotz ihrer scharfen Gegnerschaft gegen den Bernsteinianismus" sieht die „extreme Linke" - Michels nennt hier Karl Liebknecht und Konrad Haenisch - keinen anderen Weg, als sich in dieser Frage mit dem Revisionisten und in der offiziellen Parteigeographie .rechts' stehenden Bernstein zu verbünden, während die große, in der offiziellen Parteigeographie die .revolutionäre Mitte' darstellende Mehrheit auf dem Kongreß der preußischen Sozialdemokratie Bernsteins Resolution niederstimmt. Welch eine „ironie des choses":260 Michels muß nicht nur feststellen, daß in der Sache Bernstein und Liebknecht exakt dieselbe Kritik vortragen und beide fur außerparlamentarische Aktionsformen eintreten.261 Es hat sich auch eine völlig neue Konfrontationslinie aufgetan. Der von Bernstein, Liebknecht und auch Michels, der aus seinen Sympathien hier keinen Hehl macht, präferierten Taktik steht die ablehnende Mehrheit der ./evolutionären Misoneisten" gegenüber, wie Michels jetzt das .zentristische' Lager nennt, dessen verbalen Radikalismus er noch ein Jahr zuvor in der Resolution von Dresden so emphatisch beschworen hat. Spätestens jetzt aber durchschaut er, daß die 259 Michels, Le Congrès des socialistes de Prusse, S. 247. Aus Michels Referat der Bernsteinschen Rede sei hier nur zitiert: „Bernstein [...] insista surtout sur le devoir qui s'impose au parti de faire tout ce qui est possible pour inspirer au prolétariat allemand le sentiment de la révolte". 260 Michels, Le Congrès des socialistes de Prusse, S. 247. 261 Michels, Congrès des socialistes de Prusse, S. 249.

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IV. Am Krankenbett des Proletariats

sogenannte „.revolutionäre' Fraktion" und „herrschende Strömung in der Partei" tatsächlich die „unversöhnlichen Gegner jedweder .gefährlichen Manifestation' " sind: „Welch ein ironisches Schaupiel! Die Wahrer der , alten Traditionen' der Partei, die Todfeinde des opportunistischen Revisionismus, erheben sich als Schutzpatrone des quieto vivere\ Man muß es deutlich sagen: diese Genossen geben die kläglichste Karikatur des revolutionären Sozialismus ab. Hinter dem Pseudomarxismus, der dieser Fraktion als Paravent dient, verbirgt sich ein außerordentlich schädlicher Geist: eine stille Genugtuung über den aktuellen Stand der Dinge in der Partei, eine lähmende Zufriedenheit in jeglicher Hinsicht, eine manchmal schon reaktionäre Trägheit, eine demonstrative Feindschaft gegenüber jeder neuen Idee, eine teutonische Arroganz gegenüber den Genossen aus dem ,Ausland' [...] und eine buddhistische Konzeption des politischen Lebens [...]."262 Die improvisierte Koalition der zwei äußeren Flügel auf dem Parteitag der preußischen Sozialdemokratie macht somit in Michels' Augen den wahren Charakter der selbsterklärten Revolutionäre' in der SPD sichtbar: die sozialdemokratische Mehrheit setze sich aus den „buddhistischen Revolutionären" und den „nicht-bernsteinianischen Revisionisten" zusammen, welch letztere Michels vor allem im Gewerkschaftsmilieu lokalisiert, dessen Führer ja auch tatsächlich in ihrer praktizistischen Ausrichtung der immer noch verbalrevolutionären Partei weit vorausgeeilt sind. Auch wenn der Berliner Kongreß ohne jegliche Handlungsinitiative endet, so hat er doch die Geburt „neuer Formationen" begünstigt, die Michels zufolge sich von nun an Gehör verschaffen würden: „Gegenüber dem debilen Reformismus und dem sterilen Revolutionarismus alter Prägung wird sich, zweifellos von Tag zu Tag mehr, eine realistische Konzeption der praktischen revolutionären Aktion behaupten."263 Wie man deutlich sieht, sind die tradierten strömungspolitischen Etikettierungen im Fluß, und es bedarf zahlreicher Adjektive, um die falschen von den richtigen Revolutionären zu unterscheiden. Michels' Rede vom „revolutionären Revisionismus" ist in diesem Zusammenhang äußerst vage, es handelt sich um einen Such- und Arbeitsbegriff, der in Reaktion auf die Krise des herkömmlichen Parteimarxismus entsteht und zunächst einmal negativ definiert ist, nämlich dadurch, gegen wen er sich richtet. Ge-

262 Michels, Le Congrès, S. 248: „Quel spectacle ironique! Les sauveurs des ,vieilles traditions' du parti, les ennemis mortels du revisionisme opprtuniste, se levant comme protecteurs du quieto vivere*. Il faut le dire nettement: ces camarades nous donnent la plus lamentable caricature du socialisme révolutionnaire. Derrière le pseudo-marxisme qui sert de paravent à ce courant du parti, se cache un état d'esprit singulièrement nuisible: un contentement béat de l'état actuel des choses dans le parti, une satisfaction immobilisante à l'égard de tout, une force d'inertie parfois réactionnaire, une hostilité manifeste à l'égard de toute idée neuve, une arrogance teutonique envers les camarades du ,Ausland' [...] et une conception bouddhiste de la vie politique." 263 Michels, Le Congrès, S. 249: „en face du réformisme débilitant et du vieux révolutionnarisme stérile s'affirmera, sans doute chaque jour davantage, une concenption réaliste de l'action révolutionnaire pratique."

IV.2. Von der republikanischen Intransigenz zum revolutionären Revisionismus

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genüber den „Reformisten" predigt er die „Prinzipientreue", gegenüber dem „Revolutionarismus alter Prägung" den „mutigen Willen zur offensiven Aktion".264 Es gibt Analysen in der ,Präfaschismus-Forschung', die dem Begriff,/evolutionärer Revisionismus" zu diesem Zeitpunkt bereits eine programmatische Identität unterstellen. Zeev Sternhell etwa hat diesen Begriff nicht nur in Michels' Aufsatz, sondern auch in Aufsätzen von Hubert Lagardelle und Arturo Labriola gefunden, und daraus die Schlußfolgerung gezogen: „Der Begriff ^evolutionärer Revisionismus' war bei den Sorelianem ab 1904 gang und gäbe".265 Für Sternhell hat das Auftauchen des Begriffs eindeutigen Signalcharakter und verweist auf ein weltanschauliches Gruppengefiihl. Wer ihn benutzt, oute sich als Vertreter der sorelianischen Revisionisten: „Sie beabsichtigten eine Revision der Doktrin im entgegengesetzten Sinne wie die Bernsteinianer. Sie wollten den Marxismus nicht verdünnen und ihn aus demokratischer Sicht interpretieren, sie wollten zu seinen Quellen zurückkehren und ihn wieder zu dem machen, was er ursprünglich war: eine Kriegsmaschine gegen die bürgerliche Demokratie."266 Diese Interpretation geht weit über die vage Richtung hinaus, die Michels mit dem Begriff,/evolutionärer Revisionismus" identifiziert, indem sie diesem schlechthin eine angeblich eindeutige sorelianische Dimension zuschreibt. Michels aber nimmt an keiner Stelle auf Sorel oder seine Ideen affirmativ Bezug. Völlig werden die Tatsachen von Sternhell verdreht, wenn er Michels an die Schalthebel einer antidemokratischen „Kriegsmaschine" setzt. Michels fordert nämlich exakt das Gegenteil, wenn er schreibt, daß die Partei, um nicht in eine gefährliche Sackgasse zu laufen, sich daran erinnern müsse, „daß es ihre Aufgabe ist, in den Arbeitermassen jenes Gefühl ihrer Menschenwürde sowie jenes sozialistische Bewußtsein zu wecken, die unverzichtbar für die Vollendung ihrer Mission sind: in Deutschland einen demokratischen und republikanischen Staat zu gründen, der den Arbeiterbataillonen ein freiheitliches Ambiente verschaffen wird, in dem es nur ein einziges Hindernis für die Entwicklung [...] geben würde: die Ignoranz [...] der Massen."267

264 Vgl. Michels, Le Congrès, S. 251, wo Michels die „neorevolutionäre Strömung" wie folgt charakterisiert: „un révisionnisme révolutionnaire, se basant essentiellement sur deux points fondamentaux: sur la plus nette rigidité des principes (anti-révisionniste) et sur la volonté courageuse de l'action offensive (anti-révolutionnaire vieux style)". Das Merkmal „anti-révisionniste" bezieht sich hierbei nicht auf die theoretische Revision des Marxismus, sondern auf den .Reformismus' und ,Opportunismus'. 265 Zeev Sternhell, Die Entstehung der faschistischen Ideologie. Von Sorel zu Mussolini, Hamburg 1999, S. 322, Anm26. 266 Zeev Sternhell, Die Entstehung der faschistischen Ideologie, a.a.O., S. 33. 267 Michels, Dangers, S. 212: „Le parti socialiste allemand a un passé glorieux [...] Mais il marche vers une impasse. Il lui faut se souvenir que sa tâche est d'inspirer aux masses ouvrières ce sentiment de leur dignité d'hommes et cette conscience socialiste qui sont nécessaires pour l'accom-

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In der Fixierung auf den vermeintlich sorelianischen Kampfbegriff des „revolutionären Revisionismus" ist Sternhell diese Pointe, dieses Leitmotiv von Michels' Text völlig entgangen: die Republikanisierung Deutschlands, die deshalb angestrebt werde, weil „sie uns eine freiere Luft zum Atmen geben wird und ein weniger blockiertes Feld des Handelns."268 Der „revolutionäre Revisionismus", konkretisiert Michels seine Hoffnungen, habe die „Notwendigkeit" erkannt, „in Deutschland ein freieres Ambiente zu erkämpfen und dem Klassenkampf und der revolutionären Evolution [sie!] zugleich eine breitere und konkretere Handlungsbasis zu geben".269 Die „politische Demokratie", der „demokratische und republikanische Staat" und seine Synonyme wie das „freie Ambiente" und die „freiere Luft zum Atmen" bilden in Opposition zur „kaiserlich-deutschen Stickluft"270 den Normenhorizont von Michels' erneuten Ruck nach links zur Jahreswende 1904/05. Zu diesem Normenhorizont zählt auch, daß Michels weiterhin den Ferrischen Begriff der „revolutionären Evolution" verwendet - ein deutliches Signal dafür, daß seine Suche nach einer „realistischen Konzeption der praktischen revolutionären Aktion"271 nicht plötzlich auf ein voluntaristisches Revolutionsverständnis hinausläuft, sondern semantisch deutlich dem evolutionären Weg in den Zukunftsstaat verhaftet bleibt. Diese doppelte Perspektive auf den Kampf für die Republik einerseits, auf die „revolutionäre Evolution" andererseits bleibt gleichzeitig der Kautskyschen Marschroute der „sozialen" und der „politischen Revolution" verbunden. Eine sorelianische Wende läßt sich in Michels' ,/evolutionärem Revisionismus" auch deshalb nicht erkennen, weil seine Vorstellungen, wie es mit der Arbeiterbewegung weitergehen soll, deutlich der Moralpädagogik verpflichtet bleiben. Wenn er von der ,Weckung des sozialistischen Bewußtseins' spricht, dann ist damit die Aufgabe der sozialistischen Intellektuellen angesprochen, die kognitiven, emotionalen und ethischen Ressourcen zu revitalisieren, die imstande wären, die Verwandlung der SPD in einen praktisch systemstabilisierenden Faktor des Reiches aufzuhalten. Ein George Sorel hat derartige aufklärungsoptimistische Hoffnungen längst fahren lassen: Die Pointe des ,Sorelianismus' besteht ja gerade darin, daß die Genese des ,re-

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plissement de sa mission: créer en Allemagne un Etat démocratique et républicain, qui donnera aux forces ouvrières un milieu libre, où il n'y aurait qu'un seul obstacle au développement des forces prolétariennes: l'ignorance - à vaincre - des masses" Congrès, S. 250: „[...] nous n'aspirons pas après la démocratie politique pour elle-même, mais bien parce qu'elle nous donnera un air plus libre où respirer, un champs moins obstrué où agir". Congrès, S. 251: „[...] et qui reconnaît la nécessité de conquérir en Allemagne un milieu plus libre et donner une base plus large et plus concrète à la fois à la lutte de classe et à la évolution révolutionnaire" Vgl. R. Michels, Notizheft [manche Leute sehen nur das Gänseblümchen, aber nicht die Blutlache drumherum], in: Appunti di Roberto Michels, ARMFE. Congrès, S. 249.

IV.2. Von der republikanischen Intransigenz zum revolutionären Revisionismus

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volutionären Bewußtseins' von der pädagogischen Vermittlung entkoppelt wird und aus der mythomotorischen Dynamik des Straßenkampfes selbst, d. h. aus der Erfahrung einer brachialen Freund-Feind-Konfrontation resultieren soll. Bei Michels dagegen ist die , Aktion" als solche ohne Wert. Er knüpft sie an konkrete Ziele, an „partielle Eroberungen", und bettet sie in ein umfassendes Erziehungsprogramm ein, das neben dem theoretischen Teil auch einen praktischen Übungsteil in zivilem Ungehorsam vorsieht: „Nicht, daß wir die Aktion um ihrer selbst willen predigen. Wir behaupten nicht, man müsse bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit die ganze Macht der Partei aufs Spiel setzen. Aber man muß endlich das deutsche Proletariat daran gewöhnen, von seinem Willen Gebrauch zu machen. Es ist nötig, daß es sich mittels einer geeigneten Gymnastik auf seine revolutionäre Rolle vorbereitet, die ihm zugewiesen worden ist. Zweifellos wird diese Schulung der Willensausübung über partielle Eroberungen zustande kommen, und zwar über diejenigen, die am dringendsten sind. Und wir wiederholen es hier, unseres Erachtens ist die Teileroberung mit höchster Priorität die Schaffung eines demokratischen Ambientes [...]."272 Michels bewegt sich zur Jahreswende 1904/05 allerdings mit diesen Zeilen auf einem publizistischen Forum, wo man die Idee der demokratischen Republik mit weitaus weniger Pathos vorzutragen geneigt ist, zumal es sich hier um eine Erbschaft des bürgerlichen Liberalismus handelt, der sich in Frankreich längst institutionell durchgesetzt hat. Die Leser des „Mouvement Socialiste", insbesondere die Anhänger des „Parti socialiste de France" haben gerade diese Prioritätensetzung in Michels Agenda der „partiellen Eroberungen" eher mißtrauisch beäugt.273 Im französischen Kontext neigt die radikale Linke gerade vor dem Hintergrund eines existierenden republikanischen Regierungssystems zu einer dezidiert proletaroiden, die bürgerlichen Phrasen' überwindenden Selbstauslegung. Auch wenn Michels in der Folge im revolutionären Syndikalismus einen Revitalisierungsagenten der Arbeiterbewegung sieht und zu seinen Exponenten enge, intellektuelle wie freundschaftliche, Beziehungen pflegt, so hat er nicht nur in diesem Punkt die neue Strömung mit mehr Widerspruch und Kritik begleitet, als das bislang wahrgenommen worden ist.

272 Congrès, S. 250: „Non que nous prêchions l'action pour l'action. Nous ne prétendons pas qu'il faille hasarder à tout propos et hors de propos les forces du parti. Mais il faut enfin habituer le prolétariat allemand à faire usage de sa volonté. Il faut qu'il se prépare, par une gymnastique appropriée, au rôle révolutionnaire qui lui est assigné. Evidemment, cet apprentissage de l'exercice de la volonté se fera sur des conquêtes partielles, sur celles qui sont les plus urgentes. Et nous le répétons ici, à notre sens, la conquête partielle la plus immédiate à remporter, c'est la création d'un milieu démocratique [...]." 273 Vgl. Michels, Congrès, S. 250.

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IV. Am Krankenbett des Proletariats

IV. 3 Michels und der revolutionäre Syndikalismus In der Rezeption seines Œuvres haben Robert Michels' Beziehungen zum sogenannten „revolutionären Syndikalismus" einen enormen Stellenwert: sie gelten als der Schlüssel zu seiner politischen Biographie, als der Kontext, in dem der spätere Weg in den Faschismus angelegt gewesen sei. Bei dieser Argumentation steht meist ein Name besonders im Fokus: Georges Sorel. Dieser Ansatz, wonach Michels als „sorelianischer Syndikalist" einer linken Variante des Präfaschismus angehangen habe, aus der sich die spätere Wende zum faschistischen Führerstaat erkläre, ist zwischenzeitlich zwar immer wieder mit guten Gründen in Frage gestellt worden.274 Aber die These vom „sindacalista rivoluzionario soreliano" prägt dennoch das Michels-Bild bis heute so stark, daß es sich wie selbstverständlich auch in jüngsten Lexikaartikeln wiederfindet.275 Bevor ich Michels' ominöse Beziehung zum revolutionären Syndikalismus anhand einiger kritischer Punkte - u. a. die Frage nach der Legitimität von Gewalt, die Rolle der Partei und der bürgerlichen Intellektuellen - unter die Lupe nehme, sei die Frage erlaubt, was unter „Syndikalismus" zu verstehen ist, ob man von dem revolutionären Syndikalismus überhaupt reden kann, und, wenn ja, worin die Gemeinsamkeiten der Syndikalismen Italiens und Frankreichs liegen.

274 Namentlich Ferraris, Pouthier, Sivini, Tuccari und Malandrino haben die These vom „sindacalista rivoluzionario soreliano", wie sie von Sternhell, Linz und Röhrich behauptet worden ist, bestritten. Vgl. zum Forschungsstand die Einleitung zu dieser Arbeit. Beetham (a.a.O.), auch wenn er einen alternativen Erklärungsansatz verfolgt und Michels' spätere Wende aus der Elitentheorie resultieren läßt, sieht in Michels zumindest bis 1907 ebenfalls einen revolutionären Syndikalisten. 275 Vgl. Erhard Stölting, Robert Michels (1876-1936), in: Dirk Kaesler (Hg.), Klassiker der Soziologie 1: Von Auguste Comte bis Norbert Elias, München 1999, S. 230-251. Auf S. 237 etwa heißt es: „Zunächst aber suchte er eine syndikalistische Antwort und meinte sie bei Georges Sorel zu finden", auf S. 232: „Daß er sich 1922 dem Partito Nazionale Fascista Mussolinis anschloß, war [...] bei seiner Nähe zu Georges Sorel und den lebensphilosophischen intellektuellen Milieus in Italien konsequent". An diesen Sätzen ist erstens die Behauptung falsch, daß Michels sich 1922 dem PNF angeschlossen habe, und zweitens ist es irreführend, von einem nennenswerten sorelianischen oder lebensphilosophischen Einflusses auf den Sozialisten Michels zu reden. Stöltings Aufsatz enthält im übrigen einige feinsinnige Beobachtungen und innovative Einschätzungen, die der Michels-Forschung neue Wege eröffnen. Neben Stöltings Hinweis auf den Sozialdarwinismus in Michels' Denken, dem diese Arbeit ja an verschiedenen Stellen auf der Spur ist, wäre hier seine Vermutung einer „wechselseitigen Rezeption und strukturellen Verwandtschaft" von Michels und Simmel zu nennen.

IV.3. Michels und der revolutionäre Syndikalismus

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3.1. Programmatik und institutionelle Gestalt des revolutionären Syndikalismus Der revolutionäre Syndikalismus läßt sich als eine Variante jenes „revolutionären Revisionismus" 276 begreifen, der in Reaktion auf die Krise des Marxismus als auch in Reaktion auf den wachsenden Reformismus der sozialistischen Parteien entstanden ist und zunächst recht vage eine Neuorientierung des Linksradikalismus anmahnt. Auch viele Wortmeldungen von Robert Michels sind nur aus dieser Krisendiagnose heraus zu verstehen, sei es die Krise der marxistischen Entwicklungsprognosen, sei es die zunehmende Verselbständigung und Entkopplung einer reformistischen Praxis vom revolutionären Anspruch in der Theorie. Insbesondere die deutsche Sozialdemokratie erlebt Michels als ein nur nach außen homogenes, nach innen jedoch durch zahlreiche Spaltungstendenzen charakterisiertes Milieu, in dem die Bezugnahme auf Marx Gefahr läuft, allenfalls noch einen phraseologischen Integrationswert zu haben, ansonsten aber zur Legitimation völlig gegensätzlicher Handlungsoptionen dient. In Antwort auf Werner Sombart, der der Arbeiterbewegung insgesamt eine „Tendenz zur Einheit" bescheinigt hat, 277 sieht Robert Michels diese Einheit zunehmend in Frage gestellt. Er diagnostiziert die „dissolvierenden Tendenzen" im internationalen Sozialismus. Mindestens zwei Bruchlinien der „Dissonanz, ja der Diskrepanz" sind für ihn unübersehbar: „Auf der einen Seite der reformerische, von Marx abgehende Revisionismus, auf der anderen Seite der revolutionär-prinzipientreue, sich an Marx anlehnende Radikalismus (der Los-von-Marx-Bewegung im internationalen Sozialismus [...] steht eine starke, wenn auch nicht mehr orthodoxe Zurück-auf-Marx-Bewegung entgegen!), beide mit den Waffen der Wissenschaft ausgerüstet, und in der Mitte ein hastender und tastender parteitraditioneller Dilettantismus, der, programmlos weiterwurstelnd und mit dreiviertel revisionistischer Taktik eine dreiviertel revolutionäre Terminologie verbindend, all seine stabile Leibeskraft aufbietet, die Einheit des Ganzen intakt zu halten, was ihm, wenn überhaupt, nur mit Ach und Krach, und zwar auch das nur auf Kosten sowohl der wissenschaftlichen Ehrlichkeit als der sozialreformatorischen Arbeitsmöglichkeit und Sozialrevolutionären Elastizität und Erziehungspflicht, gelingt." 278 Exakt dies ist die Konstellation, in der die Suchbewegung der radikalen Linken nach einem „revolutionären Revisionismus" Auftrieb bekommt: als „Zurück-auf-Marx-Bewegung" will man gegenüber dem Reformismus die revolutionären Prinzipien hochhalten, als „nicht mehr orthodoxe" Bewegung spricht man sich gleichzeitig für eine Revision des Marxismus aus, der in seiner orthodoxen Variante zu einer fatalistischen Parteitagsrhetorik zu verkommen scheint, in der sich der Glaube an die „faule Revolution" behaglich eingerichtet hat. Für Robert Michels, der mit der radikalen Linken sym276 Vgl. Kapitel IV. 2.8. „Revolutionärer Revisionismus". 277 Werner Sombart, Sozialismus und soziale Bewegung, 5. Aufl., Jena 1906. 278 Robert Michels, Zur Geschichte des Sozialismus, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. XXIII, Heft 3, November 1906, S. 786-843, S. 804f.

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IV. Am Krankenbett des Proletariats

pathisiert und ihre Forderungen nach außerparlamentarischen Aktionen - Stichwort Generalstreik' - prinzipiell unterstützt, resultiert die Revisionsbedürftigkeit des Marxismus im übrigen aus einem prinzipiellen Korrespondenzerfordernis von Theorie und Praxis: „Zwischen sozialistischer Theorie und sozialistischer Praxis kann kein schädlicher Riß klaffen, wenn nicht entweder die eine oder die andere reformbedürftig ist."279 So weit der Ausgangspunkt. Die Konzepte, die der „revolutionäre Syndikalismus" in der Folge anbietet, ergeben sich vor allem aus seiner Diagnose, daß der Schlüssel für die Anverwandlung der Arbeiterpartei an die bürgerliche Gesellschaft in ihrer „Verbürgerlichung" zu suchen sei. Die „Verbürgerlichung" scheint dabei den „Syndikalisten" zufolge aus vielerlei Faktoren zu resultieren: aus einer exklusiv parlamentarischen Taktik der Partei, aus der Bürokratisierung ihres Innenlebens, aber auch aus der sozialen Zusammensetzung von Mitgliederschaft und Wählerschaft. Der „revolutionäre Syndikalismus" attackiert in diesem Zusammenhang mit Vorliebe die „bürgerlichen Intellektuellen". Abgesehen davon, daß sich seine - in der Regel nämlich durchaus ,intellektuellen' - Wortführer damit in einen Selbstwiderspruch begeben, sind ihre Argumente nicht gerade originell, sondern forcieren das traditionelle Ressentiment gegenüber den „bürgerlichen Renegaten", das, wie wir dies am Beispiel des Dresdner Parteitages von 1903 gesehen haben,280 die Wagenburgmentalität des sozialistischen Parteimilieus schlechthin kennzeichnet. Was die soziale Zusammensetzung der Wählerschaft anbelangt, machen die Syndikalisten dagegen eine neue und irritierende Rechnung auf, die die elektoralistische Taktik in Frage stellt: sie behaupteten nämlich, daß eine sozialistische Parlamentsmehrheit nur über enorme Zugewinne aus der bürgerlichen Wählerschaft zustande kommen könne. Eine derart siegreiche sozialistische Parlamentsfraktion würde aber notgedrungen ein solch bürgerliches Profil haben, daß von ihrer einstigen Mehrheitsmacht keinesfalls die Durchsetzung einer revolutionären Politik im proletarischen' Interesse erwartet werden könne. In dieser Prognose fühlt sich der Syndikalismus durch die sozialistischen Wahlkämpfe der Gegenwart bestätigt.

279 Robert Michels, Die deutsche Sozialdemokratie, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. XXIII, Heft 3, 1906, S. 471-556, S. 473. Michels dürfte allerdings die sozialdemokratischen Defizite im Verhältnis von Theorie und Praxis eher auf der Seite der Praxis gesehen haben. Seinem Aufsatz hat er die von Friedrich Engels 1888 überarbeitete 11. Feuerbachthese von Marx vorangestellt: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern". Durch das von Engels in die ursprüngliche Fassung von 1845 hineinredigierte „aber" wird die Trennlinie zwischen Denken und Verändern als zwei unterschiedlichen Tätigkeiten um so schärfer gezogen und erhält die elfte Feuerbachthese einen Sinn, der von dem Dialektiker Marx so vermutlich nicht intendiert gewesen ist. Vgl. dazu die einleitenden Bemerkungen in: Herfried Münkler, Machtanalytik als Konfliktverschärfung? Vom Praktischwerden der Theorie bei Thukydides, Machiavelli und anderen; in: Volker Gerhard (Hg.): Eine angeschlagene These. Die 11. Feuerbach-These im Foyer der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 1996 (Akademie-Verlag), S. 85-108. 280 Vgl. die Diskussion über die ,Mitarbeit an bürgerlichen Presseorganen' in Kapitel IV. 1.2.1. („Bernhard-Affare").

IV.3. Michels und der revolutionäre Syndikalismus

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Insbesondere in Italien liegt die notwendige Verbürgerlichung der Partei infolge ihrer parlamentarischen Taktik auf der Hand, weil es hier kein allgemeines Wahlrecht gibt. Der Ausschluß von Analphabeten - nicht nur, aber in der Mehrzahl sind dies Arbeiter und Bauern - verweigert nach Michels' wahlstatistischen Berechnungen zwei Fünfteln der erwachsenen männlichen Bevölkerung das Wahlrecht.281 Aufgrund eines weiteren Paragraphen, der ein Mindestvermögen vorsieht, sowie wahlrechtsbürokratischer Hürden, die die mobile Landarbeiterschafit betreffen, sind in der Konsequenz „selbst von den Alphabeten nur wenig mehr als die Hälfte wahlberechtigt."282 Unter diesen Bedingungen erscheint den italienischen Syndikalisten „die Eroberung der Macht durch das klassenbewußte Proletariat auf parlamentarischem Wege von vornherein ausgeschlossen."283 Aus dieser Kritik an der Verbürgerlichung des Parteisozialismus, die in vielerlei Hinsicht Argumente der anarchistischen Parteikritik aufnimmt, resultiert im syndikalistischen Lager die Vision eines alternativen Handlungsmodells. Man fordert einen exklusiv-proletarischen Arbeitersozialismus und die Abdankung der Partei zugunsten einer revolutionären Gewerkschaftsbewegung: „Die sozialistische Partei soll alle ihre aufgespeicherte Energie auf die Gewerkschaftsbewegung konzentrieren; sie soll in ihr aufgehen. Selbst die rein politischen Funktionen des Proletariats müssen von der Gewerkschaft übernommen werden. [...] die wirtschaftlich organisierte, exklusiv gesonderte Arbeiterklasse mit politischem oder, wenn man will, geschichts-philosophischem Ziel soll an die Stelle des politisch organisierten Klassen-Mischmaschs der Partei treten."284 Dies ist, wie Michels resümiert, der „Grundgedanke des ,sindacalismo'". In Italien hat sich die Strömung um Arturo Labriola und Enrico Leone dieses Begriffs bemächtigt und tituliert sich seit dem Generalstreik vom 16.-20. September 1904 als „sindacalisti". Sie hat damit einen französischen Begriff übernommen und italianisiert. Das Wort „Syndikalismus" leitet sich nämlich vom französischen Wort für Gewerkschaft her: „syndicat". Der italienische Begriff dagegen lautet „lega". „Syndicalisme" bedeutet „Gewerkschaftsbewegung" und ist zu diesem Zeitpunkt in Frankreich bereits beides: der Oberbegriff für das Ensemble gewerkschaftlicher Organisationen und eine Ideologie des revolutionären Klassenkampfes.

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Michels, Proletariat und Bourgeoisie in der sozialistischen Bewegung Italiens, a.a.O., S. 88. Michels, Proletariat und Bourgeoisie, a.a.O., S. 91. Michels, Proletariat und Bourgeoisie, S. 717. Vgl. Michels' referierende Ausführungen in: Michels, Proletariat und Bourgeoisie in der sozialistischen Bewegung Italiens, a.a.O., S. 714-715. Vgl. auch die ähnliche Syndikalismus-Definition in: Michels, Kautsky e i rivoluzionari italiani, in: Il Divenire Sociale, anno I, Nr. 21, 1.11.1905, S. 326-329, S. 328 (Fußnote): „Io considero come sindacalismo la tendenza generale dello spostare la tattica socialista dal campo politico-borghese del Parlamentarismo nel campo economico-proletario, con aperta fede socialista, dell'azione diretta e della pressione di classe".

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IV. Am Krankenbett des Proletariats

Institutionell ist mit „Syndikalismus" die in Frankreich praktizierte stufenweise Föderation von Arbeitervereinigungen gemeint: die Syndikate, die Vereinigungen der Arbeiter desselben Berufs, schliessen sich auf urbaner Ebene zu den „Bourses du Travail" zusammen. Die „Fédérations régionales", die die Syndikate desselben Berufs in einem Distrikt umfassen, verbinden sich zum landesweiten Repräsentationsorgan der „Fédérations nationales". ,3ourses du Travail" und „Fédérations nationales" bilden endlich die „Confédération général du Travail" (C.GT.).285 Die CGT ist ihrem Anspruch nach eine rein proletarische Arbeiterorganisation. Zu den sozialistischen Parteien Frankreichs geht sie auf größtmögliche Distanz. Die CGT darf als Erfolgsmodell bezeichnet werden: im ersten Dezennium nach der Jahrhundertwende verzeichnet sie auf allen Ebenen enorme Steigerungsraten bei der Mitgliedschaft und an neugegründeten „syndicats". Angetrieben durch die ideologische Strömung des „revolutionären Syndikalismus", stellt die CGT „die revolutionäre Bewegung in Frankreich" dar.286 Generalsekretär der CGT ist Victor Griffuelhes, „einer der besten Praktiker des französischen Syndikalismus" (Michels287), „die stärkste Persönlichkeit unter den Syndikalisten seit Pelloutier" (Isaiah Berlin288). Mit Griffuelhes kommen wir von der institutionellen Dimension des Syndikalismus zu seiner weitaus komplizierteren ideologischen Dimension. Der Generalsekretär der CGT hat nämlich auf die Frage, ob er Georges Sorel lese, geantwortet: „Ich lese Dumas".289 Mit diesem Zitat soll nicht behauptet werden, daß Sorel keinen Einfluß auf den französischen Syndikalismus gehabt hätte. Das wäre ebenso falsch wie die weit verbreitete implizite Unterstellung, die Syndikalismus und Sorelianismus in eins setzt. Vielmehr soll auf eine Selbstverständlichkeit hingewiesen werden, die seltsamerweise nur selten berücksichtigt worden ist. Die syndikalistische Gewerkschaftsbewegung und ihre Ausdeutung durch Intellektuelle sind - bei aller Wechselwirkung zwischen ihnen zunächst einmal zwei verschiedene Dinge. Gerade auf der intellektuellen Ebene, dort also, wo es um die öffentliche Auslegung der Bewegung geht, ist aller Wahrscheinlichkeit nach mit erheblichen Dissensen, mit Deutungskämpfen um ein verbindliches Konzept des „revolutionären Syndikalismus" zu rechnen. Die polemische Antwort des Generalsekretärs des französischen Syndikalismus auf die Frage nach seiner SorelLektüre darf als symptomatisch für das Vorhandensein konkurrierender Deutungsangebote gewertet werden.

285 Vgl. Demetrius Gusti, Rez. zu Léon Duguit, Le droit social, le droit individuel et la transformation de l'État, Paris 1908, in: Schmollers Jahrbuch XXXIII, 4 (1909), S. 390-397, S. 392. 286 So Larry Portis, Sorel zur Einfuhrung, Hannover 1983, S. 108. Vgl. hierzu auch Peter Schöttler, Die Entstehung der „Bourses du Travail". Sozialpolitik und französischer Syndikalismus am Ende des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/New York 1982. 287 Michels, Soziologie des Parteiwesens, S. 483. 288 Isaiah Berlin, Georges Sorel, in: ders., Wider das Geläufige. Aufsätze zur Ideengeschichte, Frankfurt a.M. 1982, S. 421-466, S. 457. 289 Michael Curtis, Three against the Third Republic: Sorel, Barrés and Maurras, Princeton 1959, S. 53; zit. n. I. Berlin, Sorel, S. 457.

IV.3. Michels und der revolutionäre Syndikalismus

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Für diese Hypothese, daß der ,/evolutionäre Syndikalismus" - neben seiner institutionellen Gestalt in der CGT - eine intellektuelle Suchbewegung in der Krise des Marxismus mit noch offenem Ausgang ist, sprechen insbesondere Robert Michels' Auseinandersetzungen mit Artuto Labriola, Enrico Leone, Ernest Lafont und Edouard Berth, auf die wir noch eingehen werden. Vorher aber zurück zu unserer Frage, ob man von dem revolutionären Syndikalismus überhaupt sprechen könne. Interessanterweise ist es Michels selbst, der als Chronist der italienischen und französischen Arbeiterbewegung diese Frage entschieden verneint und eine Pluralität von „syndikalistischen" Ansätzen behauptet, deren konkrete Gestalt jeweils von den politischen Bedingungen in den einzelnen Ländern abhängig sei. In Frankreich, so Michels, habe der revolutionäre Syndikalismus nur deshalb institutionell wie ideologisch die Rolle einer regelrechten Anti-Parteien-Bewegung spielen können, weil Frankreich das „klassische Land der politischen fractionnements" und der Sozialismus von diesem Schicksal nicht verschont geblieben ist. Anstelle des abstrakten Sozialismus" der italienischen und deutschen Partei, die ihre Einheit in einer die verschiedenen Strömungen überwölbenden Weltanschauung gewahrt haben, herrscht in Frankreich der personale Sozialismus", fragmentiert in die persönlichen Gefolgschaftsgruppen der „Guesdisten", der „Jauresisten", der „Broussisten", „Blanquisten" und „Allemanisten". 290 In Italien, wo zwischen 1894 und 1898 der PSI mehrfach die Repression der Staatsgewalt zu spüren bekommen hat, und in Deutschland, wo zwischen 1878 und 1891 die SPD im Ausnahmezustand hat überleben müssen und wo die Parteiführer erhebliche Opfer gebracht haben, gelten die sozialistischen Parteien zudem als legitime Anwälte des Proletariats. Ein derartiger historischer Glaubwürdigkeitsnachweis fehle dagegen den sozialistischen Parteien im republikanischen Frankreich, so daß hier aufgrund einer fundamentalen Parteiskepsis der revolutionäre Neuansatz von vornherein außerhalb ihres organisatorischen Gefüges Fuß gefaßt habe. „Theorien und Einstellung der sogenannten Syndikalisten", so Michels, „können in den einzelnen Ländern nicht anders als grundsätzlich verschieden sein. Die Arbeiterpsychologie, gerade in ihrem Verhältnis zur Partei, ist die Resultante der sozialistischen Geschichte' jedes einzelnen Landes." 291 Dementsprechend agieren die italienischen „sindacalisti" zunächst - bis zum Bruch 1908 - innerhalb des PSI. Ihre Genese unterscheidet sich von der ihrer französischen Genossen. Michels widerspricht in diesem Zusammenhang der in der Historiographie des italienischen Syndikalismus beliebten These seiner „Geburt" im Generalstreik vom 16. bis 20. September 1904: dieser habe der neuen Strömung „höchstens das Bewußtsein ihrer eigenen Existenz verliehen" 292 . Ihre Wurzeln liegen dagegen im Widerstand gegen den Ministerialismus der Voijahre und im historischen Kontext jener arbeiter290 Michels, Proletariato e borghesia nel movimento socialista italiano, Torino 1908, S. 381f. 291 Michels, Proletariato e borghesia ..., S. 382: „Tirando le somme di quel che veniamo spiegando, possiamo dire che le stesse teorie e l'attegiamento dei sedicenti sindacalisti non possono che essere fondamentalmente diverse nei singoli paesi. La psicologia operaia, in rapporto al Partito, è la risultante della .storia socialista' di ogni paese". 292 Michels, Proletariat und Bourgeoisie, S. 715.

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IV. Am Krankenbett des Proletariats

freundlichen Konzessionspolitik, mit der die Regierung die italienische Arbeiterpartei in eine Orientierungskrise gestürzt habe.293 Der Antiparlamentarismus der italienischen Syndikalisten sei auch weniger radikal als der ihrer Namensvetter in Frankreich, die sich um die Zeitschrift „Mouvement Socialiste" scharen. Deren Herausgeber, Hubert Lagardelle, denunziert den Wahlsozialismus als „impossibilisme stérile" und schlägt dabei antidemokratische Töne an. Während die Wortführer im „Mouvement Socialiste" die Beteiligung an Wahlen und die Aufstellung eigener Kandidaten prinzipiell ablehnen, haben die italienischen Syndikalisten dagegen - ζ. B. Labriola - hierzu ein pragmatischeres Verhältnis und sind auch auf den Kandidatenlisten zu den Parlamentswahlen zu finden. Enrico Leone initiiert 1906 sogar eine Kampagne für Arbeiterkandidaturen zu den Parlamentswahlen.294 Die italienischen Syndikalisten treten - darin dem französischen Vorbild folgend für eine „Verlegung der Schwerkraft in der Arbeiterbewegung" ein: „hinweg von der vorwiegend parlamentarischen Aktion der Partei und hin auf die im Hinblick auf ihr revolutionäres Endziel in ökonomischen Verbänden organisierten Arbeitermassen." Sie opponieren dabei allerdings weniger gegen den Parlamentarismus als solchen, sondern gegen die Taktik des „exklusiven195 oder doch hegemonierenden Parlamentarismus", den sie aus zwei Gründen verwerfen: einerseits wegen seiner „ihm immanenten, zweifellos sowohl intellektuell als moralisch korrumpierenden, antiproletarischen Tendenzen", andererseits aufgrund der Wahlrechtsproblematik in Italien: „Die Befreiung von einer taktischen Kampfesweise, die ihrer ganzen Natur nach auf einer nichtproletarischen Wählermasse aufbauen muß, gebietet sich logischerweise von selbst". Es ist für Michels' Bewertung des Antiparlamentarismus der „sindacalisti" höchst aufschlußreich, wenn er in seinem Bericht im Anschluß an die Wahlrechtsproblematik fortfährt: ,JVur unter diesem Gesichtswinkel - der seine Spitze eben in der sozialen Zusammensetzung der sozialistischen Wahlbewegung in Italien hat196 - sind die ganzen Ideenkämpfe, wie sie in Italien um die Taktik geführt werden, überhaupt zu würdigen. Ein Kriegsruf: Los vom Parlamentarismus! (nämlich als dem strategischen Mittel) muß dort also - weit mehr noch als in allen anderen Staaten mit entwickeltem parlamentarischem System - vom sozialistischem Standpunkt aus gleichbedeutend sein mit einem: Heraus aus der Sackgasse! Hinaus ins Freie!"297 Die Schlußworte hat Michels übrigens von einem Parlamentarier des PSI übernommen: seinem Freund Ettore Ciccotti, der sich der Forderung nach einer außerparlamentari-

293 294 295 296 297

Vgl. Kapitel IV.2.4. über den „Ministerialismus als Erfahrungssubstrat der Intransigenz". Michels, Proletariato e Borghesia, S. 380. M. Hvhbg. M. Hvhbg. Michels, Proletariat und Bourgeoisie, S. 717.

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sehen Reorientierung der Parteitaktik mit den Worten angeschlossen hatte: „Dall'Aula chiusa di Montecitorio all'aria libera del paese."298 Nach dieser präliminarischen Skizze des Phänomens ,/evolutionärer Syndikalismus", die wir zu einem erheblichen Teil Michels' Aufsatzreihe „Proletariat und Bourgeoisie in der sozialistischen Bewegung Italiens" im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik aus den Jahren 1905 und 1906 verdanken sowie der späteren italienischen Buchausgabe von 1908, können wir uns Michels' Auseinandersetzung mit zentralen syndikalistischen Programmpunkten im einzelnen zuwenden. In den Jahren 1905 bis 1908 erscheinen von Michels diesbezüglich eine Reihe von Artikeln in den Theorieorganen der französischen und italienischen Syndikalisten, namentlich im „Mouvement Socialiste", in der von Arturo Labriola herausgegebenen „Avanguardia socialista" und der von Enrico Leone in demonstrativer Anlehnung an Georges Sorels Periodikum „Le devenir social" gegründeten Zeitschrift „Divenire Sociale". In letzterer erscheinen auch ganze Artikelserien von Sorel, die nicht unerheblich für den Sorelianismus in Italien mit seinen weitreichenden Folgen bis zum Frühfaschismus gewesen sind.299 Gleichwohl unterstreichen Michels' Aufsätze, daß man sich auch als Sympathisant der neuen Strömung betätigen konnte, ohne sorelianische Thesen zu vertreten. Zudem bestätigt Michels' philosyndikalistische Publizistik jener Jahre sowohl die These Ferraris', der revolutionäre Syndikalismus sei für Michels ein „polo di influenza", nie aber ein „polo di confluenza" gewesen, als auch die Beobachtung Furiozzis, wonach der revolutionäre Syndikalismus weder theoretisch noch praktisch eine homogene Bewegung gewesen sei, sondern vielmehr ein buntes, gemischtes Feld ohne „Evangelium", auf dem sich Michels bei Beibehaltung seiner kritischen Autonomie betätigte.300

298 So gleichsam der Titel seines Aufsatzes im „Avanti", anno VIII, Nr. 2880. 299 Im Jahrbuch 1905 des „Divenire Sociale" finden sich von George Sorel u. a. die einschlägigen Artikelserien „La lotta di classe e la violenza", „La decadenza borghese e la Violenza", „I pregiudizi contro la violenza" und „Lo sciopero generale". Zur Ambivalenz der ideengeschichtlichen Wirkung Georges Sorels sei aber auch bemerkt: da Sorel seine Kritik der politischen Kultur des Westens und seine Ablehnung der französischen Revolution unter Revolutionären' Vorzeichen betrieb, war er in den zwanziger Jahren ein Stichwortgeber nicht nur für die italienischen Faschisten, sondern auch für die konservative Revolution. Als Sorel aber 1922 starb, hatte er zuletzt Lenin und die bolschewistische Revolution glorifiziert. Ein vergleichbares Plädoyer für den Faschismus hat er der Nachwelt nicht hinterlassen. Auch wenn eine vergleichende philologische Analyse des ,Sorelianismus' und der rechtsrevolutionären Bewegungen der Zwanziger Jahre eine Fülle von Gemeinsamkeiten bergen würde, so sollte man doch mit Einbahnstraßentheorien vorsichtig sein. Sorel zählte 1921 nicht zu den Propagandisten des Frühfaschismus und viele seiner früheren Genossen aus dem syndikalistischen Lager gingen auch nicht diesen Weg. 300 Vgl. Ferraris, Saggi, S. 60; Furiozzi, a.a.O., S. 16. Beide Autoren würden vielleicht eine Kongruenz ihrer Positionen bestreiten. Schließlich war Furiozzis Aufsatz die ablehnende Antwort auf Ferraris' These über Michels als „Sozialdemokraten der II. Internationale" und suchte die Syndikalismus-These zu erneuern, indem er die Möglichkeit, Michels weiterhin in den Syndikalismus einzuordnen, mit dessen geringeren theoretischen Kohärenz begründete. Diese Differenzierung ist m. E. zu begrüßen, da der revolutionäre Syndikalismus oft als monolithischer Block sorelianischer Gedanken angesehen wurde. Die Differenzierung des syndikalistischen Feldes steht

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In den folgenden Polemiken zwischen Michels und intellektuellen Wortführern des revolutionären Syndikalismus wie Leone, Labriola, Lafont und Berth reproduziert der deutsche Sozialdemokrat im Kern jene Positionen, die ihn bereits im April 1904 von Arturo Labriola trennen: das politische Primat der Partei und ihre unverzichtbare Einheit, die besondere Rolle der bürgerlichen Intelligenz als soziologischer Träger des sozialistischen Bewußtseins, die rigorose Ablehnung der „anarchistischen" Gewalt.301 Eine direkte Auseinandersetzung mit Sorel, sei sie affirmativ oder kritisch, führt Michels in den Jahren 1905 bis 1907 zwar an keiner Stelle. Gemessen an den Inhalten, können wir aber mit guten Gründen eine These formulieren, die dem gängigen MichelsBild in der deutschen und angelsächsischen Forschung diametral entgegensteht. Wenn wir Furiozzis Charakterisierung des Syndikalismus in diesem ersten Dezennium des 20. Jahrhunderts als ein „buntes, gemischtes Feld" dahingehend reformulieren, daß seine ideologische Entwicklung offen und noch keine beschlossene Sache war, dann lassen sich Michels' Beiträge nicht anders deuten, als daß sie sich gegen eine ,Sorelianisierung' des Syndikalismus gewendet haben. Dies wird übrigens schon gleich an einer vieldiskutierten Personalfrage im damaligen internationalen Sozialismus deutlich: an dem scharfen Gegensatz im Umgang mit dem Chefinterpreten des Marxismus der II. Internationale, Karl Kautsky. Während Georges Sorel im Zeichen seines Revisionismus Kautsky mit Vorliebe lächerlich zu machen pflegt, 302 verteidigt Michels ihn nicht nur als „authentischsten Erben der mar-

aber nicht im Widerspruch zu Ferraris' These, daß dieses Feld für Michels ein „polo di influenza" gewesen sei. Sie ergänzt diese vielmehr. Was Ferraris und Furiozzi wirklich trennt, ist der Rekurs auf unterschiedliche Quellensorten: der erstere bevorzugt die themen- und debattenbezogenen Äußerungen (Michels als teilnehmender Sympathisant, Beobachter und Kritiker des Syndikalismus), der zweite orientiert sich an diversen Solidaritätsbekundungen von Michels gegenüber den italienischen und französischen Syndikalisten (Michels, der revolutionäre Syndikalist). Ein besseres Verständnis für Michels' Verhalten ermöglicht wohl sein in der Forschung erst seit geraumer Zeit bekanntes Bekenntnis zu Augustin Hamons Idee einer vielgestaltigen sozialistischen Einheit, in der den verfemten Anarchisten genauso wenig die Anerkennung versagt werden sollte, wie den Orthodoxen und den Reformisten. (Vgl. Michels, Rezension von Augustin Hamon, Socialisme et anarchisme (Paris 1905), in: Dokumente des Sozialismus, Jg. V, Nr. 12, 1905, S. 537-38) Die Kenntnis dieses Dokuments verdankt die Forschung Corrado Malandrinos Arbeit über Michels und Hamon (Malandrino 1989, S. 501). Malandrino war es auch, der den Streit Ferraris-Furiozzi m. E. treffend bilanzierte: „Man sollte nicht vergessen, daß, im Fall Michels, nur die starke Teilhabe [appartenenza forte] als funktional für die Erklärung seiner späteren Wendepunkte betrachtet wurde. Im übrigen waren einfache Sympathien für Aspekte des Arbeitersozialismus [socialisme ouvrier] unter linken Sozialdemokraten gewöhnlich, und verbreitet war das Gefühl der camaraderie mit den syndikalistischen Exponenten" (Vgl. Malandrino 1992, S. 452). 301 Vgl. Michels' Rezension von Labriolas Buch „Riforme e Rivoluzione sociale" in Kapitel IV.2.5. „Das Maß aller Dinge": Kautsky. 302 Vgl. G Sorel, Über die Gewalt, Frankfurt a.M. 1981, S. 290: „Kautsky [ist] weit mehr Ideologe als Ökonomist [...]; er liebt auf Grund von Abstraktionen zu urteilen und glaubt eine Frage vorwärts gebracht zu haben, wenn es ihm gelungen ist, Worte aufzureihen, die einen Wissenschaft-

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xistischen Idee", dessen Marx-Deutung nicht dogmatisch, sondern innovativ sei. Michels behauptet auch, daß Kautskys Theorien mit dem neuen Linksextremismus völlig konform gingen!303 Michels bläst also nicht ins Horn derer, die Kautskys Lehre von der „sozialen Revolution" für den ^evolutionären Attentismus' der Partei verantwortlich machen. Besonders plastisch wird Michels' Immunität gegenüber Eckpfeilern des sorelianischen Syndikalismus in der Frage nach der Legitimität von Gewalt.

3.2. Argumente gegen die Sorelianisierung des Syndikalismus: Michels' Beiträge zur Gewalt-, Intellektuellen- und Organisationsfrage Im Januar 1905 veröffentlicht Michels im „Divenire Sociale" eine Art Grundsatzartikel zum Thema „Gewalt und Legalitarismus als Faktoren der sozialistischen Taktik".304 Kaum ein Dokument aus seiner sozialistischen Phase dürfte deutlicher Michels' dezidierte Gegnerschaft zu allen Tendenzen der Gewaltverherrlichung auf der politischen Linken bzw. zu allen Versuchen belegen, die Gewalt als systematisches Mittel des politischen Kampfes zu etablieren: Michels' „Postulat sine qua non" lautet nämlich, daß „in uns nicht der feste Wille fehlen darf, unser Ziel möglichst ohne Revolutionen zu erreichen [...], d. h. ohne unnötiges Blutvergießen". Die „Aversion gegen die Gewalt" ist für Michels keine vom Kontext abhängige Variabel, sondern ein den Sozialismus in seinem Kern auszeichnendes Fundamentalprinzip, das er gleichsam ethisch, logisch wie sozialpädagogisch zu begründen versucht. Einerseits, so Michels, folge die Ethik des Gewaltverzichts aus dem humanitären und humanistischen Anspruch des Sozialismus, der den Krieg zwischen den Völkern ebenso verabscheue wie er den Königsmord und das Duell verurteile, und daher auch folgerichtig einen „blutigen Klassenkrieg" ablehnen müsse. Andererseits verbietet ihm zufolge das Leitmotiv einer gewaltfreien Zukunftsgesellschaft aber auch logisch die Gewaltanwendung. Denn „wie kann man erwarten, die Gewaltfreiheit mit dem Mittel der Gewalt zu erreichen?". Dieser Gedanke

liehen Anstrich haben; die zugrunde liegende Wahrheit interessiert ihn weniger als der scholastische Zierrat." 303 Vgl. R. Michels, Kautsky e i rivoluzionari italiani, in: Il Divenire Sociale, anno 1, Nr. 21, 1. Nov. 1905, S. 326-329, S. 328, wo Michels die „conformità delle vedute teoriche di Kautsky con quelle dei rivoluzionari, non del centro sinistro [...] ma dell'estrema sinistra del Partito socialista italiano" nachzuweisen sucht und über Kautskys Bedeutung als Cheftheoretiker des Marxismus die Eloge anstimmt: „Senza dubbio il Kautsky è l'erede più vero dell'idea marxista. Egli [...] è l'epigone più autentico del maestro". Vgl. auch Michels, Idee e uomini. Karl Kautsky, in: Avanguardia Socialista, Nr. I l l , 25.1.1905, S. 1-2. Noch 1910 hat Michels Kautsky gegen den Vorwurf verteidigt, ein „verbissener Marx-Jünger" zu sein und stattdessen seine intellektuelle Unabhängigkeit hervorgehoben, die ihm erlaubt habe, sich in einer Vielzahl von Fälle auch von Marx zu entfernen. Vgl. R. Michels, Storia del marxismo in Italia, Roma 1910, S. 121. 304 R. Michels, Violenza e legalitarismo come fattori della tattica socialista, in: Il Divenire Sociale, annoi, Nr. 2, 16.1.1905, S. 25-27.

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sei eine „contradictio in adjecto".305 Und Michels nennt noch ein drittes Argument für seine Gewaltablehnung, mit dem er sein Programm eines pazifistischen Sozialismus sozialpädagogisch begründet: Weil ,jede brutale Gewaltanwendung eine seelische Verrohung auf Seiten aller Kombattanten zur inhärenten Folge hat", weil die Gewalt einen „entsetzlichen Haß in den Herzen der Besiegten" nährt und damit eine Quelle „neuer Bürgerkriege" ist, wäre die Proklamation der Gewalt zur sozialistischen Handlungsmaxime nicht zuletzt ein „gravierender pädagogischer Fehler". 306 Positiv gewendet heißt dies für Michels: „Unsere Revolution vollzieht sich über den Geist, unter Einfluß der äußeren Entwicklung des sozialen Lebens." 307 In dieser Losung steckt nicht nur ein hohes Maß an Aufklärungsoptimismus, sie paraphrasiert gleichsam Karl Kautskys Theorem vom Emanzipationsprozeß des Proletariats, wonach der „Revolution in den Dingen" die „Revolution in den Köpfen", d. h. die Erkenntnis des Endziels und die Einsicht in die ökonomische Entwicklung, folgen müsse. 308 Indem er der „violenza fisica brutale" abspricht, weder ein moralisch noch taktisch legitimes Kampfmittel des Sozialismus zu sein, stellt sich Michels aber gerade nicht auf den Standpunkt des „Legalitarismus", der von den Reformisten praktiziert werde und „von Tolstoi zum System erhoben" worden sei. Beides, die Gewalt und die prinzipielle Orientierung an der Legalität, sind für Michels „Krankheiten", die im Sozialismus seiner Zeit um sich greifen. Seine Kampfansage an den „Legalitarismus" folgt wiederum aus demselben Motiv, das ihn im Sommer 1903 zum Antireformisten mutieren ließ und das auch jetzt, im Januar 1905, als er sich im publizistischen Milieu des revolutionären Syndikalismus bewegt, nach wie vor das Leitmotiv seines politischen Denkens ist: die republikanische Transformation. „Auf dem Weg zum Sozialismus muß die Abschaffung

305 Michels, Violenza e legalitarismo ..., S. 25: „Che non debba mancare in noi la ferma volontà di raggiungere la nostra méta possibilmente senza rivoluzioni [...], cioè senza inutili spargimenti di sangue, mi pare un postulato sine qua non. La nostra avversione contro la violenza fisica brutale è innanzitutto una necessità etica. Il partito socialista il quale ad alta voce si vanta di recare in sé tutti i desiderata dell'umanità e dell'umanesimo, ed il quale aborrisce della guerra fra i popoli e condanna il regicidio ed il duello, e tutti gli altri atti di violenza collettiva brutale deve, per necessità logica, essere avverso anche alla sanguinosa guerra di classe. Ma questa profonda avversione è anche un postulato della logica intima delle cose. Non c'è socialista e neanche anarchico nel mondo, che non concepisca il socialismo siccome l'inizio di un'era in cui le violenze brutali [...] sieno sparite [...] Ora, come si può sperare di raggiungere l'abolizione della violenza per mezzo della violenza? Non sarebbe questa una contradictio in adiectoV 306 Michels, Violenza, S. 25: „È risaputo oramai che ogni uso della violenza brutale ha come conseguenza inerente un abbrutimento psichico da parte di tutti combattenti [...]; ed un odio feroce nel cuore dei vinti contro i vincitori, facilmente può essere fonte di nuove guerre civili e può così ritardare l'avvento del socialismo. La violenza brutale proclamata massima socialistica sarebbe dunque anche un grave errore pedagogico." 307 Michels, Violenza, S. 25: „La nostra rivoluzione procede per mezzo del cervello, influenzato dallo svolgimento esterno della vita sociale". 308 Zit. n. Gilcher-Holtey, Mandat, a.a.O., S. 83.

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der Monarchie und der ersten Kammern stehen."309 „Unser erstes Ziel [...] muß es sein, eine verfassungsmäßige Basis zu erobern, die uns eine moralische und freie Entwicklung unserer Kräfte und des Volkswillens erlaubt, um so die Fundamente eines Volksstaates zu legen".310 Der Legalitarismus sei dagegen „utopistisch", weil er offenbar glaube, die Republik könnte innerhalb des monarchischen Systems per Gesetz gegründet werden. Da das geltende Verfassungsgefuge und die Interessen von Monarchie und Aristokratie diesen Weg aber versperren, ist für Michels der Bruch mit der Legalität gerechtfertigt, solange er nicht auch mit der Ethik des Gewaltverzichts bricht. Der zentrale Satz von Michels zur Gewaltfrage lautet daher: „Wir müssen antilegalitär im juridischen Sinn sein, nicht im physischen Sinne."311 Er schließt damit nicht aus, daß der Weg des „Antilegalitarismus", d. h. des Verfassungsbruches, zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Ordnungskräften fuhren könnte. „Aber wir dürfen sie nicht wollen"?11 Die „Eventualität" gewalttätiger Straßenkämpfe sei kein Grund, „die Idee der materialen Gewalt zu verherrlichen". Gewalt sei ein der historischen Wirklichkeit entspringender „okkasioneller Faktor". Gerade deshalb könne sie keine normative Direktive für die sozialistische Bewegung sein.313 Wir sehen, daß Michels trotz aller Radikalisierung, die die Jahre seit 1903 mit sich gebracht haben, zentralen Grundpositionen seines Sozialismusverständnisses treu bleibt. So wie er in seiner reformistischen Phase die Gewalt der sizilianischen „Fasci" verurteilt hat, rückt er auch als Sympathisant der neuen Linken nicht von seiner Ethik des Gewaltverzichts ab. Dies zeigt ergänzend auch seine Kritik von Dómela Nieuwenhuis' dreibändiger „Geschichte des Sozialismus" im November 1906, an der ihn vor allem der Abdruck zahlreicher Portraits „anarchistischer Attentätler" stört, die dem Werk das „äußere Ansehn eines Verbrecheralbums" geben würden. Der Grund fur Michels' Irritation ist erstens, daß Terroristen und Attentäter seiner Meinung nicht in ein solches Buch gehören, weil ihre Taten auf die „Entwicklungsgeschichte des Sozialismus keinen Einfluß" haben können! Zweitens kritisiert er, daß die präsentierten Bombenwerfer von Nieuwenhuis obendrein noch mit offenkundiger Sympathie präsentiert werden: „Aber schlimmer noch: was die Bilder sprechen, spricht auch der Text. Die anarchistischen Attentätler werden fast unzweideutig als Helden gefeiert und die Gewalt als soziales Prinzip verherrlicht". Es ist Nieuwenhuis' „ästhetische Bewunderung vor dem beau geste todeskühner Ideenkämpfer", die Michels abstößt. Daß es einen „Akt heroischer Notwehr" gibt, der die anarchistische Gewalt im Einzelfall moralisch höher erscheinen

309 Michels, Violenza, S. 26: ,¿Hulla via del socialismo deve dunque essere l'abolizione della monarchia e delle prime camere." 310 Violenza, S. 27: „II nostro primo scopo [...] dev'essere di conquistarci una base costituzionale che ci garantisca uno sviluppo morale e libero delle nostre forze e della volontà del popolo in modo da creare le fondamenta di uno stato popolare." 311 Violenza, S. 27: „Dobbiamo essere antilegalitari in senso giuridico, non nel senso fisico" 312 „Ma non dobbiamo volerla, nè è morale o utile farne un ,mot d'ordre'." (Violenza, S. 27). 313 „Questa eventualità non può servirci però come ragione logica di esaltare l'idea della violenza materiale. La violenza materiale è un fattore occasionale nella storia, che salta fuori dalla realtà storica stessa. Perciò essa non ha da essere tra le nostre direttive" (Violenza, S. 27).

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läßt als den Mord aus Bereicherungssucht, will Michels gar nicht leugnen. Er moniert aber die moralische Schieflage, in die Nieuwenhuis' Apologie der Gewalt gerät: „Aber daß die in dem heutigen Wirtschaftssystem selbst begründet liegende Tatsache der ökonomischen Benachteiligung der unteren Klassen unserer Bevölkerung allein einzelnen Elementen derselben auch nur den Anschein moralischen Rechtes auf Eingriff in das Leben der auf den Höhen Wandelnden, eben nur weil sie auf den Höhen wandeln, zu geben vermöchte, das muß [...] schlechterdings ein für allemal mit aller nur denkbaren Entschiedenheit verneint werden."314 Es ist die anarchistische Überzeugung von einer ubiquitären Legitimität der Gewaltanwendung gegen Staat und ,herrschende Klassen', die Michels zufolge Anarchismus und Sozialdemokratie trennt. Während erster die „sittliche Berechtigung des Terror auf alle Länder mit kapitalistischer Produktionsweise ausdehnen" wolle, beschränke letztere die Akzeptanz der Gewaltanwendung auf bestimmte Kontexte wie etwa die Verhältnisse in Russland. Anarchismus und Sozialdemokratie trenne eine „Differenz über die Grenzen der Notwehr."315 Michels zieht gegenüber dem Syndikalismus wie auch dem Anarchismus die Grenzen legitimer Gewalt so eng, daß sie in West- und Mitteleuropa als legitimes Mittel des sozialistischen Kampfes ausscheiden. Darüberhinaus erkennt und verurteilt er die Tendenzen einer gar nicht mehr politischen, sondern vielmehr ästhetischen Präferenz von Gewalt. Sein Plädoyer für den „Antilegalitarismus" ist in diesem Kontext alles andere als die Proklamation einer schrankenlosen Ungesetzlichkeit. Denn der Auftuf zum Verfassungsbruch bezieht sich bei ihm auf die Eroberung einer „verfassungsmäßigen Basis", deren normatives Gefüge er explizit mit einem Rückgriff auf die Errungenschaften der Französischen Revolution skizziert, namentlich der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und der Idee der Volkssouveränität. Der in dieser ideengeschichtlichen Tradition formulierte Anspruch, daß dem Volk das Recht zukomme, seine politische Verfassung von Zeit zu Zeit zu revidieren und zu verändern, ist bei Michels der Legitimationstitel des republikanischen Verfassungsbruches.316 Es ist erhellend, daß Enrico Leone Michels Überlegungen so nicht stehen lassen will. Der Herausgeber des „Divenire Sociale" fühlt sich durch Michels' Aufsatz zu einer Replik veranlaßt, in der - trotz aller Sympathien Michels' für den revolutionären Syndikalismus - ein weiterer, weltanschaulicher Dissens zwischen dem deutschen Sozialdemokraten und der neuen Richtung deutlich wird. Leone bemüht sich nämlich zu zeigen, daß der Kampf für die Republik kein dem Sozialismus wesentlicher Programmpunkt sei und nur unter bestimmten historischen Kontextbedingungen zu führen sei, da auch die Republik, wie die Monarchie, nur eine andere Form der bürgerlichen Klassenherrschaft darstelle. Leone erneuert dabei den altbekannten Vorwurf des „republikanischen Vor314 Michels, Zur Geschichte des Sozialismus, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. XXIII, Heft 3, November 1906, S. 786-843, S. 810-811. 315 Michels, Geschichte des Sozialismus, a.a.O., S. 826. 316 Michels, Violenza, S. 27.

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urteils" und ordnet dieses den „Phantastereien der bürgerlichen positivistischen Metaphysik" zu. Nur in der bürgerlichen Philosophie, so Leone, existiere ein „Gesetz des demokratischen Fortschritts", nicht aber in der allein von Klassenkämpfen bewegten Geschichte. 317 Das ist hochideologisch und sehr polemisch, aber im Hinblick auf den Adressaten durchaus treffend, hat Michels doch selbst einmal ausdrücklich das Eintreten der Sozialdemokratie für die Idee der demokratischen Republik damit begründet, daß diese Position eine „Resultante des wissenschaftlichen Positivismus" 318 sei. In diesem Sinne trifft ihn Leones Vorwurf, er betreibe „positivistische Metaphysik", nicht zu Unrecht. Wir werden im übrigen an Michels' Turiner Studien ab 1908, also im unmittelbaren Vorfeld seiner „Soziologie des Parteiwesens", sehen, daß sogar noch den Theoretiker des „ehernen Gesetzes der Oligarchie" zumindest in normativer Hinsicht ein , eisernes Gesetz der Demokratie' vom revolutionären Syndikalismus bis 1911 getrennt hat. 319 Apologie der Partei als Handlungsmodell Michels' Sympathien für den Syndikalismus stoßen auch dort an Grenzen, wo seine Wortführer ein Monopol auf den Sozialismus anmelden, in den Gewerkschaften die exklusive Keimzelle der neuen Ordnung sehen und damit eine Totalabwertung der Partei, der „ecclesia militane" (Kautsky), verbinden. Nachweisbar ist dies anhand von Michels' Auseinandersetzung mit dem Sorelianer Ernest Lafont im Februar 1906.320 Lafont hat zuvor 321 den antiinstitutionellen Affekt der extremen Linken gegenüber dem „künstlichen" Parteiapparat artikuliert und den italienischen Syndikalisten nahegelegt, sich von dem für eine revolutionäre Praxis wertlosen Gebilde des PSI zu trennen und die Partei als Organisationsform der Arbeiterklasse durch autonome Arbeitersyndikate

317 Enrico Leone, Postilla, in: Divenire Sociale, anno I, Nr. 2, 16.1.1905, S. 27-28: „Nè la pregiudiziale repubblicana ha una base positiva e storica: perchè non vigendo altra legge dinamica della storia che quella delle lotte delle classi, non esiste, se non soltanto negli almanaccamenti della metafísica positivista borghese, una legge di progresso democratico dei poteri politici [...]." 318 Michels, Le Congrès socialiste de Dresden et sa psychologie, a.a.O., S. 747-48, wo Michels auf die antimonarchisch-republikanischen Implikationen des Begriffs „Sozialdemokratie" zu sprechen kommt: „II est la résultante aussi de son positivisme scientifique qui ne peut pas admettre un règlement héréditaire d'un Aristos Kai Kalistos 319 Vgl. Kapitel V: Demokratische Sozialpädagogik im Vorfeld der Parteiensoziologie. 320 Michels, Discorrendo di Socialismo, di Partito e di Sindacato, in: Il Divenire Sociale, anno II, Nr. 4, 16.2.1906. S. 55-57. Bemerkenswert an dieser Entgegnung auf Lafont ist, daß Michels hier den, wie er ihn nennt, „syndicalisme sans phrase" Lafonts zu einem Zeitpunkt attackiert, als er subjektiv durchaus nachvollziehbare Gründe gehabt hätte, in die fundamentalistische Parteienkritik des Syndikalismus einzustimmen: im Januar 1906 war Michels' Zerwürfnis mit der sozialdemokratischen Parteiführung infolge seine antimilitaristischen Engagements in der MarokkoKrise perfekt und der Bruch nur noch eine Frage der Zeit. Vgl. dazu das Kapitel IV. 5: Probelauf für den Weltkrieg. 321 Ernest Lafont, La necessità d'una nuova mozione, in: Divenire Sociale, anno primo, Voi. primo, 5. 329f, zit. n. Ferraris, Saggi, a.a.O.

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IV. Am Krankenbett des Proletariats

abzulösen. In seiner Replik entrüstet sich Michels über den „syndicalisme sans phrase" Lafonts, dem er vorwirft, einen „übertriebenen Rigorismus" an den Tag zu legen, der für die syndikalistische Parteienkritik nicht untypisch sei.322 Er verurteilt die arrogante Leichtfertigkeit der neuen „sozialistischen Antiparteitheorie", die sich mit einer „galanten Geste" von der Partei abwende und die Partei als „Schwachsinn, als unheilbar und, schlimmer noch, als heterogen" abtue.323 Die Partei sei zwar in der Tat ein Kunstprodukt, aber in einem dem Lafontschen entgegengesetzten Sinne: ein Werk, das „langsam, mit unendlicher Geduld und bewundernswerter Zähigkeit errichtet" worden sei und dem Arbeiter wie Intellektuelle die besten Jahre ihres Lebens geopfert hätten. „Ein solches Kunstwerk [...] zerschlägt man nicht mit einem ironischen Lächeln".324 Nirgendwo deutlicher als in seiner Polemik mit Lafont hat Michels allen Alleinvertretungsansprüchen der revolutionären Gewerkschaften eine dezidierte Absage erteilt. Die ,Arbeitergewerkschaft" definiert Michels ausdrücklich als „Gegengewicht" (contrappeso) zu den opportunistischen Nebenwirkungen einer exklusiv parlamentarischen Taktik und weist ihr die Funktion der Revitalisierung der Partei zu („ridargli la vita"). Für Michels ist der revolutionäre Syndikalismus offensichtlich in erster Linie in seiner Funktion einer „rigenerazione socialista",325 einer „Regenerationsströmung",326 von Interesse. Dieses Programm einer Revitalisierung des Sozialismus setzt für Michels aber zwingend ein komplementäres Verhältnis von Partei und Gewerkschaft voraus: ,J)ie Gewerkschaft wird die notwendige Ergänzung zur Partei sein und umgekehrt."227 Wenige Jahre später wird Michels rückblickend die Bedeutung des Syndikalismus mit den Worten charakterisieren, daß dieser versucht habe, „in die materialisierte Seele des Marxismus nachträglich [...] einen idealistischen Virus einzuführen".328 In der Originalformulierung heißt es: introdurre un tantino di virus idealistico. Mit dieser der Pathologie entlehnten Formulierung hat Michels dem revolutionären Syndikalismus ebenfalls eine weitaus bescheidenere Rolle innerhalb der Arbeiterbewegung zugewiesen 322 „II contegno del Partito dalla parte sindacalista viene talvolta giudicato con asprezza esagerata" (Michels, Discorrendo di Socialismo ..., S. 55). 323 „Non possiamo allontanarci con un bel gesto dal Partito trattandolo da imbecille, da incurabile, peggio, da eterogeneo'''' (Discorrendo ...). 324 „Mi pare che il Partito sia una costruzione artificiale, si, ma in tutt#'altro senso: artificio costrutto lentamente, con infinita pazienza ed ammirabile tenacia per molti lustri da tutta una pleiade di giovani e robusti lavoratori e da bravi ed entusiasmati intellettuali socialisti, i quali avevano, a quest'opera, dato i migliori anni della loro vita, le loro forze, il loro idealismo, la loro salute, la loro vita. Un tal artificio frutto di tanti sacrifici, non si frantuma con un risetto ironico" (Discorrendo, S. 55) 325 Discorrendo, S. 57. 326 Michels, Proletariat und Bourgeoisie, S. 718. 327 , / / Sindacato sarà il necessario complemento del Partito e viceversa " (Discorrendo, S. 57). 328 In einer Rezension zu Karl Vorländers „Kant und Marx. Ein Beitrag zur Philosophie des Sozialismus" (Tübingen 1911) schreibt Michels, der Syndikalismus „abbia cercato d'introdurre, nell'anima materializzata del marxismo postumo, un tantino di virus idealistico". Leider kann ich keine näheren Angaben zu dieser Rezension machen. Ich verfüge nur über einen Autorensonderdruck ohne Angabe des Publikationsorgans.

IV.3. Michels und der revolutionäre Syndikalismus

299

als das dessen Hauptprotagonisten getan hätten. Der Syndikalismus bleibt in dieser Definition auf das Gesamtgefüge der Arbeiterbewegung, insbesondere die Partei bezogen, die mittels einer - wohldosierten - Injektion mit „ein wenig" (tantino) revolutionärem Fieber infiziert werden soll, in der Hoffnung, so die Hypertrophie der reformistischen und parlamentaristischen Tendenzen zu therapieren, deren Wachstum Michels zufolge die ideale Grundsubstanz der Bewegung immer mehr aufs Spiel setzten. Daß der Syndikalismus für Michels nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein notwendiges moralisches Korrektiv ist, das den revolutionären Ursprungskonsens der Arbeiterbewegung revitalisieren soll, ohne das Gesamtgefüge der Partei mit ihren zahlreichen Tendenzen zu sprengen, dafür gibt es noch ein weiteres Indiz: Michels' sympathisiert in seiner philosyndikalistischen Phase mit Augustin Hamons Konzept einer „vielgestaltigen sozialistischen Einheit", in dem die anarchistischen und syndikalistischen Strömungen ebenso ein Mitspracherecht haben wie die ,zentristischen' und reformistischen.329 Allem Anschein nach hofft Michels die „psychologische Krise" des Sozialismus,330 den immer größer werdenden Graben zwischen Gewaltapologeten einerseits, Legalitaristen andererseits, nicht durch die Spaltung, sondern über die Erzeugung produktiver Spannungen auf ein und derselben organisatorischen Plattform zu überwinden.331 Der Streit, der seit der Jahrhundertwende zwischen den neuen Revolutionären und der alten Orthodoxie um die angemessene Organisationsform entbrannt ist, geht ihm dagegen an den tatsächlichen Problemen der Arbeiterbewegung vorbei. Deren fundamentale Ursache sei „nicht in einem Antagonismus zwischen ,Reformismus' und ,Revolutionarismus' zu suchen oder, moderner ausgedrückt, in einer Inkompatibilität zwischen Syndikalismus' und ,Partei', sondern in dem flagranten Widerspruch zwischen der sozialistischen Doktrin und der Taktik der Sozialisten,"332

329 So faßt Corrado Malandrino die pansozialistische Parteikonzeption Augustin Hamons zusammen, mit der sich Michels in seiner Hamon-Rezension von 1905 (Dokumente des Sozialismus, V, Nr. 12, 1905, S. 537-538) identifizierte. Vgl. Malandrino 1989, S. 501. 330 Michels, La Crisi psicologica del Socialismo, in: Rivista italiana di sociologia, anno XIV, fase. III-IV, Maggio-Agosto 1910, S. 365-376. Im Vorwort zu ersten italienischen Ausgabe seiner Parteiensoziologie von 1912 macht Michels zu diesem Aufsatz eine aufschlußreiche Anmerkung, die in der deutschen Ausgabe fehlt und daher der Aufmerksamkeit meist entgangen ist: „es war vor allem eine soziologische Kritik des Syndikalismus". Vgl. Michels, Il partito politico nella democrazia moderna, 2. Aufl., Torino 1924, S. Vili. 331 Ob diese Option realistisch gewesen wäre, ist höchst zweifelhaft. Die Parteiengeschichte, man denke nur an den Auszug der radikalen Linken aus der Partei der Grünen, belegt eher, daß der offene Dialog widerstreitender Grundtendenzen zwar den Reiz der unmittelbaren demokratischen' Diskussion ohne opportunistische Scheuklappen bietet, daß er aber auch eine Partei handlungsunfähig zu machen droht. Zumindest in Parteien, die aus einer systemoppositionellen Ursprungsbewegung entstanden sind, wird die Kluft zwischen den auf Regierungsfähigkeit setzenden und den die Systemopposition forcierenden Gruppen irgendwann unüberbrückbar und die Spaltung unvermeidbar sein. 332 „La cagione fondamentale dei guai che corrompono la nostra azione socialista non è da cercarsi in un antagonismo tra ,riformismo' e ,rivoluzionarismo', o più modernamente, nell'incompatibli-

300

IV. Am Krankenbett des Proletariats

Wie wenig sich seinerzeit führende Syndikalisten mit Michels' Verständnis von Syndikalismus als eines die Partei revitalisierenden Gegengewichts identifizieren können, zeigt die Replik Enrico Leones, der Michels in allen wesentlichen Punkten widerspricht und ihm mit süffisantem Spott nicht weniger als die Antiquiertheit seines Sozialismusverständnisses bescheinigt.333 Apologie des Intellektuellen Leones Vorwurf bezieht sich nicht zuletzt auf Michels', mit dessen Absage an den proletarischen Exklusivismus eng zusammenhängenden Sozialismusverständnis, welches die Idee von der Klasse unterscheidet und ihr gegenüber priorisiert. Auf Lafonts These, daß rein proletarische Gewerkschaften die Ziele der Arbeiterklasse gerade deshalb besonders authentisch verkörpern würden, weil sie ideologiefrei und damit unbelastet von Intellektuellendebatten operieren könnten, hat Michels nämlich geantwortet: „Aber der gesamte Sozialismus ist Ideologie, gestützt auf den Tatsachen der Ökonomie und der Geschichte". Die Jdee und nicht die Klasse" sei daher das einigende Band der sozialistischen Arbeiterbewegung, der Partei wie der Gewerkschaften, die andernfalls nur den Irrtümern des englischen Trade-unionismus bzw. dem „famosen Neutralismus" der deutschen Gewerkschaften verfallen würden. Daher sei es „nicht die Geburt als Proletarier, sondern der Ideenkomplex, den man im eigenen Kopf hat, was den Sozialismus ausmacht".334 Während der Sorelianer Lafont den Standpunkt der rigorosen Klassenspaltung vertritt und den Intellektuellen die Deutungskompetenz für proletarische Klassenfragen abspricht, ist in Michels' Sicht die Arbeiterklasse zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung der Umgestaltung der Dinge, weil die Arbeiterklasse auf das Bewußtsein angewiesen ist, das ihr von außen - von den Intellektuellen - vermittelt werden muß. Gegen die Intellektuellenfeindschaft Lafonts verteidigt Michels entschieden die sozialpädagogische Kompetenz des bildungsbürgerlichen Renegaten: „Unsere

tà tra il ,Sindacalismo' ed il ,Partito', ma nella contraddizione flagrante tra la dottrina socialista e la tattica dei socialisti"' (Discorrendo, S. 55). 333 Enrico Leone, Postilla, in: Divenire Sociale, anno II, Nr. 4, 16.2.1906, S. 57/58. Michels begehe den Fehler „di chi s'ostinasse ad usare il fucile a bacchetta anche dopo la scoverta delle armi a ripetizione". 334 „Ma tutto il socialismo è ideologia, basata sui fatti dell'economia e della storia [...]. Anche il Sindacato, come lo concepisce il Lafont, ha necessariamente come legame superiore Videa e non la classe. Se il Sindacato avesse come base la sola classe cadrebbe negli errori del tradeunionismo inglese e nel famoso neutralismo dei sindacati di Germania [...] Il Partito e il Sindacato [...] hanno lo stesso vincolo [...]: l'ideologia socialista. Poiché non è l'essere nato proletario, ma l'avere nella propria testa un complesso di idee ben definite che fa il socialista" (Discorrendo, S. 55).

IV.3. Michels und der revolutionäre Syndikalismus

301

Aufgabe besteht genau darin: ihm [dem Proletariat] seine eigentümliche Tendenz bewußt zu machen, ihm die reife Frucht zu entbinden, die es unbewußt erzeugt."335 So naiv uns diese Paarung aus marxistischer Geschichtsphilosophie und Aufklärungsoptimismus auch erscheinen mag, die sozialpädagogische Geburtshelferphraseologie, die Michels hier anstimmt, folgt denselben impliziten Grundannahmen, die ihn bereits in seiner sozialreformistischen Phase bis 1903 leiteten, als er das Bewegungsmodell des norditalienischen Bildungsproletariats scharf vom süditalienischen, anomischen Verelendungsproletariat abgrenzte und normativ auszeichnete.336 Die Priorität der .wissenschaftlichen' Theorie und damit die Apologie des sozialistischen Gelehrten bleibt ein immer wiederkehrender Fixpunkt auch des philosyndikalistischen Michels. Bei allen Appellen an den revolutionären .Willen' und die ,Energie' vollzieht er an keiner Stelle den Sprung in den sorelianischen Voluntarismus und bleibt in dieser Hinsicht dem Kautskyschen Modell des Parteiintellektuellen verbunden. Das sozialistische Bewußtsein und das entsprechende Handeln erfolgen demnach aus den ökonomischen Tatsachen und der sozialpädagogisch vermittelten Einsicht in die Theorie. Umgekehrt generieren bei Sorel erst die Aktion wie der Generalstreik und die sich in ihr manifestierenden mythischen Bilder das sozialistische Bewußtsein.337 Diese Konfrontationslinien zwischen dem Philosyndikalisten Michels und einigen Meinungsfuhrem dieser neuen revolutionären Strömung in Frankreich und Italien werden nicht zuletzt durch einen Streit dokumentiert, der Monate später im Oktober 1906 in den Spalten des „Mouvement Socialiste" beginnt und sich bis in den März 1907 ziehen wird. Das Skandalon, das hier den Widerspruch des Sorel-Schülers Edouard Berth hervorruft, ist Michels' im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" erschienene Studie „Proletariat und Bourgeoisie in der sozialistischen Bewegung Italiens".338 Michels nimmt dort eine „Legende" unter die Lupe: die weit verbreitete These nämlich, daß Arbeiterparteien infolge des Eintritts bürgerlicher Intellektueller .verbürgerlichten'. Seine Studie widerspricht dieser Rückführung des bürgerlichen', ergo: reformistischen und opportunistischen Erscheinungsbildes der Partei auf die Interessen einer soziolo335 „II nostro compito consiste appunto in ciò: di renderla consapevole della sua propria tendenza, di levarle il parto maturo che inconsciamente elabora!" (Discorrendo, S. 55). 336 Vgl. Kapitel III.2.1. Neue soziale Bewegungen: das zivilgesellschaftliche und das sentimentale Paradigma. 337 G Sorel, Über die Gewalt, übersetzt von Ludwig Oppenheimer (1928), mit einem Nachwort von Georg Lichtheim, Frankfurt a.M. 1981, S. 145. 338 R. Michels, Proletariat und Bourgeoisie in der sozialistischen Bewegung Italiens. Studien zu einer Klassen- und Berufsanalyse des Sozialismus in Italien, in: Archiv für Sozialwissenschañ und Sozialpolitik, Bd. 3 H.2, S. 347-416 (1905), Bd. 4 H.l, S. 80-125, Bd. 4 H.2, S. 424-466, Bd. 4 H.3, S. 664-720, 1906. Diese erste Studie von Michels für das „Archiv" g e ht auf die Vermittlung Werner Sombarts zurück, der mit Michels das Interesse am italienischen Sozialismus teilte. Für die Annahme, Max Weber habe Michels' ersten „Archiv"-Beitrag angeregt (vgl. etwa Wolfgang J. Mommsen, Robert Michels und Max Weber, a.a.O., S. 197), sprechen nur Vermutungen, wie Joachim Hetscher anhand der Korrespondenz im ARMFE gezeigt hat. Die Briefe belegen dagegen, daß es Sombart war, dem Michels im Herbst 1904 seine Mitarbeit anbot und von dem er auch im Februar 1905 die Zusage erhielt. Vgl. Hetscher, S. 119.

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IV. Am Krankenbett des Proletariats

gisch greifbaren Einflußgruppe bürgerlicher Provenienz: „Vom sozialistischen Standpunkt aus liegen die den sozialistischen Parteien drohenden Gefahren nicht in ihren bourgeoisen Splittern, sondern im Opportunismus ihrer Methode."339 Dieser am italienischen Fall gewonnenen Einsicht liegt systematisch Michels' Unterscheidung von „Sozialismus" als einer wesentlich von Intellektuellen konzipierten Idee und „Proletariat" als dem historisch-materialistischen Substrat dieser Idee zugrunde. Aus dieser Differenzierung resultiert für ihn „logisch", daß es „Sozialismus" ohne Proletariat geben kann - im industriell verhältnismäßig unterentwickelten Italien liegt diese These besonders nahe - , aber auch ein Proletariat ohne Sozialismus, da die bloße Klassenzugehörigkeit nicht automatisch ein sozialistisches Bewußtsein evoziere. „Nun ist der Sozialismus als das ,ideologische' Streben nach einer vernünftigeren, sich auf der kollektivistischen Assoziation aufbauenden Wirtschaftsordnung und der endgültigen Beseitigung der politischen Bevormundung, wirtschaftlichen Ausbeutung und sozialen Niederhaltung der werktätigen Masse - also ein Streben mit den Motoren ethischer Kategorien - logisch keineswegs auf die Existenz eines modernen Proletariats angewiesen, wie sich denn auch tatsächlich - die Anerkennung eines bestimmten Programms, nicht die Klassenlage ist maßgebend! - in den sozialistischen Parteien Männer aus allen Gesellschaftsschichten, allen Vermögenslagen zusammenfinden." Michels' Studie sammelt für diese These eindrucksvolle Belege: die Wahlstatistik zeigt, daß längst nicht alle Arbeiter dem PSI ihre Stimmen geben340 und nicht wenige mitunter auch antisozialistisch wählen.341 Und die Mitgliederstatistik belegt den relativ hohen Anteil von Bauern und Akademikern in der Partei. In bestimmten Regionen hat die sozialistische Agitation sogar unter den Kleinbauern größere Erfolge zu verzeichnen als beim Agrarproletariat, „eine Tatsache, die wieder einmal den so oft gehörten Satz, daß die Widerstandskraft der Arbeiterschaft ohne weiteres dem Grade ihrer ökonomischen Notlage proportional sein müsse, ad absurdum führt."342 Diese Ergebnisse führt Michels allerdings nicht an, um den historischen Materialismus durch eine idealistische Konzeption des Sozialismus zu ersetzen. So weit geht sein Glaube an die Macht des Idealismus offensichtlich nicht: „Aber empirisch-historisch wissen wir doch, daß eine sozialistische Partei in einem Lande, welches noch kein modernes Proletariat besitzt, also der wirtschaftlichen Interessenbasis entbehrt, im letzten Grunde nur eine Treibhauspflanze ist."

339 340 341 342

Michels, Michels, Michels, Michels,

Proletariat Proletariat Proletariat Proletariat

und und und und

Bourgeoisie ..., a.a.O., S. 704. Bourgeoisie, S. 424f. Bourgeoisie, S. 441. Bourgeoisie, S. 457.

IV.3. Michels und der revolutionäre Syndikalismus

303

Der „wirtschaftliche Massenegoismus" sei nun einmal „als politischer Faktor von ungleich höherer Tragweite als der Willensakt des Idealismus."343 Das im zeitgenössischen Kontext Innovative an Michels' Studie besteht allerdings im Nachweis, daß der das Handeln der Menschen dominierende Materialismus nicht zwangsläufig auf das sozialistische Telos zulaufe, sondern die sozialistische Entwicklungsprognose sogar vereiteln könnte. Das ökonomische Interesse falle nämlich erstens nicht automatisch mit einem sozialistischen Bewußtsein zusammen, es führe nicht gesetzesmäßig zum solidarischen Kampf gegen politische Bevormundung und ökonomische Ausbeutung. Und zweitens provoziere der Gruppenegoismus als solcher mitunter sogar „Klassenkämpfe" innerhalb der sozialistischen Bewegung.344 Denn „selbst die eine proletarische Gruppe der .Lohnarbeiterschaft' " sei „keineswegs eine homogene": „Die industriellen Arbeiter unterscheiden sich in ihren sozialpolitischen Tendenzen nicht unwesentlich von den Landarbeitern, und in der Industriearbeiterschaft selbst wiederum sind, je nach den einzelnen Berufszweigen, materielle Antagonieen345 keine rein kasuellen, sondern im Leben des heutigen Wirtschaftslebens selbst begründete Erscheinungen."346 Mit diesen Beobachtungen spricht Michels ein Dilemma, ein tieferliegendes Problem der marxistischen Geschichtsphilosophie an, das spätestens seit der Jahrhundertwende in der sozialistischen Debatte virulent ist und in dem die ethische Marx-Revision und Neubegründung des Sozialismus wurzelt: die materiellen Antriebskräfte der Existenz sind ganz offensichtlich nicht zwingend ein Faktor der solidarischen Assoziierung, der Transformation der „Klasse an sich" in eine „Klasse an und für sich". Vielmehr sind sie, auf sich allein gestellt, ein Faktor der sozialen Dissoziierung, des Auseinanderfallens in verschiedene Gruppen von Interessenwahrern. In dem Maße, wie die Zweifel an dem klassenidentitätsstiftenden Potential des aus einer kollektiven ökonomischen Lage resultierenden gemeinsamen Interesses wachsen, intensiviert sich daher der Appell an die moralischen Voraussetzungen solidarischen Handelns. Der Neukantianismus, der Michelssche Rekurs auf die Moral- und Sozialpädagogik, aber auch Sorels Gedanke der Generierung einer kollektiven Moral aus der Mythomotorik realer Straßenkämpfe haben letztlich in ein und demselben Defizit der Marx-Orthodoxie der II. Internationale ihren Ausgangspunkt. Es mag an dieser Stelle das gängige Kautsky-Bild irritieren, daß Michels, so wie er Kautsky bereits vom Vorwurf der „faulen Revolution" ausgenommen hat, den Lehrmeister der II. Internationale auch nicht als Mitverursacher dieses EthikDefizits sieht, sondern vielmehr Kautskys „ausgezeichnete Klarstellung des Verhältnisses des Sozialismus zur Ethik" würdigt.347

343 344 345 346 347

Michels, Proletariat und Bourgeoisie, a.a.O., S. 373. Michels, Proletariat und Bourgeoisie, S. 676. Sic. Michels, Proletariat und Bourgeoisie, S. 718-719. Vgl. Michels, Proletariat und Bourgeoisie, S. 670.

304

IV. Am Krankenbett des Proletariats

Ein Beitrag zur zeitgenössischen Ethikdebatte ist es auch, wenn Michels in seiner „Archiv"-Studie dem italienischen Sozialismus ein höheres Maß an ethischen Antriebskräften zuschreibt als in anderen Arbeiterbewegungen und fur diese These eine soziologische Begründung liefert: eben weil sich der italienische Sozialismus aus sozial eher heterogenen Komponenten zusammensetzt, so Michels, werde er auch weniger durch die wirtschaftliche Befindlichkeit als vielmehr durch einen darüber hinausgehenden programmatischen Wertekonsens und Gefühle der Solidarität zusammen gehalten. Das „vornehmste Movens der ethischen Grundstimmung des Italosozialismus" sei dabei in der Zusammensetzung des ihn formenden Menschenmaterials" zu suchen, „einerseits in einer fast völligen Dominierung der bourgeoisen, insbesondere akademischen Elemente in der Führerschaft, andererseits in dem überaus starken Einschuß des ländlichen Elements in den Massen der Partei."348 Die Intellektuellen neigten zu ethischen Begründungen des Sozialismus, weil schon in ihrer eigenen Biographie eine gehörige Dosis von Altruismus angelegt sei, die sie allen materiellen Einbußen zum Trotz - zum Anschluß an die Arbeiterpartei gedrängt habe. Bei den Bauern resultierten die ethischen Momente dagegen aus der „Psyche des Ackerbautreibenden", die, weil ihre gesamte berufliche Existenz von „scheinbar übernatürlichen" natürlichen Gewalten abhängig ist, „religiösen Gefühlen leicht zugänglich" seien. Auch „wenn der kirchliche Glaube von der himmlischen durch den sozialen Glauben von der irdischen Wiedergeburt des Menschengeschlechtes ersetzt ist", hätten beim Bauern „die sittlichen Triebkräfte auch in seinen sozialistischen Aspirationen festere Wurzeln, als es beim skeptischen Stadtproletariat der Fall sein könnte".349 Während Michels' Soziologe der ethischen Gefühle im Parteiwesen gerade der heterogenen Zusammensetzung des PSI somit einiges abgewinnen kann, beurteilt er die Alternative des Klassenpurismus dagegen äußerst skeptisch, ja, meint sogar beobachten zu können, daß je exklusiver eine Arbeiterbewegung proletarisch sei, desto anfälliger sei sie für Korruption.350 Im polemischen Kontext der Zeit sind dies Argumente gegen die aktuelle Forderung der radikalen Linken um Arturo Labriola, allen Kleinbürgern, Beamten und Bauern den Zutritt zur Partei zu verweigern. Im Hinblick auf die Konsequenzen, die Labriolas Proletarismus für den italienischen Sozialismus als politischen Faktor hätte, bezeichnet Michels Labriolas Idee knapp als eine „Theorie des politischen Selbstmordes."351 Was dem italienischen Sozialismus dagegen eine „reiche Zukunft" zu garantieren scheint, ist, so Michels' Schlußresümee, „neben der energischen Kraftgestalt des contadino die feine Statur des akademischen Gelehrten."352 Für die extreme Linke des „Mouvement Socialiste" ist Michels' Studie ein Rückfall in „prämarxistische Utopien", so der Sorel-Schüler Edouard Berth, der unmißverständlich erklärt: „Für uns Syndikalisten ist der Sozialismus nichts anderes als die Arbei348 Michels, Proletariat und Bourgeoisie, S. 674. 349 Proletariat und Bourgeoisie, S. 675. 350 Michels, Proletariato e Borghesia, S. 376-377: „Più un movimento operaio è esclusivo, più esso è ligio a tutte le corruzioni". 351 Proletariat und Bourgeoisie, S. 702. 352 Michels, Proletariat und Bourgeoisie, S. 720.

rv.3. Michels und der revolutionäre Syndikalismus

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terbewegung, er ist die Schaffung einer von der modernen Gesellschaft determinierten Klasse." 353 Der Intellektuelle dagegen, so Berth weiter, spiele seine Rolle nur auf der Ebene der Politik, des Parlamentes, wo das Vertreterprinzip gelte. Und „Vertretung bedeutet notwendigerweise Verrat, Abweichlertum, Verbürgerlichung". Der „wahre Sozialismus" sei daher die „Doktrin des Bruches und der radikalen Spaltung zwischen den Klassen". Michels begibt sich in seiner Replik auf denkbar größte Distanz zu Berth und untermauert seine Position, die sich bei allen phraseologischen Abwandlungen und bei aller ,klassenkämpferischen' Radikalisierung in den Jahren seit 1903 als eine identische Spur seines Denkens erweist, die den jungen „Sozialreformisten" vor 1903 mit dem „intransigenten Revolutionär" danach verbindet: „Die Arbeiterbewegung könnte nicht ohne eine Gruppe Intellektueller existieren, die ihr als Aufklärer dienen." 354 Diese These von der Unverzichtbarkeit des Intellektuellen für die sozialistische Arbeiterbewegung begründet Michels historisch wie funktional. Historisch sind nun einmal die Träger sozialistischer Ideen meist bürgerliche Intellektuelle gewesen, die ihre Visionen einer sozialistischen Gesellschaft zum Teil bereits vor dem Entstehen eines Industrieproletariats formuliert hatten. Die Intellektuellen haben aber auch eine besondere Funktion, die sie von der Arbeiterschaft wie von den Partei- und Gewerkschaftsfunktionären abhebt. In einer äußerst differenzierten Arbeiterbewegung mit vielfältigen Sonderinteressen fungieren sie als Anwälte einer interessentranszendierenden Moral. Würde man die ,legitimen Interessen der Arbeiterbewegung' nämlich ganz dem „ökonomischen Egoismus" überlassen, so würde sich das Proletariat, das eben keine ,.homogene Entität" bildet, in höchst widersprüchlichen Interesselagen verlieren. Der Arbeiter bei Krupp wäre folgerichtig ein Anhänger des Militarismus. Michels' Folgerung lautet daher: „Der ökonomische Faktor ist fruchtlos ohne den Koeffizienten der moralischen Pädagogik. Ohne ihn wird sich die ,Mission des Proletariats' nie vollenden." 355 Edouard Berth dagegen hat Michels zuvor wegen seiner These, daß „der Klassenegoismus nicht genüge, um ein revolutionäres Ziel zu erreichen", unter „Sentimentalismus"-Verdacht gestellt. Entschieden widerspricht Michels auch Berths „kühner" These, „Vertretung ist Verrat", die dieser „willkürlich" und exklusiv auf die Partei projiziert habe. Würden sich etwa, so fragt Michels, die autonomen Arbeitersyndikate jemals des Prinzips der Repräsentation entledigen können? Seine Antwort läuft bereits auf die zentrale Fragestellung seiner späteren Organisationssoziologie hinaus:

353 Edouard Berth, Proletariat et Bourgeoisie dans le mouvement socialiste italien, in: Mouvement Socialiste, Nr. 179, Oktober 1906, zit. η. Ferraris, S. 135. 354 Michels, Controverse socialiste, in: Mouvement Socialiste, Nr. 184, März 1907, S. 279-288, S. 283: „Le mouvement ouvrier ne saurait exister sans une troupe d'intellectuels lui servant d'éclaireurs". 355 Michels, Controverse socialiste, a.a.O., S. 281: „Le facteur économique est impuissant sans le coefficient de la pédagogie morale. Sans lui, la ,mission du prolétariat' ne s'accomplira jamais."

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IV. Am Krankenbett des Proletariats

„Anstatt zu sagen: die Partei erzeugt die Verbürgerlichung, hätte er [Berth] sagen müssen: die Organisation erzeugt die Verbürgerlichung und die Abweichung. Aber das Prinzip der Organisation umspannt gleichermaßen die Partei und die Gewerkschaft. Das zu lösende Problem [...] besteht vor allem darin, ein Mittel zu finden, um auf die immanenten Gebrechen jeder Organisation, jeder Vertretung zu reagieren."356 Dies ist gleichsam die Vorwegnahme jener Passage in der „Soziologie des Parteiwesens", in der Michels die syndikalistische Prophylaxe gegen die oligarchischen Verformungen und „Verbürgerlichungs"-Tendenzen des Vertretersystems verwerfen und für gescheitert erklären wird: „So bedeutet ihre antiparlamentarische Haltung häufig nur eine Verlegung der Verhandlung vom offenen, den Geführten wenigstens teilweise zugänglichen Weg des Parlaments auf seine geheimen Hintertreppen und Couloirs."357 Um dies zu erkennen, hat es offensichtlich keiner Rezeption der Elitentheorie bedurft. Denn bereits in den Jahren 1906/7 hat Michels in aller Deutlichkeit die „unerbittliche Antinomie" des Syndikalismus konstatiert: obwohl als eine Reaktion der extremen Linken auf die negativen Effekte der Repräsentation entstanden, beruhe die syndikalistische Alternative organisatorisch auf demselben repräsentativen Fundamentalprinzip wie jede Partei.358 Das Denken in Kategorien der Organisationssoziologie setzt nicht erst mit der Annahme einer Dozentenstelle in Turin ein, sie beginnt bereits dort, wo Michels dem syndikalistischen Vorwurf der „Verbürgerlichung" nachspürt und zu einer Reihe inno-

356 Michels, Controverse ..., S. 282: „Mais pourquoi applique-t-il arbitrairement ses théories au seul parti? L'action directe a besoin des organisations économiques, du syndicat. Or, les syndicats n'ont-ils pas à subir les mêmes dangers? N'ont-ils pas enfin le même principe fondamental, le principe de représentation? [...] Au lieu de dire: le parti engendre l'embourgeoisement, il [Berth] aurait dû dire: l'organisation engendre l'embourgeoisement et la déviation. Mais le principe de l'organisation embrasse également le parti et le syndicat. Le problème à résoudre [...] consiste avant tout à trouver un moyen de réagir contre les défauts immanents de toute organisation, de toute représentation." 357 Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens, 1. Aufl. Leipzig 1911, S. 339-340. 358 Michels, Controverse ..., S. 282: „Mais pourquoi applique-t-il arbitrairement ses théories au seul parti? L'action directe a besoin des organisations économiques, du syndicat. Or, les syndicats n'ont-ils pas à subir les mêmes dangers? N'ont-ils pas enfin le même principe fondamental, le principe de représentation? [...] Au lieu de dire: le parti engendre l'embourgeoisement, il [Berth] aurait dû dire: l'organisation engendre l'embourgeoisement et la déviation. Mais le principe de l'organisation embrasse également le parti et le syndicat. Le problème à résoudre [...] consiste avant tout à trouver un moyen de réagir contre les défauts immanents de toute organisation, de toute représentation. Cette réaction s'appelle le syndicalisme. Mais puisqu'il se sert, lui aussi, d'entités basées sur le principe de la représentation (les employés des syndicats), il porte, lui aussi, en soi, son antinomie cruelle ..."

IV. 3. Michels und der revolutionäre Syndikalismus

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vativer Einsichten gelangt, etwa 1906, als er die Gründe für die „Verbürgerlichung" in dem Umstand ausmacht, daß die Parteiorganisation wie eine „Klassenerhöhungsmaschine" funktioniert, die Amtsträger aus der Arbeiterklasse entproletarisiere und auf ein höheres soziales Niveau hebe.359 Daß die „Klassenerhöhungsmaschine" der Arbeiterpartei nicht nur Idealisten, sondern auch Karrieristen an sich zieht, das erscheint Michels schon zu diesem Zeitpunkt seiner noch philosyndikalistischen Phase unvermeidlich und wird von ihm ganz nüchtern als eine ,klimatheoretische' Notwendigkeit präsentiert: „Wenn wir sehen, daß es in der sozialistischen Partei vereinzelt wirklich ehrgeizige Stellenjäger gibt, so werden wir aus dieser Tatsache eben auf ein inzwischen verändertes politisches und soziales Milieu der italienischen Sozialdemokratie schließen dürfen. In dem Klima politischer Verfolgung, sozialer Bloßstellung und wirtschaftlicher Verluste kann die Pflanze Ambition nicht gedeihen. Treffen wir sie dennoch in Blüte, so wissen wir demnach, daß sich das Klima modifiziert haben muß. Das ist ein klarer logischer Schluß."360 Angesichts dieser frühen, seiner Parteiensoziologie gut fünf Jahre vorauseilenden Einsichten in die organisatorischen und kontextuellen Bedingungen für das Entstehen opportunistischer Tendenzen empfindet Michels den „Kreuzzug gegen die Bourgeois" als „lächerlich", zumal dieser sich „in der Praxis stets bloß gegen die Bourgeois der anderen Parteirichtung" richte.361 Während die extreme Linke den Reformismus auf eine Unterminierungsstrategie bürgerlicher Intellektueller zurückführt, drehen die Reformisten diesen Vorwurf um, indem sie ihrerseits der „intransigenten" Richtung vorwerfen, den Einflüsterungen von Intellektuellen aus dem Kleinbürgertum unterlegen zu sein, namentlich gescheiterten Akademikern, die „statt Arbeiterinteressen im Kopf, radikale Phrasen im Mund haben". Was auch immer an der anderen Seite unbequem ist, wird auf die „bürgerlichen Schädlinge" in ihren Reihen zurückgeführt. 362 Süffisant bemerkt Michels in diesem Zusammenhang, daß der linksradikale Anti-Intellektualismus ausgerechnet von „Prototypen akademischer Gelehrsamkeit", und nicht etwa von rein proletarischen Existenzen, geprägt werde: „Arturo Labriola [...] pflegt seine Gedanken [...] in einer an einen reißenden Strom erinnernden Schnelle der Sprache vorzutragen, die es selbst wissenschaftlichen Zirkeln fast unmöglich macht, ihm auch nur materiell - rein sprachlich - zu folgen. [...] es sind die schwersten Waffen aufgestapelter Höhenkultur, mit denen

359 Michels, Die deutsche Sozialdemokratie. I. Parteimitgliedschaft und soziale Zusammensetzung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. XXIII, Heft 3 1906, S. 471-556, S. 543. 360 Michels, Proletariat und Bourgeoisie, S. 699. 361 Michels, Proletariat und Bourgeoisie, S. 692. 362 Vgl. Michels' Report von den antibürgerlichen Parteitagsschlachten in Michels, Proletariat und Bourgeoisie, S. 684ff.

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IV. Am Krankenbett des Proletariats

die italienischen Arbeiter von dem Parasitentum der Vertreter der Bildung in der Arbeiterbewegung überzeugt werden sollen!" 363 Es verwundert angesichts dieser Kontroversen nicht, daß Michels der syndikalistischen Apriori-Verurteilung der Partei selbst dann noch eine deutliche Absage erteilt, als sein Bruch mit der SPD perfekt ist. In einer Spitze gegen Hubert Lagardelle wird er schreiben, daß in Deutschland eine Revitalisierung des Sozialismus nur durch die sozialdemokratische Partei, nicht aber mehr durch die strikt reformistischen Gewerkschaften erfolgen könne. 364 Noch 1907, als sich Michels aus der aktiven Politik zurückzieht, verläuft somit eine scharfe Trennlinie zwischen dem Sozialismus des deutschen Sozialdemokraten und einigen Repräsentanten des revolutionären Syndikalismus, die sich immer wieder an denselben Dissenspunkten manifestiert: intellektuelles Aufklärungsprogramm auf der einen, Antiintellektualismus auf der anderen Seite; altruistische versus kriegerische Moral in der Frage der Legimität von Gewalt als politischem Mittel; das Parteiprogramm als Verbindungselement des Heterogenen wider den pansyndikalistischen Geist der Spaltung; Pädagogik des „Endziels" versus Pädagogik der „action directe". 365

3.3. Georges Sorels ästhetischer Bellizismus: nicht mehr als eine Skizze der „Weltabgeschiedenheit" Die oben nachgezeichneten Konfrontationslinien haben, wie Enrico Leones Polemik gegen die „positivistische Metaphysik" von Michels deutlich macht, offensichtlich auch einen weltanschaulichen Hintergrund. Was Michels von Leone, Labriola und einigen anderen Vertretern des revolutionären Syndikalismus trennt, ist ihr völlig gegensätzlicher Rückgriff auf die Traditionsbestände der klassischen bürgerlichen Philosophie. Während Michels immer wieder für eine ethische Untermauerung des Sozialismus ein363 Michels, Proletariat und Bourgeoisie, S. 718. 364 Michels, Le socialisme allemand après Mannheim, in: .Mouvement Socialiste, 9.Jg., Nr. 182, Januar 1907, S. 5-6, Anm. 2. In Mannheim war Karl Kautskys Resolution gescheitert, die die „höchste Form des Klassenkampfes" in der Partei verortete und der Partei einen Vorrang vor dem gewerkschaftlichen Reformismus zuschrieb. Michels hatte Kautskys Niederlage als das „Scheitern des sozialistischen Radikalismus in Deutschland" bezeichnet. Ganz anders Hubert Lagardelle, der - analog zum Berthschen Ökonomismus und Arbeitersozialismus - in der zunehmenden Autonomisierung der Gewerkschaften gegenüber der Partei den ersten Schritt zu einer Syndikalisierung der deutschen Arbeiterbewegung und einzig erfolgversprechenden Weg zum Sozialismus sah. Vgl. Lagardelle, Mannheim, Rom, Amiens, in: Mouvement Socialiste, Nr. 179, Oktober 1906. 365 Diese systematische Ordnung der Michelsschen Polemiken im syndikalistischen Lager verdanke ich Ferraris, S. 138: „Anti-intellettualismo contro scientismo; pedagogia dell'azione diretta di massa contro il rischiaramento dell' Endziel, dello scopo finale, da parte dell'intellettuale; socialismo come hasard contro il socialismo come .necessità'; morale ,guerriera' contro morale a l truistica'; spirito di scissione operaista e pansindacalista contro programma di partito che unifica il socialmente eterogeneo."

rv.3. Michels und der revolutionäre Syndikalismus

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tritt und dabei unverhohlen seine Sympathien fur den Neukantianismus ausdrückt, hat sich ein Labriola etwa die Schopenhauersche Kant-Kritik zu eigen gemacht und verwirft die Kantsche Ethik als eine „Sklavenmoral", mittels derer der Reformismus die Einfügung des Proletariats in den Status Quo forciere und den Klassenkampf ad acta lege. 366 Dabei sei es nicht der Kantianismus allein, mit dem der Reformismus dem Proletariat die klassenkämpferische Moral austreiben wolle. Labriola nennt in seiner philosophischen Feinderklärung namentlich drei Tendenzen: „Rückkehr zu Kant, Doktrin der Demokratie, Positivismus." 367 Damit hat sich Labriola präzise in jene geistige Bewegung zur Jahrhundertwende eingeordnet, die man gemeinhin auch als die „Revolte gegen den Positivismus" 368 bezeichnet. Im geistigen Ambiente des revolutionären Syndikalismus steht er damit zweifellos nicht allein. Seine Worte weisen vielmehr in die Richtung jenes Mannes, den man in den zwanziger Jahren als den „key to all contemporary political thought" (Wyndham Lewis) 369 schlechthin bezeichnen wird: Georges Sorel. Mit einigen gezielten Federstrichen, die gewiß nicht der schillernden Persönlichkeit Sorels vollständig gerecht werden, möchte ich, dieses Kapitel abschließend, Sorels Denken, so wie es sich insbesondere in seinen „Réflexions sur la violence" von 1906370 darstellt, skizzieren. Die fundamentalen weltanschaulichen Differenzen, die Sorel von Michels unterscheiden, ergeben sich daraus quasi von selbst. Was Sorel mit Intellektuellen wie Michels, aber auch mit Bernstein, verbindet, ist der gemeinsame Ausgangspunkt der Krise des Marxismus. Sorel etwa erkennt sehr wohl, daß der dichotomischen Klassentheorie die empirische Deckung durch die soziale Realität fehlt. Er weiß, daß die „Klassen" vielfältig differenziert sind und daß der Mittelstand nicht, wie noch von der marxistischen Polarisierungsthese prognostiziert, im Schwinden begriffen ist, sondern daß allenfalls der alte durch einen neuen Mittelstand ersetzt wird.

366 Vgl. Arturo Labriola, I travestimenti filosofici del riformismo. Il ,ritomo a Kant', in: Il Socialismo, Nr. 7, 25 maggio 1904, S. 97-100, S. 99, wo es über Kant heißt: „L'etica del dovere che egli predica è l'etica della dominazione e della servitù [...] E Schopenhauer si ribella alla morale kantiana con la nota sentenza: ,Una morale che si attua non per espressione della volontà, ma per imperativo di un obbligo è una morale da schiavi'. Ed è proprio questa morale da schiavi che si vuol oggi inculcare al proletariato in lotta per la propria emancipazione!" 367 Labriola, I travestimenti filosofici del riformismus, S. 100: „Ciò a cui in ultima analisi si tende con tutte queste novelle nuvole che si vogliono imporre al socialismo: ritorno a Kant, dottrina della democrazia, positivismo, ecc., è persuadere al proletariato la rinunzia dell'attiva e pugnace lotta di classe." 368 Vgl. das entsprechende Kapitel bei H. Stuart Hughes, Coscienza e società, a.a.O., S. 40-71: „Gli anni novanta: la rivolta contro il positivismo". 369 Wyndham Lewis, The Art of being ruled, London 1926, S. 128: „Georges Sorel is the key to all contemporary political thought". 370 Im ersten Halbjahr 1906 erschien die gleichnamige Artikelserie im „Mouvement Socialiste", einzelne Artikel erschienen im selben Jahr auch im „Divenire Sociale". Die französische Buchausgabe fällt ins Jahr 1908.

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IV. Am Krankenbett des Proletariats

Sorels Reaktion auf diese Krise der marxistischen Weltanschauung besteht darin, daß er sie soziologisch verwirft und gleichzeitig mythologisch rehabilitiert: Sorel erkennt in der Klassenkampflehre einen außergewöhnlichen mobilisierenden Impetus. 371 Mag sie auch empirisch falsch sein, so eröffnet sie eine Deutung des Geschehens, die als fundierender Mythos kollektiver Identität und kollektiven Handelns fungiert 372 . Im Gegensatz zur allzu komplizierten „Mehrwerttheorie" von Marx vermag der Slogan des „Klassenkampfes" gerade aufgrund seiner Simplizität zum Kampfe anzuspornen. Der zentrale soziale Mythos in Sorels Theoriebeiträgen zum revolutionären Syndikalismus ist aber der Kampf selbst, der Generalstreik und die unmittelbare Gewaltanwendung: in der Realität des Kampfes werden erst jene Freund-Feind-Dichotomien erfahrbar und jene klassenkämpferische Moral, einschließlich der Opferbereitschaft des eigenen Lebens, geboren, zu denen es unter den Bedingungen einer friedlichen Gesellschafitsentwicklung nicht kommt. Erst die Konfrontation von Gewalt und Gegengewalt reduziert die Komplexität der Welt und generiert eine kollektive Identität der proletarischen Krieger, die aus der ökonomischen Entwicklung mit ihren unendlichen Differenzierungen nicht resultiert. In diesem Sinne ist Sorels „Mythos der Gewalt" auch als Reaktion auf den Verlust des revolutionären Subjekts zu lesen, der ein wesentliches Element der Krise des Marxismus ausmacht. Psychologische Verwandtschaftsbeziehungen seiner Lehre mit dem Terrorismus der 1970er Jahre sind daher nicht zufällig. Sorels Mythenlehre bricht dabei völlig mit dem tradierten weltanschaulichen Normenhorizont des marxistischen Sozialismus. Dieser war einst aufgebrochen, um die Versprechen des Liberalismus und der französischen Revolution von „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" auch sozial und materiell einzulösen. Damit begab er sich in eine Kontinuitätslinie der bürgerlichen Revolution, deren Normenhorizont, insbesondere das aufklärerische Menschenbild, er nicht verwarf, sondern aufnahm und hinsichtlich seiner sozialen Voraussetzungen reformulierte. Sorel dagegen kommt es gerade nicht auf die Überwindung der sozialen Ungleichheit und der Ausbeutung an, sein Sozialismus steht auf dem Boden der gegenaufklärerischen Zivilisationskritik. Der Klassenkampf hat bei ihm nicht den Sinn, eine gerechte und friedliche Gesellschaft herbeizuführen, sondern ist Selbstzweck. Er soll die „heldenhafte Auffassung des Krieges" reetablieren, wie man sie von der klassischen Geschichte des antiken Griechenlandes kenne. 373 Er soll in Sorels Konzeption nicht die Herrschaft der Bourgeoisie überwinden, sondern ein sekuritätsfixiertes und allzu friedliebendes Bürgertum aus der Reserve locken. Was Sorel nämlich bedauert, ist ein

371 Vgl. hierzu Sternhell, Entstehung der faschistischen Ideologie, a.a.O., S. 77. 372 Bei Sorel ist der Generalstreik „der Mythos, in dem der Sozialismus ganz und gar beschlossen ist: das heißt eine Ordnung von Bildern, die imstande sind, unwillkürlich alle die Gesinnungen heraufzurufen, die den verschiedenen Kundgebungen des Krieges entsprechen, den der Sozialismus gegen die moderne Gesellschaft aufgenommen hat. Die Streiks haben im Proletariat die edelsten, tiefsten und bewegendsten Gesinnungen hervorgerufen, die es besitzt" (G. Sorel, Über die Gewalt, übersetzt von Ludwig Oppenheimer (1928), mit einem Nachwort von Georg Lichtheim, Frankfurt a.M. 1981, S. 145. Französische Erstausgabe 1908). 373 Sorel, Über die Gewalt, S. 196.

IV.3. Michels und der revolutionäre Syndikalismus

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kulturpessimistisches Szenario, das ihn in vielerlei Hinsicht mit dem deutschen Ökonomen und Soziologen Werner Sombart vergleichbar macht:374 „Die Rasse der kühnen Führer, die die Größe der modernen Industrie begründet hatten, verschwindet, um einer im Übermaß gesittigten Aristokratie Platz zu machen, die wünscht, im Frieden zu leben". „Auf die Entartung der kapitalistischen Wirtschaft propft sich die Ideologie einer eingeschüchterten und von Humanitätsideen erfüllten Bürgerklasse."375 Sorel wünscht ausdrücklich ein Bürgertum, „das die Furchtsamkeit als Schmach ansehen und stolz darauf sein würde, an seine Klasseninteressen zu denken."376 Sein eigentlicher Feind ist die ,„blökende Herde' der Moralisten" und deren „Dogma", daß ,jede Gewalttat ein Übel sei".377 Es ist die Zivilität, die Sorel perhorresziert und eine „Entartung" nennt, die er in letzter Instanz dafür verantwortlich macht, daß sich ein ebenso pazifistisch gestimmter parlamentarischer Reformsozialismus überhaupt hat entwickeln können. Seine Hoffnung, dieses gesellschaftliche Klima zum Umsturz zu bringen, stützt sich auf zwei Szenarien: „ein großer auswärtiger Krieg, der die Energien von neuem stählen könnte und jedenfalls ohne Zweifel Menschen an die Macht bringen würde, die den Willen haben, zu regieren; oder eine starke Ausdehnung der proletarischen Gewalt, die den Bürgern die revolutionäre Wirklichkeit zeigen und ihnen die humanitären Plattheiten verleiden würde, mit denen Jaurès sie einschläfert."378 Sorel verabscheut Jean Jaurès zeit seines Lebens, weil dieser „den europäischen Frieden um jeden Preis aufrechterhalten" und den „proletarischen Gewalttätigkeiten eine Grenze setzen"379 wollte. Jaurès erscheint ihm als „Inbegriff der verhaßten republikanischen Tradition", als Personifikation des „Humanismus und Pazifismus der Aufklärung."380

374 Vgl. zu Sombart die Biographie von Friedrich Lenger, Werner Sombart 1863-1941, 2. Aufl. München 1995; sowie den Literaturbericht von Timm Genett, Comeback des ersten Starsoziologen? Reflexionen zu Werner Sombart, in: Berliner Debatte INITIAL, 9. Jg., Heft 1, 1998, S. 90-104. 375 Sorel, Gewalt, S. 90. 376 Sorel, Gewalt, S. 90. 377 Sorel, Gewalt, S. 226. 378 Sorel, Gewalt, S. 91. 379 Sorel, Gewalt, S. 91. 380 So beschreibt George Lichtheim das anti-jauresianische Feindbild Sorels im Nachwort zu Sorel, Gewalt, S. 371. Diese von Sorel in Permanenz betriebene publizistische Feinderklärung wird sich für Jaurès' tragische Biographie einige Jahre später als ein Todesurteil erweisen. Insofern Sorels Schreibtischkampagnen einen starken Einfluß auf die nationalistische Rechte in Frankreich ausüben, namentlich auf Charles Péguy, ist Sorel zumindest moralisch für jenen tödlichen Schuß in Haftung zu nehmen, den ein nationalistischer Fanatiker am 31. Juli 1914 auf Jaurès abfeuern wird.

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IV. Am Krankenbett des Proletariats

Die ganze Semantik von Sorels mythologischer Reformulierung des Klassenkampfes schwelgt demgegenüber in vorzivilisatorischen Metaphern des ,Opfers' und des ,Heldentums'. Was er predigt, ist weniger ein Konzept des bewaffneten Kampfes, es ist vielmehr ein ästhetischer Bellizismus, der die Empfindung, daß die „proletarische Gewalt [...] etwas sehr Schönes und sehr Heldenhaftes" sei, von allen sie potentiell einhegenden Zweck-Mittel-Kalkulationen entkoppelt.381 Wie Labriola bezieht auch Sorel im Deutungskampf um die angemessene Revision des Marxismus Position gegen die „positivistische Soziologie" und namentlich gegen Enrico Ferri, der für ihn einer jener „zurückgebliebenen Leute" ist, „die an die souveräne Macht der Wissenschaft glauben", und den Sozialismus beweisen wollen, „wie man das Gesetz der kommunizierenden Röhren beweist." 382 Antihumanismus, Antirepublikanismus, Antipazifismus und Antiintellektualismus - unsere Skizze läßt keinen anderen Schluß zu, daß Sorel und Michels zumindest in Michels' syndikalistischer Phase politische Antipoden gewesen sein müssen. Das schließt selbstverständlich nicht den geselligen Verkehr zwischen den beiden aus. Ende 1905 erwähnt Sorel in einem Brief an Michels die sonntagnachmittäglichen Teestunden im Hause von Hubert Lagardelle und denkt, den deutschen Sozialdemokraten bei der nächsten „unserer monatlichen Versammlungen" dort zu treffen. 383 Das Treffen verzögert sich, weil Michels erst im Februar 1906 wieder nach Paris kommt. Das Abendessen im Hause Lagardelle ist allerdings nicht Michels' einzige Verabredung. Seine Reise ist so geplant, daß sie jeden Eindruck eines Exklusivbesuchs bei den Syndikalisten vermeidet: am dritten Februar frühstückt er bei Paul Lafargue, der ihn anschließend zu einer Parteiversammlung eingeladen hat. Auf seine eigene Bitte hin empfängt ihn am neunten desselben Monates Jules Guesde. 384 Beide darf man als entschiedene Antisorelianer einstufen. Andererseits sind es ja nicht die politischen Duftnoten, die über die Zusammenkunft von Intellektuellen entscheiden, sondern der Reiz der intellektuellen Geselligkeit als solcher. Für den jungen Kosmopoliten Michels dürfte die Teilnahme am Sonntagnachmittagstee im Salon Lagardelle allein schon deshalb etwas besonderes sein, weil dieser internationalen Charakter hat, trifft man hier doch u. a. auf so interessante Persönlichkeiten wie den jungen tschechischen Freiheitskämpfer und späteren tscheslowakischen

381 Vgl. auch Isaiah Berlins Kommentar zu Sorels Idee des Generalstreiks: „Empirische Argumente gegen die Möglichkeit und Wünschbarkeit des Generalstreiks sind nicht relevant. Man hat den Verdacht, daß der Generalstreik gar nicht als Theorie einer Aktion gedacht ist, noch weniger als ein Plan, der in der wirklichen Welt ausgeführt werden soll" (I. Berlin, Georg Sorel, a.a.O., S. 452). 382 Zit. η. Sternhell, Entstehung, S. 78. 383 Brief von Sorel an Michels, 13.11.1905, in: Lettere di Georges Sorel a Roberto Michels, a.a.O., S. 3 (zit. η. Sonderdruck 1930) 384 Vgl. die Angaben bei Jean-Luc Pouthier, Roberto Michels et les syndicalistes révolutionnaires français, a.a.O., S. 44-45.

IV. 3. Michels und der revolutionäre Syndikalismus

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Staatspräsidenten Eduard Benes sowie den Michels schon bestens aus dem Hause Lombroso bekannten Kriminalanthropologen Alfredo Niceforo.385 In diesem Kreise dürfte Michels auch die persönliche Bekanntschaft mit Sorel gemacht haben. Auch wenn Sorel, dem damals schon der Ruf des „größten Theoretiker des Syndikalismus" vorauseilt,386 in Michels' Streitschriften zum revolutionären Syndikalismus jener Jahre überraschenderweise so gut wie inexistent ist und allenfalls als negative Kontrastfolie von Michels' Positionen rekonstruiert werden kann, so ist der Theoretiker des Mythos der Gewalt zumindest als Persönlichkeit für Michels offensichtlich eine bemerkenswerte Erscheinung gewesen. Im April 1906 weilt Michels in der Pariser „rue de Seine 7" und notiert in sein Tagebuch: „Georges Sorel ist ganz schön Seigneur, aber ein recht altmodischer Seigneur, sehr bourgeois, und vom Temperament her viel mehr ein Gelehrter (,homme de lettres') als ein Revolutionär. Am Knopfloch trägt er immer das Band der Ehrenlegion, was gewiß nicht dazu beiträgt, ihm einen subversiven Ausdruck zu verleihen. Er wird von seinem Kreis angebetet, der ihm geradezu an den Lippen hängt. Er verschafft sich eine Menge Autorität wegen seines Alters, das unser Durchschnittsalter um mindestens zwanzig Jahre übersteigt, und noch mehr aufgrund seines Benehmens: er ist höchst unnachgiebig, intolerant und herrisch (zu viel, fur meinen Geschmack). Den Juden mißtraut er zutiefst, wie er auch zutiefst den Idealisten mißtraut, die er für gefahrliche Leute und im Zweifelsfall auch für blutrünstig jenseits jeder politischen Notwendigkeit hält (als Beispiel zitiert er die Jakobiner der Französischen Revolution). Den Juden wirft er insbesondere ihre kapitalistische Internationalität vor. Jaurès wird von ihm genauso als Idealist verurteilt, als mauvais apôtre, als faux frère. Mir fällt bei Sorel ein untergründiger Katholizismus von bester Sorte auf. Oft stürzt er sich auf die impurs, auf die petits-maîtres du Bai Tabarin, auf die enjôleurs de femmes, oder er spricht sich entschieden für die voreheliche Keuschheit von Mann und Frau aus, weil seiner Ansicht nach in den zivilen und politischen Kämpfen der Endsieg immer der integersten, konzentriertesten und moralischsten Klasse hold sei."387

385 Informationen zu dem Intellektuellenzirkel im Hause Lagardelle finden sich in: Michels, Lettere di Sorel, a.a.O., FN 1 zu Brief Nr. 1. 386 Insbesondere in Rom sei Sorel ein bekannterer Mann als in Paris, schreibt Michels in „Proletariat und Bourgeoisie", S. 715. 387 Das Tagebuch konnte ich im Archiv der Fondazione Einaudi nicht finden. Das ist bedauerlich, weil das 1929 gedruckte Sorel-Portrait mit Sicherheit die italienische Übersetzung eines ursprünglich auf Deutsch verfassten Textes ist. Vgl. Michels, Lettere di Sorel, FN 4 zu Brief Nr. 1: „Giorgio Sorel è molto signore, ma signore un po' vieux jeu, très bourgeois, e temperamento molto più letterato (,hommes de lettres'), che rivoluzionario. Porta sempre all'occhiello il nastrino della legione d'onore, cosa che non contribuisce certo a dargli un aspetto sovversivo. È adorato dal suo gruppo che pende addirittura dalle sue labbra. S'impone molto per la sua età, superiore di almeno venti anni alla nostra media, e moltissimo per il suo fare. È sommamente intransigente, intollerante et cassant (troppo, per il mio gusto). Degli ebrei egli diffida profondamente, come

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IV. Am Krankenbett des Proletariats

Es fallt auf, daß der „größte Theoretiker des Syndikalismus" Michels nach dem Treffen bei Lagardelle nicht als Vordenker der neuen Linken in Erinnerung geblieben ist, sondern eher als eine skurrile Persönlichkeit, als deren hervorstechenden Charakterzug er wenig später die „Weltabgeschiedenheit" hervorheben wird.388 Als wegweisend für Sorels Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg stellt sich insbesondere das „Band der Ehrenlegion" am Sorelschen Knopfloch heraus: Michels schreibt wenige Jahre später, vermutlich 1912, daß Sorels kompromißloser Antidemokratismus „vorwiegend mit dem privaten und gelehrtenhaften Charakter", „zum Teil auch wieder mit dem grimmigen Haß" zusammenhänge, „mit dem Sorel nicht nur die Regierung, sondern die Republik verfolgt und der ihn schließlich sogar den Monarchisten der Action Française in die Hände getrieben" habe. Neben dem Royalismus der „Camelots du Roy" sei Sorel inzwischen auch der Richtung der „Katholiken" nähergetreten.389 Ganz offensichtlich hat Michels in seinem so ganz unpolitischen und auffällig unsyndikalistischen Portrait Sorels als „altmodischen Seigneur" von 1906 die Vorzeichen der weiteren Entwicklung dieses Mannes durchaus zutreffend erkannt. Jahre später, nach dem Ersten Weltkrieg, nach der Machtübernahme der Faschisten in Italien, wird Michels Sorel in einem ganz anderen Licht, nämlich als genialen politischen Vordenker präsentieren. Aber das spielt an dieser Stelle keine Rolle. Es ist für die Rekonstruktion von Michels' Philosyndikalismus der Jahre 1905 bis 1907 genauso unerheblich wie das, was Michels Ende der zwanziger Jahre retrospektiv über die „syndikalistische Weltanschauung" schreiben wird, nämlich daß sie „den blinden Glauben an Wert und Werk der Majoritäten nicht teilt, sondern den wesentlichen Faktor für die Lösung der sozialen Frage vielmehr in der Schaffung kräftiger und kampfesfreudiger Minoritäten erblickt, die ihres Zieles bewußt und moralisch wie physisch stark genug seien, um dem ungeheuren Druck des Kapitalismus standhalten und durch Ausdauer und Willenskraft die gegenwärtige Gesellschaftsordnung überwinden zu können."390

profondamente diffida anche degli idealisti che ritiene gente pericolosa ed occorendo oltre ogni necessità politica (e cita a tal caso i giacobini della Rivoluzione Francese). Agli ebrei rinfaccia specialmente la loro internazionalità capitalistica. Jaurès è da lui giudicato appunto un idealista, un mauvais apôtre, un fata frère. Mi colpisce nel Sorel il fondo cattolico, di ottima lega. Spesso egli si scaglia addosso agli impurs, ai petits-maîtres du Bal Tabarin, agli enjôleurs de femmes, e si dichiara recisamente in favore della castità prematrimoniale, maschile e femminile, perchè nelle lotte civili e politiche, la vittoria finale sorride a suo avviso sempre alla classe più integra, più concentrata, più morale". 388 Vgl. Michels' Rezension von Agostino Lanzillo, Giorgio Sorel, Roma 1910, in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, Bd.II Heft 2/3, 1912 [das Jahr ist auf dem Autorensonderdruck handschriftlich mit einem Fragezeichen vermerkt], S. 490-492. 389 Dieses Resümee der postsyndikalistischen Entwicklung Sorel bis zum Ersten Weltkrieg findet sich in Michels, Rez. zu Lanzillo, a.a.O., S. 491. 390 Michels, Die Verelendungstheorie, Studien und Untersuchungen zur internationalen Dogmengeschichte der Volkswirtschaft, Leipzig 1928, S. 126.

IV.3. Michels und der revolutionäre Syndikalismus

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Dieser elitär-antidemokratische Syndikalismus ist, vorsichtig ausgedrückt, eine späte Erkenntnis des späten Michels. Im ersten Dezennium des 20. Jahrhunderts ist der Verfechter der „demokratischen Republik" von derartigen Positionen nicht nur denkbar weit entfernt, er hat sie im besagten Zeitraum noch nicht einmal wahrgenommen! Auch dies ist ein Beleg dafür, wie vorsichtig man mit Michels' Retrospektiven aus den zwanziger und dreißiger Jahren umgehen sollte. Zur Methode einer strengen Rekontextualisierung und Separierung der unterschiedlichen Entwicklungsabschnitte gibt es im Fall Michels keine Alternative. Daher zurück ins Jahr 1905. Wie schon in den vorherigen Wendepunkten in Michels' sozialdemokratischer Phase, sei es sein Eintreten für die revolutionäre' Resolution von Dresden, sei es seine Identifikation mit dem vagen Slogan des ,/evolutionären Revisionismus", ist auch seine Sympathie für den revolutionären Syndikalismus und die damit verbundene Suche nach einem ,revolutionären' Revitalisierungsagenten der Arbeiterbewegung als Reaktion auf und abstrakter Ausdruck von politischen Problemstellungen zu verstehen, die im folgenden zu rekonstruieren sind. Dabei werden wir sehen, daß an Michels die beiden großen Themen des Jahres 1905 - die russische Revolution und die Massenstreikdebatte so gut wie vorbeigehen.391 Der russischen Revolution widmet er sich in keinem einzigen Aufsatz, zur Streikdebatte äußert er sich nur marginal. Die Schwerpunkte seiner Publizistik 1905 und 1906 bilden dagegen die Oligarchisierung der Partei- und Gewerkschaftspolitik einerseits, die Gefahr eines europäischen Krieges andererseits. Letztere wird bei Michels zur Probe auf die sozialdemokratische Fähigkeit, im Kriegsfall einen antimilitärischen Widerstand zu organisieren. Die Treffen mit Vertretern des revolutionären Syndikalismus in Frankreich stehen auch unter diesem Vorzeichen eines im Kontext der Marokko-Krise drohenden Krieges zwischen Deutschland und Frankreich. Denn allem Sorelianismus zum Trotz gibt es auch im französischen Syndikalismus Pazifisten, die sich zumindest in der Kriegsfrage auf den Standpunkt von Jean Jaurès stellen: ζ. B. Victor Griffiielhes.392

391 Diese wichtige Beobachtung findet sich erstmals bei Ferraris (Saggi, a.a.O., S. 93), der auch als erster über die beiden in Michels' individueller Optik an die Stelle dieser ,Großereignisse' tretende Kritik der Gewerkschaftsoligarchie und die drohende Kriegsgefahr im Kontext der MarokkoKrise geschrieben hat. Michels' Reaktion unterstreicht indirekt noch einmal deutlich, wie sehr ihm jegliche Revolutionsromantik ferngelegen hat. 392 Zu Griffiielhes' und Michels' Bemühungen um eine antimilitaristische Internationale vgl. das Kapitel IV.5: Probelauf für den Weltkrieg.

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IV. Am Krankenbett des Proletariats

IV.4. Die Entdeckung der Oligarchie im Kontext der Massenstreikdebatte ( 1905) „Skatclub bleibt Skatclub, auch wenn er sich , Skatclub Freiheit' nennt." (Michels 1906) 393

4.1. Die Gewerkschaften: eine Reichsberatungsstelle für Sozialpolitik Das Jahr 1905 beginnt mit einem doppelten Paukenschlag: am 5. Januar treten die Bergarbeiter an der Ruhr in einen spontanen Streik, an dem sich bis zum Streikabbruch am 19. Februar über 220.000 Arbeiter beteiligen sollen. Zwei Wochen später, am 22. Januar bricht mit dem „Petersburger Blutsonntag" die russische Revolution aus, von der aus eine Welle revolutionärer Erwartungen durch ganz Europa geht. Dem Ruhrarbeiterstreik werden in Deutschland weitere Arbeitskämpfe, Ausstände und Aussperrungen folgen: namentlich im rheinländischen und westfälischen Baugewerbe, in der bayrischen Metallindustrie, der Dresdner Tabakindustrie und der Berliner Elektroindustrie. In diesem einen Jahr werden mehr Arbeitsstunden verloren gehen und wird die Beteiligung an Arbeitskämpfen höher sein als in dem gesamten Zeitraum von 1900 bis 1904.394 In diesem Klima der „revolutionsromantischen Wogen"395 scheint die Parteilinke in der SPD um Liebknecht, Luxemburg und Parvus-Helphand zeitweilig sogar ,mehrheitsfähig' zu sein, drängen doch unter dem Eindruck der frohen Kunde aus Russland plötzlich viele auf Aktionen auch im Reich. Karl Kautsky nimmt in diesem Zusammenhang einen schier „überschäumenden Enthusiasmus für den Massenstreik"396 wahr. Man könnte an dieser Stelle das Stichwort „Massenstreik" aufnehmen und die um diesen Begriff kursierende Debatte sozialdemokratischer Intellektueller mit ihren eindrucksvollen Begriffselaborationen beleuchten; etwa die Unterscheidung von „Demonstrationsstreiks" - mit der vorrangigen Zielsetzung einer moralischen Eroberung der öffentlichen Meinung - und „Pressionsstreiks", deren Zieldefinition darauf hinausläuft, über den Arbeitskampf die Regierung zu politischen Maßnahmen zu zwingen. Man könnte darüber hinaus zeigen, daß manche Autoren den Generalstreik als Mittel zum revolutionären Entscheidungskampf verstehen und andere, wie etwa Bernstein oder Hilferding, den Generalstreik als eine „regulative Idee der sozialdemokratischen Taktik"397 begreifen, d. h. als ein begleitendes Kampf- und Drohmittel, mit dem bestehende soziale und politische Rechte verteidigt und die parlamentarischen Machtmöglichkeiten

393 394 395 396

Michels, Die deutsche Sozialdemokratie, a.a.O., S. 539. Vgl. Dieter Groh, Emanzipation und Integration, a.a.O., S. 376. So ein kritisches Wort Paul Müllers, zit. n. Groh, S. 388. Karl Kautsky, Der politische Massenstreik. Ein Beitrag zur Geschichte der Massenstreikdiskussion innerhalb der deutschen Sozialdemokratie, Berlin 1914, S. 109. 397 So Rudolf Hilferding, zit. n. Gilcher-Holtey, Mandat, S. 190. Ebd., S. 184-197, findet sich auch ein guter Überblick über Genese und Typologie der sozialistischen Massenstreikdiskussion bis 1905. Zu Bernsteins Überlegungen, den Massenstreik als Hebel zur Transformation der politischen Ordnung zu nutzen, vgl. dessen Aufsatz „Politischer Massenstreik und Revolutionsromantik", in: Sozialistische Monatshefte, Jg. 12, Nr. 1, 1906, S. 12-20.

IV.4. Die Entdeckung der Oligarchie im Kontext der Massenstreikdebatte

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ausgebaut werden sollen. Darüber hinaus ließe sich zeigen, daß Autoren w i e Nieuwenhuis und Parvus, aber auch Oda Olberg weniger instrumentelle, als vielmehr existentielle Konzeptionen des Generalstreiks vertreten, die weniger einer Mittel-Zweck-Kalkulation folgen, als vielmehr die aus dem Arbeitskampf resultierende Radikalisierung des Klassenbewußtseins und damit den Selbstzweck v o n Streikaktionen unterstreichen. 398 Dies wäre allerdings ein Exkurs, der an unserem Thema größtenteils vorbeigehen würde. Insofern nämlich unter der Massenstreikdebatte im engeren Sinne das Ringen u m normative und strategische Konzeptionen des Generalstreiks verstanden wird, hat Robert Michels an dieser Diskussion nicht teilgenommen. 3 9 9 Michels dürfte im übrigen

398 Vgl. Ralph Bollmann, a.a.O., S. 29, der diese Terminologie in Anlehnung an Herfried Münkler verwendet. Vgl. hierzu H. Münkler, Instrumentelle und existentielle Auffassung des Krieges bei Carl von Clausewitz, in: ders., Gewalt und Ordnung. Das Bild des Krieges im politischen Denken, Frankfurt a.M. 1992, S. 92-110. 399 In Anbetracht des überkommenen syndikalistischen Profils in der Michels-Rezeption hätte man eigentlich einen in der Massenstreikdebatte besonders engagierten Michels erwarten können. Es ist Ferraris gewesen (Saggi, S. 93), der m. W. als erster diese Abwesenheit von Michels festgestellt hat. Als einziger Beitrag zu diesem Thema in normativer Hinsicht wäre allenfalls ein zwar in drei Sprachen erschienener, aber in Kürze wie Substanz recht dürftiger Artikel über die „Gerechtigkeit des Streiks" zu nennen. Vgl. R. Michels, La giustizia dello sciopero e il socialismo marxista, in: Il Divenire Sociale, 1. Jg., Nr. 15, 1905, S. 235-236; ders., Over de „rechtvaardigheid" der werkstaking, in: De Nieuwe Tijd, lO.Jg., Nr. 7/8, 1905, S. 480-484; ders., Über die Gerechtigkeit des Streiks, in: Polis. Sozialpsychologische Rundschau, 1907, 4 Seiten (Sonderabdruck ohne nähere Angaben im ARMFE). Michels läßt hier die kompliziertere Frage nach dem instrumentellen Wert von Streikaktionen außen vor, um den Streik in einer eher metaphysischen, sich der marxistischen Geschichtsphilosophie bedienenden Argumentation als prinzipiell gerecht zu legitimieren: „Natürlich", schreibt er, sei „nicht jeder Streik vernünftig, taktisch richtig oder mit den Gegenwartsinteressen der Arbeiterschaft vereinbar". Von der instrumentellen Bewertung aber einmal abgesehen, sei aufgrund des Gegensatzes von Lohnarbeit und Kapital jeder Arbeitskampf gerecht, „sofern er nicht in absolut verbrecherischer Form auftritt". Unter kapitalistischen Verhältnissen stehe zwar das Recht des Verkäufers seiner Arbeitskraft gegen das Recht des Käufers und würden beide Rechte durch das Gesetz von Angebot und Nachfrage bestimmt, was zur Folge habe, daß zwischen beiden Rechten die temporäre Machtposition entscheide. Geschichtsphilosophisch hebt sich dieser innere Widerspruch für Michels, der sich an dieser Stelle auf Marx bezieht, dadurch auf, daß „einer späteren Generation [...] der Privatbesitz an Grund und Boden (sowie natürlich der übrigen Arbeitsmittel) zweifellos ebenso absurd vorkommen" werde, „wie dem heutigen Geschlecht bereits das Privateigentum an Menschen, das heißt die Sklaverei, als unmöglich erscheint. Also: Das wirtschaftliche Recht [...] liegt allerdings auf der Seite des Stärkeren, aber das historische und sittliche, das sozialökonomische Recht, kann nur auf der einen der beiden Seiten liegen. Früher auf seiten der Bekämpfer der Sklaverei, jetzt auf seiten der Bekämpfer des Privateigentums". Gemessen an dem Differenzierungsniveau, auf dem sich zu diesem Zeitpunkt die Massenstreikdebatte bewegt, ist dieser bescheidene Beitrag unterkomplex und abstrahiert vollends von den konkreten Bedingungen einer Streiksituation. Der Artikel erlaubt noch nicht einmal eine programmatische Zuordnung von Michels zu den existentiellen oder metaphysischen Generalstreikkonzeptionen in der Massenstreikdebatte, weil Michels an anderer Stelle den Generalstreik auch

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IV. Am Krankenbett des Proletariats

auch das seltene Beispiel eines Linksradikalen um 1905 sein, der nicht eine einzige Stellungnahme zur russischen Revolution verfaßt400 und nur am Rande, und äußerst

auf seine Erfolgsaussichten, d. h. seinen instrumentellen Wert hin bewertet wissen wollte und vor seinem vorschnellen Einsatz gewarnt hat (Vgl. Michels, La crisi psicologica del Socialismo, in: Rivista italiana di Sociologia, anno XIV, Fase. III-IV, Maggio-Agosto 1910, S. 13). Der eigentliche Sinn von Michels' geschichtsphilosophischer Herleitung der „Gerechtigkeit des Streiks" erhellt sich aus dem polemischen Kontext, in dem er geschrieben worden ist: gegenüber dem holländischen Sozialisten Josef Loopuit hat Michels etwas später erklärt, daß sein Artikel als Reaktion auf konservative und liberale Autoren zu verstehen sei, die zuvor die Illegitimität des Ruhrarbeiterstreiks proklamiert hatten. Bei dieser Gelegenheit hat er sich übrigens gegen den Vorwurf verwahrt, anarchosyndikalistischen Konzepten des Generalstreiks anzuhängen, und sich auf „marxistische" Autoritäten wie Rosa Luxemburg und Henriette Roland-Holst berufen. Vgl. R. Michels, Lets over de betrekking tusschen ethiek en klassenstrijd, in: De Nieuwe Tijd, 10. Jg., Nr. 9, S. 598-607. Die Kontroverse zwischen Michels und der holländischen Sozialdemokratie über die „Gerechtigkeit des Streiks" dokumentiert und analysiert Corrado Malandrino, Una polemica di Michels con la socialdemocrazia olandese sulla „giustizia dello sciopero" (1905), in: Faucci (Hg.), Michels, a.a.O.,S. 123-134. Michels' Selbstverteidigung gegen den Vorwurf des „Anarchosyndikalismus" ist auch deshalb zu unterstreichen, da diese Klassifizierung von Michels' Engagement in der Studie von Wilfried Röhrich von zentraler Bedeutung ist. Röhrich hat Michels' Äußerungen zum Streik ein ganzes Kapitel („Die revolutionäre Aktionsform") gewidmet, obwohl Michels substantiell und konzeptionell zum Streik so gut wie gar nichts beiträgt, sondern ihn nur sehr allgemein als Mittel der außerparlamentarischen Aktion begrüßt. Röhrich rückt Michels darüber hinaus auch, was sich anhand der Quellen aber nicht belegen läßt, einerseits in die Nähe der sorelianischen Gewaltstreiksidee und ordnet ihn andererseits dem „Anarcho-Syndikalismus" Raphael Friedebergs zu (Röhrich 1973, S. 26-34). Zu diesem Thema sei nur kurz bemerkt: August Bebel hatte Friedeberg auf dem Parteitag zu Jena 1905 mit einer Spottrede scharf angegriffen; als dieser sich verteidigen wollte, wurde ihm das nicht gestattet, weil kurz zuvor ein Antrag Bebels die Mehrheit gefunden hatte, allen Nicht-Delegierten in Jena das Rederecht zu verwehren. Es ist dieser Kontext, in dem Michels Partei für Friedeberg ergreift - im Sinne eines Rechtes des Angeklagten auf Verteidigung. Michels Kennzeichnung der Friedebergschen Positionen - „antimarxistisch" und „antiparlamentarisch" - läßt dagegen auf einen inhaltlichen Dissens schließen (Vgl. Michels, Le socialisme allemand et le congrès d'Ièna, in: Mouvement Socialiste, Doppelnummer vom 1 ./15.11. 1905, S. 281-307; S. 287f.) Dieser inhaltliche Dissens wird noch deutlicher, wenn wir in das Parteitagsprotokoll von Jena schauen. Dort äußert sich Michels wie folgt: „Ich stimme mit Friedeberg nicht überein in vielen Punkten, so nicht in seiner Polemik gegen Marx. Die deutsche Sozialdemokratie krankt nicht an zu viel Marx, sondern an zu wenig Marx. (Sehr richtig!) Nicht einverstanden bin ich mit ihm in seiner bodenlosen Unterschätzung des Parlamentarismus und in seiner Überschätzung des Psychismus". Was Michels mit Friedeberg gemeinsam hat, ist ihre Kritik am exklusiv parlamentarischen Kurs der Partei. (Vgl. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten zu Jena vom 17. bis 23. September 1905, Berlin 1905 (Reprint Osaka 1970), S. 325). Bereits zuvor, in dem Aufsatz über „Les dangers du parti socialiste allemand" (a.a.O., S. 207-208) hatte Michels Friedebergs Propagierung eines exklusiven Gewerkschaftssozialismus in Deutschland widersprochen. 400 Dieser Umstand ist keine Erklärung, aber möglicherweise doch symptomatisch für Michels' ideologisch denkbare, aber fragmentarisch gebliebene Anbindung an die radikale Linke in der

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skeptisch, auf ihre Rezeption zu sprechen kommt: „die russische Revolution ist von vielen von uns nur als Sensation betrachtet worden", 401 sie sei „nur melodramatisiert" 402 worden. Möglicherweise ist es aber gerade diese eigentümliche Optik, die sich für die theoretische Streikdebatte kaum interessiert 403 und in der die russischen Ereignisse keinerlei Beachtung finden, die Michels zu einer ganz anderen Bewertung der Zeitzeichen kommen läßt als viele seiner enthusiasmierten Parteigenossen. Diese nämlich rechnen wie Kautsky, Luxemburg und Mehring - die Ereignisse in Osteuropa und Deutschland zu einem revolutionären Trend hoch und wähnen sich in einer „neuen Epoche der menschlichen Entwicklung" 404 Michels' Signatur des Jahres 1905 wird dagegen lauten: „Die preußische Reaktion bekommt Hochwasser: vivit, crescit, floret"?05 Symptomatisch für diese skeptische Haltung ist es, daß Michels' Streik-Publizistik sich eben nicht um das Veränderungspotential dreht, die ein Massenstreik böte, sondern vielmehr darum, warum die verantwortlichen Funktionsträger in Gewerkschaften und Partei alles tun, um die Anwendung außerparlamentarischer Kampfmittel zu bremsen und zu unterbinden. Es ist die Unwahrscheinlichkeit eines Generalstreikes in Deutschland, die Michels in fast all seinen Aufsätzen zum Thema konstatiert. Sein Augenmerk richtet sich dabei von Beginn an auf die ,andere' Seite der Streikdebatte: auf den demonstrativen Widerwillen der freien Gewerkschaften, dieses Thema überhaupt zu behandeln. Sie nämlich, die aus organisatorischen Gründen der allererste Adressat für die praktische Umsetzung der vielfaltigen theoretischen Überlegungen gewesen wären, behaupten ihre politische Neutralität und lehnen mehrheitlich die Politisierung des Streiks mit den Worten Ignaz Auers ab: „Generalstreik ist Generalunsinn". 406 Daher ist es auch ein müßiges Unterfangen, Michels nachträglich einer bestimmten theoretischen Richtung in der Massenstreikdiskussion zuzuordnen, sei diese ,bern-

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SPD. Vermutlich waren hier Diskrepanzen in der politischen Aufmerksamkeit entscheidend. Während etwa Rosa Luxemburgs revolutionärer Revisionismus nicht zuletzt auch biographisch von osteuropäischen Erfahrungen geprägt war, richtete sich Michels' politische Optik vorrangig auf die Kontroversen in Deutschland, Italien und Frankreich, auf „Vizepräsidentenfrage", „Millerandismus" und „Turatianismus". So auf dem SPD-Parteitag in Jena, Protokoll, a.a.O., S. 325. Michels, Die deutsche Sozialdemokratie im internationalen Verbände, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 25, H. 1, 1907, S. 148-231, S. 164. Leider ist ein Brief von Michels an Ladislaus Gumplowicz verschollen, in dem er sich zur Unterscheidung von „ökonomischen" und „politischen" Streik geäußert hat. Vgl. das Antwortschreiben von Gumplowicz, Juni 1906, in: Timm Genett, Lettere di Ladislaus Gumplowicz a Roberto Michels (1902-1907), in: Annali della Fondazione Luigi Einaudi, Vol. XXXI-1997, S. 417-473, S. 463-466. So Franz Mehring, Ein Jahr der Revolution, in: Neue Zeit, Bd. 24, H. 1, 1905/6, S. 440f. Michels, Congrès d'Ièna, S. 282: „La ráction prussienne est à sa marée: vivit, crescit, floret. Das Zitat von Auer findet sich in: Protokoll der Verhandlungen des fünften Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands, abgehalten zu Köln vom 22. bis 27. Mai 1905, Berlin 1905, S. 221.

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steinianisch' oder revolutionär', ,spontaneistisch' oder ,sorelianisch'. 407 Der Generalstreik ist für Michels in erster Linie eine Chiffre für die Revisionsbedürftigkeit der exklusiv parlamentarischen und legalen Taktik von Partei und Gewerkschaften, eine Chiffre für den Anspruch, die außerparlamentarischen und ,klassenkämpferischen' Aktionsformen des Proletariats wiederzubeleben, weil der Parlamentarismus allein sich als unfruchtbar erwiesen habe, „neue Volksrechte zu kreieren, ja selbst Verschlechterungen bestehender Volksrechte energisch entgegenzutreten". Michels' Generalstreikbegriff ist vor diesem Hintergrund komplementär und nicht kontradiktorisch zur parlamentarischen Aktionsform zu verstehen. Er ist zudem historisch, insofern Michels das Aufkommen des Begriffs aus dem politischen Kontext erklärt: „Das Staatsrecht hielt nicht Schritt mit der Revolutionierung der Köpfe [...] So wuchs im internationalen Proletariat die Unzufriedenheit; laut ertönte der Ruf nach neuen Waffen, da die alten schartig geworden. Und es kam der Generalstreik, die friedliche Kreuzung der Arme, nicht zum Zweck des Schachmattsetzens der bürgerlichen Gesellschaft, der Einführung des Sozialismus, der Eroberung der politischen Macht, sondern zunächst lediglich zur Durchsetzung einer kleinen Abschlagszahlung, zur Durchsetzung von Volksrechten parlamentarischer Observanz, oder gar, noch bescheidener, zur Abwehr reaktionärer Maßregeln." 408 Entsprechende Generalstreiks zur Verteidigung oder zur Erlangung von Rechten waren in jenen Jahren namentlich in Belgien und Schweden (1902), Holland (1903) und Italien (1904) durchgeführt worden, gefolgt von Solidaritätsstreiks in anderen Ländern. Die SPD dagegen sei, von den dänischen Genossen einmal abgesehen, „die einzige Partei im internationalen Sozialismus geblieben, deren Taktik den Generalstreik, wie überhaupt jedwede Form der direkten Aktion, selbst die friedliche Straßendemonstration ausschließt, und das, obgleich gerade sie die geringsten Aussichten zu anderweitiger [...] erfolgversprechender Betätigung hat." 409 Es ist dieser Kontext, aus dem sich der Sinn von Michels' Generalstreikpublizistik erst erschließt. Mag ihn auch mit der radikalen Linken zuweilen der Umstand verbinden, daß er die Reduzierung des Generalstreiks auf ein defensives Kampfmittel zur Verteidigung bestehender Rechte ablehnt und im Generalstreik prinzipiell auch ein probates offensives Kampfmittel sieht;410 mag er darüberhinaus in der Kriegsfrage, wie wir noch

407 Corrado Malandrino (ders., Una polemica ..., a.a.O., S. 134) lokalisiert Michels in der Streikfrage recht vage auf der „mezza strada" zwischen dem „marxistischen Revisionismus von links" und dem „Arbeitersozialismus" eines Hubert Lagardelle. 408 Michels, Die deutsche Sozialdemokratie im internationalen Verbände, a.a.O., S. 176. 409 Michels, Internationaler Verband, a.a.O., S. 179. 410 Das erschließt sich aus seiner Kritik an Bebels Rede zum Massenstreik auf dem Jenenser Parteitag. Siehe unten.

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sehen werden,411 als Anwalt des internationalen ,Militärstreiks' auftreten. Im Kern geht es aber durchgehend um die Frage, warum die Arbeiterorganisationen in Deutschland außerparlamentarische Aktionsformen, wie auch immer sie beschaffen sein mögen, zu umgehen versuchen. Diese Frage wird bei Michels in die pessimistische Diagnose münden, daß die deutsche Arbeiterbewegung trotz ihrer numerischen Größe nicht in der Lage ist, auf die Politik des Reiches einen nennenswerten Einfluß auszuüben. Dabei unterscheidet er sich drastisch von Karl Kautsky, der den Generalstreik prinzipiell als ein taugliches Mittel zur „Eroberung der politischen Macht" verteidigt, ihn aber für die konkrete Situation des Jahres 1905 unter anderem aufgrund der noch nicht ausreichenden Organisation des Proletariats für eine derartige Konfrontation mit Staat und Unternehmern ausgeschließt.412 Bei Michels wird es im Gegenteil das im Vergleich zu allen anderen Ländern besonders hohe Organisationsniveau der deutschen Arbeiterbewegung sein, in dem er allmählich das größte - und zwar nicht technische, sondern psychologische - Hindernis für die Anwendung des Generalstreiks erblickt. In anderen Worten: wenn Michels der normativen Massenstreikdebatte kaum Beachtung schenkt, dann dürfte dies auch seinen Grund darin haben, daß er zu diesem Zeitpunkt, im Frühjahr 1905, immer mehr auf die Gegentendenzen im Innern der Arbeiterbewegung zu sprechen kommt, insbesondere auf das Thema der Dissoziation von politischen Werten und politischer Organisation, in der die Eigeninteressen der letzteren die Anwendung »ungesetzlicher' Aktionsformen immer unwahrscheinlicher machen. Nicht die Partei gibt dazu den Anstoß, sondern das Verhalten der Gewerkschaften während und in Folge des Ruhrarbeiterstreiks. Die Gewerkschaften sind es auch, in denen Michels, der zur Zeit des Ruhrarbeiterstreiks die Brennpunkte Elberfeld (Westfalen) und das Ruhrbecken besucht, erstmals die Ausmaße einer „oligarchischen Ordnung"413 erkennt, in der das Projekt der „Demokratisierung der Massen" (Michels)414 sein Ende finden und zu scheitern droht. Die auffallige Skepsis, die Michels 1905 an den Tag legt, zeigt sich bereits in seiner Analyse des Ruhrarbeiterstreiks. Dieser ist ihm alles andere als ein Anlaß, emphatisch den ,Arbeitersozialismus' und die .direkte Aktion' zu beschwören. Obwohl hier die Basis einen Streik initiiert hat, den die Gewerkschaftsführer offensichtlich nicht wollten, macht Michels allein das defizitäre demokratische Selbstbewußtsein der Arbeiterschaft zum Thema. Dem Streik vorausgegangen waren Lohnkürzungen und Arbeitszeitverlängerungen, gefolgt von der Weigerung der Grubenunternehmer, sich mit den Gewerkschaftsvertretern an den Verhandlungstisch zu setzen. Bevor die Grubenarbeiter endlich selbst die

411 Vgl. das folgende Kapitel „Probelauf für den Weltkrieg". 412 Vgl. Gilcher-Holtey, Mandat, S. 192. 413 Michels, La grève générale des mineurs de la Ruhr, in: Mouvement Socialiste, a. VII, η. 152, 1. April 1905, S. 481-489; hier und im folgenden zitiert nach der italienischen Übersetzung „Lo sciopero generale dei minatori della Ruhr", in: Roberto Michels, Potere e Oligarchie. Antologia 1900-1910; a cura e con introduzione di Ettore A. Albertoni, Milano 1989, S. 167-179, S. 176. 414 Vgl. Michels' im selben Jahr formulierte Antwort auf die Frage des Frauenwahlrechts in: Il voto alla donna?, a.a.O., S. 97.

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Initiative in die eigene Hand nahmen und dem Zaudern ihrer Vertreter ein Ende bereiteten, hätten sie, so Michels' Diagnose, viel zu lange an die Gewerkschaftsleitung appelliert, den Streik zu proklamieren. „Ein trauriger Beweis dafür, daß eine lange Periode des Arbeiterbürokratismus die Massen vergessen lassen kann, daß sie selbst es sind, die ihre Aktionen beschließen müssen."415 Für die Erfolgsaussichten des Streiks habe dies aber desaströse Folgen gehabt, weil so einige Wochen ins Land gegangen seien, mit der Folge, daß die verspätete Proklamation der Aktion jeglichen Überraschungseffekt genommen habe und die Unternehmerschaft entsprechend vorbereitet gewesen sei. Diese Kritik läßt sich durchaus als eine implizite Sympathie für spontaneistische Aktionsformen lesen. Für den im Ergebnis enttäuschenden Verlauf des Streiks sei weiter entscheidend gewesen, daß „ein Generalstreik der Ruhrarbeiter nur Erfolg haben kann, wenn er tatsächlich allgemein ist. Das heißt international. Denn wenn die Bergwerke nicht überall die Arbeit eingestellt haben, wird das Kapital, in der Konzentrationsphase, in der es sich aktuell in den Industrieländern befindet, überhaupt nicht in Verlegenheit gebracht: es ist ihm ein leichtes - und nicht einmal von allzu großem Nachteil die Kohle, die die .nationalen' Bergwerke nicht liefern, aus den ausländischen Gruben kommen zu lassen."416 Das strategisch unverzichtbare Etappenziel, den Unternehmern den Weg zur Substitutkohle abzuschneiden, habe die Gewerkschaftsleitung selbst in zweierlei Hinsicht vereitelt: innerhalb Deutschlands habe sie alles getan, um einen Solidaritätsausstand der Bergarbeiter Sachsens, Schlesiens und Süddeutschlands zu verhindern. Die belgischen Arbeiter dagegen, die in einen Sympathiestreik mit den Deutschen getreten waren, habe die Gewerkschaftsleitung bei ihrem abrupten Abbruch der Aktion im Stich gelassen. Für eine weitergehende Internationalisierung des Arbeitskampfes habe sie sich ohnehin nicht eingesetzt. In der undemokratischen Weise seines Abbruchs aber besteht für Michels der unrühmliche Höhepunkt und das größte Skandalon des Streiks: Hatte die Streikkommission bis zuletzt und im Einklang mit den Streikenden die Fortsetzung des Streiks

415 Michels, Sciopero generale dei minatori della Ruhr, a.a.O., S. 169: „Di contro, gli operai, per parte loro, non avevano cessato di fare appello allo sciopero ... che essi chiedevano di far dichiarare ai loro deputati sindacali! Triste prova di ciò che può un lungo periodo di burocratismo operaio per far dimenticare alle masse che esse stesse devono decidere le loro azioni." 416 Michels, Sciopero della Ruhr, S. 177: „Per la sua propria essenza, uno sciopero generale dei minatori non può riuscire che quando è effettivamente generale. Cioè internazionale. Perché se le miniere non hanno smesso di lavorare dappertutto, il capitale, nella fase di concentrazione in cui si trova attualmente nei paesi industriali, non viene affatto messo in imbarazzo: gli è facile - e neanche troppo svantaggioso - far arrivare dalle miniere straniere il carbone che le miniere Razionali' non forniscono. Fin tanto che il mondo capitalista può procurarsi di che riscaldare le macchine importandolo, il mondo capitalista lo importa".

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zumindest für so lange proklamiert, bis die Unternehmer wenigstens auf eine der Forderungen eingehen würden, so verkündete sie mit einem Mal das Gegenteil: „Eine Versammlung irregulär gewählter Delegierter - kaum 170 ... die 230.000 Streikende repräsentieren sollten - traf sich hinter verschlossenen Türen, ohne jedes Wissen der Mandanten, und beschloß bei sechs Gegenstimmen, den Streik zu unterbrechen. So endete der Streik, der durch den Willen der erzürnten Massen gegen den Widerstand der Führer begonnen worden war, durch den Befehl der letzteren; das Ende der Bewegung wurde von oben von einer Handvoll R e legierter' durchgesetzt, ohne daß die Streikenden, die mit all ihrer Energie für den Streik eingetreten waren, eine minimale Gelegenheit gehabt hätten, sich mit ihren eigenen Angelegenheiten zu beschäftigen." 417 Auch wenn man Michels' - angesichts einer wochenlangen und bis dato erfolglosen Streikaktion - wahrscheinlich zu optimistischen Einschätzung des Durchhaltevermögens der Ruhrarbeiter nicht folgen möchte, so sprechen dennoch einige zeitgenössische Quellen dafür, daß der Streikabbruch tatsächlich gegen den Willen zumindest „vieler" Mitglieder durchgesetzt worden ist.418 Der von Michels angesprochene Konflikt zwischen Basis und Leitung ist so gesehen keine radikaldemokratische Legende. Andererseits ist es aber auch eine Tatsache, daß dieser Konflikt zwischen Basis und Leitung folgenlos blieb und sich letztlich alle Streikenden der Entscheidung von oben fügten, und - wie Michels selbst schreibt - „die 230.000 Streikenden [...] demütig und ohne Bedingungen zu ihren Arbeitgebern [gingen] und [...] diese um Arbeitserlaubnis [baten]. Vielen gelang es nicht einmal, dies zu erreichen!" 419 Die Ereignisse im Ruhrgebiet und in Westfalen im Frühjahr 1905 sind für Michels die Geburtsstunde der Oligarchiethese gewesen. Von nun an sieht er im „bürokratischen und oligarchischen Geist" der Gewerkschaften die tiefere Ursache dafür, daß der erste große Massenausstand im Ruhrgebiet seit 1889 so kläglich versagte. 420 Den Stil der 417 Michels, Sciopero della Ruhr, S. 175: „Una assemblea di delegati non regolarmente eletti - appena 170 ... che avrebbero dovuto rappresentare 230.000 scioperanti - si rinunì e a porte chiuse, e all' insaputa dei mandanti, deliberò, con sei voti contrari, di interrompere lo sciopero. Cosi lo sciopero, che era cominciato per volontà delle masse irritate, contro la resistenza dei capi, finì per ordine di questi ultimi, la fine del movimento fu imposta dall'alto da un pugno di .delegati', senza che gli scioperanti, che avevano voluto lo sciopero con tutta la loro energia, avessero avuto la minima occasione di occuparsi dei loro propri affari." 418 Vgl. Dieter Groh, Emanzipation und Integration, S. 378. 419 Michels, Sciopero della Ruhr, S. 176: „I 230.000 scioperanti andarono umilmente ed incondizionamente a chiedere ai loro padroni - i quali, sì, avevano tenuto duro - di essere nuovamente ammessi al lavoro. Molti non riuscirono ad ottenere neanche questo!" 420 Vgl. Michels, A propos de la grève de la Ruhr, in: Mouvement Socialiste, a. VII, Nr. 158, 1. Juli 1905, S. 341-344, S. 341: „Je ne suis pas d'ailleurs le seul à juger que la grève des mineurs de la Rhur [sic] a misérablement échoué, en partie par la faute des ,chefs'. Je ne suis le seul à constater que la conduite de ces ,chefs' a non seulement été faible et regrettable, mais encore dictée par le pire esprit bureaucratique et oligarchique".

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politischen Diskussion seitens der Gewerkschaftsfíihrung, weit entfernt von seinem Ideal einer sozialen Pädagogik und Erziehung zu demokratischem Selbstbewußtsein, dechiffriert er als Geheimlehre der Macht: „Die ,Untertanen' in der Unwissenheit zu belassen ist seit jeher die Taktik der ,Machthaber' gewesen."421 Damit korrespondiert die Intellektuellenfeindlichkeit des Gewerkschaftsmilieus, das die „Wissenschaftler des Sozialismus", unbequeme Revisionisten wie Bernstein eingeschlossen, als „Störenfriede" verachte, weil ihre Ideen nur Unruhe stiften.422 Das „Ruhebedürftiis"423 wird zum Grundgesetz des Gewerkschaftsbundes, mit dem allzu hochfliegende politische Ansprüche an das Gewerkschaftshandeln als letztlich den legitimen Arbeiterinteressen zuwiderlaufend diskreditiert werden. Es ist dieser Kontext, in dem sich Michels erstmals die Frage stellt, ob sich die Arbeiter bei Uneinigkeit mit der Führung dieser überhaupt zu entledigen wüßten. Eine Frage, die ihm zufolge das „Fundament der sozialistischen Prinzipien" betrifft: „die Unterordnung der Gewählten unter die Partei424 und die Absetzbarkeit jedes ,Chef-Postens." 425 Im Begriff der „oligarchischen Ordnung" werden aber auch erstmals die Konturen einer kritischen Organisationstheorie sichtbar, die eine Entfremdung zwischen gewerkschaftlichen Entscheidungsstrukturen und streikenden Arbeitern nicht nur behauptet, sondern auch zu erklären versucht. Nicht der Parteiapparat, sondern die Gewerkschaftspolitik sensibilisiert Michels erstmals für jene Tendenz ursprünglich systemkritischer Bewegungen, mit der Fortdauer ihres Bestehens zunehmend die Ziele aus dem Blick zu verlieren, für die sie einst gegründet worden waren, und den Fortbestand der Organisation selbst zum obersten Handlungsgesetz zu erheben - mit der Folge, daß sie, anstatt die gegebene soziale und politische Ordnung zu transzendieren, sich in ihr einrichten und zum systemstabilisierenden Faktor werden. Im Fall der Gewerkschaften war dieser Vorgang leicht greifbar. Die deutschen Gewerkschaften waren schon in ihrer offiziellen Selbstauslegung das Gegenmodell zum 421 Michels, A propos de la grève ..., S. 344: „Maintenir les ,sujets' dans l'ignorance a toujours été la tactique des ,maîtres'". 422 Michels, Le Congrès syndical de Cologne, in: Mouvement Socialiste, a. VII, Nr. 158, 1. Juli 1905, S. 313-321, S. 318-319, wo Michels über den Antiintellektualismus auf dem Kölner Gewerkschaftskongreß schreibt: „Cette déclaration de guerre - stupide dans un mouvement qui compte Marx, Engels, Lassalle, Liebknecht, Kautsky - ne se borna pas aux seuls révolutionnaires: ella engloba les théoriciens du réformisme, Bernstein lui-même. [...] Au lieu de reconnaître tout au moins aux hommes de science du socialisme un rôle d'éclaireurs des besoins et des tendances toujours mal définis et obscurs du prolétariat, ils les détestent comme des troubles-fêtes, qui leur font honte de leur quiétude et de leur pusallinimité [sic], et qui dérangent, avec leur perpétuel mouvement d'idées parfois nouvelles, leur béatitude satisfaite d'hommes platement pratiques". 423 Michels, Congrès syndical, S. 319. 424 Auch wenn hier ,Partei' steht, so dreht sich der Artikel („A propos de la grève") um die Gewerkschaften! 425 Michels, A propos de la grève ..., S. 343: „Enfin, j'ai simplement proclamé la nécessité pur les ouvriers des se passer de leur chefs, en désaccord avec eux, - assertion que j'émets en me plaçant sur le terrain fondamental des principes socialistes (subordination des élus au parti et révocabilité de toute fonction de ,chef )."

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,/evolutionären Syndikalismus" des französischen Gewerkschaftsverbandes der CGT. Ihre Programmatik orientierte sich am Vorbild des Trade-Unionismus der englischen Gewerkschaften, indem sie ostentativ ihre „neutralistische" Position „jenseits der Parteien und Dogmen' " behaupteten. Der Anspruch des Unpolitischen' drückte sich bei ihnen in der Zwecksetzung aus, nur die „wirtschaftlichen" Interessen ihrer Mitglieder zu verfolgen. Ein Unterfangen, das Michels zufolge durchaus politische, weil systemaffirmative Konsequenzen hatte: „man darf sich keine Illusionen machen. Die Wirtschaft ist für diese Neutralen nichts als die Wirtschaft von heute, die bürgerliche Ökonomie, die sie zugunsten des Proletariats reformieren wollen - und exakt mit den Mitteln, die dieser heutigen Ökonomie, dieser bürgerlichen Ökonomie zu eigen sind. Sie bekämpfen das Kapital mit dem Kapital."426 An die Stelle des Klassenkampfes hätten die Gewerkschaftsfunktionäre nämlich ein neues und inzwischen „einziges Ideal" gesetzt: das der „gut gefüllten Kassen" und des „sozialen Friedens", der die Voraussetzung dafür sei, „diese berühmte Sammlung von Geldstücken anzuhäufen", die den Gewerkschaften inzwischen als „nec plus ultra der Arbeiterbewegung" erscheine.427 Im Stolz auf das Erreichte - „ein Hundertstel Lohnsteigerung oder eine Minute Arbeitszeitverringerung", wie Michels spöttisch meint - sei es ihnen entgangen, daß ihre Taktik die ,3asis jeder Arbeiterbewegung", den „Klassenkampf', eliminiere. Die Priorität der vollen Kassen und die Ausrichtung der Gewerkschaftsorganisation auf einen versicherungstechnischen „Mutualismus" hätten es mit sich gebracht, daß die Gewerkschaft vorrangig an das individuelle Nutzenkalkül appelliere und ihre politische Taktik ganz auf diese Motivationsressource abstelle. „Der Utilitarismus der Versicherung auf Gegenseitigkeit - und nicht der Idealismus der Klassensolidarität" sei der „Vater der numerischen Größe" des Deutschen Gewerkschaftsbundes.428 In einer Organisation, deren Mitgliederkartei über eine Million Arbeiter erfaßt, deren jährliche Finanzkraft 20 Millionen Reichsmark überschreitet und deren Kapital 16 Millionen Reichsmark beträgt, trete dabei zwangsläufig eine gewisse Seelenverwandtschaft mit der Staatsbürokratie

426 Michels, Le Congrès syndical de Cologne, in: Mouvement Socialiste, a. VII, Nr. 158, 1. Juli 1905, S. 313-321, S. 313-14, wo es über den syndicalisme trade-unioniste" bzw. den „syndicalisme à l'anglaise" heißt: „II se place sur la base neutraliste [...], c'est-à-dire ,au-dessus des partis et des dogmes, au-dessus des croyances.' Il prétend n'avoir que des préoccupations matérielles, et parle volontiers de tenir compte seulement de l'économie. Mais il ne faut pas se faire d'illusion. L'économie, pour ces neutres, ce n'est que l'économie d'aujourd'hui, l'économie bourgeoise, qu'ils veulent réformer au profit du prolétariat, - e précisément avec les moyens propres à cette économie d'aujourd'hui, à cette économie bourgeoise. Ils combattent le capital par le capital". 427 Michels, Le Congrès syndical de Cologne, in: Mouvement Socialiste, a. VII, Nr. 158, 1. Juli 1905, S. 313-321, S. 314: „C'est pourquoi leur unique idéal, c'est d'avoir des caisses bien remplies et à l'abri de toute inquiétude. Ils ne rêvent que paix et tranquillité, car seules la paix et la tranquillité leur permettent d'entasser cette fameuse collection de pièces d'argent, qui leur semble le nec plus ultra du mouvement ouvrier. Il va de soi que cet amour de ,1a paix pour les caisses' engendre tout naturellement un égal amour de ,1a paix sociale'." 428 Michels, Le Congrès syndical..., S. 314: „Ils n'ont développé, par leurs caisses, par leurs mutualités, qu'un sentiment bassement utilitaire au coeur des ouvriers. L'utilitarisme de la mutualité, et non l'idéalisme de la solidarité de classe - , est le père de leur grandeur numérique".

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zutage: „Mit dem Bürokratismus des preußischen Staates teilt sie das Ordnungsgefühl, die Beflissenheit und die guten Qualitäten von Finanzbeamten."429 Die Verteidigung des in den vorhergehenden Jahrzehnten erreichten Status quo wird zur obersten Handlungsdirektive, Initiativen zugunsten „neuer Eroberungen" seien ausgeschlossen, da sie die Stabilität gefährden könnten. Um den Charakter der Neutralität zu wahren, gehe man sogar so weit, daß man „im Schatten der Nächte", in informellen Auswahlverfahren, die Arbeiterkandidaturen derart vorentscheide, daß mit dem Einzug radikaler Geister in die Gewerkschaftsdirektion nicht zu rechnen ist. „Man strebt zu nichts weniger als der Konstitution eines brutalen, egoistischen und antirevolutionären Korporatismus". Die offizielle Anerkennung des „aktuellen Staates" aber kann für das Selbstverständnis der Gewerkschaft nicht folgenlos sein. In Michels' Analyse hat sie den Revers, daß die Gewerkschaft zur „staatlichen Funktion" mutiert: zur „Beratungsstelle für Sozialpolitik" des Kaiserreiches.430 Obwohl, wie Michels vermutet, die gewerkschaftliche Basis durchaus „avancierte" sozialistische Grundüberzeugungen pflege, gelinge es den Führern, ihnen „ihre Politik des Einvernehmens mit den bürgerlichen Klassen" aufzuzwingen: „Der Bürokratismus der Minderheit der ,Chefs' vernichtet jede freie Bewegung der Mehrheit der Organisierten. Die Chefs sind abrufbar, aber sind noch nie abgerufen worden."431 Michels' obige Bemerkungen anläßlich des Kölner Gewerkschaftskongresses im Mai 1905 enthalten nicht nur die zwei Schlüsselbegriffe seiner späteren Parteiensoziologie: „Oligarchie" und „Bürokratie". Seine polemischen und kursorischen Bemerkungen machen bei aller Flüchtigkeit, in der sie niedergeschrieben worden sind, auch eine Problemdimension sichtbar, die in seinem späteren elitetheoretischen Werk tendenziell unsichtbar sein wird: die mangelnde demokratische Partizipation und Durchschlagskraft der Basis, das Schwinden spontaner Solidarität und die Präferenz für legale Formen der Konfliktaustragung in der Arbeiterbewegung scheinen ihm gleichermaßen in einer kausalen Beziehung mit dem autoritären und bürokratischen Führungsstil der ,Chefs' zu stehen, der die Mitwirkung der Basis - u. a. durch geheime Sitzungen im „Schatten der Nächte" - auf einen passiven Konsens reduziert und sozialpolitisch an

429 Michels, Congrès syndical ..., S. 315: „II partage, avec le bureaucratisme de l'État prussien, le sentiment de l'ordre, le zèle et les bonnes qualités d'employés financiers". 430 Michels, Congrès syndical, S. 319: „Défendre l'acquis, mais ne pas attaquer, ne pas entrer en guerre pour de nouvelles conquêtes! [...] On va même, bien que secrètement, jusqu'à copier les dernières manifestations du trade unionisme anglais: dans l'ombre des nuits, on préconise des candidature ouvrières, pacifiques et sans esprit de parti; on ne tend rien moins qu'à la constitution d'un corporatisme brutal, égoiste et anti-révolutionnaire. On reconnaît officiellement l'État actuel, et on ne fait que lui demander de donner au syndicat une des ses fonctions - une fonction étatique qui est de constituer une sorte de bureau de renseignements pour la politique sociale en Allemagne." 431 Michels, Congrès syndical, S. 319: „Bien que'en fait, la masse des syndiqués ait des opinions socialistes plus avancées, les ,chefs' leur imposent leur politique d'accord avec les classes bourgeoises. Le bureucratisme de la minorité des ,chefs' écrase tout libre mouvement de la majorité des organisés. Les chefs sont révoquables, mais jamais révoqués."

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das individuelle Nutzenkalkül des Arbeiters, die angemessene Verwaltung seiner Beiträge, appelliert. Zu Recht hat Pino Ferraris an dieser Stelle einen radikalen Wandel in Michels' politischer Optik unterstrichen:432 angesichts einer der größten Streikaktionen in der deutschen Geschichte konzentriert sich Michels' Perspektive fast ausnahmslos auf die politischen Entscheidungsebenen und ihre oligarchische Struktur, nur am Rande dagegen erfahren wir etwas von ihm über die Prozesse auf der ,untersten' Ebene der streikenden Arbeiter. Das ist bemerkenswert, wenn wir an Michels' Bewegungsreports aus den Jahren 1901 bis 1903 denken, wo er mit Akribie und Emphase die Fähigkeit von Landarbeitern und Arbeiterinnen zur Selbstorganisation und zum solidarischen Schulterschluß dargestellt hatte.433 1905 dagegen ist Michels' Wahrnehmung ganz von der ,großen Politik' bestimmt, und sei es auch Hinterzimmerpolitik. Langsam schiebt sich der Schatten der Oligarchie in den Vordergrund der politischen Analyse. Dieser neue, pessimistische Duktus in der Analyse von Streikbewegungen wird sich wiederholen, als Michels vom Berliner Metallarbeiterstreik im September berichtet. Es ist das Schema des Ruhrarbeiterstreiks in Miniaturausgabe: auch hier verlieren die streikenden Arbeiter (der AEG in Oberschöneweide) im Vertrauen auf eine endlos und erfolglos verhandelnde Gewerkschaftsleitung wertvolle Zeit; in ihrer Fixierung auf Handlungsanweisungen von der ,Chef-Ebene offenbaren sie ihre Unfähigkeit zur Selbstverteidigung, die sich drastisch bemerkbar macht, als die Unternehmer mit einer Aussperrung drohen und die Gewerkschaft dazu schweigt.434 Die Kommunikation zwischen Basis und Streikleitung tendiert während des Streiks gegen Null, die Streikenden werden von ihren eigenen Vertretern nicht informiert und die einzigen .Aktionen" sind die, die hinter den Kulissen stattfinden 435 Normativ, das zeigen diese Reports deutlich, hängt Michels weiterhin seinem Bewegungsparadigma der spontanen, solidarischen, lokalen und ,basisdemokratischen' Selbstorganisation der Arbeiter an. Allein, es schwindet offensichtlich zunehmend der Glaube an die Wirklichkeitsadäquanz dieses Modells. Dies ist um so verwunderlicher, als 1905 die ganze Welt, und nicht nur die sozialistische, das Erwachen des rebellischen Geistes der deutschen Arbeiterschaft konstatiert. Selbst in den Akten der Berliner Politischen Polizei finden sich Sätze wie dieser, die doch eigentlich alle Vertreter des „revolutionären Revisionismus" hätten zuversichtlicher stimmen müssen:

432 Vgl. Ferraris, Saggi, S. 96. 433 Vgl. das Kapitel „Die sozialreformistische Periode". 434 Michels, La Grève des Métallurgistes de Berlin, in: Mouvement Socialiste, Nr. 170, 15. Januar 1906; zit. η. Robert Michels, Critique du Socialisme, présentation de Pierre Cours-Salies et JeanMarie Vincent, Paris 1993, S. 95-99: „Non accoutumés à agir sans l'aide de leurs chefs, ils n'osèrent pas même se défendre!" 435 Michels, métallurgistes, S. 97: „la Streikleitung [...] se trouvait exclusivement entre le mains du Verband; pendant plus d'une semaine, les grévistes ne furent convoqués à aucune assemblée. Ils vivaient dans la plus grande ignorance de ce qui allait se passer autour d'eux ou ... au-dessus d'eux. Les .actions' énergiques s'étaient réfugiées dans la coulisse".

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„Die Unzufriedenheit der Massen mit den dem Parlamentarismus verfallenen Führern und die Einsicht von Unbrauchbarkeit der Gewerkschaften, so wie sie jetzt sind, für den revolutionären Kampf scheint immer mehr zu wachsen, gleichzeitig auch die Sehnsucht nach einer Aktion". Gleichzeitig vermerken die Beamten eine „ganz erhebliche Steigerung des Selbstbewußtseins [...] der sozialistischen Arbeitermassen". 436 Wie ist es zu erklären, daß ein Autor, der Partei wie Gewerkschaften in Deutschland immer wieder den Vorwurf macht, daß sie in ihren taktischen Konzeptionen einen „blöden Nurparlamentarismus" 437 pflegen, obwohl das politische System, in dem sie agieren, kein parlamentarisches sei, ein Autor, der gleichzeitig sich darum sorgt, ob die Arbeiter bei wachsender Entfremdung der Funktionäre von der Basis das nötige demokratische Selbstbewußtsein besitzen, diesen einen Kurswechsel aufzuerlegen bzw. sie abzurufen, kurz: wie ist es zu erklären, daß dieser Anwalt des Sozialismus als einer sozialen Bewegung angesichts der oben zitierten Stimmungen im .Proletariat' kaum eine Wende zum Besseren, sondern eher zum Schlechteren diagnostiziert? Abgesehen von der bereits erwähnten neuen Wahrnehmungspräferenz für die „oligarchische Ordnung" läßt sich für Michels' pessimistische Streikpublizistik auch die widersprüchlich anmutende Konstellation des Jahres 1905 anführen, in der sich Dieter Groh zufolge eine temporäre mit einer langfristigen Tendenz überschneidet: Einerseits verschärfte sich gewiß der Druck von der Basis und drängten sozialdemokratische Arbeiter wie lange nicht mehr auf Aktionen, so als wollten sie ihre über Jahre von der Parteiideologie attestierte virtuelle Macht endlich in Taten überführen. Angefeuert von den russischen Ereignissen und von der Massenstreikdiskussion setzten sie sich vielerorts in Widerspruch zur Gewerkschaftsführung. So auch in den beiden Streikszenarien im Ruhrgebiet und in Oberschöneweide, wo die Initiative zum Ausstand jeweils von der Basis kommt. Andererseits machte sich aber auch ein zweiter Trend bemerkbar, der am Ende der Arbeitskämpfe immer die Oberhand behalten sollte: die „Vergewerkschaftung" der Arbeiterbewegung, die tiefere Wurzeln hatte, wie etwa den ökonomischen Aufschwung seit 1896, und die insgesamt eine Abnahme des Radikalismus und des Interesses an politischen Fragen begünstigte. Tatsächlich blieb selbst im großen Jahr 1905 die Diskussion über außerparlamentarische und womöglich revolutionäre' Aktionsformen auf einen verhältnismäßig kleinen Kreis der Arbeiter beschränkt. 438 Für diesen langfristigen und mächtigeren Trend der „Vergewerkschaftung" einer immer weniger direkt in Arbeitskämpfen involvierten Arbeiterschaft sprechen Zahlen, die den Siegeszug eines ganz anderen Konfliktmodells belegen: die möglichst erfolgreiche Konfliktregelung ohne Streik: 1905 wurden bereits 64 Prozent aller gewerkschaftlichen Erfolge streiklos

436 Zitiert n. Groh, Emanzipation, S. 387. 437 Michels, Geschichte des Sozialismus, a.a.O., S. 800. 438 Vgl. zu diesem scheinbar widersprüchlichen, aber der Realität wohl am nächsten kommenden Befund zweier Trends Dieter Groh, Emanzipation und Integration, S. 362 und 386.

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erreicht, 1913 waren es 77 Prozent.439 Daß dies auf den ersten Blick gar nicht so schien, und, wie schon erwähnt, der linke Flügel der SPD glaubte, die Deutungshoheit über eine neue Ära direkter Aktionen innezuhaben, hat möglicherweise seinen Grund in einer für bewegte Zeiten nicht untypischen Schweigespirale der ,silent majority'. Über die Wertvorstellungen dieser , silent majority' des deutschen Proletariats erfahren wir etwas, wenn wir uns einer anderen, aber im selben zeitlichen Kontext der Streikjahre 1905/1906 geschriebenen Arbeit von Michels zuwenden, wo er in einem .milieutheoretischen' Exkurs feststellt: „Die Arbeiterschaft hat sich von dem gesellschaftlichen Milieu, in dem sie lebt, seelisch nicht lösen können. So hat auch der deutsche Arbeiter dieselbe Krankheit übernommen, die unserem Spießbürgertum im Blut liegt. Auch er ergibt sich häufig, sobald die Lohnhöhe es ihm nur irgendwie gestattet, mit Leib und Seele der Vereinsmeierei. In großen Städten, teilweise selbst in kleineren, wimmelt es förmlich von Arbeiterturnvereinen, Arbeitergesangvereinen, Arbeitertheatervereinen, ja, Arbeiterrauchklubs, Arbeiterkegelklubs, Arbeiter-Regattavereinen, Athletenvereinen, alles Veranstaltungen, die wahrlich nicht dadurch an ihrem immanenten kleinbürgerlichen Geiste Abbruch erleiden, daß sie unter sozialdemokratischer Fahne segeln. Skatklub bleibt Skatklub, auch wenn er sich , Skatklub Freiheit' nennt!"440 Erst der Trend der „Vergewerkschaftung" und der zur „Vereinsmeierei" komplettieren die insgesamt widersprüchliche Signatur des Jahres 1905 und seiner Arbeiterkultur. Möglicherweise war der Kölner Gewerkschaftskongreß daher aber auch eine .demokratischere' und den Wertvorstellungen der gewerkschaftlichen Basis näher kommende Veranstaltung, als Michels vermutete. Immerhin votierte hier im Mai 1905 eine beeindruckende Mehrheit von über 200 Delegierten gegen nur sieben Stimmen für folgende Resolution: „Der Kongreß hält [...] alle Versuche, durch die Propagierung des politischen Massenstreiks eine bestimmte Taktik festlegen zu wollen, für verwerflich; er empfiehlt der organisierten Arbeiterschaft, solchen Versuchen energisch entgegenzutreten". Begründet wurde dies damit, daß man, um die „Organisation auszubauen, [...] in der Arbeiterbewegung Ruhe" brauche.441 Der Berichterstatter Bömelburg hatte dem noch hinzugefügt, daß der Arbeiterbewegung genügend andere Kampfmittel zur Verfügung stünden.442 Eine Arbeitsniederlegung am Ersten Mai zählte nicht dazu: die Gewerkschafter votierten dagegen ebenso einmütig wie gegen den Massenstreik und schlugen

439 Helga Grebing, Arbeiterbewegung. Sozialer Protest und kollektive Interessenvertretung bis 1914, 3. Aufl., München 1993, S. 124 440 Michels, Die deutsche Sozialdemokratie, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. XXIII, Heft 2, 1906, S. 471-556, S. 538-539 441 Protokoll Gewerkschaftskongress Köln 1905, S. 30 Nr. 44a, S. 229; zit. n. Groh, Emanzipation, S. 384. 442 Michels, Congrès syndical, S. 317.

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den Arbeitern vor, den ,Kampftag der Arbeiterklasse' mit Demonstrationen und Festen nach Feierabend zu begehen. Sollte der Sozialismus in Deutschland noch eine Zukunft haben, kommentierte ein in seinen antigewerkschaftlichen Ressentiments vollauf bestätigter Michels den Kongreß, dann mußten die Entscheidungen von Köln „eine Periode des offenen Kampfes zwischen Gewerkschaften und Partei" einläuten.443

4.2. Autoritarismus in demokratischer Form: die Nachfolger des „Präsidenten-Diktators" Allem Anschein nach waren die Delegierten des sozialdemokratischen Parteitags zu Jena im September 1905 fest entschlossen, das Blatt zu wenden. Nach einer Rede von August Bebel nahmen sie eine Resolution für den politischen Massenstreik an. Dieser Ruck nach links - in einer Frage, die der Bremer Parteitag ein Jahr zuvor ob ihrer Brisanz noch suspendiert hatte - vollzog sich in einer durch die russischen Ereignisse nach wie vor hoffnungsvollen kollektiven Stimmungslage. Robert Michels dagegen sollte bei seiner skeptischen Haltung bleiben und beeilte sich, vor Illusionen zu warnen: Der Freudengesang des linken SPD-Flügels, der glaubte, daß der „heilige Georg des Generalstreiks" den Drachen des Reformismus erlegt habe, irrte sich Michels zufolge ebenso wie die konservative Presse, die in dem „revolutionären Parteitag" Hochverrat witterte. 444 Er warnte davor, von bestimmten revolutionären Kampfreden und von der, wie so oft zuvor, wieder einmal fast einstimmig verabschiedeten Resolution zur Taktik, die jetzt eben auch den Massenstreik nicht mehr ausschloß, auf das zukünftige Handeln der Partei zu schließen. Daß es offensichtlich eine sich verstärkende Neigung gab, von einer rein parlamentarischen Taktik abzurücken und sich der „Taktik des Klassenkampfes" zuzuwenden, gab Michels zwar zu. Er bemerkte auch den gewaltigen Unterschied zum Bremer Parteitag, wo der Massenstreik nicht einmal diskutiert worden war und auch ein Glückwunsch an die italienischen Genossen zu ihrem Massenstreik nur unter Auslassung des problematischen ,M-Wortes' möglich ge44

wesen war. Dennoch war sein Gesamturteil negativ und er monierte den „Revolutionarismus der Worte, redselig und inkonsequent [...], - ein Revolutionarismus, der beim geringsten Kontakt mit der politischen Realität sich entweder in einen bloß oppositionellen Radikalismus oder in gemein reformistische Tendenzen verwandelt." 446

443 Michels, Congrès syndical, S. 320: „Le Congrès de Cologne va sans doute inaugurer une période de lutte ouverte entre les syndicats et le parti". 444 Michels, Le Socialisme allemand et le Congrès d'Ièna, in: Mouvement Socialiste, Nr. 166-167, 1./15. November 1905, S. 281-307, S. 304. 445 Michels, Congrès d'Ièna, S. 305. 446 Michels, Congrès d'Ièna, S. 306: „Un révolutionarisme de mots, loquace et inconséquent, si inconséquent qu'il semble être fait de vives [sic] contradictions, - un révolutionarisme qui, au

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Michels' Parteitagsbericht liest sich stellenweise wie ein zynisches Satyrspiel, das in August Bebel seinen Regisseur gefunden hatte. Bebel selbst hatte die scheinbar umstürzlerische Resolution eingebracht und es vermocht, in der dazugehörigen fünf(!)stündigen 447 Begründungsrede „von Gott, vom Teufel und von der ganzen Welt" zu reden, außer vom Massenstreik. In der berühmten Resolution 151 kam das Wort noch nicht einmal vor! „Namentlich im Falle eines Anschlages auf das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht oder das Koalitionsrecht" empfahl die Resolution „als eines der wirksamsten Kampfmittel, um ein solches politisches Verbrechen an der Arbeiterklasse abzuwehren oder um sich ein wichtiges Grundrecht für ihre Befreiung zu erobern, [...] gegebenen Falles [...] die umfassendste Anwendung der Massenarbeitseinstellung". 448 Michels' Kritik - die in der Sache sich vom linken Flügel um Rosa Luxemburg nicht unterschied, auch wenn Luxemburg wieder einmal von ihm trotz ihrer prominenten Rolle, die sie in dieser Angelegenheit spielte, nicht genannt wurde - entzündete sich daran, daß Bebel in seiner Rede die ,Massenarbeitseinstellung' allein als defensive Waffe gegen den Eingriff in bestehende Rechte angesprochen hatte, und daß er selbst unter der Bedingung dieser rein defensiven Konzeption den Massenstreik als ein zweischneidiges Schwert beurteilte, das auch im Falle eines Wahlrechtsentzugs nur „vielleicht" anzuwenden sei.449 Der Generalstreik wurde somit auf ein der parlamentarischen Taktik untergeordnetes Hilfsmittel reduziert, und eben nicht, wie es Michels im Einklang mit dem linken Flügel forderte, auch als eine originäre Form des Klassenkampfes zur Erlangung von Rechten verstanden. 450 Für seine „ambivalente" Rede sei Bebel genauso beklatscht worden wie die Gewerkschaftsvertreter Legien, Bömelburg und von Elm, die - im krassen Gegensatz zu ihrem Auftreten in Köln vier Monate vorher - geradezu revolutionäre Kampfreden hielten.451 Am meisten befremdete Michels aber das Verhalten Bebels. Dieser hatte in seinem

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moindre contact avec la réalité politique, se change en un radicalisme ou purement oppositionel ou à tendances méchamment réformistes [...]". Bei Dieter Groh, Emanzipation, S. 399, dauert die Rede vier Stunden. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten zu Jena vom 17. bis 23. September 1905, Berlin 1905 [Reprint Osaka 1970], S. 151 (kursiv von mir). Michels, Congrès d'Ièna, S. 285: „Bebel ne manqua pas d'ajouter que la grève général n'était, à son avis, qu'une arme à double tranchant, qu'il espérait bien lui-même ne prendre jamais en main. Même au cas d'abolition du droit de suffrage au Reichstag, il déclara ne vouloir s'en servir que ... peut-être." Michels, Congrès d'Ièna, S. 307: „[...] on ne vot la grève générale que comme arme purement auxiliaire du parlamentarisme". Congrès d'Ièna, S. 285. Interessanterweise hat Michels diese drei Gewerkschaftsvertreter nicht unter Inszenierungsverdacht gestellt: die revolutionäre Leidenschaft, mit der sie sprachen, erschien ihm von „absoluter Aufrichtigkeit". Die Angriffe von der sozialistischen Presse, denen sie nach Köln ausgesetzt gewesen waren, hätten in ihnen offensichtlich das Gewissen der „alten Kämpfer" geweckt.

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Schlußwort die Massenstreikdebatte mit dem „üblen Scherz"452 kommentiert, er habe während der Diskussion „ein paarmal unwillkürlich auf meine Stiefelspitzen gesehen, ob diese nicht bereits im Blute wateten (Große Heiterkeit.)"453 Um irgendwelchen aktivistischen Deutungen seiner Resolution zur „Massenarbeitseinstellung" vorzubeugen, hatte Bebel außerdem folgende Interpretationshilfe gegeben: „Wir Sozialdemokraten fassen den Begriff revolutionär so auf, daß er sich in den Zielen, nicht in den Mitteln dokumentiert."454 Diese, von diplomatischen Rücksichten 455 auf den rechten Parteiflügel geleitete Schlußrede Bebels, die im Grunde genommen die ganze vorhergehende Debatte zur außerparlamentarischen Bewegungsform in Frage stellte, wurde vom Parteitag nicht nur toleriert. Bebel erhielt dafür auch noch einen brausenden Applaus. Michels beschlich angesichts dieser Szenerie, in der die widersprüchlichsten Resolutionen und Äußerungen der Parteiführer auch dann auf eine akklamierende Mehrheit trafen, wenn sie vorher von ihr getroffene Entscheidungen konterkarierten, ein unheimliches Gefühl: „Die Zeiten eines Lassalle, des Präsidenten-Diktators, sind einer libertäreren Periode gewichen. Aber die Psychologie unserer Massen befindet sich in einem so schwachen Zustand, daß ihre Unterwerfung unter die Chefs immer noch absolut ist. Die Formen sind demokratischer geworden, aber der Geist, der in ihnen herrscht, hat sich leider noch nicht seines Autoritarismus entledigen können."456 Unter diesen Umständen erschien Michels die Generalstreiks-Resolution nahezu bedeutungslos. Hinter den Widersprüchen des Parteitages tat sich für ihn eine „praktische Krise, eine Führungskrise" auf, die nur dank der immensen Popularität und Autorität Bebels verdeckt werden konnte.457 Leider hat Michels in dieser Richtung keine weiteren Überlegungen angestellt. Sie hätten ihn auch zur Einsicht kommen lassen müssen, daß das drohende und von ihm selbst befürchtete „Schisma" zwischen Partei und Gewerkschaft, zwischen Revolutionären, Revisionisten und Praktizisten in der Partei, dessen „Schreckgespenst" der Parteitag vertrieben hatte,458 anders als durch den „Revolutionarismus der Worte" gar nicht zu verhindern war. Die verblüffenden Bekenntnisse der drei Gewerkschaftsvertreter zur „sozialen Revolution" sowie Bebels Gegensteuern, als die Redner des linken Flügels

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Congrès d'Ièna, S. 306. Protokoll des Parteitags zu Jena, a.a.O., S. 336. Protokoll Parteitag Jena, S. 340. Michels, Congrès d'Ièna, S. 306. Michels, Congrès d'Ièna, S. 303: „Les temps de Lassalle, président-dictateur, ont cédé le pas à des périodes plus libertaires. Mais la psychologie de nos masses est encore dans un état si faible, que leur soumission aux chefs est toujours absolue. Les formes sont devenues plus démocratiques, mais l'esprit qui les governe, hélas, n'a pas encore su se défaire de son autoritarisme". 457 Der Parteitag habe demonstriert, daß die Partei sich in einem Moment der „crise pratique, de gestation" befinde (léna, S. 307). 458 Vgl. Michels, léna, S. 287: „Le cauchemar obsédant d'un schisme disparut".

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aus der Resolution eine Ermächtigung zum Handeln ablesen wollten, - all diese bizarren Begebenheiten waren gewiß .diplomatisch'. Zweck dieser Diplomatie war es, die Einheit der deutschen Arbeiterbewegung zu beschwören und nicht zugunsten französischer Verhältnisse aufs Spiel zu setzen. Es war Bebel selbst gewesen, der sich aus Sorge um die Einheit im Vorfeld von Jena mit der Gewerkschaftsleitung zu einer Aussprache getroffen hatte, in der man sich geeinigt hatte, daß Angriffe auf die Gewerkschaften tunlichst zu vermeiden seien und daß auch von der Gewerkschaftsseite der Resolutionsentwurf nicht prinzipiell in Frage gestellt werden sollte.459 Bei Robert Michels finden wir auf die Frage, wie der Zielkonflikt zwischen dem von ihm ganz offensichtlich präferierten klaren Kurs zugunsten einer handlungsrelevanten Massenstreikresolution einerseits und der Verhinderung einer Spaltung der Arbeiterbewegung andererseits gelöst hätte werden können, keine Antwort. Darin besteht das Defizit seiner Parteitagskritik, die an ihren normativen Maßstäben wider besseres Wissen festhält. Denn es war Michels vor dem Parteitag von Jena bereits völlig klar, daß eine Brüskierung der Gewerkschaften zu einem Kampf geführt hätte, „in dem die Partei höchstwahrscheinlich unterlegen gewesen wäre; und - schlimmer noch! - er hätte die Folge gehabt, daß sich die zwei Arbeiterbewegungen in Deutschland definitiv getrennt hätten und ein Teil sich in die Arme der Regierung geworfen hätte." Dies sei der Grund, warum die Parteidirigenten alles vermieden, was von seiten der Generalkommission der Gewerkschaften als Affront aufgenommen worden wäre.460 Dies war eine durchaus zutreffende Analyse der Bebeischen Parteitagsstrategie. Privatim kritisierte zwar auch Bebel die Generalkommission, die einen politischen Massenstreik in Deutschland für unmöglich und die Diskussion darüber für schädlich hielt, und nannte den mit diesem Kurs sympathisierenden Wolfgang Heine einen „Hosenscheißer".461 Diesen Dissens mit der Generalkommission und den Reformisten öffentlich zu machen, verbot ihm aber sein Verantwortungsbewußtsein als Parteichef, zumal auch Bebel - wie Michels - weniger die Arbeiterbewegung als vielmehr die „preußische Reaktion" auf dem Vormarsch sah. Gerade weil Bebel aber einen Angriff der Regierung auf das Koalitions- oder das Reichstagswahlrecht für möglich hielt, hatte für ihn die Verhinderung einer Spaltung und Schwächung der Arbeiterbewegung oberste Priorität. Michels dagegen reagiert auf die von ihm ähnlich analysierte Lage als Intellektueller im Sinne Schumpeters: das „Fehlen einer direkten Verantwortlichkeit" steht in diesem Fall in einer engen Korrelation mit der „kritischen Haltung" des Intellektuellen, der als

459 Vgl. Dieter Groh, Emanzipation, S. 397. 460 Michels, léna, S. 283, wo Michels über das Verhältnis zwischen Partei und Gewerkschaften schreibt: „Matière pénible! Les syndicats comptent presque trois fois plus membres que le parti. Les brusquer [...] aurait déterminé une lutte [...], dans laquelle le Parti aurait très probablement été le vaincu; et - pire encore! - il en serait résulté que les deux mouvements ouvriers en Allemagne se seraient définitivement divisés, en jetant une des deux parties dans les bras du gouvernement. Voilà pourquoi on voyait les chefs du parti s'efforcer d'éviter tout ce qui aurait pu froisser les syndicats" 461 Vgl. Dieter Groh, Emanzipation, S. 397.

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„Zuschauer" das Geschehen verfolgt und dessen „größte Erfolgsaussichten in seinem tatsächlichen oder möglichen Wert als Störungsfaktor liegen."462 Mit dieser Bemerkung soll der Realismus von Michels' Kritik nicht geschmälert werden. Seine pessimistische Parteitagsdiagnose, die in dem Massenstreikbeschluß einen folgenlosen plakativen Formelkompromiß, ein Arrangement mit der temporären revolutionären Stimmung vermutete, hat sich tatsächlich wenige Monate später bestätigt. Im Februar 1906 treffen sich nämlich im Berliner Gewerkschaftshaus der Zentralverbände Vertreter der Generalkommission mit der SPD-Führung. Man einigt sich darauf, daß die Partei im Falle eines spontanen Massenstreiks dessen Organisation übernehmen und die Gewerkschaften sich neutral verhalten würden. Im Gegenzug versichert die Parteiführung, daß sie - im Gegensatz zu ihrer Resolution von Jena - stets ihr Möglichstes tun werde, um einen Massenstreik zu verhindern.463 Im September 1906 schließlich wird der Mannheimer Parteitag den Jenaer Massenstreikbeschluß zwar formal bestätigen, aber ihm eine Auslegung verpassen, die praktisch einen Verzicht auf den politischen Massenstreiks bedeutet. Wieder wird August Bebel bei dieser Kehrtwende die Regie übernehmen und wieder wird Michels diese Regie aus der Position des ,unverantwortlichen' kritischen Beobachters kommentieren: „Der Anti-Reformist Bebel von Dresden und der grève généralist von Jena hatten einem Vollblut-Revisionisten Bebel Platz gemacht, und die Parteimassen, gewohnt, ihm in all seinen Metamorphosen zu folgen, bewilligten seinen Antrag gegen den Generalstreik mit demselben Enthusiasmus, mit dem sie [ein Jahr zuvor] das Gegenteil beschlossen hatten."464 Unabhängig davon, ob man im nachhinein den Verzicht der Partei auf eine außerparlamentarische Taktik als realistisch und ihren tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten im Kaiserreich adäquat einstuft oder ob man anhand von kontrafaktischen Überlegungen 462 Vgl. Joseph A. Schumpeter, Die Soziologie des Intellektuellen, in: ders., Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 7., erw. Aufl., Tübingen/Basel 1993, S. 235-251, S. 237. 463 Vgl. Hans Manfred Bock, Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918 bis 1923. Ein Beitrag zur Sozial- und Ideengeschichte der frühen Weimarer Republik, Darmstadt 1993, S. 27. Die „Lokalisten", die sich aus Protest am Gewerkschaftszentralismus eine eigene, dezentrale Organisationsstruktur gegeben hatten und 1901 die „Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften" gegründet hatten, bekamen das Protokoll der geheimen Sitzung in die Hand und veröffentlichten es in ihrem Presseorgan „Die Einigkeit" (10. Jg., Nr. 25, 1906). Die Indiskretion schlug hohe Wellen: „Diese Organisation hat mit der Sozialdemokratie nichts mehr zu tun!", forderte Carl Legten 1906 auf dem Mannheimer Parteitag den Ausschluß der Lokalisten aus dem Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund, der dann in einer gemilderten Fassung - mit einem Jahr Bewährung - beschlossen wurde. 464 Michels, Le Socialisme allemand après Mannheim, in: Mouvement Socialiste, 9. Jg., Nr. 182, Januar 1907, S. 5-22, S. 12: „Le Bebel antiréformiste de Dresde et le Bebel grève généraliste de Ièna avaient fait place à un Bebel révisioniste pur sang, et les masses du parti, habituées à le suivre dans toutes ses métamorphoses, votaient sa motion contre la grève général avec le même enthousiasme qu'ils avaient voté sa motion contraire".

IV.4. Die Entdeckung der Oligarchie im Kontext der Massenstreikdebatte

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zu der Überzeugung gelangt, die SPD hätte mit mehr ,Mut zur Offensive' ihre Handlungsmöglichkeiten erweitern können,465 wird die Streikfrage in diesem Kommentar von einer neuen Problemdimension überlagert, die sich im Kommentar zum Jenenser Parteitag ein Jahr zuvor bereits ankündigt hat: Das demokratische Verfahren der Entscheidungsfindung, so lautet Michels' Botschaft von Jena und Mannheim, ist keine Garantie gegen die Etablierung neuer .Präsidenten-Diktatoren', die relativ autonom zwischen den Parteitagen agieren, sich der Kontrolle weitgehend entziehen und kraft ihrer politischen Virtuosität und Autorität die periodisch einberufenen Sitzungen der demokratischen Kontrollgremien derart beherrschen, daß diese fast immer mit der Bestätigung im Amt enden. Was Bebel zum ,Präsidenten-Diktator' der Partei prädestinierte, war dabei sein feines Gespür für Stimmungen, sein variantenreiches Spiel auf der Klaviatur der kollektiven Emotionen. Vor allem aber war es die „Rhetorik der Repräsentation",466 die Bebel beherrschte und mit der er bis zu seinem Tode 1913 der ideale Gesamtrepräsentant einer Partei blieb, die in sich derart gespalten war, daß ihre alljährliche symbolische Integration auf den Parteitagen nicht nur taktisch eine Meisterleistung Bebels gewesen, sondern auch persönlichen Eigenschaften zuzuschreiben ist: „Was Bebel aber vor allem andern den Massen vertraut machte", wird Michels wenige Jahre später und voller Anerkennung schreiben,467 „das war seine Nähe. Seine Sprache war ihre Sprache, seine Art war ihre Art". „Die große Mehrheit der deutschen Arbeiter fühlte Bebel auch sozial zu ihnen gehörig." Das stärkte nicht nur das Vertrauen in seine persönliche Integrität. Wenn Bebel im Reichstag oder auf den Parteitagen sprach, vermochte er auch alle Distanzen zwischen Spitzenfunktionär und Basis zu überbrücken. Er war dann „Volksmann. Fleisch von ihrem Fleisch, Blut von ihrem Blute" und erschien als der „unverfälschte Exponent der proletarischen Millionen Deutschlands."468 Damit erneuerte sich gleichsam immer wieder eine - dem Repräsentativsystem überhaupt nicht fremde, sondern seiner Rhetorik sogar inhärente - soziale Fiktion der Identität.469 Die exzeptionelle Führungsrolle, die Bebel spielte, beruhte erheblich auf dieser Fiktion: daß er einer von denen geblieben war, die ihn einst mit einem Mandat zum Führen ausstatteten, aber auch, daß er, der Gewählte, allen Kehrtwenden und Brüchen zum Trotz derselbe geblieben war. In Mannheim etwa wußte Bebel, daß die Delegierten von ihm auch einen überzeugenden Nachweis der Identität des Repräsentanten mit sich selbst verlangten, zumal seine innerparteilichen Kritiker exakt dieselbe in Frage gestellt und ihm einen

465 Auf diese Frage werde ich im folgenden Kapitel zurückkommen, wenn es um die Frage geht, ob die internationale Arbeiterbewegung mit einem Militärstreik einen Krieg zwischen Deutschland und Frankreich hätte verhindern können. 466 Vgl. hierzu Wolfgang Sofsky/Rainer Paris, Figurationen sozialer Macht. Autorität - Stellvertretung - Koalition, Frankfurt a.M. 1994, S. 217ff. 467 Michels, August Bebel, in: ders., Bedeutende Männer, S. 1-36, Leipzig 1927, S. 4; ursprünglich im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 37, H.3, November 1913 erschienen. 468 Michels, August Bebel, a.a.O., S. 3. 469 Vgl. zur Rhetorik der Identität Sofsky/Paris, Figurationen, a.a.O., S. 219.

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IV. Am Krankenbett des Proletariats

Bruch mit früheren Positionen vorgeworfen hatten. Diese Aufgabe hat er in Mannheim mit Bravour gelöst.470 Erfahrungen wie diese haben nachhaltig Robert Michels' demokratietheoretische Irritationen auf seinem Weg zur „Soziologie des Parteiwesens" provoziert: Die Parteiführung, die in einer Absprache hinter den Kulissen das Mandat von Jena zur Disposition gestellt hatte, erhielt dafür in Mannheim auch noch die demokratische Absolution und dies knapp unter der 100-Prozent-Marke! Insofern das spöttische Sprichwort vom „Kaiser Bebel" (Gustave Hervé) indirekt auch das politische Selbstbewußtsein der Partei wiedergab, so stand dieses Selbstbewußtsein Michels zufolge in einer mächtigen vordemokratischen Tradition der Führerverehrung, von der der vermeintliche Emanzipationsagent der Menschheit, das deutsche Proletariat, keineswegs ausgenommen war. Es ist an dieser Stelle allerdings festzuhalten, daß diese demokratietheoretischen Irritationen angesichts der Massenstreikresolutionen von Jena und Mannheim und der Geheimabsprache von Berlin Michels nicht zum Anhänger der syndikalistischen Gleichung „Vertreterschaft ist Verrat" 471 werden lassen, so wie er auch zu keinem Zeitpunkt seines sozialistischen Engagements zu einem utopischen Gegenrezept der reinen, direkten Demokratie greift. Daß Führungsstrukturen auch in einer demokratischen Partei ein „notwendiges Übel" 472 sind, ist schon für den jungen Sozialisten eine Selbstverständlichkeit gewesen, die er als Soziologe einige Jahre später organisationstheoretisch begründen wird. „Jede große Masse bedarf der Führung" - das schreibt nicht der Parteiensoziologie Michels 1911, sondern der radikale Demokrat und Sozialist auf dem Höhepunkt seiner Polemiken gegen die sozialdemokratische Führung 1906 473 In diesem Sinne richtet sich Michels' Kritik am „Parlamentarismus" auch nicht gegen das Repräsentativsystem als solches, sondern gegen die elektoralistische Ausrichtung der Parteitaktik auf die Maximierung der Sitze in einem machtlosen Reichstag: „Wir haben noch kein Parlament im eigentlichen Sinn, aber [...] wir haben schon die Anfänge [...] eines kräftigen Parlamentarismus".474 Dieser „Parlamentarismus" erscheint 470 Vgl. Bebel auf dem Mannheimer Parteitag, Protokoll, S. 297: „Eine Reihe von Rednern hat die Anschauung vertreten, daß zwischen meinen gestrigen Ausführungen und meinen Ausführungen in Jena ein gewisser Widerspruch besteht. [...] Nichts falscher als das. (Sehr richtig!) In Jena mußte ich die Gründe darlegen, die dafür sprechen, unserem Waffenarsenal eine neue und, wie ich glaube, sehr wirksame Waffe zu liefern. Es versteht sich von selbst, daß eine Natur wie die meinige, die hundertmal mehr zum Angriff als zur Verteidigung neigt, mit dem ganzen Feuer ihres Temperaments eine derartige Angriffswaffe zu rechtfertigen sucht. Nun sind aber eine Reihe von Auslegungen der Jenaer Resolution und eine Reihe von Ausführungen gegen meine Rede von Jena gemacht, die mich in eine Verteidigungsstellung nötigten. Ich habe es schon gestern erklärt, [...] und ich kann es heute nur wiederholen, daß zwischen meinen Ausführungen in Jena und meiner gestrigen Rede nicht der geringste innere Gegensatz besteht." 471 Vgl. das Kapitel über seine Beziehung zum revolutionären Syndikalismus. 472 Michels, Congrès d'Ièna, S. 303: „Toute direction d'un Parti est un mal nécessaire." 473 Michels, Die deutsche Sozialdemokratie, a.a.O., S. 526. 474 Michels, léna, S. 302: „II est vrai que nous n'avons pas encore en Allemagne de parlament proprement dit, mais il n'est pas moins vrai que nous avons déjà les commencements - bien prometteurs - d'un solide parlamentarisme"

IV.4. Die Entdeckung der Oligarchie im Kontext der Massenstreikdebatte

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ihm nicht nur taktisch, insofern mit ihm die Absage an außerparlamentarische Strategien verbunden ist, problematisch. Er wirft auch ein Problem für die innerparteiliche Willensbildung auf, insofern die sozialdemokratische Reichstagsfraktion sich zu einem relativ autonomen Machtzentrum innerhalb der Partei entwickelt und auf diese einen erheblichen Einfluß ausübt. Dies mag sich darin äußern, daß sich die Fraktion zum „obersten Richter über die Parteipresse" aufschwingt, indem sie öffentliche, und zwar äußerst öfFentlichkeitswirksame, Erklärungen zu mißliebigen Artikeln abgibt.475 Noch greifbarer ist es für Michels in dem Umstand, daß der Parteitag zu Jena ein Organisationsstatut billigt, das in einer zentralen Frage alles beim alten läßt: Abgeordnete der Reichstagsfraktion haben kraft ihres Abgeordnetenstatus auf Parteitagen ein Stimmrecht, auch wenn sie kein Ortsverband dorthin delegiert. Michels selbst hat in Jena für eine Revision dieses Statuts plädiert: „So lange wir die Fraktion zum Parteitage zulassen, besteht die Gefahr, daß einmal durch die Stimmen der Abgeordneten ein Beschluß zustande kommt, der eigentlich nicht dem Willen der Partei entspricht". Das Argument, daß die Abgeordneten statutengemäß nur ein Mitsprache- und Stimmrecht in Fragen hätten, die nicht parlamentarische Fragen betreffen, überzeugt Michels nicht, weil die Entwicklung der Partei eine solche Differenzierung gar nicht mehr erlaube: „Wir sind eine parlamentarische Partei und als solche erscheinen uns alle Fragen des politischen Lebens in mehr oder weniger enger Weise mit parlamentarischen Fragen verquickt". Den Einwurf, daß die Parlamentarier doch eine wertvolle Aufklärung über ihre Arbeit im Reichstag geben könnten, kontert Michels mit einem Vergleich der Praxis der ausländischen Bruderparteien: „Wäre diese auf Grund eines besseren Überblicks gewonnene Aufklärung schon bei einem Scheinparlament, wie wir es besitzen, wirklich von so ungemeiner Wichtigkeit, von wie viel größerer würde sie nicht in Ländern mit einem entwickelteren Parlamentarismus, mit Ministerverantwortlichkeit und Möglichkeit zu schärferer Kontrolle der Regierung sein. In Wirklichkeit aber sehen wir, daß unsere Bruderparteien in diesen Ländern, wie Frankreich, Italien und Holland den Inspirationen ihrer Parlamentarier auf Parteitagen absolut nicht die ungeheure Bedeutung beimessen, die sie anscheinend logischerweise dort haben müßten. In den ebengenannten Ländern gewähren unsere Parteigenossen den Parlamentariern als solche gar keinen Sitz und Stimme auf den Parteitagen. Ja, die Genossen dort gehen sogar noch weiter und haben sogar die Zahl der zulässigen Parlamentarier im Parteivorstand beschränkt."476 Diese Ausführungen zum Organisationsstatuts auf dem Jenenser Parteitag zeigen erneut deutlich, daß Michels in jenen Jahren eine für die Parteilinke typische Parlamentarismuskritik übt, die aber eben nicht in einen kruden Antiparlamentarismus abrutscht.

475 Michels, léna, S. 302: „Le groupe parlementaire était devenue le juge suprême de la presse du Parti!" Vgl. auch Michels' Statement in Jena: Protokoll, S. 184. 476 Protokoll Parteitag zu Jena, S. 185.

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IV. Am Krankenbett des Proletariats

Vielmehr geht seine Kritik völlig konform mit seiner - auch sein syndikalistisches Engagement motivierenden - Überzeugung, daß es für eine Revitalisierung der Parteipolitik alternativer Gegengewichte bedarf, um das Übergewicht reformistischer Tendenzen auszutarieren, ohne diese freilich zu eliminieren. Denn seine Kritik der Privilegien der Reichstagsiraktion wendet sich signifikanterweise gegen die Dominanz des Parlamentarismus als Grundausrichtung der Parteiorganisation und gegen das Gewicht der Fraktion. Er teilt damit interessanterweise Positionen, die in Deutschland erstmals in der Partei „Die Grünen" institutionell - mit der Verankerung des Rotationsprinzips und der Trennung von Amt und Mandat - umgesetzt worden sind.477 Seine ganz und gar nicht antiparlamentarische Haltung wird durch sein immer wiederkehrendes Argument unterstrichen, daß der Staat, in dem die SPD agiert, die parlamentarischen Grundrechte der Regierungskontrolle und der Ministerverantwortlichkeit nicht kennt und von den „entwickelteren" parlamentarischen Institutionen weit entfernt ist. Für eine adäquate Interpretation des „ehernen Gesetzes des Oligarchie" dürfte sowohl diese Stoßrichtung von Michels' Kritiken am Parlamentarismus' als auch das Erfahrungssubstrat der sozialdemokratischen Parteitage unverzichtbar sein: nicht die Differenzierung in Delegierende, Delegierte und Parteivorstand haben Michels in den 1905 einsetzenden Krisenjahren seines sozialdemokratischen Engagements irritiert, sondern eine autoritäre Verformung der formaldemokratischen Entscheidungsstrukturen zugunsten von Parteiführung und Fraktion sowie ein seiner Ansicht nach defizitäres Selbstbewußtsein der Parteimassen. Dieses nämlich scheint das Delegationsprinzip immer mehr in eine Einbahnstraße und in ein Gewohnheitsrecht der Delegierten zu verwandeln: „Die Chefs sind abrufbar, aber sie sind noch nie abgerufen worden". 478 Unser Exkurs in die ,Vorgeschichte' der Parteiensoziologie soll aber nicht suggerieren, daß die Demokratieproblematik 1905 und 1906 bereits das zentrale Thema von Michels gewesen sei. Das wäre eine ganz vom Blick auf das spätere Hauptwerk dominierte, retrospektiv-selektive wie falsche Charakterisierung seines sozialdemokratisches Engagements. Michels' politisches Interesse gilt in jenen Jahren in erster Linie der Gefahr eines Krieges zwischen Deutschland und Frankreich. Und nicht die Problematik der innerparteilichen Demokratie, sondern sein Antimilitarismus wird das Ende seiner Parteimitgliedschaft einläuten. Diesem blinden Fleck in der Michels-Forschung 479 ist das folgende Kapitel gewidmet.

477 Daß sich die Aushöhlung dieser Prinzipien sowie die zunehmende Macht der Parlamentarier übrigens glänzend mit Auszügen aus der Michelsschen Parteiensoziologie kommentieren läßt, hat Paul Tiefenbach gezeigt. Vgl. Paul Tiefenbach, Die Grünen. Verstaatlichung einer Partei, Köln 1998. Vgl. auch Timm Genett, Die Grünen in der Perspektive der klassischen Parteiensoziologie, in: Politische Vierteljahresschrift 1/1999, S. 132-134. 478 Michels, Congrès syndical, S. 319. Französisches Original s.o. 479 Die einzige Ausnahme von der Regel ist hier wiederum die Arbeit von Pino Ferraris, Saggi, a.a.O., die Michels' antimilitaristisches Engagment in der „Marokko-Krise" erstmals gewürdigt hat.

IV. 5. Probelauf für den Weltkrieg

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IV. 5. Probelauf für den Weltkrieg: Die deutsche Sozialdemokratie in der Marokko-Krise und die Geburt der Organisationssoziologie (1905 - 1907) 5.1. Das Kaiserreich als „genetischer Schwerpunkt" der Kriegsgefahr Am 31. März 1905 gibt Kaiser Wilhelm II. nach einer spektakulären Landung in dem marokkanischen Hafen Tanger eine Erklärung zugunsten der Souveränität Marokkos ab und geht damit auf offenen Konfrontationskurs gegenüber Frankreich, welches zu diesem Zeitpunkt eine Ausweitung seiner informellen Herrschaft in Marokko anstrebt. Dieser Affront des deutschen Kaisers erfolgt in einem Klima der militärischen Spekulationen, die sich seit geraumer Zeit um den berühmt-berüchtigten „Schlieffen-Plan" drehen. Dieser zur Zeit der „Marokko-Krise" ausgearbeitete Plan des Generalstabschefs Alfred von Schlieffen soll noch bis zur Marneschlacht im Sommer 1914 als das vielversprechende Siegesrezept der deutschen Militärs gelten. Unter Verletzung der belgischen Neutralität verspricht das Konzept eine Niederwerfung Frankreichs binnen weniger Wochen und scheint daher gerade auch für einen Zweifrontenkrieg gegen Frankreich und Rußland geeignet. Diffuse Einkreisungsängste, militärisches Prestigedenken und das Gefühl, als Großmacht in der Aufteilung der Kolonien zu kurz gekommen zu sein, haben dieses „Hasardspiel des Schlieffenplans"480 motiviert und verbinden sich in den Köpfen von Militärs und Reichsregierung zu einem explosiven Gemisch. Kurzfristig scheint die Marokko-Frage ein günstiger Hebel zur Herbeiführung einer militärischen Konfrontation mit Frankreich und eines schnellen Sieges zu sein. Die Befürchtung allerdings, den noch in seiner Anlaufphase befindlichen Flottenbau in einem notwendigerweise folgenden Konflikt mit England aufs Spiel zu setzen, führt schließlich dazu, daß man in der Wilhelmstraße von den kriegerischen Ambitionen Abstand nimmt. Stattdessen soll über eine Politik demonstrativer Stärke das deutsche Mitspracherecht in den kolonialen Angelegenheiten geltend gemacht werden. In der Folge ist die französische Regierung gezwungen, ihre Marokko-Politik dem Votum der internationalen Konferenz von Algeciras (April 1906) zu unterstellen. Mit dieser Demütigung erreichen die deutsch-französischen Beziehungen einen neuen Tiefpunkt.481 Gleichzeitig hat sich das Deutsche Reich mit seiner Marokko-Politik machtpolitisch selbst in die Isolation getrieben. Die spätere Bündniskonstellation des Ersten Weltkrieges nimmt ab 1906 schärfere Konturen an. Es hatte zunächst noch so ausgesehen, schreibt Robert Michels in Reaktion auf „Marokko" und seine Folgen, daß das alte Europa trotz einer „Aufrüstungsschraube ohne Ende" so sehr mit Kolonialkriegen und internen Revolutionsdrohungen beschäftigt

480 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. III. Von der „Deutschen Doppelrevolution" bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges: 1 8 4 9 - 1914, München 1995, S. 1114. 481 Vgl. zur „Marokko-Krise" und ihren Hintergründen Wolfgang J. Mommsen, Großmachtstellung und Weltpolitik 1 8 7 0 - 1914. Die Außenpolitik des Deutschen Reiches, Frankfurt 1993, S. 162ff.

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IV. Am Krankenbett des Proletariats

war, daß es für einen Moment unter dem Vorzeichen eines kontinentalen Friedens zu stehen schien. „Aber mit einem Male öffnete das plötzliche und unerwartete Handeln des Kaisers von Deutschland das Tor fur eine neue, äußerst besorgniserregende Periode kriegerischer Verwicklungen: eine neue Periode des Hasses und drohender Kriege zwischen den zivilisiertesten Völkern."482 Den „genetischen Schwerpunkt" der Kriegsgefahr lokalisiert Michels „exklusiv im offiziellen Deutschland".483 Was den Ausbruch eines europäischen Krieges gerade von deutscher Seite so wahrscheinlich macht, sind jene Modernisierungsdefizite in der politischen Verfassung und Kultur, die von Anfang an Michels' Bild des Kaiserreiches geprägt haben. Hinzu kommt, daß sich nunmehr in den staatstragenden konservativen und bürgerlichen Parteien eine neue Stimmung des „kriegerischen Leichtsinns"484 bemerkbar mache, die sich vorläufig noch durch die Angst vor einer Konfrontation mit England zügeln lasse, da man sich für einen Seekrieg noch nicht ausreichend gerüstet fühlt. Die Tatsache aber, daß - die Sozialdemokratie ausgenommen - alle Reichstagsparteien, und zwar auch diejenigen, die friedliche Töne anschlagen, im Dezember 1905 unter dem Eindruck der „Marokko-Krise" dem weiteren Ausbau der Flotte zustimmen, wertet Michels als unheilvolles Vorzeichen dafür, daß der Reichsregierung in ihrer auswärtigen „Provokationspolitik" auch in Zukunft keine Steine in den Wege gelegt werden würden.485

482 Michels, Divagazioni sullo Imperialismo germanico e la Questione del Marocco, in: Riforma Sociale, 13. Jg., Vol. 16, 1906, S. 19-37; ich zitiere im folgenden aus dem Autorensonderdruck mit der Seitennummerierung 5-23; Zitat S. 5: „II viaggio di Guglielmo II a Tangeri [...] ha capovolto la diplomazia di tutta la Europa; era parso infatti ai più, che, a dispetto - gli ingenui opinavano a cagione - del chiodo a vite senza fine degli armamenti militari, la vecchia Europa, occupata da guerre coloniali e da minaccianti rivoluzioni interne, stesse, per il momento, sotto l'auspicio della pace continentale; ma ad un tratto, l'atto subitaneo e quasi inaspettato dell'Imperatore di Germania apriva un periodo di complicazioni guerresche, di odii fra i popoli più civilizzati, di guerre imminenti." 483 Michels, Divagazioni sullo Imperialismo, a.a.O., S. 5: „Infatti, pare non esserci permesso qualsivoglia dubbio, che la gravità della situazione odierna ha da ricercare il suo punto genetico quasi esclusivamente nella Germania ufficiale." 484 Michels, Divagazioni, S. 18., wo Michels über die Reichstagsdebatten im Dezember 1905 schreibt: „Quei discorsi parlamentari, in cui prevale l'ipocrisia assai trasparente di ima leggerezza bellicosa, mal velata dall'ostentazione della parola ,pace', dimostrano che in Germania, nella sua politica antimilitarista, il Partito socialista sia affatto isolato". 485 Michels, Divagazioni, S. 18: „E certo che parecchi fra i partiti di second'ordine sono pacifici, è certo pure che lo stesso centro clericale non è ancora deciso qual via pigliare, ma tutti loro, gli alsaziani-lorenesi inclusi, hanno formalmente promesso al Governo di votare il nuovo aumento di flotta. Da parte loro la continuazione della politica provocante del Governo imperiale non ha da temere nessun ostacolo serio".

IV.5. Probelauf für den Weltkrieg

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Von der Frage der temporären strategischen Möglichkeiten einer erfolgreichen Kriegsfiihrung abgesehen, neigt das pseudokonstitutionelle Deutschland Michels zufolge schon aufgrund seiner Herrschaftsform eher zum Krieg als das republikanische Frankreich, weil die auf Prärogativen und „hundert Gewohnheitsrechten" beruhende Machtstellung Wilhelms II. im Ernstfall in dem machtlosen Parlament auf kein Gegengewicht stoßen würde.486 Die besondere Gefahr der monarchischen Regierungsform für den Frieden in Europa liege dabei nicht notwendigerweise in einer besonderen Kriegslüsternheit Wilhelms II. begründet, sondern ganz allgemein in der Unkontrollierbarkeit und Unberechenbarkeit des Kaisers: „Als Militarist [...] scheint Wilhelm II. dem Frieden nicht besonders zugeneigt zu sein. Aber nicht einmal dem Krieg gehört seine bedingungslose Hingabe. Was er begehrt [...], ist - das hat er selbst gesagt - , sich überall einzumischen, wo es etwas zu verhandeln, zu überlegen und zu tun gibt. Deutschland muß überallhin sein Wort verkünden. Und Wilhelm II. macht sowohl seine Liebe des Krieges als auch jene des Friedens vom mehr oder weniger erfolgreichen Ausgang dieser Absicht abhängig" 487 Nicht eine klare Kriegsstrategie des Deutschen Reiches gefährdet somit den Frieden in Europa, sondern eine Außenpolitik, die sich mit ostentativem Säbelrasseln Gehör und Achtung verschaffen will, ihren Anspruch auf einen Spitzenplatz im Konzert der Großmächte und ihre Interessen mit dem Verweis auf das eigene physisch-militärische Machtpotential geltend zu machen versucht und es ablehnt, sich internationalen Schiedsgerichten zu unterwerfen, weil darin nicht zuletzt der Kaiser selbst eine Beeinträchtigung seiner Souveränität sieht.488 Von dieser Seite also, dem ganz alltäglichen Machtspiel der 486 Michels, Divagazioni, S. 11 : „L'autorità dell'Imperatore, secondata inoltre dalla mentalità servile delle masse germaniche, da immense prerogative costituzionali, e da cento diritti consuetudinari, non controbilanciata punto dal parlamento, istituzione fiacca oltre ogni dire e quasi assolutamente sprovvista di poteri, è dunque incontestabile e incontestata". Vgl. auch Michels, Die deutsche Sozialdemokratie und der internationale Krieg, in: Morgen, Nr. 10, 16. August 1907, S. 299-304, S. 303: „Wenn also [...] die verfassungsrechtlich fixierten Instanzen dieses .Rechtsstaates' - in Deutschland der Kaiser und der Bundesrat, denen dann der Reichstag, nach dem fait accompli, die Gelder zu bewilligen hat, beschlossen haben, einem anderen Staatsgebilde den Krieg zu erklären, [...] so sind damit alle staatsrechtlichen Bedingungen erfüllt, und die Bürger des Staates haben keine andere Aufgabe mehr als die, zu gehorchen". 487 Michels, Divagazioni, S. 11 : „Militare innanzi tutto, Guglielmo II non pare troppo proclive alla pace. Ma nemmeno alla guerra pare appartenga la sua inclinazione incondizionata. Ciò che egli desidera con tutti i suoi nervi, è - lo ha detto lui stesso - di immischiarsi ovunque c'è qualcosa da trattare, da liberare, da fare. La Germania deve dappertutto profferire la sua parola. E Guglielmo II fa dipendere la preponderanza del suo amore per la guerra e di quello per la pace dalla riuscita o meno di questo intento". 488 Auf der ersten Den Haager Friedenskonferenz habe der Graf von Münster, deutscher Botschafter in Paris und Leiter der deutschen Delegation, erklärt: „Für Deutschland würden die Schiedssprüche absolut schädlich sein. Deutschland ist wie keine andere Nation auf den Krieg vorbereitet. Es

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IV. Am Krankenbett des Proletariats

internationalen Beziehungen mit seiner erhöhten Verletzungsgefahr für nationale und monarchische Ehrgefühle, sieht Michels eine Spannung entstehen, die sich am leichtesten im Kaiserreich kriegerisch entladen könnte. Was in den Machtstrukturen und im persönlichen Regiment' des Reiches angelegt ist, wird durch die „militarisierte Psychologie" der Mittelschichten komplettiert.489 In welche Richtung die deutsche Regierung sich auch bewege, „sie kann sicher sein, daß ihr diese Schichten blind folgen werden".490 Kriegsbegünstigend hinzu kommt die verhängnisvolle Tradition einer pathologischen Nationalkultur.491 Den Chauvinismus der Deutschen sieht Michels nunmehr in das Stadium des „Paroxysmus" treten. Es ist die Zeit des „Pangermanismus" gekommen, der in Michels' Sicht erheblich die deutsche Kolonialpolitik beeinflußt, eine Kolonialpolitik, die allerdings eher das Resonanzbedürfnis deutscher Eitelkeit befriedige, als daß sie einer rationalen ökonomischen oder demographischen Konzeption folge 492 Daß ausgerechnet die deutsche Bourgeoisie diesem wirtschaftlich fragwürdigen nationalem Prestige- und Großmachtdenken anhängt, ist für Michels einmal mehr der Beweis ihrer historischen Fehlentwicklung: „Nicht der Krieg, sondern die Zollunion mit Frankreich müßte die Devise eines Kapitalismus in Deutschland sein", wenn er „selbstbewußt" wäre.493 Die von Deutschland drohende Kriegsgefahr werde zudem dadurch verstärkt, daß die dynastisch-absolutistischen Traditionsstränge der deutschen politischen Kultur auch im Zeitalter der Demokratisierung die Oberhand behalten hätten und im deutschen Volk geglichen rebellischen Elan erstickt und ihm dagegen beharrlich [...] einen heiligen Respekt vor allem eingepflanzt hat, was sich Autorität, Stärke und Disziplin nennt. [...] Eine einzige aufhetzende Parole seitens der Regierang genügt, um das normalerweise friedliche deutsche Volk gegen ein anderes in Bewegung zu setzen; ein Phänomen, das die Möglichkeit eines Krieges, mag er auch im Prinzip unpopulär sein, in Deutschland stets bestehen läßt."494

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ist fáhig, sein Heer innerhalb von zehn Tagen zu mobilisieren, wozu weder Frankreich, Rußland noch irgendeine andere Macht in der Lage wären"; zit. n. Michels, Divagazioni, S. 12, der sich hier auf die Erinnerungen von Andrew D. White, Aus dem Leben eines Diplomaten (Berlin 1905), bezieht. Vgl. Um den an dieser Stelle zentralen Problemkomplex des „Militarismus als Gemütszustand" nicht extra wiederholen zu müssen, verweise ich auf das Kapitel „Ein Land aus Stuck". Divagazioni, S. 7: „Per questa militarizzazione il Governo germanico (feudale) tiene la sua borghesia e le sue classe medie nelle sue mani. In qualunque direzione le sue redini tendono, esso può essere sicuro di essere seguito ciecamente da quei ceti". Vgl. hierzu wiederum im einzelnen die Ausführungen im Kapitel „Ein Land aus Stuck". Vgl. Michels, Divagazioni, S. 8: „II tratto più saliente della Germania ufficiale - è la vanità", sowie die Ausführungen dort auf S. 9 ff.: „L'assoluta mancanza di ogni valore economico delle colonie dell'Impero germanico [...]". Divagazioni, S. 23: „Non la guerra, ma l'unione doganale con la Francia, ecco quale dovrebbe essere il motto d'ordine di un capitalismo in Germania, non più vegetativo in materia politica, ma conscio di sè stesso". Vgl. Divagazioni, S. 8, wo Michels vom „carattere del popolo tedesco stesso" spricht, „a cui una sterminata storia dinastico-assolutistica ha soffocato ogni slancio ribelle e gli ha invece impian-

IV.5. Probelauf für den Weltkrieg

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Nicht zufällig erreicht Michels' kulturpatriotisches Engagement zur Zeit der MarokkoKrise seinen Höhepunkt. 495 Die Denunziation eines „Patriotismus sans phrase", der die Vaterlandsliebe mit Kaisertreue und Kadavergehorsam identifiziert, das akribische Deuten und Definieren der verschiedenen Patriotismen und ihrer Verfallsformen, die begriffliche Trennung eines an humanistischen Universalwerten orientierten Nationalbewußtseins von seinen kulturschädlichen, weil chauvinistischen und friedensgefährdenden Irrtümern, all das ist gewiß als eine praktische Umsetzung der von Michels so geschätzten „Sozialpädagogik" zu verstehen. In dieser Sozialpädagogik drückt sich aber auch eine Irritation aus, die es nicht nur mit der ,klassischen' Vorurteilsstruktur ethnischer Kollektive und ihrer „Präpotenz" 496 gegenüber fremden Völkern zu tun hat. Die Sprache, in der Michels die Tendenzen der Gegenwart notiert, geht darüber hinaus und stellt zumindest in ihrer Semantik die Tragfähigkeit des Zivilisationsprozesses in Frage: „Atavismus"; der unverschämte Rekurs auf das „Recht des Stärkeren" als Norm des politischen Handelns; die „Schmeichler der brutalen Gewalt", die jede Aggressionspolitik allein schon um ihrer selbst willen favorisieren 497 Es sind Szenarien des Zivilisationsbruchs, in denen Michels die nationalistischen und kriegerischen Tendenzen der Gegenwart faßt. Szenarien, die einer ,materialistischen' Deutung bzw. einer Imperialismustheorie ,auf der Höhe' der kapitalistischen Entwicklung gar nicht zugänglich sind, weil es für einen Krieg zwischen Frankreich und Deutschland keine ökonomischen Motive gibt.498 Szenarien, die in ihrer barbarischen Eigendynamik von Gefolgschaft und Gewalt eine pessimistische Anthropologie und eine nicht minder fatalistische ,Psychologie der Massen' implizieren, die in einem diametralen Gegensatz zu Michels' evolutionistischem Geschichtsbild einer Höherentwicklung des Menschengeschlechts stehen. Nur indem er sie als Erbe vergangener, vorzivilisatorischer Epochen deutet, gleichermaßen als ,longue durée' der Mentalitätsgeschichte, die sich eben nur langsam und mit Hilfe einer beharrlichen Sozialpädagogik abbauen läßt, kann Michels am Fortschrittsbegriff festhalten. Gleichwohl wird Michels diesem Konflikt, der in der Semantik des „Atavismus" vorprogrammiert ist, nicht mehr entkommen. Denn die in seinem positivistischen Wissenschaftsbegriff wurzelnde Korrespondenzerfordemis von Theorie und Praxis kann bekanntlich einen „schädlichen Riß" nicht dulden, d. h. entweder reformiert sich die

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tato saldamente nell'anima quel santo rispetto di tutto quanto chiamasi autorità, forza e disciplina. L'anima del popolo tedesco (eccezione fatta di certi strati del proletariato socialista) offre facilissimo adito ad ogni soggezione governativa. Spontaneamente pacifico, una sola parola eccitante da parte del Governo lo fa andar in tutte le furie contro il popolo indicatogli, fenomeno che rende la possibilità, di una guerra, anche se in sul principio impopolare, in Germania sempre esistente." Vgl. hierzu die entsprechenden Ausführungen im Kapitel II. Divagazioni, S. 8. Divagazioni, S. 8: „II Governo germanico [...] troverà, negli adulatori della forza brutale, ognora senza fatica l'appoggio necessario a qualunque politica d'aggressione". Divagazioni, S. 23.: „Per una guerra contro la Francia non esiste, per la Germania, nemmeno un pretesto commerciale".

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Wirklichkeit und zeitigt fortschrittliche' Tendenzen, oder aber es ist eine Revision der Theorie nötig.499

5.2. Das Projekt und Scheitern einer antimilitaristischen Internationale Noch aber hat die Evolution einen von der marxistischen Geschichtsphilosophie verbürgten Träger, der berufen scheint, die Zivilität gegen die militärische Barbarei eines europäischen Krieges zu verteidigen und durchzusetzen, weil schon seinem .Klasseninteresse' an einem Krieg nicht gelegen sein kann. Die Kriegsgefahr, die vom offiziellen Deutschland ausgeht, hätte im deutschen Proletariat ihren schärfsten Widersacher finden müssen. Das ist sozialdemokratischer Grundkonsens. Hören wir nur Hermann Molkenbuhr, Mitglied des Parteivorstandes, auf dem Parteitag in Jena: „Durch den neuen Gedanken der Internationalität der Arbeiterklasse wird der Weltfriede geschaffen werden. Dadurch, daß die Arbeiter aller Länder um die Befreiung von jeglichem Drucke kämpfen, hört die Arbeiterklasse auf, sich in Engländer, Franzosen, Deutsche usw. zu spalten und nur eine Arbeiterklasse tritt der Kapitalistenklasse gegenüber. (Sehr richtig!) Daß die Arbeiter aller Länder Gegner des Krieges sind, müssen sie immer energischer zum Ausdruck bringen."500 Aber gerade hier, bei der Generalprobe auf die Verbindlichkeit der antimilitaristischen Prinzipien, nimmt Michels eine frappierende Kluft zwischen theoretischem Anspruch und tatsächlichem Handeln der Arbeiterbewegung wahr. Am Abend desselben Parteitages zu Jena gelangt Michels zu der provozierenden Diagnose: „Der Krieg hätte ausbrechen können, ohne in den drei Millionen sozialistischen Wählern das geringste Hindernis zu finden. In jenen Stunden der Gefahr zählte diese wunderbare Anhäufung von Wählerstimmen, dieser beispielhafte bürokratische Organismus des deutschen Sozialismus nichts: er schlief."501

499 Michels, Die deutsche Sozialdemokratie, a.a.O., S. 473: „Zwischen sozialistischer Theorie und sozialistischer Praxis kann kein schädlicher Riß klaffen, wenn nicht die eine oder die andere reformbedürftig ist". Die Krise des positivistischen Fortschrittsgedankens wird sich bei Michels schließlich in der zweiten Alternative niederschlagen: der Revision der Theorie. An die Stelle der geschichtsteleologischen Konfliktdramaturgie des Marxismus wird - spürbar in seinen Publikationen ab 1908 - langsam eine pessimistische Konfliktsoziologie ohne Telos treten, eine Konfliktsoziologie, deren Gesellschafts-, Geschichts- und Menschenbild den ewigen Kampf der Völker und Klassen um Herrschaft und Unterwerfung nicht als anachronistisches Relikt vorzivilisatorischer Epochen, sondern als Gesetz des sozialen Lebens auffaßt und so die Theorie mit der Wirklichkeit versöhnt. Auf die Rezeption der pessimistischen Konfliktsoziologie kommen wir im Zusammenhang mit Michels' „Soziologie des Parteiwesens" zu sprechen. 500 Protokoll Parteitag zu Jena, S. 199. 501 Michels, Congrès d'Ièna, S. 291: „La guerre aurait pu éclater sans qu'elle trouvât, dans les trois millions d'électeurs socialistes, la moindre barrière. Dans ces heures de péril, cette splendide col-

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Die Kriegsgefahr, bei der es „um Kopf und Kragen nicht nur von Hunderttausenden Proletariern, sondern sozusagen des innersten Prinzips des Sozialismus selber ging",502 steht von nun an im Zentrum seines parteipolitischen Engagements und seiner theoretischen Reflexion, einer theoretischen Reflexion, die ihn schließlich an der Handlungsfähigkeit der deutschen Sozialdemokratie verzweifeln lassen wird. Dabei hat Michels offensichtlich anfangs noch durchaus an die Macht von Parteitagsbeschlüssen geglaubt. So meldet er sich in Jena zu Wort, weil ihm eine der Resolutionen der Parteiführung zum Krieg nicht präzise genug erscheint. Er fordert die Delegierten auf, „hier vor aller Welt zu erklären, wie die deutsche Sozialdemokratie zu den internen Plänen unserer Diplomatie steht", und erreicht sogar eine knappe Mehrheit für seinen Änderungsvorschlag.503 Hat es in der beanstandeten Resolution504 der Parteiführung zuvor geheißen, daß es „die deutsche Sozialdemokratie [...] als ihre vornehmste Aufgabe ansieht, dem Krieg, gegen welches Volk auch immer er provoziert werden sollte, den Krieg zu erklären", so heißt es schließlich nach dem Änderungsantrag von Michels, daß diese Kriegserklärung an den Krieg „unter vollster Ausnutzung aller ihr zu Gebote stehenden Kräfte" vonstatten gehen sollte. Michels befürchtet nämlich, daß ohne diesen Zusatz möglicherweise „die Kriegserklärung an den Krieg im Inseratenteil erlassen würde."505 Michels' Redebeitrag in Jena ist allerdings konkreter als sein doch recht vager Änderungsvorschlag. Was er von der Partei fordert, ist nicht weniger als die Vorbereitung des antimilitaristischen Widerstands, um mit einem solchen im Kriegsfall glaubhaft drohen zu können: „Je deutlicher wir unseren Willen zeigen, den Frieden zu erzwingen und je deutlicher wir zeigen, daß hinter diesem Willen eine feste Macht steht, bereit, jeden Augenblick in Kraft zu treten, desto mehr werden sich die regierenden Klassen hüten, das Volk in einen Krieg hineinzustürzen. Wenn wir der Regierung zeigen, daß wir nicht gewillt sind, einen Krieg mitzumachen, dann wird sie es sich nicht zweimal, sondern dreimal überlegen, ob sie einen Krieg beginnen soll. Wir zwingen die regierenden Klassen, den Weg nach [Den] Haag zu gehen, den sämtliche

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lection de votes, cet organisme bureaucratique modèle qu'est le socialisme allemand, ne comptait pas: il dormait". Michels, Die deutsche Sozialdemokratie im internationalen Verbände, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 25, Heft 1, 1907, S. 148-231, S. 212; m. Hvhbg. Parteitagsprotokoll Jena, S. 223. Es handelt sich dabei um die Resolution Nr. 142, die sich genaugenommen gegen die Redeverbote richtet, die die Reichsregierung gegen die Sozialisten Jaurès, Adler, Greulich und Todeschini verhängt hatte, um deren Teilnahme an Friedenskundgebungen oder ähnlichen Versammlungen zu unterbinden. Die zweite auf die Friedensfrage Bezug nehmende Resolution Nr. 141 des Parteivorstandes fand dagegen Michels' Zustimmung: hierin signalisierte die Partei den englischen Genossen, „vorkommenden Falles mit allen ihr zu Gebote stehenden Kräften den Ausbruch eines Krieges zwischen den beiden Völkern zu verhindern". Protokoll Parteitag zu Jena, S. 216.

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Fürsten mit dem Väterchen Nikolaus ohne Hülfe des Proletariats nicht gehen würden."506 Michels begründet die Kluft zwischen diesem Kommentar und dem dahinter um Längen zurückfallenden Änderungsantrag, der sich von der üblichen Phraseologie kaum unterscheidet, den Lesern des „Mouvement Socialiste" damit, daß letzterer bereits das Maximum des Erreichbaren gewesen sei, und führt zur Begründung das magere Abstimmungsergebnis sowie den Umstand an, daß es nach seinem Beitrag keinerlei Beifall, sondern nur „Lärm" gegeben habe. Die Ursache dafür vermutet er darin, daß „uns deutsche Sozialisten unglücklicherweise alle Fragen der auswärtigen Politik schrecklich kalt lassen".507 Tatsächlich steht Michels mit seinem Engagement in der Kriegsfrage, die kein eigenständiger Tagesordnungspunkt ist und von den übrigen Delegierten auch allenfalls in Nebensätzen angesprochen wird, auf dem Parteitag ziemlich isoliert da. So gesehen ist Jena nicht der Ort, an dem der schwerwiegende Verdacht ausgeräumt werden könnte, den Michels dort anspricht: „Wir sind durch unsere laue Haltung während des Marokko-Konflikts in den Verdacht gekommen, der Regierung in ihren abenteuerlichen kolonialen Plänen zu folgen."508 Das Zitat steht für das neue Selbstverständnis Michels', der in den Jahren 1905 bis 1907 als eine Art Botschafter und Brückenbauer der antimilitaristischen Bewegung agiert, die sich außerhalb Deutschlands in nahezu allen europäischen Ländern in Reaktion auf die neuen zwischenstaatlichen Brennpunkte gebildet hat: neben dem deutsch-französischen Konflikt sind hier auch die Spannungen zwischen Italien und Österreich in der Albanienfrage, zwischen Norwegen und Schweden zur Zeit des Trennungsstreites der Union und die Gefahr einer Intervention des mit Rußland verbündeten Frankreichs in den russisch-japanischen Krieg zu nennen.509 Die antimilitaristischen Bewegungen in Europa haben die Verständigung und wechselseitige Konsultierung der sozialistischen Bruderparteien verfeindeter Staaten zum Ziel, um so gemeinsame Aktionen wie Straßendemonstrationen oder, als letztes Mittel der Kriegsverhinderung, den Militärstreik vorzubereiten. Im österreichisch-italienischen Konflikt etwa verständigen sich die beiden betroffenen sozialistischen Parteien im Frühjahr 1905 in Triest auf eine gemeinsame Richtlinie, die den Militärstreik als eventuelles Mittel einschließt.510 In Frankreich ist es

506 Protokoll Parteitag zu Jena, 217. 507 Congrès d'Ièna, S. 294: Seine „modification" sei zwar angenommen worden, aber „avec une majorité médiocre. Meilleure preuve de ce que ma démarche internationale était déjà le maximum qu'on pouvait attendre du congrès! [...] Il y eut [...] assez de bruit dans la salle; mais il est vrai que l'on n'applaudit pas. C'est que, malheureusement, toutes les questions étrangères laissent nos socialistes allemands terriblement froids" 508 Protokoll Parteitag zu Jena, S. 217. 509 Vgl. zu den Anlässen der antimilitaristischen Bewegung um 1905 Madeleine Reberioux, Il dibattito sulla guerra, in: Storia del marxismo, Vol. II: Il marxismo nell'età della Seconda Internazionale, Torino 1979, S. 897-935, S. 918. 510 Die folgenden Einzelheiten über die antimilitaristische Bewegung finden sich in Michels o. g. Aufsatz „Die deutsche Sozialdemokratie im internationalen Verbände" (in der Folge zitiert als

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der Blanquistenfuhrer Edouard Vaillant, der mit seiner berühmten Formel „Plutôt l'insurrection que la guerre" neben Gustave Hervé zum Wortführer der Antimilitaristen wird. Diese Drohung, daß einer Kriegserklärung der Regierung der Aufstand des Proletariats folgen werde, steht in bester sozialistischer Tradition. Sie schließt programmatisch an die einstige Prognose Wilhelm Liebknechts an, wonach der Krieg der französischen und deutschen Cäsaren das Auferstehungsfest der Völker einleiten werde. Mit ihr identifizieren sich im sozialistischen Spektrum Frankreichs nicht nur der Parti Socialiste de France, namentlich dessen Führer Jules Guesde und Paul Lafargue, sondern auch der zu antimilitaristischer Hochform auflaufende Reformist Jean Jaurès. In Limoges nehmen die französischen Sozialisten 1906 eine Resolution Vaillants an, gefolgt vom französischen Gewerkschaftsverband CGT, der auf dem Kongreß in Amiens den Aufstand im Kriegsfall beschließt.511 Mit diesen Tendenzen ist der Militärstreik auf die Tagesordnung der Zweiten Internationale zurückgekehrt, ein für die deutsche Sozialdemokratie offenbar unangenehmes Thema, hat sie doch bis dato auf den von ihr dominierten internationalen Kongressen immer wieder dessen „offizielle Exkommunikation" durchgesetzt.512 „In Belgien, in Frankreich, in Italien, in der Schweiz, in Dänemark, in Schweden, in Norwegen, überall zweigte sich eine meist von den jugendlicheren Elementen getragene antimilitaristische Bewegung als besonderer, wenn auch integraler Bestandteil von der internationalen Arbeiterbewegung ab". Ihr Ziel, die „Bekämpfung der Kriegsgefahr durch die Androhung des Generalstreiks", ist, wie Michels allerdings hinzufugt, auch in den Ländern mit starken antimilitaristischen Sympathien nicht unumstritten. In der öffentlichen Meinung kann man sich durch ein derartiges Programm den Vorwurf der „Vaterlandslosigkeit" einhandeln, die Stellung der sozialistischen Fraktionen in den Parlamenten verschlechtern und nicht zuletzt die eigene, sich meist aus sehr heterogenen politischen Leitmotiven zusammensetzende Wählerschaft vor den Kopfstoßen. 513 Daß derartige Erwägungen gerade in der deutschen Sozialdemokratie eine große Rolle spielen, liegt auf der Hand. Und dennoch ist die Rolle, die die SPD in jenen Tagen in der Internationale spielt, derart exzeptionell, daß Michels glaubt, die Partei hätte ihr Aktionsgebiet mit „chinesischen Mauern"514 umschlossen: „Deutschland ist das einzige Land geblieben, in welchem

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„Internationaler Verband"). Zu dieser äußerst materialreichen Abhandlung gibt es, will man sich mit dem antimilitaristischen Widerstand in der II. Internationale im besagten Zeitraum beschäftigen, meines Wissens keine Alternative. Die mir bekannte Literatur über die deutsche Sozialdemokratie und die II. Internationale behandelt meist nur den Zweiten Marokko-Konflikt von 1911, und geht auf den Ersten nur oberflächlich ein (Vgl. die zitierten Arbeiten von Groh, Steinberg, Grebing). Die Arbeit von Reberioux (a.a.O.) macht hier zwar eine Ausnahme, ist aber als informative Überblicksdarstellung angelegt, die ebenfalls hinter den Detailkenntnissen von Michels zurückfallt. Internationaler Verband, S. 188-189. Internationaler Verband, S. 186. Internationaler Verband, S. 188. Internationaler Verband, S. 164.

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noch keine Spur einer antimilitaristischen Bewegung zu entdecken ist."515 Der Marokko-Konflikt scheint vor allen europäischen Bruderparteien das „geringe internationale Empfinden" der SPD zu entblößen: „Die Kriegsgefahr war eine Prüfung. Sie bestand sie nicht. Sie nahm nicht die Rolle wieder auf, die die Italiener und Österreicher, Franzosen, Schweden und Norweger in dräuenden Zeiten gespielt hatten, sondern zog jeder offenen Haltung ein äquivokes Schweigen vor, während der Krieg vor der Tür stand."516 Jeglicher Versuch, den Antimilitarismus der Theorie in ein politisches Programm zu überführen, scheint geradezu Tabu zu sein und erntet bestenfalls Spott, wie die innerparteiliche Opposition um Karl Liebknecht erfahren muß. Dessen Resolution zur antimilitaristischen Propaganda wird in Jena um den ersten, prinzipiellen Teil gekürzt, nachdem Bebel vor der Gefahr eines Verstoßes gegen den § 112 Strafgesetzbuch sowie vor potentiellen Gesetzesverschärfungen seitens der Regierung, die dieser Antrag provozieren könnte, gewarnt hat.517 Kein Vergleich zu den norwegischen Sozialisten, die im März 1906 die Abschaffung des Militarismus' in ihr Programm aufnehmen werden. Was die SPD an praktischem' Antimilitarismus anzubieten hat, reduziert sich weitgehend auf die alljährliche Ablehnung des Heeresbudgets. „Ein rein platonischer Akt von Glaubensbekenntnis", urteilt Michels, den inzwischen sogar die böse Ahnung beschleicht, daß selbst dieses „Glaubensbekenntnis" „sofort aufgegeben wird, sobald die Partei im Reichstag einmal die Mehrheit bekommen sollte."518 Diverse sozialdemokratische Anstöße zur Militärreform - Abschaffung der Kavallerieattacken und des „wießen Lederzeugs", Einführung dunkler Uniformen, sowie die Idee einer „militärischen Jugendausbildung, also Einführung einer gründlicheren Vorbereitung für den Krieg" scheinen auch weniger der Logik einer Bekämpfung des Militarismus zu folgen als vielmehr seiner Stärkung. Merkwürdige Zwischentöne vernimmt Michels auch in den Reichstagsreden Bebels, der wiederholt erklärt hat, im Kriegsfall jeden Quadratmeter des Deutschen Reiches zu verteidigen, vorausgesetzt, das Reich befinde sich in einem Verteidigungskrieg. Diese Erklärung hat sowohl in Bremen als auch in Jena Michels veranlaßt, dem Parteivor515 Internationaler Verband, S. 189. 516 Internationaler Verband, S. 190. 517 Parteitagsprotokoll Jena, S. 283-285. Der kritische erste Teil der von Liebknecht eingebrachten Resolution Nr. 19 enthielt dabei eigentlich nur sozialdemokratische Selbstverständlichkeiten: „In der Erkenntnis, daß der Militarismus und Marinismus der festeste Stützpfeiler der heute herrschenden Klassen ist, daß er ferner durch seine kulturfeindlichen Tendenzen und Bestrebungen jedes freie und rege Leben erstickt, ja die zu seinen Diensten eingezogenen Söhne des Volkes zu willenlosen Werkzeugen macht, ist es dringend erforderlich, daß hiergegen eine regelmäßige, planmäßig betriebene Agitation einsetzt". 518 Internationaler Verband, S. 190. Als Beleg für seine im Hinblick auf spätere Abstimmungen im Reichstag (August 1914!) durchaus prophetische Ahnung, zitiert Michels Wolfgang Heines Aufsatz „Sozialdemokratie und Landesverteidigung" (in der Halbmonatsschrift März, I, Nr. 11): „Es ist Sache der Regierung, sich eine Mehrheit für ihre Politik zu schaffen, oder abzutreten. Diese Mehrheit mag sich die Mittel zur Landesverteidigung bewilligen; stimmt die Sozialdemokratie dagegen, so wird das Vaterland nicht wehrlos. Erst wenn sie einmal in die Mehrheit gelangt, ist es ihre Aufgabe, zu tun, was für die Wehrfähigkeit der Nation nötig ist".

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sitzenden scharf zu widersprechen und ihn des Verstoßes gegen das Parteiprogramm zu bezichtigen: denn die Betonung, ,jeden Quadratmeter" zu verteidigen, scheint dem Selbstbestimmungsrecht der Völker zu widersprechen, weil das Reichsland auch dänische, französische und polnische Gebietsteile umfasse und Michels zufolge die SPD bei einem Konflikt des Reiches mit seinen nationalen Minderheiten auf seiten letzterer stehen müssten. 519 Da Bebel im Reichstag auch in der Folge immer wieder die Bereitschaft erklärt, im Falle eines Angriffes auf das Deutsche Reich das Gewehr auf die Schulter zu nehmen, und da die Unterscheidung zwischen ,Angriff und .Verteidigung' vielen im sozialdemokratischen Lager offenbar sehr plausibel erscheint, nimmt Michels schließlich die Differenzierung zwischen Angriffs- und Verteidigungskrieg selbst aufs Korn und sucht sie ad absurdum zu führen. Seine Argumentation bezieht sich dabei auf die Schwierigkeit, in einem konkreten Konfliktfall, „im Moment der Gefahr und der hochgespannten Erregung", eine derartige Unterscheidung zwischen gerechter Verteidigung und ungerechtem Angriff überhaupt treffen zu können: „Jede Regierung besitzt alle Machtmittel, deren sie bedarf, um den wahren Sachverhalt der Auseinandersetzungen zwischen zwei Diplomatien, die zum Kriege führten, den Augen der Kontrolle zu entziehen, zur ausschließlichen Verfügung. Jede Regierung wird in letzter Stunde, wenn sie den Telegraph allein in der Hand hat und keinerlei Widerlegung von irgend einer Seite her mehr zu befürchten braucht, den Zwischenfallen diejenigen Versionen geben, die ihr am tauglichsten scheinen, um in den Augen ihrer Untertanen als gerecht, als frivol in den Krieg hineingedrängt dazustehn." 520 Im allgemeinen sei die Schuldfrage in Staatenkriegen auch nach Jahrzehnten, selbst nach Öffnung der Archive, äußerst kompliziert und Gegenstand der kontroversesten Historikerdebatten. Das Kriterium, von welcher Seite die Kriegserklärung ergangen ist, helfe an dieser Stelle nicht weiter, da es sich hier um ein „taktisch-strategisches" Mittel handelt, das keinen Aufschluß für die moralische Bewertung eines Kriegsausbruches gebe. Wenn die Truppen erst einmal marschieren, komme zudem jede antimilitaristische Aktion zu spät - auch der Bebeische Prüfiingsvorbehalt. Denn welches Parteigremium sollte im Konfliktfall entscheiden, ob es sich um einen Verteidigungsfall oder einen Angriff handele? „Unterdessen ständen [...] die drei Millionen sozialdemokratischer Soldaten [...] schon längst in Paris." Die von den „offiziellsten deutschen Sozialdemokraten" - Michels nennt hier auch noch Noske - vorgenommene Unterscheidung von Angriffs- und Verteidigungskrieg, sei daher, zumal sie die Kriegsbereitschaft im zweiten Fall bekundet, ohne der Öffent519 Vgl. Protokoll Bremer Parteitag, S. 206 und 211; Vgl. Michels, Congrès d'Ièna, S. 290/291, wo Michels erklärt, daß seine Entgegnung in Jena nicht ins Parteitagsprotokoll aufgenommen worden ist. 520 Michels, Die deutschen Sozialdemokraten und der internationale Krieg, in: Morgen. Wochenschrift für deutsche Kultur, Nr. 10, 16. August 1907, S. 299-304, S. 300.

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lichkeit zu verraten, was die SPD denn im ersten Fall tun würde, ein „politisierender Opportunismus", der das Problem des Massensterbens auf den Schlachtfeldern in „eitle Phrasen" auflöse.521 Die , chinesische Mauer' zwischen SPD und Ausland zeigt sich aber auch in einer weiteren theoretischen Figur der Kriegspublizistik: während der in den Jahren zuvor von einer ,marxistisch-orthodoxen' Sozialdemokratie ob seines ,Reformismus' heftig bekämpfte Jean Jaurès die These vertritt, daß es für das Proletariat „kein unabänderliches Gesetz des Krieges" gäbe, besinnt man sich deutscherseits auf das Theorem von der „Unabänderlichkeit des Krieges in der kapitalistischen Gesellschaft."522 Eine alternative Argumentationsfigur wird von Karl Kautsky vertreten. Ethisch hält er den internationalen Militärstreiks zwar für berechtigt, aber praktisch für nicht durchführbar. Kautskys Unmöglichkeitsthese behauptet, daß das deutsche Proletariat zu schwach sei allenfalls „10.000 Mann" würden sich beteiligen - und daß der Militärstreik in der Konsequenz nicht nur scheitern, sondern die „schlimmsten Verfolgungen provozieren" und die gesamte Parteiorganisation aufs Spiel setzen würde.523 Es ist allein und wieder einmal der Querdenker Eduard Bernstein, der sich in diesem Kontext außerhalb des sozialdemokratischen Grundkonsenses stellt und Michels in der Diagnose beipflichtet, daß die politische Mission der Partei im Angesicht eines drohenden Krieges mehr Aktivität erforderte.524 Bernstein ist die Ausnahme vom sozialdemokratischen Regeldiskurs, der sich im Herunterspielen der Kriegsgefahr als solcher, im Schweigen sowie in der Unmöglichkeitsthese vom Militärstreik dokumentiert.

521 Michels, Sozialdemokraten und internationaler Krieg, a.a.O., S. 302. Bebels und Noskes Kriegskasuistik traf übrigens bei Kurt Eisner und Karl Kautsky ebenfalls auf scharfen Widerspruch. Vgl. Madeleine Reberioux, Il dibattito sulla guerra, a.a.O., S. 924. Bebel hielt zwar im Reichstag, beispielsweise im Dezember 1905, gerade in der Kriegsfrage auch Reden, die der liberalen und konservativen Öffentlichkeit alles andere als angenehm waren und als Bestätigung für den sozialdemokratischen Vaterlandsverrat aufgenommen wurden. Unter anderem hatte Bebel geltend gemacht, daß die deutschen Arbeiter sich einem Kriegseinsatz auch verweigern könnten, solange ihre politische und soziale Disprivilegierung fortdauere. Aber eben diese Verknüpfung des Verhaltens der Arbeiterbewegung im Kriegsfall mit der Wahlrechtsfrage in Preußen und Sachsen bestätigte Michels eher in seiner Vermutung, daß der Antimilitarismus eben doch kein eigenständiges Prinzip der SPD, sondern allenfalls Verhandlungsmasse war. Vgl. hierzu Michels, Les Socialistes allemandes et la Guerre, in: Le Mouvement Socialiste, Jg. VIII, Nr. 171, 15. Februar 1906, S. 129-139, S. 133: „Ce que Bebel déclarait aux classes dirigeants, se ramenait tout bonnement à ceci: la bourgeoisie allemande n'a pas à compter, en cas de guerre, sur le concours du prolétariat, tant qu'elle ne lui aura pas accordé tout entier ... le droit de suffrage. Alors seulement, une fois le droit de vote en poche, les masses ouvrières se résoudrent plus tôt à obéir!" 522 Internationaler Verband, S. 192. 523 Michels hat die Positionen Kautskys mit denen von Wolfgang Heine in einer Synopse verglichen. Diese zeigt, daß die Argumentationsmuster des „Revolutionärs" und des „Reformisten" in der Kriegsfrage tatsächlich identisch waren. Vgl. Internationaler Verband, Anmerkung S. 193-196. 524 Eduard Bernstein, Das vergrabene Pfund und die Taktik der Sozialdemokratie, in: Sozialistische Monatshefte, 10.Jg., 1. Bd., Heft 4

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Eine Ausnahme bilden freilich auch die Stimmen Eduard Davids, der die „Brauchbarkeit des sozialdemokratischen Soldaten im Felde" beschwört, und Richard Calwers, der Verständnis für die Position der deutschen Regierung im Marokko-Konflikt bekundet.525 Allerdings werden gerade solche Stimmen von den französischen Sozialisten besonders aufmerksam registriert und es entsteht allmählich auf der anderen Seite des Rheins der Verdacht, die Sozialdemokratie sei „reichspatriotisch" geworden. Die Marokko-Krise droht so, einen Keil, nicht nur zwischen die Regierungen, sondern auch zwischen die französische und die deutsche Arbeiterbewegung zu treiben. Zugleich haben die Reaktionen seitens der Sozialdemokratie eine verheerende Wirkung für die antimilitaristische Bewegung in Frankreich und in den anderen europäischen Ländern: ihre Diskreditierung. Schon die Behauptung seitens der bestorganisierten und stärksten Arbeiterpartei in ganz Europa, der Militärstreik sei für sie nicht durchführbar, ist dazu angetan, dem Gedanken des internationalen Militärstreiks jeglichen Realismus zu nehmen. Denn damit ist die wichtigste Bedingung für diese Form des antimilitaristischen Widerstands in Frage gestellt: das der Reziprozität. Der antimilitaristischen Strategie der französischen Sozialisten wird der Boden entzogen, weil sie, so lange ihr kein deutsches Äquivalent entspricht, auf eine Schwächung der französischen Regierung und eine Stärkung der deutschen Politik hinausläuft. Wenn wir Michels' Analyse hier folgen möchten, wird damit in den Jahren 1905ff. ein antimilitaristischer Grundkonsens verspielt, der zumindest in Frankreich über die sozialistische Bewegung hinausreicht: „Bis tief in bürgerliche Kreise herein wurde der Antimilitarismus als berechtigt anerkannt, sobald er in beiden in Frage kommenden Ländern gleichzeitig praktiziert werde. Die Nichtexistenz einer derartigen Bewegung in Deutschland aber machte diese Elemente zu erbitterten Gegnern des Antimilitarismus in Frankreich."526 Die französischen Wortführer Gustave Hervé und Jean Jaurès geraten somit in Bedrängnis: Mag ihr Generalstreikskonzept auch als Kriegsvermeidungsstrategie intendiert sein, unter den gegebenen Umständen droht es die Kriegsgefahr sogar zu verschärfen, weil eine von innen schachmatt gesetzte französische Republik eine leichte Beute für die deutschen Streitkräfte wäre. In diesem Kontext wachsender Spannungen und Verstimmungen zwischen der deutschen und der französischen Arbeiterbewegung versucht sich Michels als Vermittler. In Frankreich hält er im Frühjahr 1906 Vorträge, die den Vorwurf des sozialdemokratischen „Reichspatriotismus" zu entkräften suchen. Michels weist auf das repressive Klima in Deutschland hin, in dem die widersprüchliche, ängstliche und alles in allem enttäuschende Haltung der SPD begründet sei527 und von dem er emphatisch die poli525 Internationaler Verband, S. 196. 526 Internationaler Verband, S. 208. 527 Vgl. R. Michels, L'Allemagne, le Socialisme & les syndicats, in: Revue International de Sociologie, Sonderabzug, 12 S., 1906 [der Text beruht auf einem Vortrag im Pariser Collège Libre des

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tischen Handlungsbedingungen der französischen Genossen abhebt: „Wir beneiden Euch um Eure Demokratie, Eure Republik, Eure mit Eurem Blute besiegelten politischen Freiheiten."528 Gleichzeitig versucht Michels, der Parteiführung die französische Position zu vermitteln. Autobiographische Notizen ohne Datum erwähnen ein Treffen mit seinem politischen Antipoden und Korrespondenten des „Vorwärts", Wolfgang Heine, und August Bebel in dessen Küssnachter Haus. Die Gesprächspartner zeigen an einem gemeinsamen Aktionsprogramm mit den französischen Genossen aber offensichtlich kein Interesse. Auf seine Frage, was im casus belli zu tun sei, habe man Michels die Antwort gegeben: „Das wird sich aus den Umständen ergeben".529 Am 16. Januar 1906 begleitet Michels den Generalsekretär der französischen Gewerkschaften, Victor Grifíuelhes, nach Berlin. Im Gepäck hat Grifíuelhes ein Mandat der CGT: er soll, „in dieser Stunde zumal, in der die offizielle Welt unablässig von einem eventuellen Krieg zwischen Deutschland und Frankreich spricht", mit den deutschen Gewerkschaften ein Einvernehmen über eine gemeinsame Aktionsplattform erzielen. Konkret sind es zwei Vorschläge, die Grifíuelhes im Namen der CGT der deutschen Seite macht: eine Demonstration in Paris und Berlin sowie eine gemeinsame Sonderkonferenz der beiden nationalen Gewerkschaftsverbände.530 Man möchte meinen: die normalste Sache der Welt für eine Bewegung, die sich diesseits wie jenseits des Rheins internationalistisch' nennt. Dennoch stößt der Generalsekretär der CGT bei den deutschen Gewerkschaftsvertretern als auch einige Stunden später bei der sozialdemokratischen Parteiführung, wie er später sagt, auf „offene Mäuler und geschlossene Herzen."531 Die Gründe für das Scheitern der Gespräche würde man eher in einer Satire des deutschen Berufsbeamtentums erwarten: Die Vertreter der Generalkommission der deutschen Gewerkschaften haben sich offenbar im Hinblick auf das Ansinnen des Franzosen für nicht zuständig erklärt und auf die Arbeitsteilung zwischen Partei und Gewerkschaften in Deutschland verwiesen. Letztere seien allein dafür da, die „beruflichen Interessen" ihrer Mitglieder zu verteidigen, und weltanschaulich „neutral". „Politische"

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Sciences Sociales vom 12.2.1906]; ders., Die Kriegsgefahr und die deutsche Arbeiterbewegung, in: Die Einigkeit, 10. Jg., Nrn. 21-25, 1906 [beruht auf einem Vortrag vom 21.2.1906 im Pariser Palais du Travail]; ders., L'Allemagne et la guerre contre la France, in: L'Européen, 6. Jg., 216. Michels, Die Kriegsgefahr und die deutsche Arbeiterbewegung, a.a.O., Nr. 22, 2. Juni 1906, S. 1. So Michels in seiner autobiographischen, auf italienisch verfaßten Notiz, die sich im ARMFE, Appunti autobiografici di R. Michels, findet und die Überschrift „episodi memorabili della mia vita da raccontarsi nella mia memoria" trägt. Michels, Les Socialistes Allemandes et la Guerre, in: Mouvement Socialiste, Jg. 8, Nr. 171, 15. Februar 1906, S. 129-139, S. 129: „la Confédération générale du Travail avait dépêché notre ami Grifíuelhes auprès de la Commission générale des syndicats allemands [...] Il s'agissait d'unir dans une même protestation les prolétariats des deux pays, à l'heure surtout où le monde officiel ne cessait parler de l'éventualité d'une guerre entre l'Allemagne et la France. Dans ce but, Grifíuelhes portait une double proposition: 1. Organisation d'une démonstration à Paris et à Berlin; 2. Tenue d'une conférence extraordinaire des Confédérations des deux pays". Internationaler Verband, S. 198.

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Angelegenheiten wie eine antimilitaristische Demonstration fielen dagegen exklusiv in den Geschäftsbereich der Partei.532 Griffuelhes habe daraufhin das Gespräch mit den Vertretern der Parteiführung gesucht, in deren Namen ihm allerdings der Vorsitzende der Reichstagsfraktion, Paul Singer, ebenfalls eine Nichtzuständigkeitserklärung gegeben habe: Die Partei, so Singer, habe keinerlei Kompetenz, direkt mit dem Vertreter einer französischen Gewerkschaftsorganisation zu verhandeln, weil dieser nach dem Verständnis der deutschen Sozialdemokratie kein „politisches" Mandat habe. Die SPD könne in diesem Fall Verhandlungen nur auf Vermittlung der französischen sozialistischen Partei und des Internationalen Sozialistischen Büros aufnehmen.533 Die Vertreter der deutschen Seite hätten damit formal betrachtet korrekt nach Maßgabe ihrer bürokratischen Kompetenzregelungen gehandelt und Griffuelhes das Pech, daß seine immerhin vom Dachverband der französischen Gewerkschaften unterschriebene Mission mit dem Instanzenweg der deutschen Arbeiterorganisationen nicht kompatibel ist.534 Dieses formale Argument ist allerdings offenkundig fadenscheinig: Griffuelhes' Reise sind Michels zufolge bereits vier Präzedenzfalle von antimilitarischen Kooperationsinitiativen vorausgegangen, in den kein , Formfehler' unterlaufen und dennoch ein Scheitern der Bemühungen auf der ganzen Linie zu verzeichnen war:535 1. Kurz nach Beginn der Marokko-Krise war eine von Edouard Vaillant angeregte, gemeinsame Initiative eben des von Singer für unverzichtbar erklärten „Parti socialiste unifié" und der Social Democratic Federation Englands von der SPD unbeantwortet geblieben. 2. Ebenso ergebnislos verstrich die Gelegenheit einer Kooperation im August 1905, als der Führer der englischen Sozialdemokratie, H. M. Hyndman, und die belgischen Sozialisten die unverzügliche Anrufung des Internationalen Sozialistischen Büros vorschlugen, um

532 Michels, Socialistes allemands et la guerre, a.a.O., S. 102: ,Après une courte délibération en réunion plénière, la Commission générale donna une réponse négative, se retranchant derrière la différence des buts poursuivis par les mouvements syndicaux des deux pays. Elle représenta le mouvement ouvrier allemand comme strictement limité à la défense des intérêts professionnels, et étant, non d'aspirations socialistes comme le mouvement ouvrier fiançais, mais neutre. L'action antimilitariste - fut-il opposé à Griffuelhes - étant d'essence politique ne relevait pas du ressort des syndicats allemands. Pour de pareilles manifestations, on le pria de s'adresser à la socialdémocratie, considérée comme le parti politique du prolétariat allemand". 533 Michels, Socialistes allemands et la guerre, S. 102: „II [Paul Singer] objecta Vincompétence de la social-démocratie à traiter directement avec les organisations ouvrières de France, sans passer par l'intermédiaire du Parti socialiste unifié et du Bureau socialiste international". Vgl. zu den Hintergründen auch Michels, Die Kriegsgefahr und die deutsche Arbeiterbewegung, a.a.O., Nr. 24, 16.6.1906, S. 2: „Für die deutschen Gewerkschaften sind also die französischen Genossen zu politisch! Als sich Griffuelhes nachher jedoch offiziös an den Parteivorstand der Sozialdemokratie wandte, da hieß es: Ihr seid uns nicht politisch' genug!" 534 Michels, Socialistes allemandes et la Guerra, a.a.O., S. 131: „Griffuelhes, malgré qu'il fut le délégué officiel des syndicats français, était en dehors de la voie hiérarchique". 535 Vgl. Michels, Les Socialistes allemandes et la Guerre, a.a.O., S. 131-132. Da es bei der folgenden Aufzählung von „tentatives" und „propositions" bei der Ubersetzung keine großen Interpretationsspielräume gibt, verzichte ich an dieser Stelle auf die Wiedergabe des französischen Originals.

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IV. Am Krankenbett des Proletariats

Maßnahmen gegen einen Kriegsausbruch zu beschließen; 3. Wenige Wochen später hatten die Exekutivausschußmitglieder Vandervelde und Anseele vom Internationalen Sozialistischen Büro sowie dessen Internationaler Sekretär Camille Huysmans eine neue Initiative gestartet und den Vorschlag gemacht, einen französisch-deutschen Sozialistenkongreß auf belgischem Territorium abzuhalten; 4. Noch im Januar 1906 schlugen wiederum der Parti Socialiste Unifié und Edouard Vaillant eine gemeinsame Sitzung im Internationalen Sozialistischen Büro vor, um sich dort unverzüglich auf Gegenmaßnahmen im Kriegsfall zu verständigen. Auch dieser Vorstoß war gescheitert, weil es von sozialdemokratischer Seite offiziell hieß, man sei zu sehr mit der Wahlrechtskampagne zum preußischen Landtag beschäftigt.536 Angesichts dieser Präzedenzfalle dürfte die deutsche Seite Griffiielhes gegenüber die Kompetenzfrage offenbar nur vorgeschoben haben. Der Riß, der durch die Internationale geht, wird unübersehbar: „Die Engländer, die Franzosen drängten [...] Die Deutschen blieben all diesen Anregungen gegenüber taub."537 Nach Griffuelhes' Abreise ist es in den Abendstunden des 16. Januar noch zu einer kritischen Diskussion mit Michels auf einer Parteiveranstaltung im sechsten Berliner Wahlkreis gekommen. 538 Einen Tag später, am 17. Januar 1906, setzt Michels seine antimilitaristische Agitation in den Berliner Arminhallen fort. Der Adressat ist diesmal nicht das deutsche Proletariat oder seine Stellvertreter, sondern der wohl zu jener Zeit progressivste Teil des deutschen Bildungsbürgertums. Vor der „Berliner Gesellschaft fur Ethische Kultur" repetiert Michels - diesmal in Anlehnung an Gustave Hervé und daher viel schärfer als auf dem Jenaer Parteitag im September - das Ultimatum des Antimilitarismus an die Regierung. Er legt dieses Ultimatum allerdings in den Mund eines nach Maßgabe des marxistischen Drehbuchs der Geschichte konzipierten Proletariats. Dadurch erhält sein Vortrag einen ,empirischen' Zuschnitt, so als sei der normative Anspruch des Militärstreiks tatsächlich in den gesellschaftlichen Tendenzen der Gegenwart verankert und keine weltferne Spekulation: „Auf Kriegserklärung an ein Nachbarvolk aus sogenanntem Patriotismus - Generalstreik und Revolution aus internationalem Menschentum als Antwort; so ihre [der unteren Klassen des Vaterlandes] Parole. Und mit der offenen Aussprache dieser Absicht glauben sie - und m. E. mit Recht - eine sittliche Friedenstat zu erfüllen, denn: sehen sich die heute so leichtfertig ,superpatriotischen' Regierungen vor die Alternative gestellt: entweder Krieg und Revolution oder Friede, sie

536 Michels' Chronologie der sozialdemokratischen Verzögerungstaktik und Abwehrhaltung gegenüber den westeuropäischen Friedensinitiativen wird von Dieter Groh bestätigt. Vgl. Dieter Groh/ Peter Brandt, „Vaterlandslose Gesellen". Sozialdemokratie und Nation 1860-1990, München 1992, S. 91-92. 537 Internationaler Verband, S. 197. 538 Andeutungen finden sich in den „episodi memorabili" sowie bei Ernesto Ragionieri, Socialdemocrazia tedesca e socialisti italiani 1870-1895, S. 20, Anm. 13. Vgl. auch den dort zitierten Polizeibericht (FN 636 dieses Kapitels).

IV.5. Probelauf für den Weltkrieg

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werden es sich zweimal überlegen, ob sie wirklich den Rubikon überschreiten sollen und werden den Weg nach dem Haag immer leichter finden."539 Daß Michels diese antimilitaristische Position eines angesichts der Vorkommnisse der vergangenen Wochen wohl nur noch theoretisch denkbaren internationalen Proletariats vor einem bürgerlichen Forum verkündet, einen Tag nach dem Scheitern der Griffuelhesschen Mission, hat fast schon symbolischen Charakter. Im Januar 1906 erleben wir Michels als einen isolierten Einzelkämpfer in der SPD; bald schon befindet er sich im Kreuzfeuer der Parteipresse, wo er sich unter anderem mit dem Vorwurf des „Hochverrats"540 konfrontiert sieht. Besonders im Pariser „Leseklub", einem Zirkel deutscher Sozialdemokraten in der französischen Hauptstadt, ist man empört über Michels' von der Partei nicht autorisierte Vortragsreise nach Paris und schimpft ihn einen „Wirrkopf ' und Nestbeschmutzer und zitiert ihn in das Clubhaus. Über die Vorgänge dort wissen wir nichts genaues. Michels' Urteil, man habe den politischen und theoretischen Antagonismus „durch den Dreck persönlicher Erniedrigungen" gezogen, zählt noch zu seinen milderen über den Stil der Auseinandersetzungen im „Leseklub".541 Die persönlich herabwürdigenden Angriffe auf den „Miesmacher" und „bekannten Wirrkopf Robert Michels" landen schließlich in der Partei- und Gewerkschaftspresse, namentlich im „Vorwärts" und im „Korrespondenzblatt der Generalkommission."542 Auch Michels' Ton wird im Laufe dieser Schlammschlacht schärfer, so etwa, wenn er über die Autoren des „Korrespondenzblattes" schreibt, daß diese offenbar „ihre vielfach im Absterben begriffene sozialistisch-proletarische Gesinnung durch proletenhaftes Gebahren zu ersetzen bestrebt sind."543 Zu seiner sachlichen Verteidigung führt Michels an, er habe vor den Pariser Arbeitern keine ,Anklage-Rede" gegen die deutschen Arbeiterorganisationen halten wollen, sondern vielmehr „für die allseitig konstatierte Regungslosigkeit des gesamten offiziellen Apparates der deutschen Arbeiterschaft während der Kriegsgefahr [...] auf mildernde Umstände" plädieren wollen.544 Tatsächlich ist der Fokus der besonders umstrittenen 539 Michels, Patriotismus und Ethik, a.a.O., S. 26. 540 Mit diesem Vorwurf konfrontierte Michels der Vorwärts-Korrespondent Otto Pohl. Vgl. Michels, Polémiques sur le socialisme allemand, in: Mouvement Socialiste, Jg. 8, Nr. 176, Juli 1906, S. 228-237, S. 235. 541 Michels, Polémiques sur le socialisme allemand, in: Mouvement Socialiste, Jg. 8, Nr. 176, Juli 1906, S. 228-237, S. 233, wo von der „attitude déloyale" die Rede ist, „que la majorité de ce ,Club' a cru devoir suivre envers moi, en attribuant à mes mots et à mes actes un sens qu'ils n'ont jamais eu. Au lieu de mener le combat sur le terrain des divergences théoriques, ils ont essayé - vainement, car en ces sortes de combats, il faut être deux, l'un qui commence et l'autre qui suit - de trainer cet antagonisme dans la boue de petites mortifications personnelles." 542 Vgl. Michels' Verteidigung gegen die zahlreichen Polemiken gegen ihn in seiner Gegendarstellung in der Rubrik „Aus der Partei", Leipziger Volkszeitung, Nr. 240, 16.10. 1906; sowie die Vorbemerkung zum Abdruck seines Pariser Vortrages „Die Kriegsgefahr und die deutsche Arbeiterbewegung", a.a.O., Nr. 21, 26. Mai 1906. 543 Vgl. Vorbemerkung zu „Kriegsgefahr", a.a.O. 544 Vorbemerkung „Kriegsgefahr".

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IV. Am Krankenbett des Proletariats

Rede im Pariser „Palais du Travail" zu nahezu zwei Dritteln auf das Kaiserreich, seine Institutionen, seine Demokratiedefizite in Recht und politischer Kultur gerichtet. Im Anschluß hat Michels die Sozialdemokratie in einem Rekurs auf ihre Geschichte und Lage im Reich sogar gegen den Vorwurf verteidigt, sie sei „im vulgärsten Sinne des Wortes patriotisch" geworden. Seine Kritik der Gewerkschaften und der Partei enthält ansonsten nichts, was er nicht in den Monaten und Jahren zuvor ohnehin schon den französischen Genossen gesagt hätte. Aber seine Rede enthält noch eine Botschaft, die das Faß zum Überlaufen gebracht haben dürfte. Einen Monat nach Griffuelhes' Besuch in Berlin und nur wenige Tage nach den Absprachen zwischen Gewerkschaften und Partei, den Jenenser Massenstreikbeschluß nach Möglichkeit nicht in die Praxis umzusetzen, hat Michels unmißverständlich klargestellt, daß im Falle eines europäischen Krieges mit dem Widerstand der deutschen Sozialdemokratie unter den gegebenen Umständen nicht zu rechnen sei. Das Ziel seiner Reise nach Paris ist so gesehen auch nicht, einen Beitrag zur weiteren Mobilisierung des französischen Antimilitarismus zu leisten, sondern vielmehr dessen Desillusionierung. In Frankreich, so Michels, habe er in jener Zeit immer wieder von Sozialisten der unterschiedlichsten Schattierungen die Hoffnung vernommen: ,je derber und eindringlicher wir antimilitärische Propaganda treiben, je mehr wir den Bogen überspannen, desto eher wird, durch unser Beispiel [...] angestachelt, auch in Deutschland die notwendige Ergänzungsbewegung entstehen". Diese Möglichkeit aber erscheint ihm inzwischen „für absehbare Zeit ausgeschlossen". Angesichts dieser Konstellation sei sein Anliegen die Aufklärung aus „Menschenpflicht" gewesen, betont ein um Demonstrationen seiner noblen Gesinnung nie verlegener Robert Michels545 - auf die „Empfindlichkeiten und Eitelkeiten deutscher Arbeiterführer" habe er keine Rücksicht nehmen können. In der Tat: Mit seiner .rücksichtslosen' Desillusionierung der französischen Antimilitaristen über ihre Ziele stellt Michels - und das auch noch als ,nichtautorisierter' Botschafter der deutschen Sozialdemokratie - die Ohnmacht der Partei in einer Weise bloß, wie das die französischen Genossen zwar oft in den vergangenen Monaten von den Italienern, Belgiern und Engländern zu hören bekommen hatten, aber wohl höchst selten aus dem Munde eines Vertreters der DreiMillionen-Partei. „Das Maximum einer antimilitaristischen Aktion, das man von seiten der deutschen Sozialdemokraten erwarten d a r f , schreibt Michels im Februar 1906, sei allenfalls ein Votum der sozialdemokratischen Parlamentsfraktion gegen den Krieg oder eine Enthaltung.546

545 Vgl. Vorbemerkung „Kriegsgefahr": „Den französischen Genossen hierüber [daß die deutsche Seite keine Ergänzungsbewegung im Kriegsfall initiieren wird] Klarheit zu verschaffen und auf diese Weise sie vor unnötigen - weil bei dem Fehlen jeder Gegenleistung unsererseits notwendigerweise unfruchtbaren - Opfern zu bewahren, oder, falls sie trotzdem nicht von ihrer Taktik abstehen wollten, sie wenigstens mit offenen Augen ihres Weges gehen zu lassen, drängte sich mir nicht nur als sozialistische, sondern geradezu als eine Menschenpflicht auf, von der mich keinerlei Rücksichten auf Empfindlichkeiten und Eitelkeiten deutscher Arbeiterführer abhalten dürften". 546 Michels, Les socialistes allemandes et la guerre, S. 135: „Tout au plus, le groupe socialiste parlementaire pourrait-il voter contre la guerre - ou s'abstenir. C'est le maximum qu'on puisse attendre de l'action antimilitariste des socialistes allemands."

IV.5. Probelauf fiir den Weltkrieg

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Als symptomatisch für die ohnmächtige Haltung der SPD in der Kriegsfrage wertet er, daß selbst die prononcierten Internationalisten' in der Partei sich zunehmend in die fatale historische Wunschprojektion flüchten, daß die französische Armee oder die englische Flotte das besorgen werde, wozu die deutsche Arbeiterbewegung nicht in der Lage sei: die Vernichtung des preußischen Militarismus auf dem Schlachtfeld: „sie hoffen, daß sich auf den durch den äußeren Feind zerstörten Trümmern der Reichsarmee [...] der innere Feind erheben könne: die soziale Revolution!" 547 Keine Frage, wen Michels dabei zuallererst im Blick hat: Karl Kautsky. Dieser diagnostiziert einerseits, daß das deutsche Proletariat für eine direkte Aktion der Kriegsverhinderung weder organisatorisch noch moralisch noch zahlenmäßig stark genug sei. Andererseits aber ist er doch optimistisch genug, zu prognostizieren, daß aus der tragischen Erfahrung eines Krieges revolutionäre Konsequenzen heranreifen würden. Michels dagegen, der sich nicht vorzustellen vermag, daß „die sozialistischen Arbeiter, nachdem man sie bezwungen, getötet und vernichtet hat, als Revolutionäre wiederauferstehen", nennt Kautskys Erwartung eine „lächerliche Hoffnung." 548 Kautsky wird schon bald von Michels in den Vorwurf des .revolutionären Attentismus' eingeschlossen: Den „rein verbalen Revolutionarismus der Bebel und Kautsky" erläutert er 1907 mit den Worten: .jener alte Revolutionarismus, der in beständiger Erwartung der automatischen Katastrophe lebt". 549 Die „lächerliche Hoffnung" auf die Katastrophe markiert die politische Bruchstelle zwischen Michels und Kautsky. Auch wenn Michels den theoretischen Leistungen des Chefideologen weiterhin Respekt zollt und so gesehen den Kautsky-Marxismus für die praktischen Defizite der Partei offensichtlich nicht verantwortlich macht, so tut sich in der Marokko-Krise eine Kluft zwischen den beiden Intellektuellen auf, die am Ende auch das persönliche Verhältnis der beiden „Revolutionäre" noch in Mitleidenschaft ziehen soll. Während Kautsky in der Kriegsfrage quasi vorschlägt, man möge sich in ein Schicksal begeben, das langfristig nicht den Sieg der Herrschenden, sondern die Machtergreifung der Unterdrückten zeitigen werde, verabscheut Michels die in dieser Rechnung implizierte Kalkulation unzähliger Opfer und glaubt auch nicht, daß ein Krieg der Sozialdemokratie das wiedergeben könne, was ihr abhanden gekommen sei: das „sozialistische Gewissen" (Enrico Ferri). Für Michels' Position spricht gewiß die kontrafaktische Überlegung, daß ein erfolgreicher internationaler Militärstreik - im Vergleich zum Krieg - verschwindend geringe Opfer an Menschenleben gekostet hätte. Darüberhinaus ist der Militärstreik von einer bestechenden Logik. Er appelliert an die starke Motivationsressource des Selbsterhal-

547 Michels, Socialistes allemands et la guerre, S. 135: „Les plus internationalistes d'entre eux se contentent d'exprimer le désir que l'armée française ou la flotte anglaisent écrasent l'armée ou la flotte allemandes; Ils espèrent que sur les débris des armées impériales détruites par l'ennemi extérieur, pourra se dresser l'ennemi intérieur: la révolution sociale!" 548 Michels, Socialistes allemandes et la guerre, S. 136: „C'est là à peu près que semble attendre Kautsky. Nos ,internationalistes' allemandes ne rêvent donc pas de soustraire les fils des prolétaires à l'armée capitaliste: ils les lui donnent, avec l'espoir burlesque que ces ouvriers socialistes, après avoir été vaincus, tués, anéantis, ressusciteront sous forme de révolutionnaires!". 549 Michels, Internationaler Verband, S. 219.

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IV. Am Krankenbett des Proletariats

tungsinteresses und weist einen plausiblen Weg, das Opfer des eigenen Lebens im Heeresdienst zu vermeiden: wenn die Eisenbahnen stillstehen, die Fabriken nicht produzieren und die einberufenen Soldaten den Dienst verweigern, ist ein Krieg nicht führbar. Die schöne Vorstellung, „es ist Krieg und keiner geht hin", hat es allerdings mit vielen Imponderabilien zu tun: hinter dem Militärstreik muß eine Massenbewegung stehen, damit er nicht von vornherein durch die staatliche Gewalt erstickt werden kann; er muß die Sympathien bedeutender Teile der medialen, auch der staatsnahen!, Öffentlichkeit auf seiner Seite haben, ja, der Antimilitarismus muß so etwas wie eine kulturelle Hegemonie als Gegengewicht gegen die politische Hegemonie der herrschenden Klasse erlangen, auf daß die kriegswillige Regierung sich isoliert fühlt, unsicher wird und am besten im Streit auseinandergeht. Und er muß, dem Prinzip der Reziprozität folgend, in zwei Ländern gleichzeitig - nicht nur durchgeführt werden, sondern auch erfolgreich sein! Denn wenn in einem von zwei als Kontrahenten in Betracht kommenden Ländern der Militärstreik mißlingt, scheitert das gesamte Kriegsverhinderungsunternehmen. Daß antimilitaristische Bewegungen spätestens am Reziprozitätsprinzip scheitern, ist aber gerade im Konfliktfall zwischen autoritären bzw. diktatorischen Regimen und liberalen Demokratien äußerst wahrscheinlich, da bereits eine massenwirksame Agitation gegen die Regierungspolitik in ersteren kaum durchführbar ist. Das war bekanntlich die Crux der westeuropäischen Friedensbewegung im Kalten Krieg. Im Fall des deutschen Kaiserreiches darf vorausgesetzt werden, daß die Bewegungspielräume schon für die Propagierung und Vorbereitung eines Militärstreiks weitaus geringer gewesen sind als in Frankreich. Es ist in diesem Zusammenhang zu unterstreichen, daß Michels mit seiner antimilitaristischen Option keineswegs vom „terrain d'action difficile" des Kaiserreiches abstrahiert und die Repressionspotentiale der Reichsregierung auch nicht unterschätzt hat.550 Nur glaubte er, daß die SPD an ihrer prekären Lage auch nicht ganz schuldlos war: „Jede sozialistische Partei hat die Regierung, die sie verdient". Hinter dieser Auffassung steckte das Parallelogramm der sozialen Kräfte Enrico Ferris,551 d. h. die Annahme, daß die SPD eine Modifikation der Reichspolitik hätte bewirken können, wenn sie ihren Handlungswillen auch unter Verstoß gegen bestehende Gesetze demonstriert und sich in ihrer außerparlamentarischen Aktion nicht auf behördlich genehmigte Versammlungen nach Feierabend beschränkt hätte. Der faktisch nicht-revolutionäre Charakter der Partei und ihr legalitärer Gehorsam dagegen, vermutete Michels, hätten die herrschenden Klassen in ihrem Reformunwillen und ihrer respektlosen bis repressiven Behandlung der Arbeiterbewegung bestärkt, weil sie wußten, daß sie von der Partei allenfalls folgenlose Drohungen, aber keine Taten zu erwarten hatten.552 Michels' Überlegungen werden

550 Michels, Socialistes allemandes et la guerre, S. 137: „l'absence de tout sentiment démocratique, la sévérité des tribunaux, la férocité de leurs exécutions, la rigeur de la police, etc., tout cela forme forme évidemment un terrain d'action difficile pour les socialistes allemands". 551 Vgl. das Unterkapitel III.2.3. „Das positivistische Hinterland des Etico-Sozialismus". 552 Michels, Les Socialistes allemandes et la guerre, S. 138. ,„Tout parti socialiste n'a que le gouvernement qu'il mérite.' Est-ce que les procédés de l'Etat allemand n'auraient pas été modifiés, si le prolétariat lui avait montré les dents d'un peu plus près? Et n'est-il pas naturel qu'un

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indirekt durch die Beobachtung Dieter Grohs einer „teilweisen Identität von Staatsräson und Organisationsräson" im Hinblick auf illegale politische Aktionen bestätigt: in den unruhigen Streikjahren 1905 und 1906 habe die Parteileitung nicht nur alles getan, um .rebellischen' Manifestationen seitens der Basis vorzubeugen. Es liege sogar die Vermutung nahe, „der Parteivorstand habe es nicht ungern gesehen, daß die Reichsleitung möglichst früh über seine Absichten informiert wurde". Vermeintlich „streng vertrauliche" Informationen der die Partei beobachtenden Politischen Polizei erwecken Groh zufolge den Eindruck, daß es sich hier um „gezielte Informationen" handele, mit denen die Partei die Ordnungskräfte und Regierungsbehörden schon vorzeitig über ihre Maßnahmen zur Wahrung der gesetzlichen Ordnung informiert habe, um etwaige Mißverständnisse mit repressiven Folgen zu vermeiden.553 Im Vorfeld des „Roten Sonntags" am 21. Januar 1906, dem Jahrestag der Russischen Revolution, etwa durfte sich der Berliner Polizeipräsident sicher sein, daß eventuelle Straßendemonstrationen „bei dem abwiegelnden Verhalten der Führer der Bewegung voraussichtlich keinen großen Umfang annehmen" würden. 554 Andererseits aber belegt gerade der Verlauf des „Roten Sonntags", an dem sich das Kaiserreich als Polizeistaat präsentierte und die Armee derart in Stellung brachte, als drohe ein Bürgerkrieg, die fortwirkende „Überschätzung der sozialdemokratischen Gefahr" durch die Reichsbehörden. 555 Somit bestätigen die Indizien für ein gemeinsames Interesse von Staat und Parteiorganisation an der Verhinderung illegaler Aktionen zwar Michels' Kritik, daß die Partei ihre antimilitaristischen Prinzipien der Legalität geopfert habe. Sie erlauben aber nicht den spekulativen Umkehrschluß, die Sozialdemokratie hätte mit einem politischen Generalstreik einen Krieg verhindern oder die Parlamentarisierung Deutschlands erzwingen können. Vielmehr muß man entgegen der Michelsschen Annahmen vermuten, daß ein antilegalitärer Kurs der Partei als erste Konsequenz sicherlich nicht eine Minderung, sondern eine Zunahme der Repression mit sich gebracht hätte. Diese Machtprobe - die eine Machtprobe nicht nur mit der Regierung und ihren Repressionsmitteln, sondern auch eine mit den radikalisierten vaterländischen' Massenorganisationen einerseits und den Gewerkschaften andererseits gewesen wäre - suchte die SPD um fast jeden Preis zu verhindern. Ein Exempel hierfür ist die beschämende Passivität, mit der man von sozialdemokratischer Seite auf die Verhaftung Karl Liebknechts reagierte, dessen , Verbrechen' darin bestand, ein antimilitaristisches Buch geschrieben zu haben. Das Manko der Michelsschen Kritik besteht aber nicht nur darin, kein Rezept für die Fortführung der antimilitaristischen Aktionen nach einer Verhaftung der Parteiführung und gewalttätigen Niederschlagung und Einschüchterung der Bewegung vorgelegt zu haben. Es fehlt vor allem ein öffentlichkeitswirksames Konzept, mit dem der Antimili-

gouvernement, qui sait le degré de docilité et d'obéissance de son parti .révolutionnaire', agisse envers lui sans ménagements et sans crainte? Le gouvernement sait trop bien que les menaces de la social-démocratie ne sont que des menaces, pour pouvoir y croire et y sacrifier la moindre bribe de ses privilèges." 553 Vgl. D. Groh, Emanzipation, a.a.O., S. 414-416. 554 Zit. n. Groh, Emanzipation, S. 424. 555 Groh, Emanzipation, S. 432.

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IV. Am Krankenbett des Proletariats

tarismus in Deutschland kulturelle Hegemonie hätte erlangen können. Eine theoretisch denkbare proletarisch-katholische Friedensallianz von SPD und Zentrum hätte vorgängige Vorurteilsstrukturen gegenüber den internationalistischen und ,ultramontanistischen' Vaterlandsfeinden nur bestätigt. Das Bündnis hätte also auch noch in liberale und nationalliberale Kreise vordringen müssen. Allein dies sprengt jegliche Vorstellungskraft, nicht nur, wenn man unser heutiges Wissen um die politische Kultur im Kaiserreich zum Maßstab nimmt, sondern schon, wenn man das zum Maßstab nimmt, was Michels selbst über die Feudalisierung des Bürgers und die extreme politische Frontlinienkultur im Kaiserreich geschrieben hat.556 Demgegenüber spricht für Kautskys Erwartung einer Revolutionierung der Verhältnisse als Kriegsfolge die Faktizität der historischen Zeitläufte selbst. Das deutsche Kaiserreich sollte tatsächlich erst im Ersten Weltkrieg untergehen: „Der autoritäre Staat war stabil, solange er nicht von außen besiegt wurde." 557 Deutschland ist in dieser Hinsicht im übrigen kein Ausnahmefall: in keinem monarchisch regierten europäischen Land sollte es einer nationalen Arbeiterbewegung aus eigener Kraft gelingen, die demokratische Republik durchzusetzen, die sich überall erst infolge „externer Faktoren" realisierte. 558 Was für die demokratische Republik gilt, gilt auch für den Militärstreik, der in Deutschland signifikanterweise erst zum Einsatz kam, als der Krieg nicht mehr zu gewinnen war und ehemals staatstragende und loyale Schichten längst über eine verfassungspolitische Neuordnung für die Nachkriegszeit nachdachten. Allerdings verbietet diese Berufung auf die Macht der historischen Tatsachen nicht die kontrafaktische Spekulation, wie sich die europäische Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelt hätte, wenn nach der Landung des Kaisers in Tanger die französischen und deutschen Arbeiter tatsächlich für einige Tage das Leben in den beiden Ländern lahmgelegt hätten und daraus ein internationalistisches Netzwerk als , continental player' hervorgegangen wäre. Freilich hätte ein solches Friedensnetzwerk der internationalen Zivilgesellschaft, von den oben skizzierten Hindernissen einmal abgesehen, in seiner propagandistischen Ausrichtung jeglichen Eindruck sozialistischer Milieupolitik vermeiden und so .reformistisch' wie nur irgend möglich agieren müssen. Auch dies spricht gegen Michels' und Ferris Transformationskonzept der ^evolutionären Intransigenz'. 559

5.3. Die Geburt der Organisationssoziologie Die Kriegsfrage läutet das Ende von Michels' ,Parteikarriere' ein. In seine Schriften mischen sich von nun an autosuggestiv anmutende Durchhalteparolen, so etwa, wenn er verkündet, er habe die Partei nicht öffentlich herabwürdigen wollen, sondern seine Pflicht 556 Vgl. II.3. „Ein Land aus Stuck". Die politisch unvollendete Modernisierung des Deutschen Reiches. 557 Guenther Roth, The Social Democrats in Imperial Germany, Totowa, New Jersey 1963, S. 313. 558 Vgl. Göran Therborn, The Rule of Capital and the Rise of Democracy, in: New Left Review, Nr. 103, S. 177, S. 3-41, S. 32. 559 Vgl. ibs. Kapitel IV. 2.3. Das positivistische Hinterland des Etico-Sozialismus.

IV.5. Probelauf für den Weltkrieg

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als selbstkritischer Genösse getan, der der Sozialdemokratie „alle seine Kräfte geopfert hat und weiterhin opfern wird." 560 D i e s ist ein trotziges Beharren auf dem eigenen Anspruch, als sozialistischer Intellektueller die Selbstaufklärung der Partei vorantreiben zu können. Innerlich dagegen gelangt Robert Michels 1906 in Deutschland an das Ende seiner Kräfte: Im Mai 1906 verschließen sich endgültig die Pforten der Universität, 561 innerhalb der Sozialdemokratie ist Michels kompromittiert und steht isoliert jenseits aller Flügel und Lager. Unveröffentlichte autobiographische Notizen suggerieren sogar, daß im unmittelbaren Anschluß an seine erfolglose antimilitaristische Agitation bereits Ende Februar 1906 fur ihn der „Bruch mit der Sozialdemokratie" feststeht und er die Wiederaufnahme seiner akademischen Laufbahn beschlossen hat. 562 A m 6. Juni 1906

560 Vgl. Michels, Polémiques, S. 235, wo er in der dritten Person über sich schreibt: „un camarade de ce parti même, - qui n'avait d'ailleurs jamais pensé à avilir aux yeux de ses camarades de la France, cette classe prolétarienne organisée d'Allemagne, dont il ne cache ni lui-même, ni aux autres, les défauts d'esprit et les fautes de tactique, mais à laquelle il a sacrifié et ne cessera de sacrifier tout ce qu'il a de force". 561 Auf Anraten von Max Weber (Vgl. Brief von Weber an Michels, 18.4.1906, MWG Abt. II, 5, Briefe 1906-1908, Tübingen 1990, S. 84, 85) hatte Michels sich mit einem informellen Habilitationsgesuch zunächst persönlich an den Jenenser Universitätsprofessor Julius Pierstorff gewandt, um auszuloten, ob das Vorhaben schon im Ansatz aus politischen Gründen zum Scheitern verurteilt war: „Ich trage mich [...] mit dem Gedanken, mich eventuell in Jena für Nationalökonomie zu habilitieren. Zu diesem Behufe möchte ich mir zunächst nur gestatten, Ihnen die höfliche Frage vorzulegen, ob nach Ihrer Kenntnis [...] die Tatsache, daß ich Mitglied der sozialdemokratischen Partei bin, an und fiir sich Hinderungsgrund für die Habilitation gelten würde." (Vgl. Michels' Brief im Universitätsarchiv Jena, M 650, Bl. 172-173). In seiner Antwort an Michels am 7.5. 1906 (Original ARMFE; zentrale Passage zitiert in FN 2 zum o. g. WeberBrief in der MWG), hat Pierstorff die Stellen genannt, die über ein Habilitationsgesuch zu entscheiden hätten: die Fakultät, der akademische Senat und die Regierungen der vier Erhalterstaaten. Fazit: „Nach den erhaltenen Informationen halte ich es für ausgeschlossen, daß Ihre Bewerbung diesen ganzen Instanzenzug erfolgreich passieren würde." 562 Ich beziehe mich erneut auf die „episodi memorabili ..." (Appunti autobiografici di R. Michels, ARMFE), die uns schon über Michels' Treffen mit Bebel in Küssnacht informiert haben. Die folgenden Wochen sind, wenn wir den italienisch verfaßten (also auf allerfnihestens 1914 datierbaren) Notizen folgen wollen, die reinste Odyssee gewesen. In Berlin trifft Michels Kautsky, der ihm sagt, daß der Krieg das einzige Mittel sei, das die Niederlage der „Preußen" herbeiführen könne. Dann folgt ein stichwortartiges Kurzreferat über Michels' Reisen nach Leipzig, Paris und auch Österreich-Ungarn, die alle im politischen Kontext der Kriegsdebatte stehen. Michels schreibt über seine Isolation - nur die „Leipziger Volkszeitung" halte noch die These des antimilitaristischen Massenstreiks aufrecht - und über die innere wie äußere Anspannung: in Berlin habe er sich wie „am Vorabend des Krieges" gefühlt. Zum Eklat im „Leseklub" Ende Februar erfahren wir, daß Michels dort nicht allein, sondern mit seinen syndikalistischen Freunden Grifiuelhes, Lagardelle und Berth erschienen ist, um sich zu rechtfertigen. Quintessenz: „Der Bruch mit der Sozialdemokratie", sowie, daß er, Michels, die akademische Karriere dem nutzlosen Parteileben vorziehe und nach Italien auszuwandern gedenke. Der Text enthält in diesen Schlußzeilen das einzige konkrete Datum: die Geburt von Michels' Tochter Daisy am 25. Februar 1906.

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bittet Michels den Turiner Nationalökonom und Sozialisten Achille Loria um seinen akademischen Rat, weil es „nicht ausgeschlossen" sei, „daß [...] ich mich für einige Jahre in Italien (Rom oder Turin) zurückziehen werde, in diesem Fall würde ich dann versuchen, Privatdozent für Sozialwissenschaft an der Universität zu werden (Was in Deutschland für Marxisten ausgeschlossen ist, wie Sie gut wissen)."563 Politisch bieten die folgenden Monate ohnehin für Michels keine guten Gründe, sein sozialdemokratisches Engagement fortzusetzen. Sowohl auf dem sozialdemokratischen Parteitag in Mannheim (September 1906) und auf dem PSI-Kongress in Rom (Oktober 1906) unterliegen die ^evolutionären' Strömungen neuen Mitte-Rechts-Koalitionen. In Mannheim etabliert sich eine Mehrheit um Bebel und Legien und schlägt nicht nur die radikale Linke, sondern auch Kautsky. In Rom geht Enrico Ferri ein Bündnis mit dem Reformisten Bonomi ein und brüskiert damit die Revolutionäre um Arturo Labriola, was die syndikalistische Entwicklung dieser Gruppe auf die Spitze treibt und wenige Monate später zur Parteispaltung führt. Damit ist Michels' Vision einer pansozialistischen Revitalisierung der Parteipolitik gescheitert. In Mannheim - wo Michels' nach drei Parteitagsdelegationen in Folge erstmals nicht mehr als Gesandter teilnimmt - wird das längst der Öffentlichkeit bekannt gewordene Geheimabkommen' zwischen Partei und Gewerkschaften gegen den Generalstreik nachträglich ratifiziert und somit demokratisch legitimiert. Die neue Massenstreikresolution, die offiziell die von Jena bestätigen soll, wird von Bebel und Legien so restriktiv formuliert und ausgelegt, daß diese ökonomische Waffe der Arbeiterbewegung allenfalls zum Schutz bestehender Rechte, aber keinesfalls zur Erlangung von Rechten oder gar zur Verhinderung eines militärischen Abenteuers der Regierung in Betracht käme. Gleichzeitig wird in der Resolution die Gleichrangigkeit von Partei und Gewerkschaften festgeschrieben und verpflichtet sich die Partei, in der Frage des politischen Streiks nichts ohne vorherige Konsultation der Gewerkschaften zu unternehmen.564 Die Ergebnisse von Mannheim trägt Michels in einer deftigen Leichenschauhaussprache vor: „Noch bevor der Kampf begonnen hat, kapituliert sie [die Partei] und übergibt ihr Schwert - ihr Prinzip, ihre raison d'être - dem Gegner: der Generalkommis-

563 Brief von Michels an Achille Loria, datiert 11.6.1906, Original im Archivio di Stato di Torino, zit. n. Pino Ferraris, Saggi, S. 127: „Del resto non è impossibile che - la mia salute un po' scossa - mi ritirerò per alcuni anni in Italia (Roma o Torino), in questo caso poi cercherei di prendere una libera docenza di scienza sociale nell'Università (Ciò che in Germania è, per i marxisti, escluso, come lei ben saprà). Anzi le sarei riconoscentissimo se lei volesse avere la cortesia di aiutarmi col suo prezioso consiglio in proposito." 564 Vgl. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten zu Mannheim vom 23.-29. September 1906, Berlin 1906 (Reprint Osaka 1970), S. 131-132.

IV.5. Probelauf für den Weltkrieg

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sion der reformistisch-zentralistischen Gewerkschaften. Das Ruhmesfeld des Mannheimer Kongresses ist mit Leichen und Verwundeten bedeckt. Gestorben, getötet, gemeuchelt der arme Embryo des Generalstreiks, der sich in Jena ein Jahr zuvor noch bewegt hatte; tödlich verletzt der deutsche Syndikalismus, schwer geschwächt die Reste des Marxismus. Und der Sozialismus selbst, erniedrigt, verhöhnt, degradiert zum Leben eines Müßiggängers und Tölpels."565 Damit sind in einer makabren Semantik die wesentlichen Entscheidungen des Kongresses benannt: die Entsorgung der Massenstreikproblematik in einer Resolution, die den De-facto-Verzicht auf dieses Kampfmittel bedeutet; das Ultimatum an die „Lokalisten" (Michels' „deutschem Syndikalismus"), dem gewerkschaftlichen Zentralverband beizutreten oder sich aus der offiziellen deutschen Arbeiterbewegung zu verabschieden; sowie die Niederlage Kautskys. Dieser hat nämlich die Resolution Bebel-Legien dahingehend abändern wollen, daß im Verhältnis von Gewerkschaften und Partei letzterer eine Führungsrolle insofern gebühre, als sie, und nicht die Gewerkschaften, die „höchste [...] Form des proletarischen Klassenkampfes" sei. Parteigenossen, die sich in den Gewerkschaften betätigen, so Kautsky, müßten daher die Parteitagsbeschlüsse respektieren und in ihrem Sinne wirken.566 Damit richtet er sich gegen die Auffassung einiger sozialdemokratischer Gewerkschafter in der Reichstagsfraktion, die wiederholt unter Berufung auf den Kölner Gewerkschafitskongreß erklärt haben, sich an Massenstreikbeschlüsse nicht gebunden zu fühlen. Mit diesem Antrag sieht sich Kautsky in Mannheim erstmals auf einem SPD-Parteitag nahezu vollständig isoliert: 332 Delegierte stimmen gegen ihn, nur fünfzig schlagen sich auf die Seite des Parteiintellektuellen. Obwohl Michels sich in der Kriegsfrage zuvor an Kautskys theoretischen Rationalisierungen der fatalistischen Passivität der SPD doch erheblich gestoßen hat, ist Kautsky für ihn Ende 1906 immer noch die genuine intellektuelle Verkörperung des marxistischen Klassenkampfes, so daß er Kautskys Mannheimer Niederlage als das „Scheitern des sozialistischen Radikalismus in Deutschland"567 bezeichnet. Der nekrologische Charakter des Mannheimer Schlachtbildes erklärt sich aber auch aus dem nun offenkundigen Scheitern eines emanzipativen Politikbegriffs, das in Kautskys Abstimmungsniederlage offenbar so etwas wie seinen symbolischen Niederschlag gefunden hat. Michels muß in Mannheim das Auseinanderreißen jenes Bandes von Theorie, Taktik und Organisation zur Kenntnis nehmen, das für ihn eine conditio

565 Michels, Le socialisme allemand après Mannheim, a.a.O., S. 5-6: „[...] avant même que le combat eut commencé, il [die SPD] capitula en donnant son épée - son principe, sa raison d'être - à l'adversaire: la Commission centrale des syndicats réformistes-centralistes. Le champ de gloire du Congrès de Mannheim est semé de cadavres et de blessés. Mort, tué, assassiné, le pauvre embryon de grève générale, qui s'était agité au Congrès de léna, l'an passé; blessé à mort, le syndicalisme allemand; grièvement atteints, les restes du marxisme! ... Et le socialisme luimême, avili, outragé, dégradé à une vie de fainéant et de rustre!" 566 SPD-Parteitagsprotokoll Mannheim, a.a.O., S. 138. 567 Michels, Le socialisme allemand après Mannheim, in: Mouvement Socialiste, 9. Jg., Nr. 182, Januar 1907, S. 5-22, S. 14: „C'est la faillite du radicalisme socialiste en Allemagne".

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sine qua non der Revolutionären Evolution' und Transformation des Kaiserreiches gewesen ist: „Die radikale und wissenschaftliche Fraktion, die die Partei literarisch dominiert und sozusagen die repräsentativen Plätze gegenüber dem Ausland besetzt - die Kautsky, Rosa Luxemburg, Mehring, Clara Zetkin, Ledebour - , sind weit entfernt, einen Ton der sozialistischen Musik in Deutschland zu spielen. Sie bilden nur eine kleine Minderheit, die dem Gutdünken der Reformisten ausgeliefert ist und froh sein muß, solange ihr ihre Gegner erlauben, in der Partei zu vegetieren. Eine neue Diskussion zwischen Kautsky und Bernstein wäre jetzt unmöglich. Wenn Kautsky es erneut wagte, seine revolutionären Ansichten zu lancieren, würde das das Ende seines schon jetzt geringen Einflusses auf den deutschen Sozialismus bedeuten." 568 Die in Michels' Sicht bedauerliche Verfassung der Partei kommt auch in dem Umstand zum Ausdruck, daß sich nicht eine der 178 Resolutionen von Mannheim mit der Kriegsfrage und den antimilitaristischen Vermittlungsversuchen seitens der französischen, belgischen und englischen Arbeiterführer auseinandersetzt. Nur eine Resolution fordert eine Absichtserklärung der Partei, was sie zu tun gedenke, wenn die preußische Armee in das revolutionäre Russland einmarschieren sollte. In seiner Antwort verneint August Bebel die Möglichkeit einer solchen Invasion mit dem Hinweis auf die außenpolitische Isolation des Reiches, um dann prinzipiell dem Militärstreik eine Absage zu erteilen. Seine Begründung stützt sich auf das für die Sozialdemokratie ungünstige Kräfteverhältnis zum Regierungs- und vor allem Militärapparat sowie auf das fingierte Szenario eines Kriegsausbruchs: „Wer glaubt denn, daß man in einem Moment, wo eine gewaltige Aufregung, ein Fieber die Massen bis in die tiefsten Tiefen aufrüttelt [...] wer glaubt, daß es in solchem Augenblick möglich ist, einen Massenstreik zu organisieren? (Sehr richtig!) Das ist eine kindliche Idee. Bei Ausbruch eines solchen Krieges marschieren vom ersten Tage ab in Deutschland 5 Millionen unter den Waffen, darunter viele hunderttausend Parteigenossen [...] Furchtbares Elend, allgemeine Arbeitslosigkeit, Hunger, Stillstand der Fabriken, Sinken der Wertpapiere - glaubt man, man könne in einem solchen Moment, wo jeder nur an sich denkt, einen Massenstreik

568 Michels, Le socialisme allemand après Mannheim, S. 13: „[...] la fraction radicale et scientifique qui domine le parti littérairement et qui occupe pour ainsi dire les places représentatives de la social-démocratie allemande vis-à-vis de l'étranger - les Kautsky, Rosa Luxemburg, Mehring, Clara Zetkin, Ledebour - loin de donner le ton de la musique socialiste en Allemagne, comme on le suppose si souvent au dehors, ne forment qu'une petite minorité qui est à la discrétion des réformistes et doit se trouver heureuse si ses adversaires dans le parti lui permettent de vivoter. Une nouvelle discussion entre Kautsky et Bernstein serait maintenant impossibile. Si Kautsky se hasardait de nouveau à lancer ses opinions révolutionnaires, ce serait la fin de son influence, déjà mince, sur le socialisme allemand."

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inszenieren? (Sehr gut!) Würde eine Parteileitung so kopflos sein [...] so würde sofort mit der Mobilmachung der Kriegszustand über ganz Deutschland verhängt werden. [...] Ich habe schon läuten hören [...] daß man sich an maßgebender Stelle schon lange mit dem Gedanken trägt, allen Führern der Sozialdemokratie dasselbe Schicksal zu bereiten, wie 1870 den Mitgliedern unseres Parteiausschusses [...] Es ist eben bei uns anders, als in anderen Ländern. Deutschland ist ein Staatswesen, wie es zum zweiten Male nicht existiert."569 Diese Rede, die laut Protokoll „stürmischen Beifall" bekommen hat, ist für Michels ein Offenbarungseid. Die Überzeugung, daß in Deutschland bei Ausbruch eines Krieges jeder Genösse „nur an sich" denken würde, daß ein Massenstreik nicht durchführbar sei, weil mit der Verhaftung der sozialdemokratischen Führer durch die Militärpolizei zu rechnen sei, und daß das preußische Staatsmodell so einzigartig in der Welt sei, daß keine Arbeiterbewegung, selbst die zahlreichste nicht in der Lage wäre, ihm den Gehorsam aufzukündigen - diese Begründungen Bebels' für die Unmöglichkeit des Militärstreiks wertet Michels als Eingeständnis, daß der Abschied vom Gedanken an eine „proletarische Revolution" innerlich längst vollzogen und daß das Programm einer „sozialistischen Erziehung" zur Klassensolidarität gescheitert und beendet ist.570 Der tiefe Graben zwischen revolutionärer Selbstauslegung und gesetzeskonformer Praxis ist durch keinen dialektischen Kunstgriff mehr zu überbrücken: „Die deutsche Sozialdemokratie wird gekennzeichnet durch die flagrantesten Widersprüche, die in ihr unter einem Dach und Fach wohnen: revolutionäre Intransigenz bei den Wahlen und antirevolutionärer Quietismus in der Gesamthaltung; Sonorität der Phrase in der Theorie, und resignierte Biegsamkeit in der Praxis; flammendes Prophetentum in den Worten und fast absolute Bewegungslosigkeit in der Tat."571 Hat Michels bislang die Gründe für das praktische Versagen der SPD in ihrer exklusiven Ausrichtung auf die Erringung von Wahlsiegen in einem Land des monarchischen Pseudoparlamentarismus und in einem vulgärmarxistisch legitimierten, ,buddhistischen' Politikkonzept der , faulen Revolution' gesehen, so dringt seine Kritik der sozialdemokratischen Widersprüche nach Mannheim in ungeahnte Tiefen vor. Ist der Ruhrarbeiterstreik 1905 und das Verhalten der Gewerkschaftsführer für Michels die Geburtsstunde der „01igarchie"-Problematik gewesen, so ist , Mannheim' der Einstieg in die Parteien-

569 SPD-Parteitagsprotokoll Mannheim, S. 240-241. 570 Michels, après Mannheim, S. 136: „Que dans un moment de désordres en Allemagne, chacun ne pensera qu'à sa propre personne - effet de l'éducation socialiste et congé donné à la revolution prolétarienne!"; außerdem spreche aus Bebels Rede: „La certitude que le prolétariat, privé de ses ,chefs' resterait ébahi et déconcerté - autre effet de l'éducation socialiste et autre adieu à toute éventualité d'une révolution prolétarienne"; „Une foi aveugle et très commode en la fermeté de l'Etat-modèle prussien, beaucoup trop fort pour que les socialistes puissent accomplir leur devoir". 571 Michels, Internationaler Verband, S. 219-220.

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Soziologie. Erstmals analysiert er die Taktik der SPD in einer organisationstheoretischen Perspektive und gibt so auch eine Antwort darauf, warum die „soziale Pädagogik" der Intellektuellen in dieser Partei keine großen Zukunftsaussichten mehr haben dürfte: Sie scheitert an den Selbstverwertungsinteressen der Organisation. An die Stelle einer politischen Sozialisation, die zu solidarischem Handeln und demokratischem Selbstbewußtsein anspornen sollte, ist die Erziehung durch den Apparat zu „Ordnung" und „Disziplin" getreten, weil die Bewahrung ihres organisatorischen Gefüges zum obersten Gesetz der sozialdemokratischen Handlungslogik avanciert: Die „Organisation der Mittel, um das verfolgte Ziel zu erreichen, ist - peu à peu und ohne daß sich die Organisierenden selbst dessen bewußt sind - zum Ziel-an-sich geworden."572 Die „Organisation um der Organisation willen" sei zum „Fetisch"573 der deutschen Arbeiterbewegung geworden, der nunmehr alles, auch das sozialistische Endziel geopfert werden könne. Diesen „Organisatonsfetischismus" (Dieter Groh)574 hat kein geringerer als Bebel selbst in Mannheim zum Ausdruck gebracht. Den Vorwurf, durch das Bremsen in der Massenstreikfrage habe sich die Parteiführung von der zur Jahreswende spontan auf politische Streikaktionen drängenden Basis in Hamburg, Sachsen und Preußen entfremdet, pariert er signifikanterweise mit der „Zunahme der organisierten Genossen", der „steigenden Abonnentenzahl der Parteipresse" und den „Erfolgen bei den Landtags-, bei den Gemeindewahlen oder bei den Reichstagswahlen", um so den Vorwurf des Vertrauensverlustes ad absurdum zu führen. 575 Wenn man in diesem Zuammenhang Bebels Unwillen berücksichtigt, überhaupt noch einmal die Massenstreikthematik auf einem Parteitag diskutieren zu müssen, dann wird die aus dem Primat der Organisationsinteresses resultierende Handlungslogik um so deutlicher: die quantitative Rekrutierung von Wählern, Mitglieder und Abonnenten gerät zum kaum noch kaschierten, eigentlichen Leitmotiv der Partei und ersetzt die qualitative Frage nach ihrer kollektiven Identität. Letztere wird als unangenehm empfunden, weil sie für Unruhe sorgen könnte, und daher möglichst mit einer geeigneten „Vertuschungspolitik" zum Verschwinden gebracht. Theoretische Grundsatzdebatten ums Prinzip werden als das „persönliche Gezänk" der Literaten dargestellt, um schließlich „unbemerkt ganz von der Oberfläche beseitigt zu werden", wie Michels etwas später über seine Erfahrungen schreiben wird.576 Die Gründe für diesen Wandlungsprozeß liegen auf der Hand. Eine Partei mit 400.000 Mitgliedern und Beitragszahlern bedarf einer Verwaltungsapparatur mit verbindlichen Regeln für das Parteileben, für das Einsammeln der Beiträge, die Verwaltung des Partei-

572 Michels, après Mannheim, S. 20: „Mais cette organisation des moyens pour atteindre le but poursuivi est devenue, peu à peu et sans que les organisateurs eux-mêmes s'en rendent compte, le but à elle-même." 573 Michels, après Mannheim, S. 21: „L'organisation pour l'organisation, voilà [...] le fétiche auquel la social-démocratie allemande semble si souvent prêt à immoler tout, même le socialisme." 574 Groh, Emanzipation, S. 449. 575 SPD-Parteitagsprotokoll Mannheim, S. 237. 576 Michels, Der konservative Grundzug der Partei-Organisation, in: Monatsschrift für Soziologie, 1. Jg., 1909, Sonderabdruck 24 S..

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haushalts sowie die vielfältigen Serviceleistungen für ihre Mitglieder. Dabei habe die Partei den Charakter einer „Klassenerhöhungsmaschine"577 angenommen, welche Arbeiter in Parteifunktionäre verwandelt, in besoldete Diener, die am Bestand der Organisation ebenso interessiert sind wie der Kaiserliche Beamte an der Monarchie. Zudem induziert die arbeitsteilige Verwaltungslogik der Organisation bei ihren Angestellten eine Priorität der Kurzzeit- vor den Langzeitperspektiven,578 was auf Dauer zur Folge hat, daß die Gründungsprinzipien sozialer Bewegungen mit der Zeit von einer hochspezialisierten Organisationsperspektive konsumiert werden. Michels hat diesen Vorgang im Zusammenhang mit der Marokko-Krise am Beispiel des Internationalismus und Antimilitarismus wahrnehmen müssen: Die Organisation ruft bei ihren Mitgliedern und Angestellten eine kognitive Wandlung, eine „psychologische Metamorphose", wie es später in der „Soziologie des Parteiwesens" heißen wird, hervor, die den gesamten politischen Horizont mit seinen Notwendigkeitspostulaten und Möglichkeitsannahmen neu definiert. Mit diesem Ansatz geht Michels über den auf der radikalen Linken verbreiteten Vorwurf an die Führer, daß deren , Verrat' der Grund fur die opportunistischen Tendenzen sei, weit hinaus und nimmt vielmehr jene Mechanismen in den Blick, die hinter dem Rücken der Parteiaktivisten greifen und ihre habituelle Anpassung an die bürokratische Rationalität der Organisation bewirken: „Es ist das Prinzip der Arbeitsteilung, das den Internationalismus langsam abtötet."579 Dieses „Gesetz" formuliert Michels 1907 nicht unter Rückgriff auf zeitgenössische bürokratietheoretisch versierte Soziologen wie Max und Alfred Weber, sondern er zitiert aus einem unveröffentlichten Text des polnischen Sozialisten Ladislaus Gumplowicz: „Mit je mehr Bienenfleiß sich einer in die Spezialfragen der Fabrikinspektion und der Gewerbegerichte, des Rollmarkensystems in den Konsumvereinsläden und der Gasverbrauchskontrolle bei der kommunalen Gasbeleuchtung eingearbeitet hat - desto mehr hat er Mühe, auch nur die inländische Arbeiterbewegung als Ganzes im Auge zu behalten, desto weniger Zeit, Lust und Sinn behält er für auswärtige Politik übrig, desto bornierter und falscher wird sein Urteil über internationale Fragen ausfallen, desto mehr wird er geneigt sein zu protzigem, höhnischem Absprechen über eine sozialistische Bewegung, die auf anderem Boden kämpft und in anderen Formen auftritt. Das ist nicht zu ändern, so wenig als es zu ändern ist, daß mit dem fortschreitenden Wachstum des wissenschaftlichen Forschungsmaterials der Polyhistor ausgestorben ist und selbst der UniversalZoologe dem Ornithologen und dem Entomologen Platz macht und der letzte wieder dem Lepidopterologen und Myrmekologen."580

577 Michels, Die deutsche Sozialdemokratie, S. 543. 578 Claus Offe/Helmut Wiesenthal, Two Logics of Collective Action, in: ders., Disorganized Capitalism. Contemporary Transformations of Work an Politics, sec. print, Cambridge, Massachusetts 1989, S. 170-220, S. 211-214. 579 Michels, Internationaler Verband, S. 224. 580 Zit. η. Michels, Internationaler Verband, S. 223-224. Meine Vermutung ist, daß Michels aus einem persönlichen Brief von Gumplowicz zitiert. Vgl. dazu T. Genett, Lettere di Ladislaus Gumplo-

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All die oben genannten Faktoren, die Ausbildung einer Funktionärsschicht, die Präponderanz quantitativer Wachstumsimperative und die kognitive Bornierung des politischen Problembewußtseins durch die arbeitsteilige Spezialisierung, fuhren in Michels' Analyse zu einer schleichenden, aber nachhaltigen Inversion der ursprünglichen MittelZweckbeziehung zwischen der Organisation und den ihr ursprünglich zugrunde liegenden normativen Leitideen. Das Mittel wird zum Selbstzweck und diktiert der Arbeiterbewegung zunehmend ihre Ziele. Die Organisationslogik nimmt dabei aber nicht allein auf das agenda-setting der Partei Einfluß und führt so zu einer Verengung des politischen Möglichkeitshorizontes, sie hat auch gravierende Folgen für das demokratische Projekt, unter dessen Banner die Sozialdemokratie angetreten ist. Um die zentralistische Macht des Staates zu überwinden, hat sich die Partei zentralisiert, weitgehend wohl auch zentralisieren müssen. Ähnlich den freien Gewerkschaften, die, wie gesehen, alternativen Konzepten wie dem der dezentral operierenden Arbeitnehmerorganisation der „Lokalisten" den Kampf ansagen, hat sich auch in der Partei eine hierarchische Verengung der Entscheidungspolitik auf Präsidium, Fraktion und informelle Ausschüsse durchgesetzt. Demgegenüber gerät das demokratische Kontrollforum der Parteitage immer mehr zur Bühne für eine weitgehend symbolische, aber kaum handlungsrelevante Schaupolitik, die vor allem den Konsens zwischen Führung und Basis herstellen soll, aber als Gremium zur Generierung bindender demokratischer Entscheidungen immer mehr an Bedeutung verliert. Für das Projekt der demokratischen Erziehung hat dies verheerende Folgen. Die Imperative der Organisation - die, vorrangig auf das Akkumulieren von Wählerstimmen ausgerichtet, aller Bewegungsimpulse verlustig gegangen ist und in ihrem Selbstinteresse diese nunmehr systematisch ausschließt - wirken geradezu dysedukativ, weil sie die vordemokratischen Tugenden stabilisieren: Der Partei, so Michels, widerstrebe allem, „was in die Speichen ihres Räderwerks eingreifen, ihren Organismus [...] bedrohen könnte. [...] und sie scheut es, das großartige Menschenmaterial, das ihr zur Verfügung steht, zu höheren Pflichten als einer im letzten Grunde ziemlich bleiernen und initiativlosen Disziplin zu erziehen. Sie scheut vor allem Opfer und rät - exempla abundant - in Fällen, die sittliche Kraft erfordern, ihren Anhängern zur Feigheit. Sei erzieht nicht Menschen, sondern bemüht sich, Maschinenteilchen für ihre komplizierte Maschinerie zu gießen, disziplinierte Parteigenossen, deren höchste Eigenschaft in dem großen Plus - oder Minus? - des deutschen Volkscharakters, der organisationsfahigen Herdenqualität des Gehorchenkönnens, der Unterordnung im Verwaltungsfach besteht."581 Wenn man so will, ist dies Michels' Schwanengesang auf die Vision einer republikanischen Transformation des Reiches, steht diese doch vor einem historischen Dilemma: Der vollständige Übergang der Arbeiterbewegung, des geschichtsphilosophisch prädestinierten Modernisierungsagenten, zur Organisation mit ihren „konservativen Tenwicz a Roberto Michels, a.a.O., S. 429, Anm. 54. In seiner Parteiensoziologie hat Michels diese Argumentation Gumplowicz' wortwörtlich übernommen, allerdings ohne den Urheber des Gedankens zu nennen. Vgl. Soziologie des Parteiwesens, 1911, S. 160-161, 2. Aufl. 1989 (1925), S. 165-166. 581 Michels, Internationaler Verband, S. 230.

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denzen" ist bereits abgeschlossen, als in Deutschland die allgemeine „oligarchische Staats- und Geistesverfassung"582 immer noch ungebrochen fortexistiert! Die psychische Verfassung der deutschen Sozialdemokratie erscheint unter diesen Umständen immer weniger als ein Gegenentwurf, sondern vielmehr als ein Imitat des reichsdeutschen Ambientes. Sie hat mit der Sozialpsychologie der bürgerlichen Gesellschaft mehr gemein als ihr antagonistisches Verhältnis zu ihr und ihre Isolation im Reiche zunächst vermuten lassen. Die Tradition des preußischen Militarismus - hier als Geisteshaltung, als „stato d'animo" (Michels) verstanden - scheint sich in ihr, allen Kriegserklärungen an Krieg und Heereswesen zum Trotz, zu duplizieren: „Wie sehr die demokratische Kampfespartei mit der Heeresorganisation verwandt ist, beweist die sozialdemokratische Technologie, die, besonders in Deutschland, in hohem Grade der Militärwissenschaft entlehnt ist. Es gibt kaum einen Ausdruck der Heerestaktik, der Strategie und des Kasernenhofs, kurz, des militärischen Jargons, der sich nicht in den Leitartikeln der sozialdemokratischen Presse wiederfände."583 Der Organisationsmilitarismus schreibt die Gesetze der wahlarithmetischen Taktik vor, verlangt nach einer hierarchischen Gliederung und suspendiert den demokratischen Anspruch: „In einer politischen, einer kämpfenden Partei", wird Michels vier Jahre nach Mannheim das sozialdemokratische Exempel generalisieren, „kann die Demokratie nicht ,zum Hausgebrauch' gehören."584 Die Fortschrittlichkeit der SPD als im damaligen europäischen Kontext modernste Parteiorganisation hat somit einen vom emanzipativen Standpunkt her gesehen fürchterlichen Revers. Denn dasselbe Organisationsniveau scheint aufgrund seiner Selbsterhaltungsimperative dafür mitverantwortlich zu sein, daß die SPD im Milieu des Kaiserreichs faktisch zu einem passiven Organ mutiert und obendrein auch noch den vielbeklagten wilhelminischen Untertanengeist konserviert. Eine unerbittliche immanente Logik scheint das unverzichtbare emanzipatorische Kampfmittel der Unterdrückten in eine Anstalt konservativer Stagnation zu verwandeln. Damit nicht genug: vor dem Hintergrund der Kriegsgefahr münden Michels' erste organisationstheoretische Überlegungen in eine weitere unheilvolle Prognose, die viele Genossen als Angriff auf das Allerheiligste ihres sozialdemokratischen Selbstverständnisses erlebt haben dürften. Nur Eduard Bernstein wird Jahre später, 1917, mit Blick auf das Verhalten der Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg, Michels' Prognose von 1907 mit den Worten bestätigen: „Es gibt Vorhersagungen, die man lieber nicht in Erfüllung gehen sehe."585 Michels schreibt 1907: „Derartige Eigenschaften aber müssen die sozialistische Partei in einem Lande von so ausgeprägt autokratischer oder [...] oligarchischer Staats- und Geistesverfassung wie Deutschland [...] nicht zur Herrin, sondern zur Sklavin jedweder Situation machen, sie ausschließen aus der Reihe der maßgebenden geschichtsbildenden Faktoren der Gegenwart."586 582 583 584 585 586

Michels, Internationaler Verband, S. 231. Michels, Soziologie des Parteiwesens, 1. Aufl. 1911, S. 43. Michels, Soziologie des Parteiwesens, 1. Aufl. 1911, S. 42. Brief von Eduard Bernstein an Robert Michels, 19.6.1917, ARMFE. Michels, Internationaler Verband, S. 231.

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IV. Am Krankenbett des Proletariats

An anderer Stelle wird Michels noch konkreter. Angesichts der sozialdemokratischen Reaktionen auf die Kriegsfrage scheint ihm im August 1907 die Bewilligung von Kriegskrediten und ein sozialdemokratischer Kriegseinsatz an der Seite des Kaisers auch gegen Frankreich nur noch eine Frage der Zeit. „Das wären die Konsequenzen" aus allen offiziellen Stellungnahmen der Partei zur Kriegsfrage. „Man mag sie betrauern ... Aber unabwendbar sind sie. Unabwendbar wie die Nacht, die auf den Tag folgt."587

5.4. Die ,Hottentottenwahlen' „Die preußische Reaktion vivit, crescit, floret", hatte Michels 1905 dem revolutionären Optimismus in den sozialdemokratischen Reihen entgegnet. Was Michels aus der ohnmächtigen, und in der Konsequenz sogar affirmativen Reaktion der SPD gegenüber der friedensgefährdenden Politik der Regierung folgerte, daß das Reich nämlich in eine Phase der Restauration eintreten würde, sollte sich in den Reichstagswahlen von 1907 auf empfindliche Weise bestätigen. Zu diesen vorzeitigen Wahlen war es gekommen, als am 13. Dezember 1906 eine Reichstagsmehrheit von SPD und Zentrum - gemeinsam mit den Parteien der nationalen Minderheiten - den Antrag der Regierung auf eine Erhöhung des Budgets für den Kolonialkrieg in Süd-West-Afrika hatte scheitern lassen. Reichskanzler Bülow griff darauf zur ultima ratio; er löste das Parlament auf und ordnete Neuwahlen an. Was immer er über den Scheinkonstitutionalismus und die daraus resultierende Nutzlosigkeit der ,parlamentaristischen' Taktik der SPD geschrieben hatte, sah Michels durch diesen Akt der Regierung bestätigt:

587 Vgl. Michels, Die deutsche Sozialdemokratie und der internationale Krieg, a.a.O., S. 304, wo sich Michels bei seiner Herleitung der „Konsequenzen" allein auf die Reichstagsreden von Bebel und Noske bezieht: „So sitzen die sozialdemokratischen Verteidigungspatrioten prinzipiell zwischen zwei Stühlen. Sie sind noch nicht konsequente .Bourgeois', aber sie sind auch nicht mehr konsequente Sozialisten. Da sie die Möglichkeit der Existenz eines mit den herrschenden Schichten des Staatsgebildes, in dem sie leben, gemeinsamen ,Feindes' annehmen [...] ist es in der Tat ganz unbegreiflich, wie sie dazu kommen, den Militäretat glattweg zu verneinen. Wer einen „Feind" anerkennt, der muß sich gegen ihn wappnen, und wer sich auf den Rechtsgrund der deutschen Reichseinheit stellt, der muß gegebenenfalls nicht nur das Gewehr aufpacken, um mit Bebel das letzte deutschgewordene Franzosendorf gegen die Franzosen und das letzte deutschgewordene Polennest gegen die Polen zu verteidigen, sondern es auch bewilligen. Das wären die Konsequenzen. Diese ergeben sich aus den Reichstagsreden der Abgeordneten Bebel und Noske, hinter denen zweifellos die übergroße Mehrheit ihrer einst marxistischen Partei steht. Man mag sich dieser, den ausländischen Sozialisten allerdings schwerverständlichen patriotischen' Stellungnahme der großen deutschen Arbeiterpartei zum Kriegsproblem und zumal der sich aus ihr ergebenen Konsequenzen erfreuen und sie begrüßen als den endlichen Sieg der Vernunft in der ehemals so gefurchteten Umsturzpartei. Man mag sie betrauern ... Aber unabwendbar sind sie. Unabwendbar wie die Nacht, die auf den Tag folgt."

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„In den anderen [republikanischen oder konstitutionellen] Ländern löst ein Konflikt zwischen den Kammern normalerweise einen Regierungswechsel aus [...]. In Deutschland würde so etwas einem subversiven Akt gleichkommen. In Deutschland bleibt nach einen Konflikt zwischen Volk und Krone der Minister auf seinem Posten und stattdessen wird das Parlament gestürzt, indem man es auflöst." 588 Die anschließenden „Hottentottenwahlen" waren ein mit nationalistischen Parolen geführter Lagerwahlkampf, in dem sich ein Machtkartell aus Regierung, Konservativen, National-Liberalen und den „Nationalen Verbänden" gegen die sogenannten , Vaterlandsfeinde' von SPD und Zentrum zusammengeschlossen hatte. Erstmals griffen damit die Massenorganisationen der „Nationalen Verbände" („Flottenverein", „Alldeutscher Verband" und „Reichsverband gegen die Sozialdemokratie") direkt in einen Wahlkampf ein und beschränkten sich nicht mehr auf die Lobbyarbeit. Vorrangiges Ziel ihrer sich moderner Wahlkampfformen bedienenden Kampagne war es, eine Mobilisierung der Wechsel- und Nichtwähler zugunsten einer proimperialistischen Reichstagsmehrheit zu bewirken. 589 Für Michels verbarg sich hinter der Schlachtordnung des „Pro o contra l'imperialismo!" aber noch mehr. Den Wahlkampf verstand er nicht zuletzt auch als Etappe in dem „langen organischen K a m p f um die Verfassung Deutschlands. Die Kernfrage lautete daher: „Wird Deutschland ein autokratisch regiertes Land bleiben oder wird es sich in einem demokratischen Sinn entwickeln? Wird es dem Willen des Kaisers oder dem Willen der Demokratie folgen?" 590

588 Michels, La Vittoria dei Conservatori nelle Elezioni germaniche del 1907. Appunti storici e statistici, in: Riforma Sociale, 14. Jg., Bd. 17, 1907, Sonderdruck, 21 Seiten, S. 4: „Negli altri paesi sopranumerati lo scoppio di conflitti tra le Camere e il Governo suole di regola provocare un cambiamento di Governo, i ministri dando le dimissioni e il capo dello Stato scegliendone uno nuovo fra i capi dell'opposizione monarchica. In Germania una tale cosa sembrerebbe un atto sovversivo. In Germania il conflitto tra popolo e Corona lascia il Ministero al suo posto, ma rovescia la Camera che viene sciolta." Mit den „altri paesi sopranumerati" bezieht sich Michels auf seinen vorher angestellten Verfassungsvergleich zwischen republikanischen Ländern (England, Frankreich, Schweiz, USA) sowie konstitutionellen Monarchien (Holland, Dänemark, Belgien, Italien, Schweden, Norwegen, Spanien, Ungarn, Portugal) einerseits und dem Deutschen Reich andererseits. 589 Axel Grießmer, Massenverbände und Massenparteien im Wilhelminischen Reich. Zum Wandel der Wahlkultur 1903-1912 (= Bd. 124 der „Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien"), Düsseldorf 2000. 590 Michels, La Vittoria dei Conservatori, a.a.O., S. 5.: „la lotta elettorale" sei ein „periodo di una lunga lotta organica in cui si tratta [...] delle questioni: La Germania sarà dessa un paese retto a forma autocrata o si svilupperà in senso democratico? Seguirà essa la volontà del Kaiser o la democrazia? "

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Gemessen an diesem Anspruch - der politische Gegner sah das übrigens ähnlich591 war das Wahlergebnis eine Katastrophe. Der sozialdemokratische Glaube an eine stetige elektorale Stimmen- und Mandatsmaximierung wurde erschüttert: in absoluten Zahlen hatte die Partei zwar fast 250.000 Wähler dazugewonnen und damit insgesamt Dreieinviertel Millionen Wähler zum Urnengang bewegen können, aber die Steigerungskurve nahm im Verhältnis zu den Jahrzehnten zuvor erheblich ab. Im Verhältnis zu den übrigen Parteien fiel sie von knapp 32 auf 29 Prozent. Im Reichstag erlebte sie einen Erdrutsch. Von 81 Sitzen zuvor waren der SPD 1907 noch 43 geblieben. Dieser Mandatsverlust war freilich - neben dem taktisch geschickten Stichwahlverhalten des „nationalen Blocks" - erheblich der Wahlkreiseinteilung geschuldet, die die Stimmen in den industriellen Zentren im Vergleich zu denen auf dem Lande drastisch entwertete und damit die Sozialdemokratie benachteiligte. Hätte es in Deutschland das Verhältniswahlrecht gegeben, rechnete Michels, wäre die Partei auf etwa 117 Sitze gekommen. Allerdings konnten weder der Hinweis auf das Wahlrecht noch die in absoluten Zahlen „beträchtlichen Fortschritte" der SPD über das „bislang unbekannte Phänomen in der deutschen Wahlgeschichte" hinwegtäuschen, „daß die bürgerlichen Parteien an Gewicht und Proportion in weitaus größerem Maß zugelegt haben."592 Da sich dabei im Lager der Liberalen die Kräfte deutlich nach rechts verschoben hatten und 32 Deputierte der 56 „Nationalliberalen" dem „protektionistischen und ultrakonservativen" Bund der Landwirte angehörten, bezeichnete Michels die frischgekürten Wahlsieger als die „konservativen und halb-barbarischen Kräfte Deutschlands".593 Nach der Schwächung der parlamentarischen Opposition von SPD, Zentrum und Irredenta, so Michels, werde der neue Reichstag der Regierung eine „carte blanche" für jede ihrer Unternehmungen erteilen: „Geschwunden ist auch das letzte Mittel [...], die Extravaganzen der Regierung in der Außenpolitik abzubremsen".594 Einen Grund für die relative Niederlage der SPD sah Michels in ihrer programmatischen Ideenlosigkeit in einem extrem nationalistischen Wahlkampf. Die SPD selbst habe „zwischen den extravagantesten Extremen" geschwankt, zwischen einer „aprioristischen Negation der Existenz jeglicher ethnischer Differenz in der europäischen Menschheit" einerseits und andererseits „einer nationalen Idee, die sich von jener bürgerlichen' nur durch die geringere Logik und Kohärenz unterscheidet".595 Wenn die

591 Im Regierungslager war man sich aufgrund dessen bewußt, daß man im Gegensatz zu den Wahlen von 1898 und 1903 „diesmal Sieger oder Besiegter" sein werde. Vgl. Groh, Emanzipation, S. 462. 592 La Vittoria dei Conservatori, S. 16: „Ma, se i socialisti tedeschi [...] hanno fatto dei progressi considerevoli, non è pur da dimenticare, dall'altra parte, il fenomeno finora nuovo nella storia elettoriale tedesca, che cioè i partiti borghesi hanno aumentato in misura e proporzione assai maggiore". 593 Vittoria, S. 21: „Le forze conservatrici e semi-barbariche della Germania". 594 Vittoria, S. 20: „II Reichstag novello loro darà carte bianche per qualsivoglia indirizzo"; S. 21: „[...] è scomparso anche l'ultimo mezzo [...] di mettere all'uopo un freno alle stravaganze governative nella politica estera." 595 La Vittoria dei Conservatori, S. 16: „[...] il San Giorgio che ha, non vinto, ma fermato per un momento il mostro del socialismo è stata la frase nazionalista della cosidetta idea nazionale. A

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Nationalisten im Wahlkampf betonten, daß in Afrika die nationale Ehre auf dem Spiel stehe, sei den Sozialdemokraten kein anderes Argument als der Verweis auf die hohen Kosten des Kolonialunternehmens eingefallen. Hinzu kam der mangelnde Einfluß der Partei auf das Land seit dem spektakulären Wahlsieg von 1903. Ihre UnaufFálligkeit auf der parlamentarischen und außerparlamentarischen Ebene mußte sich in einem Land wie Deutschland, in dem das „Prinzip der Staatsgläubigkeit" ebenso stark ausgesprägt war wie die „individuelle Trägheit", für die Partei in einer defizitären Wählermobilisierung niederschlagen.596 Sie mußte so erleben, daß von der gestiegenen Wahlbeteiligung ihre Gegner profitierten. Die „Partei der Nichtwähler", die politisch „amorphe Masse" der Desinteressierten und Desorientierten, sei die wahlentscheidende „Reservearmee" gewesen, 597 die der „nationale Block" für sich zu mobilisieren verstand, indem er sich der propagandistischen Unterstützung der staatlichen Bürokratie598 und der Manipulationsmöglichkeiten des Wahlrechts bedient habe. In den ländlichen Regionen Preußens wurden auf die Schankwirte Druck ausgeübt, keine sozialistischen Wahlkampfveranstaltungen durchzuführen und für den Fall der Zuwiderhandlung mit dem Boykott gedroht. So sei in vielen Regionen eine sozialistische Agitation gar nicht möglich gewesen, zumal der Winter Veranstaltungen unter freiem Himmel ausschloß. Stattdessen kümmerten sich die Latifundienbesitzer besonders fürsorglich um die Landbevölkerung und holten sie höchstpersönlich durch Wahlschleppe („Zigarren und Aquavit", Freibier) an die Urnen.599

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questa idea i socialisti tedeschi, barcollando empiricamente tra gli estremi più stravaganti della negazione aprioristica dell'esistenza di ogni differenza etnica nell'umanità europea [...] e un'idea nazionale che differisce da quella ,borghese' soltanto per la sua minore logicità e coerenza, non sapevano contrapporre null'altro che delle grettezze finanziarie." La Vittoria dei Conservatori, S. 17: „[...] le masse, le quali di solito amano più l'effetto esteriore che le ricerche dei motivi più intrinsechi, erano seccate e disilluse vedendo che quegli ottanta deputati socialisti, rappresentanti d'oltre tre milioni d'elettori, non avevano saputo esercitare, sulla politica del paese, nessun influenza. Non è da negarsi veramente che, quanto alla politica generale della Germania, i socialisti, a dispetto di tutte le loro ,vittorie', pareva non esistessero, tanto è forte in Germania il principio dell'autorità statolatra dall'una parte e l'inerzia individuale dall'altra". La Vittoria, S. 17: Auf etwa eineinhalb Millionen Wähler schätzt Michels den „esercito di riserva dei partiti borghesi" bzw. „il famoso partito degli astensionisti" und charakterisiert diese Wähler als „gente politcamente del tutto disinteressata, indifferente, jem 'enflchistes [...].Tutta questa gente non andò alla urna, ma si lasciò trascinare all'urna dagli agenti dei partiti borghesi. [...] quella massa amorfa [...] ha deciso la vittoria contro i socialisti". La Vittoria dei Conservatori, S. 6: „Come in tutte le elezioni, in Germania anche questa volta il Governo metteva alla disposizione dei cosidetti partiti d'ordine per la propaganda elettorale tutto il suo ammirabile meccanismo burocratico". Tatsächlich waren auf der Seite des nationalen Blocks fast sämtliche Minister, Staatssekretäre und höhere Beamte im Einsatz, die den Wahlkampf koordinierten und in ihm auch direkt agitierten. Vgl. Groh, Emanzipation, S. 463. Vgl. zum Phänomen der „nationalen Schleppdienste" auch die entsprechenden Ausführungen in: Axel Grießmer, Massenverbände und Massenparteien im Wilhelminischen Reich. Zum Wandel

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Das Wahllokal habe sich meist auf einem Gutshof befunden und die „Urne" war zuweilen eine von dem jeweiligen Baron selbst beaufsichtigte „Zigarren-Schachtel", in der die Stimmzettel in der Reihenfolge ihrer Abgabe säuberlich übereinandergelegt wurden, was dem Prinzip des Wahlgeheimnisses nicht gerade forderlich gewesen ist. Darüberhinaus zeigte sich die Kampagne des Bülowblocks für moderne Kommunikationsmittel der Wahlpropaganda sehr aufgeschlossen und versuchte die Landleute mittels cinematographischer Vorführungen vom umermeßlichen Wert deutschen Kolonialbesitzes zu überzeugen.600 Mit einer für einen Marxisten erstaunlichen Sympathie kommentierte Michels dagegen den Wahlerfolg des katholischen Zentrums, das seine Mandatszahl auf 108 Sitze (um vier) steigern konnte. Das Zentrum, so Michels, habe nie aufgehört, eine wenigstens teilweise demokratische Partei der sozialen Reformen zu sein, habe nie an einer Ausnahmegesetzgebung kollaboriert.601 Insbesondere im katholischen Rheinland habe sich nach der Reichstagsauflösung eine „Oppositionswelle" gegen das autokratische System gebildet und der Zentrumsabgeordnete Trimborn habe sogar eine öffentliche Rede gehalten, die einer „Rebellion gegen das ,personalistische System' Wilhelms II." gleichkam.602 Das war dann aber auch der einzig erfreuliche Farbtupfer in Michels' Skizze des Deutschen Reiches von 1907. An seiner Wahlanalyse fallt freilich auf, daß er die Interessenkoinzidenz zwischen der Regierung und den nationalen Massenorganisation offensichtlich überbewertet und die Eigendynamik dieser proimperialistischen Bewegungen - die später im Ersten Weltkrieg mit ihren radikalen Forderungen sogar regierungsfeindlich auftreten werden - kaum bemerkt. Die Divergenzen im „Bülow-Block", die durch die ,nationale Idee' nur im Wahlkampf überdeckt werden konnten und an denen dieses Bündnis bereits zwei Jahre später scheitern wird, werden damit bei Michels ebenso unkenntlich wie das Phänomen der De-facto-Parlamentarisierung des Reiches, das für Bülows Wahlkampf den Ausschlag gegeben hat. Der ,Bülow-Block' war schließlich der Versuch, eine neue regierungsfreundliche Reichstagsmehrheit zu bilden,

der Wahlkultur 1903-1912 (= Bd. 124 der „Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien"), Düsseldorf 2000. 600 Vittoria dei Conservatori, S. 5-6: „Niente mancò, nè la refezione gentilmente offerta dai baroni e consistente in doni abbondanti di sigari e di acquavite [...]" 601 Vittoria dei Conservatori, S. 7: „II partito cattolico è un partito prevalentemente popolare [...] l'unico tra i grandi partito dell'Impero che non ha mai consentito di collaborare nella creazione di leggi eccezionali [...] il partito cattolico non ha mai cessato di essere un partito in parte democratico e di riforme sociali". 602 Vittoria dei Conservatori, S. 7-8: „II centro cattolico [...] si comportò [...] con la massima fierezza e dignità. Specialmente nella regione del Reno, dove vige tuttora nell'animo del popolo minuto e piccolo borghese un certo spirito di democrazia e di avversione contro il caporalismo un po' rigido del burocratismo prussiano, l'onda di opposizione contro il sistema attuale autocrate era irresistibile. Il primo discorso che l'on. Trimborn, deputato cattolico per Colonia, dopo la chiusura del Reichstag, tenne nella sua città, era il vero tipo modelli di una ribellione contro il ,governo personalistico' di Guglielmo II."

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auf die der Kanzler nun einmal aufgrund des parlamentarischen Budgetrechts angewiesen war. Michels dagegen betonte das Ende der Möglichkeit einer punktuellen Verhinderungsmehrheit von SPD, Zentrum und nationalen Minderheiten, wie sie 1906 beim Kolonialbudget zustande gekommen war, und Schloß mit den warnenden Worten: „Die durch die Wahlen [...] geschaffene Situation ist voll von ernstesten Gefahren, sowohl interner, die Deutschland, als auch äußerer Gefahren, die direkt die ganze zivile Welt betreffen." 603 Damit deutete Michels die Reichstagswahlen ganz ähnlich wie Kautsky, der ebenfalls in Anbetracht der neuen Mehrheitsverhältnisse die Reichspolitik auf der „abschüssigen Bahn" in Richtung „Weltkrieg" sah.604

5.5. Das Ende der sozialdemokratischen Hegemonie in der II. Internationale und der Abschied von der Politik Am Vorabend des Stuttgarter Kongresses der II. Internationale im August 1907 erscheint im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" Michels' Studie „Die deutsche Sozialdemokratie im internationalen Verbände".605 Diese termingerechte Veröffentlichung unterstreicht Michels' Streben nach publizistischer Wirksamkeit. Hinter dem profanen Titel steckt nicht nur die provozierende Diagnose, daß der „Bann der Partei über die Bruderparteien" nach der Wahlniederlage vom Dezember 1906 „definitiv gebrochen" sei und die Hegemonie der SPD in der Internationale der Vergangenheit angehöre. Der Verlust der sozialdemokratischen Führungsrolle geht Michels zufolge auch mit einer neuen Konfliktlinie in der internationalen Arbeiterbewegung einher, an der sich das Scheitern der II. Internationale abzeichnet: „Es ist die Abneigung, die die gesamte europäische Demokratie gegen Preußen-Deutschland erfüllt, die sich hier auch in der Wertung der deutschen Sozialdemokratie geltend macht. Ihre Unfähigkeit, sich dieses gemeinsamen ,Feindes aller Zivilisation' zu erwehren, [...], wirft auf sie den Schatten der Komplizität." 606 Michels dokumentiert in dieser materialreichen Arbeit den „Wind der Fronde", der sich seit Jaurès' scharfsinniger Kritik in Amsterdam 1904 in allen europäischen Arbeiterbewegungen gegen die SPD erhoben hat und er rekapituliert die Renaissance patriotischer Deutungsmuster und Stimmungen in den nationalen Verbänden der Internationale als eine Reaktion auf die enttäuschende Haltung der SPD in der Marokko-Krise. Während Michels sich in dem „Archiv"-Aufsatz weitgehend auf Deskription und Analyse beschränkt, ergreift er in den Organen des französischen und italienischen Syndikalismus dezidiert Partei für die Positionen Vaillants, Beifort Bax' und Hyndmans 603 Michels, Vittoria dei Conservatori, S. 21: „La situazione creata dalle elezioni del 1906 [sic!] è piena di pericoli gravissimi sì interni e speciali alla Germania, sì esterni e riguardanti direttamente tutto il mondo civile". 604 Zit. n. Groh, Emanzipation, S. 495. 605 A.a.O. 606 Michels, Internationaler Verband, S. 223.

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und schreibt von der „absoluten Notwendigkeit für die westliche Demokratie, sich vor der deutschen Nation in Acht zu nehmen". In Zusammenhang damit formuliert Michels' ein Ultimatum, ja, eine Kampfansage der Internationale an die deutsche Partei: Es sei die „internationale sozialistische Pflicht, entweder die deutschen Sozialdemokraten zu verpflichten, die internationale sozialistische Bewegung zu verlassen und sich offen zur patriotischen Partei zu erklären, oder aber ihnen eine kohärentere Haltung [...] aufzuerlegen."607 Was Michels' These vom Ende der sozialdemokratischen Hegemonie betrifft, so sollte sie vom Kongress der Internationale bestätigt werden. War die deutsche Delegation unter Bebel ursprünglich davon ausgegangen, sie könne die Franzosen Hervé und Jaurès marginalisieren und eine Resolution zugunsten des antimilitaristischen Massenstreiks verhindern, so mußte sie erleben, wie sich in Stuttgart, eingeleitet durch eine Initiative Jean Jaurès', eine alternative Mehrheit formierte. Es folgte ein fünftägiger Verhandlungsmarathon, an dessen Ende allerdings nur ein Formelkompromiss stand, der die Differenzen zwischen der deutschen und den anderen Parteien zu verhüllen suchte. Die Resolution enthielt zwar allerlei radikales Pathos und forderte sogar auf, den Ausbruch eines Krieges „zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen."608 Aber so, wie sie den Franzosen entgegenkam, weil sie den Massenstreik nicht ausschloss, kam sie auch den Deutschen entgegen, weil sie auch die Option der Vaterlandsverteidigung enthielt. Alles in allem blieb sie unverbindlich, weil sie an der grundsätzlichen Entscheidungsfreiheit der nationalen Verbände im Kriegsfall nicht rüttelte und die Institutionalisierung einer gemeinsamen Friedens- und Konfliktpolitik der Internationale, etwa durch das Internationale Sozialistische Büro, nicht vorsah. Die Resolution wurde einstimmig angenommen. Vor einer ultimativen Verbindlichmachung einer internationalistischen Kriegsverhinderungstaktik, nötigenfalls auch gegen die deutsche Sozialdemokratie, wie Michels sie sich erhofft hatte, waren die Teilnehmer in Stuttgart letztlich doch zurückgeschreckt. Gleichwohl bestätigte der Stuttgarter Kongress die Entwicklung seit 1904: den Führungsverlust der SPD in allen zentralen Fragen der Internationale.609 Wie es sich bereits

607 Michels, Il prossimo Congresso Socialista internazionale, in: Il Divenire Sociale, 1. August 1907, Nr. 15, S. 227-231, S. 230: „Sarebbe follia negarlo ed assurdo non ricavarne delle conseguenze: Che il dovere socialista internazionale è o di obbligare i socialisti tedeschi ad abbandonare il movimento socialista internazionale e dichiararsi apertamente partito patriottico, oppure di imporre loro un'attitudine più coerente ai più sacrosanti ed elementari loro doveri". „La tenacità ed il buon senso del nostro compagno E. Vaillant, gli atteggiamenti decisivi di Belfort Bax e di Hyndman, come la necessità assoluta per la stessa democrazia occidentale di porsi in guardia contro la nazione tedesca, ecco le forze che potrebbero scuotere i socialisti tedeschi dal loro torpore ..." Vgl. auch Michels, Le prochain congrès socialiste international, in: Mouvement Socialiste, 9. Jg., Nr. 188, S. 37-46. 608 Zit. n. Hans-Josef Steinberg, Die Stellung der II. Internationale zu Krieg und Frieden (= Schriften aus dem Karl-Marx-Haus 8), Trier 1972, S. 12. 609 Vgl. Dieter Groh, Der Stuttgarter Kongreß der Internationale 1907, in: D. Groh/Peter Brandt, „Vaterlandslose Gesellen". Sozialdemokratie und Nation 1860-1990, München 1992, S. 120-130.

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in der sozialistischen Tagespresse der Bruderparteien in den Wochen zuvor abgezeichnet hatte, fand sich die deutsche Sozialdemokratie, obwohl Gastgeber, in Stuttgart sogar auf der Anklagebank. Robert Michels hatte all dies als Kongressteilnehmer aus nächster Nähe erlebt - als Delegierter der Mehrheitsströmung des Partito Socialista Italiano. Ursprünglich hatte ihm der mit Delegationsangelegenheiten betraute Parteiführer Oddino Morgan ein Mandat für die syndikalistische Minderheit vermitteln wollen. Auf Rückfrage stellte sich dann aber offenbar heraus, daß Michels aufgrund seiner Konzeption des Verhältnisses von Partei und Gewerkschaften unmöglich als „Syndikalist" delegiert werden konnte. Er vertrat daher in Stuttgart den linken Flügel des PSI-Zentrums. Alternativ hierzu, so stellte sich in dem Briefwechsel über seine politische Identität heraus, hätte er allenfalls den „rechten Flügel der syndikalistischen Strömung" vertreten können, woran die Syndikalisten aufgrund der ihnen zur Verfügung stehenden Zahl von nur drei Mandaten aber offensichtlich kein Interesse hatten. 610 Nach Stuttgart erreichte Michels' Pessimismus einen neuen Tiefpunkt, weil ihm die Kriegsfall-Resolution in einer Kontinuität mit den früheren, noch von deutscher Seite eingebrachten Beschlußvorlagen zu stehen schien. Über diese hatte er gerade ein scharfes Urteil gefallt: „Viel Rhetorik und wenig Logik. [...] sie sind aus Wenn und Aber zusammengesetzt und mit Hintertürchen versehen. Die Tür wird verschlossen, aber das Fenster wird geöffnet." 611 Seine Eindrücke von Stuttgart fasste Michels gegenüber Achille Loria in einem Brief zusammen, in dem er - anstatt die Vorgänge im einzelnen zu kommentieren - eine psychologische Skizze zeichnete, die gleichsam wie der Epilog auf eine enttäuschte politische Liebe klang: „Stuttgart war ein recht trauriger Anblick für einen Sozialisten. Die ursprüngliche Bewegung befindet sich (trotz aller Berechnungen der Zahl) in vollem Niedergang. Der heutige Sozialismus ist wie ein Körper ohne Seele. Er ist wie ein Mann, der wohlklingende Sätze spricht, denen weder das Herz noch sein Kopf Glauben schenken. Die Idealisten und Gelehrten von vor zwanzig Jahren haben den Demagogen [...] Platz gemacht, und die Arbeiter, in ihrer ewigen Naivität von Kindern, kön-

610 Vgl. die Briefe von Oddino Morgari vom 16. und 25. Juli sowie vom 1. August 1907 (ARMFE). Vgl. die diesbezüglichen Ausführungen von Jean-Luc Pouthier, Roberto Michels et les syndicalistes révolutionnaires français, a.a.O., S. 52-53. In der Michels-Forschung galt es dagegen über Jahre als eine Tatsachenbehauptung, daß Michels in Stuttgart ein Delegierter der syndikalistischen Fraktion gewesen sei. So etwa Juan Linz, Michels e il suo contributo, a.a.O., S. XIX. 611 Michels, Internationaler Verband, S. 163. Steinberg, Die Stellung der II. Internationale ..., a.a.O., S. 12, schreibt zur Stuttgarter Resolution: „Es ist ganz offensichtlich, daß die Teilnehmer des Kongresses sich entweder der Konsequenz dieses Antrages, der einstimmig angenommen wurde, nicht bewußt waren, oder aber ihn als eine zu nichts verpflichtende Floskel ansahen, mit der man die herrschenden Klassen schrecken konnte".

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nen sich ihrem Einfluß nicht entziehen. Mundus vult decipi, das ist die Signatur des neuen Stadiums des Sozialismus oder jenes, der ein solcher zu sein glaubt."612 Die Resolution der II. Internationale von Stuttgart war gewiß insofern eine kollektive Täuschung und Selbsttäuschung, als ihr schon von deutscher Seite nicht der geringste Wille entsprach, das einmütig Beschlossene gegebenenfalls auch in die Tat umzusetzen. Und es kam - zumindest für Michels - noch schlimmer. Wenige Wochen später nämlich, im September 1907, trat auf dem Essener Parteitag der SPD an die Stelle der Mehrheit um Bebel und Legien, die sich 1906 gegen den Massenstreik ausgesprochen hatte, nunmehr eine von Bebel und Gustav Noske dominierte Mehrheit. Die naive Hoffnung der radikalen Linken, den vermeintlichen Geist von Stuttgart, den sie in der radikalen Phraseologie der Resolution zu erkennen glaubte, nach Essen zu tragen, hatte sich nicht erfüllt. Dies betraf nicht nur die Frage der antimilitaristischen Taktik und des aktiven Internationalismus. Entsprechenden Resolutionen erteilte, wie nicht anders zu erwarten, die Parteimehrheit in Essen eine entschiedene Absage. Gleichzeitig aber legitimierte der Essener Parteitag auch den neuen Ton in der politischen Propaganda, den Bebel und Noske bereits mehrmals im Reichstag angeschlagen hatten. Dieser war patriotischer denn je. Die Parteiführung hatte nämlich aus dem Debakel der Hottentottenwahlen den Schluß gezogen, daß sie sich vom Makel der Vaterlandslosigkeit' befreien mußte, um die elektoralistische Strategie nicht zu gefährden. Die Neigung, den herrschenden Verhältnissen praktisch wie rhetorisch einen höheren Tribut zu zollen als zuvor, hatte sich verstärkt und bewirkte unter anderem eine unverhohlene „Anpassung an den offiziellen Patriotismus." 613 Besonders greifbar war dieser forcierte Anpassungsprozess in den Reden von Noske und Bebel, die auch auf dem Parteitag die sozialdemokratische Bereitschaft, das Vaterland mit der Waffe zu verteidigen, unterstrichen. Michels' Parteitagsbericht referierte zwar auch ausführlich die Stimmen der Internationalisten in der Partei. Wie etwa Eisner, der Noske den Vorwurf machte, mit seiner militärischen Bereitschaftserklärung vor dem Hintergrund der deutsch-französischen Spannungen die Kriegsgefahr noch um ein vielfaches gesteigert zu haben. Oder Kautsky, der Bebels' Verteidigungskriegsthese widersprach, indem er sagte, daß ,Marokko' nicht das Leben eines einzigen Arbeiters wert sei, auch dann nicht, wenn das Reich ange-

612 Brief von Michels an Achille Loria, September 1907, Archivio di Stato di Torino; zit. n. Ferraris, Saggi, S. 156: „Stoccarda fa ben triste aspetto ad un socialista. Il movimento originale si trova (a dispetto di tutti i calcoli di numero) in pieno sfacelo. Il socialismo odierno è come un corpo senza anima. E come un uomo che dice delle frasi sonore alle quali né il cuore né il suo cervello prestano più fede. Gli idealisti e gli scienziati di venti anni fa hanno fatto posto ai demagoghi più o meno abili o politicanti più o meno scelti, e gli operai, nella loro eterna ingenuità di bambini, non sanno sottrarsi alla loro influenza. Mundus vult decipi, è questa la signature dello stadio novello del socialismo o di quello che si crede tale." 613 Groh, Emanzipation, S. 493.

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griffen werden würde.614 Aber diese Stimmen wurden in Essen von dem neuen Lager um Bebel und Noske an den Rand gedrängt. Wenn Noske erklärte, „wir wollen unser Vaterland nicht durch die Engländer, Russen und Franzosen verwüsten lassen", habe er dafür nicht nur Beifall erhalten, sondern sei ihm auch von Sprechern der neuen Mehrheit attestiert worden, mit solchen Worten der sozialdemokratischen Propaganda bei den nächsten Wahlen einen großen Dienst erwiesen zu haben.615 Michels' Kommentare waren von bitterem Sarkasmus erfüllt. Den neuen „Patriotismus der deutschen Sozialisten" setzte er in Bezug zu Bebels autokratischen und selbstherrlichen Führungsstil. Der Parteivorsitzende war für Michels nun der „Kaiser Augustus des deutschen sozialistischen Reiches", der seine Gegner - ob Clara Zetkin, Kautsky oder die Franzosen im allgemeinen - herabwürdigte, als säße er auf einem „Thron".616 In Michels' Sicht hatte die Partei aus den Hottentottenwahlen einen verhängnisvollen Schluß gezogen: ,Anstatt den Grund ihrer Übel im zu wenig Sozialismus zu suchen, glauben sie dagegen, ihn im zuviel Sozialismus gefunden zu haben."617 Nach Essen konstatierte Michels den moralischen Zusammenbruch der Internationale. Der „patriotische Sozialismus" der Sozialdemokratie, der einstigen Modellpartei, wirkte nämlich über Deutschland hinaus auch auf die Bruderparteien, wo die Befürworter eines Anpassungskurses an den offiziellen Staatspatriotismus das deutsche Beispiel einer Annäherung an die herrschenden Verhältnisse als Legitimitätsfaktor verbuchen konnten. So gesehen ging vomVerhalten der größten sozialistischen Partei immer noch eine wirkungsmächtige, wenn auch höchst problematische, Ausstrahlung aus. „ M a n muß es sagen: die deutsche Sozialdemokratie lahmt heute den Fortschritt des Sozialismus in ganz Europa".618 Von diesen Tendenzen eines opportunistischen Patriotismus, die, durch das deutsche Verhalten motiviert, Auftrieb bekamen, unterschied Michels qualitativ eine weitere Richtung der patriotischen Renaissance in der Internationale, der nunmehr seine Sympathie gehörte. Michels konstatierte das „Erwachen eines demokratischen Patriotismus", dessen dezidiert verfassungspatriotisches Programm er folgendermaßen auf den Begriff brachte:

614 Vgl. Michels, Le Patriotisme des Socialistes Allemandes et le Congrès d'Essen, in: Mouvement Socialiste, Nr. 194, Januar 1908, S. 5-13, S. 7-8. 615 Michels, Le Patriotisme des Socialistes Allemandes ..., a.a.O., S. 9: ,„Nous ne voulons pas laisser dévaster notre patrie par les Anglais, les Russes et les Français' (Noske)." Dort auch die Stellungnahmen pro Noske. 616 Michels, Le Patriotisme des Socialistes Allemandes ..., S. 7: „César Auguste de l'Empire socialiste allemand". Vgl. auch S. 10: „Bebel se prélassait sur son trône, donnait des notes à droite et à gauche, disant courtoisement à Clara Zetkin qu'elle avait fait un mauvais discours, à Kautsky qu'il avait fait un discours stupide, et ne comprenant pas les Français qui avaient osé le provoquer à Stuttgart." 617 Michels, Patriotisme des Socialistes allemandes, S. 9: „[...] au lieu de chercher la raison de tous leurs maux dans leur trop peu de socialisme, ils croyaient l'avoir découverte au contraire dans leur trop de socialisme". 618 Michels, Patriotisme des Socialistes allemandes, S. 12: „II faut le dire: le socialisme allemand paralyse aujourd 'hui les progrès du socialisme en Europa".

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„Auch wenn es uns egal ist, ob wir Franzosen oder Deutsche sind, so ist es uns nicht gleichgültig, ob wir in einer Demokratie oder in einer Autokratie leben. Folglich stellt sich uns, angesichts des Reaktionarismus der deutschen Sozialdemokraten, diese Frage: ,In Anbetracht des gefahrlichen Patriotismus der Sozialisten des Landes, das für Europa die größte Bedrohung darstellt, müssen wir da nicht Maßnahmen ergreifen, um all jene Länder vor seinen Angriffen in Sicherheit zu bringen, die heute die Garanten von Zivilisation und Kultur sind [?]'. Das sind die extremen Konsequenzen, die die patriotische Aktion der Sozialdemokraten des Wilhelminischen Deutschlands mit sich bringt: das Erwachen eines demokratischen Patriotismus, [...] die Vereinigung aller freiheitlichen Kräfte in Europa gegen Deutschland." 619 Michels' Konzept des „demokratischen Patriotismus" verwarf damit einmal mehr den gesinnungsethischen „Antimilitarismus" Gustave Hervés, weil dieser ja den Generalstreik im Konfliktfall auch einseitig, d. h. ohne korrespondierende Militärstreiks in Deutschland, initiieren wollte. Ein solcher Gesinnungspazifismus würde aber, so Michels, zwangsläufig gerade den „reaktionärsten und modernitätsfeindlichen europäischen Mächten ein leichtes Spiel machen." 620 An dieser Stelle ist es höchste Zeit, auf zwei bedeutende Michels-Bilder der Forschung zurückzukommen, die lange Zeit um die Deutungshoheit über seine politische Biographie konkurrierten, aber beide vor dem Hintergrund des bis hierhin erreichten Wissensstandes über Michels' politisches Engagement korrekturbedürftig sind. Als Michels über den „Patriotismus der deutschen Sozialdemokraten" schreibt, lebt er bereits nicht mehr in Marburg. Im April 1907 ist er nach Turin gezogen, seit Juli lehrt er als Privatdozent an der dortigen Universität. David Beetham hat die These aufgestellt, dieser Ortswechsel sei mit einem Sprung über einen theoretischen Golf vom Marxismus zur Elitentheorie verbunden gewesen. 621 Diesen ,Sprung' hat es sicherlich nicht gegeben. Denn Michels wird noch bis zu seinem demokratietheoretischen Hauptwerk „Zur Soziologie des Parteiwesens" von 1911 den Marxismus nicht über Bord geworfen haben. Sein oben referierter Aufsatz mit der scharfen Verurteilung der SPD endet auch nicht mit einer Absage an den Sozialismus, sondern mit einer expliziten

619 Michels, Patriotisme des Socialistes, S. 12: „S'il nous est égal d'être Français ou Allemand, il ne nous est pas indifférent de vivre dans une démocratie ou dans un empire autocratique. Et alors, en face du réactionnarisme des socialistes allemandes, la question se pose à nous: .Devant le patriotisme dangereux des socialistes de l'Etat le plus menaçant pour l'Europe, ne devons-nous préparer à mettre à l'abri de ses atteintes les milieux qui offrent à la civilisation et à la culture la garantie qui leur est nécessaire.' Ce sont ces conséquences extrêmes, ce réveil d'un patriotisme démocratique, qui ferait contre eux l'union de toutes les forces libres en Europe, qu'implique l'action patriotique des socialistes de l'Allemagne de Guillaume II." 620 Michels, Il prossimo Congresso socialista internazionale, a.a.O., S. 230: „l'antimilitarismo farebbe il giuoco delle potenze europee più reazionarie e più refrattarie alla modernità". 621 Beetham, From Socialism to Fascism, a.a.O., S. 12ff.

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Bekenntnis zu Marx.622 Die marxistische Perspektive ist es auch, die ihn die polemische Frage stellen läßt, wie lange es noch dauern werde, bis die SPD nach dem „patriotischen Sozialismus" den „kapitalistischen Sozialismus" predigen wird.623 Man sollte auch nicht, wie das Beetham und viele andere getan haben, voreilig von seinem ersten, 1908 erscheinenden Beitrag zur politischen Soziologie über die „oligarchischen Tendenzen der Gesellschaft"624 auf die vermeintliche Motivation seines Parteiaustrittes schließen. Nicht das Masse-Führer-Problem und die Suche nach dessen elitentheoretischer ,Auflösung' ist Michels' Hauptthema in den Krisenjahren seines sozialdemokratischen Engagements, sondern der Internationalismus und die Gefahr eines europäischen Krieges. Die Oligarchie-Problematik läuft zwar, wie gesehen, seit dem Kölner Gewerkschaftskongress und den sich daran anschließenden Debatten über Massen- und Militärstreik ständig mit. Das oft behauptete demokratietheoretische Drama, die angebliche ,Enttäuschung' über den Mangel an innerparteilicher Demokratie ist aber weder Ursache noch Anlaß fur Michels' Rückzug aus der sozialdemokratischen Parteipolitik. Dieser Rückzug ergibt sich vielmehr erstens aus seinem internationalistischen Dissens mit der Parteiführung und zweitens aus dem nicht minder bedeutenden Grund, daß er seinen akademischen Ambitionen fortan in Italien nachgeht. Die zweite Legende, die des revolutionären Syndikalisten sorelianischer Observanz, wird ebenfalls durch Michels' Schriften aus seinem Trennungsjahr von der SPD erneut ad absurdum geführt. Pino Ferraris hat gezeigt, daß dieses von Juan Linz und Wilfried Röhrich maßgeblich vertretene Michels-Bild sich im Prinzip nur auf drei Quellen stützt: die von uns bereits dekonstruierten autobiographischen Betrachtungen aus dem Jahr 1932, Michels' Veröffentlichung der fünf von Sorel an ihn geschriebenen Briefe aus dem Jahr 1929, und ein emphatisches Bekenntnis zum Syndikalismus aus dem Jahr 1907.625 Am dritten April 1907 nämlich hat sich Michels auf einer internationalen Pariser Konferenz als „deutschen Syndikalisten" bezeichnet und seine Rede, in der er tief ins Begriffsarsenal des „idéalisme révolutionnaire" greift, mit den beschwörenden Worten geschlossen, daß „der Sozialismus nur durch den Syndikalismus neugeboren" werde.626 622 Michels, Le Patriotisme des socialistes allemandes ..., S. 13: „Même en supposant - sans le concéder tout court, bien entendu - que Marx se soit trompé sur quelques lois de l'économie politique, cela n'atténuerait en rien notre profonde conviction de l'inaltérable vérité de ses règles de philosophie sociale. C'est que l'histoire nous a convaincus de l'étemelle vérité de l'axiome marxiste: que l'Etat ne peut être autre chose que le comité exécutif des classes dominantes, et que la ,patrie' n'est que le masque le plus honteux et le plus mensonger sous lequel il se cache." 623 Michels, Patriotisme des socialistes allemandes, S. 13: „Nous avons maintenant, officiellement défendu par le plus vaste parti socialiste, le socialisme patriotique. A quand le socialisme capitaliste?" 624 In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 27, Heft 1, 1908, S. 73-135. 625 Vgl. Ferraris, Saggi, S. 146ff. 626 Nachzulesen in Michels, Le syndicalisme et le socialisme en Allemagne, in: Mouvement Socialiste, Nr. 188, 15. Juli 1907, S. 58-63, S. 63: „Tel est notre devoir, à nous autres syndicalistes allemands, et, c'est en nous inspirant de votre action courageuse, camarades de France, que nous pourrons proclamer assez haut qu'en Allemagne comme partout le socialisme ne renaîtra que par le syndicalisme !".

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Angesichts der Isolation Michels' in der SPD zu diesem Zeitpunkt einerseits und angesichts seiner deutlichen Polemiken mit den italienischen und französischen Wortführern des revolutionären Syndikalismus627 andererseits gibt dieses Zitat möglicherweise Aufschluß über Michels' psychologische Verfassung kurz vor dem Umzug nach Turin. Eine psychologische Verfassung, in der sich die politische Heimatlosigkeit mit Abschwörungen an die deutsche Nation verbindet: „Die Tatsache, auf deutschem Boden geboren zu sein, gibt nicht länger das Recht, den Kopf hoch zu tragen".628 Inhaltliche Schlüsse erlaubt dieses plakative Bekenntnis zum revolutionären Gewerkschaftssozialismus aber nicht, zumal er in seinen Polemiken mit den Syndikalisten ja immer noch die strategische Priorität der Partei behauptet. Gar keinen Anhaltspunkt gibt es für die These, daß Michels' Solierklärung mit dem Syndikalismus' ausgerechnet dessen sorelianische Variante betreffe. Im Gegenteil: sein oben zitiertes Bekenntnis zur westlichen Demokratie, seine Hoffnung auf ein Erwachen des „demokratischen Patriotismus" und eine Union der freiheitlichen Kräfte Westeuropas gegen den preußischen Militarismus verbietet es, ihn in einen geistesgeschichtlichen Topf mit jenem Denker zu werfen, der in seiner „ A p o l o g i e der Gewalt" einer bellizistischen Revitalisierung der europäischen Kultur das Wort geredet und mit einer Feinderklärung an die dekadenten', weil friedliebenden Demokratien des Westens verbunden hat. Michels' Aufsatz über den Essener Parteitag, in dem er so auffällig das Deutungsschema „Freiheit und Zivilisation versus Autokratie und Militarismus" antizipiert, mit dem westliche Intellektuelle Jahre später den Ersten Weltkrieg auf den Begriff bringen werden, besiegelt in jedem Fall den Bruch mit der deutschen Sozialdemokratie - und auch mit ihrem Cheftheoretiker. Während er mit dem parteipolitischen Antipoden Eduard Bernstein das streitbare, aber persönlich ungetrübte Verhältnis bis in die erste Nachkriegszeit weiter pflegen wird,629 gelangt Michels' Beziehung zu dem von ihm all die Jahre geschätzten „Revolutionär" Kautsky an ihr definitives Ende. 627 Vgl. Kapitel „Michels und der revolutionäre Syndikalismus". 628 Michels, Syndicalisme et Socialisme en Allemagne, a.a.O., S. 59: „Aujourd'hui, être Allemand n'est pas un titre de noblesse. Le fait d'être né en terre germanique ne donne plus le droit de porter la tête haute. Les temps de Goethe et de Schiller, et ceux de philosophes, ceux de ce Kant surtout qui avait vibré au souffle de votre Révolution démocratique, sont bien passés". 629 Bis 1909 schreibt Michels noch für Bernsteins „Sozialistische Monatshefte" (Vgl. Michels, Einige Randbemerkungen zum Problem der Demokratie, in: Sozialistische Monatshefte, 13. Jg., Nr. 25, 1908, S. 1615-1621; ders., Edmondo De Amicis, in: Sozialistische Monatshefte, 14. Jg., Nr. 6, 1909, S. 361-368). Ein publizistisches Engagement in der „Neuen Zeit" ist dagegen, wie wir gleich sehen werden, Ende 1907 undenkbar geworden. Der gemeinsame Nenner für die auffällig wohlwollende Beziehung zwischen Bernstein und Michels dürfte die intellektuelle Neugier an undogmatischen Positionen gewesen sein. Am 10. Dezember 1906 schreibt Bernstein an Michels über dessen erste kritischen Parteistudien: „Ihre Artikel im Archiv sind höchst interessant" (ARMFE). Am 19.6. 1917 (Brief, ARMFE) bemerkt Bernstein den prognostischen Gehalt von Michels' Studien zum Verhältnis von SPD und Antimilitarismus im Hinblick auf das Verhalten der Partei im Ersten Weltkrieg. Am 24.2.1919 folgt Bernstein einer Einladung von Michels zu einer Konferenz der Baseler Universität. Seine Rede „Die Sozialisierung der Betriebe. Leitgedanken für eine Theorie des Sozialisierens" wird von Michels 1919 in Basel als Broschüre (Verlag der ,National-

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In Kautskys „Neuer Zeit" erscheint im Februar 1908, nachdem man in diesem theoretischen Leitorgan der Partei bis dato Michels' Kritiken ignoriert hat, eine Polemik von Anton Pannekoek, die Michels' unbequeme Diagnosen dadurch zu entschärfen versucht, daß sie den Autor als weltfremden und politisch nicht ernst zu nehmenden Syndikalisten diskreditiert. In Äußerungen w i e der von Pannekoek wird der polemische Kontext greifbar, in dem das folgenreiche Stereotyp v o m ,romantischen Revolutionär' entstanden ist und sich in der Folge verfestigt hat. 630 Michels' Replik auf Pannekoek ist nie veröffentlicht worden und gilt als verschollen. Die „Neue Zeit" zieht es nämlich vor, den Vorfall mit einer kurzen Meldung zu beenden. 6 3 1 Es ist Kautsky selbst, der als Chefredakteur Michels die Möglichkeit der Selbstverteidigung verwehrt. In einem Brief an Michels begründet Kautsky dies mit der „desorganisierenden" Wirkung, die v o n Michels' Positionen ausgehe: „Ihre Einsendung habe ich empfangen. Das Wesentliche daraus will ich veröffentlichen, aber den Wortlaut kann ich nicht wiedergeben, ohne auch Pannekoek

Zeitung', 20 Seiten) herausgegeben. Dort findet sich auch Michels' Begrüßungsrede (S. 5-6), in der er wie folgt auf sein Verhältnis zu Bernstein eingeht: „Seit jener Zeit [Michels erinnert zuvor daran, daß er in Deutschland seine ersten wissenschaftlichen Sporen als Mitarbeiter von Bernsteins ,Dokumenten des Sozialismus' verdiente] habe ich ihre Arbeit stets mit lebhaftesten Interesse verfolgt, häufig mit überwiegendem Gefühl der Kritik, häufiger noch, zumal soweit die nichtpolitische Seite Ihrer Tätigkeit in Frage kam, mit lebhafter Zustimmung, stets mit menschlicher Bewunderung [...] Daß Sie zum Vater des Revisionismus wurden, war nicht aus Hang zur Bilderstürmerei zu verstehen, sondern aus Liebe zur Wahrheit, oder was Ihnen als Wahrheit erschien, die gesagt werden mußte, wenn das, was an Marx Ewigkeitswert besitzt, nicht durch veraltetes Epigonentum in Frage gestellt werden sollte". Daß Bernstein 1919 für die Anerkennung der deutschen Kriegsschuld eintrat, hat das Verhältnis einmal mehr günstig beeinflußt und ist von Michels in einer handschriftlichen Notiv festgehalten worden. Vgl. das vierseitige Manuskript „Eduard Bernstein occupa un posto eminente ..., in: Appunti di R. Michels, ARMFE. Vgl. hierzu ausführlich Kapitel IX.9. Der Kriegschulddiskurs und die Suche nach einer Elite „neuer Menschen". 630 Vgl. Anton Pannekoek, Zeitschriftenschau, in: Neue Zeit, Jg. 26, Nr. 1, 14.2.1908, S. 715f., wo Pannekoek Michels' Bericht über den Essener Parteitag mit den Worten kommentiert: „Dort bringt das frühere Mitglied der deutschen Partei, jetzt Professor in Turin, Robert Michels einen Aufsatz ,Der Patriotismus der deutschen Sozialisten und der Essener Parteitag'. [...] Bekanntlich ist diesem Autor, der die deutsche Sozialdemokratie in bürgerlichen deutschen Zeitschriften angreift, unsere Partei nicht revolutionär' genug. [...] Die Ursache dieser Abweichung von der Marxschen Auffassung vom Staate findet der Autor in dem Augenblicksinteresse der politischen Partei, worin wieder einmal die syndikalistische Grundansicht zu ihrem Recht kommt, daß die böse Politik den Sozialismus verdirbt". Zit. nach Hetscher, a.a.O., S. 128. 631 Vgl. Neue Zeit, 26. Jg., Nr. 2, 3.4.1908, S. 77: „Genösse Michels sendet uns eine längere, polemische Richtigstellung der in unserer Zeitschriftenschau der Nr. 20 [?] enthaltenen Inhaltsangabe seines Artikels über den Essener Parteitag. Es genügt wohl, kurz den Sinn seiner Mitteilung dahin zu resümieren, daß man aus der Bemerkung der Rundschau, Michels sei früher Mitglied der deutschen Partei gewesen, nicht schließen dürfe, er sei nicht mehr Sozialist. Da er jetzt in Italien lebt, gehört er der italienischen Partei an [...]". Zit. nach Hetscher, S. 128.

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[...] zu einer Entgegnung das Wort zu geben, und das möchte ich vermeiden. Im übrigen muß ich bemerken, daß ich Ihre persönlichen Sympathien wohl erwidere, aber sehr peinlich davon berührt bin, daß Sie Ihre Ausfälle gegen die Partei in einem bürgerlichen Blatte veröffentlichen.632 Das gilt bei uns fiir unanständig. Es beweist jedenfalls ein geringes Parteiempfinden. Auch sonst halte ich Ihre Politik für verderblich und desorganisierend. Wir wollen aber nicht das italienische Chaos nach Deutschland verpflanzen. Wir haben also keinen Grund, Sie schonend zu behandeln."633 Damit ist Michels mit seinem Selbstverständnis als politischer Intellektueller in der Partei definitiv gescheitert. Sehen wir einmal von dem schon seinerzeit antiquierten, spätaufklärerischen Anspruch seiner Sozialpädagogik ab, die ,Massen' moralisch und intellektuell erziehen zu wollen, so ist dieses Selbstverständnis vor allem auch durch den Glauben geprägt, daß Loyalität zur und schonungslose Kritik der Partei kein Widerspruch sind, sondern gerade zur vornehmsten Aufgabe des politischen Intellektuellen gehören. Selbst noch auf dem Höhepunkt der Krise hat Michels an dieser prinzipiellen Loyalität zur SPD keinen Zweifel gelassen und betont in fast jedem seiner Aufsätze, „in mehr als in einer Hinsicht eine echte Bewunderung"634 fur die deutsche Sozialdemokratie zu bewahren. Gewiß sind derartige Bekenntnisse in einem polemischen Kontext immer auch rhetorische Figuren, welche die besondere Glaubwürdigkeit des Gesagten suggerieren und die noble .vorurteilslose' Gesinnung des Autors im allgemeinen herausstellen sollen. Praktisch ist das intellektuelle Selbstverständnis des ,loyalen Kritikers' aber von eitler Selbstinszenierung nur schwer zu unterscheiden und geht auch oft mit einer rücksichtslosen moralischen Kritik einher, die sich um die strukturellen Zwänge des politischen Handelns, d. h. der handelnden ,Genossen', wenig schert. Im Fall Michels konnten wir immerhin belegen, daß er im Gegensatz zu anderen linken Kritikern der Sozialdemokratie die Strukturdeterminanten ihres Handelns - das hohe Organisationsniveau der Partei sowie das repressive Milieu des Kaiserreiches - in seine Kritik mit einbezogen hat und der These vom „Verrat der Führer" eine Absage erteilt hat. Bei allen Vorbehalten gegenüber der intellektuellen Selbststilisierung, die das eigene publizistische Handeln als reinen Idealismus der Wahrheitssuche auszugeben geneigt ist, steht der Fall Michels paradigmatisch für einen Grundkonflikt, der das Verhältnis

632 Hier handelt es sich um „Die deutsche Sozialdemokratie im internationalen Verbände", der im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" erschien. Die große und äußerst positive Resonanz, die dieser Aufsatz bei den ausländischen sozialistischen Parteien erfuhr, dokumentiert am italienischen Beispiel Ralph Bollmann, Zwischen Massenstreik und Ministerialismus, a.a.O., S. 70. 633 Karte von Kautsky an Michels, 3.4.1908, ARMFE. Zit. n. Hetscher, S. 128. 634 Michels, Il Socialismo tedesco e l'Internazionale operaia (A proposito del Congresso di Essen), in: Il Grido del Popolo, 16. Jg., Nr. 18, 24. September 1907, S. 1: „[...] osiamo, senza false verecondie e ipocrisie, dire alcune verità, dure quanto si vuole, ma perciò non meno meritate, ai socialisti tedeschi, nelle cui file lo scrivente ha militato molti anni conservandone ancor oggi per più d'un rispetto una sincera ammirazione."

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von Bewegungen und Parteien zu ihren intellektuellen Reflexionsinstanzen immer wieder geprägt hat: Die Geschichte der Entfremdung zwischen Intellektuellen und Politik hat ihre Kulminationspunkte immer dort, wo die wertbezogene Kritik des Intellektuellen in Widerspruch mit den Erfordernissen der Parteiorganisation gerät, wo die Verantwortung der politischen Führung für die Lebensinteressen der Organisation und ihrer Mitglieder einerseits und die selbstauferlegte Verantwortung des Intellektuellen für die moralischen Prinzipien der Politik miteinander konfligieren. Die Widersprüche auf der Sachebene haben dabei auch eine tieferliegende sozio-kulturelle Dimension. Es geht dabei auch um Lebensentwürfe und -weiten, die sich hier zuweilen verständnislos gegenüberstehen. Michels selbst hat diese sozio-kulturelle Konfliktlage zwischen Parteifunktionär und Parteiintellektuellem in einem autobiographischen Rückblick - nicht in dem berühmten von 1932, sondern in einem unveröffentlichten - mit dem Ausdruck der „Inkompatibilität" belegt: „Meine Position in den Reihen der deutschen Sozialdemokratie war ziemlich außergewöhnlich. [...] Von der Partei verlangte ich nichts anderes, als die unbegrenzte Möglichkeit, meine Meinimg zu sagen. [...] Es gab im allgemeinen nur wenige Intellektuelle in der Partei. Und alle lebten, direkt oder indirekt, von der Partei selbst. Es überwog ein engmaschiges Netz von Ex-Arbeitern, zuweilen tüchtige Leute, oft ambitioniert und fast immer engstirnig und kleinlich, die unverzichtbare Diener der Parteibürokratie geworden waren. Das Auftreten von einem, der auf viele Bequemlichkeiten des Lebens verzichtet hatte und nur beabsichtigte, der Partei spontan und frei zu dienen, erschien seltsam und unbegreifbar. Ich möchte damit nicht behaupten, daß ich von den Genossen feindlich oder mit Mißtrauen aufgenommen worden wäre. [...] Dennoch blieb von Anfang an zwischen mir und der Partei eine gewisse der Herkunft und dem Charakter inhärente Inkompatibilität."635 Auch dieser Text teilt gewiß das Charakteristikum aller autobiographischen Rückblicke des späten Michels: die retrospektive Neuerfindung der Biographie. Um die „Inkompatiblität" zu unterstreichen, hat Michels sich hier zu der Behauptung verstiegen, sich 635 Das in italienisch verfasste und mit aller Wahrscheinlichkeit von Michels seiner Tochter Daisy diktierte Manuskript (Michels fiel in späten Jahren das Schreiben aufgrund eines Rheumaleidens immer schwerer) beginnt mit dem Satz: „La mia posizione nelle file del Partito Socialista tedesco era molto particolare" und findet sich in: Appunti autobiografici di Roberto Michels, ARMFE. Die zitierten Stellen lauten im Original: „Al partito null'altro chiedevo che la facoltà illimitata di dire la mia opinione. [...] Pochi erano in genere gli intellettuali nel partito. E tutti vivevano, direttamente o indirettamente, dal partito stesso. Prevaleva una fitta rete di ex-operai, talora brava gente, spesso ambiziosi, e quasi sempre gretti e piccini, che eransi fatti inservienti indispensabili della burocrazia del partito. L'apparizione di uno che, pur rinunciando a molti agi della vita, non intendeva che servire il partito spontaneamente e liberamente, sembrava strana ed inconcepibile. Non posso dire per questo che il militanti siano stati ostili od inclinate da sordi sospetti. [...] Senonché rimaneva fin dal principio tra di me e il partito una certa incompatibilità inerente di origine e di carattere."

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im Gegensatz zu den meisten anderen idealistischen' Intellektuellen nie um „Posten oder Vorteile" bemüht zu haben. Daher sei hier, am Ende unseres Berichtes über sein Parteiengagement noch einmal ausdrücklich gesagt: Robert Michels vertrat die Marburger Sektion auf drei aufeinander folgenden Parteitagen (1903-1905), er war 1903 Reichstagskandidat der SPD. Im August 1905 bewarb er sich - den Gefahren der R e präsentation' zum Trotz - im Wahlkreis Hägen-Schwelm erneut für die Reichstagskandidatur und unterlag bei der Abstimmung nur knapp.636 Vor allem aber belegen Michels' zahlreiche, meist tagesaktuelle Kommentare in der Parteipresse nachdrücklich sein Streben nach politischer Wirkung. Auch in diesem Sinn hat er eine politische Funktion für sich beansprucht. Die idealistischen Märchen des späten Michels, nur der , Sache' und nie den eigenen Ambitionen gedient zu haben, sind in dieser Dichotomie von Gemeinwohlorientierung und persönlichem Interesse künstlich und darüberhinaus nur interessant im Hinblick auf den außergewöhnlichen Bedarf an persönlicher Legendenbildung im Alter. Für die idealistische Deutung von Michels' sozialdemokratischem Engagement spricht zwar in jedem Fall, und das darf nicht unterbewertet werden, seine Selbstdeklassierung aus Gerechtigkeitsempfmden, die mit handfesten materiellen Belastungen bzw. Verlusten großbürgerlicher Vorteile einhergegangen ist. Trotzdem schließt die idealistische Beitrittsmotivation weder Führungsabsichten noch eine persönliche Sehnsucht nach Ruhm aus. Das zeigen auch manche seiner unveröffentlichten Erinnerungen, welche die narrative Struktur von der Politikfremdheit des Idealisten urplötzlich aufbrechen und in denen Michels sich selbst als Führer der Massen vorstellt: nachdem er in der Universität Gießen eine Rede zum Ersten Mai gehalten hatte, erinnert sich Michels, habe „ein alter Arbeiter, während die Massen frenetisch applaudierten, lauthals proklamiert, in mir einen neuen Ferdinand Lassalle erkannt zu haben."637 Ein mittelfristiges Interesse, als Parteipolitiker bzw. Parteiintellektueller Anerkennung zu bekommen und von der Politik leben zu können, scheint mir auch deshalb um so wahrscheinlicher, als Michels faktisch mit einem akademischen Berufsverbot belegt war und in Deutschland als Sozialdemokrat wenig Alternativen zur Parteikarriere hatte. Erst in der Folge dürfte er aus dem Umstand, daß seine Bewerbungen um politische Ämter erfolglos geblieben waren und er tatsächlich in jenen Jahren allenfalls von den

636 Das geht aus den „Akten der Abt.VII = 4 des königl. Polizei-Präsidiums zu Berlin betreffend den Schriftsteller Professor Dr. Robert Michels 1903-1917" hervor, heute im Landesarchiv Berlin, A Pr. Br. Rep. 030 Tit. 95 Nr. 16386. Demnach ist Michels' Bewerbung für die kommende Reichstagskandidatur auf der sozialdemokratischen Kreiskonferenz für den Wahlkreis HägenSchwelm am 27.8.05 mit zehn zu acht Stimmen abgelehnt worden. Vorher habe sich Michels auf Veranlassung des niederrheinischen Komitees auf „Agitationstour" begeben. Den Hinweis auf die Existenz dieser Polizeiakte verdanke ich Ernesto Ragionieri, Socialdemocrazia tedesca e socialisti italiani, Milano 1976, S. 20, Anm. 12. Damals befand sich die Akte noch im Landeshauptarchiv Potsdam. 637 [La mia posizione nelle file del Partito], in: Appunti autobiografici di R. Michels, ARMFE: „finito il mio discorso un vecchio operaio ad alta voce proclamò, mentre folle freneticamente applaudivano, di aver riconosciuto in me un nuovo Ferdinand Lassalle [...]."

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Honoraren der internationalen Parteipresse, aber eben nie von politischen Ämtern gelebt hat, die Selbstdeutung der Selbstlosigkeit destilliert haben. Da aber bereits nach etwa dreieinhalb Jahren sich ohnehin der Wechsel auf die Privatdozentenstelle Lehrstuhl in Turin abzeichnete, ist Michels in seinem alles in allem recht kurzen Parteiengagement auch nicht besonders in Versuchung geraten, in der Partei materielle Ziele zu verfolgen. Die „Inkompatibilität", die er später im Hinblick auf sein Verhältnis zum Parteimilieu konstatiert, wird aber heuristisch wertvoll, wenn wir sie von der idealistischen Deutung entschlacken und ihren Kern in den Blick nehmen: hier der Intellektuelle, der die „unbegrenzte Möglichkeit, meine Meinung zu sagen", fordert; dort die Funktionäre, deren Handeln sich an den Kompetenzzuweisungen und am Regelwerk der Organisation orientiert und deren von Michels monierte , Engstirnigkeit' Kehrseite ihrer Spezialisierung ist. Ganz offensichtlich ist der von Michels vertretene Intellektuellentypus vor dem Hintergrund des in jahrzehntelanger Aufbauarbeit erreichten Organisationsniveaus der Partei schon seinerzeit ein Auslaufmodell gewesen. Michels' Politikverständnis ist durch und durch von der bildungsbürgerlichen Annahme geprägt, daß der aufklärerische Diskurs der Gebildeten den Funktionären eine praktische Orientierungsmarke sein müsse. Dabei ist dieser Diskurs schon 1907 allenfalls für das politische Feuilleton interessant. In den Jahren seines Engagements muß Michels selbst diesen Erkenntnisprozeß durchmachen und, erst verwundert, dann resigniert und schließlich desillusioniert zur Kenntnis nehmen, daß die Luxemburg, Bernstein und Kautsky auf den Praktizismus der Partei keinerlei Einfluß mehr haben und daß Grundsatzdebatten im Stile des Revisionismusstreits unerwünscht und unmöglich geworden sind. Die sozialdemokratische Symbiose von Theorie und Praxis, wie sie für Michels in Kautskys exzeptioneller Rolle zunächst zum Ausdruck zu kommen schien, ist, wenn es sie je gegeben hat, längst auseinander gebrochen. Die verbalradikale und orthodoxe Theorie des „revolutionären Attentismus" (Groh) mit seinen fatalistischen Dogmen wie dem der notwendigen Zuspitzung des Klassenkampfes reduziert sich auf eine weltanschauliche Integrationsfunktion, auf eine Art phraseologischen Milieuschutz, während ein unbewußter Defacto-Reformismus zum offiziellerseits nicht eingestandenen Leitmotiv des politischen Handelns avanciert ist. In diesem Kontext hat sich die politische Praxis von der Theorie und ihrem Träger, dem Intellektuellen, längst emanzipiert. Michels verarbeitet diese Dissoziation von Handeln und Theorie in seiner Organisationssoziologie. Kautsky bekommt sie 1909 zu spüren, als sein Buch „Der Weg zur Macht" nicht das Plazet der Parteiführung erhält und man ihm verwehrt, im Namen der Partei zu publizieren, da das Buch die „friedliche Taktik" gefährden könnte.638

638 Hans-Josef Steinberg, Sozialismus und deutsche Sozialdemokratie, a.a.O., S. 82.

V. Die demokratische Sozialpädagogik im Vorfeld der Parteiensoziologie (1907 - 1910)

1. Economia politica pura Bis zum Antritt seiner Privatdozentenstelle an der Turiner Universität im Sommer 1907 hatte Robert Michels, der ja nach eigener Angabe „vom Schreiben leben" mußte,1 bereits über 200 Aufsätze und Artikel veröffentlicht, von den ungezählten Buchrezensionen ganz zu schweigen. Aber auch nach diesen Jahren der ökonomischen Unsicherheiten nahm die Vielschreiberei kein Ende. Denn die ersehnte Stelle ging auch mit neuen gesellschaftlichen ,Pflichten' einher, mit einem repräsentativen Lebensstil und der dafür obligatorischen Pflege einer entsprechenden ,Salon-Kultur', wie das Ausrichten sonntagnachmittäglicher Teestunden mit kammermusikalischer Begleitung oder regelmäßiger Themenabende mit Gästen aus Politik, Wissenschaft und Kunst.2 Die finanzielle Lage der fünfköpfigen Familie entspannte sich daher ganz und gar nicht und blieb so prekär, daß Michels sich weiterhin zur Nachtarbeit am Schreibtisch gezwungen sah3 - und damit auch zur Überproduktion von Texten, die aufgrund ihrer eiligen Abfassung Qualitätsansprüchen oft nicht genügten und Michels nicht ganz zu Unrecht den Tadel „multa, non multum" (Η. Α. Winkler) eingetragen haben. Übermüdung, Nervosität und permanente Gesundheitsprobleme waren die Folge dieses Lebenswandels, der seinen Freund Max Weber zu den ermahnenden Worten veranlasste: „Wenn ich doch nicht mit so unheimlicher Sicherheit wüßte, welches nervöse Schicksal Ihnen bei Ihrer Lebensführung und Arbeitsweise bevorsteht [...] Wirklich? 1 2

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Brief von Michels an Luigi Einaudi, 14.12.1905, ARMFE: „Debbo vivere scrivendo". Vgl. den Bericht von Claudio Pogliano (Tra passione e scienza Robert Michels a Torino; a.a.O., S. 24) von den berühmten „Dienstagen" im Hause Michels, wo die Turiner intellektuelle Elite mit Gästen aus ganz Europa zusammentraf. Im Zentrum standen oft durch einen Redner eingeleitete Themen wie, so das Programm für Dezember 1907, „Konsumgenossenschaften", „Berufskrankheiten", „Verschuldung der öffentlichen Hand", „der Einfluss der Arbeit auf schwangere Frauen" und die „Beziehungen zwischen Klasse und Rasse". Aber nicht immer war es der Ernst der Sozialpolitik, der die Gäste zur lebhaften Konversation bis in die Nacht animierte. Im „fröhlichen Salon" applaudierten die eleganten Damen und Herren auch den Pianokünsten von Michels' Frau Gisela oder Vorträgen über die italienische Musikkunst des 18. Jahrhunderts. Diesen Zusammenhang hat nach Angaben der Michels-Enkelin Maria Gallino ihre Mutter Daisy Michels-Gallino oft erwähnt, wenn sie vom Leben ihres Vaters berichtete.

V. Demokratische Sozialpädagogik im Vorfeld der Parteiensoziologie

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Sie haben Ihre iVac/2/arbeit eingeschränkt'? - u. das soll etwas helfen? [...] natürlich haben Sie 1000 angeblich zwingende ,Gründe', - pekuniäre und andre sich so zu ruinieren, und die Nichtigkeit all dieser (auch der pekuniären) Gründe gegenüber der Gefahr (auch der pekuniären !), sehen Sie erst ein, wenn es zu spät ist."4 Zu Michels' Lebens- und Arbeitsbedingungen in Turin zählte aber auch ein politischer Wandel im akademischen Klima der Stadt. Zwar beglückwünschte ihn Ladislaus Gumplowicz gerade mit Hinblick auf das politische Ambiente in Italien zum Wechsel: „Ich freue mich, dass Sie in Italien ein Asyl gefunden haben, und nicht minder darüber, dass Sie nunmehr am eigenen Leibe erfahren, dass zwischen Monarchie und Monarchie doch immerhin ein Unterschied besteht, selbst fiir Republikaner."5 Andererseits war die Zeit des „Professoren-Sozialismus", den der junge Doktor der Geschichte um 1900 in Turin kennengelernt hatte6 und der ja auch sein Ideal vom politisch und sozial engagierten Intellektuellen geprägt hatte, vorbei. 7 Das war zumindest Michels' Eindruck: der Sozialismus, stellte er 1909 fest, „scheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt aus der Mode gekommen zu sein." In der Wissenschaft herrsche dagegen eher eine „pro-kapitalistische Tendenz" vor, die den Unternehmern „wohlgesonnen" und der Arbeiterbewegung „mißtrauisch, wenn nicht sogar feindlich" begegne. 8 Dieses neue Klima exemplifizierte sich für Michels am Wandel Luigi Einaudis, der „noch vor wenigen Jahren" sozialistische Sympathien gehegt habe, nunmehr aber die „Schaffung einer antiproletarischen Wissenschaft" propagiere, weil er die kapitalistische Wirtschaftsordnung durch die sozialistische Bewegung gefährdet sehe.9 Dem von Einaudi vertretenen Wirtschaftsliberalismus, bzw. „Liberismus", machte Michels

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Brief von Max Weber an Michels, 12.5.1909, in: MWG, Abt. II, Bd.6, S.124-126. Brief von Ladislaus Gumplowicz an Michels vom 27.6.07, ARMFE, abgedruckt in: T. Genett, Lettere di Gumplowicz e di Michels, a.a.O., S. 472. Vgl. Paolo Spriano, Storia di Torino operaia e socialista, Torino 1972.; Francesco Tuccari, Una città di idealisti e scienziati, a.a.O. Vgl. Ferraris, Saggi, S. 164. Vgl. Michels, Storia del marxismo, Roma 1909, S. 12, wo er rückblickend auf die Akzeptanz sozialistischer Wissenschaft an italienischen Universitäten zu sprechen kommt, um dann einschränkend fortzufahren: „quantunque nell'ora che volge sembri essere fuori di moda e prevalga, nel campo della scienza, piuttosto una tendenza pro-capitalistica cioè a dire favorevole agli imprenditori e, se non addiritura avversa, diffidentissima verso il movimento in genere e il socialista in ispecie [...]". Michels, Storia del marxismo, S. 12/13: „il prof. Luigi Einaudi della Università di Torino, che pure pochi anni fa ci ha dato segni non dubbi delle sure preferenze socialistiche" trete in seinen jüngsten Publikationen zugunsten eines „incorragiamento per la creazione di una scienza ,anti-proletaria'" auf. Michels' Vorwürfe haben seine Freundschaft zu Einaudi nicht belastet. Der liberale Nationalökonom hat Michels insbesondere 1921 bei seiner Erlangung der italienischen Staatsbürgerschaft zur Seite gestanden.

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darüberhinaus den Vorwurf, eine reformfeindliche Geisteshaltung in der italienischen Sozialpolitik begünstigt und damit dazu beigetragen zu haben, „die soziale Reform in einer noch geradezu embryonalen Form verharren zu lassen."10 Die „lange Ära sozialreformatorischer Arbeiten",11 die Michels noch 1902 ganz erwartungsfroh in Italien beginnen sah, war offenbar steckengeblieben. Und auch die einstige Eloge auf den „demokratischen Zug des ganzen [italienischen] Volkes",12 die ja gerade auch die Eliten eingeschlossen hatte, wich nun äußerst skeptischen Urteilen: „Die Psychologie unserer besitzenden und gebildeten Klassen ist um 1800 zweifellos in weit höherem Grade von demokratischen Grundideen beherrscht gewesen als die Psychologie derselben Klassen um 1900."13 Den Klimawandel innerhalb der italienischen Intelligenz quittierte Michels zuweilen sogar mit geradezu klassenkämpferischen Worten: er monierte die „intimen Beziehungen zwischen Reichtum und offizieller Wissenschaft" und schlug orthodox-marxistische Töne an, wonach die Wissenschaftler aufgrund ihrer bürgerlichen Klassenlage und der Abhängigkeit vom Staat immer dann, wenn die Kämpfe zwischen Arbeit und Kapital akut werden, sich auf die Unternehmerseite schlagen würden.14 Die Qualität des Arguments einmal außer Acht gelassen, waren das mutige Worte, die Michels noch 1909 an die italienische scientific community richtete. Denn schon im Vorfeld seiner erfolgreichen Bewerbung um die Dozentenstelle im Mai 1907 mußte ihm bewußt geworden sein, daß er nunmehr auch in Italien seine wissenschaftliche Laufbahn durch zuviel Sozialismus gefährden konnte. Die fachwissenschaftliche Einordnung von Michels hatte sich als problematisch erwiesen und alles hing davon ab, ob der „Consiglio Superiore della Pubblica Istruzione" Michels' eher an der Geschichte der sozialistischen Arbeiterbewegung orientierten Arbeiten als ,nationalökonomische' Studien bewerten würde, was schließlich nicht zuletzt dank eines Empfehlungsschreibens von Max Weber an Achille Loria, an dessen Lehrstuhl Michels' Stelle angesiedelt werden sollte, geschah.15 Insbesondere Gaetano Mosca und Loria haben sich für diese akademische Entscheidung eingesetzt.16 10 Michels, Italienische Sozialstatistische und Sozialpolitische Literatur, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. XXVII, Heft 2, September 1908, S. 538. 11 Michels, Der Kampf um eine Arbeiterinnenschutzgesetzgebung in Italien, a.a.O., S. 618. 12 Michels, Der Sozialismus in Italien (1901), a.a.O., S. 497. 13 Michels, Italienische Sozialstatistische und Sozialpolitische Literatur, a.a.O., S. 542. 14 Michels, Storia del marxismo, S. 12/13: „Questi rapporti intimi tra la ricchezza e la scienza ufficiale - provenienti dalla medesimezza dell'origine sociale e della dipendenza della scienza dello stato, espressione politica delle condizioni economiche attuali - si manifestano come la luce del sole al mezzogiorno, tutte le volte che il Lavoro e il Capitale si trovano in periodi di lotte acute" (S. 14). 15 Vgl. den Brief von Max Weber an Achille Loria, 1. Januar 1907, in: MWG II/5, Briefe 1906-1908, S. 207: „Herr Dr. Michels schreibt mir, daß Ihnen ein Urteil über seine Leistungen von deutscher Seite, speziell von mir, angenehm wäre. Ich kann daraufhin nur sagen, daß nach meiner Meinung Dr. Michels jeder deutschen Universität als Privatdozent und Professor zur Zierde gereichen würde, daß ich persönlich seinen Entschluß, sich in Italien zu habilitieren, zwar vollkommen begreiflich und berechtigt finde; - sein speziellstes Arbeitsgebiet ist ja die soziale Bewegung Ihres Landes, -

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„Aber für die Zukunft hören Sie auf mich", schrieb Luigi Einaudi im unmittelbaren Zusammenhang mit der erfolgreichen Habilitation an Michels: „Geben Sie sich nicht mehr mit Erörterungen zum Sozialismus ab; wenn Sie Karriere machen wollen, befassen Sie sich mit irgendeinem geeigneten Thema der politischen Ökonomie".17 In seiner Antwort skizzierte Michels sein persönliches wissenschaftliches Vorhaben, nicht ohne die objektiven Zwänge, auf die ihn Einaudi hingewiesen hat, anzuerkennen: „Ich bin völlig einverstanden mit Ihnen, daß meine Arbeiten noch nicht ausreichen, um mich für einen Lehrstuhl der politischen Ökonomie zu bewerben, gerade weil, wie Sie mit Recht sagen, es noch zu wenig aus dem Bereich der reinen politischen Ökonomie gibt. Wenn ich dennoch einen Antrag auf Zulassung zum Privatdozenten für politische Ökonomie gestellt habe, so deshalb, weil ich einen weiteren Begriff der Quintessenz dieser Wissenschaft habe. Tatsächlich scheint mir Ihre Definition ein wenig zu eng zu sein, weil sie keinen Platz zumindest für die ,Sozialwissenschaften' - und auch die ,Soziologie' - läßt, die, wenn sie auch nicht sinngleich mit der Ökonomie sind, ein integraler Bestandteil von ihr und zweifelsohne Wissenschaften sind". Die Erforschung der sozialen Bewegungen und Parteien, so Michels weiter, habe die wissenschaftliche Anerkennung verdient, und solange es hierfür keine speziellen Lehrstühle gebe, sollten sie die Gastfreundschaft der politischen Ökonomie genießen.18 Eine

daß ich aber doch sehr bedaure, daß wir ihn verlieren. Nicht nur aus seinen Arbeiten über italienischen Sozialismus, sondern auch aus seinen zahlreichen andren kleinen Aufsätzen geht zur Evidenz hervor, daß wir in Deutschland Niemanden haben, der mit der internationalen Arbeiterbewegung so vertraut wäre wie er. Er übertrifft darin z. B. nach meiner Meinung auch Sombart sehr bedeutend". Vgl. auch Ferraris, Saggi, S. 176-177, der einen Brief Moscas an Michels vom 12.5.1907 zitiert, in dem Mosca Michels über die „gestrige" Entscheidung des „Consiglio Superiore" informiert. 16 Vgl. Tuccari, Una città di idealisti, a.a.O. 17 Brief von Luigi Einaudi an R. Michels, o.D., zit. n. Sivini, Michels, S. 10-11, wo Einaudi erklärt, im „Consiglio Superiore" für Michels stimmen zu wollen, aber hinzufügt: „Ma per l'avvenire, dia retta a me. Non si confonda più a trattar di socialismo; ma se vuol far carriera, tratti di qualche argomento proprio dell'economia politica". 18 Brief von Michels an Luigi Einaudi, 8. Juli 1907, ARMFE (zitiert nach Riccardo Faucci, Intorno alla ,giusta' collocazione intellettuale di Roberto Michels, in: Faucci (Hg.), Michels, a.a.O., S. 23-44, S. 25: „Io sono perfettamente d'accordo con Lei nell'ammettere che i miei titoli non bastano ancora a concorrere per una cattedra di economia politica, appunto perché come ella dice benissimo, di economia politica pura ce n'è ancora troppo poco. Se ciò nonostante io ho [...?] l'istanza per essere ammesso alla libera docenza di economia politica egli è che io ho un concetto un po' più ampio della quintessenza di questa scienza. Infatti la di Lei definizione mi sembra essere un po' troppo stretta non lasciando posto almeno per queste ,scienze sociali' - ed anche quella sociologia' - che pure non essendo sinonime coll'economia, fanno parte integrale di essa e sono indubbiamente delle scienze. Gli studi sulla genesi e sull'analisi dei grandi movimenti sociali e dei partiti che ne derivano sono opere degne di assumere il titolo e i meriti di scienza; e se l'ordinamento attuale delle università non concede ancora a questi rami scientifici un posto ben definito

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interdisziplinäre „Grenzwissenschaft" ist wohl Michels' Ideal gewesen, 1 9 der sich allerdings der notwendigen Konzessionen an die herrschende Wissenschaftsdisziplin bewußt war: „Gerne wiederhole ich, daß mir Ihre Ratschläge, mich immer mehr mit der reinen Ökonomie zu beschäftigen, der größten Überlegung würdig erscheinen. Ein Ökonom, der über die reine Ökonomie nicht schreiben kann oder nicht geschrieben hat, ist gewiß einseitig und es geschieht ihm recht, wenn er keine Karriere macht." 20 Wir werden im folgenden sehen, daß das neue Turiner Umfeld mit seinen wissenschaftlichen Konditionen einen nicht unerheblichen Einfluß auf Michels' Arbeiten gehabt hat. So kommt es zu einem, wenn auch nachvollziehbaren, so doch bemerkenswerten , Stilbruch': politische Theorie, Ökonomie, die Arbeiten zur Geschlechtsmoral wie auch sein sozialistisches Engagement, das er keineswegs abbricht, werden von nun an rigide getrennt. Die sieben Jahre in Turin von 1907 bis 1914 werden für Michels dabei die wohl wichtigsten seiner gesamten akademischen Laufbahn. Er befreit sich v o m naiven Fortschrittsdenken früherer Tage 21 und auch v o m polaren Klassenkampfschema, ja er rezipiert sogar mit vorurteilsloser Offenheit die zeitgenössische ,arbeiterbewegungs-

non vuol dire perciò che non abbiano diritto di esistenza. La mia tesi sarebbe questa: finché non ci saranno cattedre apposite e speciali di .scienze sociali' i fautori di queste devono necessariamente cercare ospitalità e trovare rifugio presso l'economia politica." Michels nennt das Beispiel der deutschen Fächerordnung, wo etwa die Arbeiterfrage als „integraler Bestandteil der politischen Ökonomie" behandelt werde. Das deutsche System erweise seine „wissenschaftliche Inferiorität" allerdings dadurch, daß Studien über den Sozialismus nur dann ihren Autoren die Pforten der Universität öffnen, wenn sie den Aspirationen der Arbeiterbewegimg zuwiderlaufen. Das müsse er, Einaudi, doch anerkennen, auch wenn er ein „forcaiolo" (in Italien eine scherzhafte Bezeichnung für einen „intransigenten Reaktionär") sei. In diesem Zusammenhang geht er auch auf das Scheitern seiner eigenen Karriereabsichten in Deutschland ein: „Io posso accertare [...] che la mia carnerea universitaria in Germania fu troncata in sul principio non dall'Indole scientifico dei miei titoli ma dall'Indirizzo scientifico di essi. In Germania la questione operaia è considerata quale parte integrale dell'economia politica. Soltanto [...] il Kaiser, se permette le indagini, non permette certi risultati. In altri termini: i libri sul socialismo aprono ai rispettivi autori la carriera universitaria, su condizione però che siano prettamente ostili al movimento operaio ... [Di qui] secondo me - e credo anche secondo Lei, benché ,forcaiolo' - l'inferiorità scientifica del sistema tedesco." 19 Das zeigen Riccardo Faucci, Intorno alla ,giusta' collocazione ..., a.a.O.; und Vintantonio Gioia, Roberto Michels e la scienza economica: dall'economia pura alla Grenzwissenschaft, in: Faucci (Hg.), Michels, a.a.O., S. 45-67. 20 Brief von Michels an Einaudi, 8.7.1907, Archivio Fondazione Einaudi: „Mi giova ripetere che i suoi consigli di occuparmi cioè vieppiù di economia pura mi paiono degni della massima considerazione. Un economista che non sappia scrivere o non abbia scritto di economia pura, è certo unilaterale e ben gli sta se non riesce a far carriera." 21 Michels: Vorwärts mit Kant und Marx!, in: Volksstimme, 16. Jg., Nr. 48, 1905.

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feindliche' Wissenschaft in Gestalt der Theorie der politischen Klasse eines Gaetano Mosca,22 der Massenpsychologie Gustave Le Bons oder gar biologische Deutungen der sozialen Ungleichheit, wie sie seinerzeit Alfredo Niceforo unternimmt, den Michels sogleich ins Deutsche übersetzt und einfuhrt.23 In diesem tabulosen geistigen Klima unverschämter Synthesen ohne Rücksicht auf politische Korrektheiten, gedeiht sein wichtigstes Buch, die „Soziologie des Parteiwesens". Es enthält starke Indizien für das Festhalten am Programm der Aufklärung und Demokratisierung wie auch für seine Erledigung. Bevor wir uns Michels' Hauptwerk in seiner Ambivalenz widmen und dabei auch sein übriges soziologisches Programm in jenen Jahren beleuchten, ist es mehr als Chronistenpflicht, seine Beiträge zur sozialistischen Debatte nach seinem Rückzug aus der Parteipolitik in den Blick zu nehmen. Denn die Betätigung des Elitentheoretikers als unabhängiger philosozialistischer Intellektueller ist bis auf eine Ausnahme24 in der Michels-Forschung kein Thema gewesen. Seine entsprechende Publizistik zwischen 1907 und 1910, die man durch und durch als sozialpädagogisch bezeichnen kann, wirft aber ein bedeutendes Licht auf das Hauptwerk „Zur Soziologie des Parteiwesens".

2. Gewalt, Mitläufertum und Demagogie: der Turiner Generalstreik und das Projekt einer demokratischen Erziehung Bis 1909 ist Michels noch Mitglied des Partito Socialista Italiano, ohne dort noch einmal parteipolitische Aktivitäten zu entwickeln. Ein Grund dafür dürfte sein, daß mit dem definitiven Austritt der letzten verbliebenen Syndikalisten aus dem PSI auf dem Kongreß von Florenz im September 1908 Michels' Vision einer pansozialistischen Einheit unter demselben Parteidach obsolet ist. Damit dürfte der Leitidee seines prosyndikalistischen Engagements, die Parteipolitik über die Erzeugung produktiver Spannungen zwischen fundamentalistischer Grundsatztreue und reformistischen Praktizismus zu revitalisieren, das empirisch-institutionelle Substrat endgültig abhanden gekommen sein. Neben Plausibilitätsgründen, die wir für diese Hypothese aus Michels' Auseinandersetzungen mit dem revolutionären Syndikalismus ableiten können,25, läßt sich auch das interessante Indiz anführen, daß seine spätere „Kritische Geschichte der italienischen sozialistischen Bewegung bis 1911" genaugenommen 1908 in Florenz endet.26 Der Rückzug aus der Parteipolitik bedeutet aber nicht das Ende seines sozialistischen Engagements. Unübersehbar ist vielmehr Michels' Bestreben, mit seiner Rück22 Michels, Die oligarchischen Tendenzen der Gesellschaft, a.a.O. 23 Alfredo Niceforo, Anthroplogie der nichtbesitzenden Klassen. Studien und Untersuchungen, Leipzig/Amsterdam 1910; mit einer Einführung von Robert Michels: „Das Proletariat in der Wissenschaft und ökonomisch-anthropologische Synthese, S. 3-28. 24 Ferraris, Saggi, S. 178f. 25 Vgl. Kapitel „Michels und der revolutionäre Syndikalismus". 26 Vgl. Giovanni Sabbatucci, Michels e il socialismo italiano, Einleitung zu: Michels, Storia critica del movimento socialista italiano fino al 1911, Roma 1979, S. XV.

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kehr nach Turin die Rolle des politischen Intellektuellen neu zu definieren und den Status des Turiner Privatdozenten mit einer strömungspolitisch unabhängigen politischen Einmischung zu verbinden. An die Stelle des linksradikalen innerparteilichen Strömungspolitikers tritt nun eine Form der publizistischen Intervention, die wir noch aus Michels' Frühphase vor dem Eintritt in SPD und PSI kennen. Arthur Mitzmann hatte diese als „Sozialreformismus" bezeichnet. Charakteristisch für diese Haltung ist seine Polemik mit Enrico Leone im September 1908, in der Michels - ausgerechnet im revolutionär-syndikalistischen „Divenire Sociale" - der Rehabilitierung des Reformismus das Wort redet. Neben den „heilsamen und guten Ideen" sowie dem Realitätssinn des Reformismus lobt Michels ausdrücklich auch dessen Funktion, gegenüber den „allzu hitzigen Aspirationen" der Radikalen als „Gegengewicht" aufzutreten.27 Das Gegengewichtsargument, mit dem Michels in den Jahren zuvor die Existenz des revolutionären Syndikalismus legitimiert hat, wendet er somit im Spaltungsjahr 1908 gegen den Linksradikalismus, der sein Glück in der Sezession sucht. Gegenüber dem Absolutheitsanspruch des revolutionären Syndikalismus ist Michels' Vision von der pansozialistischen Einheit insofern einem pluralistischen Politikbegriff verpflichtet, als er die wechselseitige Angewiesenheit des linken und rechten Flügels behauptet, weil sie sich nur dann wie Korrektive zueinander verhalten können, wenn der Konflikt zwischen Ideal- und Realpolitik in ein und demselben institutionellen Rahmen ausgetragen wird. Michels' Botschaft im Vorfeld des Florentiner Parteitags lautet daher: „Ich bin ein Gegner jeglicher Spaltung auf dem Felde des italienischen Sozialismus."28 Michels neue Wertschätzung des Reformismus ist aber auch einer neuen Skepsis geschuldet, die ihn bereits ein Jahr zuvor deutlich auf Distanz zum syndikalistischen Arbeitersozialismus und dessen Enthusiasmus für ,direkte Aktionen' gehen läßt. Im Oktober 1907 war es infolge einer Rezession und damit verbundener Massenentlassungen zu einem der gewalttätigsten Arbeitskämpfe der italienischen Geschichte gekommen. Sein trauriger Höhepunkt war der elfte Oktober von Mailand, wo in einer Straßenschlacht zwischen streikenden Arbeitern und Ordnungskräften ein Arbeiter von einem Carabiniere erschossen und sieben schwer verletzt wurden.29 In zahlreichen Städten wurde daraufhin der Generalstreik proklamiert, meist durch syndikalistische Versammlungen, die in Konkurrenz zu den gemäßigten und dem Generalstreik abgeneigten „Camere del lavoro" traten. Die Uneinigkeit der Arbeitnehmervertretungen, die sich mit gegensätzlichen Resolutionen befehdeten, erzeugte ein Klima der Orientierungslosigkeit und führte zu einem nur mäßigen Mobilisierungserfolg der Streikaktionen. Die konfrontativen Spannungen entluden sich vielerorts in Auseinandersetzungen revolutionärer

27 Michels, Appunti sulla situazione presente del socialismo italiano, in: Divenire sociale, anno IV, Num. 18, 16. September 1908, S. 294-296, S. 295: „Onde non può negarsi l'utilità del riformismo che contrappesa le voglie troppo bollenti." 28 Michels, Appunti sulla situazione presente del socialismo italiano, a.a.O., S. 294: „io sono avversario di ogni scissione nel campo del socialismo italiano". 29 Vgl. zum Ablauf der Ereignisse Franco Gaeta, La crisi di fine secolo e l'età giolittiana, Milano 1996 (1. Aufl. Torino 1982), S. 271.

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Arbeiter mit Streikbrechern und Polizei. Gewalttätige Zusammenstöße auf den piazze beherrschten die Szenerie. Am Ende stand die italienische Arbeiterbewegung vor einem Desaster: den Arbeitskampf hatte sie verloren, die von einer Minderheit betriebene Eskalation auf den Straßen diskreditierte sie in der Öffentlichkeit, und der Richtungsstreit in ihren eigenen Reihen hatte ein organisatorisches Chaos herbeigeführt, das eine einheitliche politische Strategie in diesem Arbeitskampf von Anfang vereitelt hatte. In dieser Situation, die das sozialistische Lager zu zerreißen droht, begibt sich Robert Michels in einem publizistischen Vermittlungsversuch auf die beiden gegensätzlichen Bühnen der italienischen Arbeiterbewegung. Am 2. November gibt er zunächst der syndikalistischen Zeitung „II Grido proletario dei Sindacalisti torinesi" ein Interview,30 dem er drei Tage später in dem reformistischen „II Grido del Popolo" eine Diskussion mit seinem Freund Giulio Casalini folgen läßt.31 Beide Male geht es um die Bewertung des Generalstreiks und den Wert der Demokratie. Gegenüber dem „Grido proletario" kommt Michels auf den Solidaritätsstreik der Eisenbahner zu sprechen und erklärt, daß Solidaritätsstreiks das „Symptom"32 eines fortgeschrittenen Klassenbewußtseins seien und sich in ihnen das proletarische Selbstbewußtsein als einer solidarischen „sozialen Entität" ausdrücke.33 Dann aber tritt er auf die Streikeuphoriebremse: „Doch glaube ich, daß der Generalstreik keine gewöhnliche Waffe für alle Tage ist und es auch nicht sein darf'. 34 Der Hintergrund dieser Mahnung zur Besonnenheit sind die völlig aus dem Ruder gelaufenen Streikaktionen des Oktober. Auffällig ist nun allerdings, daß Michels diese Ereignisse exakt in jenem kryptoelitistischen Deutungsrahmen einfangt, der schon während seines sozialreformistischen Engagements (1900-1903) seinen Blick auf Arbeiteraktionen prägte. Diesen Deutungs-

30 II pensiero di Roberto Michels, in: Il Grido proletario dei Sindacalisti torinesi, numero unico, 2.11.1907, S. 2-3. 31 Michels, La democrazia socialista e l'aristocrazia democratica, in: Il Grido del Popolo, Nr. 57, 5.11.1907. Casalini saß für den PSI im Turiner Stadtparlament. Die Freundschaft zwischen Michels und Casalini dokumentiert sich in dem Briefwechsel zwischen den beiden Sozialisten (ARMFE) sowie in der Widmung, die Michels 1911 der italienischen Ausgabe seiner „Soziologie des Parteiwesens" voranstellt: „Für Annibale Marazio - Gaetano Mosca - Luigi Einaudi - Giulio Casalini, denen ich mich verbunden fühle über die Bande fester und herzlicher Freundschaft hinaus durch die gemeinsame Überzeugung, daß in den Wissenschaften wie im zivilen Leben die erste Bürgertugend darin besteht, aufrichtig, mutig, vorurteilslos zu sein". Meine Übersetzung, zitiert nach Michels, Il partito politico nella democrazia moderna, 2. Aufl., Torino 1924. 32 Man beachte die Wortwahl: Als „Symptom" einer bereits vorhandenen und systematisch vorausgehenden soziomoralischen Orientierung begreift Michels den Generalstreik, und nicht etwa - frei nach Sorel - als eine mythische Erfahrung, durch die das Klassenbewußtsein erst geboren wird. 33 II Pensiero di R. Michels, S. 2: „[...] lo sciopero generale è il sintomo della coscienza di classe del proletariato. E un sintomo che gli operai che gli operai hanno capito l'abici del socialismo il quale consiste appunto nell'abitudine acquistata da parte degli operai di sentirsi quale entità sociale, quale classe separata da ogni altro ceto della società". Ein Solidaritätsstreik sei daher ein Indiz dafür, daß „gli operai hanno già saputo superare parecchie fasi della storia ascendente della loro classe". 34 II Pensiero ..., S. 3: „[...] pure io credo [...] che lo sciopero generale non è, nè dev'essere un'arma comune di tutti i giorni. Tutt'altro!"

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rahmen haben wir genetisch aus Michels' kognitiver Affinität und persönlicher Beziehung zur Lombroso-Schule und ihren massenpsychologischen Theoremen hergeleitet.35 Von den zwei Michels' Perspektive leitenden Modellen sozialer Bewegung, dem zivilgesellschaftlichen und dem sentimentalen, sind die Ereignisse vom Oktober 1907 dem letzteren zuzurechnen. Die Eskalation der Gewalt fuhrt Michels nämlich auf eine seiner Meinung nach gerade dem Solidaritätsstreik inhärente Tendenz zum „sentimentalismo"36 zurück, der genauso gefahrlich sei wie der leidenschaftslose, engherzige Praktizismus.37 Der „sentimentalismo" in Arbeitskämpfen sei ein „Indiz dafür, daß das Proletariat noch nicht gelernt hat, seiner Instinkte Herr zu werden."38 Was Michels hier, wie auch schon in den Jahren 1900- 1903, vom konservativen Verdikt über die trieb- und instinktgesteuerte gefährliche Masse unterscheidet, ist seine Überzeugung, daß die Arbeiterschaft mit geeigneten sozialpädagogischen Mitteln auf den evolutiven Reifeweg zur proletarischen Selbstbeherrschung gebracht werden könne. Er sei, so Michels in dem Interview, „weit entfernt davon, auf diese Mailänder Arbeiter mit Steinen werfen zu wollen, die das Defizit an moralischer und politischer Erziehung mit ihrem eigenen Blut bezahlt haben". Aber die Tatsache, daß Streikbrecher von den Streikenden brutal angegriffen und verletzt wurden, sei ein Zeugnis der Schwäche, der Bewegung wie auch ihrer Propaganda.39 In diesen Vorwurf bezieht Michels ausdrücklich die intellektuellen MoralErzieher mit ein: „Wir haben es versäumt, auch vor unseren Gefolgsleuten die doch so einfache Wahrheit zu bekräftigen, daß auch das Leben des Streikbrechers und des Polizisten heilig ist."40 Angesichts der gewalttätigen Übergriffe, derer sich im Vorfeld

35 Vgl. Kapitel III.2.1. Neue soziale Bewegungen: das zivilgesellschaftliche und das sentimentale Paradigma 36 Sentimentalismo heißt eigentlich soviel wie Sentimentalität, Gefühlsduselei. In diesem Fall geht es, wie wir gleich sehen werden, um unbeherrschte, gewalttätige Handlungen aus Wut und verletzten Gerechtigkeitsgefühlen. Allgemeiner gesprochen geht es um die Problematik der gefahrlichen Leidenschaften', deren Behandlung in der Sozialphilosophie Helmut König analysiert hat. Vgl. H. König, Zivilisation und Leidenschaften. Die Masse im bürgerlichen Zeitalter, Reinbek bei Hamburg 1992. 37 II pensiero ..., S. 3: „Lo sciopero generale si fa dominare troppo facilmente da un sentimento, sia pure elevato e nobile, e diventa poi sentimentale. Ma sentimentalismo è altrettanto pericoloso per lo sviluppo proletario quanto la mancanza di ogni sentimento e il gretto praticismo." 38 II pensiero ..., S. 3: „II sentimentalismo dello sciopero generale di solidarietà [...] può anche essere, facilmente, l'indizio che il proletariato non ha ancora imparato ad essere padrone dei suoi instinti." 39 II pensiero, S. 3: „Lungi da me di voler gettare pietre su questi operiai milanesi che hanno pagato la mancanza di educazione morale e politica col loro proprio sangue. Ma il fatto che quegli operai non trovarono mezzo migliore per dare sfogo al loro trionfo sui krumiri, che prendendo i vinti (forse più miseri di loro) a sassate, c'indica il lato debole del nostro movimento e della nostra propaganda." 40 II pensiero..., S.3: „Ci siamo dimenticati di affermare anche davanti ai nostri seguaci, la verità pur così semplice che la vita è santa anche nel krumiro e nel carabiniere".

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der Polizeiübergriffe das Proletariat schuldig gemacht hatte, sei überhaupt zu fragen, ob der Solidaritätsstreik mit den Arbeitern von Mailand gerechtfertigt gewesen sei.41 Der Streit über Sinn und Unsinn des Streiks hat eine demokratietheoretische Implikation. Als Michels in dem Interview meint, man hätte vom Generalstreik abraten müssen, fragt ihn der Redakteur des „Grido proletario", ob der Streik auch gegen den Willen der Basis hätte verhindert werden müssen. Die Frage kommt einer Gesinnungsprüfung gleich. Auch der Reformist Giulio Casalini hatte kurz zuvor, im „Grido del Popolo", die „ungeordneten Instinkte der Masse" verurteilt und dies mit der Forderung verknüpft, daß über künftige Streiks nicht mehr von Vollversammlungen, sondern ausschließlich von den obersten Führungsgremien von Partei und Gewerkschaft entschieden werden dürfe. In seiner Antwort distanziert sich Michels entschieden von Casalinis Vorschlag, aus Sorge um die Vernünftigkeit von politischen Entscheidungen die innerparteiliche Demokratie einzuschränken: „Die Volkssouveränität ist nicht nur ein Traum, sie ist die Basis unseres Handelns".42 Auch wenn Michels nicht ausschließen kann, daß die Intellektuellen im reformistischen wie im syndikalistischen Lager zuweilen sehr viel klarer die „wahren Interessen" des Proletariats sehen würden als die Arbeiter selbst, hält er am Demokratieprinzip und damit am Verbot, dem Proletariat einen Willen zu „diktieren", fest.43 Dem kryptoelitistischen Deutungsrahmen entkommt Michels' Apologie der Volkssouveränität freilich nicht. Das wird gerade dort deutlich, wo er Selbstkritik übt, wo er nämlich der ,Elite' im Sinne Scipio Sigheles, den Intellektuellen, die Schuld für proletarisches Fehlverhalten gibt: „Wenn in diesem Fall das Proletariat Irrtümer begangen hat, dann liegt die Schuld bei uns selber, egal welcher Strömung wir angehören, daß das Proletariat noch nicht gelernt hat, Herr seiner selbst zu sein".44 Die „Herren"-Semantik wirft ein Licht auf Michels' .elitäres', nämlich normativ anspruchsvolles Demokratieprogramm. Mindestens zwei ideengeschichtliche Wurzeln lassen sich in ihr erkennen: Erstens die zutiefst bildungsbürgerliche Leitvorstellung vom innengeleiteten Menschen, die hier vom Intellektuellen zum Beurteilungsmaßstab proletarischen Handelns erhoben wird. Das ist für den Zeitkontext nicht verwunderlich: Die ,innengeleitete Persönlichkeit' ist eine für die politische Kultur im jungen deutschen

41 II Pensiero, S. 3: „[...] non so neanche se in questo caso fu giustificato lo sciopero di solidarietà" 42 II Pensiero ..., S. 3: „La sovranità popolare non è soltanto un sogno; è la base stessa della nostra azione." 43 II Pensiero ..., S. 3: „Non possiamo nè dobbiamo imporre gli alti concetti dei fuorusciti della borghesia al proletariato combattente pei proprii diritti. Nelle questioni di salario e della lotta di classe quotidiana il proletariato sa meglio di qualunque consigliere intimo, ma esterno, quello che gli conviene. E nei casi di eccezione alle regole non siamo certo noi a cui spetta dettarle la nostra volontà, anche se, come nel caso nostro, alcuni tra i riformisti, come parimenti la maggior parte degli intellettuali tra i sindacalisti, avessero avuto forse una nozione più nitida sui veri interessi della classe operaia, specie nella sua parte non organizzata, stessa. 44 II Pensiero ..., S. 3: „Se in quest'occasione il proletariato ha avuto dei torti, la colpa dei quali certamente pesa su di noi stessi a qualunque tendenza apparteniamo, gli è appunto che il proletariato non ha ancora imparato a essere il padrone di sè stesso."

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Nationalstaat wirkungsmächtige Autonomieillusion der bürgerlichen Intelligenz gewesen, fiktional verankert im Bildungsroman des 19. Jahrhunderts.45 Zweitens erlangt die „Herren"-Semantik eine demokratietheoretische Qualität dadurch, daß die Norm der Selbstbeherrschung gegen die „Instinkte" und die unkontrollierten Gefühle ins Feld geführt wird. Damit wird ein Topos des politischen Denkens zitiert, der sich schon bei Aristoteles und vielen Autoren der alteuropäischen „Societas civilis" nachweisen läßt, die den Bürgerstatus mit seinen Mitbestimmungsrechten an Kriterien der Selbstgenügsamkeit, der Selbstbestimmung und der Selbstbeherrschung knüpften - allesamt Qualitäten, die man den subalternen Schichten absprach. Mit der rechtlichen Egalisierung der Mitbestimmungskompetenz im Zeitalter der Fundamentaldemokratisierung, die den faktisch ,Inkompetenten' dem ,Experten', den heteronomen Charakter der autonomen und vernunftbegabten Persönlichkeit gleichstellt, ist ein Standardproblem aller Demokratietheorien seit der Antike angesprochen. Von Michels, wie auch von anderen progressiven Autoren der Moderne, wird diese Problematik durch den zivilisationsoptimistischen Vorgriff auf die Zukunft ,gelöst'. Die proletarische Gewalteskalation vom Oktober 1907 wird als Symptom einer noch unvollendeten Zivilisierung und Demokratisierung gedeutet. Beides gehört hier zusammen, in der ,Herren'-Semantik sind Zivilisierung und Demokratisierung zwei Seiten derselben Medaille. Denn Michels' Appell an die Selbstbeherrschung und Selbstbestimmung kann nicht nur als eine Variante des Eliasschen Begriffs von Zivilisierung als Überführung von Fremdzwang in Selbstzwang gelesen werden, er impliziert gleichzeitig eine normative Grundbedingung für Demokratisierung, insofern Michels meint, daß nur der Herr seiner selbst ,Jierr über seine Herren" sein kann.46 Wenn Michels gleichzeitig einer Zentralisierung der Entscheidungsstrukturen im Sinne Casalinis eine Absage erteilt und am Prinzip der Volkssouveränität als Norm der politischen Entscheidungsfindung allen Reifedefiziten zum Trotz festhält, dann liegt dem offensichtlich die Vermutung zugrunde, daß vorübergehende Entdemokratisierung das Problem der Masseninstinkte nicht löst, sondern nur aufschiebt, daß, in anderen Worten, die Autonomisierung der Köpfe nur dort stattfinden kann, wo demokratische Lernprozesse möglich sind. In diesem Sinne liegen seine Äußerungen von 1907 auf einer Linie mit seiner Verteidigung des Frauenwahlrechts von 1903, als er dessen Einführung ohne Aufschub forderte, auch wenn fürs erste die Konservativen davon profitieren dürften.

45 Vgl. hierzu Helmuth Lethen, Der Radar-Typ. Vom Spielraum in der Masse und der Anonymität als Möglichkeitshorizont, in: Annette Graczyk (Hg.), Das Volk. Abbild, Konstruktion, Phantasma, Berlin 1996, S. 225-236. 46 II Pensiero ..., S. 3: „Se in quest'occasione il proletariato ha avuto dei torti, la colpa dei quali certamente pesa su di noi stessi a qualunque tendenza apparteniamo, gli è appunto che il proletariato non ha ancora imparato a essere il padrone di sè stesso. Altrimenti esso invece di aspettare che il comando per la battaglia venga dall'alto assalendo poi Partito e Confederazione per non averlo guidato, sarebbe stato non solo padrone di sè stesso, ma anche padrone dei suoi padroni."

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Wenn wir daran denken, daß die realexistierende Arbeiterdemokratie vom Standpunkt des Gebildeten gesehen einen „primitiven politischen Reifegrad"47 offenbart, daß ihm das Proletariat in seinem Führerglauben auf dem Entwicklungsstand von „Kindern"48 zu stehen scheint, können wir ermessen, wie sehr Michels' Apologie der Demokratie von seiner aufklärungssoptimistischen Grundeinstellung abhängt. Aus Arbeitern, die nach Maßgabe der kryptoelitistischen bildungsbürgerlichen Leitvorstellungen keine „Herren" sind, werden so „Herren" auf der Basis einer sozialpädagogischen Erwartungsprämisse. Das zeigt Michels' Replik auf die Thesen Casalinis drei Tage später im „Grido del popolo". Erneut stützt sich Michels auf das Prinzip der Volkssouveränität, um dieses fur das Parteileben zu reformulieren: „Wer das Parteibuch besitzt, ist Sozialist, ist unser Mandant, der über uns Herr ist".49 Nun muß Michels allerdings Casalinis empirischem Befund des Kompetenzmangels der Basis zustimmen und teilt auch dessen Meinung, daß die organisierten Massen sich irren und die Führer dagegen Recht haben können. Um diesen „Unannehmlichkeiten des Metiers" abzuhelfen, fordert Michels wiederum eine Rückbesinnung der sozialistischen Politik auf ihre edukativen Aufgaben. Auch Casalini hatte die Erziehungsbedürftigkeit der Basis unterstrichen, dabei aber geglaubt, die Anwendung demokratischer Prozeduren auf die sozialistischen Zukunft verlegen zu müssen. Damit, so Michels, habe sich Casalini vor das „falsche Dilemma" gestellt, „daß die Führer nur zwei Wegen folgen können: jenem des sklavischen Sichbückens vor dem barbarischen und halbverrückten Willen unvorbereiteter Massen [...] oder dem des eigenen Gewissens, auf dem man nötigenfalls auch gegen die Masse handelt, um sie zu erziehen".50 In Wahrheit aber gehe es nicht darum, sich entweder zu bücken oder zu erziehen, sondern darum, beides zu tun. Demokratische Führung sei weder das Amt des demütigen Dieners noch das des stolzen „padrone" der Masse: „Wir müssen uns der Masse hingeben und doch keine Gelegenheit auslassen, sie zu erziehen, corpo e anima. Als Erzieher lassen wir uns erziehen, als Gelehrte lassen wir uns belehren. Als Herren lassen wir uns beherrschen."51 47 Michels, Ein Volksaufstand für einen diebischen Minister, a.a.O. 48 Vgl. den bereits zitierten Brief von Michels an Achille Loria vom September 1907. 49 Michels, La democrazia socialista e l'aristocrazia democratica, in: Il Grido del Popolo, Nr. 57, 5.11.1907: „Chi ha la tessera è socialista, è il nostro mandante che è padrone sopra di noi". Die Zitate aus diesem Aufsatz entnehme ich dessen ausführlicher Darstellung in Ferraris, Saggi, S. 159ff. 50 Michels, La democrazia socialista ... „[...] che i duci non hanno che due vie da seguire: quella di chinarsi, schiavi, davanti alla volontà barbara o mattoide di masse impreparate ... o di seguire la propria coscienza e agire, occorrendo, contro la massa, educandola". Zit. n. Ferraris, S. 162. 51 Michels, La democrazia socialista ..., a.a.O. (Ferraris, S. 162): „Dobbiamo abbandonarci alla massa, pure non tralasciando veruna occasione di educarla, corpo e anima. Educatori saremo educati a nostra volta. Maestri saremo ammaestrati. Domini, saremo dominati" Im Original steht der Indikativ Passiv Futur (als Erzieher werden wir erzogen werden), den ich hier mit „lassen" übersetzt habe.

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Die melodische Anlehnung an die Marasche Dialektik der dritten Feuerbachthese ist hier unüberhörbar. Marx hatte der „materialistischen Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung" vorgeworfen, daß sie die Gesellschaft in zwei Teile sondiere und vergesse, daß die Umstände von den Menschen verändert werden und der Erzieher selbst erzogen werden muß. Marx' Ausweg aus diesem Erziehungsproblem war dessen Aufhebung in der „revolutionären Praxis", in der das ,Ändern der Umstände" und die „Selbstveränderung" als Erziehung der Erzieher zusammenfielen.52 Solche dialektischen Denkbewegungen waren Michels völlig fremd: sein Marxismus war von der Marx-Interpretation der II. Internationale geprägt, die seit Engels und dessen Schüler Kautsky die Dialektik verflacht und weitgehend getilgt hatte, indem sie sie in Analogie zur natürlichen Evolution verstand.53 Insofern die Sozialisten der II. Internationale überhaupt an die klassische deutsche Philosophie anknüpften, standen sie generell Kant näher als dem ihnen nahezu unbekannten und unverständlichen Hegel.54 Michels' Losung von der Erziehung der Erzieher war daher auch weit davon entfernt, einen dialektischen Ausweg aus dem Erziehungsdilemma aufzuzeigen. Schon seine Savonarola-Thesen von 190255 haben uns gezeigt, daß er den Fortschritt der Moral nur evolutiv denken konnte und der revolutionären Situation nicht das geringste Veränderungspotential beimaß. Da der geistige Unterschied zwischen Intellektuellem und Masse ihm ebenso ein Axiom war wie die funktionale Ausdififerenzierung der bürokratisierten Gesellschaft, war sein Appell an die edukativen Aufgaben der politischen Führung ein moralisches Postulat, aber keine dialektische Denkmethode. Eine Art demokratischer Fürstenspiegel, der an das Gewissen der Führer, mehr aber noch an das der Intellektuellen, appellierte, auf die Absorbierung der Partizipation und der ethischen Prinzipien durch den Apparat mit einer sozialpädagogischen Praxis und einem stärkeren , involvement' der Basis zu antworten. Die Bereitschaft, sich im Erziehungsprozeß selbst erziehen zu lassen, konnte in diesem Kontext nicht viel anderes bedeuten als die Bereitschaft, Kritik und Inititativen von unten ernst zu nehmen und das eigene Handeln infragezustellen, auch wenn noch so viele Handlungszwänge und strategische Imperative sich dafür anführen ließen. Während seiner Turiner Studien im Vorfeld der Parteiensoziologie ist die Sozialpädagogik ein zentraler Gedanke von Michels' sozialistischer Publizistik. 1908 begründet er damit die Unverzichtbarkeit der Intellektuellen bürgerlicher Provenienz für die Zukunft der Arbeiterbewegung. Mit Blick auf die komplexe soziale Zusammensetzung der italienischen Arbeiterbewegung hält er in seinem Schlußwort zu „Proletariato e Borghesia nel movimento socialista italiano" ein Plädoyer für das Engagement der Intellektuellen jeglicher Couleur von links bis rechts und distanziert sich insofern von Kautskys 52 Karl Marx, Thesen über Feuerbach, in: Marx-Engels-Werke, Bd.3, Berlin 1978, S. 5-7. 53 Vgl. Hans-Josef Steinberg, Sozialismus und deutsche Sozialdemokratie, a.a.O., S. 56ff. 54 Wie wir gesehen haben, sympathisierte Michels mit dem Neokantianismus eines Paul Natorp und eines Karl Vorländer. Letzterer nannte signifikanterweise Hegel einen „Königlich-preußischen Staatsphilosophen" und charakterisierte seine Philosophie als spekulative „Verstiegenheit" und „trübsinnigen Tiefsinn". Vgl. Vorländer, Marx und Kant, Wien 1904, S. 6-7. 55 Kapitel III.2.3. Progressive Massenpsychologie und verkappter Elitismus.

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Typus des orthodoxen Parteiintellektuellen, als er die Partei auch für unabhängige parteilose und liberale Denker öffnen will. 56 Dann kommt er auf das Programm der Erziehung der Erzieher zurück: ist eine wechselseitige Erziehung. Um jenen Intellektuellentypus zu schaffen, dessen die Arbeiterbewegung nicht entraten kann, muß als conditio sine qua non die Existenz eines weder feigen noch unerfahrenen Proletariats vorausgesetzt werden, das in der Lage ist, eine wirksame Kontrolle auszuüben, und [...] vollkommen im klaren über seine Rechte und Pflichten ist."57 Der Zweck dieser Übung besteht für Michels darin, jene selbstbewußten Akteure zu schaffen, die ein Abdriften der Arbeiterbewegung in Gewalt, Mitläufertum und Demagogie verhindern können: denn eine Veränderung der Welt könne weder vom „Arbeiter, der zwecks Aggressionsabbau oder aus Unterhaltung das leichtfertige Steineschmeißen liebt", ausgehen noch von ,jenem unterwürfigen und bescheidenen ewigen Mitläufer", der den „volksaufhetzenden Demagogen" so wertvoll sei.58 Die Notwendigkeit einer moralpädagogischen Offensive an zwei Fronten, gegen die „Anwendung brutaler Gewalt" einerseits und gegen den Opportunismus andererseits, zieht sich wie ein roter Faden durch die sozialistische Publizistik des Turiner Privatdozenten im Vorfeld seiner „Parteiensoziologie".59 Von dem hier angedeuteten wechselseitig edukativen Dialog zwischen intellektueller Führung und Basis hat sich Michels zweifellos auch eine Regeneration der Bewegungstendenzen in einem hierarchisierten Parteisozialismus versprochen. Die unabdingbare

56 Michels, Proletariato e Borghesia nel movimento socialista italiano, a.a.O., S. 396: „II movimento operaio italiano è, e dev'essere, assai complesso. Esso ha bisogno dì dell'arte oratoria e volgarizzatrice del Ferri, come della profonda cultura e critica demolitrice di Labriola, dell'agitazione per gli umili e pratici del Morgari, della bella propaganda evangelica del Prampolini, della scienza sintetica del Ciccotti, dell'acume dogmatico del Leone e della tenace laboriosità del Cabrini dentro il partito. Esso ha bisogno altresì dello stimolo della dottrina del Loria, dello spirito analitico del Croce e degli appunti spesso unilaterali, ma sempre ispirati bene ed utili del Colajanni, fuori del Partito. Esso ha bisogno di amici savi come il Lombroso e perfino di avversari intelligenti come il Chimienti. Esso ha bisogno di tutto quanto v'è di vivo nell'intellettualità italiana." 57 Michels, Proletariato e Borghesia nel movimento socialista italiano, a.a.O., S. 396: „E una educazione vicendevole. Per creare quel tipo d'intellettuale di cui, per ora, il movimento operaio non può fare a meno, occorre come conditione sine qua non il presupposto dell'existenza di un proletariato nè imberbe nè imbelle, capace di esercitare un efficace opera di controllo, e, se non ancora capace di far da sè, perfettamente conscio dei propri diritti e dei propri doveri." 58 Michels, Proletariato e Borghesia ..., S. 396: „Non è l'operaio amante delle facili sassaiuole per isfogo o per isvago, ma neanche quell'eterno gregario sottomesso e modesto, caro ai demagoghi arrutfapopoli e ai demagoghi arruffaquattrini, che cambierà il mondo." 59 So auch in seiner „Storia del Marxismo" (Roma 1909), wo er das moralpädagogische Programm als Bewahren des „indirizzo altamente morale" skizziert, „senza il quale il movimento operaio si perde facilmente sia nell'uso spensierato della violenza brutale e scervellata, sia [...] nell'opportunismo caduco" (S. 10).

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Voraussetzung dafür ist allerdings die Stärkung der zivilen und demokratischen Kompetenz der Basis. Es ist für Michels inzwischen eine Existenzfrage des Sozialismus, ob es ihm gelingt, sich in einem politisch selbstbewußten Proletariat jene soziomoralischen Ressourcen und jenen demokratischen Geist zu erhalten, die von der Organisation erstickt zu werden drohen. Was auf dem Spiel steht, daran läßt er in seiner Polemik mit Casalini keinen Zweifel: „Die Demokratie ist letzten Endes nicht die Herrschaft der Gewählten des Volkes über das Volk, sondern sie ist die Herrschaft der Masse über die Gewählten. Dieses System mag seine häßlichen Momente und seine intrinsischen Gefahren haben (die ich nicht leugne), aber es ist immer noch das beste System der möglichen Systeme. Folglich sage und schließe ich: Caveant proletarii ne quid aristocratiae capiat socialismus!"60 Der Nexus von Sozialismus und Demokratie ist für Michels noch nach seinem Austritt aus der SPD so fundamental, daß er die „häßlichen Momente" des Mehrheitsprinzips in Kauf nimmt. Die Demokratie als Fundamentalprinzip, als „Basis unseres Handelns", geht in seinen 1907 und 1908 angestellten Überlegungen zur demokratischen Pädagogik dem Sozialismus zeitlich, logisch und systematisch voraus. Daher seine Absage an die Idee Casalinis, die Demokratie zugunsten einer gründlichen Vorab-Edukation zu suspendieren. Die größte Gefahr sieht Michels nicht vom „unvorbereiteten Willen der Massen" kommen, sondern von einer anderen Seite: der Oligarchisierung der Politik. Seinem sich an der Sprache der römischen Republik anlehnenden Appell, „die Proletarier mögen sich vorsehen, daß der Sozialismus keine aristokratische Form annimmt", erinnert an die Befürchtung, die er 1903 noch recht kryptisch den Lesern der „Ethischen Kultur" mitgeteilt hatte: daß die „Eroberung der Macht durch das Proletariat" infolge eines Mangels an „sozialistischen Gewissen" in „die Diktatur einer proletarischen Sekte ausarten" könne.61 Was Michels damals noch nicht ahnen konnte, ihm während seines parteipolitischen Engagements aber bewußt wird, ist die mögliche Korrumpierung der „sozialistischen Gewissen" durch immanente Gesetze des Organisationswesens. Michels' sozialpädagogische Antwort auf die Frage, wie die einmal vorgenommene Inkompetenzvermutung auf Seiten der „Masse" eine demokratische Praxis dennoch rechtfertigen kann, ist allerdings so sehr von einem geschichtsphilosophischen Aufklärungs-

60 Michels, La democrazia socialista..., a.a.O. (Ferraris, S. 162): „la democrazia in fin dei conti non è il dominio degli eletti del popolo sul popolo, mai è il dominio della massa sugli eletti. Questo sistema può avere i suoi brutti momenti, ed i suoi danni intrinseci (che non nego), ma esso è sempre ancora il miglior sistema dei sistemi possibili. Quindi io dico e finisco: Caveant proletarii ne quid aristocratiae capiat socialismusl" Michels paraphraisert hier den Satz „videant cónsules, ne quid respublica detrimenti capiat" (= mögen die Konsuln darauf achten, daß die Republik nicht zu Schaden kommt), mit dem im republikanischen Rom die Konsuln, wenn Gefahr im Verzuge war, mit größeren Vollmachten ausgestattet wurden. Mein Übersetzungsvorschlag für Michels' Paraphrase: „Mögen sich die Proletarier vorsehen, daß der Sozialismus nicht eine aristokratische Form annimmt." 61 Michels, „Endziel", Intransigenz, Ethik, a.a.O., S. 404

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Optimismus durchdrungen und ist schon im Vergleich zu seinen ersten organisationssoziologischen Einsichten 62 so unterkomplex, daß der Politikwissenschaftler daraus ein Konzept für eine demokratische Pädagogik nicht abzuleiten vermag. Allerdings kann der Biograph zur Kenntnis nehmen, daß Michels' Vision einer demokratischen Sozialpädagogik die gängige Enttäuschungshypothese in der Michels-Forschung erheblich in Frage stellt.63 Zudem belegen Michels' Überlegungen vom November 1907 wieder einmal, daß sein Demokratiebegriff nicht einen Idealzustand der Identität von Regierenden und Regierten vor Augen hat, sondern auf die Stärkung von demokratischer Kontrolle, Kritik und Kompetenz zielt. Dies mag freilich schon utopisch genug sein. Aber mit Michels' Projektskizze einer demokratischen Pädagogik haben wir einen bedeutenden Interpretationsschlüssel für sein Hauptwerk „Zur Soziologie des Parteiwesens" in der Hand, mit dessen Vorarbeiten Michels zur selben Zeit beginnt. Im November 1907 hat Michels Gaetano Moscas Elitentheorie bereits rezipiert. Der Titel seiner Casalini-Polemik „La democrazia socialista e l'aristocrazia democratica" orientiert sich, wie Ferraris bemerkt, bereits an der Sprache und Problemstellung Moscas, insofern Michels vor einer „durch demokratische Formen verhüllten Aristokratie" warnt. 64

3. Zwischen Aufklärung und Pessimismus: die „psychologische Krise des Sozialismus" Den Anspruch auf eine strömungsenthobene Beobachterposition dokumentiert in Michels' sozialistischem Engagement der Jahre 1907 bis 1910 auch sein Vortrag vor der Turiner „Camera del Lavoro" am 27. Oktober 1909.65 Zu diesem Zeitpunkt sind seine organisationssoziologischen Studien bereits weit vorangeschritten. Seine These vom unhintergehbaren Repräsentativcharakter aller menschlichen Zweckorganisationen und der damit verbundenen Eitenformation auch in emanzipativen Bewegungen hat Michels bereits im Hinblick auf ihre bürokratietheoretischen, organisationspsychologischen und massenpsychologischen Ursachen formuliert und begründet. 66 Diese Einsicht in die oligarchische Ubiquität dient ihm dazu, im Oktober 1909 ein Referat zu halten, das, wie er später rückblickend schreiben wird, „vor allem eine soziologische Kritik des Syn-

62 Vgl. z. B. das Resümee in „Die deutsche Sozialdemokratie im internationalen Verbände", das wir im Kapitel „Probelauf für den Ersten Weltkrieg" eingehend behandelt haben. 63 Vgl. unser Literaturbesprechung in der Einleitung. 64 Vgl. Ferraris, Saggi, S. 177. 65 Michels, La Crisi psicologica del Socialismo, in: Rivista italiana di Sociologia, anno XIV, MaggioAgosto 1910, Sonderabdruck, 14 Seiten. 66 Vgl. Michels, Die oligarchischen Tendenzen der Gesellschaft. Ein Beitrag zum Problem der Demokratie, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialöpolitik, Bd. 27, Heft 1, s. 73-135; Michels, Der konservative Grundzug der Parteiorganisation, in: Monatsschrift für Soziologie, 1. Jg., Sonderabdruck, 24 Seiten.

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dikalismus war."67 Michels wendet sich in seiner Betrachtung der „Forme vecchie e Idee nuove del Socialismo" erneut gegen den syndikalistischen Ansatz, ,jeglichen Dualismus in der Arbeiterbewegung eliminieren" zu wollen und die Gewerkschaft wie den Streik zum exklusiven Laboratorium der moralischen Erneuerung des Proletariats zu machen. Er tut dies energischer denn je, insofern er die Postulate des revolutionären Syndikalismus jetzt als „Lyrismus" bezeichnet und ihre „trügerischen Prämissen" vorführt. 68 Im wesentlichen dementiert Michels dabei die syndikalistische Annahme, der radikale Arbeitersozialismus sei eine Alternative zum Parteisozialismus und könne den Problemen des Delegationsprinzips entrinnen. Abgesehen von der oligarchietheoretischen Fundierung seiner Kritik sagt Michels in der Sache allerdings nichts neues: daß die syndikalistische Kritik am Repräsentativsystem weit davon entfernt sei, dieses zu transzendieren, weil jede noch so radikale Arbeitnehmerorganisation auf denselben repräsentativen Strukturprinzipien basiere wie die von der radikalen Linken verhaßte Partei, hat er schon früher geltend gemacht.69 Neu ist dagegen, daß Michels in seiner Kritik den revolutionären Syndikalismus als ein psychopathologisches Phänomen behandelt. Die Revolutionäre von links haben ihm zufolge mit dem rechten Flügel gemein, daß beide Ausdruck einer „nervösen Krise" des Sozialismus seien, genaugenommen krankhafte Kompensationen einer enttäuschten politischen Libido: „Die Beziehungen zwischen den Sozialisten [...] und dem Sozialismus ähneln [...] den Beziehungen, die zwischen einem feurigen und liebevollen Jüngling und seiner wunderschönen, aber auch außerordentlich frigiden Verlobten auftreten. Der Jüngling - man erlaube mir den Vergleich - verliebt, wahnsinnig vor [...] Wollust, tut alles, [...] um die so sehr begehrte Frau zu besitzen, aber diese entzieht sich ihm jedesmal, wenn sie seinen Wünschen nachzukommen scheint, und schließt sich letztlich in ihrem Zimmer ein, taub gegenüber den Bitten wie auch den Drohungen des glühenden Liebhabers. So geht das jahrelang. Worauf schließlich, hervorgerufen durch den übermäßig langen Wartestand, in dem jungen Mann eine schreckliche nervöse Krise ausbricht, eine psychologische Krise, zusammengesetzt aus Liebe und Abscheu, die Kummer und Niedergeschlagenheit erzeugt und ihn dazu treibt, es mit plötzlicher Gewalt zu versuchen, oder ihn zu nicht weniger dummen Plänen des Totalverzichts greifen läßt."70

67 Vgl. das Vorwort vom Frühling 1910 zur italienischen Erstausgabe seiner Parteiensoziologie: Michels, Il partito politico nella democrazia moderna (Ristampa stereotipica), Torino 1924, S. Vili. 68 Michels, Crisi psicologica del Socialismo, a.a.O., S. 8: „II lirismo sindacalista si basa su due premesse e presupposti fallaci." 69 Vgl. das Kapitel „Michels und der revolutionäre Syndikalismus". 70 Michels, Crisi psicologica, S. 3: „I rapporti che intercedono tra i socialisti, teorici e pratici, e il socialismo, quale società avvenire, rassomigliano, sotto più di un aspetto, ai rapporti che corrono tra un giovanetto gagliardo e amoroso e la sua fidanzata meravigliosamente bella, ma anche straordinariamente frigida. Il giovanetto - mi si passi il confronto - innamorato, pazzo della voluttà intraveduta, fa di tutto per correre all'amplesso, per possedere la donna tanto desiderata; ma questa gli sfugge di mano, ogni qualvolta ai di lui desideri sembra stia per acconsentire, e finisce col

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Der Anlaß für Michels' pathologischer Skizze der Krise des Sozialismus dürfte aber weniger der „Totalverzicht" sein, den er während seines parteipolitischen Engagements zur Genüge bekämpft hat, als vielmehr die neue Tendenz auf der extremen Linken zur Vergewaltigung des Endziels. Der Adressat ist explizit der revolutionäre Syndikalismus, dessen Verdienst es zwar sei, als „Häretiker" kritische Fragen an einen Sozialismus gestellt zu haben, der zunehmend „Kirche" geworden ist. Nun aber laufe er selbst Gefahr, „sich in der Form einer neuen Kirche zu versteifen", wordurch es nötig werde, daß „neue Häretiker" ihr Wort erheben.71 Implizit darf sich freilich insbesondere die SorelFraktion im revolutionären Syndikalismus angesprochen fühlen, deren Meister seit der Erstveröffentlichung seiner „Reflexionen über die Gewalt" wiederholt erklärt hat, „daß der Sozialismus ohne eine Apologie der Gewalt nicht bestehen kann." 72 Darüberhinaus bekräftigt Michels auch seine Distanzierung von der syndikalistischen Taktik des Generalstreiks, die seit seiner skeptischen Beurteilung des desaströsen Turiner Generalstreiks von 1907 offensichtlich noch zugenommen hat: „Jeder sieht, welch geringen Erfolg bis jetzt der Gebrauch dieser neuen Waffe gehabt hat". Durch die Voreiligkeit, mit der der Generalstreik „insbesondere in Italien" in den vergangenen Jahren proklamiert worden sei - anstatt ihn „mit Verstand und vollem Bewußtsein vom Ernst der Sache" anzuwenden - sei er ein „unnützes Spielzeug" geworden, mit der „einzigen Folge zerronnener Hoffnungen, übertriebener Leidenschaften und leerer Kassen." 73 Auf diese neue Erfolgsorientierung in Michels' Denken ist sein Freund Max Weber schon im Februar 1909 aufmerksam geworden: „Und überhaupt: diese Messung der ,Ethik' am ,Erfolge'. Haben Sie Ihren Cohen ganz vergessen?"74 Leider findet sich keine Reaktion Webers auf folgende Äußerungen von Michels, der ja für Weber immer so etwas wie der reine Gesinnungsethiker gewesen ist, der nunmehr aber eher wie der Ver-

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rinchiudersi nella sua camera, sorda alle preghiere, come alle minaccie del bollente amante. E ciò per anni e per anni ancora. Ond'è che scoppia, finalmente, generato dalla aspettativa soverchiamente lunga, nel giovane una terribile crisi nervosa, che è una crisi psicologica, crisi mista di amore e di nausea, e che, producendo lo sconforto ed il rammarico, lo spinge a tentativi di repentina violenza overro suscita in lui non meno stolti progetti di rinunzia totale." Michels, Crisi psicologica, S. 5: „Sorse così quella giovine teoria sindacalista che l'uomo di scienza non può che salutare fervidamente, quando anche perché vi sono chiesuole costituite, è bene sempre ed utile vi si manifestino degli eretici; ma la teoria sindacalista stessa, dopo un lustro di tirocinio politico, corre il rischio essa pure di irrigidirsi sotto forma di nuova chiesa, onde occorerà forse tra breve che sorgano, contro di essa, eretico novelli." Sorel, Apologie der Gewalt, in: Le Matin, 15. Mai 1908; abgedruckt in: Sorel, Über die Gewalt, a.a.O., S. 339-341. Michels, Crisi psicologica, S. 13: „Però non è chi non veda che esito poco buono abbia avuto finora l'uso di tale nuova arma. Per il modo affrettato, col quale lo sciopero generale venne, specie negli ultimi anni in Italia, proclamato, esso è diventato - invece di un mezzo da usarsi con senno e piena consapevolezza della gravità della cosa, come dovrebbe essere - un inutile gingillo. Ne deriva che lo sciopero generale, lungi dal produrre gli effetti benefici che i suoi iniziatori si promettevano, al cimento dei fatti non ci ha dato che uno stroscio di speranze infrante, di slanci sgonfiati e di casse vuotate." Brief von Weber an Michels, 19.2.1909, in: MWG II/6, Briefe 1909-1910, S. 60-62.

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antwortungsethiker des italienischen Sozialismus argumentiert. Die größte Gefahr des Generalstreiks nämlich besteht für Michels in der Möglichkeit eines proletarischen Sieges! „Die Konsequenzen eines [...] Arbeitertriumphes", so Michels, „könnten nur geradezu katastrophal sein". Angesichts eines Proletariats, das noch abergläubisch „an den Lippen irgendeines großen Mannes" hänge, und aufgrund der Komplexität der politischen und ökonomischen Administration würde sich das Proletariat bei einer sozialistischen Übernahme der Regierungsgeschäfte „vollständig in der Gewalt desjenigen befinden, der es durch seine Sachkompetenz oder aus Routine beherrscht."75 „Im besten Fall", so Michels, würde sich unter diesen Umständen die Prognose Moscas und Paretos bewahrheiten, daß der Sieg der Arbeiterklasse nicht eine Transformation des Gesellschaftssystems, sondern nur den Austausch einer Oligarchie durch eine andere zur Folge habe.76 Im schlimmsten Fall befürchtet Michels allerdings, daß eine Entmachtung der Bourgeoisie auf den „Bankrott der Zivilität" hinauslaufen und gleichzeitig der , Arbeiterklasse selbst eine zwar nicht definitive, aber für lange Zeit entscheidende Niederlage" beibringen würde.77 Welch einen Wandel der politischen Optik, möchte man meinen, haben zwei Jahre Privatdozententätigkeit an der Turiner Universität mit sich gebracht. Das Lamento über die „leeren Kassen", die ein unvernünftiger Generalstreiksaktionismus hinterlassen habe, könnte auch aus dem Munde eines der von Michels zuvor so scharf kritisierten deutschen Gewerkschaftsfunktionäre kommen. Noch erstaunlicher ist aber, wie der Sozialist Michels sich hier der „Rhetorik der Reaktion" (Hirschman) bedient, namentlich der „Vergeblichkeitsthese", wenn er prognostiziert, daß eine sozialistische Machtübernahme nur einen Elitenwechsel zur Folge haben würde, sowie der „Gefährdungsthese", wenn er meint, daß eine sozialistische Machtübernahme nicht nur nicht zum Bessereren, sondern zum Schlechteren, zum „Bankrott der Zivilität" fuhren würde.78 Wenn wir dem noch die massenpsychologischen Versatzstücke in seiner Argumentation hinzufügen,

75 Michels, Crisi psicologica, S. 13: „Infatti, data la completa immaturità del proletariato in tutti i campi campi dell'umana attività, le conseguenze di un trionfo operaio immediato ed attuale non potrebbero che essere addirittura disastrose. Già incapace di guidarsi da sè al giorno d'oggi, pendete superstiziosamente dalle labbra di qualche grande uomo, il giorno ove avesse in mano una cosa talmente complessa ed intricata qual'è l'assieme dei diversi rami dell'amministrazione economica e politica, il proletariato si troverebbe completamente in balìa di chi per cognizioni o per routine lo domina." 76 Michels, Crisi psicologica, s. 13: così si avvererebbe la nota previsione del Mosca e del Pareto [...]. Sarebbe dunque, nella migliore delle ipotesi, un cambiamento dell'oligarchia e non la fine definitiva del sistema." 77 So in der Polemik mit Leone von 1908. Vgl. Michels, Appunti sulla situazione presente del socialismo italiano, a.a.O., S. 295: „il proletariato è ancora appieno immaturo, e supposto anche che possa riuscire un giorno o l'altro a detronizzare la borghesia - con un vittorioso sciopero generale o con un voto della famosa maggioranza più uno in parlamento, poco importa - quel felice avvenimento significherebbe nientemeno che la bancarotta della civiltà e la disfatta non definitiva ma per lungo tempo decisiva della classe operaia stessa" 78 Vgl. zu diesen rhetorischen Figuren Alberto O. Hirschman, Denken gegen die Zukunft. Die Rhetorik der Reaktion, Frankfurt a.M. 1995.

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drängt sich der Eindruck auf, Michels sei selbst ein Opfer des antisozialistischen Wissenschaftsklimas geworden, das er in seiner Polemik mit Einaudi beklagt hat. So einfach ist es nicht. Der, der da so skeptisch über die Folgen eines sozialistischen Sieges schreibt, glaubt weiterhin an die Möglichkeit einer sozialistischen Gesellschaft und an die Erneuerung der Arbeiterbewegung. 79 Nur tut er dies aus einer unabhängigeren, unorthodoxen Perspektive, ohne dabei Berührungsängste mit intellektuellen Antipoden auf der politischen Rechten wie Mosca und Pareto zu haben. Und nicht in der Sache, sondern in der skeptischen Akzentsetzung läßt sich eine Differenz zu früheren Positionen erkennen. Denn die „Ignoranz der Massen" war für Michels bekanntlich auch zu Zeiten, als er mit dem syndikalistischen Arbeitersozialismus und der direkten Aktion heftig sympathisierte, das Haupthindernis für eine fortschrittliche Entwicklung. 80 Logischu löst sich das vermeintliche Rätsel, wie ein sozialistisches Engagement mit der Akzeptanz rechtsintellektueller Thesen einhergehen kann, auf, wenn wir uns an die sozialpädagogische und evolutive Grundorientierung von Michels erinnern. Was die Oligarchiethese Moscas und Paretos wahrscheinlich macht, ist - zumindest bis 1909 ausdrücklich die Unreife des Proletariats. Noch 1911 wird Michels in der „Soziologie des Parteiwesens" die Demokratie auf die „Sozialpädagogik" als dem unverzichtbaren Korrektiv gegen die Oligarchisierung der Politik verweisen. Daß dies nicht nur plakativ gemeint ist, daß die Sozialpädagogik mehr ist als ein hoffnungsvoller Farbtupfer in einer demokratiepessimistischen Diagnose, zeigt uns die sozialistische Publizistik des Privatdozenten, die ja, wie oben gesehen, immer wieder um das Thema der Erziehung zu Kontroll- und Kritikfähigkeit kreist. Eine Variante dieser demokratischen Pädagogik ist in jenen Jahren ein Beitrag zur sozialistischen Moralpädagogik, den Michels im September 1908 unter dem bezeichnenden Titel „Die ethische Seite des positivistischen Sozialismus" 82 veröffentlicht hat. In diesem Aufsatz wird das geistesgeschichtliche Hinterland von Michels' Moralbegriff besonders deutlich, und darüber vermittelt auch das, was ihn vom sorelianischen Neoidealismus trennt. Mit diesem hat Michels im Prinzip nur die Frage der radikalen Linken verbunden, wie sich der Geist des Klassenkampfes in Zeiten einer schwindenden 79 Vgl. Schlußwort in Michels, Crisi psicologica ..., S. 14. 80 Vgl. Michels, Les dangers du parti socialiste allemand (1904), a.a.O., S. 212, wo er in der „Ignoranz der Massen" das zentrale Hindernis auf dem Weg zum Sozialismus erblickt. 81 Es sind auch andere plausible Gründe für Michels' Adaption rechtsintellektueller Theoreme denkbar, die weniger mit der logischen Konsistenz des Arguments zu tun haben. So könnte eine Soziologie des Wissens geltend machen, daß der soziale Kontext eines Autors - in diesem Fall die Turiner Universität und ein akademisches Milieu, in dem antiproletarische Tendenzen gerade en vogue sind - neue Problemstellungen und Antworten darauf mit sich bringt. Eine marxistische Variante dieses wissenssoziologischen Ansatzes würde sogar behaupten, daß die soziale Position und die Karriereaspiration des Privatdozenten auch im persönlichen Eigeninteresse die Akzeptanz einer .bourgeoisen Wissenschaft' begünstigen. Daneben ließen sich auch Gründe in der Soziologie des Intellektuellen finden, etwa eine spezifisch intellektuelle Lust am Agonalen und an der Provokation. 82 Michels, Le côté éthique du Socialisme positiviste, in: La Société Nouvelle, 14. Jg., Nr. 3, September 1908, S. 305-312.

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Revolutionserwartung bewahren läßt. Michels' ,ethische' Antwort auf diese Frage markiert wieder einmal die weltanschaulichen Divergenzen zwischen den beiden Autoren. Die Herausforderung durch Sorel ist unüberhörbar, wenn Michels die französische Revolution das „bedeutendste Ereignis, das die Geschichte kennt",83 nennt und den Klassenkampf normativ an die „Droits de l'homme" koppelt.84 Darüberhinaus wendet sich Michels gegen einen historischen Materialismus, der Kant als Antipoden zu Marx versteht, und verteidigt die „fruchtbare Synthese" des Neokantianers und Sozialisten Karl Vorländer. Im damaligen Kontext ist das auch für Michels eine Gratwanderung, der dem Vorwurf eines , ethischen Sozialismus" mit dem Bekenntnis zur postivistischen Lesart des Marxismus ausweicht: „Wir haben die positivistische Schule Karl Marx' ausreichend besucht, um die Behauptung zu wagen, daß gewisse Naive, die an die Allmacht des menschlichen Willens glauben, und arme Teufel, die die These vertreten, daß es, um im sozialen, ökonomischen oder politischen Kampf zu siegen, nur einer Waffe bedürfe: die des abstrakten Rechtes, einer Täuschung aufsitzen. Andererseits aber glauben wir, daß auch und unbedingt das Bewußtsein vom abstrakten Recht notwendig ist."85 Das Verdienst der materialistischen Geschichtsbetrachtung besteht für Michels darin, daß sie mit dem „Klassenkampf' und dem „Klassenegoismus" die harten „Fakten" des Sozialen ungeschminkt in den Blick nimmt. Indem sie aber die Moral bloß als jeweils herrschende Moral und das Recht allein als das „Recht des Stärkeren" begreift, muß ihr die Transformation des Seins in das Sein-Sollen mißlingen. Denn ein so verstandener Marxismus könne auch für das Proletariat nur das Recht des Stärkeren vindizieren und bleibe damit auf der Ebene des „Kriegsrechtes". Auffällig ist an Michels' Argumentation die Anlehnung an Sorelsche Begriffe, die aber von ihm gegeneinander ausgespielt werden: Der „Krieg" sei nur eine „Tatsache", kein „Gelübde", aus dem irgendein „Leitmotiv" erwachsen könne: „Der Krieg kann eine fatale Notwendigkeit sein [...], aber er

83 Michels, Le côté éthique du socialisme positiviste, a.a.O., S. 309: „La grande Révolution française l'événement le plus important que conaisse l'Histoire - [...]." 84 Michels, Le côté éthique du socialisme positiviste, a.a.O., S. 311: „Entre la nécessité pour le prolétariat de combattre la bourgeoisie sur la grand'route de la lutte des classes, et l'autre nécessité de donner une place importante dans cette lutte aux postulats des Droits de l'Homme, je ne vois pas la moindre contradiction." 85 Michels, Le côté éthique du socialisme positiviste, a.a.O., S. 306-307: „Nous avons fréquenté l'Ecole positiviste de Karl Marx suffisamment pour oser prétendre que les quelques naïfs croyant à la toute-puissance de la volonté humaine, pauvres hères qui soutiennent la thèse que, pour vaincre dans la bataille sociale, économique ou politique, il ne faut qu'une seule arme: le droit abstrait, sont des hallucinés. Mais, d'autre part, nous croyons qu'il y faut aussi, et absolument, la conscience du droit abstrait."

V. Demokratische Sozialpädagogik im Vorfeld der Parteiensoziologie

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kann niemals in den Herzen der Arbeiter die sainte pression86 des Enthusiasmus' und des Elans ersetzen".87 Während der élan vital bei Sorel aus den Schützengräben des proletarischen Krieges und den mythomotorischen Bildern des Kampferlebnisses geboren wird, haben bei Michels die Solidarität, der Wagemut und die individuelle Bereitschaft zu Opfern iur kollektive Interessen - der ganze moralische Proviant auf der geschichtsphilosophisch verbürgten „grand' route" zum Endziel - ihre Wurzel im Rechtsempfinden. Das positivistische Hinterland, auf das Michels sich schon im Titel bezieht, schlägt sich in seiner Argumentation allerdings auch derart nieder, daß die Behauptung der richtungweisenden Geltung der „Droits de l'Homme" unter der Hand in die Behauptung ihres instrumenteilen Nutzens übergeht. Denn das Bewußtsein, die Menschenrechte auf der eigenen Seite zu haben, wird von Michels nicht zuletzt deshalb favorisiert, weil es den Klassenkampf mit einem moralischen Mehrwert ausstattet, der eine große Rückwirkung auf den politischen Gegner habe, insofern diesem durch den Rekurs auf das Menschenrecht der Glaube an die Legitimität der eigenen Rechtsposition entzogen werden soll. Der Hintergrund dieser Überlegung ist so etwas wie die geheime Signatur der europäischen Revolutionen, die Michels aus den Schriften Heinrich Heines und Louis Blancs entziffert: als der dritte Stand 1789 an die Macht kam, sei das die politische Vollendung einer vorhergehenden moralischen Eroberung der Gesellschaft gewesen.88 Die Schriften Voltaires, Rousseaus, d'Alemberts, Diderots, Holbachs etc. interpretiert Michels als unverzichtbare Entmutigungs- und Demoralisierungsfaktoren auf dem Weg zur Entmachtung von Adel und Klerus, denen die Überlebtheit ihres privilegierten Status' schonungslos vorgeführt worden war. „Eine Gesellschaft, der man den Glauben an ihr eigenes Recht nimmt, beginnt von sich aus, in die Agonie einzutreten."89 Pino Ferraris hat Michels' Beitrag zur sozialistischen Moralpädagogik mit dem Satz kommentiert: „Auf Sorel, der Marx mit Nietzsche und Bergson konjugiert, antwortet Michels mit der Verbindung von Marx mit Kant und Voltaire".90 In der Tat stellt sich der Privatdozent Michels auch nach seinen wenig ermutigenden Parteierfahrungen, nach

86 Klingt auf französisch hübscher und läßt sich ins Deutsche nur scheußlich übersetzen: „heiliger Druck". 87 Michels, Le côté éthique du Socialisme positiviste, S. 306: „Ce qu'on appelle communément le droit du guerre n'est qu'un euphémisme: La lutte des classes, qui ne connaît pas de trêves, est un phénomène, un fait; donc, le droit de guerre dans cette lutte est un fait, lui aussi. Cependant, on ne peut faire, de ce fait, un leitmotiv [...]. La guerre est un fait et non pas un vœu. Le droit de guerre peut être une nécessité fatale ou une utilité tactique, mais il ne peut jamais remplacer dans les cœurs des ouvriers la sainte pression de l'enthousiasme et d'élan qui seule leur fait supporter les périls et les inconvénients de la lutte qu'ils mènent." 88 Michels. Le côté éthique, S. 308-309. Michels referiert entsprechende Gedanken aus Louis Blanc, Organisation du Travail, 4. Aufl., Paris 1845, S. XIII; sowie Heinrich Heine, Lutetia, in: Sämtliche Werke, Bd. 10, Hamburg 1890, S. 93. 89 Michels, Le côté éthique, S. 312: „Une société à qui on enlève la foi dans son propre droit commence par là-même d'entrer en agonie." 90 Pino Ferraris, Saggi, S. 183: „Al Sorel che coniuga Marx con Nietzsche e Bergson, Michels risponde congiungendoi Marx a Kant e a Voltaire."

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V. Demokratische Sozialpädagogik im Vorfeld der Parteiensoziologie

der Perspektivierung eines Scheiterns der Internationale während der Marokko-Krise und inmitten der „psychologischen Krise des Sozialismus" weiterhin in die Tradition der Aufklärung und der französischen Revolution. Trotz einer skeptischen, wenn nicht gar pessimistischen Einschätzung der politischen Reife der arbeitenden Klassen hält Michels am Programm der Sozialpädagogik fest. Und dennoch hängen der Glaube an die ewige Morgenröte der Aufklärung und an die sozialistische Zukunft bereits an einem seidenen Faden, der starken Zerreissproben ausgesetzt ist. So wie Michels das Menschenrecht für die politische Propaganda - denn auf was anderes wird seine moralische „Pädagogik" in der Praxis nie hinauslaufen instrumentalisiert, ist er gar nicht mehr weit von einer zentralen Einsicht seiner Parteiensoziologie entfernt: „Im Zeitalter der Demokratie ist die Ethik eine Waffe, deren sich jedermann bedienen kann."91 Nur zwei Jahre nach seinem Werben für die „ethische Seite des positivistischen Sozialismus" wird Michels wiederum die französische Revolution und die Droits de l'Homme begutachten - aber diesmal aus einer ,neutralen' Perspektive fortfahren: „Die Ethik ist im modernen Leben der Klassen und der Völker zu einem notwendigen Beiwerk, zu einer Fiktion geworden. Jede Regierung sucht ihre tatsächliche Macht auf ein ethisches Generalprinzip zu stützen. Aber auch die Kristallisationsformen aller sozialen Bewegungen tragen ein philantropes [sie] Gesicht zur Schau. Alle jungaufstrebenden Klassenparteien geben, bevor sie ihren Marsch nach der Eroberung der Macht antreten, [...] stets die feierliche Erklärung ab, nicht so sehr sich, als vielmehr die gesamte Menschheit von dem Joch einer tyrannischen Minderheit befreien und das alte ungerechte Regime durch ein neues gerechtes ersetzen zu wollen. Demokratien sind immer wortreich. Ihre Terminologie ist einem Gewebe von Metaphern vergleichbar."92 Das Zitat von 1910/191193 spiegelt die fortschreitende Implosion des progressiven Positivismus in Michels' Denken wieder. Mit den Zweifeln am geschichtsphilosophischen Rahmenplan schwindet der Glaube an die Universalität der Menschenrechte als dem Telos der sozialen Kämpfe und wächst die Überzeugung von der Universalität ihrer Instrumentalisierbarkeit. Die Folge dieser Implosion ist eine seltsame Mixtur von Semantiken des historischen Optimismus und des historischen Pessimismus, die Michels' Hauptwerk ihr eigentümliches Gepräge gegeben haben. Diesem wollen wir uns nun widmen, indem wir die widersprüchlichen Bedeutungsebenen der „Soziologie des Parteiwesens" voneinander trennen, dadurch freilegen und einer Analyse zugänglich machen.

91 Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, zit. n. Aufl., Leipzig 1911, S. 16. 92 Michels, Soziologie des Parteiwesens, 1. Auflage, S. 16. 93 Erschienen ist die Parteiensoziologie 1911, das Manuskript lag dem Verlag aber bereits Ende 1910 vor.

VI. Zwischen Revitalisierung und Vergeblichkeit: Zur „Vivisektion" der Demokratie in der „Soziologie des Parteiwesens"

Die folgende Interpretation von Michels' politikwissenschaftlichem Hauptwerk versucht die widerstreitenden Semantiken und die Deutungsmöglichkeiten der Parteiensoziologie offenzulegen. Das Buch enthält nämlich beides: Indizien für das Festhalten am Programm der Aufklärung und Demokratisierung (Stichwort: Sozialpädagogik) wie auch für seine Erledigung. In diesem Sinne werde ich das Buch von zwei Perspektiven aus rekonstruieren: in einer progressiven' Deutung werde ich Michels' Oligarchiethese als Sinnverkehrungsthese interpretieren. Als Sinnverkehrungsthese nicht in der politischen Bewertung von Albert O. Hirschman, der diese unter die Topoi des reaktionären' Denkens verbucht,1 sondern vielmehr als sozialpädagogische Aufklärung über die Mechanismen des Umschlagens emanzipativer Ansprüche in oligarchische Politik im Zeitalter der Fundamentaldemokratisierung und der Massenorganisationen. Sinnverkehrung soll hier nicht nach .reaktionärer' Lesart heißen, daß Demokratisierung wie in einem river of no return in Oligarchisierung mündet. Das Wissen um die Sinnverkehrungsmechanismen demokratischer Massenorganisationen erlaubt vielmehr, daß der demokratische Sinn von Politik auch und gerade nach seiner Verfälschung wiedergewonnen werden kann. Diese Deutung läßt Michels 1911 ausdrücklich zu. In einem zweiten, .konservativen' Deutungsangebot werde ich Michels' Oligarchiethese als „Vergeblichkeitsthese", d. h. als These von der Vergeblichkeit von Demokratisierung, interpretieren und mich näher mit der Implosion des progressiven Positivismus beschäftigen. Hier wird kein demokratischer Sinn vor der oligarchischen Verkrustung gerettet oder revitalisiert werden können, weil „Demokratie" nichts weiter ist als eine „politische Formel" (Mosca), mittels derer Eliten ihre Gefolgschaft organisieren. Beginnen werde ich mit einem Streifzug durch Michels' ökonomische Studien im Vorfeld der Parteiensoziologie, weil hier die Dynamis des Neuen, der auf Egalität und Partizipation angelegten Industriegesellschaft, deutlich wird, die sich nicht in einem gelangweilten „eadem, sed aliter" (Schopenhauer) einfangen läßt.

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Vgl. Hirschman, Denken gegen die Zukunft, a.a.O.

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

1. Desillusionierende Sozialpädagogik: Die Sinnverkehrungsgefahren der Demokratisierung „Wenn wir heute, insbesondere in den Kreisen des orthodoxen Flügels der deutschen Sozialdemokratie, die Behauptung aufstellen hören können, die Sozialdemokratie besitze keine Führer, sondern höchstens Beamte, so bewirkt diese die Wahrheit verschleiernde Behauptung natürlich nicht etwa die Umstülpung eines soziologischen Gesetzes, sondern hat umgekehrt, da sie den Massen durch ihre Leugnung die Augen vor einer tatsächlich für die Demokratie in der Bewegung bestehenden Gefahr schließt, eine Stärkung der Führerherrschaft zur Folge."2 „Die Wissenschaft muß den Massen diese Binde von den Augen reißen. Um der Massen willen und um der Zukunft der Demokratie [...] willen"3

1.1. Fundamentaldemokratisierung: Michels' ökonomische Studien im Entstehungskontext der Parteiensoziologie Viele Mißverständnisse der Michelsschen Parteiensoziologie haben sich aus ihrer isolierten Betrachtung ergeben, kommt doch in ihr nur das oligarchische Schicksal der Demokratisierung innerhalb der Parteiorganisation zu Wort. Liest man das Hauptwerk allein, so drängt sich leicht der Verdacht auf, Michels identifiziere das Politische exklusiv mit der Parteioligarchie. 4 Zur selben Zeit aber, als der politische Soziologe

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3 4

Michels, Soziologie des Parteiwesens, 1911, S. 35. Im folgenden wähle ich für die Erstausgabe der Parteiensoziologie die Abkürzung „PS 11", für die zweite Auflage von 1925 die Abkürzung „PS 89", da ich im zweiten Fall die Neuausgabe der 1925er Auflage von Frank R. Pfetsch aus dem Jahr 1989 verwende. In der Regel werden die Belegstellen in beiden Ausgaben angegeben. Zitiert wird aber immer nur nach der Ausgabe, die als erste in den Fußnoten genannt wird. Die zweite Ausgabe ist zwar weitgehend mit der ersten identisch. Aber sie unterscheidet sich von ihr in geringfügigen redaktionellen Überarbeitungen und Verschiebungen von Passagen an neue Stellen im Textkorpus sowie durch einige völlig neue Ausführungen, die zum Teil bereits in den italienischen, französischen und englischen Erstausgaben vor dem Weltkrieg zu finden sind, zum Teil aber auch unter dem Eindruck der Nachkriegszeit (Faschismus und Bolschewismus) geschrieben worden sind. Michels, Der konservative Grundzug der Parteiorganisation, a.a.O., Sonderabdruck, S. 17. Vgl. Ferraris, Saggi, S. 207, der kritisch von einem „exklusiven politischen Handlungsmonopol" der Parteiorganisation bei Michels spricht und dies in Zusammenhang mit der ab 1907 rigiden Trennung zwischen den politologischen Studien einerseits und den sozioökonomischen Arbeiten

VI. 1. Die Sinnverkehrungsgefahren der Demokratisierung

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Michels die Demokratie mit den Gesetzen des Organisationswesens konfrontiert, akzentuiert der politische Ökonom Michels die Unumkehrbarkeit einer Entwicklung, die mit der französischen Revolution ihren Ausgang genommen und seitdem in ganz Europa Fuß gefaßt hat: die Welle der Fundamentaldemokratisierung, die die Bastionen des ständischen Privilegs unterhöhlt und abräumt, um eine nie zuvor gekannte Massengesellschaft egalitärer Erwartungen und vielfaltiger Partizipations- und Kooperationsformen hervorzubringen. Norm und Form der Vergesellschaftung des Menschen erfahren einen radikalen Wandel. Den Michelsschen Thesen von der hierarchischen Verkrustung, Zähmung und Verkehrung, die dem demokratischen Prinzip in der Parteiorganisation drohen, steht unvermittelt seine Analyse der ungeheuren Dynamis der modernen Gesellschaft gegenüber, in der sich soziale Machtpositionen einem nie zuvor gekannten Legitimitätsdruck ausgesetzt sehen. Den Wandel der normativen Grundlagen des Vergesellschaftung würdigt Michels in seiner Turiner Antrittsvorlesung „L'uomo economico e la cooperazione",5 wo er in einer idealtypischen Konstruktion die Industriemoderne von den frühmodernen menschlichen Kooperationsformen im Merkantilismus abhebt. Deren zentrales Merkmal sei ihr „ausgesprochen obligatorischer Charakter" gewesen. Erst als sich „mit der politischen Freiheit und dem Anbruch einer sich auf die Grundprinzipien der Demokratie berufenen Ära" auch die „ökonomische Freiheit, die Gewerbefreiheit, durchsetzte", hätten die alten kooperativen Zwangsinstitutionen der Zünfte und der Gilden einer neuen sozialen Ordnung des „Individualismus" Platz gemacht. Mit der „demokratischen Entwicklung" intim verbunden, habe die Wirtschaft eine „Revolutionierung in der Technik und der Produktion" erlebt und vorangetrieben. Michels nennt auch ausdrücklich die damit einhergehenden Modernisierungsverluste. Die Kehrseite der Freiheit präsentiert er als ein Szenario der sozialen Entstrukturierung und der Desintegration: mit dem Zerreißen der alten sozialen Bande feudaler Provenienz „blieb das nackte und trockene persönliche Interesse des auf sich selbst gestellten Erwerbsmenschen übrig."6 Was als Befreiung von feudalen Fesseln gedacht war, so Michels in seinem schematischen Grundriß der Sozialgeschichte, schlug um in einen darwinistischen „Konkurrenzkampf aller gegen alle" um knappe Ressourcen. Ein Spiel mit Gewinnern und Verlierern: „Die Abschaffung der alten Gilden mit ihren, wenn auch schwerfälligen Schutzbestimmungen" schädigte mitunter dieselben, „welche sich für die Abschaffung mit soviel Eifer ins Zeug gelegt hatten." Die proletarisierten Massen seien zum Eigentum der Unternehmer geworden. In und aus der Not des Pauperismus aber wuchs auch das Rettende: die Wiedergeburt des Kooperationsprinzips, diesmal nicht als tradierter Zwang, sondern als der

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6

im selben Kontext andererseits bringt. Die gesellschaftliche Dynamik werde so in der parteiensoziologischen Synthese verschluckt. Gehalten am 1. Dezember 1908; erste deutschsprachige Version in Michels, Der Homo Oeconomicus und die Kooperation, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 29. Band, 1909, S. 50-83; im folgenden zitiert nach der weitgehend identischen Version in: Michels, Zum Problem der Kooperation, in: ders., Probleme der Sozialphilosophie, Leipzig 1913, S. 1-44. Michels, Zum Problem der Kooperation, a.a.O., S. 3-4.

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

freiwillige und solidarische Zusammenschluß der Depravierten und als „Mittel der Verteidigung der Kollektivität gegen die Usurpation des ökonomischen Ichs einiger weniger". Ideell sei so mit der sozialen Frage ein neuartiges Rechtsbewußtsein entstanden. „Denn die Kooperation ist in letztem Grade identisch mit der fundamentalen Bejahung der Rechte der sozialen Körper gegenüber den Anmaßungen eines falsch verstandenen Freiheitsbegriffes, welcher den Armen und Elenden zuruft: Jeder muß für sich allein fertig werden'." Die „organisatorisch angewandte Solidarität der Interessentengruppen" folgte dabei auch der „Einsicht in die Ohnmacht des Homo oeconomicus in der Isoliertheit", was Michels auffällig utilitaristisch als „soziale Emanation des Gesetzes vom geringsten Kraftaufwand" interpretiert.7 Dabei entstehen nicht nur Arbeiterparteien, Gewerkschaften, Produktiv- und Konsumgenossenschaften. Auch die ,Gegenseite' besinnt sich auf das Prinzip der Kooperation. Mit den Unternehmerverbänden, Aktiengesellschaften, Trusts und Kartellen entsteht der organisierte Kapitalismus mit seiner Tendenz, die freie Konkurrenz zu reglementieren und gegebenenfalls, bei Preisabsprachen, auch auszuschließen. Auf mittlerer Ebene ist es das Handwerk, das über einen gemeinsamen Ordnungsrahmen mittels der Schaffung einer obligatorischen Meisterprüfung „die Konkurrenz künstlich einzuschränken" versucht.8 Michels' Fazit läuft auf einen epochalen Schlußstrich hinaus: „Das Zeitalter des Individualismus auf ökonomischen Gebiet darf heute als definitiv abgeschlossen betrachtet werden. [...] Wir haben gesehen, daß der Homo Oeconomicus heute schlechterdings nur noch als Bestandteil eines Aggregats existiert, und daß nach und nach alle Klassen der Gesellschaft sich dem Prinzip der Kooperation unterordnen."9 Dieser in seinem apodiktischen Fatalismus wenig überzeugende Abgesang auf den ökonomischen Individualismus folgt ganz offensichtlich dem leicht überdimensionierten Fokus des Autors auf eine soziologische Grundtatsache der klassischen Moderne: den Aufstieg der Interessen- und Massenorganisationen zu Machtfaktoren in Staat und Gesellschaft. So wird Michels in seiner Parteiensoziologie in auffälliger Parallele schreiben: „Heute kämpft das Individuum weniger als je seinen ewigen Kampf gegen die konstituierte Gewalt isoliert." Neben die „uralten Faktoren Individuum und Staat" habe ein „neues, drittes Element [...] die Arena der politischen, sozialen und kulturellen Kämpfe betreten, [...] die politische Partei,"10 Hier wie dort stehen also die intermediären Instanzen der Moderne im Mittelpunkt: der Aufstieg der kollektiven, partikularen Interessenorganisation, die Michels wie ein

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Michels, Problem der Kooperation. S. Michels, Problem der Kooperation. S. Michels, Problem der Kooperation, S. Aus dem Vorwort zur ersten Auflage fizierten Version in PS 89, S. XLIV.

11. 27. 38. der Parteiensoziologie, hier zitiert in der geringfügig modi-

VI. 1. Die Sinnverkehrungsgefahren der Demokratisierung

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„Staat im Staate"11 erscheint. Die skeptische Beurteilung der individuellen Handlungsmöglichkeiten darf als Tribut an den Zeitgeist gewertet werden. Ähnlich fatalistisch etwa fragt sich auch ein Max Weber mit Blick auf die Bürokratisierung: „Wie ist es angesichts dieser Übermacht der Tendenz zur Bürokratisierung überhaupt noch möglich, irgendwelche Reste einer in irgendeinem Sinn .individualistischen' Bewegungsfreiheit zu retten?"12 Michels relativiert seine These von der Macht der „Aggregate" über die Individuen allerdings insofern, als er soziale Differenzierungsprozesse in den Blick nimmt, die eine feste Bindung des Einzelnen an eine Kooperationsform eher unwahrscheinlich machen. Welcher Kooperationsform sich der einzelne anschließt, ist angesichts schwer zu klassifizierender sozialer Zwischenexistenzen13 offen, zumal die Gesellschaft sich sozialstrukturell enorm im Fluß befindet. Längst habe ein „Prozeß der Differenzierung"14 auch die alles andere als homogene Arbeiterklasse erfaßt. Dieser Differenzierungsprozeß werde durch das „Abhebungsbedürfnis" zwischen den unterschiedlichen Ausbildungs- und Einkommensniveaus weiter vorangetrieben und habe „Klassenunterschiede" und entsprechende „sozial-ökonomische Kämpfe" innerhalb des proletarischen Gruppenkomplexes selbst zur Folge.15 Auch die Mittelschichten gruppieren sich um. Während sich der traditionelle Mittelstand (Handwerk und Kleinhandel) im Niedergang befindet, entsteht bereits ein neuer Mittelstand: die Verwaltungsangestellten in Staat und Industrie. Diese sind zwar wie das Proletariat vom Kapital abhängig, aber eine heterogene Einkommensstruktur, die auch Spitzengehälter einschließt, lasse an der von Marxisten behaupteten prinzipiellen Interessenidentität von Angestellten und Arbeitern große Zweifel. Folgerichtig gründen auch die Angestellten eigenständige Kooperationsformen der kollektiven Interessenvertretung. Was den neuen Mittelstand vom alten unterscheidet, sei, daß der Geselle in einem überschaubaren Zeitraum seinen Meisterbrief machen und den Betrieb übernehmen konnte, der Angestellte dagegen zeit seines Lebens die Stellung des abhängig Beschäftigten nicht überwinden wird.16 Gleichzeitig kommt es zur .Revolution der Manager' (James Burnham),17 die die marxistische Klassifizierung der Gesellschaft nach Besitz und Nicht-Besitz erheblich relativiert, wenn man nicht den Direktor von Krupp

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Michels, PS 89, S. XLIV. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., Studienausgabe, Tübingen 1980, S. 836. Michels, Problem der Kooperation, S. 29ff. Michels, PS 89, S. 282; Vgl. PS 11, S. 283. PS 11, S. 280; PS 89, S. 278. Michels, Sulla scadenza della classe media industriale antica e sul sorgere di una classe media industriale moderna nei paesi di economia spiccatamente capitalistica, in: Giornale degli economisti, Vol. XXXVII, 1909, Sonderabdruck, 21 Seiten. 17 Vgl. James Burnham, Das Regime der Manager, Stuttgart 1948, S. 91 if.

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

dem Proletariat zuzählen will.18 Statt des Produktionsmittelbesitzes avanciert der „standard of living" zum Kriterium der sozialen Schichtung.19 Damit sind offenbar auch ,kastenmäßige' Schranken zwischen den Schichten der gesellschaftlichen Hierarchie durchlässiger geworden: „Die moderne Demokratie hat, auch in der Mehrheit der überwiegend aristokratisch regierten Länder, alle Schranken, die eine geschlechtliche Vermischung verschiedenen Kreisen angehöriger Menschen sowie das Aufsteigen von einem dieser Kreise in einen anderen verhinderten, eliminiert." Die Arbeitsteilung habe zwar neue Berufsgruppen mit einem exklusiven Standesbewußtsein erzeugt. Doch dürfe dieses nicht überschätzt werden „bei der großen Leichtigkeit, mit welcher insbesondere die moderne Arbeiterbevölkerung vielfach von einem Beruf zum anderen überzugehen und innerhalb kurzer Zeitspanne eine große Anzahl von verschiedenen Gelderwerbsarten zu versuchen pflegt." 20 Die hier anklingende Berufsmobilität des , Job-Hoppers' hat Michels allerdings mit seinem Abgesang auf den ökonomischen Individualismus und der Diagnose des Aufstiegs der großen kollektiven Interessenorganisationen nicht vermittelt. So widersprüchlich der moderne Kapitalismus in Michels' Skizze auch zuweilen erscheint: immer wieder dementiert seine realexistierende Gestalt zentrale Annahmen der marxistischen Theorie: die Verelendungsprognose etwa, wonach der Kapitalismus mit der wachsenden Verlendung breiter Schichten seine eigenen Totengräber produziere und so das Geschäft der sozialen Revolution besorge, ist Michels zufolge schon im Hinblick auf die progressive Lohnentwicklung in kapitalistischen Ländern nicht haltbar. Auch die Existenz der hochorganisierten und äußerst finanzstarken sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Deutschland sei ein plastischer Gegenbeweis zur Verelendungsprognose im fortgeschrittenen Kapitalismus. Aus dieser Entwicklung folge keineswegs das Verschwinden von Ungleichheit, Unzufriedenheit und Konflikten, aber ihre Basis sei nicht ein absolutes, objektives Elend, sondern ein „seelisches und subjektives Elend." Michels plädiert daher dafür, die Verelendungstheorie „im psychologischen Sinn" zu modifizieren.21 Denn auch ein gut bezahlter Arbeiter in der Großindustrie mache eine Elendserfahrung durch, wenn ihm durch politische Pression und Kontrolle seine „elementaren, durch die Verfassung garantierten Freiheiten" eingeschränkt würden.22 Wie

18 Michels, Sulla scadenza della classe media industriale antica ..., a.a.O., S. 20; Michels, Problem der Kooperation, S. 28. 19 Michels, Das Proletariat in der Wissenschaft und die ökonomisch-anthropologische Synthese. Einführung zu: Alfredo Niceforo, Anthropologie der nichtbesitzenden Klassen, Leipzig/Amsterdam 1910, S. 3-28, S. 11 20 Michels, Solidarität und Kastenwesen, S. 59. 21 Michels, Dilucidazioni sulla teoria dell'immiserimento, in: Giornale degli economisti, Vol. XXXIX, 1909, Sonderabdruck, 39 Seiten, S. 39, wo Michels den „aumento dell' odio psicologico ed ideologico" bemerkt, „che separa le classe proletarie dalle classe dominanti e costituisce perciò una prova evidente per la esattezza delle teorie dell'immiserimento, corretta ed ampliata in senso psicologico." 22 Michels, Dilucidazioni sulla teoria dell'immiserimento, a.a.O., S. 38: „Inoltre il relativo benessere che, nelle grandi industrie monopolizzate, gli operai sogliono godere, è contrassegnato da una

VI. 1. Die Sinnverkehrungsgefahren der Demokratisierung

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prekär der Status des Lohnabhängigen auch unter Bedingungen relativen Wohlstandes sei, zeige sich immer wieder in Lohnkämpfen anhand der ungleichen Waffen, etwa wenn die Großunternehmer mit Rationalisierungsmaßnahmen oder mit Verlagerung der Produktionsstätten ins Ausland drohen. Ein weiterer Vorteil der Unternehmerseite besteht Michels zufolge darin, daß sie aufgrund ihrer kleinen Zahl schneller und effizienter agieren kann als die Arbeitnehmerseite.23 Michels hält somit an der These einer relativen Ausbeutung und einer relativen Verelendung ausdrücklich fest. Dafür, daß der Klassengegensatz als „psychologischer und ideologischer Hass" auch unter günstigsten wirtschaftlichen Bedingungen auf der Tagesordnung des Industriekapitalismus bleiben wird, macht Michels aber vor allem die sich in der kapitalistischen Gesellschaft vollziehende Revolutionierung der Erwartungshaltungen verantwortlich. Die Erwartungshaltungen haben sich nämlich im Zeitalter der Fundamentaldemokratisierung egalisiert. An der normativen Basis der Gesellschaft wirkt das demokratische Empfinden: „Das demokratische Empfinden ruft in der Seele des Arbeiters eine wahre Wiedergeburt hervor, verwandelt ihn von einem geduldigen Diener und blind Ergebenen, welcher er war, in einen Bürger, der sich seiner angeborenen Rechte bewußt ist, d. h. die er mit dem Eintritt in die Welt am Tage seiner Geburt erworben hat."24 Die egalisierte Erwartungshaltung und die rechtliche Norm des prinzipiellen Zugangs aller Positionen in der Gesellschaft unabhängig vom sozialen Status der Geburt sorgen aber dafür, daß demokratische Gesellschaften den Konflikt nicht aus der Welt schaffen können, weil rechtliche Gleichheit und tatsächliche Ungleichheit auf jedem Wohlstandsniveau neue konfrontative Spannungen erzeugen: „Wenn es aber wahr ist, daß die Demokratie eine mächtige Tendenz zur sozialen Wohlfahrt mit sich bringt, in anderen Worten eine mächtige neutralisierende Gegentendenz zur Tendenz wachsenden Elends, so ist es nicht weniger wahr, daß sie ein mächtiges Hindernis für die Zufriedenheit darstellt und folglich als gewaltiger Hebel für das Entstehen immer neuer Bedürfhisse und der Kluft zwischen den Klassen fungiert."25

pressione e da un controllo, esercitati su di loro nel campo della politica, atti a restringere nel modo più serio le stesse libertà elementari garantite dalla costituzione." 23 Michels, Dilucidazioni sulla teoria dell'immiserimento, S. 35, 37. 24 Michels, Dilucidazioni sulla teoria dell'immiserimento, S. 31/32: „II sentimento democratico produce nell'anima dell'operaio un vero rinascimento, cambiandolo da schiavo paziente e ciecamente rassegnato, qual era, in cittadino conscio dei suoi diritti innati, vale a dire acquistati al momento stesso della sua entrata nel mondo nel giorno della sua nascita." 25 Michels, Dilucidazioni sulla teoria dell'immiserimento, S. 32: „Se è vero però che la democrazia comporta una potente tendenza verso il benessere sociale, in altri termini, una potente tendenza neutralizzatrice della tendenza verso la miseria crescente, gli è non men vero che essa costituisce

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

Auch wenn Michels nicht wörtlich so weit geht, implizit heißt dies nichts anderes, als daß die Fundamentaldemokratisierung als unhintergehbare Grundstruktur der Moderne egalitäre Erwartungen einer gerechten' Partizipation am gesellschaftlichen Reichtum nährt, die eine realexistierende Demokratie niemals erfüllen kann. Wie sich bereits im Hinblick auf den .neuen Mittelstand' und die .Revolution der Manager' angedeutet hat, werden die ökonomischen Studien der Turiner Zeit für Michels zum Befreiungsschlag von der Klassenkampftheorie orthodoxer Provenienz. Die Gesellschaft ist heterogener und unübersichtlicher, als das die marxistische Theorie angenommen hatte. Und dies trifft insbesondere für eine durch vielfaltige Risse geteilte ,Arbeiterklasse' zu. Die anatagonistischen Widersprüche unter den abhängig Beschäftigten, die nach Offe und Wiesenthal nicht nur den unterschiedlichen sozialen Positionen, sondern auch der Rollendiversifizierung jedes einzelnen in Subjekt und Objekt des Arbeitsvertrages sowie in Produzent und Konsument entspringen,26 finden sich auch bei Michels: „Die Varietät und Spezialisierung der Bedürfnisse im Wirtschaftsleben, Ursache und Wirkung der Heterogenität der sozialen Struktur, macht nicht vor der Kooperation halt [...] Innerhalb der Arbeiterklasse findet sich generell ein oft latenter, oft akuter Gegensatz zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen, Streikenden und Streikbrechern vor." Hinzu kommen „Kämpfe zwischen Stadt- und Landarbeitern, Lohnarbeitern und Bauern, Arbeitern und Beamten, qualifizierten und unqualifizierten Arbeitern" sowie „wahre Klassenkämpfe" in den Konsumvereinen zwischen dem Arbeiter als Konsumenten, als Produzenten und als Unternehmer.27 Die Komplexität und Heterogenität individueller Handlungsmotive in der entwickelten Industriemoderne werden darüberhinaus noch durch den Umstand gesteigert, daß das Streben des Einzelnen nicht interessenreduktionistisch als aus seiner sozialen Position automatisch' resultierend beschrieben werden kann, sondern sich auch der „Antrieb der reinen Idee, dieser häufig so entschiedenen Gegnerin der reinen Ökonomie", geltend macht. Aristokraten und Latifundienbesitzer, die sich der „sozialen Revolution" verschreiben, gebe es ebenso wie „Hunderttausende von Instleuten und Landarbeitern", die un potente ostacolo alla contentezza, e quindi una grandiosa leva di nuovi bisogni e di squilibrio tra le classe." 26 Vgl. Claus Offe/Helmuth Wiesenthal, Two Logics of Collective Action, in: Ders., Disorganized Capitalism. Contemporary Transformations of Work and Politics, sec. print, Cambridge, Massachusetts, S. 170-220, S. 188, wo es über das „dilemma of heterogeneity versus collective identity" heißt: „The problem entails not only the diversity of position and interest that exists between workers, but also the diversity that exists, as it were, among the workers themselves. The three major interests that arise directly from the conditions of working-class life can be categorized as wages, the continuing receipt of wages (employment security), and working conditions. Moreover, workers are, at the same time, not only subject and object of the exchange of labour power, but also consumers of the product of labour power as well as inhabitants of the social and natural environment that is affected by the impact of capitalist industrialization. The larger the unions, the more necessary it becomes for them to find some way of reconciling all or at least some of these heterogeneous concepts of interest." 27 Michels, Problem der Kooperation, S. 40-41. Vgl. auch die sinnidentische Analyse in Michels, Proletariato e Borghesia..., a.a.O., S. 391.

VI. 1. Die Sinnverkehrungsgefahren der Demokratisierung

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„mit ihrem Schicksal durchaus zufrieden sind, und die zum Teil aus Furcht und Fatalismus, zum Teil aus angeborener geistiger Stumpfheit, zum Teil aber auch aus intensivem Dankbarkeitsgefühl und treuer Ergebenheit zur Person ihres angestammten Grundherrn jedes Gesetz für eine Ungerechtigkeit halten würden, das ihrem Herrn die freie Verfügung über seinen Besitz irgendwie schmälern würde."28 Für die politische Praxis folgt aus diesen Beobachtungen im vorpolitischen Raum: Die Heterogenität der materiellen Interessen sowie die damit zum Teil auch konfligierenden ideellen Handlungsmotive erlauben es der modernen Massenpartei nicht, exklusiv als ökonomische Klassenpartei aufzutreten. Um Mitglieder und breite Wählerschichten zu integrieren, muß sie auch für ein die ökonomischen Interessen transzendierendes ideelles Programm werben: „Es besteht keine einzige politische Partei in Europa, die nicht auf die ein oder andere Weise als Vertreterin ökonomischer Interessen angesehen werden könnte [...] Aber andererseits gibt es auch nicht eine, die nicht gleichzeitig auch von gewissen abstrakten und außerhalb der rein ökonomischen Interessensphäre liegenden Grundideen geleitet wird. In diesem Dualismus hat bald die eine, bald die andere Seele Oberhand."29 Es sind diese Beobachtungen in Michels' sozio-ökonomischen Vorarbeiten, die der „Soziologie des Parteiwesens" vorausgehen, deren vollständiger Titel „in der modernen Demokratie" tatsächlich eine gesellschaftliche Transformation reflektiert: von der bürgerlichen Honoratioren- zur modernen Massendemokratie.

1.2. Zum Untersuchungsgegenstand der Parteiensoziologie Wenn wir einem gängigen idealtypischen Entwicklungs-Schema der Parteienforschung30 folgen wollen, dann hat Michels 1911 mit der SPD einen Parteityp unter die Lupe genommen, der sich erst ab 1918 vollends durch- und an die Stelle der Honoratiorenparteien setzen sollte: die Massenintegrationspartei, die auf der Basis scharfer Klassenkonflikte bzw. in enger Anbindung an ein soziomoralisches Milieu operiert. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, mit der Auflösung der alten Lager und Milieus sei die „Volkspartei" zum dominanten Typus avanciert, um schließlich in den vergangenen Jahren im 28 Michels, Problem der Kooperation, S. 33. 29 Michels, Problem der Kooperation, S. 35. 30 Vgl. stellvertretend für andere Klaus von Beymes Tabelle in: ders., Funktionenwandel der Parteien in der Entwicklung von der Massenmitgliederpartei zur Partei der Berufspolitiker, in: Oscar W. Gabriel/Oskar Niedermayer/Richard Stöss (Hg.), Parteiendemokratie in Deutschland, Bonn 2001, S. 315-339, S. 329.

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

Zuge der Erosion von Stammwählerbindungen und des Rückgangs von Mitgliederzahlen immer mehr von der „professionalisierten Wahlpartei",31 der „Kartellpartei"32 oder der „Rahmenpartei"33 abgelöst zu werden. All diese Typenbezeichnungen verabsolutieren bestimmte Charakteristika des Neuen, die empirisch selbstverständlich nur als Mischformen anzutreffen sind. Die Vielzahl von Begriffen, mit denen in den vergangenen zwanzig Jahren der vermeintliche Parteiwandel nach der Ära der Volksparteien zu fassen versucht worden ist, indiziert überdies, daß darüber, was die ,Partei neuen Typs' denn nun wesentlich ausmache, noch Uneinigkeit herrscht. Der Blick in die Literatur ist für den Laien, der sich von den Experten Aufschluß und Orientierung in der gegenwärtigen Parteienlandschaft verspricht, oft verwirrend. Das geben auch die Fachwissenschaftler selbst zu: „Die Parteienforschung gehört, wie regelmäßig selbst von führenden Vertretern der Disziplin beklagt wird [...], zu den unüberschaubarsten Feldern der Politikwissenschaft."34 Das idealtypische Schema der Parteienentwicklung ist für uns allerdings insofern von heuristischem Interesse, als damit überprüft werden kann, ob Michels am Beispiel der deutschen Sozialdemokratie auch Entwicklungstendenzen der Parteipolitik erkannt hat, deren historische Hochkonjunktur erst nach dem Abfassen des Werkes einsetzen sollte. Wir werden daher bei der Rekonstruktion der Parteiensoziologie gelegentlich auf die Parteientypologie zurückkommen. So viel aber gleich vorab: Michels' Werk kann schon deshalb als ein ,Klassiker' gewertet werden, also als ein Buch, das auch über den Kontext seines Entstehens hinaus orientierend und aufschlußreich ist, weil der Ausgangspunkt der Fundamentaldemokratisierung der Gesellschaft bei Michels von Beginn an die Diagnose einer ,volksparteilichen' Reaktion aller politischen Kräfte darauf einschließt. Michels' Analyse der Klassen- bzw. Massenintegrationspartei SPD stellt bereits in der Einleitung des Buches die allgemeine Tendenz zur ,Catch-all-Partei' fest. Wahlprofessionelle Gesichtspunkte spielen insofern eine herausragende Rolle, als Michels in der Stimmenmaximierung und Vermehrung ihrer Parlamentssitze die langfristig dominierende strategische Grundausrichtung der Parteiorganisation erblickt. Dies artikuliert sich insbesondere dort, wo der Autor den Konflikt zwischen der Mitgliederdemokratie und der für das Organisationsinteresse immer mehr an Bedeutung gewinnenden Wählerdemokratie thematisiert. Es ist für Michels keine Frage, daß in diesem Konflikt die programmatischen Ansprüche der Basis der strategischen Orientierung an den Aspira-

31 Der Begriff der „Electoral-Professional Party" geht zurück auf Angelo Panebianco, Political Parties: Organization and Power, Cambridge 1988. 32 Der Begriff wird entwickelt von Richard S. Katz/Peter Mair (Hg.), Changing Models of Party Organization and Party Democracy. The Emergence of the Cartel Party, in: Party Politics 1, 1995, S. 5-28. 33 Als exemplarisch für diesen Typus gelten die Grünen. Vgl. Joachim Raschke, Die Grünen: wie sie wurden, was sie sind, Köln 1993. 34 So Ludger Helms, Die „Kartellparteien"-These und ihre Kritiker, in: Politische Vierteljahresschrift, 42. Jg., Heft 4, 2001, S. 698-708, S. 698, der sich hier auf Alf Mintzel, Hauptaufgaben der Parteienforschung, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 16, 1987, S. 221-240, S. 221, bezieht.

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tionen der nichtorganisierten Wählerschaft unterliegen werden. Phase II („Massen-" bzw. „Klassenpartei") und Phase III („Volkspartei") der Parteienentwicklung liegen somit in dem in Phase I (bürgerliche Honoratiorenparteien) geschriebenen Buch bereits im Clinch. Soziologisch läßt sich das schon damals darauf zurückführen, daß die SPD der Zusammensetzung ihrer Mitgliedschaft nach zwar noch eine Klassenpartei ist, bei der Rekrutierung ihrer Wählerschaft aber sogar bis in die „,höheren' Kreise" vorstößt.35 Dem für Michels unübersehbaren Bedeutungszuwachs der Wähler- und Parlamentsdemokratie, die vom Spielball zum eigentlichen Standbein der Partei wird, korrespondiert seine Analyse der herausgehobenen Macht der Parlamentsfraktion im Parteigefüge und der Dominanz der exekutiven Spitzenpolitiker in den wahltaktischen Fragen. Darauf werden wir näher eingehen, wenn wir uns dem Machtkämpfen innerhalb der „Führerschaft" zuwenden. Fraktionsmacht und Dominanz der für die Außenwirkung bedeutsamen Spitzenpolitiker sind in jedem Fall starke Indizien, daß die deutsche Sozialdemokratie sich zwar in ihrem Programm und in ihrer Parteitagsphraseologie noch als proletarische Klassenpartei geben mag, objektiv dagegen bereits als volksparteiliches Stimmenmaximierungsunternehmen auf dem Wählermarkt tätig ist. Für Michels ist dies eine pure Selbstverständlichkeit. In besagter Einleitung zu seinem demokratietheoretischen Hauptwerk geht er axiomatisch von einer „Tendenz des Parteiwesens nach der größten Zahl"36 aus, die er als das charakteristische Novum der modernen Demokratie hervorhebt: „die politische Partei liebt es, sich mit dem Weltall, oder doch wenigstens der Gesamtheit der Staatsgenossen zu identifizieren, im Namen aller aufzutreten, im Namen aller den Kampf, zu aller Besten, anzusagen."37 Diese Tendenz wirkt derart universell, daß sie sich auch des konservativen Herrenstandes bemächtigt. Michels beobachtet, daß zumindest die politische Rhetorik des Konservativen sich ihres Antidemokratismus entledigt habe: „die Einsicht, daß er in dem demokratischen Zeitalter, das über ihn hereingebrochen ist, mit diesem Prinzip politisch isoliert dasteht [...] dreht ihm das Wort im Munde um und läßt ihn mit den Wölfen heulen: die heiße Bitte um Majorität."38 Nicht ohne Süffisanz bemerkt Michels die „Einwirkung der Volkswahl auf das äußere Verhalten konservativer Kandidaten", die sich in der Öffentlichkeit im ,Abrücken nach links" gegenseitig zu überbieten versuchen. Das „Grundgesetz moderner Politik" erlaube eben keine Ausnahme: Auch der „konservative Geist des alten Herrenstandes, so tiefeingewurzelt er auch ist, bedarf - allerdings lediglich im Zeichen der Wahl - eines verhüllenden, weithin flatternden Gewandes mit demokratischem Faltenwurf."39 Dort, wo die Konservativen den Kampf um die staatlichen Leitungspositionen bereits gegen die demokratischen Parteien verloren haben, übernehmen sie sogar die Rolle eines

35 Vgl. hierzu die Studie von Rudolf Blank, Die soziologische Zusammensetzung der sozialdemokratischen Wählerschaft Deutschlands, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Nr. 20, 1905, S. 507-550; Vgl. dazu die Anmerkung von Michels in PS 89, S. 456, Anm. 5. 36 So lautet eine Kapitelüberschrift in der zweiten Auflage. Vgl. Michels, PS 89, S. 17. 37 PS 11, S. 17-18. 38 PS 11, S. 7; PS 89, S. 8. 39 PS 11, S. 7-8, PS 89, S. 8-9.

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„gegenwartsstaatsfeindlichen", ja „revolutionären" Akteurs und vollziehe sich der Umschlag von einer aristokratischen „Klique zu einer Volkspartei" um so schneller.40 Ebenso begreift Michels auch seinen eigentlichen Untersuchungsgegenstand - die SPD - nur noch historisch als „Klassenpartei". Die Entwicklung geht für ihn zwingend über die Klassenbasis hinaus: „Die Arbeiterpartei wird zur Volkspartei."41

1.3. Zwischen Scylla und Charybdis: die ,Säkularisierung' der Elitentheorie Der Ausgangspunkt der Fundamentaldemokratisierung hat Folgen für die elitentheoretische Argumentation. Er schlägt sich in einer begründungslogischen Differenz zu den Vordenkern der politischen Klasse' Vilfredo Pareto und Gaetano Mosca nieder. Ganz im Gegensatz zu diesen beiden Klassikern der Elitentheorie, bei denen die politische Klasse eine Grundkonstante der Menschheitsgeschichte gewissermaßen von den Horden der Urzeit bis zum Staat der Neuzeit ist,42 muß sich bei Michels die .politische Klasse' erst von der gesellschaftlichen Basis emanzipieren. Die Oligarchie entsteht bei Michels aus der Demokratie, d. h. auf der Grundlage und unter den Bedingungen einer prinzipiell egalitären Gesellschaft.43 Dies wird um so deutlicher, wenn man über den Kontext der Parteiensoziologie hinausgeht und Michels' frühere Aufsätze einbezieht, sowohl die über die regionalen sozialen Bewegungen Italiens44 als auch über den ,oligarchischen Geist' im Gewerkschaftswesen und schließlich über die autoritäre Führerschaft im Parteiwesen.45 Dann nämlich läßt sich die „Soziologie des Parteiwesens" zugleich als Schlußpunkt eines perspektivischen Übergangs der Michelsschen Optik lesen: von der zivilen zur politischen Gesellschaft, von der sozialen Bewegung zur Parteiorganisation. War die soziale Bewegung für Michels - zumindest in dem ,zivilgesellschaftlichen' Bewegungsparadigma - der Ort der Solidarität und kollektiven Selbsthilfe, so wird die „politische 40 PS 11, S. 4; PS 89, S. 5. 41 PS 11, S. 255, PS 89, S. 257. Vgl. auch PS 89, S. 363: „Die Partei ist keine soziale, keine ökonomische Einheit. Ihre Grundlage ist das Programm." 42 Vgl. exemplarisch für Moscas Sicht der Dinge: G Mosca, Die herrschende Klasse, Bern 1950, S. 53: „Unter den beständigen Tatsachen und Tendenzen des Staatslebens liegt eines auf der Hand: In allen Gesellschaften, von den primitivsten im Aufgang der Zivilisation bis zu den vorgeschrittensten und mächtigsten, gibt es zwei Klassen, eine, die herrscht, und eine, die beherrscht wird. Die erste ist immer die weniger zahlreiche, sie versieht alle politischen Funktionen, monopolisiert die Macht und genießt deren Vorteile, während die zweite, zahlreichere Klasse von der ersten befehligt und geleitet wird." 43 Diese Einsicht verdankt die Forschung Paolo Farneti und Pino Ferraris. Vgl. Ferraris, L'influenza di Gaetano Mosca su Roberto Michels (1983), in: ders., Saggi, a.a.O., S. 169-208; Paolo Farneti, Sistema politico e società civile, Torino 1971, S. 46-51. 44 Vgl. Kapitel III.2.1. Neue soziale Bewegungen: das zivilgesellschaftliche und das sentimentale Paradigma. 45 Vgl. Kapitel IV. 4. Die Geburt der Oligarchiethese in der Massenstreikdebatte.

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Gesellschaft" für ihn vorrangig zum „Ort der Führerschaft und Autorität" (Farneti), zum Emanzipationsvehikel der politischen Klasse von der Gesellschaft, welch letztere auf ein passives Konsumentendasein reduziert wird. Laut Paolo Farneti besteht die Originalität der Michelsschen Elitentheorie gerade darin, die Mechanismen dieses Übergangs von der assoziativen und solidarischen Bewegung zur autoritären Ebene der politischen Organisation entdeckt zu haben. Michels sei daher ein „Säkularisierer der Elitentheorie".46 Säkularisierung der Elitentheorie meint hier, daß die Dichotomie von Führer und Masse keine Analogien in vormodernen Zeiten oder gar in der Tierwelt findet, wie das bei Moscas naturalistischen Zuschnitt der Elitentheorie geschieht, sondern diese Dichotomie entsteht auf dem Boden einer ftindamentaldemokratisierten Gesellschaft, deren historisches Novum das „demokratische Empfinden" ist. Die Antinomien der egalitären Gesellschaft, welche Solidarität immer nur als Teilsolidarität sozialer Gruppen und Milieus hervorbringen und den unausweichlichen Konflikt der Teilsolidaritäten auf die Techniken der Macht verweisen,47 führen zur Organisation. Der demokratische Fortschritt verliert dabei in dem Maße an Linearität, wie das Projekt der Emanzipation immer größere Massen umfaßt und auf das Prinzip der Massenorganisation angewiesen ist. Denn die Organisation der Massen wirkt, vom Standpunkt der demokratischen Pädagogik gesehen, dysedukativ: sie fordert antiemanzipative Gehorsamsdispositionen, Disziplin und Konformismus. Das ist nach Michels das unauflösbare Dilemma der modernen Demokratie. Sie ist ohne Organisation nicht konzipierbar. Die Organisation aber, die unverzichtbare Waffe der vielen Schwachen gegen die wenigen Starken, tendiert zur Oligarchie. Implizit dementiert Michels mit diesem Dilemma den emanzipativen Organisationsoptimismus Karl Kautskys und der deutschen Sozialdemokratie im allgemeinen: „Das Prinzip der Organisation muß [...] als die conditio sine qua non der sozialen Kampfesführung der Massen betrachtet werden. Aber das politisch notwendige Prinzip der Organisation, welches die Scylla der den Gegner begünstigenden Organisationslosigkeit der Massen vermeidet, birgt alle Gefahren der Charybdis in sich. In der Tat, die Quelle, aus der sich die konservativen Wasserläufe in die Ebene der Demokratie ergießen, um dort bisweilen verheerende Überschwemmungen

46 Farneti, Sistema politico e società civile, a.a.O.: „L'importanza di quest'analisi di Michels sta, in primo luogo, nell'aver individuato i meccanismi ,di passaggio' dalla società civile alla società politica." (S. 50); „Michels [...] ha avuto il ruolo assai importante di ,secolarizzatore della teoria delle élites' ". 47 Michels, Solidarität und Kastenwesen, in: ders.: Probleme der Sozialphilosophie, a.a.O., S. 53-63, S. 55: „Die Himmelsblume der Solidarität wächst und gedeiht bloß auf dem vulkanischen Boden der Interessengegensätze. [...] Bei Betrachtung des Phänomens der Solidarität auf dem ökonomischen und sozialen Gebiete ist unter diesem Terminus ohne weiteres eine partielle Solidarität zu verstehen." Vgl. auch Michels, La Solidarité sociale en Allemagne, Sonderabdruck aus dem Band 12 der,Annales de l'Institut International de Sociologie", Paris 1910, 24 Seiten; Michels, Appunti sulla solidarietà, in: Riforma Sociale, Vol. XX, Sept-Okt. 1909, Sonderabdruck 15 Seiten.

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens" zu verursachen, die die Ebene bis zur Unkenntlichkeit entstellen, heißt Organisation."48

Die Originalität von Michels' Beitrag zur Elitentheorie erschließt sich über den Gesamtaufbau der demokratietheoretischen Argumentation. In seiner „Soziologie des Parteiwesens" unternimmt Michels eine systematische Ursachenanalyse - in der damaligen, der Pathologie entstammenden Semantik des soziologischen Diskurses: eine .Ätiologie" - des Führertums in der Demokratie. Es sind zwei Ursachenkomplexe, die Michels für die Oligarchisierung demokratischer Politik verantwortlich macht: einerseits die Handlungsstrukturen im Organisationswesen, die entscheidend dadurch mitgeprägt werden, daß die Parteiorganisation ein politischer KampfVerband ist, der permanent mit anderen Parteien konkurriert; andererseits die Psychologie der Akteure, wobei Michels die Psychologie der Basis („Masse") und die der Funktionäre, Delegierten, Fraktionsvorsitzenden etc. („Führer") unterscheidet.49 Massen- und Führerpsychologie gehen wechselseitig aus ihrer Interaktion hervor und ergänzen sich herrschaftstechnisch auf eine so fatale Weise, daß sie im Extremfall den Übergang der Demokratie zur Diktatur unter formaler Beibehaltung der demokratischen Prozedur einleiten können.50

1.4. Die strukturimmanente Tendenz der Organisation zur Oligarchie „Die Organisation ist die Mutter der Herrschaft der Gewählten über die Wähler, der Beauftragten über die Auftraggeber, der Delegierten über die Delegierenden."51

Die harte materiale Basis der in jeder politischen Partei bereits strukturell angelegten oligarchischen Sinnverkehrungspotentiale ist das Organisationswesen. Die Organisation ist der Nährboden der Differenzierung in Führer und Geführte. Ihre arbeitsteiligen, administrativen Zwänge, die Aufgabenkomplexität und die Zentralisierungsimperative des bürokratischen Instanzenwegs leiten technisch wie intellektuell die Ausbildung einer Kaste von Berufspolitikern ein. Was der praktischen Notwendigkeit einer Vertretung52 der Masse entspringt, schlägt um in eine Kompetenzhierarchie.

48 PS 11, S. 22-23. 49 Vgl. zum Aufbau auch ein .Abstract' der Parteiensoziologie, den Michels 1912 in London veröffentlicht hat: Michels, Eugenics in Party Organization, London [1912], Sonderabdruck, 8 Seiten, S. 3: „I found in party life a threefold root of oligarchy; the first in individual psychology, the second in the psychology of the crowd, the third in the necessity of party organization." 50 Vgl. das Kapitel „Die bonapartistische Ideologie", in: PS 11, S. 203ff. 51 PS 11, S. 384; PS 89, S. 370-371. 52 Präziser, als Michels das tut, haben Wolfgang Sofsky und Rainer Paris zwischen der „Dialektik der Repräsentation", aus deren Grundstruktur bereits die Umkehrung der Machtrichtung sowie die politische Entfremdung zwischen Delegierten und Delegierenden resultieren, und der „Organisation"

VI. 1. Die Sinnverkehrungsgefahren der Demokratisierung

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„Während die Masse durch ihre berufliche Arbeit und die Sorgen des täglichen Lebens von einer genaueren Kenntnis des politischen Getriebes, insbesondere des politischen Betriebes, der politischen Maschinerie, ferngehalten wird, wird der Führer durch seine neue Lebensstellung umgekehrt dazu geführt, sich mit den Technicismen der Macht auf das engste zu befreunden. Auf diese Weise eignet sich der ehemalige Arbeiter in kurzer Frist, anfangs nur formale, später aber auch sachliche Kenntnisse an, die ihn auf die Dauer seinen Auftraggebern immer mehr überlegen machen. Je komplizierter sich das politische Metier gestaltet, je unübersehbarer die Bestimmungen der sozialen Gesetzgebung werden, je mehr Sachkenntnis und Routine dazu gehört, sich im öffentlichen Leben zurechtzufinden, desto mehr vergrößert sich der Abstand zwischen den Führern und dem Gros der Genossen, so daß [...] ein wahrer Klassenunterschied zwischen den exproletarischen Führern und den proletarischen Geführten entsteht. So schaffen sich die Arbeiter selbst mit ihren eigenen Kräften neue Herren, in deren Arsenal der Herrschaftsmittel die erhöhte Bildung eine der mächtigsten Waffen ist."53 Die Funktionäre und Delegierten verfügen über einen Zeit-, Wissens-, und Gestaltungsvorsprung vor der Basis: über ein höheres Zeitbudget für Politik, über formelle und informelle Informationsmöglichkeiten, aber auch technische Möglichkeiten des ,agenda setting'.54 Was Michels hier unpräzise mit dem Begriff der „erhöhten Bildung" belegt Max Weber hat ihm diesen rot angestrichen, weil Bildung es ja gerade nicht sei, was Berufspolitiker erwerben55 - hat nichts mit der üblichen geistesgeschichtlichen Konnotation des Begriffs zu tun,56 sondern meint schlicht die Aneignung von Speziai- und strategischem Wissen: „Die Sachkenntnis [...] erhält noch eine weitere Stütze durch die Routine sowie das gesellschaftliche savoir faire, die sich die Abgeordneten in der Kammer erwerben, und das Spezialistentum, das sie insbesondere in den Dunkelkammern der Kommissionen erlernen. Die hierbei erworbenen Handgriffe wenden sie naturgemäß auch im Parteileben an und haben es infolgedessen leicht, eventueller

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unterschieden, welche nur potenziere, was in jeder Repräsentationsstruktur bereits angelegt sei. Vgl. W. Sofsky/R. Paris, Figurationen sozialer Macht. Autorität - Stellvertretung - Koalition, Frankfurt a.M. 1994; S. 157ff., insb. S. 178. PS 11, S. 78-79; PS 89, S. 78. Vgl. Paul Tiefenbach, Die Grünen. Verstaatlichung einer Partei, Köln 1998, S. 22fF., der Michels' Oligarchie-These am Beispiel der Grünen exemplifiziert. Vgl. den Brief von Max Weber an Robert Michels vom 21. Dezember 1910, in: MWG, Bd. 6: Briefe 1909-1910, Tübingen 1994, S. 754-761, S. 756: „p. 77/8 5erw/s-Führertum bedeute größere Cultur- (oder „Bildungs"-) Differenzierung als „nebenamtliches". Gerade umgekehrtl Größere Routine doch nicht = größere Cultur. Die ,3ildung" der Führer sinkt unaufhaltsam, ihre konkrete SacAkunde steigt." Vgl. Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, 2. Aufl., Frankfurt a.M./Leipzig 1994.

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

Gegenströmungen Herr zu werden. In der Kunst der Versammlungsleitung, der Anwendung und Auslegung der Geschäftsordnung, der Einbringung von opportunen Resolutionen, kurz den Kniffen, wichtige strittige Punkte aus der Diskussion auszuschalten oder auch eine ihnen gegnerisch gesinnte Majorität zu einer ihnen günstig lautenden Abstimmung zu veranlassen, [...] sind sie Meister."57 Die technischen Imperative der Organisation fuhren somit zu einer Kompetenzdifferenzierung zwischen der Basis und ihren berufspolitischen Repräsentanten. Das „Prinzip der Arbeitsteilung" erzeugt „Spezialitäten". „Spezialität aber heißt Autorität."58 Rosa Luxemburg hat in diesem Zusammenhang davon geschrieben, daß „die Initiative und die Urteilsfähigkeit [...] zu einer Berufsspezialität" würden, „während der Masse hauptsächlich die mehr passive Tugend der Disziplin obliegt."59 Die Führer avancieren mittels der erworbenen Kenntnisse und Gestaltungsvorsprünge zu „Herren der Situation",60 zumal mit der Ausdehnung des Apparates die Einfluß- und Kontrollmöglichkeiten der Basis schwinden. „Je mehr sich der offizielle Apparat ausdehnt und verzweigt, d. h. je mehr Mitglieder eine Organisation bekommt, je mehr ihre Kassen sich füllen und die Presse wächst, desto mehr wird die Volksherrschaft in ihr verdrängt und durch die Allmacht der Ausschüsse ersetzt. Überall nistet sich die indirekte Wahl, diese im Staatsleben von der Partei auf das heftigste bekämpfte Wahlart ein."61 Die demokratische Kontrolle bleibt an die Einhaltung des Instanzenweges - dem „Paragraph 1 des Katechismus der Parteipflichten" - gebunden, während sich informelle Gremien ihr zunehmend entziehen. „Bei zunehmender Organisation ist die Kontrolle [...] dazu verurteilt, eine Scheinexistenz zu führen. [...] Die Sphäre der demokratischen Kontrolle schrumpft auf immer engere Kreise zusammen."62 Organisation und Kontrolle verhalten sich disproportional.63

57 PS 11, S. 81. Vgl. auch Sofsky/Paris, Figurationen, a.a.O., S. 182: „Je mehr der Sekretär zum Experten avanciert, desto mehr werden die Vertretenen zu Laien in eigener Sache. Vertikale Arbeitsteilung verteilt das Wissen asymmetrisch." 58 PS 11, S. 86. 59 Rosa Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, Hamburg 1906, S. 61; zit. n. PS 89, S. 389-390. 60 PS 1911, S. 82. 61 PS 1925/1989, S. 74. 62 PS 89, S. 75. 63 Vgl. hierzu alternativ Offe/Wiesenthal, Two Logics of Collective Action, a.a.O., S. 187, die von einem „prekären Gleichgewicht" zwischen „Größe und kollektiver Identität" sowie zwischen Bürokratie und interner Demokratie sprechen. Der Erfolg von Arbeitnehmerorganisationen steht und fällt mit der Erhaltung dieses prekären Gleichgewichts. Anders als Unternehmerverbände, die sich bereits in einer Machtposition befinden, aufgrund derer sich derartige Komplikationen kollektiver Willensbildung vermeiden lassen. Gegen die These von der Unentrinnbarkeit der bürokratischen Dezisionshierarchie wird von anderer Stelle eingewandt, daß in „erfolgreichen" Organisationen „nicht nur die Entscheidung kommuniziert, sondern auch über die Entscheidung kommuniziert" wird, und sich in der Öffnung gegenüber Alternativwissen sowie in der kommunikativen Kontrolle von Entscheidungen eine Revo-

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D i e s e s Dilemma reproduziert sich im Verhältnis v o n Delegierten und Delegierenden: „Je länger die Dauer der Amtsübertragung, desto größer wird der Einfluß der Führer auf die Massen und desto mehr wächst ihre Unabhängigkeit." „Häufige Wiederkehr der Wahl", so Michels, „ist daher das elementarste Sicherheitsventil der D e m o kratie gegen oligarchische Giftdämpfe." 6 4 Indes werden die elektoralen Möglichkeiten zur Verhinderung der Machtakkumulation im Amt schon durch den Umstand beschnitten, daß die Partei unter Beobachtung ihres politischen Gegners und der Öffentlichkeit steht. Die Amtsenthebung einer allgemein anerkannten Autorität durch die Massen würde die Partei diskreditieren, weil es ihr den Vorwurf eintrüge, „kopflos" dazustehen: „Die demokratischen Massen befinden sich also zweifellos in einer Zwangslage, w e n n sie sich veranlaßt sehen, ihre gros bonnets in einer Machtstellung zu belassen, die auf die Dauer das Prinzip der Demokratie zu Grabe trägt." 65 Es sind somit auch strategische Gründe, die die Demonstration der Geschlossenheit und Politikfahigkeit einer Partei nach außen betreifen, w e l c h e eine Verselbständigung des Mandats v o n der demokratischen Kontrolle befördern: „Mit der Bildung des Führertums zugleich beginnt, durch die lange Amtsdauer

lution auf dem Organisationswesen vollziehe. Vgl. Dirk Baecker, Experiment Organisation, in: Lettre International 24, 1. Vj. 1994, S. 22-26. Aber selbst wenn Baeckers Prognose richtig ist, widerlegt sie nicht die These von der Macht informaler Entscheidungsinstanzen. Parteiinterne Kungelrunden sind von der kommunikativen' Enthierarchisierung der Entscheidungswege nicht betroffen, da sie sich der formalen bürokratischen Dezisionshierarchie klassischer Organisationsmodelle bereits durch die klandestine Kommunikation entzogen haben. Wie sehr sich die informalen politischen Machtzirkel der Jahrhundertwende und der Nachkriegszeit gleichen, zeigt der Erfahrungsbericht Dirk Schiimers anläßlich der Reform des Organisationsstatutes der nordrhein-westfalischen SPD und des damit aufgelösten Traditionsbezirkes „Westliches Westfalen": „Wenn im Hinterzimmer unseres Ortsvereins - gelegen in der Straße Kungelmarkt - die wirklichen Entscheidungen über Personalfragen fielen, wenn also im kleinen Kreis die Delegierten für Bezirksparteitage sondiert oder gar über die kommenden drei Legislaturperioden der heimische Bundestagsabgeordnete im Gegengeschäft für eine Landtagskandidatin festgeklopft wurde, dann war dies die Schule des Westlichen Westfalen. Wer dort bei der eigentlichen und vielleicht einzigen innerparteilichen Frage von Belang, der Aufstellung der Landesliste, mitmischen durfte, der hatte es zu etwas gebracht in der SPD. ,Die wissen, wie man seine Leute durchbringt', erzählte voll Hochachtung ein vom Parteitag als Verlierer zurückgekehrter Delegierter, der die Parteitagsregie mit manipulierten Rednerlisten und Kuhhandel erst nachträglich durchschaut hatte." (Vgl. Dirk Schümer, Die SPD beerdigt ihren Mythos. Ein Nachruf auf das Westliche Westfalen: Die Partei löst ihren größten und milieuträchtigsten Bezirk auf, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 50, 16. Dezember 2001, S. 7). Die Reform des im Dezember 2001 beschlossenen neuen ,zentralistischen' Organisationsstatutes dürfte in der Praxis eine ,Reformierung' der informalen Dezisionsinstanzen nach sich gezogen haben, am Prinzip des Informalen in der Politik hat sie nicht und konnte sie auch gar nicht rütteln. Vgl. im übrigen zum Erfordernis informalen Handelns außerhalb der in Geschäftsordnungen niedergelegten Instanzenwege auch: Manfred Schwarzmeier, Parlamentarische Mitsteuerung. Strukturen und Prozesse informalen Handelns im Deutschen Bundestag, Wiesbaden 2001. 64 PS 11, S. 92. 65 PS 11, S. 82.

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

begünstigt, sein kastenmäßiger Abschluß",66 „der sich in der Tendenz nach Kooptation vollendet."67 Mit der Kooptation wird die Arbeit von Parteitagen auf die demokratische Residualfunktion beschränkt, einer von der Parteiführung zusammengestellten Kandidatenliste für zu besetzende Ämter die Legitimation zu beschaffen. Die wenigen Ausnahmen, in denen ein Parteitag von dieser Regie abweicht, spontan einen alternativen Kandidaten aufstellt und ins Amt hievt, bestätigen diese Regel bis zum heutigen Tag.68 Eine Prophylaxe gegenüber der personellen Kontinuität der politischen Klasse ist theoretisch die Ämterrotation. Ein Prinzip, das beispielsweise die "Grünen" in ihren Anfangen in die Satzung schrieben, weil sie als „Anti-Parteien-Partei" ganz ähnliche Befürchtungen vor dem Entstehen einer politischen Klasse Umtrieben. Wie wir wissen, ist dieses Prinzip in der Praxis vielfach unterlaufen und schließlich abgeschafft worden, weil die Partei durch das ständige Auswechseln ihres prominenten und bei der Wählerschaft beliebten Spitzenpersonals politischen Selbstmord betrieben hätte. Robert Michels hat der Ämterrotation übrigens von vornherein eine Absage erteilt. „Kurzfristige Anstellung ist demokratisch, aber technisch wie psychologisch ungeeignet". Sie lasse kein Verantwortlichkeitsgefiihl, keine Identifikation mit dem Amt aufkommen, das nur eines auf Zeit ist, und verschleiße die für das Amt Begabten.69 Die bis hierhin dokumentierte strukturelle Disposition der Parteiorganisation zur Oligarchie ist eine Voraussetzung, aber noch keine hinreichende Erklärung dafür, daß sich die Willensbildungsprozesse in der Demokratie umkehren und von oben nach unten verlaufen. Was Michels mit dem bürokratietheoretischen Dispositiv der Arbeitsteilung in menschlichen Zweckverbänden zunächst nur bestreitet, ist die Realisierungsfähigkeit einer ,reinen', identitären Demokratie. Die „mechanische und technische Unmöglichkeit direkter Massenherrschaft" 70 ist die zentrale Aussage im Teil I/A der Parteiensoziologie. Abgesehen davon, daß es ohne technische Angestellte ohnehin nicht geht, ist unmittelbare Demokratie aber auch gar nicht wünschenswert: „Die Größe der Entfernungen, der Verlust an Zeit, der dadurch entstehen würde, wenn man den Massen die einzelnen Tagesprobleme, die schnellen Entscheid heischen, so auseinandersetzen wollte, daß sie auch nur eine bedingte Urteilsfähigkeit über sie erlangten, macht die

66 PS 1911, S. 151. 67 PS 1925/1989, S. 152. 68 Zu den wenigen und daher noch erinnerbaren Ausnahmen in den .großen' Parteien zählen beispielsweise die Wahl Heinz Eggerts in den Bundesvorstand der CDU 1992, sowie die überraschende und erfolgreiche Kampfkandidatur Oskar Lafontaines gegen Rudolf Scharping um den Parteivorsitz auf dem SPD-Parteitag 1995. Allerdings lagen gerade im letzteren Fall Voraussetzungen vor, die von Michels' Theorie ausdrücklich berücksichtigt werden. Die SPD war damals auf der Führungsebene zerstritten. Michels' Oligarchiethese besagt aber, daß die Führung immer dann ihren Willen durchsetzt, wenn sie sich einig ist. (Vgl. PS 89, S. 154) Auf diesen Punkt komme ich unten zurück. Als Ausnahme gelten die „Grünen", bei denen es keine vom Vorstand vorgelegten Kandidatenlisten gibt. Daß gleichwohl die Parteielite eine solche Liste „im K o p f hat und mit subtilen Mitteln in die Realität umsetzt, zeigt Tiefenbach, a.a.O., S. 49 f. 69 PS 89, S. 98; PS 11, S. 97. 70 PS 11, S. 23.

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Demokratie in ihrer unverfälschten Urform unmöglich, da sich mit ihr nur eine Politik der Verschleppung und der verpaßten günstigen Gelegenheiten treiben ließe [...]."71 Die „beiden größten Fehler in der reinen Demokratie" sind der „Mangel an Stabilität" und der „Mangel an Schlagfertigkeit".72 Die Trennung der leitenden Funktionäre von der Basis ist unaufhebbar. Alternativen zur „Charybdis" der Organisation existieren nicht, der Verzicht auf Organisation bedeutet immer einen Rückschritt in die „Kindheitszeiten"73 der Bewegung, bedeutet immer die „Scylla" der politischen Ohnmacht, Strukturlosigkeit, Verantwortungslosigkeit und Inkompetenz. Präventiwersuche, die sich die Verhinderung einer politischen Klasse auf die Fahnen geschrieben haben, - das Referendum sowie die anarchistische und die syndikalistische „Prophylaxe" - werden von Michels verworfen.74 Das gilt auch für das imperative Mandat, da jede Verhandlung, mit der der Delegierte von der Basis beauftragt wird, unter ihren Vorgaben „illusorisch" wird, wenn „die Beschlußfassung der Verhandlung zeitlich vorausgeht."75 Bevor ich mich dem psychologischen Begründungskomplex, dem Teil I/B in Michels' Hauptwerk, zuwende, möchte ich in zwei Exkursen diese Eröffnung der Parteiensoziologie, das Scylla-und-Charybdis-Dilemma, zum Anlaß nehmen, auf eine zentrale Frage der Michels-Rezeption zu sprechen zu kommen, nämlich ob das darin implizierte Dementi einer ,reinen Demokratie' tatsächlich so zu werten ist, wie das in der Forschung immer wieder getan worden ist: als wissenschaftliche Verarbeitung einer tieferliegenden Enttäuschung der vermeintlichen direktdemokratischen Visionen des Autors.

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PS 11, S. 41; PS 89, S. 39. PS 89, S. 99, PS 11, S. 98. PS 11, S. 76. PS 11, S. 320ff. PS 89. S. 38. Vgl. auch den luziden Kommentar zum imperativen Mandat von Sofsky/Paris, Figurationen, S. 170: „In ihrer strengen Form ist die imperative Delegation ein Widerspruch in sich. Die Gruppe will alles selbst entscheiden, bevor die Verhandlungen überhaupt begonnen haben. Der Stellvertreter soll nurmehr in die Tat umsetzen, was sie längst bestimmt hat. Und der Dritte [Verhandlungsdelegierte der Gegenseite] soll Ja und Amen sagen und sich dem Gruppendiktat unterwerfen [...] Es verwundert nicht, daß dies Widerstand provoziert. Die kompromißlose Selbstfestlegung verschenkt nicht nur die Vorteile, die unbestimmte Ziele allemal bieten, sie spielt dem Dritten auch einen Trumpf zu, den er zuvor gar nicht hatte. Ohne Umschweife kann er den Delegierten wegen mangelnder Verhandlungsfahigkeit zurückschicken und die Gruppe ins Abseits manövrieren. Wo kein Jota vom Buchstaben der Resolution abgewichen werden darf, erledigen sich Verhandlungen von selbst." Darüberhinaus bemerken Sofsky und Paris auch die Botschaft des Mißtrauens gegenüber dem eigenen Repräsentanten, die mit einem imperativen Mandat kommuniziert werde. Der Delegierte werde dadurch der Botschafter des Mißtrauens und der Angst der eigenen Gruppe, was ihn wie die Gruppe jeglicher Souveränität beraube.

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

1.5. Exkurs: Die Oligarchiethese im narrativen Kontext von ,Enttäuschung', »Entsagung' und akademischem Heroismus Der Sinn des Scylla-und-Charybdis-Bildes in der Parteiensoziologie - nicht zufällig findet es sich gleich zu Beginn, als Michels auf die „technisch-administrativen Entstehungsursachen" der .Ätiologie des Führertums" zu sprechen kommt - besteht offensichtlich darin, dem Leser die unhintergehbare und ambivalente Grundstruktur der Massendemokratie zu verdeutlichen: nach welchen Prinzipien sich die Gesellschaft auch immer politisch konstituieren mag, dem Prinzip der Repräsentation und Delegation wird sie nicht entkommen. Es werden immer wenige hauptamtliche Spezialisten sein, die das politische Geschäft der Vielen besorgen. Ihre Kontrolle wird damit zu einem Grundproblem der Demokratie. Daß sie prinzipiell abrufbar sind, ist das wesentliche Merkmal einer demokratischen Ordnung. Aus dem Umstand, daß Michels in seinem Hauptwerk dann aber ausgerechnet Rousseaus identitätsrepräsentativen76 Demokratiebegriff als normativen Referenzpunkt und Kontrastfolie zur empirischen Wirklichkeit auswählt,77 hat die spätere Rezeption eine wirkungsmächtige Erklärung für Michels' Werdegang abgeleitet. Von Pfetsch bis Tuccari78 wurde eine Enttäuschungshypothese formuliert, wonach der Autor der Parteiensoziologie in den Jahren 1908 bis 1911 auf dramatische Weise der Nichtrealisierbarkeit des von ihm angeblich verfochtenen Konzepts einer identitären Demokratie gewahr worden wäre. Diese Hypothese erscheint mir allein deshalb fragwürdig, weil wir in unserer detaillierten Rekonstruktion des Politikers Michels an keiner Stelle auf die Ordnungsvorstellung einer unmittelbaren .democrazia pura' gestoßen sind. Vielmehr konnten wir sehen, daß die repräsentative Verfaßtheit von Parteien und die daraus resultierende Etablierung von Führungsstrukturen schon für den radikalen Sozialisten ein „notwendiges Übel" war79 und daß er Sätze wie den folgenden mit apodiktischer Selbstverständlichkeit formulierte: „Jede große Masse bedarf der Führung."80 Die einzige wirklich greifbare politische Ordnungsvorstellung und Orientierungsmarke des jungen Michels waren überdies die Republiken des Westens.81 Seine Kritik am Elektoralismus und seine Forderung nach außerparlamentarischen Aktionsformen waren, wie gesehen, Ausdruck seiner Suche nach revitalisierenden Gegengewichten zu einer einseitigen Verlegung der sozialistischen Taktik auf parlamentarische Aktionsformen, was ihm in Deutschland um so erforderlicher erschien, als hier dem Parlament wesentliche Befugnisse vorenthalten waren. Einen Antiparlamentarismus hat Michels an keiner Stelle vertreten, sondern im

76 Vgl. Ernst Vollrath. Identitätsrepräsentation und Differenzrepräsentation, in: Rechtsphilosophische Hefte, Nr. 1, Jg. 1992, S. 65-78. 77 Vgl. z . B . PS 11, S. 36 78 Vgl. den Literaturbericht in Kapitel I. 79 Michels, Congrès d'Ièna, S. 303. 80 Michels, Die deutsche Sozialdemokratie, S. 526. 81 Das ist vor dem Hintergrund des tradierten Michels-Bild gewiß erstaunlich. Vgl. aber das Kapitel II.3. „Ein Land aus Stuck".

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Gegenteil seinen Kollegen von der syndikalistischen Linken immer wieder ins Stammbuch geschrieben, daß ihr Antiparlamentarismus an der Illusion kranke, es gäbe eine Alternative zum Vertreterprinzip und zum politischen Beamtentum. 82 Daß die Enttäuschungshypothese vielen bis heute so plausibel erscheint, wenn es um eine Gesamtbetrachtung von Michels' Oeuvre geht, dürfte nicht zuletzt darin begründet sein, daß der Autor selbst seinen Weg als dramatischen Bildungsprozeß geschildert hat. Die narrativen Charakteristika des Bildungsromans sind kaum zu verkennen, wenn sich Michels später im Rückblick auf sein SPD-Engagement zum „Idealisten von reinstem Wasser", selbstverständlich „ohne Ehrgeiz", stilisiert und seine Studien zur Parteiensoziologie als „schmerzhaften" Erkenntnisprozeß bezeichnet. 83 Es ist nur eine Vermutung, aber doch eine naheliegende Überlegung: wurzelt die Enttäuschungshypothese in der Michels-Forschung nicht auch in jener Dramaturgie des idealistischen Selbstverständnisses, die für fast alle intellektuellen Selbstentwürfe jener Zeit typisch wie konstitutiv war? Die außergewöhnliche ,intellectual credibility', welche die heroische, immer schön .schmerzhafte' Wahrheitssuche in gebildeten Kreisen über alle ideologischen Grenzen hinweg genoß, verdeutlicht eine Rezension Friedrich Naumanns zur „Soziologie des Parteiwesens" von 1911 : „Michels ging aus, um die idealistische Revolution mitzuerleben, wurde Sozialdemokrat, ohne Not, aus Hingabe an den Rhythmus der neuen Kampfpartei, wandelte keck und wagemutig an den Grenzen zwischen Sozialdemokratie und Anarchismus [...] Es ist beim Lesen seiner Arbeit, als höre man ihn fragen: Warum kommt das große Gewitter nicht? Der Revolutionsromatiker wundert sich, daß die Wirklichkeit so langsam und nüchtern ist [...] Gelegentlich phantasierte er wohl, was er machen würde, wenn er die Massen in der Hand hätte. Aber wenn er sie hätte, dann würde er selber schon ein ganz anderer sein, und Leute wie er bekommen sie auch nicht in die Hand. Dazu gehört eine einfachere Struktur. Man sehe sich nur die tatsächlichen Führer an! So wird der Revolutionär zum Theoretiker, macht aus der Not eine Tugend und beschreibt das Ergebnis seiner entsagungsvollen Studien." Entsagungsvoll. Darunter tut es der bildungsbürgerliche Intelligenzler seinerzeit nun einmal nicht. Das Abfassen einer wissenschaftlichen Studie ist hier weitaus mehr als ,nur' eine anspruchsvolle geistige Tätigkeit. Sie hat eine existentielle Dimension, ist eng verwoben in ein Bio-Drama von Auszug, Umkehr und Einkehr, in ein lebensgeschichtliches Drehbuch der opferreichen Läuterung im Dienste der Wahrheit. Die Semantik der Naumannschen Buchrezension illustriert das heroische Selbstbild von Leuten, die - wie etwa Michels im Alter von 35 Jahren - schon früh ihre Bedeutung dadurch untermauerten, daß sie von sich Büsten anfertigen ließen.84 82 Vgl. seine Einwände gegen den revolutionären Syndikalismus in Kapitel IV.3. 83 Michels, Eine syndikalistische Unterströmung, S. 362-363 84 Michels ließ von sich im Jahr 1911 durch den Bildhauer Cesar Santiano eine Büste anfertigen, deren zur Seite gewendeter Kopf mit einem Mut und Entschlossenheit suggerierenden Blick eine

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

Unüberhörbar ist in Naumanns Würdigung auch die antipolitische Facette des idealistischen Selbstdeutungsmusters, wenn er von der Höhe des Gebildeten auf die „einfachere Struktur" der „tatsächlichen Führer" hinabblickt und die Fremdheit des Intellektuellen im politischen Betrieb artikuliert, eine Fremdheit, die freilich unter der Hand zum Qualitätsmerkmal seiner vornehmen Existenz erhoben wird. In seinen autobiographischen Betrachtungen von 1932 wird Michels Naumann in voller Länge zitieren und zufrieden hinzufugen, daß dieser damit „wohl das Wichtigste an diesem [Michels'] Werdegang" gesehen habe.85 Michels hat sich damit, zumindest was die bildungsbürgerlichen Topoi der intellektuellen Selbstbeschreibung betrifft, als ein ,ganz normaler' Vertreter der wilheminischen Intelligenz zu erkennen gegeben. Jahrzehnte später hat Wilfried Röhrich das „Parteiensoziologie"-Kapitel seiner Michels-Arbeit mit „Die , entsagungsvollen' Studien" betitelt und sich damit das Naumannsche Deutungsmuster zu eigen gemacht.86 Röhrich hat das Bio-Drama dergestalt variiert, daß Michels' Parteiensoziologie als mißlungene Trauerarbeit eines pathologischen Idealisten erscheint: der schon von Naumann behauptete revolutionsromantische Impetus bleibt hier das Leitmotiv, dem der Autor in seinem Hauptwerk nur vorübergehend habe entsagen können, um dann Jahre später unter dem Eindruck des italienischen Faschismus erneut von ihm überwältigt zu werden. Ähnlich haben Pfetsch und Tuccari behauptet, die Vision der democrazia pura habe sich nach dem schmerzhaften Eingeständnis ihrer Nichtrealisierbarkeit für Michels letzten Endes doch in der Syntonie von Führer und akklamierender Masse im faschistischen Italien realisiert und sei somit das nie wirklich mit der Realität vermittelte idealistische Leitmotiv seiner politischen Entscheidungen gewesen. Ob man nun einen revolutionsromantischen Dezisionismus87 (Röhrich) oder das Streben nach einer unmittelbaren Volksherrschaft (Pfetsch, Tuccari) zur politischen Grundhaltung von Michels erhob - immer wieder neigte die Michels-Forschung der Auffassung zu, in der „Soziologie des Parteiwesens" dokumentiere sich eine Enttäuschung pathologischen Ausmaßes, eine schmerzhafte Entzauberung der Welt, die zwanghaft auf das Finale dieses Biodramas hinausgelaufen sei: auf die pathologische Wiederverzauberung der Welt angesichts der faschistischen Massenbewegungen. Die von Jakob Talmon88 inspirierte These, in Michels' Werdegang exemplifiziere sich die Affinität direktdemokratischer, rousseauistischer Ideen zu den Totalitarismen

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heroische Haltung ausdrückt, die eher in einen martialischen Kontext passen würde und somit Eigenschaften versinnbildlicht, die für einen Universitätsdozenten und Publizisten, vorsichtig gesagt, nicht gerade wesentlich sind. Die Büste befindet sich heute im Domizil der Familie Einaudi, Dogliani. Ein Foto findet sich im ARMFE Turin, abgedruckt auch in: Claudio Pogliano, Tra passione e scienza. Robert Michels a Torino (1907-1914), in: Piemonte vivo, 1988, Nr. 1, S. 20-29, S. 20. Michels, Eine syndikalistische Unterströmung, S. 363. Naumanns Rezension erschien unter dem Titel „Demokratie und Herrschaft" in der „Hilfe", Heft 1,5. Januar 1911. Vgl. Röhrich 1972, a.a.O., S. 48ff.; vgl. auch S. 16. Vgl. das Schlußwort von Röhrich 1972, S. 175. Vgl. Jakob L. Talmon, The Origins of Totalitarian Democracy, London 1952.

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des 20. Jahrhunderts, kann sich dabei allerdings, wie gesehen, nicht auf das empirische Material stützen, das uns der Politiker Michels hinterlassen hat. Genaugenommen lebt die These von der „totalitarian democracy" im Fall Michels davon, daß sie den Rousseau-Bezug, den Michels erstmals 1908 als freier Dozent zum keineswegs einzigen demokratietheoretischen Bezugspunkt wählt,89 in seiner Bedeutung überschätzt. Denn Michels bedient sich verschiedener Demokratie-Begriffe.

1.6. Die Demokratie-Begriffe der Parteiensoziologie Gleich im zur Klärung defínitorischer Fragen privilegierten einleitenden Kapitel verwendet Michels auf der ersten Seite den Begriff Demokratie im Sinne der rechtsstaatlichen formalen Gleichheit und hebt ihn in positivistischer Manier von der „Metaphysik" der erbrechtlichen und gottesgnadengestützten Monarchie ab: „Dem Prinzip der Monarchie steht das der Demokratie - in der Theorie - antipodisch gegenüber. Es negiert das Recht des einen auf den anderen. Es stellt alle Bürger vor dem Gesetz gleich, gibt in abstracto auch jedem die Möglichkeit, die höchsten Stufen der sozialen Leiter zu erklimmen und ebnet auf diese Weise den Rechten der Gesamtheit die Wege, indem es alle Privilegien der Geburt vor dem Gesetz vernichtet und den Kampf um den Vorrang in der menschlichen Gesellschaft nur durch die Tüchtigkeit des Einzelnen entschieden haben will. Während das Prinzip der Monarchie alles auf den Charakter des Einen stellt und die beste der monarchischen Regierungen deshalb dem Volksganzen keine Garantien für dauernd wohlwollende und technisch brauchbare Leitung bietet, ist in der Demokratie prinzipiell das Volksganze für die herrschenden Zustände, deren Meister es ist, verantwortlich."90 Die prinzipielle Offenheit der sozialen Stufenleiter und die Verantwortung des Volkes dafür, von wem es regiert wird - diese Kriterien entsprechen zweifellos dem Demokratiebegriff des jungen Michels, wie wir ihn in den Schriften zur Zeit seines politischen Engagements vorgefunden haben.91 Dieses Verständnis von Demokratie scheint ihm 1911 offensichtlich zu naiv zu sein. „Heute wissen wir, daß im Leben der Völker die beiden theoretischen Grundbegriffe der Staatsordnung so elastisch sind, daß sie sich vielfach sogar berühren."92 Zur Begrün89 Vgl. Michels, Die oligarchischen Tendenzen der Gesellschaft. Ein Beitrag zum Problem der Demokratie, in: Archiv fur Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 27, 1908, S. 73-135. Dieser Aufsatz ist 1911 in die Parteiensoziologie integriert worden. 90 PS 11, S. 1-2; nahezu identisch PS 89, S. 1-2. 91 Vgl. Michels, Monarchie oder Republik?, a.a.O., sowie unsere Ausführungen in Kapitel IV.2.6. Der Wert der Republik. 92 PS 11, S. 2.

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dung zitiert Michels eine Passage aus Rousseaus „Contrat Social", wo das Kriterium der Demokratie die Zahl der Herrschaftsbeteiligten ist. Aristokratie und Demokratie hätten „bei 50 % der an der Herrschaft Beteiligten ihren Treffpunkt" 93 Diese Definition, die die Zahl der tatsächlich an der Herrschaft Beteiligten zur Richtschnur erhebt - offen bleibt, ob mit Herrschaftsbeteiligung das Wahlrecht oder die Ausübung öffentlicher Ämter gemeint ist - widerspricht allerdings der ersten Definition nur dann, wenn unterstellt wird, daß es Demokratien gebe, die a priori 50 Prozent oder weniger der mündigen Bürger den formalen Zugang zu öffentlichen Ämtern bzw. das Wahlrecht verweigern. Gemessen an der ersten Definition, wäre eine solche Staatsordnung aber keine Demokratie. Kurz gesagt: Michels' erste demokratietheoretische Begriffsoperation ist logisch inkonsistent. Auch im weiteren Verlauf der Argumentation wird der Leser auf der Suche nach dem Demokratiebegriff des Autors schnell verzweifeln. Theoretische und empirische Beobachtungen wechseln sich ab. Mal wird das „Prinzip der Mehrheit" herangezogen, 94 mal werden die Federalist Papers mit ihrer Unterscheidung zwischen Demokratie - als unmittelbarer Volksherrschaft - und Republik - als repräsentativer Volksherrschaft zitiert, dann auf die Schweiz Bezug genommen, deren „unmittelbarer Demokratie" attestiert wird, daß sie „mit Zuhilfenahme des Repräsentativsystems" arbeite. 95 Später wird wieder mit Rousseau behauptet, daß es eine wahrhafte Demokratie nicht geben kann, weil die große Zahl nicht über die kleine herrschen können. 96 Demgegenüber wird an anderer Stelle wiederum die formale Zugangsgleichheit zu öffentlichen Ämtern als Wesensmerkmal der Demokratie betont: „Das demokratische Parteiprinzip garantiert der größtmöglichen Zahl Einfluß und Teilnahme an der Verwaltung der gemeinsamen Sache. Alle sind wahlberechtigt. Alle sind wählbar." - mit dem interessanten Zusatz, daß die allgemeine Wählbarkeit wörtlich genommen nur in der noch unstrukturierten Ursprungsphase politischer Bewegungen, wenn sich also noch keine feste Führungsstruktur herausgebildet habe, empirische Gültigkeit beanspruchen könne. 97 Im Widerspruch damit wird andernorts das Prinzip des elektoralen Machtwechsels als Kennzeichen der Demokratie ausgegeben und die prinzipielle Gültigkeit der allgemeinen Wählbarkeit auch für die moderne Parteiorganisation behauptet: „Ein inhärentes Kennzeichen der Demokratie besteht darin, daß unter ihrem Szepter ein jeder den Marschallstab im Tonister trägt.98 Die Masse ist stets unfähig zu herrschen, aber jeder einzelne in ihr ist dazu fähig, sobald er die erfor-

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PS 11, S. 2.; PS 89, S. 2. PS 11, S. 3. PS 89, S. 26-27. PS 89, S. 369. PS 89, 32. In PS 89, S. 180, heißt es leicht variierend: „[...] unter ihrem Szepter ein jeder ein unwiderrufliches Anrecht auf alle in ihr verfügbaren Stellen besitzt."

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derlichen guten wie schlechten Fähigkeiten dazu besitzt, um sich über sie emporzuheben und in die Reihe der Führer aufzurücken." 99 Die Unmöglichkeit der direkten Herrschaft der großen Zahl tangiert hier den Demokratiebegriff nicht im geringsten, der sich vielmehr mit dem Postulat begnügt, daß J e d e r einzelne" bei geeigneter Qualifikation Führungspositionen anstreben könne. Eine weitere Facette in Michels' Sammelsurium von Demokratiebegriffen ist die Demokratie als Tugend und Geisteshaltung, als Bereitschaft zur Kritik und Kontrolle des Führungspersonals. 100 Hierauf wird zurückzukommen sein. Gewiß erhebt sich an dieser Stelle die Frage, warum Michels in seinem Hauptwerk entgegen früherer Gepflogenheiten den Demokratiebegriff überhaupt plötzlich auch mit Rousseau dekliniert. Etwa aus der epistemologischen Not, die Affinität der repräsentativen Demokratie zur Oligarchie am deutlichsten aus der systematischen Perspektive eines etymologischen' Demokratiebegriffs in den Blick zu bekommen? Das ist nicht auszuschließen. Weit naheliegender ist es aber, den Kontext des damaligen akademischen Wissens, des zeitgenössischen , state of the art' dafür verantwortlich zu machen. Rousseaus etymologisch adäquate Konzeption von „Volksherrschaft" war nun einmal deflatorisch akademischer Standard. Dieser klassische Demokratiebegriff befand sich zwar um 1900 in einer Krise, in deren Folge er seine Verbindlichkeit für die politische Theorie einbüßen sollte. Aber all die theoretischen Renovierungsarbeiten in der Demokratietheorie von Mosca bis Schumpeter haben zunächst einmal noch die „Herrschaft durch das Volk" zum Ausgangspunkt gehabt, um von diesem zu einer realistischeren Sicht auf die Demokratie zu gelangen. Im zweiten Teil meiner Analyse der Parteiensoziologie werde ich am Vergleich mit der Soziologie Ludwig Gumplowicz' zeigen, daß die Konfrontation der Rousseauschen Norm mit der oligarchischen Wirklichkeit von Demokratie zum Standard des sozialwissenschaftlichen Diskurses im fin de siècle gehörte. Der Rousseau-Bezug in der Parteiensoziologie ist nicht Ausdruck eines - enttäuschten - politischen Glaubensbekenntnisses. Die Tatsache, daß dieser Bezug erst im Kontext der Turiner Studien - und nicht vorher! - von Michels hergestellt wird, ist vielmehr ein Indikator für die Akademisierung seines Denkens. Wenn man schon von ,Enttäuschung' sprechen möchte, dann im Hinblick auf Michels' desillusionierende und schonungslose Darstellung der oligarchischen Wirklichkeit in demokratischen Parteien. Von dieser sozialpädagogisch motivierten Enttäuschungsabsicht zeugt auch der zweite Teil in Michels' Argumentation, der auf die ,psychologischen' Sinnverkehrungspotentiale der Demokratie eingeht.

99 PS 11, S. 174. 100 Vgl. u. a. PS 11, S. 390; PS 89, S. 375.

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1.7. Die Genese des oligarchischen Geistes aus der Interaktion von Massen- und Führerpsychologie Die Oligarchisierung vollendet sich erst in der Komplettierung der aufgaben- und kompetenzdifferenzierten Organisationsstruktur durch die „Psychologie": den „oligarchischen Geist": „Was die Bedürfhisse der Organisation, Administration und Strategie beginnen, wird vollendet durch die Bedürfhisse der Psychologie."101

1.7.1. Psychologische Metamorphose, Parteidisziplin und Gewohnheitsrecht auf Delegation Michels ist von , Verrats ' - Vorwürfen gegenüber der Führerschaft weit entfernt, wenn er seinen vielzitierten Satz schreibt: „Die Revolutionäre der Gegenwart sind die Reaktionäre der Zukunft." 102 Dafür, daß diejenigen, die den Marsch durch die Institutionen erfolgreich mit einem politischen Mandat oder einer Funktionärsstelle im Parteiapparat abschließen, nicht mehr die sind, die sie mal waren, macht Michels nicht die Gesinnung, sondern das „Gesetz der psychologischen Metamorphose" verantwortlich, das gewissermaßen hinter dem Rücken der Akteure wirkt und deren „psychische Transmutation" einleitet.103 Indem er psychologisch' argumentiert, vermeidet Michels eine moralische Aufladung der Oligarchiethese mit Schuldzuschreibungen an die Gesinnung der Akteure:104 „Sind aber die neuen Führer an ihr Ziel gelangt, d. h. ist es ihnen gelungen, im Namen der verletzten Rechte der anonymen Masse die hassenswerte Tyrannis ihrer Vorgänger zu stürzen, und haben sie nunmehr selbst die Stellen, die ihnen den Besitz der Macht verleihen, eingenommen, so geht in ihnen jene Umwandlung vor, an deren Endpunkt sie, wenn nicht in der Form, so doch der Substanz nach, den entthronten Tyrannen ähnlich sehen wie ein Haar dem anderen."105 Die Charakterdisposition des Politikers ist relativ nebensächlich: ob „Idealisten" oder „Ehrgeizlinge", unterliegen sie gleichermaßen „allen Gelüsten des Machtbesitzes": „Jedes Machtbewußtsein verleiht Großmannsdünkel, und Herrscherqualitäten - je nachdem gute oder schlechte - schlummern in jedes Menschen Brust [...] Das Bewußtsein vom

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PS 11, S. 193; PS 89, S. 200. PS 11, S. 192; PS 89, S. 196. PS 11, S. 197. Auch hierin drückt sich einmal mehr der Einfluß der positivistischen Kriminalistik auf Michels' Denken aus.Vgl. das Kapitel III.2.2. über die Lombroso-Schule. 105 PS 11, S. 191-192; PS 89, S. 196. Die Berliner Tageszeitung „taz" hat diesen Vorgang in ihrer Ausgabe am Tag nach der Bundestagswahl 1998 sehr schnell antizipiert - mit dem genialen Aufmacher: „Kohl heißt jetzt Schröder".

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eigenen Wert und die Einsicht vom Führungsbedürfnis der Masse konvergieren und haben die Wirkung, im Führer die Herrschernatur zu wecken."106 Die daraus resultierende Tendenz der Führerschaft, sich vom Willen der Basis unabhängig zu machen, geht einher mit einer psychischen Entfremdung des arrivierten Politikers vom Ursprungsmilieu der Bewegung und von ihren ethischen Prinzipien. Dies gilt insbesondere für die Aufsteiger aus dem Arbeitermilieu, welche die „Klassenerhöhungsmaschine"107 SPD von Handarbeitern in Kopfarbeiter verwandelt, vom Ursprungsmilieu entfremdet und verbürgerlicht hat: „Sie richten sich in den bestehenden Verhältnissen ein, ja söhnen sich mit ihnen aus. Was interessiert sie das Dogma von der sozialen Revolution? Sie haben ihre eigene bereits durchgeführt." 108 Eine normative Kraft entfaltet auch die tägliche Arbeit der Parteifunktionäre und Politiker: Sachzwänge, Spezialfragen und Kompromisse prägen die Logik ihres Handelns und führen zur Verwässerung und permanenten Revision des Programms in der Praxis. Die „Anschauungswelt" des Politikers erfahrt eine nahezu „völlige Transformation": „Der Führer hält die eigene Umwandlung dann bloß für den Reflex der Umwandlung der Umwelt. Da scheint es ihm, daß die Zeiten anders geworden seien und eine neue Taktik, eine neue Theorie erfordern. Der Reife der Zeit müsse eine größere Reife des Urteils entsprechen."109 Korrekturen zu dieser Entwicklung lassen sich nur von der Kritik und Kontrolle der Basis erwarten, die mit dem technischen Mittel der Wahl und Abwahl ihrer Führer die Bildung von Oligarchien sowie eine unerwünschte Verletzung des normativen Anspruchs durch Entscheidungen auf der Führungsebene ja theoretisch durchaus verhindern und abstrafen kann. Michels hat die Intervention der Basis auch ausdrücklich als revitalisierendes Moment demokratischer Praxis hervorgehoben und betont, daß es „im Wesen der Demokratie" liege, „die geistige Fähigkeit zur Kritik und zur Kontrolle im Einzelnen zu stärken und anzuspornen."110 Die Praxis demokratischer Parteien verläuft dagegen meist in anderen Bahnen und dementiert ihre herrschaftstheoretische Legitimitätsgrundlage: „Jede neue oppositionelle Strömung in der Partei wird als Demagogie zu diskreditieren versucht, der direkte Appell mit der Parteiherrschaft unzufriedener Elemente an die Massen [...] wird, trotzdem er unzweifelhaft als das Grundrecht aller Demokratie anzusehen ist, als unschicklich verworfen oder gar als Einmischung oder boshafter Versuch der Untergrabung der Parteidisziplin und Verhetzung gebrandmarkt [...] Das Zauberwort, mit dem mächtige Führer von jeher ihnen lästige Erscheinungen bannten, heißt: das Gesamtinteresse. Mit besonderem Eifer

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PS PS PS PS PS

89, 89, 89, 89, 11,

S. S. S. S. S.

204. 268. 290; PS 11, S. 293. 206; ähnlich PS 11, S. 200. 390; PS 89, S. 375.

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

werden militärische Argumente benutzt. 111 Es wird dafür eingetreten, daß die Geführten schon aus taktischen Gründen - zur Wahrung der nötigen Kohäsion vor dem Feinde - unter keinen Umständen den Glauben und das Vertrauen zu ihren selbstgegebenen Führern verlieren dürften." 112 Der Geist des Parteiwesens, das die Stärke in der Einheit und Einmütigkeit sucht, neigt zum permanenten Verstoß gegen das Grundrecht der Demokratie auf personelle und sachliche Alternativen. „Rede- und Gedankenfreiheit" sind in der „kriegstüchtigen Demokratie" streng limitiert, stattdessen anvancieren Disziplin, Unterordnung und Einmütigkeit zur v o n der Führung vielbeschworenen Tugend, zu „Postulaten des Parteiwesens an sich". 113 Die Stillhaltemanöver gegen aufmüpfige Parteiminderheiten

111 In diesem Punkt ist Michels gewiß revisionsbedürftig. Heute wird der Appell an die „Parteidisziplin" weniger mit Metaphern aus dem Militärwesen, sondern eher aus dem Fußballsport illustriert: Die Logik des „Mannschaftsspiels" erlaube demnach Einzelaktionen nur in einem limitierten und „mannschaftsdienlichen" Ausmaß. „Teamgeist" sei gefordert, was vor allem heißt: Den Anweisungen des „Team-Chefs" bzw. des „Spielführers" ist zu folgen. Eine interessante Variation dieser Fußballmetaphorik pflegte der bayrische Ministerpräsident Edmund Stoiber auf dem Dresdner CDU-Parteitag am 4. Dezember 2001. Da es zu diesem Zeitpunkt noch keinen „Spielführer" der Union für den Bundestagswahlkampf 2002 gab und die Parteiführung eine Abstimmung über den Kanzlerkandidaten um jeden Preis vermeiden wollte, weil in diesem Fall ein Parteichef - Merkel oder Stoiber - durch ein demokratisches Votum demontiert worden wäre, unterstrich Stoiber die Bedeutung eines geschlossenen Mannschaftsspiels, da es eben auf das Team ankomme und nicht so sehr auf den Kanzlerkandidaten, der alleine doch machtlos sei. Das klang, zumal Stoiber selbst potentieller Kandidat war, bescheiden und wie eine Reverenz an die ganze Partei. In Wahrheit äußerte sich hier derselbe autoritäre Geist, den Michels 1911 unter die Lupe genommen hat. Bedeuteten die Worte Stoibers doch nichts anderes, als daß der Parteitag über das Thema schweigen und akzeptieren möge, daß die beiden Vorsitzenden von CDU und CSU allein die Kandidatenfrage klären werden. Das sei das verabredete „Verfahren". Die Delegierten folgten diesem Appell. Ein Antrag auf offene Diskussion über die Modalitäten der Kandidatenkür wurde zurückgezogen. Der tatsächliche Verlauf der Kandidatenkür in den folgenden Wochen dementierte dann jeglichen Anspruch an ein „Verfahren": Führende Politiker aus der Fraktion und den Landesverbänden der Union sendeten tagtäglich in den Medien Signale ihrer Präferenz aus und das daraus sich entwickelnde Medien-Echo entschied die „K-Frage" zuungunsten Angela Merkels, die vorzeitig ihren Verzicht erklären mußte. Was damals fast niemand wußte: Merkel hatte mit Stoiber den Vorsitz der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für sich ausgehandelt, obwohl der amtierende Fraktionsvorsitzende Merz damals von niemanden in Frage gestellt wurde, sondern die volle Zustimmung der Fraktion hatte. Merkel aber wußte, daß die Fraktion nach einer Niederlage Stoibers gegen diesen fait accompli keinen Widerstand mehr leisten (können) würde. Das so errungene Doppelamt von Partei- und Fraktionsführung machte in der Folge wiederum jede Diskussion über den nächsten Unionskanzlerkandidaten überflüssig alles im Namen des .Mannschaftsspiels'. Demokratische Legitimation können derartige .Verfahren' immer nur nachher, durch die ,Bewährung' erlangen. Ihr Entstehungskontext ist im Michelsschen Sinne oligarchisch. 112 PS 89, S. 215; PS 11, S. 212. 113 PS 89, S. 185.

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befördern dabei aber keineswegs die Macht der Mehrheit. Im Gegenteil: „Die Geschichte der parlamentarischen Fraktionen besteht aus einer Kette gebrochener Parteitagsbeschlüsse."1 14 Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen ist die Stabilität einer theoretisch doch jederzeit abwählbaren Führerschaft ein Rätsel. Demokratische Herrschaft, so scheint es, nähert sich mit der Zeit dem Typus der traditionalen Herrschaft. So habe sich in der Sozialdemokratie ein „Gewohnheitsrecht der Führer auf Delegation"115 eingeschlichen. „Die einmal Delegierten bleiben [...] ununterbrochen im Amte. Aus der Wahl für einen bestimmten Zweck wird eine Anstellung auf Lebenszeit. Die Gewohnheit wird zum Recht. Der Führer, der eine Zeitlang regelmäßig delegiert wird, beansprucht schließlich die Delegation als sein Eigentum."116 Wird den Amtsinhabern dieses Eigentum bestritten, reagieren sie mit einem „machiavellistischen Schachzug" und reichen die Demission ein, „eine demokratisch schöne Geste, die den autoritären Geist, aus dem sie geboren, nur schlecht verbirgt. Wer die Vertrauensfrage stellt, setzt seine Karte scheinbar auf das Zutrauen der Geführten, übt aber in der Mehrzahl der Fälle, indem er das ganze Schwergewicht seiner wirklichen oder vermeintlichen Unentbehrlichkeit in die Waagschale wirft, einen Druck auf sie aus, dem sie sich fügen müssen." Die Demissionsdrohung werde besonders häufig bei drohenden unliebsamen Parteitagsbeschlüssen angewendet und ende fast immer mit der Bestätigung im Amt. Offiziell soll sie den Kontakt zwischen Führern und Masse wahren, in ihrer Wirkung sei sie aber „nur eine oligarchische Demonstration zur Abschüttelung des Massenwillens."117 Die Vertrauensfrage läßt sich freilich nicht von jedem beliebigen Führer zum Machtinstrument umfunktionieren. Er muß dazu „tatsächlich oder doch im Bewußtsein der Menge Unentbehrlichkeitswert" besitzen.118 „Das heißt mit anderen Worten", fügt Michels 1925 hinzu, „daß nur der tüchtige Führer sich ihrer bedienen kann."119 Wie wenig

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PS89, S. 138/139. PS 89, S. 42; PS 11, S. 44. PS 11, S. 44-45. PS 89, S. 44-45; PS 11, S. 47-48. PS 11, S. 45. PS 89, S. 42. Als der Bundeskanzler Gerhard Schröder im November 2001 erstmals in der Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik die Vertrauensfrage nach Art. 68 GG mit einer Abstimmung in einer Sachfrage (Bereitstellung deutscher Soldaten für den Anti-Terror-Krieg der USA) verknüpfte, mag das verfassungspolitisch ein Novum gewesen sein. Historisch dagegen ist die Vertrauensfrage fast immer an eine Sachfrage geknüpft, in der der Amtsinhaber befürchten muß, daß ihm das eigene politische Lager die Gefolgschaft verweigert. Durch Schröders direkte Verknüpfung der Vertrauensfrage mit dem Einsatz deutscher Soldaten (die Bundestagsabgeordneten hatten nur eine Stimme, mit der sie über beide Fragen gleichzeitig abstimmen mußten), kam freilich um so plastischer der Sinn der Vertrauensfrage zum Ausdruck, der nach Michels darin besteht, „der Masse Herr zu werden" und ihr einen bestimmten Willen aufzuzwingen. In diesem Fall standen die Abweichler aus den Reihen der Grünen und vom linken Flügel der SPD vor einem Dilemma: hätten sie an ihrer antimilitaristischen Position festgehalten, hätte das den Bruch der rotgrünen Koalition zur Folge gehabt und möglicherweise auch das von vielen Kommentatoren prognostizierte Verschwinden der Grünen aufgrund mangelnder .Regierungsfähig-

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

ernstgemeint die Rücktrittsoption in der Vertrauensfrage gemeint ist, zeigt sich in der Geschichte der Demokratie bis zum heutigen Tag: ob Kanzler oder Parteivorsitzender, hier nimmt keiner freiwillig den Hut. Was es in der Politik garantiert nicht gibt, ist eine „Kunst der Abdankung." 1 2 0 In aller Regel treten Politiker v o n ihren Führungspositionen erst dann zurück, w e n n sie nicht mehr zu halten sind und ein Verbleiben im Amt eine Delegitimierung der gesamten Organisation zur Folge hätte. D a s demokratietheoretische Skandalon der Stabilität des Führertums und der schleichenden Transformation v o n politischen Ämtern in persönliche Erbdomänen ist eine Medaille mit z w e i Seiten. D e m Machtwillen, dem berufspolitischen Kompetenzvorsprung und dem taktischen Geschick des Amtsinhabers korrespondieren Verhaltensweisen und Einstellungen der Basis, die Michels mit dem Begriff der Massenpsychologie belegt. 1 2 1

keit' nach sich ziehen können. Einen ähnlichen Umgang mit dem politischen Bündnispartner wie Gerhard Schröder hat offenbar König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen mit den damaligen Liberalen gepflegt. Immer wenn diese sich zu eigensinnig zeigten, drohte er mit seiner Abdankung und seinem designierten Thronfolger: dem als ultra-reaktionär geltenden Prinzen Wilhelm von Preußen (PS 1925/89, S. 43). Hier wie dort wurde die Zustimmung zu einer konkreten Sachfrage mit der Drohung eines Politikwechsels verbunden. 2001 stimmten die Antimilitaristen aus SPD und Grünen nicht zuletzt deshalb entgegen ihrer Überzeugung für den Militäreinsatz, weil sie ein aus ihrer Sicht schlimmeres Übel - einen Koalitionswechsel und ggf. die Regierungsbeteiligung der FDP - verhindern wollten. Nur dreieinhalb Jahre später hat ironischerweise derselbe Bundeskanzler eine negative Vertrauensabstimmung inszeniert, um Neuwahlen herbeizuführen, die ihm letztlich vorzeitig das Amt gekostet haben. In beiden Fällen erwies sich die Vertrauensfrage als das von Michels beschriebene pseudodemokratische Instrument, mit dem eine kollektive Entscheidung regelrecht erzwungen wurde; 2005 mit der paradoxen Folge, dass Koalitionsabgeordnete, die Schröder das Vertrauen aussprachen, ihm de facto das Vertrauen (in seine Neuwahlstrategie und damit in seine Fühlungskompetenz) entzogen, während die große Mehrheit, die ihm formal das Vertrauen verweigerte, damit ihr Vertrauen in Schröders Führungskompetenz zum Ausdruck brachte; zumindest in der offiziellen Sprachregelung der SPD. Was Michels in diesem Zusammenhang allerdings übersieht, ist die sachlich zuweilen alternativlose Disziplinierungsfunktion der Vertrauensfrage bei instabilen politischen Verhältnissen und Mehrheiten: so war die Vertrauensfrage, die der italienische Ministerpräsident Prodi im Januar 2008 verloren hat, bereits seine 32. (zweiunddreißigste!) in einer gerade 20 Monate währenden Amtszeit. 120 Vgl. Mathias Meyer, Die Kunst der Abdankung. Neun Kapitel über die Macht der Ohnmacht, Würzburg 2001. 121 Im folgenden werde ich mich begriffstechnisch weitgehend an die Textvorlage halten und den Begriff ,Masse', um der Einfachheit der Darstellung willen, weitgehend übernehmen. Zur Geschichte und Semantik des Begriffs vgl. Timm Genett, Angst, Haß und Faszination. Die Masse als intellektuelle Projektion und die Beharrlichkeit des Projizierten, in: npl 2/1999, S. 193-240.

VI. 1. Die Sinnverkehrungsgefahren der Demokratisierung

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1.7.2. Massenpsychologie ,J)ie Gunst der Menge. Heute feiert man Sankt Michel um die Wette, weil einst im Himmel er den Teufel schlug. Doch wenn der Teufel ihn geschlagen hätte, man feierte den Teufel nie genug! (nach dem Piemontesischen des Brofferio)".122

In seinem Hauptwerk tritt Michels' Beschäftigung mit dem Massen-Thema in seine zweite Phase:123 Indem er seine sozialdemokratischen Parteierfahrungen in eine soziologische Parteitheorie überführt, entkoppelt er den Masse-Begriff von den aufklärungsoptimistischen Konnotierungen der ersten Phase und bemüht sich nach eigener Einschätzung um einen ,vorurteilslosen' Blick auf die Faktizität des Masseverhaltens. Der Umstand, daß er dabei unter anderem auch Anleihen bei Gustave Le Bons „Psychologie der Massen" macht, hat ihm den Vorwurf eingetragen, daß er einer neuen Vorurteilsstruktur aufsitze: tatsächlich droht das Erfahrungssubstrat seiner Parteitagserfahrungen in massenpsychologischen Axiomen von der .ewigen Masse' zu verschwinden, die angetan sind, das Projekt der Aufklärung und Emanzipation zu diskreditieren. Dennoch zeigt eine detaillierte Analyse der Parteiensoziologie, daß sie ein Werk des Übergangs ist, das noch vom Ansatz einer historischen, d. h. nicht-naturgesetzlichen Sozialpsychologie profitiert und der „Sozialpädagogik" keineswegs die Türen verschlossen hat. Wie also erklärt sich aus dem Verhalten der Mitgliederbasis („Masse") das Skandalon der Demokratie, daß in ihr politische Ämter zur festen Anstellung werden und daß in ihr selbst der alte Gedanke von der Vererbung der politischen Macht, d. h. die Bestimmung des nachfolgenden durch den amtierenden Führer, eine Renaissance erlebt?124

122 Michels, [Die Gunst der Menge], Loseblatt in den Appunti di Roberto Michels, ARMFE. Der zitierte Dichter dürfte Angelo Brofferio (1802-1866) sein, ein Freimaurer und Vertreter des bürgerlichen Radikalismus aus dem Piémont. 123 Die erste Phase von Michels' Rezeption massenpsychologischer Denkweisen fallt in die Zeit seines sozialistischen Engagements und wird namentlich durch die positivistische Kriminalistik der Lombroso-Schule beeinflusst. Die Beschäftigung mit der ,Masse' folgt in diesem Kontext zwar einem verkappten Elitismus. Das Leitmotiv dieses Elitismus ist aber die sozialpädagogische Hebung des Massenniveaus, ihre Erziehung zu Autonomie und Selbstbewußtsein (Vgl. das Kapitel III). In dieser ersten Phase (1900-1907) thematisiert Michels zwar zunehmend das drohende Scheitern der Massenemanzipation und die Verwandlung der Masse vom geschichtsphilosophischen Zivilisierungsagenten und sozialdemokratischen Aktionsbegriff in ein Disziplinierungsobjekt der Parteiraison, hält aber noch in seiner Polemik mit Casalini am progressiven Massenbegriff und an der Wünschbarkeit und Möglichkeit einer demokratischen Pädagogik fest. (Vgl. das Kapitel V). 124 Die CDU der späten Kohl-Jahre liefert uns das Beispiel des vom Parteichef und damaligen Bundeskanzler Kohl designierten Nachfolgers Wolfgang Schäuble. In diesem Fall wurde aber nicht nur die Tatsache der Nachfolgeregelung von oben nicht in Frage gestellt. Die Partei verzichtete auch darauf, wenigstens den Zeitpunkt der Nachfolge mitzubestimmen, der von Kohl recht nebu-

VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

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Die Dankbarkeit der Masse Die Traditionalisierung des Führertums, die Verlängerung des Mandats oder Übertragung von Ämtern bis zur Lebenslänglichkeit, nutzt für sich die Ressource der „Dankbarkeit der Masse" gegenüber altgedienten Politikern, die ihr Leben ganz der Partei gewidmet haben. „Es ist eine in den Massen vielfach verbreitete Auffassung, es würde ,undankbar' sein, einen ,altverdienten' Führer nicht stets von neuem wieder in seiner Funktion zu bestätigen."125 Diese Stimmung der Dankbarkeit wird zwar auch durch Biographien, Memoiren und eine auf die ,großen Männer' zentrierte Parteigeschichtsschreibung und -propaganda unterstützt und gefordert.126 Aber Michels macht für dieses Phänomen weniger Manipulation verantwortlich, sondern bemerkt ausdrücklich die „ehrliche Dankbarkeit, die als eine heilige Pflicht aufgefaßt wird."127 Wie auch immer sich dieses Phänomen erklären mag: „Dankbarkeit ist ein treffliches Herrschaftsmittel, ein ausgezeichneter Boden für weitgehende Forderungen."128 Daß er in seinen knappen Ausführungen hier freilich weniger ein Forschungsresultat als vielmehr ein Forschungsdesiderat formuliert, gibt Michels zu: „Die Rolle, welche die Dankbarkeit in der Politik der großstaatlichen Verbände gespielt hat, harrt noch der Würdigung."129 Das Führungsbedürfnis der Masse Von unmittelbarer Evidenz - und meines Erachtens Michels' stärkstes ,massenpsychologische' Argument - ist eine zweite Facette im Massenverhalten: das „Führungsbedürfnis der Masse".130 Damit ist zunächst nicht der vermeintliche und im zeitgenössischen massenpsychologischen Diskurs vielzitierte ,Herdentrieb' der politischen Götzenanbetung gemeint, sondern der weit verbreitete Unwille zur politischen Partizipation: „Es ist keine Übertreibung, die Behauptung aufzustellen, daß die Zahl deijenigen mit staatsbürgerlichen Rechten versehenen Männer, in denen ein ausgesprochenes Interesse am Gemeinwohl wach ist, eine geringe Höhe erreicht. Bei der Mehrzahl ist der Sinn für die inneren Zusammenhänge zwischen dem Wohl des Einzelnen und dem Wohl des Ganzen nicht stark ausgebildet."131

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lös auf die Zeit nach der Bundestagswahl 1998 terminiert worden war. Schäuble wurde so durch ,äußere Umstände' Parteivorsitzender - nachdem die Wähler den „Kanzler der Einheit" im September 1998 abgewählt hatten und Kohl vom Parteivorsitz zurücktrat. PS 11, S. 62. PS 11, S. 61. PS 11, S. 62. PS 89, S. 55. PS 89, S. 55. PS 11, S. 48f.; PS 89, S. 46f. PS 11, S. 49; PS 89, S. 46. Daran hat sich nicht viel geändert: Bei Befragungen in den EGStaaten zwischen 1983 bis 1990 etwa gab nicht einmal jeder zweite an, sich für Politik überhaupt

VI. 1. Die Sinnverkehrungsgefahren der Demokratisierung

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Das geringe Interesse am Gemeinwesen spiegele sich auch im Parteiwesen wider. Die lokalen Parteiversammlungen veröden: „Die Mehrzahl der Organisierten bringt der Organisation dieselbe Gleichgültigkeit entgegen wie die Mehrheit der Wählerschaft dem Parlament."132 Nur eine verschwindende Minderheit ist bereit, an politischen Entscheidungen zu partizipieren. Die im Namen der Partei gefällten Beschlüsse sind in der Regel das Werk einer Handvoll aktiver Mitglieder. Nur wenn der Auftritt eines berühmten Redners, sensationelle Themen oder allgemeine Bildungsvorträge mit Lichtbildern - zum Beispiel über „Nordpolforschung, Körperhygiene, Spiritismus" - angekündigt werden, füllt sich der Saal.133 Mit Blick auf die „weitverzweigte Arbeitsteilung des heutigen Kulturlebens sowie [...] die immer größere werdende Unübersichtlichkeit des politisch-staatlichen Geschäftes mit seinem komplizierten Mechanismus" und die „unüberbrückbaren Unterschiede in der formalen Bildung" vermutet Michels eine „anwachsende dynamische Tendenz" des Führungsbedürfhisses, das in diesem Fall Ausfluß struktureller Grenzen des involvement' der Basis sowie ihrer „Interesselosigkeit"134 ist. Die weitgehende politische Abstinenz, der auf Unlust, Überforderung der Urteilskraft sowie soziostrukturellen Zwängen der Arbeitsgesellschaft beruhende Verzicht auf Partizipation, verbindet sich in Michels' Analyse dann aber mit massenpsychologischen Momenten im engeren Sinn: „Die Mehrzahl ist froh, wenn sich Männer finden, welche bereit sind, die Geschäfte für sie zu besorgen. Das Führungsbedürfnis, meist verbunden mit einem regen Heroenkultus, ist in den Massen [...] grenzenlos."135 Indem Michels die These vom politischen Desinteresse mit der von der politischen Heldenverehrung verbindet, erlangt der psychologische Ursachenkomplex der Oligarchisierung eine fatale Dimension: nicht nur politische Enthaltsamkeit breiter Schichten ist verantwortlich für die Genese eines stabilen Führertums (die Mehrzahl erwartet geradezu, daß ihre Repräsentanten für sie die Initiative übernehmen136). Auch dann, wenn die Bürger an Politik Anteil nehmen, ist die Modalität dieser Teilhabe dazu angetan, die Führermacht zu festigen und zu steigern. Denn der Stimulus der Anteilnahme ist im allgemeinen nicht die für das demokratische Projekt von Michels als so wertvoll

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zu interessieren! Vgl. Göttrik Wewer, Art. „Demokratie, Demokratisierung", in: Bernhard Schäfers/ Wolfgang Zapf (Hg.), Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, Bonn 1998, S. S. 111-123, S. 119: „Von einer intensiven Anteilnahme der Bevölkerung an der Politik kann in den westlichen Demokratien also generell nicht die Rede sein". PS 11, S. 51; PS 89, S. 48. PS 11, S. 51; PS 89, S. 48. PS 11, S. 53, 55; PS 89, S. 50-51. PS 11, 53; PS 89, S. 50. Vgl. hierzu Sofsky/Paris, Figurationen, S. 168f.: „Ein Stellvertreter soll handeln und nicht in Trägheit versinken. Agiert die Menge selbst, reicht ihr ein Sprachrohr, verfallt sie jedoch in Agonie, so hat der Tribun weiterzuhandeln. Er soll ihre Passivität überwinden und sie zu neuen Aktionen anspornen. Die Menge verlangt selbst von ihm, daß er sich von ihr emanzipiert und sich ihr entgegenstellt."

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

hervorgehobene Tugend der Kritik und Kontrolle, sondern vielmehr das „Verehrungsbedürfiiis der Masse". 137 Das Verehrungsbedürfnis der Masse Politische Ordnungen, so Michels im Anschluß an den englischen Sozialanthropologen Frazer, werden durch den Aberglauben der Massen zusammengehalten. „Meist verharrt die in den Geführten lebendige Verehrung der Führer in latentem Zustande, d. h. sie manifestiert sich in nur dem Feinhörigen perzeptiblen Symptomen, wie dem ehrfurchtsvollen Ton, in welchem der Name des Verehrten ausgesprochen, der Unbedingtheit, mit der seinem Worte gefolgt, der Entrüstung, mit der jeder Zweifel an ihm zurückgewiesen wird. Bei besonders hervorragenden Persönlichkeiten und in Momenten höherer Spannung schlägt die latente Inbrunst aber in lauten Paroxysmus um. Die warmblütigen Rheinländer empfingen Lassalle im Jahre 1864 wie einen Gott: über die Straßen waren Girlanden gespannt. Ehrenjungfrauen überschütteten ihn mit Blumenregen. Ganze Wagenkolonnen folgten der Karosse des Präsidenten. Allgemeiner, nicht enden wollender, uneingeschränkter Jubel beantwortete die in mehr als einer Hinsicht merkwürdigen, die Kritik geradezu herausfordernden und von eitelstem Charlatanismus strotzenden Ausführungen des Triumphators. Denn es waren wirklich Triumphzüge." 138 Verweise auf die postreligiösen Aspirationen formal mündiger Bürger, die offensichtlich mental noch nicht ins aufgeklärte Zeitalter eingetreten sind, finden sich in Michels' Phänomenologie - das ist sie ja viel eher als eine strenge Psychologie - des Massenverhaltens häufig. Ganz im Gegensatz zu der naturalisierenden Semantik, mit der Michels sich immer wieder an den zeitgenössischen Diskurs über die ,ewige' Masse anlehnt, fließen dabei allerdings Überlegungen ein, die eine eher mentalitätsgeschichtliche Deutung der Führeranbetung nahelegen und Mentalitäten als Gefangnisse der „longue durée" (Braudel) 139 begreifen: „Große Ereignisse gehen an ihr [der Masse] vorüber, wirtschaftstechnische Revolutionen vollziehen sich, ohne daß ihre Psyche wesentliche Veränderungen erlitte. Erst nach Ablauf geraumer Frist beginnt sie sich zu regen und die neuen Bedingungen auf sich einwirken zu lassen." 140 Zwischen sozialstrukturellem Wandel und geistigen Innovationen einerseits und ihrer mentalen Auswirkung andererseits besteht oft eine epochale Kluft. Das überzeugendste Beispiel für diese These ist für Michels nach wie vor Deutschland:

137 PS 11, S. 62ff., PS 89, S. 57ff. 138 PS 11, S. 64; PS 89, S. 58. 139 Vgl. Fernand Braudel, Geschichte und Sozialwissenschaften - Die „longue durée", in: HansUlrich Wehler (Hg.), Geschichte und Soziologie, Königstein/Ts. 1984, S. 189-213. 140 PS 89, S. 222; (PS 11, S. 220).

VI. 1. Die Sinnverkehrungsgefahren der Demokratisierung

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„Daher werden selbst die politisch zurückgebliebensten, die rechtliche wie sittliche Entwicklung der Masse der Bevölkerung am meisten hemmenden Zustände von ihr oft Jahrzehnte, ja Jahrhunderte regungslos ertragen. Wirtschaftlich fortgeschrittene Länder bleiben oft ganze Epochen lang unter einem politischen und staatsrechtlichen System weiterbestehen, welches seinem innersten Wesen nach eine frühere Wirtschaftsperiode zur Voraussetzung hat. Den besten Beweis hierfür bildet das Deutschland der Vorkriegszeit [vor 1914], aber ζ. T. auch der Nachkriegszeit [nach 1918], wo dem wirtschaftlich auf das prononzierteste industriekapitalistisch gearteten Inhalt sich die einer bereits vergangenen Wirtschaftsperiode entsprechende feudalaristokratische Form noch immer nicht anzupassen verstanden hat." 141 Die zeitliche Verzögerung des mentalen Wandels bringt es mit sich, daß die politische Vergesellschaftung sich nie ,auf der objektiven Höhe der Zeit' vollzieht - eine Argumentation, die implizit ein progressives Geschichtsbild zur Voraussetzung hat. So steht auf der geschichtsphilosophischen Agenda das aufgeklärte autonome Individuum, das weder himmlische noch irdische Götter kennt. Auf der sozialdemokratischen Bühne dagegen wird die Religion nach ihrem Ende in säkularer Form fortgesetzt: „Unter den Ruinen der alten Anschauungsweise der Massen blieb unversehrt die Siegessäule des Anbetungsbedürfnisses stehen." 142 „Die Massen [...] bedürfen in ihrem primitiven Idealismus weltlicher Götter, denen sie mit desto blinderer Liebe anhängen, je schärfer das rauhe Leben sie anpackt. Es liegt etwas Wahres darin, wenn Bernard Shaw in seiner paradoxen Art die Demokratie im Gegensatz zur Aristokratie, die ein Aggregat von Götzen sei, als ein Aggregat von Götzenanbetern bezeichnet." 143 Die Anbetung geht bis zur Fetischisierung des Führers, der auch schon mal „verprügelt", dann aber wieder als Fetisch eingesetzt wird. 144 Sozialismus wird so zur politischen Religion mit ritueller Praxis: In den sächsischen Arbeiterwohnzimmern ist über dem Sofa das Luther- einem Bebelbildnis gewichen. Findige Geschäftsleute verkaufen auf Arbeiterfesten Karl-MarxLiköre und Karl-Marx-Hosenknöpfe. Die italienische Arbeiterbewegung bringt ihre Jüngsten zur „sozialistischen Taufe".

141 PS 89, S. 222; PS 11, S. 220, unterscheidet sich hier nur darin, daß die Unterscheidung Vor- und Nachkriegszeit selbstverständlich fehlt. Daß Michels die Weimarer Republik nicht als Bruch mit dem Vorkriegsdeutschland empfunden hat, werden wir in dem Kapitel IX. Der Fremde im Kriege erörtern. 142 PS 11, S. 68; PS 89, S. 64. 143 PS 11, S. 67-68; PS 89, S. 58. 144 PS 89, S. 58.

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

1.7.3. Eklektizismus, Historizität und demokratische Fragestellung: Michels' Sonderstellung als ,Massenpsychologe' Mit der Erörterung der Führerverehrung begibt sich Michels vor allem begrifflich viel entschiedener auf das Feld der Massenpsychologie 145 als in seinen ,kryptoelitistischen' Schriften der politisch aktiven Zeit, wo das Thema der politischen Heldenverehrung ebenfalls eine Rolle spielte, allerdings mit einem anderen Zungenschlag. In der ersten Phase dechiffrierte Michels das politische hero-worship explizit als Ausdruck einer Unterentwicklung des Selbstbewußtseins der Herrschaftsunterworfenen. Beim Lesen der Parteiensoziologie hat man dagegen oft den Eindruck, es sei ein through time and space allgemein gültiger Verhaltensmodus. Das liegt an der Semantik der ,ewigen Masse', die nur stellenweise von entwicklungsgeschichtlichen Deutungsmustern durchbrochen wird. Man sollte das die Darstellung dominierende Design des Massendiskurses aber nicht dem Einfluß eines Mannes zuschreiben: Verweise auf Gustave Le Bon finden sich in dem Buch nur an fünf Stellen, als Zitat eines illustrativen Apercu oder aber in Verbindung mit anderen zeitgenössischen massenpsychologischen Beiträgen aus der Feder von Gabriel Tarde, Scipio Sighele oder Ludwig Gumplowicz. Daß die Parteiensoziologie dennoch in der Forschung als maßgeblich von Le Bon beeinflußt gesehen worden ist, dürfte mit Äußerungen von Michels selbst zusammenhängen, der sich etwa in einem Brief an den Franzosen als dessen Schüler und sein Werk als Anwendung der Le Bonschen Massenpsychologie auf das Parteiwesen bezeichnete. 146 Was auch immer ihn dazu bewogen haben mag: es unterscheidet Michels vom massenpsychologischen Diskurs eines Le Bon und anderer, daß er nicht die innere psychische Struktur des Gebildes Masse für den „Heroenkultus" verantwortlich macht, sondern immer wieder auf „historische und völkerpsychologische Momente" zu sprechen kommt. 147 Konsequent massenpsychologisch ist das nicht, denn die Massenpsychologie beansprucht, gesetzesmäßige Verhaltensweisen zu benennen, zu denen jedes Individuum neigt, sobald es sich in einer massenhaften Ansammlung befindet. Eine derartige Argumentation findet sich bei Michels nur dort, wo er anfangs die Unmöglichkeit der direkten Demokratie behandelt und massenpsychologisch begründet, warum das Delegationswesen mit seinen Ausschüssen zur politischen Entscheidungsfindung geeigneter sei als die Volksversammlung:

145 Vgl. auch meine systematische Untersuchung des Michelsschen Massebegriffs im gesamten publizistischen Zeitraum von 1900 bis 1936: T. Genett, Vom Zivilisierungsagenten zur Gefolgschaft. Die Masse im politischen Denken Robert Michels', in: Ansgar Klein/Frank Nullmeier (Hg.), Masse - Macht - Emotionen. Zu einer politischen Soziologie der Emotionen, Opladen/Wiesbaden 1999, S. 116-136. Leider kann ich für diesen Aufsatz nur eingeschränkt die Verantwortung übernehmen, da aufgrund eines Fehlers in der redaktionellen Endbearbeitung auf sinnentstellende Weise auf Seite 132 eine Seite verloren gegangen ist und so Textpassagen unverbunden miteinander,kollidieren'. 146 Vgl. Jaap van Ginneken, Crowds, S. 184. 147 PS 11, S. 53-54; PS 89, S. 51.

VI. 1. Die Sinnverkehrungsgefahren der Demokratisierung

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„[...] die Volksversammlung ist, gerade ob ihrer Eigenschaft als Masse, besonders der Gefahr ausgesetzt, der Macht der Rede gewaltiger Volksredner zu unterliegen und erleichtert somit Überrumpelungen aller Art seitens Einzelner. Die Masse ist leichter zu beherrschen als der kleine Hörerkreis, weil ihre Zustimmung stürmischer, elementarer und bedingungsloser ist und sie, sobald sie einmal suggestioniert ist, nicht leicht den Widerspruch kleiner Minoritäten oder gar Einzelner zuläßt. Das System der Volksversammlung ermöglicht überhaupt keine ernste Aussprache oder Beratung oder erschöpfende Behandlung eines Gegenstandes. [...] Die Menge macht den Einzelnen verschwinden und mit ihm seine Persönlichkeit und sein Verantwortlichkeitsgefiihl."148 Das ist die »klassische' massenpsychologische Argumentation, wie sie von der italienischen und französischen Schule entwickelt worden ist, auf die sich Michels hier auch gleichermaßen beruft. Michels verfahrt mit den Deutungsangeboten der Le Bon, Sighele und Tarde aber selektiv und eklektisch. Die Parteiensoziologie ist daher ein Werk des Übergangs, in dem sich die für Michels frühe Publizistik typischen, einer historischen Sozialpsychologie verpflichteten Beobachtungen mit einem neuen gesetzeswissenschaftlichen Anspruch mischen, wonach soziologische Aussagen Zeitlosigkeit beanspruchen und im Gewände von „ehernen" Gesetzen zu formulieren sind. Was Michels dagegen - nachdem er die Tendenz des Verehrungsbedürfnisses zunächst in den „demokratischen Parteien aller Länder" ausgemacht hat - über die politische Psychologie in Deutschland schreibt, entspringt wiederum einem historischen Erklärungsansatz: „Zumal die Deutschen, das deutsche Proletariat keineswegs ausgeschlossen, besitzen ein besonders stark ausgeprägtes Führungsbedürfhis und sind deshalb, psychologisch genommen, fruchtbarste Muttererde zur Entstehung eines gewaltigen Führertums. Es sind in ihnen alle Vorelemente dazu vorhanden: psychische Prädisposition zur Unterordnung, große Fähigkeit zur Disziplin, kurz, die ganze noch nicht aufgezehrte Erbschaft des preußischen Korporalismus mit allen Vorteilen und Nachteilen. Dazu, und damit zusammenhängend, ein Autoritätsglauben, der oft an Kritiklosigkeit streift."149 Vom gängigen Massendiskurs unterscheidet sich Michels auch darin, daß er sich fragt, ob der die die Amtsinhaber stabilisierende Untertanengeist auch wirklich im wohlverstandenen Parteiinteresse liegt. Das ,under-involvement' der Basis hat ihm zufolge durchaus kontraproduktive Auswirkungen auf die reale Macht und Handlungsfähigkeit der Partei, wenn sie - wie die SPD im Kaiserreich - ständig damit rechnen muß, daß der Staat ihr die Rechtsfundamente ihrer politischen Arbeit entzieht. In solchen Fällen wäre sie darauf angewiesen, was sie sonst tunlichst zu vermeiden sucht: die Mobili-

148 PS 89, S. 29; PS 11, S. 25. 149 PS 11, S. 54; PS 89, S. 51.

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

sierung von öffentlichen Protest und zivilen Ungehorsam. Als aber beispielsweise im „roten Sachsen" 1895 das allgemeine Wahlrecht aufgehoben wurde, scheiterten die sozialdemokratischen Initiativen, eine Wahlrechtsbewegung ins Leben zu rufen, kläglich. „Die Masse, das Volk, blieb völlig gleichgiltig, es hatte nichts von der Erbitterung, dem Zorne, der Aufregung, die uns zum Kampfe trieben", stellte der angesichts des inexistenten „Widerstands des deutschen Volkes bei Wahlentrechtungen" entsetzte Sozialdemokrat Edmund Fischer fest.150 Dabei waren alle Mittel der Agitation - Pressekampagnen, Flugblätter, Protestversammlungen - eingesetzt worden. Michels interpretiert diese Vorgänge als eine fatale Folge der die politische Passivität begünstigenden Praxis in der Partei: „Die Massen empfanden nicht die Bedeutung des Verlustes, den sie erlitten [...] Sie sind so sehr an die Leitung von oben gewöhnt, daß sie erst der Vorbereitung durch die Führer bedürfen, um sich in Bewegung zu setzen. Auf unvorhergesehene Winke der Führer versagen sie."151 Auch diese mit der Macht der Gewohnheit argumentierende Erklärung des Massenverhaltens ist eher einer sozialhistorischen Analyse verpflichtet als einem naturalistischen Begriff der sich ewig gleichbleibenden, rückständigen Masse, wie sie sich in der Massenpsychologie Gustave Le Bons findet. Für den Übergang von der Arbeiterbewegung zur Arbeiterpartei, so läßt sich Michels gerade vor dem Hintergrund seiner pessimistischen Einschätzung der deutschen Sozialpsychologie im allgemeinen lesen, ist ein hoher Preis gezahlt worden. Die fatale Tradition des Untertanengeistes ist nicht gebrochen, sondern innerhalb der Sozialdemokratie konserviert und reproduziert worden.152 Die Eigenart der zweiten Phase des Masse-Themas in Michels' politischer Entwicklung zeigt sich auch im Vergleich zur dritten Phase in den zwanziger Jahren. Von den späteren philofaschistischen Arbeiten zum Masse-Führer-Verhältais153 unterscheidet sich die Parteiensoziologie nämlich auf fundamentale Weise dadurch, daß die Führer als Konstrukt der Massen vorgeführt werden und eine demokratisierende Dekonstruktion des Führerkultes auf den Weg der sozialen Pädagogik der Massen verwiesen wird. Die Gefolgschaft resultiert weder in der ersten noch in der zweiten Auflage des Buches aus den außeralltäglichen, charismatischen Eigenschaften des Führers, sondern die Massen folgen immer dem Produkt ihrer eigenen Wunschvorstellungen: „Die Massen verhalten sich zu ihren Führern häufig wie jener Bildhauer im griechischen Altertum, welcher, nachdem er einen Jupiter Donnergott modelliert hatte, vor seinem eigenen Machwerk auf die Knie fiel, um es anzubeten." In dem Moment, wo die Wunschprojektionen der Vielen

150 Edmund Fischer, Der Widerstand des deutschen Volkes bei Wahlentrechtungen, a.a.O., S. 816. Siehe auch den Vergleich von Fischers und Michels' Kritik am mangelnden Widerstandsgeist der Sozialdemokratie im Kapitel IV.2.7. Warten auf die „faule Revolution". 151 PS 11, S. 56; PS 89, S. 52. 152 Daß die Monopolisierung des Handelns durch die Bevollmächtigten die kollektive Handlungsfähigkeit erodieren läßt, bemerken auch Sofsky/Paris, Figurationen, S. 197: „Konfliktbereitschaft läßt sich auf Dauer nur erhalten, wenn hin und wieder Streitigkeiten tatsächlich ausgefochten werden. Ohne Aktion verliert sich über die Zeit der Wille zur Aktion. Nach und nach räumen die Vertretenen das Feld und überlassen dem Stellvertreter das Handeln." 153 Dieses werde ich in Kapitel X. Michels und der italienische Faschismus näher analysieren.

VI. 1. Die Sinnverkehrungsgefahren der Demokratisierung

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sich im Brennpunkt des Führers bündeln, dynamisiert sich das hero-worship durch die Reaktion des Angebeteten und schraubt es sich in der psychischen Interaktion von Masse und Führer immer höher: „Anbetung aber erzeugt im angebeteten Objekt leicht Größenwahn [...] Die Selbstüberhebung aber wirkt, da sie eine suggestive Macht ausübt, wieder auf die Massen zurück und bildet so durch die erhöhte Bewunderung, die sie inspiriert, ein neues Element der Herrschaft."154 Noch die berauschende, hypnotische Wirkung, die durch die „katonische Überzeugungstiefe", die Intensität, Energie, Selbstsicherheit, den Glauben an sich selbst, auch: den Fanatismus, und nicht zuletzt durch die „oratorischen Talente" wie die Schönheit der Stimme, von einem politischen Redner auf die Masse ausgeht, hat ihren letzten Grund in den Massen selbst, die im Redner einen „Vergrößerungsspiegel des eigenen Ich" sehen. „Ihre Bewunderung und Begeisterung für den Redner wird dann im letzten Grunde zu einer Bewunderung und Begeisterung für die eigene Persönlichkeit, die der Redner dadurch unterstützt, daß er im Namen der Masse, also im Namen jedes einzelnen spricht und zu handeln verspricht. Die Heeresfolge, die die Masse dem großen Redner leistet, entspringt den unbewußten Eingebungen des Egoismus."155 Was Michels in seiner Parteiensoziologie zum Massenthema zu sagen hat, ist insgesamt keine stringente Theorie, sondern eine Phänomenologie kollektiver Verhaltensweisen in der Politik.156 Eine „historisch angewandte Massenpsychologie", 157 die Michels, wie oben gesehen, schon zur Zeit der Erstauflage seiner Parteiensoziologie als Übertragung der Le Bonschen Massenpsychologie auf das Parteiwesen verstanden wissen wollte.158 Man möchte meinen, daß trotz unserer Einwände diese Selbstzuordnung zur französischen Schule durch Michels' spätere politisch-theoretische Optionen für ein autoritäres Ordnungsmodell und dessen Legitimierung durch den charismatischen Führer bestätigt wird. Le Bon hat da ganz ähnliche Vorstellungen gehabt und bereits in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine cäsaristische Lösung befürwortet.159 Diese ,Gemeinsamkeit' liegt indes 1911 nicht vor: Le Bon ist ein Vordenker der autoritären Lösung, Michels wird sich erst in den zwanziger Jahren als ihr Anwalt zu erkennen geben. 1911 dagegen überwiegen die Unterschiede zwischen Le Bon und Michels alle Gemeinsamkeiten, die der massenpsychologische Diskurs so mit sich bringt. Le Bons Problem ist die ordnungsdestruierende rebellische Masse, die seiner Meinung nach einer

154 PS 89, S. 64, PS 11, S. 68 155 PS 89, S. 68, PS 11, S. 71. 156 Wie schon seine Operationen mit dem Demokratie-Begriff verhalten sich die einzelnen kollektiven Verhaltenstypologien logisch inkonsistent zueinander. Das Bild der .irrationalen', emotional leicht verführbaren ,Masse' etwa steht unvermittelt dem Bild der kalkulierenden Basis gegenüber, die das Politikerhandeln offensichtlich kritisch geprüft hat, aber trotz ihrer Unzufriedenheit mit dem leitenden Personal dieses im Amt beläßt, weil sie den Erfolg der Partei nicht gefährden will. Vgl. PS 89, S. 82-83. 157 In seiner Einleitung zur 2. Auflage: PS 89, S. LI. 158 Vgl. hierzu auch Serge Moscovici, Das Zeitalter des Massen. Eine historische Abhandlung über die Massenpsychologie, München 1984, S. 488. 159 Vgl. Helmut König, Zivilisation und Leidenschaft, S. 176.

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Formierung durch den politischen Virtuosen zur Gefolgschaft bedarf. Michels' Gegenstand ist dagegen die organisierte Masse, die im Massediskurs der Zeit eine Sonderstellung einnimmt. Michels' „Masse" ist nicht wankelmütig und launisch - um zwei gängige Attribute des kulturkritischen Massendiskurses à la Le Bon zu nennen, sondern sie ist bereits der Unterpfand der politischen Stabilität. In ihr wirkt der „große konservative Faktor der Tradition."160 Die organisierte Masse revoltiert nicht, sondern garantiert im politischen Leben reibungslose Abläufe, indem sie auf ihr Recht zur Abwahl weitgehend verzichtet und stattdessen bei den Vorstandswahlen die Kooptationswünsche des Präsidiums akzeptiert. Und auch im Wirtschaftsleben zeichnet sie sich durch Disziplin, Gehorsam und Zuverlässigkeit aus: Streiks sind ihre Sache eher nicht, mögen die Arbeitsbedingungen noch so hart sein. Diese organisierte Masse ist in Michels' Parteiensoziologie der Normalfall. Die rebellische Masse ist dagegen der unwahrscheinlichste Fall: „Nur eine Politik der herrschenden Klassen, die in jäher Verblendung den Bogen überspannt", sei imstande, für kurze Dauer „die Parteimassen als aktive Schauspieler auf die Bühne der Geschichte zu treiben".161 Letztere Prognose impliziert, daß es im Verhältnis der politischen Klasse zur „Masse" ein Mindestmaß an Responsivität geben muß, daß also das Hochhalten bestimmter „politischer Formeln" (Mosca) nicht genügt, um sich Gefolgschaft zu sichern. Tatsächlich relativiert Michels, der ja oft als Soziologe der Entfremdung zwischen politischer Klasse und Basis gelesen worden ist und zweifellos auch so gelesen werden kann, die Abgehobenheit der Führung dadurch, daß er ihr im Falle einer zu großen Kluft zwischen Elite und Nicht-Elite eine Erosion ihrer Macht prognostiziert. Anders gewendet: die Stabilität der sozialdemokratischen Führerschaft hat für ihn ihren Grund auch darin, daß man ihr in puncto Responsivität und Repräsentativität ein gutes Zeugnis ausstellen kann: „Für Deutschland konnte man sagen, daß die leitenden Genossen der Partei den Kontakt mit den Massen nie verloren haben [...], daß die Ideengemeinschaft zwischen Führern und Geführten nicht abbrach und der Parteivorstand sowie [...] die parlamentarische Fraktion den Meinungsdurchschnitt der Genossen im Lande repräsentierte."162 Als Faustregel für erfolgreiche demokratische Führung formuliert, heißt dies: „Der alte Führer muß sich [...] jederzeit in Kontakt mit den Gefühlen und Meinungen der Masse halten, denen er seine Stelle verdankt." Ansonsten könnte der „alte Führer" nämlich schon bald eine Abstimmungsniederlage erleiden und gezwungen sein, einem „neuen Führer" seinen Platz freizumachen. In Michels' machtfokussierter Optik ist die responsive' Rücksicht auf die Befindlichkeit der Nichteliten nicht Ausdruck edler demokratischer Gesinnung, sondern die

160 PS 89, S. 97; PS 11, S. 96. 161 PS 89, S. 159; PS 11, S. 156. 162 PS 89, S. 103; PS 11, S. 105-106.

VI. 1. Die Sinnverkehrungsgefahren der Demokratisierung

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ostentative „Verbeugung" vor dem Massenwillen „zumeist nur ein Mittel [...], dem Einfluß des neuen Führers zuvorzukommen". „Demokratische Pflicht" und „oligarchische Vorsichtsmaßregel" sind für ihn im „Hutabziehen vor dem Capriccio der Masse" untrennbar miteinander verwoben. Aber immerhin ist es dieser Stimulus der Machtkonkurrenz, der „Kampf unter den Führern und ihre Eifersucht", der sie „zu erhöhter, häufig etwas künstlicher Tätigkeit" ansporne. Wer als Berufspolitiker seine Stellung behalten möchte, der sei nun einmal „gezwungen, sich von Zeit zu Zeit in Erinnerung zu bringen"163 Der Grundsatz des demokratischen Führertums: „Wer befehlen will, muß zeitweise gehorchen können", sichert so den „Kontakt" und die Pflege der „Ideengemeinschaft". Übergänge zur demagogischen Inszenierung sind dabei fließend.164 Das Erfordernis der Responsivität in demokratischen Parteien und der Hinweis auf das im engen, wenn nicht sogar ursächlichen Zusammenhang damit stehende Konkurrenzverhalten zwischen aktuellen und potentiellen Führern wirft eine Frage auf, die in der Forschung weitgehend entschieden zu sein scheint: Wie ist die „politische Klasse", „Elite"165 bzw. „Oligarchie" in Michels' Parteiensoziologie eigentlich beschaffen?

1.8. Fraktion, Präsidium, Landesfiirsten und lokale Cliquen: Zur pluralen Machtstruktur von Michels' „politischer Klasse" Weit verbreitet ist die Einschätzung, Michels habe den Singular von „politischer Klasse" oder „Elite" im Sinne eines „monolithischen" Machtaufbaus der Partei übersetzt und den Parteiapparat ganz in der Verfügungsgewalt der Parteiführung gesehen.166 Manche Kritiker haben Michels sogar unterstellt, das Bild einer „dominierenden und ausbeuterischen Minderheit" gezeichnet zu haben, die nahezu unbegrenzte Macht ausübe und permanent über die Interessen der Basis hinweggehe.167 Ungefähr dieses Bild von Michels' Oligarchie dürfte auch Samuel J. Eldersveld im Kopf gehabt haben, als er mit seinem „Stratarchie"-Modell die angeblich zentralistische Oligarchie-These von Michels zu

163 PS 11, S. 174-175; PS 89, 180-182. 164 PS 89, S. 181: „Die Demagogen sind die Schmeichler des Massenwillens, die statt die Masse zu erheben, auf das tiefste zu ihr hinabsteigen, freilich nur , um sie unter der falschen, mit allem schauspielerischen Beiwerk versehenen Vorspiegelung, als kennten sie keinen höheren Ehrgeiz als den, sich der Masse als untertänigste Sklaven zu Füßen zu legen, in ihr Joch zu spannen und in ihrem Namen zu herrschen." Der Demagoge herrsche „hintenherum, dadurch, daß er die Ausfuhrung der ihm gewordenen Volksaufträge unterläßt oder sich nur zum Schein unterwirft." 165 Eine Differenzierung zwischen politischer Elite und politischer Klasse nimmt Michels nicht vor. Wie man diese beiden Begriffe sinnvoll unterscheiden kann, zeigt Klaus von Beyme, Die politische Klasse im Parteienstaat, Frankfurt a.M. 1993. 166 Vgl. Elmar Wiesendahl, Parteien in Perspektive. Theoretische Ansichten der Organisationswirklichkeit politischer Parteien, Opladen/Wiesbaden 1998, S. 39. 167 Vgl. Peter Medding, A Framework for Analysis of Power in Political Parties, in: Political Studies, Nr. 18, 1970, S. 1-17, S. 6f.; zit. η. Wiesendahl, Parteien in Perspektive, a.a.O., S. 39.

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

überwinden suchte.168 Dietrich Herzog faßt den Verdienst der Stratarchie-These für die Eliten- und Parteienforschung wie folgt zusammen: „Danach muß man innerhalb aller größeren Organisationen von der Existenz unterschiedlicher, auch gegensätzlicher Gruppierungen ausgehen, deren Repräsentanten ihrerseits in die Führungsgruppe drängen."169 Die Aufnahme dieser Aspiranten in die Führungsgruppe durch Wahl oder Kooptation sichere die Repräsentativität der Elite und darüber die Integration des Gesamtverbandes. Eine mögliche Kehrseite dieses Stratarchie-Modells sei es, daß sich die „personell repräsentierten Interessengegensätze als Entscheidungsblockaden auswirken" können. Eine soziologische Untermauerung für die Stratarchie-These sei die Entdeckung der „mittleren Führungsschicht"170 gewesen, wodurch Michels' Oligarchie-These eine weitere Relativierung erfahren habe. Das alles klingt nach Fortschritt der Sozialwissenschaften, Paradigmenwechsel und neuen Erkenntnissen. Bei einer genauen Lektüre von Michels' Parteiensoziologie reduziert sich der vermeintliche Verdienst der Stratarchie-These allerdings auf eine Innovation im Begriffsdesign. Das wiederum ist nicht wenig, denn die ,klassischen' Begriffe der Soziologie wie „Führer" und „Masse", mit denen Michels operiert, suggerieren zweifellos jenes dichotomische Muster, das Eldersveld überwinden wollte. Inhaltlich aber führt die Stratarchie-These über Michels' Oligarchie-Modell längst nicht so weit hinaus, wie das Parteisoziologen und Eliteforscher im Rückblick auf die historische Entwicklung ihres Fachs zuweilen behaupten. Michels' politische Klasse ist keine kompakte homogene Führungsgruppe, sondern entpuppt sich als plurales Gebilde verschiedener und miteinander konfligierender Machtschichten. Michels zufolge gibt es in demokratischen Parteien eine „oberste Schicht der Führer".171 Diese sind nicht, wie oft in der Michels-Rezeption unterstellt wird, die Parteibürokraten,172 sondern die Parlamentarier. Michels zufolge sind die in der Fraktion organisierten Mandatsträger von der Parteileitung unabhängiger als andere Mitglieder der politischen Klasse, weil sie ihr Mandat nur indirekt der Partei, direkt aber dem Votum der großen, unorganisierten Wählerschaft verdanken. Ihr Ansehen und ihre Machtstellung dokumentiert sich in Ehrenämtern und Mitgliedschaften im Parteivorstand. Nicht Verdienste innerhalb des Parteiapparates geben hierfür den Ausschlag, sondern in erster Linie ihre Erfolge bei den Wählern und ihre parlamentarische Reputation.

168 Samuel J. Eldersveld, Political Parties: A behavioural Analysis, Chicago 1964. 169 Vgl. den Dietrich Herzog, Art. Politische Elite/Politische Klasse, in: Lexikon der Politik, Bd. 1: Politische Theorien, hg. v. Dieter Nohlen und Rainer-Olaf Schultze, München 1995, S. 467-472, S. 468-469. 170 Herzog verweist hier auf Dwaine Marvick, The middlemen of politics, in: William J. Crotty (Hg.), Approaches to the Study of Party Organization, Boston 1968, S. 341-347; und K. Reif (Hg.), Die mittlere Führungsschicht politischer Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, Mannheim 1978. 171 PS 89, S. 134; PS 11, S. 131. 172 Klaus von Beyme identifiziert die „organisierte Minderheit" in Michels' Werk allein mit den Parteibürokraten, um hinzuzufügen, daß Michels deren „Aufstieg" überschätzt habe. Vgl. ders., Die politische Klasse im Parteienstaat, Frankfurt a.M. 1993, S. 19,21, 25.

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Gerade in Parteien, deren Satzung die Trennung von Amt und Mandat vorschreibt, machen sich besonders „starke Reibungsflächen zwischen beiden Führergruppen" bemerkbar, zwischen Parteiführung und Fraktion also, womit die ersten beiden Führergruppen in Michels' politischer Klasse benannt sind, die, unterschiedlich legitimiert, auch unterschiedliche Interessen verfolgen.173 Die Konflikte können eskalieren, sie können sich aber auch auf ein kaum noch wahrnehmbares Minimum beschränken, wenn die Partei selbst den Parlamentarismus zu ihrem taktischen Schwerpunkt macht. Dann verlagert sich das Machtgewicht von der einen zur anderen Führungsgruppe: „Die Haltung der Fraktion im Reichstag wird zum entscheidenden Moment, zur suprema lex in vielen Fragen."174 Von diesen ersten beiden Gruppen unterscheidet Michels den „erweiterten Führungskreis" von Parteitagen und Delegiertenversammlungen. Dieser steht in einem permanenten Konflikt mit der Fraktion, unterliegt ihr aber ständig. „Die Fraktionen pflegen sich sowieso nur selten an die ihnen auf dem Parteitage vorgeschriebenen Marschrouten zu halten. Aus Zweckmäßigkeitsgründen und Pflichtgefühl den Wählermassen gegenüber halten sie sich nicht unter allen Umständen an die Parteitage für gebunden."175 Deutlich wird hier wiederum der Grundkonflikt zwischen Mitglieder- und Wählerpartei. Die Fraktion will diesen Konflikt im Sinne des Elektoralismus entscheiden und sich „zum alleinigen Lenker der Parteigeschicke" aufschwingen, indem sie darauf hinarbeitet, den„Kreis der Fragen, die dem Beschlußrecht des Parteitages unterliegen, immer mehr einzuengen."176 Sie vindiziert für sich ein „Gewohnheitsrecht des Stärkeren, erwachsen aus dem Glauben an ihre Funktion als staatsrechtliche Repräsentation der Massen."177 Innerhalb der Fraktion selbst sind die Mehrzahl der Abgeordneten nicht Führer, sondern Geführte: „Die Herrschaft der Fraktionsführer ist in allen deutschen Parteien eine starke."178 Minderheitenmeinungen in der Fraktion werden die Zügel angelegt und auf den „Fraktionszwang" verpflichtet, also auf ein Stimmverhalten im Parlament nach Maßgabe des vorher gefaßten Mehrheitsbeschlusses in der Fraktion. In bestimmten Fällen kann der Fraktionszwang auch durchbrochen werden, und wiederum ist es die plurale Machtstruktur innerhalb der politischen Klasse, die Michels hierfür ins Feld führt: der Fraktionszwang versage immer dann, wenn der Konflikt nicht bloß zwischen Fraktionsmehrheit und Fraktionsminderheit verläuft, sondern zwischen der Fraktionsmehrheit und einzelnen Abgeordneten, die von namhaften Parteiführern

173 PS 11, S. 131-132; PS 89, S. 134-135. 174 PS 11, S. 133; PS 89, S. 136. 175 PS 89, S. 138. Vgl. hierzu den Bundesaußenminister a.D. Fischer über das Verhältnis von Parteitag und Fraktion bei den Grünen: „Wenn Parteitage in jeder Einzelheit immer ernst genommen worden wären, gäbe es die Grünen vermutlich gar nicht mehr. Es gibt eine bestimmte Tradition, die führt sonntags zu einer gewissen Beschlußfreude, die man montags nicht mehr ganz ernst nimmt"; zit n. Tiefenbach, Die Grünen, S. 44. 176 PS 11, S. 136; PS 89, S. 139. 177 PS 89, S. 140. 178 PS 89, S. 140-141.

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

außerhalb der Fraktion unterstützt werden oder aber sich auf ihre Popularität im Wahlkreis stützen können.179 Abgeordnete, die keine Mehrheit in der Partei haben, neigen überhaupt dazu, sich ihrem Einfluß zu entziehen und „ihr Abhängigkeitsverhältnis von der organisierten Parteisektion am Orte immer mehr auf [...] ihre private Wählerschaft [...] zu übertragen." Gemessen am demokratischen Anspruch sei dieses Verhalten im übrigen alles andere als illegitim: „In der Tat bietet unter Umständen eine sozialistisch fühlende, wenn auch nicht sozialistisch organisierte Wählerschaft eine bessere Basis im Sinne der Demokratie, als eine winzige, aus Kleinbürgern und Advokaten bestehende Parteigruppe, oder auch, bei Annahme der Existenz einer großen Parteiorganisation am Orte, eine schlecht besuchte Versammlung zur Vornahme der Delegiertenwahl."180 Wo es einen „weiteren", aber, wie gesehen, mit einer nur schwachen Machtposition ausgestatten Führungskreis gibt, muß es auch einen „engsten Führerkreis" geben. Zu ihm zählt Michels neben dem nationalen Parteivorstand und der Fraktionsführung auch die Landesvorstände der Partei und die Landtagsfraktionen.181 Dieser engste Führungskreis ist aber keineswegs eine homogene Oligarchie, sondern das Verhältnis der Führungsgruppen ähnelt vielmehr dem, was die neuere Parteienforschung als „lose verkoppelte Anarchie"182 bezeichnet. Die konfliktreiche Beziehung zwischen regionalen Interessen und oberster Parteibehörde beschreibt Michels als den Widerstreit zweier Tendenzen im Parteiwesen: dem zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung: „Seit langem machen sich in der modernen Arbeiterbewegung selbst neben der starken Tendenz zur auf nationaler Basis ruhenden Zentralisation starke Gegenströmungen bemerkbar. Der Gedanke der Dezentralisation ist in stetem Wachstum begriffen, und, Hand in Hand damit, die Revolte gegen die oberste Behörde der Zentrale."183 Rhetorisch treten die „zentrifugalen Bewegungen" im Namen der Autonomie gegen die „Tyrannei" der Zentrale auf. Der machtfokussierte Blick von Michels sieht auch hier unter dem für die moderne Demokratie typischen „Gewebe von Metaphern"184 die Anatomie des „politischen Selbsterhaltungstriebes"185 einer Elite am Werke: „Die Dezentralisation ist das Werk von Führerminoritäten, die, im Vorstand der Gesamtpartei zur Unterordnung gezwungen, es vorziehen, sich in ihre eigenen Landeskreise zurückzuziehen [...] Lieber der erste in Gallien, als der zweite in Rom. Die ungekrönten Könige von Bayern lieben es nicht, im Berliner Orchester die zweite Flöte zu blasen

179 180 181 182

PS 89, S. 192-193, PS 11, S. 188. PS 89, S. 193-194; PS 11, S. 189-190. PS 11, S. 155, Anm. 1; PS 89, S. 423, Anm. 78. Vgl. Peter Lösche, „Lose verkoppelte Anarchie". Zur aktuellen Situation von Volksparteien am Beispiel der SPD, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B43/ 1993, S. 34-43. 183 PS89, S. 174; PS 11, S. 169-170. 184 PS 89, S. 17; PS 11, S. 16. 185 PS 89, S. 7; PS 11, S. 6.

VI. 1. Die Sinnverkehrungsgefahren der Demokratisierung

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[,..]."186 Am Prinzip der Oligarchie ändere sich durch die „Los-von-Berlin-Bewegung" nichts: Sie fuhrt zur Etablierung einer „Duodezoligarchie".187 Das oligarchische Prinzip im Parteiwesen steht für Michels offensichtlich mit der beobachteten Vielzahl von Machtgruppen nicht im Widerspruch. Man könnte seine politische Klasse auch unter Zuhilfenahme von Elderveld als stratarchische Oligarchie oder, je nach Akzentsetzung, als oligarchische Stratarchie bezeichnen. In diesen Zusammenhang gehört auch seine Beobachtung lokaler Oligarchien, die „kleinen, durch die lokalen Ober- und Unterführer gebildeten" Cliquen, die über die Aufstellung der Kandidatenlisten zu den Parlamentswahlen in Eigenregie entscheiden;188 sowie die „grands électeurs [...] in den einzelnen Wahlkreisen resp. den lokalen Parteiorganisationen",189 die man in der Meinungsforschung auch als „opinion leader" bezeichnet. Für die stratarchische Dimension der Oligarchie-These sprechen auch die Überlegungen zur Parteipresse, zur „Macht der journalistischen Führer als Schicht."190 Das Verhältnis der Machtgruppen kann sich im „Dominium einer Führerschicht über eine andere"191 niederschlagen, es kann bei ideologisch motivierten Konflikten zur Spaltung der Organisation führen,192 in der Regel aber werden sich die Führungsgruppen auf die wechselseitige Zusicherung des Machtzugangs verständigen und das Konfliktpotential durch den Ämterproporz entschärfen. Man kann dies im Sinne der „Stratarchie"-These als Steigerung der Repräsentativität verstehen. Man kann hier aber auch unschwer die Tendenz zur „Kartellpartei"193 erkennen, insbesondere dort, wo Michels „aller Heftigkeit der inneren Kämpfe zum Trotz" den „esprit de corps der angestellten Führerschaft" bemerkt. Dieser Korpsgeist wurzelt im Bewußtsein, daß die Politik das berufliche Schicksal der einen wie der anderen Seite ist. Daher die Neigung, durch Sonderabmachungen die Risiken der Demokratie auszuschalten: „Oft grenzen solche Abmachungen an Gegenseitigkeitsversicherungen. In der Sozialdemokratie hatte sich vor einigen Jahren an manchen Orten ein förmliches System herausgebildet: die Führer kamen überein, sich der Reihe nach auf die einzelnen Parteitage usw. schicken zu lassen. In den fälligen Versammlungen, in denen die Delegation auf der Tagesordnung stand, erhob sich dann abwechselnd einer von ihnen, um den anderen - der gerade ,an der Reihe' war - den Par-

186 187 188 189 190 191 192 193

PS 89, S. 174-175; PS 11, S. 170. PS 89, S. 176; PS 11, S. 171. PS 89, S. 161; PS 11, S. 100. PS 89, S. 133. PS 89, S. 128, PS 11, S. 129. PS 89, S. 111. PS 89, S. 195. Vgl. die Ausführungen von Richard S. Katz und Peter Mair, Changing Models of Party Organization, a.a.O., zu den der „Cartel Party" zugrundeliegenden ,berufspolitischen' Motiven: „as politicians pursue long-term careers, they come to regard their political opponents as fellow professionals, who are driven by the same desire for job security, who confront the same kinds of pressures as themselves, and with whom business will have to be carried over the long term" (S. 23).

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

teigenossen zur Wahl zu empfehlen. Einmal empfahl A den B, das zweite Mal dann Β den A. Die Parteigenossen lehnen sich nur selten gegen derartige Tricks auf. Vielfach merken sie nicht einmal ihre Existenz." 194 Die Kernaussage der Kartell-Parteien-Theorie lautet freilich, daß der „esprit de corps" sich parteiübergreifend, etwa zwischen Regierung und Opposition, einstellt und die Logik des Politikerhandelns prägt. 195 Diese Möglichkeit hat Michels 1911 noch nicht gesehen. Erst 1925 wird er schreiben können: „Den Gipfelpunkt erreicht die Verständigung der Führer, wenn sie sich zwischen Führern ihrer Natur nach feindlicher Parteien einstellt und sich durch Geheimhaltung den Augen der Massen entzieht." 196 Quelle dieser Erkenntnis sind für Michels die Kriegserinnerungen Philipp Scheidemanns, in denen der SPD-Politiker darlegt, wie er sich während des Krieges vor Reichstagsreden mit Reichskanzler Bethmann-Hollweg abgesprochen hat. 197 Der ,esprit de corps', d. h. die Bereitschaft, im Interesse der politischen Selbsterhaltung mit konkurrierenden Führern ins Geschäft zu kommen, überwölbt die plurale Struktur von Machtschichten in der Partei und transzendiert den „Kampf der Führer um die Macht" zugunsten eines korporativen Zusammenschluß des engeren Führungskreises gegenüber dem weiteren Führungskreis und der Mitgliederbasis. In diesem Punkt, angesichts der Möglichkeiten, unangenehme und komplizierte Fragen mit den Mitteln einer De-facto-Diktatur zu lösen, präferiert Michels das dichotomische Deutungsmuster Elitenkartell versus Restpartei: „Die Führerschaft der demokratischen und Sozialrevolutionären Parteien kann im Notfalle vollständig allmächtig und von den Gesamtheiten unabhängig auf eigene Faust Politik treiben. Der gang und gäbe Bruch der ihnen von dem erweiterten Führerkreis (Parteitag, Kongresse usw.) als unverbrüchlich auferlegten Beschlüsse in taktischen Fragen, die immer mehr überhandnehmende Gepflogenheit, wichtige Entscheidungen en petit comité allein zu erledigen und die Gesamtpartei vor ein fait accompli zu stellen (z. B. durch Ansetzen der Kongresse nach den Wahlen, so daß die Führer die alleinigen Entscheider über die , Wahlparole' sind), die geheimen Ausmachungen der Führerschaft untereinander [...], die geheimen

194 PS 89, S. 153; PS 11, S. 151-152. 195 Vgl. Katz/Mair, Changing Models, S. 19: „the parties still compete, but they do so in the knowledge that they share with their competitors a mutual interest in collective organizational survival and, in some cases, even the limited incentive to compete has actually been replaced by a positive incentive not to compete." Vgl. auch Dietrich Herzog zur „kollektiven Identität der politischen ,Insider' gegenüber den ,Menschen draußen im Lande'": „Verlaufssoziologisch betrachtet, hat hier Bertrand de Jouvenals Bemerkung ihre reale Grundlage, wonach zwischen Abgeordneten, von denen der eine Revolutionär' und der andere .Konservativer' ist, mehr Gemeinsamkeiten bestehen als zwischen zwei Revolutionären', von denen der eine ein Abgeordneter ist." (zit. n. Tiefenbach, Die Grünen, a.a.O., S. 82) 196 PS 89, S. 153. 197 Phillip Scheidemann, Der Zusammenbruch, Berlin 1921, S. 30; Zit n. Michels, PS 89, S. 421.

VI. 1. Die Sinnverkehrungsgefahren der Demokratisierung

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Versprechungen und Besprechungen mit der Regierung, die fraktionellen Schweigegebote [...] - das alles sind die natürlichen Früchte des obwaltenden oligarchischen Systems."198 Sein Resümee lautet: „In den Fällen eines Aufeinanderprallens zwischen den Führern und den Massen bleiben deshalb erstere [...] stets Sieger". Ein Fazit, das in dieser Form allen Kritikern der Oligarchie-These wie Medding und Eldersveld, die Michels' Dichotomie bemängelt haben, Recht zu geben scheint. Indes knüpft Michels sein Fazit an eine voraussetzungsvolle Bedingung, die oft überlesen wird, weil sie sich in einem Nebensatz befindet: Die Führer werden Sieger bleiben, heißt es vollständig, sobald sie nur einigermaßen untereinander einig sind"}99 Michels hätte es seinen Kritikern schwerer machen können, wenn er diese Bedingung besser piaziert und expliziert hätte. Vielleicht wäre dann auch die Rezeption seines Hauptwerkes in anderen Bahnen verlaufen und wären die von Michels behandelten Konflikte zwischen den Teileliten zur Kenntnis genommen worden. Seiner OligarchieThese wäre das angemessen gemessen, denn für diese hat das „gegenseitige Mißtrauen der Führer untereinander", das er selbst als „wesentliches Charakteristikum" der Parteioligarchie bezeichnet, einen ähnlich hohen Stellenwert wie die Massenpsychologie.200 Selbstreproduktion und Machterhalt demokratisch legitimierter Eliten hängen bei Michels entscheidend davon ab, ob es ihnen gelingt, sich nach außen geschlossen zu präsentieren. Die Leitanträge des Parteivorstandes etwa laufen laut Michels immer dann Gefahr, am Willen der „Massen" scheitern, wenn ein „Führer" der Führung den Kampf ansagt. Verfügt dieser über eine gewisse Popularität unter den Mitgliedern und gelingt es ihm, die Unzufriedenheit der Basis zu artikulieren und in einer personellen Alternative seiner Gegenkandidatur - zu verdichten, dann wird es für die amtierende Elite gefahrlich. Wie treffend Michels' Nebensatz von der Einigkeit als einer Bedingung für die Reproduktion der politischen Klasse ist, zeigt sich an dem typischen Verhalten der in einer solchen Konfliktsituation herausgeforderten Amtsinhaber. Sie werden den ./evolutionären Impetus" des Gegenkandidaten durch eine „Teilnahme an der Macht bändigen". „Die Führer der Opposition erhalten hohe Ämter und Ehren in der Partei und werden dadurch unschädlich gemacht." Die Wiederherstellung der Einigkeit durch Einbindung der innerparteilichen Konkurrenten wird insbesondere dann zu einem grandiosen Schachzug, wenn das den letzteren angetragene Amt nur begrenzte Einflußmöglichkeiten bietet, die so Eingebundenen aber gleichzeitig aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Führungskreis „die Verantwortung für die von den Führern als Gruppe begangenen Handlungen nunmehr mit ihren ehemaligen Widersachern teilen."201

198 199 200 201

PS 89, S. 157-158; PS 11, 154-155. PS 89, S. 154 [meine Hvhbg.]; PS 11, S. 152. Vgl. das Kapitel „Der Kampf zwischen den Führern um die Macht", in: PS 89, S. 179. PS 89, S. 190, PS 11, S. 184.

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

An dieser Art der Konfliktbewältigung wird aber auch deutlich: der Konflikt zwischen Massen und Führern stellt sich in der Praxis meist als ein Konflikt zwischen herausgehobenen Repräsentanten dar. Ein aktives Revoltieren der Massen gegen die politische Klasse wird in den seltensten Fällen eine quasi ,selbst-organisierte' Aktion sein,202 sondern in der Regel unter Anleitung eines Führungsaspiranten vonstatten gehen. Aufstände wie die „Cacerolazos" in Argentinien im Januar 2002, in denen eine Bewegung der radikalisierten Mittelschicht sich in Nachbarschafts- und Stadtteilversammlungen tatsächlich von selbst und ohne den Ausbau von Führungsstrukturen organisierte, um sich töpfeschlagend gegen die gesamte politische Klasse, ob Regierung oder Opposition, zu stellen, sind nach Michels' Theorie zwar im Falle eines Totalversagens der politischen Klasse ausdrücklich möglich. Aufgrund des Scylla- und Charybdis-Dilemmas werden sie aber nur von kurzer Dauer sein.203 Nicht zuletzt aufgrund der unhintergehbaren repräsentativen Struktur der Massendemokratie, die geeigneter Exponenten und Wortführer bedarf, spielen die Vertreter die aktive Rolle in der Politik. Der Sturz eines Führers ist in den wenigsten Fällen als ein Sieg der Masse zu verstehen, sondern bedeutet in der Regel nichts anderes, als daß „sich ein neuer Führer, der, mit den alten Führern in Konflikt geraten, auf die Masse gestützt als der mächtigere erwiesen hat; es gelang dem Neuen, den Alten abzusetzen, und, worauf es ankommt, zu ersetzen." 204 Auf die europäische Revolutionsgeschichte bezogen, heißt das: „Nicht die Massen verschlangen die Führer, sondern die Führer selbst verschlangen sich untereinander". 205 Der .normale', nicht-revolutionäre Wandel der politischen Machtverhältnisse dagegen vollzieht sich Michels zufolge durch ein Fusionieren alter und neuer Führer. Damit differenziert er Paretos Axiom der Elitenzirkulation und gibt gleichzeitig aber auch zu, daß es ohne den passiven Konsens der Basis auch in der Elitendemokratie nicht geht: „Der Weg der neuen Führer zur Macht ist ein überaus mühseliger. Er führt über Gestrüpp und Hindernisse aller Art, und nur die Gunst der Masse kann ihn ebnen. Selten schließt der Kampf zwischen alten und neuen Führern mit der völligen Überwindung der ersteren ab. Der Schlußakt des Prozesses besteht weniger in einer circulation des élites als vielmehr in einer fusion des élites; es findet eine Amalgamierung beider Elemente statt." 206

202 Vgl. auch die ,michelsianische' Argumentation von Sofsky/Paris, Figurationen, S. 209-210: „Ohne neue Repräsentanten [...] ist gegen den Apparat nicht viel auszurichten. Der spontane Massenaufstand ist ein Mythos. Er würde voraussetzen, daß das Publikum [...] zur Kooperation übergehen würde. Doch dazu fehlt ihm die Organisation. Nur eine neue Selbstorganisation, die das alte Delegiertensystem durch ein neues ersetzt, hat eine Erfolgschance." 203 Vgl. PS 89, S. 159; Vgl. zu den „Cacerolazos" Josef Oehrlein, Sie sollen alle gehen! Die Proteste in Argentinien richten sich gegen die ganze politische Klasse, in: FAZ Nr. 23, 28. Januar 2002. 204 PS 89, S. 197; PS 11, S. 190. 205 PS 89, S. 181. 206 PS 89, S. 194. [zweite kursive Stelle von mir]; Vgl. PS 11, S. 185, wo es statt „fusion" „réunion des élites" heißt.

VI. 1. Die Sinnverkehrungsgefahren der Demokratisierung

459

Für den Führungsnachwuchs empfehle sich im allgemeinen der „Schleichweg" zur Fusion: man betont die Geringfügigkeit des sachlichen Dissens zur amtierenden Elite und zur Parteimehrheit und beteuert, nichts weiter als „altbewährte Grundsätze" logisch und zeitgemäß fortführen zu wollen. In anderen Worten: nicht über die Selbststilisierung zur radikalen Alternative, sondern durch das Andocken an mainstream und Parteitradition werden die jungen Aspiranten in der Regel mehrheitsfahig.207 Offensive Kampagnen des Bruches und des Neuanfangs dagegen führen meist, falls nicht gerade eine Ausnahmesituation vorliegt, dazu, daß der Kampf zwischen Führern und FührerAspiranten von ersteren als „Kampf zwischen Verantwortlichen und Verantwortungslosen" umgedeutet werden kann. Die amtierenden Führer verdächtigen dann „die Führer der Parteiopposition als Inkompetente, Unberufene, als Schreier und Parteiverderber, Demagogen und Betrüger, wobei sie sich selbst als Exponenten des Massenwillens hinzustellen lieben und im Namen der Masse und der Demokratie die Unbotmäßigen [...] zu Gehorsam und Unterwerfung auffordern."208 Daß dies tendenziell fast immer gelingt, liegt am „Misoneismus" der Organisationspsychologie, einer tiefsitzenden Scheu vor ,riskanten' Manövern in der Sach- und Personalpolitik, die ja eine negative Außenwirkung entfalten und den Organisationserfolg bei den nächsten Wahlen gefährden könnten.209 Unterstützt wird diese Innovationsscheu von der „Macht der Gewohnheit" und dem Harmoniebedürfnis der Basis, die nicht nur die Abwahl ,verdienter' Führer als eine undankbare Aufgabe empfindet, sondern auch die Wahl zwischen zwei Kontrahenten als Bürde. Die Führer können sich Michels zufolge im allgemeinen daher sicher sein, daß Versöhnungsgesten nach einer Periode des offenen Schlagabtausches auf größten Beifall stoßen und zur Steigerung ihres Ansehens bei den Massen beitragen werden: „Die Massen stehen der Versöhnung streitender Führer nie im Wege [...] Über die persönliche Versöhnung ehemals feindlicher Führer empfinden die Massen immer Freude".210 Dafür mag es zwar auch Gegenbeispiele geben, aber als Grundtendenz scheint Michels auch mit dieser Prognose richtig zu liegen. Für die Parteiendemokratie am Anfang des 21. Jahrhunderts kommen Medienwissenschaftler zu einem ganz ähnlichen Befund: Zerstrittenheit im Führungszirkel einer Partei werde von den Wählern immer als negativ empfunden. „Einigkeit und Harmonie" seien ihnen „wichtiger als eine demokratische innerparteiliche Auseinandersetzung."211

207 PS 89, S. 195. 208 PS89, S. 188-189. 209 Daß diese Tendenz nicht unbedingt mit dem elektoralen Interesse der Organisation zusammenfallen muß und Parteiorganisationen oftmals durch das , Verschlafen' der personellen und sachlichen Erneuerung empfindliche Niederlagen erlitten haben, ist für Michels allerdings kein Thema, der hier zu sehr am ,Erfolgsmodell' der deutschen Sozialdemokratie orientiert ist. Zumindest was die Akkumulation von Stimmen und Mitgliedern betrifft, schien die SPD mit ihrem Festhalten an der gewährten Taktik' richtig zu liegen. 210 PS 89, S. 149. 211 So Wolfgang Donsbach. Vgl. den Artikel „Medienforscher: CDU liefert zerstrittenes Bild", in: Lausitzer Rundschau, 8. März 2002. Donsbach äußert sich dort zu dem Machtkampf zwischen

460

VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

1.9. Die strukturkonservativen Effekte der Parteiorganisation und die Widerlegung des sozialistischen Zukunftsversprechens „Bedingt die oligarchische Wesenheit der Organisation auch [...] eine oligarchische Politik? Ist es unmöglich, daß eine demokratische Partei eine demokratische, eine revolutionäre Partei in der Demokratie eine revolutionäre Politik befolgt? Ist nicht nur Sozialismus, sondern selbst - was etwas anderes ist - sozialistische Politik Utopie?"212

Robert Michels hat mit seiner kritischen Introspektion der oligarchischen Mechanismen des Parteiapparates nicht nur eine realistische Revision des Demokratiebegriffs angestrebt. Er hat seine .Entdeckungen' auch auf die Zukunft extrapoliert und sich gefragt, ob alternative Politikansätze trotz der oligarchischen Form, in die sie zwangsläufig münden, den demokratischen und sozialen Fortschritt befördern können. Sowohl im Hinblick auf graduelle Veränderungen des Gesellschaftssystems wie auch im Hinblick auf die Möglichkeit eines Systembruchs zugunsten einer ,herrschaftsfreien' Gesellschaft ist seine Antwort ein Beitrag zum politischen Realismus. Erstens lautet seine Prognose, daß alle alternativen Politikansätze, die sich eine radikale Systemtransformation auf die Fahnen geschrieben haben, auf die Dauer eine derartige Anpassung an den politischen Status Quo durchlaufen, daß sie am Ende von ihrem konservativen Gegner allenfalls noch in der programmatischen Artikulation ihres politischen Handelns unterscheidbar sein werden, nicht mehr im Handeln selbst. Zweitens dementiert Michels' „ehernes Gesetz der Oligarchie" das sozialistische Zukunftsversprechen einer klassenlosen Gesellschaft. Insbesondere den Gedanken, man könne durch eine „Diktatur des Proletariats" einen demokratischen Qualitätssprung in den gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen einleiten, fuhrt er ad absurdum. Beiden Prognosen liegt Michels' doppeltes politisches Leitmotiv zugrunde: die Kopplung einer Politik des sozialen und moralischen Fortschritts mit einer demokratischen Praxis. Dies ist der Grund, warum er blanquistischen bzw. leninistischen Überlegungen, eine elitäre Avantgarde könne die Staatsleitung in die Hand nehmen, um die .unreifen' Massen auf den Zukunftsstaat vorzubereiten, eine Absage erteilt. Abgesehen vom Verstoß gegen die demokratische Norm beurteilt Michels eine derartige Lösung auch deshalb skeptisch, weil er aufgrund seiner elitentheoretischen Grundannahmen sich nicht vorzustellen vermag, daß eine elitäre Vorhut des Sozialismus innovativ sein könnte, lautet sein Credo doch: „Die politische Organisation trägt zur Macht. Die Teilnahme aber an der Macht macht stets konservativ."213 Georg Milbradt und Kurt Biedenkopf in der sächsischen CDU und bemerkt eine Verwirrung der sächsischen Wähler: „Sie schätzen Milbradt, wissen aber nicht, warum mit Biedenkopf jemand anderes, den sie sehr schätzen, Milbradt nicht schätzt." 212 PS 89, S. 342; PS 11, S. 350. 213 PS 89, S. 343; PS 11, S. 351

VI. 1. Die Sinnverkehrungsgefahren der Demokratisierung

461

Die permanente Revolution einer totalitären Diktatur liegt 1911 jenseits seiner Vorstellung. Und der nomothetischen Optik seines „ehernen Gesetzes", demzufolge alles Revolutionäre zwangsläufig konservativ wird, ist es auch mit geschuldet, daß Michels später die Gefahr des Totalitarismus völlig verkennen wird. 214 Daß Michels „im Wesentlichen die spezifischen Veränderungen herausgearbeitet" habe, „die systemoppositionelle Parteien bei ihrer Integration in ein parlamentarisches System durchmachen", hat zuletzt Paul Tiefenbach bemerkt, in einer lesenswerten Rekapitulation der Geschichte der „Grünen", die er fast durchgängig mit Michels-Zitaten grundiert und kommentiert. 215 Da dieser Aspekt in der Rezeption der Parteiensoziologie gemessen an der starken Fokussierung der Oligarchiethese nur am Rande eine Rolle gespielt hat, sind die wesentlichen Faktoren dieses Anpassungsprozesses hier zunächst zu resümieren. Wir können uns dabei mit einer knappen Skizze begnügen, da die Domestikation radikaler Politikansätze bei Michels aus denselben organisationspsychologischen Bedingungen resultiert, die auch die Etablierung einer stabilen Oligarchie einleiten. An der Basis der konservativen Strukturanpassung wirkt Michels zufolge das soziologische Grundgesetz vom zunehmenden Selbstzweckcharakter der Organisation: „Es ist ein unabänderliches Sozialgesetz, daß in jedem durch Arbeitsteilung entstandenen Organ der Gesamtheit, sobald es sich konsolidiert hat, ein Eigeninteresse, ein Interesse an sich selbst und fur sich selbst, entsteht." 216 Auf die politische Ebene der Parteiorganisation bezogen heißt dies vor allem: das Streben nach Mitgliederrekrutierung 217 und Stimmenmaximierung wird zum Handlungsimperativ der Partei, demgegenüber die hehren Gründungsprinzipien von einst , verhandelbar' sind und immer mehr zurücktreten. Sie sind letztendlich allenfalls das, was Michels über den Status der Ethik im politischen Geschäft im allgemeinen schreibt: „eine Waffe", 218 mit der der politische Gegner diskreditiert und delegitimiert sowie der eigene Anspruch auf eine gerechtere' Politik reklamiert wird.

214 Wir werden noch anhand seiner politischen Entwicklung in den zwanziger und dreißiger Jahren sehen, daß Michels bis zu seinem Tod 1936 die völlig neue Qualität des nationalsozialistischen und des stalinistischen Regimes nicht wahrgenommen hat. Dafür dürfte nicht zuletzt die konservative Anthropologie in seiner Elitentheorie verantwortlich sein. Diese hat ihm nur im Fall Mussolini noch einmal Recht gegeben, insofern der italienische Faschismus nach 1925 auf einen Stabilisierungskurs schwenkte und die Anhänger einer permanenten Revolution wie etwa Farinacci an den Rand gedrängt wurden. Michels konnte sich offensichtlich nicht vorstellen, daß die totalitären Bewegungen in Rußland und Deutschland einen anderen Weg nehmen würden. 215 Vgl. Tiefenbach, Die Grünen, a.a.O. 216 PS 89, S. 366. 217 Das ist für Michels, der im Zeitalter der Massenintegrationspartei schreibt, ein zentrales Motiv der Parteiorganisation. Heute ist das zweite Grundmotiv der Stimmenmaximierung weitaus bedeutender, zumal damit - zumindest im politischen System der Bundesrepublik mittels der Wahlkampfkostenerstattung - auch erhebliche Refinanzierungsmöglichkeiten gerade auch für mitgliederschwache Parteien verbunden sind. 218 PS 89, S. 17: „Im Zeitalter der Demokratie ist die Ethik eine Waffe, deren sich jedermann bedienen kann."

462

VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

Aller moralischen Grundsatzrhetorik des politischen Geschäfts zum Trotz werde „mit dem Wachstum der Organisation [...] der Kampf um große Prinzipien unmöglich."219 Aufgrund der Sorge, das eigene Führungspersonal nicht in den Augen der Öffentlichkeit zu beschädigen und sich selbst durch allzu gewagte Forderungen oder durch das Ansprechen unbequemer Problemlösungen nicht zu kompromittieren, wird der Konflikt zugunsten einer „Vertuschungspolitik" auf die Ebene der informellen Hinterzimmergespräche verlegt. „Es besteht eine innere Beziehung zwischen dem Wachstum der Partei und dem Wachstum an Vorsicht und Ängstlichkeit in ihrer Politik."220 Die wachsende Organisation diktiert in ihrem Selbsterhaltungsinteresse die Orientierung am statistischen Median-Bürger und an der jeweiligen situativen Definition von ,Politikfahigkeit'. „Jede Einbuße an Mitgliedern wie an Stimmen, ja selbst an Mandaten, schwächt ihr politisches Prestige."221 Die Konsequenz ist der Verlust jeglicher Bewegungsimpulse, die, soweit sie noch von einigen Basis-Aktivisten gepflegt werden, nun als störend empfunden werden. Die Partei „immobilisiert".222 Mag sie in ihrer politischen Identitätspflege auf Parteitagen auch hin und wieder das radikale Pathos anschlagen, so hat sie sich strukturell der alten politischen Klasse nicht zuletzt deshalb anverwandelt, weil sie sich derselben Kampfmittel bedient: „Entstanden, um die zentralisierte Macht des Staates zu überwinden [...], hat die Partei der Arbeiter sich selber machtvoll zentralisiert und ihr stolzes Gebäude auf die gleichen staatlichen und stattlichen Grundpfahle aufgebaut: Autorität und Disziplin. So ward sie zu einer Regierungspartei, d. h. zu einer Partei, die, organisiert wie eine Regierung im Kleinen, [in] der Hoffnung lebt, dereinst die Regierung im Großen zu übernehmen. Die politisch-revolutionäre Massenpartei ist ein Staat im Staate [,..]".223 Sozialdemokratisches Organisationsinteresse und preußisches Staatsinteresse konvergieren in einer Status-Quo-Orientierung, der „Verteidigung der gewordenen Verhältnisse". „Hier Staatserhaltung, dort Parteierhaltung". In Taktik, Praxis und selbst Terminologie assimiliert man sich immer mehr dem „Klassenfeind": „Der zum Teil eben in den Notwendigkeitsbedingungen jeder straff gegliederten Organisation liegende Autoritarismus der offiziellen Vertreter der deutschen Sozialdemokratie weist mit dem Autoritarismus der offiziellen Vertreter des deutschen Reiches [in] mancher Hinsicht große Ähnlichkeiten auf. Hier Wilhelm II., der den ,Nörglern' rät, wenn es ihnen in Deutschland, seinem Reiche, nicht gefalle, den Staub von den Füßen zu schütteln und auszuwandern. Dort Bebel, der droht, es müsse doch einmal ein Ende geben mit der ewigen Nörgelei und 219 220 221 222 223

PS PS PS PS PS

11, 89, 89, 89, 89,

S. S. S. S. S.

352; PS 89, S. 343. 346; PS 11, S. 355. 344; PS 11, S. 352. 347. 344-345; PS 11, S. 353.

VI. 1. Die Sinnverkehrungsgefahren der Demokratisierung

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dem ewigen Unruhestiften in der Partei, und der da meint, daß die Opposition, falls sie sich mit der Haltung der Parteileitung nicht einverstanden erklären könne, ,hinausfliegen' müsse."224 Die „Nachahmung des äußeren Stärkeapparates des ,Klassenstaates'" habe bei der deutschen Sozialdemokratie alle Kräfte absorbiert und die „psychologische Loslösung von der in ihm herrschenden Mentalität" immer mehr in den Hintergrund treten lassen.225 „Ihr Haß gilt in erster Linie nicht mehr dem Gegner ihrer ,Weltanschauung', sondern dem gefürchteten Mitbewerber im Wettlauf nach dem gleichen Ziel der Machterringung."226 In der Wahlagitation habe dies zur Folge, daß „die Partei den Gegner nicht zu bekämpfen, sondern einfach zu überbieten" sucht, etwa nach dem Motto: ,glicht die Nationalen, sondern wir sind die besten Patrioten."227 Neben diesen Faktoren einer Assimilierung an den Gegner, die im Charakter der „kriegführenden Partei"228 begründet sind, fordert die Organisation auch durch den hohen Professionalisierungsgrad ihres politischen Personals die systemaffirmativen Tendenzen. Die Komplexität der Sozialgesetzgebung oder der Steuerpolitik definiert, wie bereits gesehen, den Möglichkeitshorizont des Berufspolitikers, dem die Erwartungen der Basis zunehmend unterkomplex und naiv erscheinen. Die Professionalisierung befördert aber auch den Wiederwahlwunsch, denn am Mandat hängt die Existenz des Berufspolitikers, dessen Erfahrung im ursprünglichen Beruf meist weit zurückliegt. Sein Interesse fällt mit dem der Organisation zusammen. Irgendwann naht das ,Endziel' seiner Karriere: der Tag der Regierungsbeteiligung. Sie wird Führungspersönlichkeiten an die Macht bringen, die die psychologische Metamorphose' durchlaufen haben und die der entthronten politischen Klasse nicht zuletzt deshalb so ähnlich sehen, weil sie im jahrelangen Konkurrieren um die Macht zu dieser eine intime Beziehung entwickelt haben: in der strategischen Orientierung am Machtwechsel ist die neue Elite notgedrungen bei der alten politischen Klasse ,in die Schule gegangen'. „Cambia il maestro di cappella, ma la musica è sempre quella", scheint so die Signatur des Elitenwechsels zu lauten: „Der Wechsel des Kapellmeisters ändert nichts an der Musik."229 Tatsächlich ist Michels aber nicht so hoffiiungslos, wie das der Tenor seiner Argumentation zuweilen suggeriert: „Innerhalb eines gewissen, engen Rahmens wird auch die oligarchisch geleitete demokratische Partei allerdings in demokratischem Sinne auf den Staat einzuwirken vermögen".230 „Zumal", ergänzt er 1911 in der zugehörigen Fußnote, „wo ein allgemeines, gleiches und geheimes Wahlrecht besteht, und die Arbeiterklasse zahlreich organisiert und auf ihr Interesse bedacht ist [...]. In diesem Fall haben

224 225 226 227 228 229 230

PS PS PS PS PS PS PS

11, 89, 89, 89, 89, 89, 11,

S. S. S. S. S. S. S.

214; PS 487; PS 349. 491; PS 38ff. 369. 350; PS

89, S. 216-217. 11, S. 353. 11, S. 361.

89, S. 342.

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

die Führer alles Interesse daran, allen möglichen Druck in demokratischem Sinne auf den Staat auszuüben." 231 Diese Anmerkung hat Michels aus der zweiten Auflage der Parteiensoziologie gestrichen. Das mag an seiner 1925 bereits unverkennbaren Sympathie für den Faschismus gelegen haben. Auf den ersten Blick könnte man freilich auch vermuten, daß das Streichen der Textstelle eine theoretische Inkonsistenz ausradieren sollte. Denn die Anmerkung scheint seiner Organisationstheorie diametral zu widersprechen, besagt diese doch, daß gerade das Streben der Organisation nach der „großen Zahl" passiver Politikkonsumenten ein sukzessives Tilgen der politischen Innovationspotentiale zur Folge hat. Und plötzlich soll unter der Bedingung des allgemeinen Wahlrechts, welches die Strategie der Stimmenmaximierung um jeden Preis doch forciert, ausgerechnet die „zahlreiche" Organisation einen innovativen Input in Staat und Gesellschaft einbringen können? Dieser scheinbare Widerspruch läßt sich auflösen und über seine Auflösung vermögen wir Michels' politische Organisationssoziologie adäquater fassen als das einer meist allzu schematischen Rezeption bislang gelungen ist. Organisationswachstum und Innovationsfáhigkeit verhalten sich bei Michels nicht wie ein Nullsummenspiel, wonach mit jeder neueingerichteten Sekretärsstelle und jedem neuen Abgeordnetenmandat die Verwässerung der Prinzipien zunimmt. Dies würde ja auch dem Szylla-und-Charybdis-Dilemma widersprechen, mit welchem Michels ausdrücklich sagt, daß nur über eine starke Organisation die kollektiven Interessen der Arbeiterschaft wirkungsvoll vertreten werden können. Michels' pessimistische Hypothese zum Organisationswachstum darf nicht linear gelesen werden, sondern im Sinne einer Parabel, bei der bis zu ihrem Scheitelpunkt das Organisationswachstum mit einem Gewinn von Handlungsspielräumen und innovativen Einflußmöglichkeiten einhergeht. Vor diesem Scheitelpunkt befördert das Erstarken der Organisation „tatsächlich eine gewisse Umwertung der Werte": „die Organe der Gesetzgebung und Verwaltung gewöhnen sich daran, nicht mehr nur dem Druck von oben, sondern auch dem Druck von unten nachzugeben [...]; theoretisch bedeutet diese Umwertung einen unschätzbaren Fortschritt in der Richtung auf einen der Ethik näherkommenden staatsrechtlichen Zustand". Auf einem bestimmten Niveau der akkumulierten politischen Erfolge aber ist der Scheitelpunkt erreicht, ab dem Organisationserfolg und Innovationsfähigkeit sich in ein dysproportionales Verhältnis setzen. Der Stichtag hierfür ist bei Michels der Eintritt in die Regierung. Die innovativen Inputs werden in dem Maße schwinden, „wie es den herrschenden Klassen gelungen sein wird, die Opposition der äußersten Linken zur Mitarbeit an der Regierung selbst heranzuziehen." 232 Unschwer ist an dieser Stelle das Axiom von der „revolutionären Intransigenz" wiederzuerkennen, mit dem Michels und Enrico Ferri 1903 Front gegen den ,Ministerialismus' Turatis bzw. gegen Bernsteins Vorschlag einer sozialdemokratischen Vizepräsidentenschaft im Reichstag gemacht haben. So gesehen trägt auch der Realist Michels noch schwer an den ideologischen Bornierungen seiner sozialistischen Kampfzeit. Gewiß

231 PS 11, S. 350, FN 1. 232 PS 89, S. 342-343; PS 11, S. 350-351

VI. 1. Die Sinnverkehrungsgefahren der Demokratisierung

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können alternative und systemkritische Parteien in der Opposition ihre Prinzipien besser reinhalten als in der Regierung. Sicherlich haben sie mittels einer prinzipiengestützten und öffentlichkeitswirksamen Skandalisierungspolitik die Möglichkeit, die Regierung mit Blick auf die kommenden Wahlen unter Druck zu setzen. Die Annahme, daß diese Einflußmöglichkeiten aber grundsätzlich größer sind als die politischen Gestaltungsmöglichkeiten am Kabinettstisch, ist falsch, weil es auch einen Kräfte- und Prinzipienverschleiß macht- und verantwortungsloser Oppositionsparteien gibt. Dies lehrt ja gerade auch Michels' Paradebeispiel: die strukturkonservative Anpassung der deutschen Sozialdemokratie resultierte nicht aus einer Regierungsbeteiligung, die ihr unter der Bedingung der „negativen Integration" (Groh) wohl auch unmöglich gewesen wäre. Als Partei der regierungsamtlich geächteten Vaterlandsverräter' konnte die SPD sich sogar verbal als Fundamentalopposition gerieren. Und dennoch hatte Michels zufolge die Orientierung am Status Quo, vermittelt über die Orientierung an der Erhaltung und Steigerung der Mandatszahlen im Parlament, derart zugenommen, daß mit der Partei als außerparlamentarischen wie parlamentarischen Veto-Spieler nicht mehr zu rechnen war. Bekanntlich hatte Michels aus der Haltung der Partei zur Marokko-Krise schließen können, daß sie sich im Kriegsfall einem Generalstreik widersetzen, einer Kriegsfinanzierung aber nicht im Wege stehen würde.233 Mag also die Bestimmung des Scheitelpunktes, ab dem sich Organisationsmacht und Innovationsfreudigkeit dysproportional verhalten, nicht zu überzeugen, so doch die Logik des Arguments, daß radikale Politikansätze, je erfolgreicher ihr Marsch durch die Institutionen ist, ihre Fähigkeit zur Gesamtirritation des politischen Systems verlieren und zu einem grundsätzlich systemaffirmativen Konkurrenzunternehmen um einzelne Politikfelder werden. Sie werden dann um die ,nachhaltigere Rentenpolitik', die .modernere Familienpolitik' oder die ,bessere Friedenspolitik' streiten. Der radikale Ansatz von einst - wie die Kritik der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse, der Ruf nach Abschaffung der ,stehenden Heere' oder das Einfordern basisdemokratischer Regeln in Politik und Gesellschaft - wird in den Hintergrund treten und für die Politik der Entscheidungsträger keine Rolle mehr spielen.234 Man mag das bedauern, man darf sich aber auch über den Gewinn an Pragmatismus und Realismus freuen, der mit dem Abbau von Utopieüberschüssen einhergeht. In Pessimismus sollte der aufmerksame Leser der Parteiensoziologie dagegen letztlich nicht fallen: Es ist zwar das Schicksal radikaler Politikansätze, unter ,normalen' parlamentarischen Bedingungen des Parteienwettbewerbs - die Michels in seinem Buch unterstellt, obwohl sein Polit-Report ja noch im .pseudoparlamentarischen Kaiserreich' spielt irgendwann von den Gesetzen des Organisationswesens domestiziert und absorbiert zu werden. Die oligarchische Verkrustung ist aber nicht das letzte Wort der Geschichte. Vom Pessimismus eines Max Weber, der den modernen Staat auf einen bürokratischen Kristallisationspunkt hinauslaufen sieht, in dem die Individualität von einem „Gehäuse der Hörigkeit" erstickt werde, ist Michels weit entfernt. Ihm zufolge erzeugt die oligar-

233 Vgl. Kapitel IV.5. Probelauf für den Weltkrieg. 234 Das hat Paul Tiefenbach (a.a.O.) am Beispiel der „Grünen" gezeigt.

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

chische Stagnation als Verfallsform der Demokratie an ihren Rändern gleichsam das ,Rettende'. Nach ihrem Scheitelpunkt steuert die Parabel der Oligarchisierung nämlich unaufhörlich auf ein Legitimitätsdefizit zu. Die Leitungspositionen im Staat werden dann durch die aus der zivilen Gesellschaft kommenden demokratischen Erneuerer attackiert: „Die demokratischen Strömungen in der Geschichte gleichen mithin dem steten Schlage der Wellen. Immer brechen sie an der Brandung. Aber auch immer wieder werden sie erneut. Das Schauspiel, das sie bieten, enthält zugleich Elemente der Ermutigung und Verzweiflung. Sobald die Demokratie ein gewisses Stadium ihrer Entwicklung erreicht hat, setzt ein Entartungsprozeß ein, sie nimmt damit aristokratischen Geist, bisweilen auch aristokratische Formen an und wird dem ähnlich, gegen das sie einst zu Felde zog. Dann entstehen ihr aus ihrem eigenen Schoß neue Ankläger, die sie der Oligarchie zeihen. Aber nach einer Periode glorreicher Kämpfe und einer Periode ruhmloser Teilnahme an der Herrschaft gehen auch sie zu guter Letzt in der alten dominierenden Klasse auf: Jedoch gegen sie erheben sich nun namens der Demokratie wieder neue Freiheitskämpfer [...] Stets neue Wellen tosen gegen die stets gleiche Brandung. Das ist die tiefinnerste Signatur der Parteigeschichte."235 Die Wellen-Metaphorik offenbart einen weiteren Demokratie-Begriff in Michels' Parteiensoziologie, vielleicht den zentralen: Demokratie hat hier den Charakter einer „AntiStruktur",236 die die soziale Hierarchie fur einen Moment aufbricht, zumindest starken Irritationen aussetzt und Spielräume fur das Neue eröffnet, um dann wieder vom Außergewöhnlichen, Außeralltäglichen zur Regelmäßigkeit des oligarchischen Betriebs überzugehen. In diesem Sinne läßt sich bei Michels von einem antiautoritären Charisma der Demokratie' sprechen - und zwar in einem komplexen Sinn: als antiinstitutioneller Erneuerungsbewegung, die gleichzeitig von Beginn ihre Negation miteinschließt, weil sie der Dialektik von Charisma und Institutionalisierung nicht entkommt.237 Die Prognose im Schlußkapitel der Parteiensoziologie, daß die soziale Erneuerung nicht aus einer wie auch immer gearteten Oligarchie kommt, sondern von den Rändern, ist in jedem Fall auch als politisches Plädoyer zu verstehen: die Revitalisierung der Demokratie bedarf jener Fundamentalkonflikte, die der „unheilbare Idealismus der Jungen" gegen die „unheilbare Herrschsucht der Alten" auf die politische Tagesordnung

235 PS 89, S. 378. 236 Frei nach Victor Turner, Das Ritual. Struktur und Antistruktur, Frankfurt a.M./New York 1989. 237 Zu den charismatheoretisch fundierten Theorien sozialer Bewegungen und sozialen Wandels vgl. Winfried Gebhardt, Charisma als Lebensform. Zur Soziologie des alternativen Lebens, Berlin 1994; W. Gebhardt/Arnold Zingerle, Michael N. Ebertz (Hg.), Charisma. Theorie - Religion Politik, Berlin/New York 1993; Stefan Breuer, Bürokratie und Charisma. Zur politischen Soziologie Max Webers, Darmstadt 1994.

VI. 1. Die Sinnverkehrungsgefahren der Demokratisierung

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setzt.238 Wenn man will, kann man hier den Sympathisanten der sozialen Graswurzelbewegungen von einst wiedererkennen. Aus dieser politischen Präferenz erklärt sich auch, warum Michels 1911 - im diametralen Widerspruch zu Positionen, die er knapp 14 Jahre später einnehmen wird - der Vision, die charismatische Erneuerung könne von einer „Elite entschlossener Männer" 239 initiiert werden, eine eindeutige Absage erteilt. Er knüpft damit an sein Selbstverständnis eines demokratischen Pädagogen an.240 „Caveant proletarii, ne quid aristocratiae capiat socialismus", hatte Michels 1907 gewarnt, bevor er sich an die elitentheoretische Ausarbeitung seiner Parteierfahrungen machte. Die Parteiensoziologie kann auch als gigantische Beweisaufnahme für diese Hypothese gelesen werden. Sie behauptet ja nicht nur die elitäre Wirklichkeit der modernen Massendemokratie, sie sensibilisiert nicht nur für die oligarchische Praxis und klärt nicht nur über die Techniken elitärer Machtreproduktion unter demokratischen Bedingungen auf. Der Mikrokosmos der Sozialdemokratie ist für Michels auch ein Utopie-Laboratorium: die Probe auf das Versprechen einer herrschaftsfreien Gesellschaft, der Nukleus des Zukünftigen. Was hier mißlingt, daran hat er keinen Zweifel, wird auch in Zukunft mißlingen. Denn an jene Dialektik, wonach sich alles aus seinem Gegenteil ergibt - die Demokratie aus der Diktatur, die herrschaftsfreie Gesellschaft aus der Gewalt - hat Michels zu keiner Zeit geglaubt:241 „Die Einzeldiktatur unterscheidet sich in ihren Wirkungen nicht wesentlich von der Diktatur einer Gruppe von Oligarchen. Der Begriff Diktatur bildet aber den Gegensatz zum Begriff Demokratie. Ersteren im Dienste des letzteren verwerten wollen, hieße also den Krieg als die tauglichste Waffe des Friedens, den Alkohol zur Bekämpfung des Alkoholismus verwenden." 242 Zwei Gründe führen Michels zur „glatten Verneinung der Möglichkeit eines klassenlosen Staates" 243 : erstens die Grunderkenntnis seiner Organisationssoziologe, die, um mit Seymour Martin Lipset zu sprechen, „klar die technische Unmöglichkeit" aufzeigt, „die strukturelle Trennung zwischen Herrschenden und Beherrschten in einer komplexen Gesellschaft aufzuheben." 244 Daraus folgt, zweitens, daß das sozialistische Unternehmen der Güter- und Kapitalkollektivierung die Privatbesitzer zwar entmachten, die leitenden Beamten der kollektiven Güterverwaltung dagegen mit einer immensen Macht

238 239 240 241 242

Zitat PS 89, S. 378. Dieser positiv konnotierte Ausdruck findet sich erst in der zweiten Auflage. Vgl. PS 89, S. 351. Vgl. Kapitel V: Demokratische Pädagogik im Vorfeld der Parteiensoziologie. So auch Eugenio Ripepe, Roberto Michels oggi, in: Faucci, a.a.O., S. 7-21. PS 89, S. 360; PS 11, S. 372. Die Warnung vor derartigen Illusionen ist auch Gegenstand seiner politischen Publizistik zur Zeit der Parteiensoziologie. Vgl. Michels, Crisi del socialismo, a.a.O., wo er den Gedanken, den Sozialismus per Gewaltanwendung herbeiführen zu können, als nervöse Krisenerscheinung der sozialistischen Weltanschauung selbst entlarvt. 243 PS 89, S. 359; PS 11, S. 370. 244 Seymour Martin Lipset, Revolution and Counterrevolution, London 1969, S. 430.

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

ausstatten würde: „Die Verwaltung des gesellschaftlichen Reichtums kann nur auf Grund der Schaffung einer ausgedehnten Beamtenschaft in befriedigender Weise vonstatten gehen. [...] Die Verwaltung eines unermeßlichen Kapitals, zumal wenn es sich um der Kollektivität gehörige Gelder handelt, übermittelt den Verwaltern mindestens die gleiche Quantität Macht als der Besitz eigenen Kapitals, der Privatbesitz".245 Es ist namentlich der Gedanke von der „Diktatur des Proletariats" als revolutionärer Übergangsphase in die klassenlose Gesellschaft, den Michels dementiert. Das Gegenteil werde geschehen: „Es ist anzunehmen, daß eine einmal in den Besitz der Machtmittel der Kollektivität gelangte Gruppe diese Macht festzuhalten trachten wird. [...] Die Gefahr liegt nahe, daß die soziale Revolution die faßbare und sichtbare, als solche offen anerkannte herrschende Klasse von heute in eine geheime, unter dem Deckmantel der Gleichheit auftretende, demagogische Oligarchie umtauschen würde."246 Gewiß ist die Kritik des sozialistischen Zukunftsversprechens keine originäre Einsicht von Michels' Parteiensoziologie. Sie ist Kernaussage aller Elitentheorien von Gumplowicz über Mosca bis Pareto. Aber bei Michels hat sie doch einen ganz anderen Zungenschlag. Michels schreibt aus der Perspektive eines radikalen Demokraten, der das, was er beobachtet, als Degenerationserscheinung, als Pathologie und als „oligarchische Giftdämpfe" begreift. Während die Elitentheorie Paretos und Moscas darauf hinausläuft, die Demokratie durch die These von der politischen Klasse ad absurdum zu fuhren und zu erledigen, sucht Michels' Schlußkapitel nach dem demokratischen Gegengift, mit dem die oligarchische Krankheit gemildert und die Demokratie gestärkt werden könnte.

245 PS 89, S. 358-359; PS 11, S. 370. 246 PS 11, S. 372, 373; PS 89, S. 360-361.

VI. 1. Die Sinnverkehrungsgefahren der Demokratisierung

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1.10. Desillusionierung und Sozialpädagogik: Der Parteiensoziologe als demokratischer Aufklärer „Die Hauptarbeit, die oligarchischen Tendenzen [...] tunlichst zu paralysieren, liegt auf dem Gebiet der sozialen Pädagogik."247

Vielleicht ist es dem überwiegend pessimistischen Tenor des Werkes und der nomothetischen Einkleidung des Beobachteten in „eherne Gesetze" geschuldet, daß das ,Finale' der Parteiensoziologie in der gesamten Rezeption - bis auf eine Ausnahme248 -

247 PS 11, S. 390; ähnlich PS 89, S. 376, wo es statt „paralysieren" „abzuschwächen" heißt. Der Begriff der Sozialpädagogik, dem wir bei Michels schon öfter begegnet sind und der für dieses Unterkapitel von zentraler Bedeutung ist, ist auch ein zeitgenössischer Trendbegriff gewesen: Paul Natorp etwa ist der Autor eines Buches mit dem Titel „Socialpädagogik" gewesen, ein Werk, das nicht zufallig am Ende des neunzehnten Jahrhunderts erscheint, als sich das aufklärerische Bildungsideal eines die ständischen, nationalen und konfessionellen Partikularidentitäten und Trennungslinien transzendierenden, aufgeklärten und freien Menschen in der Defensive befindet und zunehmend durch distinktiv-exklusive Menschenbilder und auch aggressive Erziehungsmodelle abgelöst wird. (Vgl. Aleida Assmann, Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee, Frankfurt a.M./New York 1993, S. 29-33) Natorps philosophische Grundlegung der Pädagogik ist in diesem Kontext zweifellos ein politisches Buch, da es in Frontstellung zum wilhelminischen Bildungswesen eine „gründliche Bildung für alle" fordert. Obendrein bekennt sich der Autor in seinem Werk zu einem idealen Sozialismus, in dem jeder Mensch in seiner vollen Würde anerkannt und als autonomes Wesen behandelt werden solle. (Paul Natorp, Socialpädagogik. Theorie der Willensbildung auf der Grundlage der Gemeinschaft, zuerst 1899, 7. Aufl. besorgt von Richard Pippert, 1974). In einer Auseinandersetzung mit den Burschenschaften hatte Natorp vorher erklärt, daß sich bei der gegenwärtigen jeder geistige Mensch überlegen müsse, ob es nicht seine „Pflicht wäre, der Socialdemokratie beizutreten". Offene Worte, über die sich aber nur die Sozialdemokratie freuen konnte. Ansonsten geriet Natorp in das Kreuzfeuer der Kritik von Professoren und konservativen Kreisen, und sah sich zu einer öffentlichen Distanzierung von der Sozialdemokratie genötigt. In der Folge sollte auch Natorp die Grenzen der Lehrfreiheit im wilhelminischen Bildungswesen zu spüren bekommen: 1906 und 1908 auf Platz Eins der Vorschlagsliste in Halle, scheiterte sein Berufungsverfahren am Widerstand des Ministeriums. Vgl. hierzu Ulrich Sieg, Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus. Die Geschichte eine philosophischen Schulgemeinschaft, Würzburg 1994, S. 292. Weniger das zuweilen hochabstrakte philosophische Denken Natorps als vielmehr der von ihm in die Debatte eingebrachte Begriff findet rasch Eingang in die sozialdemokratische Kultur. 1902 verkündete die „Neue Zeit" mit Bezug auf Natorps Buch: „An einer solchen Pädagogik muß der Sozialismus naturgemäß das größte Interesse haben." Vgl. Akademikus, Zur Geschichte der Sozialpädagogik, in: Neue Zeit, 21. Jg., Bd. 1, Nr. 12, 20.12.1902, S. 370-375, S. 370. 248 Vgl. Friedrich Eberles Lexikon-Artikel „Die Ursprünge der realistischen' Demokratietheorie: Mosca, Pareto, Michels und Schumpeter", in: Iring Fetscher/Herfried Münkler (Hg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen. Bd. 5: Neuzeit: Vom Zeitalter des Imperialismus zu den neuen sozialen Bewegungen, München 1987, S. 156-163.

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

keine Rolle gespielt hat. Dabei ist freilich der ,Clou' von Michels' demokratietheoretischem Hauptwerk verloren gegangen. Der Autor plädiert nämlich im Lichte der ernüchternden Erkenntnisse über den Willensbildungsprozeß in demokratischen Parteien für ein Programm der demokratischen Aufklärung. Insofern Michels damit an zahlreiche ähnliche Absichtserklärungen aus dem Entstehungskontext der Parteiensoziologie anknüpft, erscheint die Hypothese plausibel, daß die ursprüngliche Intention des Autors - ungeachtet der späteren Umfiinktionierung seiner Elitentheorie für andere, herrschaftslegitimierende Zwecke - darin bestand, mit der Oligarchietheorie ein Desillusionierungsprogramm zur Stärkung der Demokratie vorzulegen. Hatte er bis 1907 noch für eine demokratische Pädagogik innerhalb der Partei durch die sozialistischen Intellektuellen geworben, 249 so hat er in der Folge offensichtlich diesen Anspruch als Sozialwissenschaftler von einer externen Beobachterposition aus umsetzen wollen. „Um der Massen willen und um der Zukunft der Demokratie" willen müsse die „Wissenschaft den Massen diese Binde von den Augen reißen", 250 fordert er 1909. Diese Semantik der Ent-Täuschung kennzeichnet auch sein Hauptwerk: Absicht sei es, „an einigen allzu leichten und demokratischen Illusionen zu rütteln, durch welche die Wissenschaft getrübt und die Massen getäuscht werden." 251 Bezeichnend für diesen Enthüllungsanspruch sind immer wiederkehrende Angriffspunkte wie die „verschleiernden Behauptungen" der Delegierten, durch die die „Augen" der Delegierenden „vor einer tatsächlich für die Demokratie [...] bestehenden Gefahr" verschlossen werden, 252 sowie die „mit allem schauspielerischen Beiwerk versehenene Vorspiegelung" des Demagogen, der aus der Gefühlsausbeutung der Massen einen politischen Mehrwert generiert. 253 Auch wenn Michels sich über weite Strecken als weltanschaulich ,interessenloser' Wissenschaftler präsentiert, den die Frage, welches Maß von Demokratie „wünschenswert" sei, nicht zu interessieren habe, 254 so versteht er die desillusionierende „Vivisektion" doch ausdrücklich nicht als eine Erledigung der Demokratie, sondern als eine Stärkung ihrer Widerstandskraft gegenüber der oligarchischen Sinnverkehrung: „Nur ein klarer und nicht umflorter Einblick in die oligarchischen Gefahren der Demokratie" werde „diese Gefahren zwar nicht verhindern, aber doch vermindern können." 255 Gemessen an diesem Anspruch ist Michels' Hauptwerk mehr als eine demokratietheoretische Abhandlung. Die „Soziologie des Parteiwesens" fordert nicht nur ein Programm der demokratischen Desillusionierung, sie setzt dieses bereits um. Sie nennt beim Namen, worüber Oligarchen jedweder Couleur schweigen: die Arcana Imperii der Machterhaltung im Parteiwesen. Erinnern wir uns nur an die Entlarvung des demokratischen Scheins' der Vertrauensfrage, der demokratischen' Inszenierung von in Hinter-

249 Vgl. die Diskussion mit Casalini in Kapitel V.2. Gewalt, Mitläufertum, Demagogie: der Turiner Generalstreik und das Projekt einer demokratischen Erziehung. 250 Michels, Der konservative Grundzug der Parteiorganisation, a.a.O., Sonderabdruck, S. 17. 251 PS 89, S. 374; PS 11, S. 389. 252 PS 11, S. 35. 253 PS 89, S. 181; PS 11, S. 176. 254 PS 89, S. 372. 255 PS 11, S. 391; PS 89, S. 376.

VI.l. Die Sinnverkehrungsgefahren der Demokratisierung

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zimmern bereits verabredeten Kandidatenaufstellungen sowie der Kooptation als Einbindungsstrategie. James Burnham hat vor diesem Hintergrund Michels einen Platz in der Reihe der „Machiavellisten" des 20. Jahrhunderts zugewiesen, weil die schonungslose Aufdeckung der hinter demokratischen Gemeinwohlformeln tobenden Machtkämpfe das Täuschungspotential bonapartistischer Politikansätze minimiere und letztlich der „Verteidigung der Freiheit" dienlich sei.256 Das sozialpädagogische Schlußkapitel der Parteiensoziologie verfolgt dieses Erkenntnisinteresse ausdrücklich: ausgehend von der Diagnose der Usurpierbarkeit demokratischer Ordnungen und Prozeduren durch die Oligarchen, plädiert Michels hier für einen soziomoralischen Begriff von Demokratie, den man als demokratische Bürgertugend bezeichnen kann. Es liege nämlich „im Wesen der Demokratie", „die geistige Fähigkeit zur Kritik und Kontrolle" zu stärken. Michels' Hoffnung stützt sich dabei auf seine Beobachtung der „freien Individuen", welche „immer wieder von neuem die Autoritäten ,revidieren' und nicht müde werden, aus Erkenntnis oder Temperament die ewige Frage nach dem letzten Warum aller menschlichen Einrichtungen zu wiederholen". Seine Zuversicht gründet sich dabei nicht nur auf hervorragende Einzelne, sondern auf einer Entwicklungsprognose, die man auch als ^sozialdemokratisch' bezeichnen kann, insofern Michels die Demokratisierung der Gesellschaft an die Egalisierung von Bildungschancen knüpft: die „Prädisposition zur freien Forschung", d. h. hier vor allem die Stärkung der Urteilskraft und Kritik- und Kontrollfáhigkeit, werde „sich mehren mit der Sicherung und Besserung der ökonomischen Lebensbedingungen der Massen sowie der zunehmenden Öffnung der Quellen der Bildung". „Erhöhte Bildung aber bedeutet erhöhte Fähigkeit zur Kontrolle." 257 „Die Führung der gebildeten Massen" werde daher „immerhin weniger uneingeschränkt als die Führung der Massen Ungebildeter" sein.258 Michels' Insistieren auf eine demokratische Sozialpädagogik ist die praktische Konsequenz seiner Organisationssoziologie, welche die Möglichkeit einer institutionellen Lösung des Oligarchieproblems verwirft. Basisdemokratischen Verfahren hat er, wie gesehen, aus Zweckmäßigkeitsgründen eine Absage erteilt. Und das institutionelle Machtbalanceprinzip der Gewaltenteilung scheint ihm die Anwendung demokratischer Grundsätze keinesfalls garantieren zu können. 259 Insofern Michels damit aber auch die Dis-

256 Vgl. James Burnham, Die Machiavellisten. Verteidiger der Freiheit, Zürich 1949, S. 247: „Die Machiavellisten sind die einzigen, die uns die volle Wahrheit über die Macht sagten. Andere Schriftsteller haben höchstens die Wahrheit über andere als die von ihnen vertretenen Gruppen ausgesagt. Die Machiavellisten legen einen vollständigen Bericht vor: in praxi ist das Hauptziel aller Herrscher, ihren eigenen Interessen zu dienen und ihre Privilegien zu wahren. Es gibt keine Ausnahmen." 257 PS 11, S. 390; PS 89, S. 375-376. 258 Michels, Der konservative Grundzug ..., S. 24. 259 PS 89, S. 158. Michels macht sich hier die Position Hans Kelsens zu eigen. Daß der „romantische Pluralismus" eines „Kräftegleichgewichts der Machtgruppen sogar eine gefahrliche Illusion sei, weil sie die Verflechtung politischer, militärischer und wirtschaftlicher Elitenkartelle unsichtbar mache, hat später C. Wright Mills mit Blick auf die USA behauptet. Vgl. Mills, Die amerikanische Elite, Hamburg 1962.

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

kussion der institutionellen Gestalt von Demokratie ad acta legt, ist es ihm möglich, die wie auch immer im einzelnen geregelte Repräsentativdemokratie gegenüber allen realistischen politischen Systemalternativen als das „geringere Übel" zu bewerten: „Je klarer die Menschheit sich deshalb der Vorteile bewußt ist, die selbst eine unvollkommene Demokratie über ein relativ gut funktionierendes aristokratisches System besitzt, desto weniger wird die Einsicht in die Gebrechen der Demokratie zu einer Rückkehr in die Aristokratie Anlaß werden können, um so weniger, als [...] die Gebrechen der Demokratie ja gerade in ihren unveräußerlichen aristokratischen Schlacken bestehen."260 Theoriegeschichtlich steht Michels mit diesem Fazit, daß die elitäre Demokratie im Vergleich zu allen radikaldemokratischen Träumen die einzig mögliche und im Vergleich zu allen anderen Elitenherrschaften die wünschenswerteste ist, an der Schwelle des Paradigmenwechsels vom klassischen identitären zum elitenpluralistischen Demokratiebegriff. Ein Vorläufer der Theorie demokratischer Elitenherrschaft im Sinne Joseph A. Schumpeters ist Michels allerdings nur im Hinblick auf die Destruktion des von Rousseau abgeleiteten Idealparadigmas. Die Schumpetersche Konsequenz, den Demokratiebegriff auf eine „demokratische Methode" zu reduzieren, d. h. auf die pluralen Minimalbedingungen des demokratischen Parteienwettbewerbs, liegt ihm fern. Michels hat zwar den empirischen Nachweis vorgelegt, daß es in der modernen Massendemokratie die Berufspolitikereliten sind, die das Monopol des politischen Handelns ausüben, während die Bürger mehr oder weniger passive Konsumenten der ihnen offerierten Politikangebote sind. Gleichwohl hätte er es abgelehnt, daraus die Schumpetersche Konsequenz zu ziehen. Schumpeter zufolge gelten politische Systeme als demokratisch, wenn sie Assoziations- und Meinungsfreiheit garantieren und wenn eine Pluralität politischer Eliten - also mindestens zwei Parteien - in periodisch wiederkehrenden Wahlen um die Stimmen der ansonsten politisch unbeteiligten Bürgerschaft konkurriert. Dem elitenpluralistischen Demokratieverständnis Schumpeters zufolge bedeutet Demokratie „nur, daß das Volk die Möglichkeit hat, die Männer, die es beherrschen sollen, zu akzeptieren oder abzulehnen."261 Die Bewertung dieses Kriteriums durch Michels könnte gegensätzlicher kaum sein: „Man wäre versucht, es eine Tragikkomödie zu nennen: Die Massen begnügen sich damit, unter Aufbietung aller Kräfte ihre Herren zu wechseln [...]. Ein bescheidener Erfolg, wenn das psychologische Phänomen in Betracht gezogen wird, daß auch der wohlmeinendste Idealist in kurzen Jahren seiner Führerschaft alle jene Eigenschaften in sich entwickelt, die das Führertum kennzeichnen."262 Die schmale Definitionsbasis der demokratischen Methode' wäre zudem seinem eigenen Desillusionierungsanspruch zuwidergelaufen, weil sie die oligarchische Sinnver-

260 PS 11, S. 391, PS 89, S. 377. 261 Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus, Demokratie, Tübingen/Basel 1993, S. 452 262 PS 11, S. 377; PS 89, S. 367.

VI. 1. Die Sinnverkehrungsgefahren der Demokratisierung

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kehrung wieder unsichtbar gemacht hätte. Michels aber hat ja gerade zeigen wollen, daß auch unter der formalen Beibehaltung der demokratischen Wahlprozedur die „Psychologie der Organisation" die Durchsetzung eines faktisch stabilen und inamoviblen Führertums" bewirkt.263 Überdies hätte er der normativen Auszeichnung der elitendemokratischen Wirklichkeit durch das Repräsentationsmodell skeptisch gegenübergestanden. Der „Mythos der Stellvertretung" (Sofsky/Paris)264 zählt auch bei Michels bereits zu den „demokratischen Illusionen", die in der Praxis einer permanenten Indienstnahme und rhetorischen Manipulation durch die Herrschaftseliten ausgesetzt sind: „Die Führerschaft in der Demokratie baut ihr Kommandorecht auf der Fiktion der demokratischen Allmacht der Massen auf."265 In der Praxis werde die repräsentationsdemokratische Legitimation von der Führung dazu benutzt, „demokratische Disziplin", d. h. „absoluten Gehorsam" zu fordern und jeglichen Widerstand gegen die Ausübung der Amtsgeschäfte als unbotmäßig und illegitim zu verwerfen. Das geschieht mitunter auch durch ein rhetorisches Andocken an das identitätsrepräsentative Modell von Demokratie. Auch in der Vertreterdemokratie simuliert der Repräsentant seine Identität mit den Repräsentierten. Er überbrückt die Entfremdung zwischen Mandatär und Mandanten, indem er sich als einer von ihnen inszeniert, der ihren Gemeinwillen nach außen vertritt. Die demokratische Legitimitierung durch die Wahl befördert diese kollektive Illusion der Repräsentationsfiktion - und steigert die Autorität des Führertums in der Demokratie: „Der gewählte Führer ist kraft des demokratischen Prozesses seiner Wahl in höherem Grade befähigt, sich als Ausdruck des Gesamtwillens zu betrachten und als solcher Gehorsam und Unterwerfung unter seinen Eigenwillen zu beanspruchen als der geborene Führer der Aristokratie."266 Repräsentationstheoretisch sei dies, wie Michels vermerkt, „einwandfrei", da er von den Massen ein Mandat auf Zeit bekommen habe. „Aber in der Praxis wird, wenn auch nicht immer die Wahl, so doch stets die Wiederwahl der Führer durch die Massen mit solchen Methoden und unter so starken Zwangsvorstellungen vollzogen, daß die Freiheit des Entschlusses dabei als in hohem Grade beeinträchtigt erscheint."267 Was Michels an der „Idee von der Vertretbarkeit der Volksinteressen" kritisiert, ist, daß in der Rhetorik der Repräsentation der „substantielle Unterschied" zwischen Wählern und Gewählten durch eine Fiktion, einen „effet de mirage", unkenntlich wird. „So bildet sich im heutigen Proletarier unter dem Einfluß der beständig wirkenden Kräfte einer unentwegten Redekunst ihm kulturell überlegener, sprachgewandter Führer der fixe Gedanke heraus, er brauche nur zu wählen, seine sozialökonomische Sache nur einem Anwalt zu übergeben, um auch selber schon ,Anteil an der Herrschaft' zu gewinnen." In anderen Worten: nicht gegen das unhintergehbare repräsentative Strukturprinzip der modernen Demokratie richtet sich Michels' Kritik, sondern gegen den Glauben an die Repräsentation, den Glauben, „daß eine neue Elite von Politikern ihre Ver-

263 264 265 266 267

PS 89, S. 370. Wolfgang Sofsky/Rainer Paris, Figurationen sozialer Macht, a.a.O., S. 219. PS 89, S. 213; PS 11, S. 210. PS 89, S. 212; PS 11, S. 209. PS 89, S. 213; PS 11, S. 210.

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

sprechungen besser halten werde als ihre Vorgänger". Einen solchen Glauben normativ zu unterfüttern, kann aber dem Michelsschen Selbstverständnis nach nicht das Erkenntnisinteresse einer soziologischen Untersuchung sein. Deren Aufgabe ist vielmehr die Aufdeckung der „Macht der gewählten Führerschaft über die wählenden Massen". 268 Es ist der Blick auf die oligarchischen - und das meint ja nicht nur Politik durch die wenigen, sondern vor allem auch für die wenigen - Sinnverkehrungspotentiale von Demokratie, der bei Michels einer elitendemokratischen Konsequenz à la Schumpeter im Wege steht: die Einsicht in die Verselbständigungstendenz der politischen Klasse und in die bescheidenen Kontrollmöglichkeiten der Basis. Die Kontrolle der Eliten den Eliten selbst zu überlassen, also den jeweiligen Oppositionseliten, die an der Entlarvung des Regierungshandelns schon aus eigenem Machtstreben ein existentielles Interesse haben, dürfte ihm trotz des machtpolitischen Realismus dieses Ansatzes als eine gefährliche Illusion erschienen sein, insofern er selbst Zeuge der Kartellbildung von Regierung und Opposition zur Zeit des Ersten Weltkrieges werden sollte und den innerparteilichen „esprit de corps" zwischen Eliten und Gegeneliten schon vorher thematisiert hat. Last but not least wäre es ihm auch bedenklich erschienen, das „ethische Maß" eines umfassenden Partizipationsanspruchs aus der Hand geben, „mit dem der Grad der jeder Gesellschaftsordnung immanenten Oligarchie auf seine leichten Schwankungen und Nuancen hin gemessen werden kann."269 Vor diesem Hintergrund erscheint die in der Theoriegeschichte übliche Attestierung einer Reflexivitätszunahme im Übergang von der „klassischen" zur „realistischen" Demokratietheorie eines Schumpeter revisionsbedürftig. Daß Demokratie dort herrsche, wo mindestens zwei Parteien um die Wählergunst konkurrieren und keine von ihnen die Angebotsseite monopolisiert, ist von Michels nicht deshalb bestritten worden, weil ihm das Idealbild einer ,wahren Demokratie' vorschwebte, sondern wegen der mit hoher Wahrscheinlichkeit eintretenden korrumpierenden Folgen einer solchen elitendemokratischen Selbstbescheidung für die demokratische Tugend von Repräsentanten und Repräsentierten. Die Spitze der oligarchischen Korruption der Demokratie ist für ihn bezeichnenderweise der Bonapartismus. „Der Bonapartismus ist die Theorie der Herrschaft des ursprünglich aus dem Gesamtwillen hervorgegangenen, aber von ihm emanzipierten Einzelwillens, den seine demokratische Entstehung vor den Gefahren seiner undemokratischen Gegenwart schützt."270 Diese „gottesgnadengewordene Volksgnadentheorie" kennzeichnet aber mitnichten bloß die Herrschaft Napoleons III. Vielmehr glaubt Michels im Verhalten der demokratisch legitimierten Führerschaft aller Parteien dem Bonapartismus verwandte Züge wiederzuerkennen, gewissermaßen einen MiniaturBonapartismus, der zur „Synthese der Demokratie mit der Selbstherrschaft" tendiert. Je weiter dieser Prozeß der Verselbständigung auf der Grundlage repräsentationsdemo-

268 PS89, S. 371; PS 11, S. 384-385. 269 PS 89, S. 374. 270 PS 89, S. 210; PS 11, S. 205.

VI. 1. Die Sinnverkehrungsgefahren der Demokratisierung

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kratischer Vollmachten voranschreitet, so Michels' Diagnose, kommt es zur mentalen Renaissance der Sonnenkönige, zur Gleichsetzung von Partei und Person: „Le Parti, c'est moi". „In höher entwickeltem Stadium der Oligarchie einer Organisation beginnt die Führerschaft, nicht nur die Einrichtungen, sondern sogar Hab und Gut der Organisation, an deren Spitze sie steht, mit ihrem eigenen Hab und Gut zu identifizieren."271 Insofern Michels die Präponderanz des Elitenhandelns bzw. der .Angebotsseite' (ζ. B. Wahlkampf) als konstitutives Merkmal der modernen Massendemokratie zum Ausgangspunkt hat und erst aus der Analyse der ihr innewohnenden Sinnverkehrungsgefahren der Repräsentation heraus die ,Nachfrageseite' (Partizipation) zu stärken sucht, scheint Michels' Hauptwerk die „realistische" Demokratietheorie nicht nur antizipiert, sondern bereits an Komplexität überboten zu haben. Zumindest erlaubt sein Hauptwerk, den ,Realismus' der Theorie demokratischer Elitenherrschaft erheblich zu relativieren und ihre Idee einer elektoralen Prophylaxe des Oligarchieproblems selbst der Illusion zu überführen. Aufgrund dieser Desillusionierungsstrategie an zwei Fronten, gegenüber den Idealisten' wie auch gegenüber den ,Realisten', verfehlt das Deutungsschema .direkte versus repräsentative Demokratie' den demokratietheoretischen Ertrag der Parteiensoziologie: die Aufklärung über die Machtmechanismen in einer repräsentativen Demokratie. Im Lichte ihrer Entstehungsgeschichte besehen, setzt Michels' Hauptwerk damit das Projekt einer demokratischen Pädagogik mit neuen, organisationssoziologischen und sozialpsychologischen Mitteln fort. Für den jungen Sozialdemokraten, der allenfalls republikanische, d. h. immer auch repräsentative Ordnungsvorstellungen hegte, stand die Realisierung einer unmittelbaren Volksherrschaft nie auf der politischen Agenda. Vielmehr erschien ihm die Erziehung zu demokratischen Tugenden, zu Zivilcourage und Engagement als ein unabdingbares Kontrastprogramm zur autoritären Verfassung und zum Untertanengeist der wilhelminischen Gesellschaft. Systematisch, zeitlich wie logisch hätte hierin die primäre Aufgabe der Sozialdemokratie im Kaiserreich bestanden, nachdem das Bürgertum seine liberaldemokratischen Traditionen größtenteils aufgegeben hatte. Daß die SPD hieran zu scheitern schien, hatte Michels zunächst nur auf die Macht einer dominanten vordemokratischen Kultur, dann immer mehr auch auf die Gesetze der Organisationspsychologie zurückgeführt, die auf eine Strukturanpassung an den Status Quo drängten. Es sind diese Einsichten, die Michels 1911 dafür sensibilisieren, daß eine Demokratie ihre Bestandsvoraussetzung nicht allein in ihren Institutionen und formalen Prozeduren hat, sondern auch in den moralischen und sozialpsychologischen Prädispositionen der Gesellschaft finden muß. Vor diesem Hintergrund ist auch die übliche ideengeschichtliche Lokalisierung von Michels' Oligarchiethese auf dem ideengeschichtlichen Entwicklungsweg von Mosca zu Schumpeter in Frage zu stellen. Als Soziologe der unhintergehbaren Repräsentativstruktur in komplexen Gesellschaften und als Diagnostiker des Repräsentationsdilemmas steht er vielmehr in einer anderen ideengeschichtlichen Traditionslinie mit Autoren wie Peter Bachrach und Tom Bottomore, die wie Michels das umfassende Partizipa-

271 PS 89, S. 216-219; PS 11, S. 214-218.

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

tionsideal als Maßstab für die oligarchische Deformation der Repräsentatiwerfassung sowie als Stimulus einer Revitalisierung der Demokratie für unverzichtbar gehalten haben. 272 Dafür spricht auch die kleine Parabel vom Schatzsucher, die Michels ein Jahr nach der deutschen Erstveröffentlichung erstmals in die italienische Ausgabe der Parteiensoziologie eingefügt hat: „Die Aufgabe des einzelnen wird also die des Schatzgräbers sein müssen, der von seinem sterbenden Vater einen Schatz angezeigt erhielt: der Schatz ist zwar nicht auffindbar, aber die an die Suche nach ihm gesetzte Arbeit des Sohnes macht den Acker fruchtbarer. Die Suche nach der Demokratie wird keine anderen Früchte liefern."273 In dieser Michelsschen Perspektive kann es Demokratie nie essentialistisch - als Dekkungsgleichheit von Begriff und Realität - geben, sondern ist vielmehr dynamischheuristisch zu verstehen, als die Frucht der investigativen Bemühungen partizipationswilliger Bürger, deren existentielles Erfordernis für die Demokratie Michels nicht nur proklamiert, sondern auch organisationspsychologisch bewiesen hat.

272 Vgl. Tom Bottomore, Elite und Gesellschaft. Eine Übersicht über die Entwicklung des Eliteproblems, 2. Aufl., München 1969; Peter Bachrach, Die Theorie demokratischer Elitenherrschaft. Eine kritische Analyse, Frankfurt a.M. 1970; vgl. Genett, Art. zu Bachrach: Theorie demokratischer Elitenherrschaft, in: Sven Papcke/Georg W. Oesterdiekhoff (Hg.), Schlüsselwerke der Soziologie, Wiesbaden 2001, S. 16-18. 273 PS 89, S. 376-377. Erstmals in Michels, La Sociologia del partito politico nella democrazia moderna, Torino 1912, S. 425.

VI.2. Die Vergeblichkeit der Demokratisierung: Zum epistemologischen Hintergrund von Robert Michels' Parteiensoziologie „Revolutionen hat es gegeben, Demokratien nicht."1 „Cambia il maestro di cappella, ma la musica è sempre quella."2 (Robert Michels) „Wir werden sehen, [...] dass es zwischen Staat und Staat im Wesen der Sache keinen Unterschied gibt."3 (Ludwig Gumplowicz) „Ich studierte die Geschichte der Revolution. Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, allen und keinem verliehen. Der einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich."4 (Georg Büchner)

Neben der Begründung der Sinnverkehrungsthese war es das Ziel des ersten Teils unserer Analyse, auch in Aufbau und Inhalt der „Soziologie des Parteiwesens" einzuführen. Zu den dabei im Vergleich zur bisherigen Forschung gewonnenen neuen Ergebnissen zählte die Erkenntnis, daß Michels' Elitenbegriff ,stratarchischer' ist, als das semantisch ausgewiesen ist, und daß sein Massen-Begriff eklektischer und varianter ist, als das in der gängigen Subsumtion unter das massenpsychologische Paradigma zum Ausdruck kommt. Zudem haben wir sehen können, daß sein Begriff der politischen Partei über den historischen Kontext der „Massenintegrationspartei" hinausreicht, insofern Michels die milieu- und klassentranszendierende ,diffuse' Wählerschaft als strategische Orientierungsmarke der modernen Parteiorganisation ausgibt. Michels' oligarchietheoretische Prognose hat bereits die ,Catch-all-Partei' im Blick. Die inhaltliche Rekonstruktion des Michelsschen Hauptwerkes ist damit abgeschlossen. 1 2 3 4

PS 11, S. 17; PS 89, S. 18. PS 11, S. 377; PS 89, S. 369. Ludwig Gumplowicz, Soziologische Staatsidee, S. 25. Georg Büchner, An die Braut [Gießen, November 1833?], in: ders., Der Hessische Landbote. Texte, Briefe, Prozeßakten, kommentiert von Hans-Magnus Enzensberger, Frankfurt a.M. 1965, S. 67-68.

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

Mit der Rekonstruktion der Oligarchiethese als Sinnverkehrungsthese habe ich die demokratischen Bedeutungsschichten und Erkenntnisinteressen des Michelsschen Hauptwerkes herausgearbeitet. Nach dieser ersten Lesart stellt die Oligarchiethese erstens das Wissen um die Mechanismen der sukzessiven Verselbständigung der politischen Klasse bereit und ist zweitens mit der Intention verbunden, den demokratischen Sinn von Politik auch und gerade nach seiner Verfälschung wiederzugewinnen und der Verfügungsmacht der .Demagogen' zu entziehen. Michels' sozialpädagogischer Appell an die Fortsetzung des demokratischen Projekts sowie sein Notwendigkeitsnachweis soziomoralischer wie kognitiver Gegengewichte gegen die Oligarchisierung stützen meine These, das Erkenntnisinteresse der Parteiensoziologie bestehe in einer Desillusionierung der Demokraten um der Demokratie willen. In diesem Erkenntnisziel setzt sich Michels' Republikanismus,5 den wir als ein Leitmotiv seiner sozialdemokratischen Publizistik kennengelernt haben, fort. Die Parteiensoziologie steht somit noch unverkennbar in der Kontinuität eines progressiven Denkens, das die Kompetenzen der Herrschaftsunterworfenen zu stärken sucht und die oligarchischen „Giftdämpfe" als eine pathologische Degenerationserscheinung denunziert. Und dennoch enthält das Buch beides: Indizien für das Festhalten am Programm der Aufklärung und Demokratisierung wie auch für seine Erledigung. Das Gegenstück zur dynamischen Lesart von Demokratie, in der die Sinnverkehrung immer auch die Gegenkräfte für eine approximative Wiedergewinnung demokratischer Sinngehalte mobilisiert, ist die eher statische Vergeblichkeitsthese, wonach sich an der oligarchischen Grundstruktur qualitativ nichts ändern kann und demokratische Revitalisierungsimpulse wirkungslos im strukturkonservativen Getriebe der Organisation verpuffen. In den am Eingang dieses Kapitels stehenden Zitaten wird diese pessimistische Lesart auf den Punkt gebracht. Die dem Michelsschen Hauptwerk eigentümliche Verschränkung von Aussagen des historischen Pessimismus und des historischen Optimismus haben wir bereits im ersten Teil bemerkt. Um Wiederholungen zu vermeiden, stütze ich mich bei der Begründung der Vergeblichkeitsthese im folgenden stärker auf Michels' übrige Publikationen aus dem zeitlichen Kontext der „Soziologie des Parteiwesens" und nur noch gelegentlich auf diese selbst. Dies ist ohne weiteres möglich, weil sich die Vergeblichkeitsthese und die damit zusammenhängende Semantik des historischen Pessimismus in allen soziologisch ambitionierten Publikationen der Zeit wiederfindet, egal, ob Michels auf nationale Freiheitsbewegungen oder auf die im Zeichen von ,Emanzipation' und .Freiheit' ausgetragenen sozialen Konflikte zu sprechen kommt. Aufgrund dieser Materialbasis geht die folgende Analyse in ihrem Erkenntnisziel über die Parteiensoziologie hinaus und beansprucht, den theoriegeschichtlichen Ort von Michels' Soziologie zu lokalisieren. Meine erste These in diesem Zusammenhang lautet, daß Michels' Studien aus den Jahren 1908 bis 1914 ihre axiomatischen Vorentscheidungen aus einem Feld des Wissens beziehen, das zur Zeit der Jahrhundertwende seine

5

Allerdings findet über den Zeitraum von 1902 bis 1911 betrachtet auch ein Begriffstausch statt, in dem die .Republik' durch die .Demokratie' ersetzt wird.

VI.2. Die Vergeblichkeit der Demokratisierung

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extremste Zuspitzung in der sozialdarwinistischen Konfliktsoziologie Ludwig Gumplowicz' erfahren hat. Daran schließt sich eine weitere These an: Dort, wo sich Gumplowicz und Michels in ihren Aussagen überschneiden, weisen die Aussagen über eine bloße Affinität der beiden Autoren hinaus. Sie sind möglicherweise repräsentativ für einen theoriegeschichtlichen Umbruch in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, den ich frei nach Pino Ferraris als ,,Positivismus in der Krise seiner Epoche"6 bezeichnen möchte. Während Ferraris mit dem Nachweis des positivistischen Marxismus Michels' sozialdemokratische Phase zwar in einem völlig neuen Licht präsentiert, dabei aber nicht expliziert hat, was mit der „Krise" des weltanschaulichen Hinterlandes gemeint ist und wie diese sich bei Michels darstellt, soll in diesem Kapitel am Beispiel von Michels und Gumplowicz die Krise des Positivismus auf den Begriff gebracht und erläutert werden. In den Werken der beiden Autoren wird nicht nur die antitelelogische Wende des Positivismus im fin de siècle deutlich, sondern diese Wende drückt sich zugleich auch in einer Osmose zwischen Positivismus und Neoidealismus und zwischen Aufklärung und Pessimismus aus. In diesem Sinne nehmen die folgenden Ausführungen den zwischenzeitlich liegengebliebenen roten Faden des positivistischen Hinterlandes in Michels' Denken wieder auf.7

2.1. Michels' Affinität zum soziologischen Positivismus Ludwig Gumplowicz' In einem Aufsatz Karl Achams über die Konflikttheorie Ludwig Gumplowicz' findet sich der lapidare Hinweis auf die „unübersehbare", „ - ja auch von diesem selbst so empfundene - Nähe der politisch-soziologischen Analysen von Robert Michels zur soziologischen Staatsidee des Grazer Gesellschaftstheoretikers."8 Nun läßt sich eine Präsenz Gumplowicz' in den Anmerkungsapparaten zu Michels' soziologischen Schriften, den frühen wie den späteren, durchaus nachweisen, aber eine ostentative Dokumentation seiner theorieverwandtschaftlichen Nähe hat Michels - zumindest an den Fußnoten gemessen - 1911 eher Mosca und Pareto gegenüber erbracht, denen er in den Zwanziger Jahren dann noch Georges Sorel als ideologischen Weggefährten hinzugefügt hat. Dementsprechend haben ihn die bisherigen Michels-Deutungen entweder in die elitentheoretische Ahnenreihe „Mosca - Pareto - Michels" gestellt oder ihn als „Sorelianer" begriffen. 9

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Pino Ferraris hat den Politiker Michels als „deutscher Sozialdemokrat der zweiten Internationale, mit einer stark vom positivistischen Marxismus erfüllten Kultur, in der Krise seiner Epoche" bezeichnet; vgl. ders., Roberto Michels politico (1901 - 1 9 0 7 ) , in: Quaderni dell'Istituto di studi economici e sociali, Nr. 1, Università di Camerino, 1983, S. 53-162. Vgl. die Kapitel Π.4.5.; III; IV.2.3. Karl Acham, Ludwig Gumplowicz und der Beginn der soziologischen Konflikttheorie im Österreich der Jahrhundertwende, in: Britta Rupp-Eisenreich/Justin Stagi (Hg.), Kulturwissenschaft im Vielvölkerstaat, Wien/Köln/Weimar 1995, S. 170-207, S. 188. Vgl. den Literaturbericht in der Einleitung, Kapitel I.

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

Karl Achams Bemerkung ist vor diesem Hintergrund der Michels-Forschung und der relativ wenigen direkten Bezugnahmen Michels' auf Gumplowicz offenbar eher intuitionsgeleitet und nur für denjenigen nachvollziehbar, der das Œuvre beider Soziologen kennt. Für die These, daß Michels eine ,Nähe' zu Gumplowicz empfunden habe, gibt es bislang keinen Beweis. Soziologiegeschichtliche Vorarbeiten, auf die sich Acham stützen könnte, existieren in diesem Zusammenhang nicht. Die Affinität zwischen Gumplowicz und Michels wird, wenn ich nichts übersehen habe, in dieser Arbeit also das erste Mal einer Analyse unterzogen. Meine Überlegungen zum theoriegeschichtlichen Ort der Michelsschen Soziologie lassen sich von der Hypothese leiten, daß die intellektuelle Vaterschaft eines Gedankens oder gar eines Weltbildes in wissenschaftlichen Arbeiten nicht immer ausgewiesen sein muß, daß es mitunter kontingente, biographische oder wissenschaftshistorische, Gründe dafür gibt, daß die Bedeutung eines intellektuellen Wirkungszusammenhangs nicht immer an der Zahl der Fußnoten ablesbar ist, sondern sich erst der vergleichenden Lektüre erschließt. Im folgenden möchte ich zeigen, daß Achams Intuition - wenn es sich hier nicht um intime Kenntnis handelt - ein Treffer ins Schwarze ist, und die angesprochene „Nähe" von Michels zu Gumplowicz sichtbar machen. Damit glaube ich einen Beitrag zu dem von David Beetham vorgeschlagenen Weg leisten zu können und die wissenssoziologische Frage nach den kognitiven Effekten und epistemologischen Brüchen, die mit Michels' Übergang vom sozialistischen Politiker zum Soziologen der Politik einhergehen, zu vertiefen. Es wäre gewiß eine allzu kühne Absicht, einen direkten Einfluss Gumplowicz' auf Michels nachweisen zu wollen. Das Ziel der folgenden vergleichenden Studie ist vielmehr, die von Acham erwähnte Wesensverwandtschaft herauszuarbeiten, um das epistemologische Feld zu rekonstruieren, auf dem Michels sich die analytischen Seziermesser beschafft hat, um sich der von ihm - einen Gumplowiczschen Begriff übernehmend - sogenannten „Vivisektion"10 sozialer Bewegungen und Parteien zu widmen. Daß Michels die Soziologie Gumplowicz' nicht immer direkt, sondern womöglich auch in gefilterter Form über zeitgenössische italienische Autoren wie Napoleone Colajanni, Ugo Forti oder Franco Savorgnan rezipiert hat, bei denen Gumplowicz weitaus besser wegkam als in deutschsprachigen Landen, daß Gumplowicz selbst seine Überlegungen in einer Theorielandschaft entwickelt hat, die namentlich durch Wundt, Ratzel und Ratzenhofer gekennzeichnet werden kann - das stört den Gang der Untersuchung nicht im geringsten. Nicht ein Lehrer-Schüler-Verhältnis soll hier nachgewiesen werden, sondern die Einflüsse eines soziologischen Weltbildes, das in Gumplowicz' soziologischer Staatstheorie seine prägnanteste Form erfahren hat. Das im Anschluß an diese Einleitung folgende Kapitel über die politisch-soziologische Theorie Ludwig Gumplowicz kann und soll für den Vergleich mit Michels als „Idealtypus" fungieren, der sowohl die Affinitäten als auch die Divergenzen der beiden Autoren benennbar macht. Denn Robert Michels ist ja bekanntlich nicht bei der „vernünf-

10 Gumplowicz, Sozialphilosophie im Umriss, ND der Ausgabe Innsbruck 1910, Aalen 1969, S. 21. Vgl. Michels, Widmung an Max Weber, in: PS 11, S. III.

VI.2. D i e Vergeblichkeit der Demokratisierung

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tigen Resignation" G u m p l o w i c z ' stehen geblieben. B e i M i c h e l s ist vielmehr deutlich z u sehen, w i e die begriffliche Konfiguration v o n s o z i o l o g i s c h e n A u s s a g e n v o m

,3io-

Materialismus" z u m „Neoidealismus" 1 1 übergeht und damit das positivistische Weltbild in der Krise

seiner

Epoche

reflektiert. B e i G u m p l o w i c z drückt sich diese Krise vor

allem i m A b s c h i e d v o n einer , T e l e o l o g i e ' der sozialen K ä m p f e aus. Im Vergleich dazu ist die A u f w e r t u n g ideeller Faktoren bei i h m höchst subtil, sie fallt eigentlich nur deshalb auf, w e i l sie mit s e i n e m rigiden materialistischen Reduktionismus denksystematisch inkohärent ist. B e i M i c h e l s d a g e g e n sind die starken seismographischen Erschütterungen i m positivistischen Hinterland doppelt hörbar. D i e antiteleologische Wende ist hier nicht w e n i g e r vernehmbar als der R u f nach einer „Synthese v o n Idealismus und Positivismus" ( M i c h e l s ) . 1 2 D a s R e i z v o l l e an der B e s c h ä f t i g u n g mit G u m p l o w i c z ist, daß m a n bei ihm die tektonischen Verschiebungen in d i e s e m Hinterland systematischer erfassen kann als bei M i c h e l s . B e v o r ich die S o z i o l o g i e G u m p l o w i c z ' skizziere, diese mit M i c h e l s ' Schriften vergleiche, u m dann anhand der Gemeinsamkeiten und Unterschiede die These v o n der Krise d e s Positivismus z u explizieren, sollen aber der Vollständigkeit w e g e n die w e n i g e n In-

11 Ich übernehme hier eine Unterscheidung Erhard Stöltings (vgl. ders., Akademische Soziologie in der Weimarer Republik, Berlin 1986), die ich für diese Arbeit inhaltlich auf folgende Weise expliziere, die von Stölting durchaus abweichen kann: unter „Biomaterialismus" verstehe ich ein Gesellschaftsbild, das den Darwinschen „struggle for existence" auf die Analyse sozialer Interessenkämpfe überträgt und die „Selbsterhaltung" oder „Anpassung" sozialer Gruppen sowie ihre „Machtinstinkte" als Fundament aller gesellschaftlichen Entwicklung versteht und dementsprechend die Sphäre des Rechts oder des Idealen als sekundäre Manifestationen von Machtkämpfen und sozialen Triebstrukturen auffaßt. Das Präfix „Bio" soll keineswegs einen „Biologismus" suggerieren, sondern dem Umstand Rechnimg tragen, daß soziale Prozesse wohl in ihrer Eigenheit als „gesellschaftliche" Phänomene (und nicht „gesellschaftskörperliche") verstanden, gleichzeitig aber in einer biologischen Semantik dargeboten werden. Ein Beispiel ist, wenn Robert Michels den Aufstieg von Unterschichtenangehörigen im sozialistischen Parteiapparat als „Parteieugenik" bezeichnet. (Vgl. R. Michels, Eugenics in Party Organization, a.a.O.) In Anlehnung an das Kürzel ,DiaMat' könnte man also von einem .BioMat' sprechen, im Sinne einer quasi-naturgesetzlichen Betrachtung sozialer Konflikte, die sich biologischer Metaphern aus dem „Kampf ums Dasein" bedient. Dem so verstandenen BioMat erscheinen Konflikte prinzipiell nicht abschaffbar und er ist deshalb von organologischen Staatsmodellen einer präsupponierten Harmonie in Naturordnung und Gesellschaftsordnung strikt zu unterscheiden. Unter „Neoidealismus" verstehe ich die Aufwertung ideeller Handlungsfaktoren, die Erkenntnis der Eigendynamik der kulturellen Sphäre, die Entdeckung der charismatischen Führerschaft und Vergemeinschaftung sowie alle intellektuellen Suchbewegungen, die das Projekt einer interessenvermittelten Integration der Gesellschaft als gescheitert ansehen und einer wertvermittelten Integration von Staat und Gesellschaft das Wort reden, weil nur eine solche es im Emstfall erlaube, von dem Einzelnen auch Opfer für das Ganze einzufordern. In diesem Zusammenhang bedeutet das Präfix ,Neo', daß der Idealismus angesichts der Erosion traditionaler Werte nach neuen Quellen der gesellschaftlichen Wertschöpfiing Ausschau hält. Das beliebteste normative Bindemittel ist in diesem Kontext die Idee der Nation. 12 Vgl. Michels, Ein sexueller Kongreß in Italien, in: Die neue Generation, 7. Jg., Heft 2, Februar 1911, S. 63-70.

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

dizien zusammengetragen werden, die auf einen direkten Rezeptionszusammenhang hindeuten. Denn Ludwig Gumplowicz und Robert Michels haben sich gekannt und Michels hat sich zu dessen Lebenswerk sehr deutlich geäußert.

2.2. Ein Lob auf den „Rassenkampf' Am Anfang steht eine Verwechslung. Als Robert Michels 1902 die Schrift „Nationalismus und Internationalismus" von Ladislaus Gumplowicz 13 rezensiert, präsentiert er diesen als den „bekannten Soziologen". 14 Ladislaus ist aber der Sohn des „bekannten Soziologen" Ludwig Gumplowicz. Er wirkt um die Jahrhundertwende als sozialistischer Publizist - oft am Rande der Legalität 15 - und tritt als Exponent der Sozialistischen Polnischen Partei sowie als einer der schärfsten Kritiker Rosa Luxemburgs auf, deren „abstrakten Internationalismus" er den Verrat am polnischen Unabhängigkeitskampf vorwirft. 16 Die Verwechslung leitet eine der interessantesten und wohl intensivsten Korrespondenzen ein, die sich im Turiner Michels-Archiv finden lassen.17 Der Hintergrund dieser Brieffreundschaft ist - neben dem Generationszusammenhang 18 - eine Art Wahlverwandtschaft: Michels und Ladislaus Gumplowicz finden eine weitgehende Übereinstimmung darin, daß zwischen den extremen Polen eines , abstrakten Internationalismus' und eines chauvinistischen Nationalismus' der demokratische Nationsbegriff rehabilitiert werden müsse und dieser zur Solidarität mit nationalen Autonomiebewegungen verpflichte; außerdem treffen sich der Deutsche und der Pole in der Geschlechter- und Frauenfrage, 19 in der antimilitaristischen Debatte zur Zeit der Marokko-Krise sowie in der Kritik an der mentalen ,Verpreußung' der SPD. 20 Mit Michels' Ausscheiden aus der deutschen Sozialdemokratie 1907 endet die Korrespondenz mit Ladislaus, 21 der Michels noch auf den Weg gibt: „Ich freue mich, dass 13 Ladislaus Gumplowicz, Nationalismus und Internationalismus im 19. Jahrhundert, VII. Heft der Reihe ,Am Anfang des Jahrhunderts', Berlin 1902. 14 Vgl. Michels, Nationalismus, Nationalgefiihl, Internationalismus, in: Das Freie Wort, Jg. 2, Nr. 4, 1902, S. 107-111, S. 109. 15 1896 wird er zu 27 Monaten Gefängnis in der Berliner Haftanstalt Plötzensee verurteilt. Hintergrund ist seine zu diesem Zeitpunkt noch anarchistische Agitation gegen den Staat, den er als „Räuberbande" bezeichnet hatte. Vgl. Emil Brix (Hg.), Ludwig Gumplowicz oder Die Gesellschaft als Natur, Wien/Köln/Graz 1986, S. 38-40. 16 Vgl. Timm Genett, Lettere di Ladislaus Gumplowicz a Roberto Michels (1902-1907), in: Annali della Fondazione Einaudi, Vol. XXXI-1997, Firenze 1998, S. 417-473, S. 451. 17 Einen Ausschnitt haben wir in Kapitel II.4.2. (Ladislaus Gumplowicz und die Dichotomie von „demokratischem Nationalismus" und „abstraktem Internationalismus") gesehen. 18 Ladislaus lebte von 1869 bis 1942. 19 Vgl. Ladislaus Gumplowicz, Ehe und freie Liebe, Berlin 1900; 2. erw. Aufl. 1902. 20 Vgl. T. Genett, Lettere di Ladislaus ..., a.a.O. 21 Sie lebt nur noch kurz 1909 und 1910 auf, wo sie allein den Tod von Ludwig Gumplowicz zum Anlaß hat.

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Sie in Italien ein Asyl gefunden haben, und nicht minder darüber, dass Sie nunmehr am eigenen Leibe erfahren, dass zwischen Monarchie und Monarchie doch immerhin ein Unterschied besteht, selbst für Republikaner." 22 Derartige Differenzierungen werden zumindest theoretisch bei Michels in der Folge tendenziell unsichtbar. Den „bekannten Soziologen" Ludwig Gumplowicz wird Michels erst ein halbes Jahr vor dessen Tod (August 1909) kennenlernen. Im Januar 1909 kommt es zur einzigen gesicherten persönlichen Begegnung zwischen ihm und Gumplowicz senior. Vor der Soziologischen Gesellschaft in Graz hält Michels einen Vortrag über den „konservativen Grundzug der Parteiorganisation", 23 der kurz darauf auf Vermittlung Gumplowicz' in der „Monatsschrift fur Soziologie" abgedruckt wird. 24 Gleich nach der Lektüre der ersten Druckfahnen beeilt sich der Grazer Professor, zu dem Aufsatz „zu gratulieren! Der Aufsatz ist ganz famos - ich las ihn mit voller Zustimmung und höchster Befriedigung [...] Zudem ist das echte Soziologie".25 Diese Wertschätzung durch einen der engagiertesten Vorkämpfer der Institutionalisierung von Soziologie darf man als ein Höchstlob verstehen. Insbesondere, wenn man an die Spannungen und methodischen Divergenzen denkt, die die Konstitution der Soziologie um die Jahrhundertwende begleiten; Divergenzen, die immerhin so stark sind, daß sie Max Weber bereits 1913 wieder zum Austritt aus der gerade gegründeten „Deutschen Gesellschaft für Soziologie" bewegen. Aber Michels und Gumplowicz treffen sich offenbar nicht nur im Lichte eines gemeinsamen Begriffs dessen, was „echte Soziologie" sei. Es ist auch der Gegenstand von Michels' Aufsatz, in dessen Beurteilung beide einander sehr nahe kommen. Michels hat mit der Demokratie immerhin sein politisches Glaubensbekenntnis zum Gegenstand einer desillusionierenden Analyse gemacht und bemerkt gegenüber Gumplowicz, diesen Aufsatz „mit meinem Herzblut geschrieben" zu haben. Wenn man Michels hier folgen will, dann hat er nach eigener Einschätzung mit der Sezierung seiner demokratischen Ideale nicht nur persönliche Werte, sondern auch Beziehungen aufs Spiel gesetzt: „Wie viele demokratische Freunde werde ich durch ihn [den Aufsatz] definitiv verlieren!!" 26 Äußerungen dieser Art haben immer einen doppelten Boden. Befürchtet Michels wirklich die Entfremdung von seinen „demokratischen Freunden" oder steckt in dem Ausruf

22 Ladislaus Gumplowicz an Michels, 27.7.1907, ARMFE; zit. n. Genett. Lettere di Ladislaus, S. 472. 23 Siehe Gerald Mozetic, Ein unzeitgemäßer Soziologe: Ludwig Gumplowicz, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Heft 4, 37. Jg. 1985, S. 621-647, Anm. 20, wo sich Mozetic auf den Nekrolog des Gumplowicz-Schülers Felix Schulz in der Grazer „Tagespost" vom 20. August 1909, S. 1, bezieht. 24 Monatsschrift für Soziologie, 1. Jg., April 1909, S. 228-236, Fortsetzung im Maiheft, S. 301-316. Die Veröffentlichung in der „Monatschrift" geht wohl auf die Vermittlung Gumplowicz' zurück. Vgl. dessen Brief an Michels, 28. Januar 1909, ARMFE, in dem Gumplowicz anfragt, „ob Sie nicht so freundlich wären, den hier gehaltenen Vortrag, der hier allgemein sehr gefallen hat, der Redaction [...] zum Abdruck zu überlassen?". 25 Brief von Gumplowicz an Michels, 28. [?; Monat unleserlich] 1909, ARMFE. 26 Brief von Michels an Gumplowicz, 23. Mai 1909, Handschriftensammlung der Biblioteka Jagiellonska, Uniwersytet Jagiellonski, Krakow, Sygnatura 6444 III, k. 189.

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

nicht auch der Selbstgenuß des vorurteilsfreien' Gelehrten, der seinen Texten große Wirkungen zuschreibt und aus der Antizipation feindlicher Reaktionen von .vorurteilsvollen' Genossen nicht unerhebliche Distinktionsgewinne herauszuziehen vermag? Welches Ausmaß solcherlei Selbst-Distinktionen des Gelehrten vom politischen Betrieb, insbesondere von den „Parteimassen", annehmen können, zeigt die wiederum überschwengliche Antwort von Ludwig Gumplowicz. Demnach habe Michels nichts weniger als die „Wahrheit" gesagt: „Sie haben das innerste Wesen all und jeder Organisation so treffend dargestellt wie noch niemand. Anscheinend sagen Sie ja nicht Neues - das passiert immer demjenigen[,] der eine allgemein gefiihlte Wahrheit sagt - aber Sie haben das[,] was alle ßihlten[,] als einen ewigen wesentlichen Charakterzug aller Parteien, oder sagen wir jeder Partei als solcher[,] die sich organisirt - dargestellt. Ihr Aufsatz wird allen Parteimassen zu denken geben - wenn Massen überhaupt denkfahig sind! Aber mir scheint[,] dass Ihr Aufsatz den Soziologen, den Theoretikern mehr zu denken giebt als den Massen - für die Theoretiker mehr Werth hat als für die ewig sich gleichbleibende misera contribuens plebs."27 Keine Frage: Gumplowicz hätte das sozialpädagogische Desillusionierungsprogramm im Schlußwort der Parteiensoziologie nicht besonders ernst genommen. Er dürfte in Michels vielmehr einen Verwandten im pessimistischen bzw. realistischen Geiste gesehen haben. Aus seiner besonderen Wertschätzung für den jungen Turiner Soziologen hat er offensichtlich auch in Gesprächen mit Dritten keinen Hehl gemacht. So äußert sich der polnische Sozialwissenschaftler und Massenpsychologe Jan Karol Kochanowski gegenüber Michels über seine letzten Gespräche mit dem Grazer Soziologen vor dessen Tod: „J'ai pris occasion de Vous faire parvenir mes paroles sur Gumplowicz, en sachant que Vous l'avez connu personellement, et qu'il Vous a bien estimé en Vous consacrant ses opinions flatteuses pendant ses discours avec moi."28 Kochanowski hat sich zu dieser Zeit einen Namen mit einer Studie über die „emotiven Beziehungen zwischen Führern und Massen"29 gemacht. Michels hat mit der aphoristischen Sprunghafitigkeit des Buches zwar wenig anfangen können, bemerkt aber lobend ihren „großzügigen Pessimismus."30 Mit Gumplowicz hat Kochanowskis Studie trotz ihrer eher philosophischen Ausrichtung eine zentrale Aussage gemein, die schon im Titel zum Ausdruck kommt: „Urzeitklänge und Wetterleuchten geschichtlicher Gesetze in den Ereignissen der Gegenwart".31

27 28 29 30

Brief von Gumplowicz an Michels, Graz 23.5.1909. Brief von Jan Karol Kochanowski an Michels, 5.10.1909, ARMFE. So Michels in PS 89, S. 400. Michels, Rezension zu Kochanowski, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 36, Heft 2, März 1913, S. 621-622. 31 Innsbruck 1910; eine gleichnamige Aufsatzfassung erschien im September 1906 in der Wiener Wochenschrift „die Wage" (Sonderabdruck 14 Seiten). Der Text geht zurück auf einen Vortrag Kochanowskis auf dem sechsten Kongreß des Institut international de Sociologie in London im Juli

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Die Analyse der Gegenwart aus fortwährenden urzeitlichen Prägungen und Gesetzen der condition humaine kennzeichnet wie kein anderes soziologisches Deutungsangebot im fin de siècle das Werk Gumplowicz'. Der Rückgriff auf die Urzeit gerät bei ihm zur Letztbegründung des historischen Pessimismus. Mit Michels scheint das auf den ersten Blick wenig zu tun zu haben - was soll ein Intellektueller, für den die französische Revolution eine völlig neue Phase der Menschheitsgeschichte eingeleitet hatte, schon mit prähistorischen Spekulationen anfangen? Und doch wird Michels bald darauf die Neuauflage von Gumplowicz' Hauptwerk „Der Rassenkampf' sowie von dessen Erstlingsschrift „Rasse und Staat", in denen die Konflikte der Neuzeit eben aus Urkonflikten der Menschheit hergeleitet werden, 1910 in den Rang eines „standard work", ja, eines Schlüssels für die Probleme der Gegenwart erheben. In der Entwicklung der sozialen und nationalen Kämpfe seit der Erstauflage von 1883 sieht Michels sogar den schlagenden Beweis für die Richtigkeit des pessimistischen Tenors der Rassenkampf-Theorie. Gumplowicz gerät darüberhinaus in Michels' Darstellung geradezu zu einer zentralen intellektuellen Figur der Epoche. Über sein soziologisches Lebenswerk schreibt Michels im einzelnen: „Sie haben bei ihrem ersten Erscheinen Stürme des Unwillens und der Kritik erregt. Alle Teleologen und Optimisten fühlten sich durch sie verletzt, in ihren Hoffnungen gekränkt, in ihren Vorurteilen verwundet. Die Menschheit - auch die wissenschaftliche - hat ein so zugespitztes Bedürfiiis nach Anlehnung, Verklärung und Beschönigung, kurz nach Religion (im weitesten Wortsinn genommen), daß sie sich durch jeden Pessimismus, möge er nun Schopenhauer, Marx32 oder

1906: „Les meneurs et la foule (les échos de temps primitifs et les éclairs des droits historiques dans les phénomènes de la vie moderne)", abgedruckt in: Annales de l'Institut international de Sociologie, Tome XI, Paris 1907, S. 433-462. 32 Die Einordnung Karl Marx' in die Tradition des Pessimismus ist gewiß klärungsbedürftig. Für Michels war diese augenscheinlich so evident, daß er sich mit der lapidaren Erläuterung begnügte: „Typisch ist das Verhalten der modernen Parteisozialisten zu Marx, dessen gewaltigen Pessimismus sie über Bord geworfen haben, um sich desto fester an den optimistischen Strohhalm zu halten, den der Politiker in ihm ihnen geboten hat." (Rez. zu Ludwig Gumplowicz, siehe unten). Vgl. auch Michels' späte Schrift „Soziologie als Gesellschaftswissenschaft", Berlin 1926, S. 51: „Den Beweis dafür, daß die Erforschung der geschichtlichen Geschehnisse [...] auch zu einer pessimistischen Lehre zu fuhren vermag, liefert der historische Materialismus von Karl Marx mit seiner Ewigkeitswert beanspruchenden Klassenkampfidee und seiner Katastrophenthese." Wie die Rezension zu Gumplowicz zeigt, handelt es sich hierbei nicht um eine Marotte des späten Michels, sondern bereits um die feste Überzeugung des frühen Soziologen, der nur wenige Jahre vorher ein progressives Marx-Verständnis gepflegt hat (vgl. Michels, Vorwärts mit Marx und Kant!, in Volksstimme, 16. Jg., Nr. 48, 1905). Schleierhaft war diese rätselhafte Wende zum pessimistischen Marxismus auch für Gumplowicz' Sohn, der unter Bezugnahme auf obige Rezension des „Rassenkampfes" schrieb: „War den Karl Marx wirklich Pessimist? Wenn ein Arzt die Diagnose stellt: ,Du wirst drei Tage vom Fieber geschüttelt werden, dann aber dein Leben lang kerngesund sein' - so pflegt man eine solche Diagnose sonst doch wohl als optimistisch zu bezeichnen." (Vgl. Brief von Ladislaus Gumplowicz an Robert Michels vom 16. Juni 1910, ARMFE).

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Gumplowicz heißen, in ihrem innersten Empfinden bedroht fühlt und sich wie verzweifelt dagegen wehrt. Es gibt Gelehrte, die solchen pessimistischen Weltanschauungen gegenüber eine Schmerzempfindung haben, die ans physische streift. [...] Gumplowicz aber war einer der gründlichsten und unerbittlichsten Pessimisten, wenn auch keineswegs, wie ihm so oft vorgeworfen wurde, ein absichtlicher. Seine Theorie von der Entstehung des Staates aus der Gewalt und seiner Aufrechterhaltung durch das gleiche Mittel stieß die Staatsidealisten - und nicht minder die Staatsgewalthaber - vor den Kopf. Seine Theorie von der ethnischen Unreinheit des Staates und der immanenten Kampfesnatur aller sozialen Gruppen ärgerte die Nationalisten und, in anderer Richtung, die Sozialisten. Gumplowicz wurde zur bête noire sowohl der staatserhaltenden wie der harmonieträumenden Wissenschaftsbeflissenen."33 Die gedrängte Skizze bedarf einer Erläuterung. Der folgende Querschnitt34 von Gumplowicz' Soziologie beschränkt sich bewußt nicht nur auf die für den Vergleich mit Michels relevanten Punkte, sondern sucht auch mit einigen Strichen, ein Portrait des österreichisch-polnischen Soziologen zu zeichnen, der nach meiner Erfahrung auch bei mit der Geschichte des Fachs vertrauten Soziologen weitgehend in Vergessenheit geraten ist.

2.3. Exkurs: eadem et non aliter Ludwig Gumplowicz' Soziologie und die antitelelogische Wende des Positivismus Ludwig Gumplowicz ist von den Nachgeborenen nicht in den Rang eines „Klassikers des soziologischen Denkens" 35 erhoben worden. Weder in soziologiegeschichtlichen 33 Michels, Rezension zu: Ludwig Gumplowicz, Der Rassenkampf. Soziologische Untersuchungen, 2. Aufl. mit Anhang, enthaltend die 1875 erschienene Schrift „Rasse und Staat", Innsbruck 1909, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 31, 1910, S. 263-264. 34 Ich übernehme dabei Passagen aus T. Genett, Das Ende der Neuzeit. Ludwig Gumplowicz und die Urzeitklänge auf dem Boulevard der Zivilisation, in: Karsten Fischer (Hg.), Neustart des Weltlaufs? Fiktion und Faszination der Zeitwende, Frankfurt a.M. 1999, S. 113-138. 35 Zumindest, wenn man das Fehlen eines Beitrags zu Gumplowicz in den zwei von Dirk Käsler unter diesem Titel herausgegebenen Bänden (München 1976/1978) als Kriterium nimmt. Auch in den beiden Nachfolgebänden „Klassiker der Soziologie" (hg. v. Dirk Käsler, München 1999) findet sich kein Eintrag. Der Titel „Ludwig Gumplowicz. Ein Klassiker der Soziologie" findet sich zwar in dem „Katalog zur Ausstellung an der Universitätsbibliothek Graz anläßlich des 150. Geburtstages von Ludwig Gumplowicz" (Graz 1988, mit Beiträgen von Reinhard Müller und Gerald Mozetic), sowie bei Mozetic (vgl. diese FN unten, 1985b: S. 200). Allerdings spricht gegen den „Klassiker"Status, daß, wer sich heute in der Gegenwart orientieren will, auf soziologiehistorische Hilfestellungen in der Regel eben eher bei Weber oder Simmel verwiesen wird. Der Rekurs auf Gumplowicz' Konflikt- oder Gruppensoziologie findet im aktuellen soziologischen Denken überhaupt

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Arbeiten noch in der aktuellen soziologischen Diskussion ist ein nennenswerter Rekurs auf die Konflikttheorie des Grazer Professors festzustellen. Letzteres ist ohne Zweifel Gumplowicz', schon für manchen Zeitgenossen anstößigem, naturgesetzlichem Theoriedesign zuzuschreiben. Ersteres dagegen, seine konsequente Aussparung in der in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren mit viel Eifer betriebenen disziplingeschichtlichen Selbstvergewisserung des Fachs, kann verwunderlich stimmen. War Gumplowicz doch der erste deutschsprachige Autor eines international vielbeachteten und in mehrere Sprachen übersetzten Buches, das den N a m e n „Soziologie" im Titel führte. 36 Dieser „Grundriss der Soziologie" w i e auch der zwei Jahre zuvor erschienene und als „Soziologische Untersuchung" klassifizierte „Rassenkampf' 3 7 entstanden bereits vor den klassischen Werken von Tönnies und Simmel. 3 8 Sie verstanden sich nicht weniger als „schüchterne Anfangslaute einer grossen Wissenschaft der Zukunft" 39 und verbanden dieses Selbstverständnis mit einer expliziten Institutionalisierungsstrategie v o n Soziologie, die der Geschichtswissenschaft, der Rechtswissenschaft und Philosophie die gesell-

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nicht statt. Wobei das noch nicht gegen Gumplowicz sprechen muß, sondern auch der mangelnden Rezeption geschuldet sein kann, der weitgehenden Aussparung des polnisch-österreichischen Soziologen in den meisten Beiträgen zur Geschichte des Fachs. Fündig wird man in der Regel in überblicksartigen Aufsätzen zur österreichischen Soziologie, ζ. B. John Torrance, Die Entstehung der Soziologie in Österreich 1885-1935, in: Wolf Lepenies, Geschichte der Soziologie, Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität einer Disziplin, Band 3, S. 443-495. Eine Monographie existiert dagegen bis heute nicht. Die seit 1980 im deutschen Sprachraum erschienen Aufsätze zu Gumplowicz lassen sich rasch aufzählen und sind allesamt von Österreichern verfasst oder in österreichischen Zeitschriften veröffentlicht worden: Gerald Mozetic, Ein unzeitgemäßer Soziologe: Ludwig Gumplowicz, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 37, 1985a, S. 621-647; ders., Ludwig Gumplowicz: Das Programm einer naturalistischen Soziologie, in: Tradition und Herausforderung. 400 Jahre Universität Graz, hg. v. Kurt Freisitzer, Walter Höflechner, Hans-Ludwig Holzer und Wolfgang Manti, Graz 1985b, S. 189-210; Janusz Praglowski, Ludwik Gumplowicz und seine Krakauer Zeit, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie (ÖZS), 15. Jg., Heft 1, 1990, S. 71-83; Dieter Haselbach, Die Staatstheorie von L.Gumplowicz und ihre Weiterentwicklung bei Franz Oppenheimer und Alexander Rüstow, in: ÖZS, 15. Jg, 1/1990, S. 84-99; Wolfgang Holzinger, Gumplowicz' „Der Rassenkampf' (1883/1928): Ist der Rassismus-Vorwurf berechtigt?, in: ÖZS, 16. Jg., 4/1991, S. 31-53; Karl Acham, Ludwig Gumplowicz und der Beginn der soziologischen Konflikttheorie im Österreich der Jahrhundertwende, in: Britta Rupp-Eisenreich/Justin Stagi (Hg.), Kulturwissenschaften im Vielvölkerstaat. Zur Geschichte der Ethnologie und verwandter Gebiete in Österreich, ca. 1780-1918, Wien/Köln/Weimar 1995, S. 170-207; Emil Brix' Einführung in die soziologische Theorie Gumplowicz', in: ders. (Hg.): Ludwig Gumplowicz oder Die Gesellschaft als Natur, Wien/Köln/Graz 1986, S. 9-66. Gumplowicz, Grundriss der Soziologie, 1. Aufl. Wien 1885, 2. Aufl. Wien 1905; das Buch ist in der Folge auch auf Polnisch (1887), Französisch (1896), Russisch und Englisch (1899) und Japanisch (1901) erschienen. Vgl. hierzu wie zur nicht minder erfolgreichen Verbreitung der übrigen Werke Bernhard Zebrowski, Ludwig Gumplowicz. Eine Bio-Bibliographie, Berlin 1926. Gumplowicz, Der Rassenkampf. Soziologische Untersuchungen, Innsbruck 1883. Vgl. Mozetic, 1985a, S. 623; Ferdinand Tönnies' „Gemeinschaft und Gesellschaft" erschien 1887, Georg Simmeis „Über sociale Differenzierung" 1890. Rassenkampf, S.III.

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schaftswissenschaftliche Kompetenz anzweifelte und sich selbst die wissenschaftliche Respektabilität vindizierte, keinen Zweifel daran lassend, daß die Soziologie aus dem Kampf der Fakultäten als siegreiche Staatswissenschaft der Zukunft hervorgehen würde. Mit der Wirkungslosigkeit in der deutschsprachigen Soziologie kontrastiert allerdings die hohe Wertschätzung, die Gumplowicz in Italien, Frankreich und den USA zuteil wurde. So bemerkt Robert Michels 1924: „Was die deutsche Soziologie anbelangt, so ist sie für Italien so gut wie bedeutungslos geblieben [.·.] Ernstlichen Einfluß hat nur ein deutschsprachlicher Soziologe als solcher in Italien gewonnen, nämlich der Pole Ludwig Gumplowicz, dessen Buch über Die soziologische Staatsidee übersetzt und schnell vergriffen wurde."40 Verallgemeinert findet sich dieser Eindruck bei Heinz Maus: „Gumplowicz hat wie kaum ein anderer deutschsprachiger Soziologe der Jahrhundertwende auf die außerdeutsche Soziologie einzuwirken vermocht".41 Insbesondere in der amerikanischen Soziologie galt Gumplowicz schon den Zeitgenossen als „one of the founders of sociology" (Znaniecki), seine Theorie der Rassenkämpfe als „without any question the most important contribution thus far made to the science of sociology" (Lester F. Ward).42 Während Gumplowicz es in der angelsächsischen Diskussion somit sogar bis zum schulemachenden Begründer der Konfliktsoziologie gebracht hat, scheint er für die deutschsprachige Soziologie wirkungslos geblieben zu sein. Folgt man dem Urteil von Alfred Weber - in den Eubank-Interviews - ist Gumplowicz bereits Mitte der dreißiger Jahre dem Vergessen anheimgefallen 43 Theoretisch offenbar als unergiebig eingeschätzt, wurde Gumplowicz in der Folge sogar zum Objekt der Ideologiekritik. Georg Lukács sah in dem Werk des Grazer Soziologen eine „primitive biologistische Geschichtskon-

40 Robert Michels, Elemente zur Soziologie in Italien, in: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie, Jg. III, 4/1924, S. 219-249, S. 247. 41 Heinz Maus, Geschichte der Soziologie, in: Handbuch der Soziologie, hg. v. Werner Ziegenfuß, Stuttgart 1956, S. 1-120, S. 26. 42 Noch nach dem Zweiten Weltkrieg gilt Gumplowicz in den USA als „one of the pioneers in the development of sociological theory and the leader of the so called .conflict school' " (Harry Elmer Barnes), als „perhaps the most influential of the conflict theorists of his time" (Don Martindale) bzw. als „one of the classics of the theory of conflict" (Jerzy Szacki). Alle Zitate (und noch mehr) zur außerdeutschen Rezeption finden sich in Mozetic (1985b: 200-202). Es ist dieses erweiterte Blickfeld der Rezeptionsgeschichte, das Mozetic von einem „Klassiker der Soziologie" sprechen läßt. 43 Vgl. Dirk Käsler, Soziologische Abenteuer. Earle Edward Eubank besucht europäische Soziologen im Sommer 1934, Opladen 1985. Ich beziehe mich auf die italienische Übersetzung von Käslers Buch, die sich in Antonio Scaglia, La sociologia europea del primo Novecento. Il conflitto fra sociologia e dittatura, Milano 1992, findet. Das Urteil von Α. Weber ebd., S. 172. Der von Scaglia besorgte zweite Teil des Bandes ergänzt die Eubank-Interviews mit deutschen, österreichischen und französischen Soziologen durch die Rekonstruktion der italienischen Soziologie bis 1934. Immerhin wird Gumplowicz in den Interviews in seiner Bedeutsamkeit höher eingeschätzt als von Stein, Oppenheimer, Freyer, Spann, Marx, Sombart, Mannheim - übertroffen nur von Ratzenhofer, Schäffle, Vierkandt, v. Wiese, Simmel, Tönnies, Max Weber. Vgl. Scaglia-Käsler, S. 67.

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struktion" walten, welche der „Geschichtsauffassung des Faschismus" den Weg bereitet habe. 44 Dabei ist Gumplowicz durchaus repräsentativ für die Genese der modernen Soziologie. Die „kognitive Identität", 45 auf die Gumplowicz das Fach als erster verpflichtet, weist einige Parallelen zu den Konzeptionen der „Klassiker" auf und unterstreicht einmal mehr die Anbindung der frühen Soziologie an den pessimistischen Diskurskontext der Jahrhundertwende. 46 So vollzieht Gumplowicz' Begründung der „Wissenschaft der Zukunft" 47 nicht nur den Bruch mit der älteren, fortschrittsgläubigen Sozialwissenschaft (Comte, Spencer). Sein gesellschaftstheoretisches Programm der „vernünftigen Resignation" beinhaltet auch im Detail weitreichende axiomatische Grundentscheidungen für die moderne Soziologie und die Gesellschaftstheorie des 20. Jahrhunderts: neben dem Tod der Fortschrittsidee die Kontingenz der Werte; die Wahrnehmung von Gesellschaft als einen Zwangsmechanismus, in den das Individuum so fest eingebunden ist, daß es als Kategorie der Sozialtheorie ausscheidet; schließlich den sozialen Antagonismus als Grundprinzip der sozialen Welt, der es strenggenommen nicht mehr erlaube, von der Gesellschaft zu reden, sondern nur noch von den Gesellschaften in ihr 4 8 Damit hat Gumplowicz den für die frühe deutsche Soziologie konstitutiven Abschied vom tradierten Gesellschaftsbegriff eingeleitet.49 Daß diese soziologische Neuorientierung der Gesellschaftsbeobachtung nicht mehr mit ihrem Urheber selbst verbunden wird, dürfte neben der ideologischen Anrüchigkeit des Autors, dessen Theorie vom „Rassenkampf' der späteren Rezeption schon semantisch als inakzeptabel erscheinen sollte, mit einem schweren , Systemfehler' von Gumplowicz zu tun haben. Seine Grundlegung von Soziologie ist noch ganz einer systematischen Einheitswissenschaft im Stile des 19. Jahrhunderts verpflichtet. Inspiriert ist sie von den Naturwissenschaften und der Evolutionstheorie und orientiert sich an einem nomothetischen Ansatz, insbesondere am Nachweis eines mechanistischen „Gesetzes der Kausalität". 50 Mit diesem Theoriedesign dürfte er in den Augen der kulturwissenschaftlichen Avantgarde um Simmel, Sombart und Weber indiskutabel gewesen sein. Die gravierenden Unterschiede, die sich allen Gemeinsamkeiten zum Trotz aus dem Gegensatz von Kulturwissenschaft' und ,sozialer Naturwissenschaft' zwischen Gumplowicz und den .Klassikern' ergeben, werden besonders in der temporalen Bestimmung ihrer Gesellschaftsdiagnosen deutlich: Gumplowicz diagnostiziert nicht den pathologi-

44 George Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, 2.Auflage, Darmstadt/Neuwied 1974, S. 599f. 45 Vgl. Wolf Lepenies (Hg.), Geschichte der Soziologie. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität einer Disziplin, 4 Bd., Frankfurt a.M. 1981. 46 Vgl. Heinz-Jürgen Dahme, Der Verlust des Fortschrittsglaubens und die Verwissenschaftlichung der Soziologie, in: Otthein Rammstedt (Hg.), Simmel und die frühen Soziologen, Frankfurt a.M. 1988, S. 222-274. 47 L. Gumplowicz, Der Rassenkampf. Soziologische Untersuchungen, Innsbruck 1883, S. III. 48 Gumplowicz, Grundriss, S. 231-234. 49 Vgl. bzgl. der Affinitäten des zeitlich früheren Gumplowicz zu den „Klassikern" die Anmerkungen von Dahme, a.a.O., S. 250, 256, 258, 267. 50 Grundriss, S. 114.

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sehen Gang moderner Gesellschaften infolge eines kategorialen Umbaus der sozialen Synthesis von der „Gemeinschaft" zur „Gesellschaft" (Tönnies), nicht die Tragödie der Kultur, in der das Individuum vom Zwecksystem Gesellschaft überwältigt wird (Simmel); und auch nicht eine Entzauberung der Welt infolge des okzidentalen Rationalisierungsprozesses (Weber). Gumplowicz hat stattdessen das Krisenbewußtsein des fin de siècle und der frühen Soziologie entepochalisiert und vermag der kapitalistischen Moderne nur ein eadem et non aliter abzugewinnen. Er kann damit die Erwartungen jener soziologiegeschichtlichen Gewissensfrage, die ihre Textüberlieferungen nach Beiträgen zu einer „Theorie der Moderne" abklopft, nur enttäuschen. Wer dagegen Vermessungsarbeiten im „Diskurs der Moderne" anstellen will, wird in Gumplowicz eine bislang kaum zum Sprechen gebrachte Quelle entdecken. „Gumplowicz happens to be fascinating above all as a wonderful witness to the epoch of the decline of historical optimism; that is, as a man who already found no place in the 19th century although he belonged to it in his way of thinking".51 Der „Niedergang des historischen Optimismus", von dem Szacki spricht, drückt sich bei Gumplowicz vor allem darin aus, daß er die moderne Zivilisation an ihren barbarischen Ursprung zurückfuhrt und dabei zu dem Schluß kommt, daß sie diesem nie ganz entrinnen werde, sondern in beständiger Gefahr lebt, zu ihm zurückzukehren. Der Rückgriff auf die Urzeit: der Krieg als genetischer Code des Staates In seiner Rassenkampf-Theorie begibt sich Gumplowicz bis an die Ursprünge der Zivilisation zurück, d. h. bei ihm: bis an die Schwelle von der prähistorischen zur historischen Zeit. Diese Schwelle wird ihm zufolge überschritten, als zum ersten Mal eine Menschenhorde, die ersten Invasoren, auf ihrer ersten Wanderung ein fremdes Territorium erobern, die dort ansässige Bevölkerung unterwerfen und versklaven.52 Mit dieser gewalttätigen Kolonisierung, der sogenannten Landnahme, entsteht der erste Staat der menschlichen Geschichte und die erste Klassengesellschaft. Mit ihr wird auch erstmals das Eigentumsrecht erfunden: als Recht des stärkeren Stammes. Die Unterwerfung des fremden Stammes ist die Voraussetzung für eine Organisation der Arbeit, die es vorher nicht gegeben hat und die nur in Form der Ausbeutung des Fremden ins Werk gesetzt werden kann: Mit der „,Mehrarbeit' der einen zu Gunsten der anderen" entsteht die arbeitsteilige Gesellschaft in Form einer Zweiklassengesellschaft53 von Herren und Arbeitssklaven. So primitiv diese erste Arbeitsteilung auch gewesen sein mag, sie erst habe bislang ungeahnte ökonomische Wachstums- und technische Fortschrittspotentiale freigesetzt und ein Organisationsniveau geschaffen, das sich in der Konfrontation mit

51 Jerzy Szacki, The Sociology of Ludwig Gumplowicz, in: Josef Langer (Hg.), Geschichte der österreichischen Soziologie. Konstituierung, Entwicklung und europäische Bezüge, Wien 1988, S. 87-100, S. 100. 52 Besonders plastisch: Gumplowicz, Sociologische Staatsidee, S. 140, sowie Gumplowicz, Race und Staat. Eine Untersuchung über das Gesetz der Staatenbildung, Wien 1875. Vgl. das Zitat in Franco Savorgnan, Vorwort zu Gumplowicz, Soziologische Essays/Soziologie und Politik, a.a.O., S. XIII. 53 Gumplowicz, Grundriss ..., S. 206.

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anderen Stämmen als überlegen erweisen und die kriegerische Expansion und sukzessive Vergrößerung des jungen Staatswesens ermöglichen sollte - bis zu dem Tag, an dem es seinerseits die Beute eines anderen Erobererstaates werden sollte. Gleichzeitig ist die herrschaftsgestützte Arbeitsteilung der Ausgangspunkt für die Spezialisierung der Bedürfnisse und einer internen Differenzierung des Staates. An die Stelle der ursprünglichen bipolaren Schichtung treten Herren-, Priester-, Handels- und Bauernstand. Die unendliche Entwicklungsfähigkeit der sozialen Bedürfiiisstruktur habe immer neue Berufsklassen und Stände zu ihrer Befriedigung erzeugt - und damit die staatliche Komplexität gesteigert.54 Mit seiner urgeschichtlichen Begründung der Zivilisation dürfte Gumplowicz beste Aussichten auf einen Ehrenplatz in der Ahnengalerie des kritischen Reduktionismus55 haben. Denn die erste „Landnahme" gerät zum urzeitlichen Schlüssel der Gegenwart: den Staat, die Nation, das Recht und die Kultur hätte es ohne diese Initialzündung von Kampf, Unterwerfung und Ausbeutung nie gegeben. Gumplowicz hat damit zweifellos der Entzauberung des bürgerlich-liberalen Staatsbegriffs am Ende des 19. Jahrhunderts zu einem besonders radikalen Ausdruck verholfen. Das Begründungsverhältnis seiner „soziologischen Staatsidee" lautet: „Ohne Staaten keine Kultur und ohne Gewaltanwendung und Krieg keine Staaten".56 Ebenso entweiht Gumplowicz den bürgerlichen Kulturbegriff, indem er als seinen Kern die soziale Differenzierung ausgibt und die Ungleichheit zu seiner unhintergehbaren materialen Basis erklärt. In dieser Perspektive verdanken die ,Kultur-Nationen' des 19. Jahrhunderts ihren Status gerade nicht einer besonderen nationalen Kultur', sondern einer globalisierten Arbeitsteilung: „Cultur ist nichts mehr als einfach ein technischer, vorwiegend wirtschaftstechnischer Begriff. Nichts mehr! - Die Thatsache, dass wir unsere Bedürfnisse vermittelst einer weitgehenden, Welttheile umfassenden Arbeitstheilung befriedigen: Das ist Cultur, nichts anderes. Das hat mit Humanität und Moralität gar nichts zu thun." 57 Dem „Kulturmenschen" schreibt Gumplowicz ins Stammbuch, daß er niemals ohne „Menschendienste" zu leben imstande sei und daß in seinem Ausnutzen der Ungleichheit und Schwäche anderer sich die unvollendete, weil unmögliche Emanzipation vom „Kampf ums Dasein" ausdrücke. Nur eine Linderung, eine Erleichterung der einst grausamen Dienste sei durch den Fortschritt der Technik möglich geworden. Die Humanisierung der „Menschendienste" im realistischen Bewußtsein ihrer Unabschafïbarkeit gilt Gumplowicz als „der einzig wahre und richtige Inhalt der sogenannten Sozialpolitik".58

54 Gumplowicz, Grundriss, S. 223. 55 So hat Durs Grünbein die Sozialtheorie von Elias Canetti gekennzeichnet. Vgl. D. Grünbein, Wir Buschmänner. Erinnerungen an eine Lektüre, in: Michael Krüger (Hg.), Einladung zur Verwandlung. Essays zu Elias Canettis .Masse und Macht', München 1995, S. 29-37. 56 Allgemeines Staatsrecht, S. 221. 57 Staatsidee, S. 181. 58 Grundriss, S. 196f.

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Im Gegensatz zum Fortschrittsbegriff der Aufklärung, der neben dem kulturellen Fortschritt auch die „Zivilisierung" und „Moralisierung" des Menschen beinhaltet,59 betrachtet Gumplowicz den Fortschritt als moralisch indifferent. Der Hoffnung der progressiven Sozialpädagogik, daß die Verbesserung der allgemeinen Bildung auch die moralischen Dispositionen verändern könne, hat Gumplowicz scharf widersprochen, seine diesbezüglichen Äußerungen sind ein plastisches Beispiel für die Krise, in die der Bildungsbegriff zur Jahrhundertwende gekommen ist.60 Damit ist ein moralischer Wandel nicht ausgeschlossen, aber dieser vollzieht sich Gumplowicz zufolge so langsam, daß er nur in der Spanne von Jahrhunderten meßbar sei: „Die Wandlung der Moral [...] schreitet vor, wie der Stundenzeiger an der Uhr. Ein Menschenalter ist oft nur eine Minute auf der Uhr der Moral". Was letztlich einer Gesellschaft als moralisch gut erscheint, entspricht in dieser Perspektive freilich nicht der aufklärerischen Erwartung einer sukzessiven Durchsetzung universalisierungsfahiger Normen, sondern bleibt grundsätzlich der Ausdruck einer kontingenten, d. h. immer auch anders möglichen historischen und sozialen Konstellation.61 Elitentheorie und gruppensoziologische Rekonstruktion des Rechtsstaates In Gumplowicz' politischer Theorie überkreuzen sich ein transhistorischer und ein entwicklungsgeschichtlicher Staatsbegriff. Die transhistorischen Kennzeichen von Staatlichkeit weisen den Grazer Soziologen dabei als Begründer der Elitentheorie aus, diesem fin-de-siècle-Phânomen par excellence, das die politische Geschichte auf eine strukturidentische Anatomie der Macht reduziert, derzufolge sich Eliten und Elitenaspiranten in einem ewigen Kampf um Herrschaft befinden und durch die Verwendung politischer Formeln symbolisch die Gefolgschaft der Massen organisieren. Gaetano Mosca hat Gumplowicz ausdrücklich als Vordenker seines eigenen Paradigmas anerkannt.62 Für Gumplowicz ist der Staat de statu nascendi die „Organisation der Herrschaft einer Minorität über eine Majorität".63 Und auch die politische Formel' hat Gumplowicz sinngemäß vorweggenommen, insofern er die monarchische oder demokratische Legitimität

59 Vgl. Immanuel Kant, Über Pädagogik, in: Werke in 12 Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. XII, Frankfurt a.M. 1968. 60 Grundriss, S. 271: „Was nützt das Wissen, wenn es das Denken nicht ändern kann? Wenn es auf Herz und Gemüt keinen Einfluß haben kann? - Und das kann es nicht. - Daher die traurige Erscheinung von Leuten, die mit ihrem bißchen Wissen über die Gemeinheit ihrer Denkungsart, über ihre angeborene Niedertracht die Welt desto leichter täuschen können, von Leuten, die mit ihrem ,Fachwissen' die Rohheit ihrer Gefühle überfirnissen, von Leuten, die ihre angeborene bestialische Natur in ein eitles Gewand der ,Bildung' hüllen." 61 Grundriss, S. 316f. 62 Vgl. Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, 4. Aufl. Stuttgart 1989, S. 354. 63 Grundriss, S. 193.

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nur als Varianten einer herrschschaftstechnischen Fiktion und der ethischen Ornamentierung des Machtwillens herrschender Klassen dekonstruiert. 64 Dieser statische Staatsbegriff wird allerdings durch den Begriff der Entwicklung dynamisiert. Der Kampf der Horden, der den Staat hervorgebracht hat, geht innerhalb des Staates als Kampf der sozialen Gruppen weiter. Aber er vollzieht sich in weniger blutigen Bahnen. Denn das wesentliche Merkmal schon des ersten Staates besteht darin, den Hordenkrieg, diesen Bürgerkrieg der Urzeit, beendet zu haben. Dafür sorgt schon das Eigeninteresse der Herrenschicht, die die Früchte des Sieges genießen will, indem sie die Verlierer in eine Zwangsorganisation der Arbeit einbindet, „so daß innerhalb dieser Organisationen von nun an Menschenleben mehr geschont wird als bisher, worauf schon die ältesten Rechtsdenkmäler mit ihren Menschentötungsverboten hindeuten". 65 Es ist ein Kennzeichen der folgenden innerstaatlichen Entwicklung, daß die Akteure das, was sie bewirkt, niemals bezweckt haben. Das gilt insbesondere für die Genese des Rechtsstaates: So entsteht durch die „Landnahme" der ersten Invasoren erstmals in der Menschheitsgeschichte ein exklusives Eigentum an Grund und Boden, zunächst als „soziale Tatsache", dann als von den Siegern gesatzes und vererbbares Recht. 66 Die gewaltige nichtintendierte Nebenfolge dieses Vorgangs besteht darin, daß „mit dem Recht der Herrschenden auch das Recht der Beherrschten erzeugt [wurde]; der Keim wurde gelegt und er mußte sich entwickeln". Insofern der Akt der gewaltmäßigen Aneignung in Rechtssatzungen gegossen wird, gewöhnen sich die Menschen fortan nicht nur an eine Herrschaft des Rechtes und beginnen, sich in ihren Konflikten darauf zu berufen; das einmal gesetzte Recht beflügelt auch die menschliche Suche nach einer ihm zugrunde liegenden Rechtsidee: „War also die Pflicht sozusagen die räumliche Konsequenz des Rechtes, so war die Rechtsidee die zeitliche Konsequenz desselben." Fortan ist das positive Recht das Machtmittel der Herrschenden und wird die Rechtsidee zum „ewigen Kampfmittel der beherrschten, machtlosen Klassen". 67 Mit dieser Deutung der Rechtsgeschichte dementiert Gumplowicz den Normenuniversalismus des neuzeitlichen Naturrechts. Das Recht auf Leben, auf Eigentum, auf Partizipation und die sozialen Grundrechte deutet der Grazer Rechtsgelehrte nicht als a priori den Individuen zustehende Rechtsgüter, sondern als Früchte eines antagonistisch induzierten Integrationsfortschritts. Recht ist in dieser Perspektive „die momentan sich ergebende Grenzlinie der beiderseits sich zur Geltung bringenden Macht". Das „sociale Recht" - ein anderes gibt es nicht - entspreche der „Zickzacklinie", die zwischen zwei

64 Staatsidee, S. 3f. 65 Sozialphilosophie im Umriß, S. 44. 66 Vgl. Gumplowicz, Das Eigentum als soziale Tatsache, in: Soziologische Essays, S. 12-30, 15: „Und zwar besteht und liegt das Wesen des Eigentums [...] in der gewaltsamen Ausschließung einer unterjochten Bevölkerung von der Nutznießung des dem Sieger vorbehaltenen Grund und Bodens". Vgl. auch Allgemeines Staatsrecht, S. 379-383, wo Gumplowicz das Eigentums-, Erb-, Familien- und Eherecht auf eine imperiale Landnahmepraxis zurückfuhrt und - entgegen der rechtswissenschaftlichen Unterscheidung von Privat- und Staatsrecht - zum Schluß kommt, daß es „in jedem Staate eine Zeit gab, wo alles Recht [...] nur Staatsrecht war" (383). 67 Grundriss, S. 250f.

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sich befehdenden Armeen durch Waffenstillstandsunterhändler festgeschrieben wird.68 Der antagonistische Machtkampf der Gruppen hat somit Rechtssatzungen immer zur Folge, geht ihnen damit aber zeitlich, logisch wie systematisch voraus. In einer optimistischen Lesart bedeutet dies, daß dem Traum der herrschenden Klasse von einer Verewigung des status quo Grenzen gesetzt sind und daß die öffentlichrechtliche Verfassung des Staates sich in einem „fortwährenden Anpassungsprozess [...] an die stets in Fluss begriffenen Machtverhältnisse der socialen Gruppen" befinde und mit ihr auch die soziale Zusammensetzung der politischen Klasse.69 In Gumplowicz' weltgeschichtlicher makroskopischer Perspektive erscheint diese konfliktinduzierte rechtsstaatliche Entwicklung allerdings so exzeptionell, daß er sich zu ihrer Beschreibung anstelle des naturgesetzlichen Begriffsarsenals beim religiösen bedient: „Wenn wir nun diesen himmelweiten Unterschied zwischen dem Gewesenen und Gewordenen vergegenwärtigen; wenn wir im Geiste eine Parallele ziehen zwischen der rohen Gewalt, die einst im primitiven Staate herrschte und den geordneten Zuständen eines modernen Kulturstaates: so müssen wir uns gestehen, daß wir da eines der größten Wunder der Welt vor uns haben".70 Der entwickelte Staat sei daher eine „Oase" in der Kulturentwicklung - wenn man den Regelfall der Geschichte bedenkt: „Der normale Zustand ist gegenseitige tödliche Anfeindung, die sich vielfach bis zum Kannibalismus steigert".71 Gumplowicz sieht daher die politischen Optionen im Kern auf eine Grundalternative reduziert: „Anarchie stand an der Wiege des Staates und Anarchie triumphiert an seinem Grabe".72 Auch wenn seine Staatstheorie auffallige Parallelen zur anarchistischen Staatskritik aufweist, hat Gumplowicz die herrschaftsgestützte Ordnung bedingungslos präferiert, weil ihm zufolge alle Alternativen zur Staatlichkeit zwangsläufig im Bürgerkrieg enden und damit nicht den Staat überwinden, sondern nur zu seinem kriegerischen Ursprung zurückkehren würden.73

Nation und Rasse In seiner Theorie der Staatsentstehung unterstellt Gumplowicz, daß es am Anfang der historischen Zeit einmal eine unendliche Vielfalt von homogenen Menschen-„Rassen" gegeben haben müsse, und gibt sich damit als Vertreter einer „polygenistischen" Evolutionstheorie74 zu erkennen. Während der „Monogenismus" in Analogie zum biblischen Modell eines gemeinsamen Stammvaters aller Völker die Geschichte der Menschheit von der Einheit zur Differenzierung beschreibt, plädiert Gumplowicz' Polygenismus für die umgekehrte Annahme, daß am Anfang eine Pluralität von Stämmen bzw. „Horden" die Erde bevölkerte, die im Gang der Entwicklung - im Zuge von Kriegen, Eroberun-

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Staatsidee, S. 127. Ebd., 163. Allgemeines Staatsrecht, S. 353 [meine Hervorhebung]. Sozialphilosophie im Umriß, S. 43. Ebd., S. 67. Ebd., S. 76. Der Rassenkampf, S. 43ff.

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gen und ethnischen „Überlagerungen" - in immer größeren Aggregaten, „Nationen", aufgegangen seien. Die Völkergeschichte ist bei Gumplowicz tendenziell eine von der Differenz zur Einheitlichkeit, während die soziale Entwicklung in den ethnisch amalgamierten Nationalstaaten von der Bipolarität zweier ethnischer Gruppen zur Differenzierung in nunmehr soziale Gruppen führt. Damit aber hat der Autor des ominösen „Rassenkampfes" den Rassismus ad absurdum geführt. Denn wenn die polygenistische Theorie richtig ist, dann kann es nur am Anfang der Entwicklung einmal klar zu unterscheidende „Rassen" gegeben haben, am Ende des 19. Jahrhunderts sind sie im europäischen Kulturraum längst untergegangen, die Rede von ihnen also eine Phantasmagorie. Pointierter: Gumplowicz hat mit seiner Amalgamierungstheorie den Rassismus vor die Wahl gestellt - entweder die Kultur-Nation und diese nur unter der Bedingung der „Rassen"-Mischung bzw. der Assimilation des Fremden oder die ethnische Purität unter der Bedingung des barbarischen prähistorischen Hordenlebens. Warum trägt das Hauptwerk seiner Konfliktsoziologie dann aber trotz der entwicklungsgeschichtlichen Demontage des Rassenbegriffs den Titel „Rassenkampf'? Die Beantwortung dieser Frage führt ins Zentrum von Gumplowicz' fortschrittspessimistischer Argumentation: Die sekundäre Ethnisierung sozialer Konflikte: zur Semantik des „Rassenkampfes" Während die Theorie einer konfliktinduzierten Entwicklung bei Gumplowicz noch tangential mit der linearen Zeitachse des geschichtlichen Optimismus verbunden ist, verdichten sich in der Rede vom „Rassenkampf' die zivilisationspessimistischen Bedeutungsgehalte seiner Theorie, die die antagonistische Konfliktstruktur des Sozialen nicht länger teleologisieren, sondern in ihrer regressiven Wirkung wahrnehmen: „Ein Gesellschaftskreis gegen den anderen geht ganz mit derselben unerbittlichen Konsequenz vor, wie eine Horde gegen die andere, wie ein Staat gegen den andern [...] Daher habe ich auch in meinem ,Rassenkampf den Kampf der sozialen Bestandteile untereinander als einen , Rassenkampf geschildert, denn die Animosität und Unerbittlichkeit dieses Kampfes bringt es mit sich, daß jeder mächtigere Gesellschaftskreis die Tendenz hat, sich kastenmäßig abzuschließen, einen abgesonderten Blutkreis zu bilden, kurz eine Rasse zu werden". 75 Damit sind zwei Begegnungsmodi der sozialen Gruppen benannt, die auf unterschiedliche Weise die soziale Integration zunichte machen. Einmal die kastenmäßige Abschottung, der soziale Separatismus nach innen, dessen harmlosestes Beispiel der Ehrenkodex der standesgemäßen Heirat ist, in welchem sich gleichwohl das primitive Insistieren auf Artverschiedenheit ausdrückt. Zweitens bedroht der soziale Antagonismus den Staat in seinem Kern, weil die Rückverwandlung der Gruppen zur „Horde" das „Menschentö-

75 Grundriss, S. 244.

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tungsverbot" wieder außer Kraft setzen würde. Verläßt der Konflikt die rechtlich gehegten Bahnen, dann gehen „Gruppen, die doch aus Menschen bestehen" vor, „als ob sie aus Raubtieren bestünden".76 Die Rassensemantik steht im Zeichen einer Hochspannung zwischen dem Zivilisationsoptimismus des älteren - Comteschen oder Spencerschen - Positivismus und der Krise der Fortschrittsidee, zwischen dem „modernen Kulturstaat" und den in ihm sich immer wieder geltend machenden Symptomen der Barbarei. Das gilt nicht nur für die sozialen, sondern auch für die nationalen Konflikte: „Nach jahrtausendealter Entwicklung, inmitten hoher Zivilisation, tritt uns jene primitive Moral der Wilden als Patriotismus entgegen".77 Daß die Völker längst im Zeitalter der weltumspannenden Technik und Arbeitsteilung angekommen sind, bietet offenbar keine Gewähr gegen die Regression der Volkssee/en in das Stadium der Urgeschichte: „Nichts aber stachelt die Mordlust so nachhaltig an, nichts beruhigt dabei so sehr das Gewissen der Massen als die Vorstellung einer Rassenverschiedenheit in der vulgären, falschen Bedeutung dieses Wortes als einer heterogenen Abstammung, namentlich wenn diese vermeintliche Thatsache gestützt und aufrechterhalten wird durch sociale und nationale Verschiedenheit. Eine solche Vorstellung liefert daher den Massen immer den besten Vorwand sich gegenseitig totzuschlagen - und zwar mit bestem und ruhigstem Gewissen."78 Die Semantik des Rassenkampfes dürfte somit in ihrer zivilisationstheoretischen Dimension hinreichend entschlüsselt sein: Die Gruppenpsychologie neigt dazu, nationale und soziale Verschiedenheiten im Extremfall so aufzuladen, daß sie sich im Sinne einer sekundären Ethnisierung soziopolitischer Konflikte in eine Rassenpsychologie transformiert. Menschen begegnen sich dann wie die „Horde Wilderer" am Ursprungspunkt der historischen Zeit, als das „erste Mal [...] der Mensch der ältesten Rasse andere Menschen vor sich [sieht]".79 Die staatengründende Gewalt der Urzeit befindet sich daher auch in der Hochzivilisation nur in einem Schlummer: sie erwacht, wenn die dem „Kulturstaat" günstigen machttechnischen Konstellationen aus den Fugen geraten. Gumplowicz' Präferenz für die pure Faktizität von Herrschaft hat in diesem konflikttheoretisch zugespitzten Szenario ihre Wurzeln. Das Gewaltmonopol ist indes nur eine staatliche Lebensversicherung auf Zeit, denn „immer wieder erhebt sich von Zeit zu Zeit von der Wüste her ein Sandsturm und begräbt die Oase unter seinen Sandbergen".80 Der Sandsturm ist dabei nicht zwangsläufig das Werk kriegerischer Eroberer, er bezeichnet vielmehr die Zerfallstendenzen, die in den internen „Strukturmerkmalen" des Staates bereits angelegt sind: im Antagonismus 76 77 78 79 80

Allgemeines Staatsrecht, S. 220. Grundriss, S. 291. Der Rassenkampf, S. 303f. Race und Staat, zit. n. Savorgnan, a.a.O., S. XIII. Sozialphilosophie im Umriß, S. 57.

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der Gruppen, wie gesehen, aber auch in der Ungleichheit. Die Ungleichheit ist die conditio sine qua non des Staates und gleichzeitig der Spiegel seiner stets prekären Legitimität. Die staatszerstörerischen Tendenzen finden hierin ihre kräftigste Stütze: im Haß der Massen gegen einen Staat, „dessen Kulturwerke mit ihrem Blute gekittet [...] sind". 81 Das Dementi einer humanen Teleologie der sozialen Kämpfe Wer 1883 seine Neubegründung der Sozialwissenschaft „Der Rassenkampf' nennt, der ist zweifellos auch ein cleverer Marketingmanager seiner eigenen Theorie. Nicht nur weil sich „Rassetheorien" am Ende des 19. Jahrhunderts gut verkaufen lassen, sondern vor allem, weil der Titel die marxistische Theorie vom „Klassenkampf' 1 assoziiert und zugleich zu dementieren verspricht. Das gesamte soziologische Werk Gumplowicz' läßt sich in der Tat als Versuch eines fulminanten Gegenentwurfs zur sozialistischen Geschichtsphilosophie lesen - allerdings als ein Gegenentwurf, der sich von seinem marxistischen Antipoden in der Sozialdiagnose so gut wie gar nicht unterscheidet, sondern sich vielmehr in der Sozialprognose von ihm absetzt. Die Nähe von Gumplowicz' Soziologie zur marxistischen Theorie hat kein geringerer als Karl Kautsky zugegeben, der den polnischen Soziologen einen „materialistischen Historiker" nannte: „Soweit es die Vergangenheit anbelangt, stehen wir im Großen und Ganzen auf Seite des österreichischen Professors der Staatswissenschaften." 82 Der Dissens bestand aus Sicht des Cheftheoretikers der II. Internationale im Zukunftsbild: „Aber der Herr Professor will das Gesetz, das für die Vergangenheit gilt, auch für die Zukunft in alle Ewigkeit gelten lassen, und da müssen wir ihm entschieden widersprechen." Gumplowicz' Einwand gegen die marxistische Geschichtsphilosophie ist, daß das von ihr anvisierte Endziel der Entwicklung utopisch sei, weil es unterstelle, daß die Entwicklungsfaktoren, die seine Realisierung herbeiführen sollen (Antagonismus, Klassenkampf), am Tag des proletarischen Sieges gleichsam aus der Geschichte eliminiert werden könnten. Gumplowicz koppelt dagegen den geschichtlichen Erwartungshorizont an den vermeintlichen Ursprung der Geschichte: Der Zivilisationsprozeß ist demnach aus einem Akt der Gewalt entstanden und nichts deutet darauf hin, daß er dieser inneren Verknüpfung mit Repression, Ungleichheit und Ausbeutung vom Moment seiner Geburt an jemals ganz entkommen könnte. Gumplowicz hat diese Prognose gegen alle möglichen Einwände immunisiert, indem er den Ursprung des Übels so weit in der Geschichte zurück verlegt, daß an Ausstiegsmöglichkeiten gar nicht zu denken ist. Fluchtwege in eine andere Zeit sind versperrt, weil Urzeit, Jetzt-Zeit und zukünftige Zeit a priori in einem einzigen gigantischen Zeitraum eingeschlossen sind. Damit ist nicht nur der sozialistische Gedanke einer Beschleunigung des historischen Prozesses in Richtung Zukunftsstaat ad absurdum geführt. Auch rückwärtsgewandte Varianten des Antikapita-

81 Ebd., S. 67. 82 Karl Kautsky, Ein materialistischer Historiker, in: Die Neue Zeit 1, 1883, S. 537-547, S. 544.

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lismus, die, wie die neoromantische Hinwendung zu vorindustriellen ständischen Ordnungsmodellen, das Heil in der Vergangenheit suchen, können diesem alternativlosen Zeitraum nicht entfliehen. Wo sie auch ansetzen, Gumplowicz zufolge werden sie an jedem Punkt des Raumes immer wieder dieselbe Grundkonstellation antreffen: „Der Kapitalismus' ist keine vorübergehende moderne oder neuzeitige Erscheinung, sondern war schon da, als der keulenbewaffnete Wilde den unbewañheten fremden Wilden überfiel und todtschlug, um ihn zu fressen. In welcher Form das ,Capital' erscheint, ändert nichts an der Sache: es bleibt immer das Mittel, durch welches man die ,Anderen' sich dienstbar macht. Einst war es der Grundbesitz, heute ist es der Capitalbesitz: im socialistischen Staat würde es die »Führerschaft' des Socialstaates sein".83

2.4. ,Gruppistische' Begriffe, Positionen und Theorien in Michels' Soziologie Nach dem Exkurs in das Werk von Ludwig Gumplowicz soll im folgenden Michels' theoretische Affinität zum positivistischen Gruppismus an Positionen, Begriffen und Theorien exemplifiziert werden, die sich bis in die Begrifflichkeit auch in Gumplowicz' Grundlegung der Soziologie finden.

a) Elitentheorie Gumplowicz' Prognose, daß auch nach einer Vergesellschaftung der Produktionsmittel die Klassenherrschaft im sozialistischen Zukunftsstaat keineswegs aufgehoben werden könne, sondern notwendigerweise auf der Ebene der Führerschaft im Sozialstaat eine neue Form der Organisation erfahren würde, deckt sich exakt mit den SozialismusPrognosen in Michels' „Soziologie des Parteiwesens". Freilich ist dies zunächst einmal nur elitentheoretischer common sense. Der Nachweis der Unmöglichkeit einer klassenlosen Gesellschaft findet sich auch bei Mosca und Pareto und ist vornehmstes Erkenntnisinteresse aller Elitetheorien im fin de siècle. Zu den Topoi dieses common sense zählt auch die argumentative Konfrontation eines allgemeinen Staatsbegriffs, dessen ewig gleichbleibender Kern die Herrschaft einer Minderheit über die Mehrheit des Volkes ist,84 mit der Fiktion der Volkssouveränität: „Die französische Revolution hat dem Gottesgnadenthum und der [monarchischen] Legitimität den Todesstoss versetzt [...] Aber auch an die Souveränität des Volkes'

83 Staatsidee, S. 39. 84 Gumplowicz, Grundriss der Soziologie, S. 193.

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und an dessen ,Gesammtwillen' [sie], der durch die Vermittlung seiner Vertreter in Gesetz und Recht seinen Ausdruck findet', glaubt heute kein denkender Mensch mehr. [...] Der Staat ist Herrschaft und alle können nicht herrschen. [...] Der Gesamtwille ist eine Fiction." 85 Derartige Sätze sind symptomatisch für den Übergang vom „rationalistischen" zum ,realistischen" Demokratieverständnis. 86 Die Entlarvung der .Volksherrschaft', sei sie unmittelbar oder repräsentativ gedacht, als „Fiktion" findet sich so auch bei Michels 87 wie bei Gaetanos Moscas Rede von der „falsità della leggenda parlamentare." 88 Michels hat in diesem Punkt dem Diskurs der Jahrhundertwende sicherlich nichts neues hinzugefügt: die Kontrastierung eines etymologischen Demokratiebegriffs mit der elitären Wirklichkeit ist Ausdruck der Akademisierung seines Denkens, das seine Schemata aus der zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Ordnung des Wissens bezieht. Für diese Ordnung des Wissens könnte man neben Gumplowicz und Mosca ebenso Heinrich von Treitschke oder Arthur Schopenhauer mitverantwortlich machen. In den elitentheoretischen Kernaussagen läßt sich somit zwischen Michels und Gumplowicz keine spezifische Affinität erkennen, die sich nicht auch im Hinblick auf andere Autoren nachweisen ließe. Festzuhalten bleibt zudem, daß Michels die zeitgenössische Dichotomie von Elite und Masse, von demokratischem Anspruch und oligarchischer Wirklichkeit auf eher originelle Weise umgesetzt hat. Als „Säkularisierer der Elitentheorie" (Farneti) hat Michels zwar deren Semantik übernommen, ist aber inhaltlich über ihren Reduktionismus an vielen Stellen hinausgegangen: die zivilgesellschaftlichen Transformationen seit der französischen Revolution, wie etwa die Fundamentaldemokratisierung und die egalitäre Erwartungshaltung, sind bei ihm eine Realität, die den manipulativen politischen Formeln der herrschenden Klasse vorausgeht und den politischen Eliten ein Mindestmaß an Responsivität gegenüber der Wählerschaft aufnötigt. 89 Was Michels' Elitentheorie wiederum mit Gumplowicz verbindet, ist der Verzicht auf eine normative, beispielsweise neoaristokratische Auszeichnung der Elitenherrschaft. Die Elite ergibt sich übrigens auch bei Gumplowicz aus dem Prinzip Organisation: „ohne Organisation [...] kann der soziale Kampf nicht geführt werden." 90 Wenn hier überhaupt irgendetwas normative Kraft entfaltet, dann ist es die ,normative Kraft des Faktischen' (Hermann Heller). Diese für den positivistischen Diskurskontext typische Denkweise zeigt sich bei der Thematisierung der Massen- und Führerpsychologie.

85 Gumplowicz, Soziologische Staatsidee, S. 3. 86 Vgl. die fast identische Formulierung in Max Webers Brief an Robert Michels vom 4. August 1908, in: MWG II/5, Briefe 1906-1908, S. 615: „Solche Begriffe wie ,Wille des Volkes', ,wahrer Wille des Volkes' u. s. w. existieren für mich schon lange nicht mehr. Sie sind Fiktionen." 87 PS 11, S. 16. 88 Zit. nach Michels, PS 89, S. 133. 89 Vgl. Kapitel VI. 1. 90 Gumplowicz, Grundriss der Soziologie, S. 246.

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b) Massen- und Führerpsychologie Bei Michels' und Gumplowicz' Äußerungen zur Demokratie gewinnt der Leser den Eindruck, daß die Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts eine Art Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Berufsdemagogen und Neobonapartisten ist. Daß dies so ist, dafür machen beide erstens das Führungsbedürfiiis der Masse91 und zweitens eine Art massenanthropologischen Hang zum Götzendienst verantwortlich, einen massenpsychologischen Konstruktivismus, der sich seine Heroen selber schafft: „Der Mensch ist nämlich ein Thier, das Götzen anbetet [...] Er malt und meisselt, besingt und schildert: Götter und Heroen. Dann wirft er sich auf die Knie und betet sie an."92 Nein, das ist nicht Michels, sondern Gumplowicz. Bei Michels heißt es: „Die Massen verhalten sich zu ihren Führern häufig wie jener Bildhauer [...], welcher, nachdem er einen Jupiter Donnergott modelliert hatte, vor seinem eigenen Machwerk auf die Knie fiel, um es anzubeten."93 Abgesehen von der metaphorisch identischen Verpackung der Argumente ist hier ihre Logik festzuhalten: sie ist streng positivistisch, insofern sie einer antiheroistischen Geschichtsaufassung treu bleibt. Männer machen hier keine Geschichte. Die großen Staatslenker sind das Resultat einer sozialen Konstruktion. Sie sind „Marionetten" sozialer Gruppen. „Die historische Größe einer Individualität liegt eben darin, sich von einer großen sozialen Strömung tragen zu lassen."94 Michels wird diesen positivistischen Grundkonsens erst mit seiner charismatischen Wende in den zwanziger Jahren aufkündigen. Dann wird es signifikanterweise der Führer sein, der zum Bildhauer der Massen avanciert. Dann erst wird Michels vom Staatenlenker sprechen, der sich dank seiner persönlichen Genialität von den sozialen Gruppen emanzipiert hat und diese nunmehr in Bahnen lenkt, die sie ohne ihn nie beschritten hätten. Diese Möglichkeit ist dem Positivismus eines Gumplowicz und der „Soziologie des Parteiwesens" noch denksystematisch verschlossen. Ebenso undenkbar ist, und darin bleibt sich der sozialwissenschaftliche Positivismus auch nach seiner antiteleologischen Wende treu, daß ein politischer Virtuose die Gesetze der konservativen Metamorphose des Berufspolitikertums außer Kraft setzen könnte. „Möge der radikalste Demokrat ein Ministerportefeuille ergattern, so wird er Diener und Verteidiger des Monarchismus und Konservativismus."95 Man meint, hier ein Zitat aus Michels' Agitation gegen Turatis Ministerialismus und Bernsteins Vizepräsidenteninitiative oder aus seiner Parteiensoziologie zu hören. Der Satz stammt aber von Gumplowicz und verdeutlicht, daß Michels' Axiom von der psychologischen Metamorphose und Anpassimg des Individuums an sein Ambiente nur eine Anwendung der Milieutheorie auf die politischen Karrieremuster ist. Selbst die „Revolutionäre von heute"

91 Vgl. Gumplowicz, Geschichte als Naturprozeß, in: Soziologische Essays/Soziologie und Politik (= Ausgewählte Werke Bd. IV), Innsbruck 1928, S. 224: „Die Mehrzahl ist einerseits unfähig zu herrschen und bedarf andererseits der Führung". 92 Gumplowicz, Sociologische Staatsidee, S. 151. 93 PS 89, S. 64. 94 Gumplowicz, Soziologische Essays/Soziologie und Politik, a.a.O., S. 204, 206. 95 Gumplowicz, Sozialphilosophie im Umriß, S. 95.

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sind aufgrund der milieudeterministischen Grundannahme notwendigerweise die „Reaktionäre von morgen" (Michels). In diesem Sinne ist auch Gumplowicz der Meinung, daß sich der Parlamentarismus bestens zur „Domestizierung" des politischen Gegners eignet und sieht neben Militär und Kirche im Parlament eine Herrschaftssäule der Monarchie. 96

c) Die Macht der Gewohnheit Die „Macht der Gewohnheit" ist ein Schlüsselbegriff im Diskurs des soziologischen Positivismus. Michels zufolge ist es die , f l a c h t der Gewohnheit", die Nationen zusammenhält 97 und gleichzeitig die Klassengesellschaft stabilisiert.98 Eine prominente Rolle spielt der Begriff auch bei Gumplowicz, der sich so erklärt, warum Menschen in der Regel bereit sind, Unrecht zu erleiden und durch Akzeptanz sogar zu befördern. Schon die Fragestellung könnte von Michels sein. Gumplowicz' Antwort lautet, daß die „Gewohnheit" den Menschen prädisponiert, die Duldung der Rebellion vorzuziehen: „Der Mensch ist von Natur in einen Kreis von Notwendigkeiten gestellt, die er nicht ändern kann. Sein Streben geht naturnotwendig immer dahin, sich in diese Notwendigkeiten so gut es geht zu fugen, sich das Leben so angenehm als möglich einzurichten. Die Gewohnheit hilft ihm über das Schlimmste hinweg. Sie stumpft ihn ab. Er gewöhnt sich an die Stacheln des ihn umgebenden Foltermantels und fühlt sie nicht mehr." 99 Mag dies für die allgemeinen Daseinsbedingungen gelten, so hat Gumplowicz die Gewohnheit auch in einem engeren, politischen Sinn als Dispositiv der Macht behandelt: „Gewalt und Macht wären wohl immer imstande, einen Staat zu gründen, aber ohne Hilfe der Gewohnheit wären sie nicht im Stande, ihn aufrecht zu erhalten. Die Gewohnheit ist der tatkräftigste Bundesgenosse der staatengründenden Gewalt; sie heiligt alle Institutionen." 100 Das „Gewohnheitstier" Mensch sei dabei bereit, sich noch an die extremste Bedrohung seiner physischen Existenz, die Gewalt, wenn diese nur lange genug auf ihn ausgeübt wird, zu gewöhnen; täglich erlittene Gewalt und Demütigungen werden ihm zur „zweiten Natur". 101 Um Mißverständnissen vorzubeugen: der Nachweis gemeinsamer Axiome im gesellschaftstheoretischen Denken dient nicht der Beweisführung zugunsten eines ,Gumplowiczianismus' in Michels' Denken, sondern soll nur seine Anbindung an den positivistischen Diskurskontext am Beispiel eines seiner dezidiertesten Vertreter plausibel machen. Zweifellos läßt sich diese Anbindung auch im Vergleich mit einem anderen

96 Gumplowicz, Sozialphilosophie im Umriß, S. 98. 97 Michels, Der Patriotismus, a.a.O., S. 94. 98 Michels, Zum Problem der internationalen Bourgeoisie, in: Probleme der Sozialphilosophie, a.a.O., S. 158-188, S. 169-170. 99 Gumplowicz, Grundriss der Soziologie, S. 289. 100 Gumplowicz, Allgemeines Staatsrecht, S. 365. 101 Gumplowicz, Allgemeines Staatsrecht, S. 354.

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Erzpositivisten aufzeigen: Gaetano Mosca. Auch bei Mosca findet sich die „Macht der Gewohnheit", sie ist bei ihm die „konservative Macht par excellence": „Durch sie finden sich viele mit ihrem niedrigen Stande ab, während die Angehörigen bestimmter privilegierter Familien und Klassen die Überzeugung gewinnen, daß sie ein nahezu unbegrenztes Recht auf hohen Rang und Herrschaft haben."102 Mit der Macht der Gewohnheit korrespondiert bei Mosca ein der Physik abgeschautes Gesetz: „Alle politischen Kräfte haben die Eigenschaft, die man in der Physik die Trägheit nennt, d. h. eine Tendenz, im gegebenen Zustand zu verbleiben."103 Bei Gumplowicz ist sinngleich vom „Beharrungsgesetz" der sozialen Gruppen die Rede.104 Bis in die Begrifflichkeit fließen diese gesellschaftstheoretischen Axiome bei Michels zusammen: „Es ist das Gesetz der Trägheit oder, euphemistisch gesprochen, der Beharrung", welches ursächlich für die Stabilität von Elitenherrschaft sei.105 Es gibt aber auch eine spezifische Affinität von Michels' ersten soziologischen Vorkriegsarbeiten zu Gumplowicz' Soziologie. Diese läßt sich in argumentationstechnischer wie auch in semantischer Hinsicht auf jenem Feld der Gesellschaftsbeobachtung nachweisen, welches das ureigenste Terrain der Grazer Soziologen ist: die Gruppensoziologie. Es scheint kein Zufall zu sein, daß der Untertitel der „Soziologie des Parteiwesens" lautet: „Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens".

d) Kastenpsychologie Gumplowicz hat zur Erklärung für die unterhintergehbare Konflikthaftigkeit des Sozialen auf den „mächtigen Zug aller sozialen Gruppen zur kastenartigen Absonderung und Abschließung von den anderen" verwiesen.106 „Die soziale Dreiteilung in Herrenstand, Mittelstand und Bauern" hat ihm zufolge ihre Starrheit entscheidend dem Umstand zu verdanken, daß diese drei Stände „drei gesonderte Blutkreise" darstellen. Und Gumplowicz prognostiziert, daß diese Getrenntheit der Gruppen nicht abnehmen würde, „weil jede große Gesellschaftsschichte immer wieder die Tendenz hat, einen abgesonderten Blutkreis zu bilden."107 Gumplowicz hat damit zur Kennzeichnung der gegenwärtigen und zukünftigen Gesellschaftsstruktur ausgerechnet eine soziologische Kategorie verwendet, der man gemeinhin nur eine vormoderne Existenzberechtigung zuerkennt und dabei zumeist nicht auf europäische, sondern eher auf indische Verhältnisse bezieht: das Kastenwesen. In der Übertragung auf europäische Verhältnisse hat der Begriff durchgängig einen denun-

102 Gaetano Mosca, Die herrschende Klasse; mit einem Geleitwort von Benedetto Croce, Bern 1950, S. 67. 103 Mosca, Die herrschende Klasse, a.a.O., S. 61. 104 Gumplowicz, Grundriss der Soziologie, S. 127. 105 PS 89, S. 93. 106 Gumplowicz, Grundriss, S. 230. Kennzeichnend für das Kastenwesen sei zudem die „Tendenz, durch Endogamie ihre Macht zu erhalten und zu vergrößern." 107 Grundriss, S. 241.

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ziatorischen Sinn. Autoren des 19. Jahrhunderts wie Welcker oder von Stein belegen damit den ständischen Egoismus des Adels oder die Usurpierung des Staates durch eine herrschende Klasse und den daraus resultierenden Schaden für das Gemeinwohl. ,Kaste' ist ein polemischer Begriff. In Max Webers „Soziologischer Kategorienlehre" taucht die ,Kaste' wohl auch daher nur sporadisch und nur in ihrer begrenzten geographischen wie historischen Geltung auf. Mit Blick auf den Okzident unterscheidet Weber „Klassen" und „Stände" 108 und konstatiert, daß sich Kastenwesen und bürgerliche Gesellschaft ausschließen. 109 Es ist daher um so auffälliger, daß Robert Michels als Soziologe den Terminus der ,Kaste' rehabilitiert. Zwar sei die „Kaste im älteren, strengeren Sinne des Wortes" ausgestorben. Aber dennoch sieht Michels im Kastenwesen eine soziale Tendenz walten, die er auch zur Beschreibung der Gesellschaft nach der industriellen Revolution als heuristisch wertvoll erachtet. Was Michels von Gumplowicz unterscheidet, ist das Bemühen um eine differenziertere Darstellung. Wo der Grazer Soziologe zuspitzt, versucht Michels das Für und Wider abzuwägen. Die Konsequenz ist jedoch in beiden Fällen, daß der Begriff der Kaste auf der soziologischen Tagesordnung steht: „Die moderne Demokratie hat [...] alle Schranken, die eine geschlechtliche Vermischung verschiedenen Kreisen angehöriger Menschen [...] verhinderten, eliminiert. Das von Rechts wegen. Die Sitte hat diese Entwicklung [...] zum großen Teile mitgemacht. [...] Trotzdem ist die Kaste auch heute nicht völlig getilgt. Teils hat sie auch in der Demokratie [...] die Stürme der Zeit überdauert, teils sind ihr aus der geordneten Arbeitsteilung [...] neue Lebenselemente entstanden."110 Die sozialwissenschaftliche Rehabilitierung des Kastenbegriffs gelingt Michels mittels einer formalen Definition, welche seine Herauslösung aus dem angestammten historischen Kontext und seine Übertragbarkeit auf neue Kontexte erlaubt. Die Gumplowiczsche Gruppenpsychologie wird von Michels dabei sinngemäß wiederholt: „Das sicherste Kriterium für die Existenz gesellschaftlicher Kasten besteht in der starken Anziehungskraft gesellschaftlich homogener Teile und der ebenso starken Abstoßungskraft gesellschaftlich heterogener Teile, wie sie bisweilen beim Vergleich der Ziffern der Nuptialität zum Ausdruck kommt." 111 Wie bei Gumplowicz wird auch bei Michels die Abschottungstendenz der Gruppen zum Kriterium einer Fortexistenz der Kastenpsychologie nach dem Ende der göttlich sanktionierten Kastengesellschaft. Und ebenso wie bei Gumplowicz ist diese Gruppenpsychologie mit ihrer Inklusion des Homogenen und der Exklusion des Heterogenen eine erstrangige Sozialisationsinstanz. Hier - in den Gruppen, Milieus oder sozialen Kreisen - werden die Menschen vergesellschaftet und die Individuen nach den Selbsterhaltungsimperativen ihres Milieus geformt. Michels unterscheidet sich hier wiederum nur in der Differenzierung. Der milieutheoretische Funktionsmechanismus ist allerdings derselbe, auch wenn er Michels zufolge aufgrund der Geschlechterunterschiede in der sekundären Sozialisation bei den

108 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 177-180 109 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 738. 110 Michels, Solidarität und Kastenwesen, in: ders., Probleme der Sozialphilosophie, a.a.O., S. 53-63, S. 59. 111 Michels, Solidarität und Kastenwesen, S. 61

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Frauen stärker wirkt als bei den Männern. „Ihre Ansichten sind enger als die ihrer Männer, weil das Milieu, in dem sie ihre Entwicklungsjahre verbrachten, enger war als das ihrer Männer, als sie noch junge Leute waren."112 Die geschlechtssoziologische Differenzierung der Milieutheorie tritt aber auch bei Michels in letzter Konsequenz hinter der allgemeinen und eindeutig gruppensoziologischen Axiomatik von der „immanenten Anziehungskraft homogener Elemente" zurück. Hört man Michels, dann reduzieren sich die egalitären Tendenzen der modernen Gesellschaft auf einen Wandel im sozialen Comment - und bleiben ein Oberflächenphänomen: „In den oberen Ständen indes ist der Mangel an Kastengeist nur scheinbar. Vielfach möchte man den Satz aufstellen: auf der Straße Gleichheit, im Salon Ungleichheit."113 Ludwig Gumplowicz hat bereits in den achtziger Jahren gefordert, daß aufgrund der Vergesellschaftung des Menschen in den intermediären Instanzen, Parteiungen und sozialen Milieus die Soziologie sich vom Begriff der Gesellschaft wie auch vom Begriff des Individuums trennen müsse. Erstens habe die „Gesellschaft" einer Pluralisierung des Begriffs zu weichen.114 Nur von den verschiedenen „Gesellschaften" im Staat könnte fortan die Rede sein. Und zweitens sei das Individuum allenfalls als Wertkategorie haltbar - soziologisch gesehen ist es nur „ein Sprachrohr seiner sozialen Gruppe, ein Echo der in ihr ausgebildeten Schlagwörter".115 Der Gründungsakt der Soziologie liest sich bei Gumplowicz daher wie folgt: „Auf dem Altar ihrer Erkenntnis opfert die Soziologie - den Menschen! Er, [...] der Urheber historischer Ereignisse nach Meinung der Historiker, der als Monarch oder Minister die Geschicke der Völker nach seinem Willen lenkt [...] - er sinkt in der Soziologie zu einer bedeutungslosen Null herab."116 Was die Überwindung bzw. Exkommunikation der Begriffe „Individuum" und „Gesellschaft" aus dem gesellschaftswissenschaftlichen Diskurs betrifft, hat Gumplowicz den Klassikern der frühen Soziologie eine Vorarbeit von axiomatischer Bedeutung geleistet. Aber keiner von den Klassikern - vom frühen Simmel einmal abgesehen - hat sich in den Jahren vor

112 Michels, Kastenwesen, S. 61. Hintergrund ist die Beobachtung, daß die jungen Männer des Bürgertums zu Ausbildungszwecken das angestammte Milieu meistens verlassen und so in der „demokratisch-kameradschaftlichen Atmosphäre" von Gymnasium und Universität den Umgang mit Abkömmlingen heterogener Kreise erlernen. „Gewiß macht sich auch dort die immanente Anziehungskraft homogener Elemente geltend" - auch diese Aussage ist Gruppensoziologie pur - , „aber die Auswahl des Verkehrs geht doch keineswegs allein nach Kastenkriterien vor sich". Diese Möglichkeit der „Fusion" fremder „Elemente" ist den jungen Frauen verwehrt. Die Frau ist die „Trägerin des Kastengeistes", weil die Mädchenerziehung höherer Kreise sich im Hausunterricht, in Pensionaten oder Klöstern unter der Bedingung „gesellschaftlicher Abgeschlossenheit und Einseitigkeit des Verkehrs" vollzieht. „So atmen die jungen Mädchen mit vollen Lungen Kastenluft in sich ein und, einmal verheiratet, suchen sie auch den Umgang ihres Mannes nach Möglichkeit nach Kastenrücksichten zu bestimmen." 113 Michels, Solidarität und Kastenwesen, S. 60. 114 Gumplowicz, Grundriss, S. 23lf. 115 Gumplowicz, Sozialphilosophie im Umriß, S. 20. 116 Gumplowioz, Soziologie und Politik (Erste Aufl. 1891), in: ders.: Soziologische Essays/Soziologie und Politik, Innsbruck 1928, S. 192.

VI.2. Die Vergeblichkeit der Demokratisierung

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dem Ersten Weltkrieg so sehr auf die milieutheoretische, sozialdarwinistische und gruppenreduktionistische Verfahrensweise eines Gumplowicz eingelassen wie Robert Michels. Vielleicht hat das mit dem jeweiligen Forschungsinteresse zu tun. Michels hat keine universalgeschichtlichen Studien zur Genese des Kapitalismus betrieben, keine ästhetische Nationalökonomie ins Leben gerufen oder sich für Religionsgeschichte interessiert. Seine Optik ist vorwiegend auf die politischen Machtkämpfe und die sozioökonomischen Konflikte gerichtet. Mit Simmel gesprochen, könnte man sagen: ihn interessieren nicht so sehr das Individuum im Schnittpunkt sozialer Kreise und die quantitativen Individualisierungsschübe, die durch eine vielfältige Kombination der Kreise ausgelöst werden - sondern seine Aufmerksamkeit gilt jenem Moment, in dem das Kombinieren an seine Grenze stößt und der Kampf ums Dasein die Kreise wieder säuberlich separiert, jenem Moment, in dem sich zeigen würde, daß die Demokratisierung und Egalisierung des öffentlichen Lebens, daß die „Gleichheit auf der Straße" nur der schöne Schein ist, hinter dem die „Ungleichheit im Salon" fortexistiert; jener Moment, in dem die Individuen allen Sonntagsreden zum Trotz sich eben doch nur als Repräsentanten ihrer sozialen Schicht erweisen und in dem sich zeigen würde, daß Solidarität immer nur als partielle Solidarität existiert.

e) Sozialer Antagonismus und partielle Solidarität Nicht nur die Demokratie, sondern auch das sozialistische Leitmotiv der Solidarität unterwirft Michels im Kontext seiner parteisoziologischen Studien einer kritischen Revision. Sein Konzept der „sozialen Solidarität", das er so erstmals anläßlich des Kongresses des „Institut International de Sociologie" im Juli 1909 in Bern vorträgt, erklärt den Bruch mit dem fortschrittsoptimistischen Solidaritätsbegriff. So fordert er die Teilnehmer auf, das Phänomen der Solidarität endlich mit einer „realistischen Methode" zu behandeln, d. h. in Abkoppelung von jeglicher auf die Solidarität des Menschengeschlechts abzielenden „Teleologie". Er kritisiert insbesondere, daß die meisten seiner Kollegen auf das Problem der Solidarität „von einem ethischen und sentimentalen Standpunkt" blickten und somit die ambivalente Eigendyamik solidarischer Handlungsmuster übersähen. 117 Michels' soziologischer Begriff von Solidarität kommt zu dem Befund, daß Solidarität in der Praxis in antagonistische Teilsolidaritäten zerfalle und jede dieser Teilsolidaritäten sich in einem milieuspezifischen Altruismus nach innen und Egoismus nach außen ausdrücke. 118 Michels paraphrasiert damit nur, was Gumplowicz' „Gruppismus" längst als die Triebfeder der sozialen Konflikte definiert hat: das Zusammenfallen von „Sozialegoismus" und „Sozialsympathie" im streng limitierten Wertekosmos der Gruppe.119 117 Michels, Appunti sulla solidarietà, S . l l . 118 Michels, Solidarität und Kastenwesen, S. 54. 119 Gumplowicz, Grundriss, S. 266: „Nicht persönlicher Egoismus ist die Triebfeder sozialer Entwicklung, sondern Sozialegoismus; nicht Hingabe an die Gesamtheit, an die Menschheit, nicht .Nächstenliebe' in jenem weiten universalen Sinne der christlichen Theorie, nicht Sympathie ge-

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

Michels schreibt: „Die Quintessenz des Kastensystems besteht besonders in einer sehr starken, aber sehr eng begrenzten Solidarität. Die Solidarität verbündet nur Gleiche und derselben Kaste Angehörige. Es ist das Charakteristikum der Kaste, daß sie für alle ihr nicht angehörigen Elemente nur Gefühle der Geringschätzung oder doch der Interesselosigkeit besitzt." Empirischer Hintergrund ist hier nicht ein Ausflug in vorindustrielle Gesellschaften, sondern das zeitgenössische Deutschland: „Der Kastengeist ist durch den Industrialismus [...] noch stärker, wenn auch mehr in die Breite, entwickelt worden."120 Und ähnlich wie bei Gumplowicz wird die Konflikthaftigkeit der Gruppensolidaritäten semantisch gesteigert, wenn der Sympathie nach innen nun nicht nur der Egoismus, sondern als seine extreme Äußerung der Haß nach außen zum Kennzeichen der antagonistischen Vergesellschaftung erklärt wird. Michels schreibt 1909:121 „Ich möchte den Haß [...] als die bedeutendste Triebfeder der Solidarität bezeichnen [...] Die Himmelsblume der Solidarität wächst und gedeiht bloß auf dem vulkanischen Boden der Interessengegensätze [...] Zur Bildung eines Solidaritätskreises ist a priori die Existenz scharfer Gegensätze erforderlich; man ist nur solidarisch gegen jemand [...] Es besteht also ein nahes Verhältnis zwischen den sozialen Antagonismen und der partiellen Solidarität: die Intensität wächst oder sinkt je nach dem Wachsen oder Sinken der Antagonismen. In einem Milieu, in dem keine Antagonismen vorhanden wären, würde auch die Solidarität sich nicht entfalten können."122 Quelle und Motor des „Kampfes zwischen den verschiedenen Solidaritäten" ist nicht das individuelle Interessenkalkül, sondern die „Gruppe": sie ist die „höchste Lehrmeisterin der partiellen Solidarität" und „das gewaltigste Hindernis gegen die allgemeine und universelle Solidarität."123 In anderen Worten: Mögen homogene individuelle Inte-

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genüber der ,Menschheit': wohl aber Sozialsympathie, aufopfernde und liebevolle Hingabe an eine natürliche soziale Gemeinschaft [...] Im Sozialegoismus aber liegt Sozialsympathie, und Sozialsympathie ist Sozialegoismus." Michels, Solidarität und Kastenwesen, S. 56-57. In deutscher Sprache findet sich der Aufsatz über „Solidarität und Kastenwesen" zwar erst in den 1913 erschienen „Problemen der Sozialphilosophie". Die darin angestellten Überlegungen repetieren aber zwei frühere Aufsätze von 1909: Michels, Appunti sulla solidarietà, in: Riforma Sociale, fase. 5, anno XVI, Vol. XX, September - Oktober 1909, Sonderabdruck 15 Seiten; sowie Michels, La Solidarité sociale en Allemagne, Sonderabdruck aus dem Bd. 12 der „Annales de l'Institut International de Sociologie", Paris 1910, 24 Seiten. Der erste Text wurde anläßlich des 7. Kongresses des „Internationalen Instituts für Soziologie" (20. bis 24.7.1909 in Bern) geschrieben, der zweite Aufsatz entspricht dem Vortrag, den Michels auf eben dieser Soziologen-Konferenz gehalten hat. Michels, Solidarität und Kastenwesen, S. 55-56. Michels, Appunti sulla solidarietà, a.a.O., S. 7: „Vi ha adunque allora una lotta tra solidarietà differenti. Il gruppo solidale che è creato da interessi ha quindi una duplice funzione: quella di essere la suprema educatrice alla solidarietà parziale e allo stesso tempo quella di essere l'ostacolo più formidabile contro la solidarietà generale ed universale."

VI.2. Die Vergeblichkeit der Demokratisierung

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ressen zwar der Ausgangspunkt einer Gruppensolidarität sein, so verwandelt die Gruppe diesen Ausgangspunkt erheblich. Über die emotionale Vergesellschaftung des Hasses nach außen und die Erzeugung von Sozialsympathie bis zur Opferbereitschaft nach innen hebt die Gruppe als „Lehrmeisterin" auch das individuelle Interesse auf eine qualitativ neue Stufe, die einer rational-choice-Analyse des Handelns nicht mehr zugänglich ist. Der homo oeconomicus wird zum homo sociologicus.

f) Die Abnormität des Individuellen In Gumplowicz' Gruppensoziologie hat das Individuum keinerlei Einfluß auf den gesellschaftlichen Gang der Dinge. Das „Vorgehen jedes sozialen Kreises" sei „mit größter Bestimmtheit" vorhersagbar: „Jeder soziale Kreis strebt ganz so wie der Staat [...] nach Machtvergrößerung. Auf einzelne kommt es dabei nicht an; es gibt in jedem Gesellschaftskreis abnorme Genossen, die bald nach rechts, bald nach links abschweifen. Die zählen nicht in der Gesamthandlungsweise des sozialen Kreises. Es sind das Meteorsteine, die sich von ihrem Kometen ablösen und nach allen Seiten abfliegen - ohne die gesetzmäßige Bahn des Kometen zu ändern." 124 Man möchte meinen, spätestens hier den Punkt zu erkennen, an dem sich Robert Michels dem Determinismus der Gruppensoziologie entzogen hat und im Nachweis ideeller individueller Motive einen alternativen Weg der Handlungstheorie beschritten hat. Schließlich ist Michels nicht nur selbst ein biographisches Beispiel, sondern auch ein Soziologe des sozialen Renegatentums gewesen. In seiner Parteiensoziologie spielen die intellektuellen Selbstdeklassierer, die Bourgeois-Söhne, die aus Sympathie und Gerechtigkeitsempfinden für die Anliegen der Arbeiterklasse sogar bereit sind, ihre akademische Karriere aufs Spiel zu setzen, eine prominente Rolle. Im Hinblick auf die historische Entstehung der Arbeiterbewegung hält Michels ausdrücklich fest, daß die Bourgeoisie „die Lehrmeisterin, ja die Fechtmeisterin des Proletariats" gewesen ist: „Erst durch die sich der Arbeiterschaft zugesellende Wissenschaft wurde die proletarische Bewegung zu einer sozialistischen [...]." Und in dem Umstand, daß die Begründer des Sozialismus von Fourier bis Marx den gebildeten Ständen angehörten, exemplifiziert sich für Michels eine Art Grundgesetz des sozialen Wandels: ,AHe großen Klassenbewegungen in der Geschichte sind auf Anregung und unter Mithilfe und Führerschaft von Männern entstanden, die gerade denjenigen Klassen angehörten, gegen welche sich jene Bewegungen richteten."125 Das besondere Interesse an den „Abtrünnigen" dokumentiert sich auch in Michels' „Typologie der der Bourgeoisie entstammenden Führerschaft": Der „Mann der Wissenschaft", der „Mann des starken sittlichen Gefühlslebens", aber auch die „enttäuschten Patrioten", die sich aus Vaterlandsliebe der sozialen Frage annehmen, finden sich hier ebenso wieder wie weniger positiv konnotierte Motivationen des sozialen Grenzgänger-

124 Grundriss der Soziologie, S. 243. 125 PS 89, S. 222ff, ibs. 225/226.

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turns, die den „Quacksalber", den „Sonderling" und den vom Ressentiment getriebenen „zurückgestoßenen Neider" charakterisieren.126 Last but not least ergreift Michels in der „Akademikerfrage" Partei für die - seiner Darstellung zufolge - von proletarischer Seite meist mißtrauisch beäugten sozialistischen Intellektuellen bürgerlichen Ursprungs und konstatiert, daß letztere aufgrund ihrer mit Opfern verbundenen Selbstdeklassierung oft mehr revolutionäre Leidenschaft und Energie mitbrächten als die Geburtsproletarier.127 In Michels' politischer Soziologie tummeln sich somit zahlreiche Individuen, die sich der „sozialen Suggestion" (Gumplowicz) der Kastenpsychologie entziehen; Menschen, die eherne soziologische Gesetze brechen und einen bewundernswerten Widerstand gegen Gruppenzwänge aufbringen. Das gilt insbesondere für den „Deserteur" der Bourgeoisie, dessen gesellschaftliches Ansehen in der Stunde seines Beitritts zur Arbeiterpartei „unter Null" sinkt, und der von nun an „innerhalb seiner Klasse selbst keinen Familienverkehr mehr" finden wird, der kurzum alle Nöte und Einsamkeiten einer ,persona non grata' kennenlernt.128 Er nimmt damit eine gesellschaftliche Isolation in Kauf, die durch den Verkehr mit den neuen Genossen im proletarischen Milieu in der Regel nicht zu kompensieren sein wird. Ein Einsamer und Unbegriffener ist er nämlich auch in der neuen Umgebung: „Die Parteigenossen besaßen gar kein Gefühl für die Größe des Verzichts, der ihnen zuliebe geleistet worden war. Der Intellektuelle und der Proletarier verstanden sich nicht."129 Indes ist es beim Lesen von Michels' Renegatenreport nur eine Frage des Fokus, ob man sich hier vom Nachweis idealistischer Handlungsmotive beeindrucken läßt - oder ob man doch eher die gruppendeterministischen Grundtatsachen wahrnimmt, von denen sich die Selbstdeklassierer abheben. Tatsächlich läßt Michels keinen Zweifel daran, daß ihre Exzeptionalität nur die ganz anders gerichtete soziologische Grundregel bestätigt:

126 PS 89, S. 236ff. Thomas Welskopps These, Michels kenne „immer nur einen Typus von intellektuellen' in der Bewegung", ist korrekturbedürftig. Michels unterscheidet tatsächlich mehrere Kategorien von bürgerlichen Akademikern in der sozialistischen Arbeiterbewegung: die „konsequenten Wissenschaftler", die „konsequenten Sentimentalisten", Mischformen zwischen beiden; die „Hypertrophie des Ästhetizismus" deijenigen, die sich wohl mit dem geschichtsphilosophischen Ziel, nicht aber mit den geschmacklos gekleideten Arbeitern identifizieren können; sowie die „Sozialpatrioten" (PS 89, S. 240-245). Richtig ist an Welskopps Einwänden dagegen, daß die ,Arbeiterintellektuellen" der sozialdemokratischen Frühphase von Michels kaum wahrgenommen werden und insofern ein Dualismus zwischen Proletariat und bürgerlichen Intellektuellen zweifellos die Darstellung in der Parteiensoziologie stark geprägt hat. Vgl. Thomas Welskopp, .Arbeiterintellektuelle', .sozialdemokratische Bohemiens' und .Chefideologen': Der Wandel der Intellektuellen in der frühen Sozialdemokratie. Ein Fallbeispiel, in: Ulrich v. Alemann/Gertrude Cepl-Kaufmann/Hans Hecker/Bernd Witte (Hg.), Intellektuelle und Sozialdemokratie, Opladen 2000, S. 43-58. 127 PS 89, S. 300ff. 128 PS 89, S. 239. 129 PS 89, S. 308.

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„Aber das sind Ein[zel]gänger, nicht kompakte, einen Erwerbsstand darstellende Gruppen. Die Klasse als solche, der sie angehören, wird durch ihren Abgang nicht tangiert. Eine Klasse als Ganzes genommen begibt sich niemals aus eigenen Stücken ihrer privilegierten Sonderstellung, weil sie keine ethischen Motive anerkennt, die sie zu zwingen vermöchten, zugunsten ihrer ,ärmeren Brüder' abzudanken. Das verhindert schon ihr Klassenegoismus [...]."13° Gruppe, Stand, Kreis, Klasse - der auf scharfe Definitionen und einen differenzierten soziologischen Begriffsgebrauch unermüdlich insistierende Max Weber hat sich wahrscheinlich die Haare gerauft,131 wie hier unterschiedliche Grundbegriffe - die ja auch unterschiedliches bezeichnen sollten, falls sie nicht von vornherein wissenschaftssprachlich wertlos sind - recht beliebig verwendet werden. Der jeweilige soziale Gegenstandsbereich, den die Begriffe bei Michels umfassen, bleibt meist im Unklaren; ein Umstand, der übrigens bereits Gumplowicz' Begriff der Gruppe kennzeichnet. An dieser Stelle fallt aber noch etwas anderes auf: die gruppensoziologische Semantik, die sich in all diesen Begriffen wiederfindet. Wie hatte Gumplowicz über die Abtrünnigen eines sozialen Kreises geschrieben? Es seien „Meteorsteine, die sich von ihrem Kometen ablösen [...] - ohne die gesetzmäßige Bahn des Kometen zu ändern." Nicht anders bemerkt Michels, es seien „nur relativ kleine Teilchen, die sich da vom Körper der Bourgeoisie ablösen." Michels unterscheidet sich in der rigiden gruppenegoistischen Argumentation von Gumplowicz nur dadurch, daß er die „kleinen Teilchen" nicht wie dieser als „abnorme Genossen" bezeichnet, sondern ihre Exzeptionalität positiv herausstreicht: sie seien „Übermenschen":,»Männer über dem Durchschnittsmaß ihrer Klasse."132 Trotz seiner einfühlsamen Beobachtung idealistischer Handlungsmotive hat Michels also deutlich zu erkennen gegeben, daß mit ihnen als politischer und sozialer Faktor auf dem Weg zu einem die Klassengrenzen transzendierenden Gemeinsinn nicht zu rechnen sei. Dies wird besonders in seiner Kritik von Max Adlers „Der Sozialismus und die Intellektuellen"133 deutlich. Adler hat hier die Prognose gewagt, daß aufgrund ihrer Befähigung zu objektiver Erkenntnis die Intellektuellen derjenige Teil der Bürgertums seien, der sich auf Dauer dem „Bündnis der Arbeit und Wissenschaft" nicht verschließen und der sozialistischen Arbeiterbewegung anschließen würde, weil dies die praktische Konsequenz aus der Erkenntnis des Notwendigen sei.134 Adler hat freilich mit Kritik am Gegenwartsverhalten der Intelligenz nicht gespart, aber seine Analyse

130 PS 89, S. 233. Vgl. Gumplowicz, Grundriss der Soziologie, S. 272, wo es zu den individuellen Wanderexistenzen zwischen den Klassen heißt: „seltene Ausnahmen bestätigen nur die Regel". 131 Vgl. auch seinen Kommentar zum vorangehenden Zitat: „Vieles historisch Bedenkliche u. logisch Schiefe ,Klasse als Ganzes' - ,Klasseninteresse' etc. sind gänzlich ungeklärte Kollektivbegriffe. Hinter ihnen stecken Unklarheiten, vom communistischen Manifest an." (Brief von Max Weber an Robert Michels, 21.12.1910, in: MWGII/6: Briefe 1909-1910, S. 754-761, S. 759). 132 PS 89, S. 224. 133 Max Adler, Der Sozialismus und die Intellektuellen, Wien 1910. 134 Adler, Der Sozialismus und die Intellektuellen, S. 79.

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trotzdem mit dieser Prognose enden lassen. Ebendiese haut ihm Michels in seiner Besprechung um die Ohren: „schöner Idealismus", „Optimismus" und „Zukunftsmalerei", die „weder von der Empirie noch von der Logik des sozialen Geschehens gestützt werden" könne - lauten die Begriffe, mit denen Michels offensichtlich klarstellen will, daß Adlers Zukunftshypothese den Anforderungen einer den Härten des Lebens ins Augen blickenden sozialen Wissenschaft nicht genügt. Beifall gibt es nur für die von Adler skizzierte „düstere Landschaft" des aktuellen Verhältnisses zwischen Proletariat und Intelligenz, scharf abgelehnt wird dagegen Adlers „rosafarbener Himmel" darüber. Michels' Begründung gerät dabei selbst zur - pessimistischen - Prognose: „Die Masse der Intellektuellen wird für den Sozialismus nur dann zu haben sein, wenn dieser ihnen eine größere Summe von greifbaren Vorteilen bietet als die herrschenden Klassen. Der Eintritt eines solchen Falles würde aber mit dem Eintritt des Todes des Sozialismus selbst zusammenfallen, ganz abgesehen davon, daß die große Mehrzahl der Intellektuellen [...] Fleisch und Blut vom Fleisch und Blut der kapitalkräftigen Klassen der Gesellschaft sind, historisch dazu bestimmt, die Interessen ihrer Verwandten als Beamte im Gemeinwesen wirkungsvoll zu vertreten."135 Damit hat Michels sich nicht nur die gruppenpsychologische Logik, sondern auch die biologische Semantik zu eigen gemacht, mit der ein Ludwig Gumplowicz die Wirkung seiner Thesen zu unterstützen pflegte. Über das „Individuum als Produkt seiner Gruppe" hat dieser dieselben Worte gewählt: „Die Individuen solcher Kreise sind wie aus einem Gusse, denn sie sind ganz und gar Fleisch vom Fleische und Blut vom Blute ihrer sozialen Gruppe."136 Unter sozialistischen Intellektuellen ist die Hypothese, die bürgerlichen Renegaten seien eine Vorhut auf dem Weg zur Selbstzersetzung der Bourgeoisie, die als erstes ihr kulturelles Kapital und die gesellschaftliche Deutungshoheit verliere, weit verbreitet gewesen. In seinem Abgesang auf diese Hypothese hat Michels auch den Kern seines pessimistischen Tenors expliziert: „An diesen Tatsachen vermögen keine Bildungsbestrebungen etwas zu ändern, noch selbst die angenommene Erkenntnis von der Unver-

135 Michels, Rezension zu „Max Adler, Der Sozialismus und die Intellektuellen"; Autoren-Druckfahne, ARMFE [meine Hervorhebung]; Ob diese Autorendruckfahne eine Art Vorprodukt der späteren gleichnamigen Rezension in: Zeitschrift für Politik, Bd. V., H. 2/3, 1912, S. 496/497, ist, kann ich nicht sagen. Die Druckfahne umfaßt nur eine Seite (numeriert mit „06"). Aus einem Brief Emil Lederers vom 10.11.1910 an Michels (ARMFE) geht hervor, daß Michels ursprünglich eine Besprechung an das „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" geschickt hat. Lederer hat aber zuvor bereits selbst Adlers Buch für das „Archiv" rezensiert. Da Michels' Kritik von Adler aber Lederer zufolge „auf manches hinweist, was, über den Rahmen der Bespr. gerade dieser Publikation zwar hinausreichend, doch sehr wichtig ist, gesagt werden soll, u. wohl mit der Zeit auch wichtiger werden wird", hofft Lederer, die Rezension später doch noch unterbringen zu können. 136 Ludwig Gumplowicz, Grundriss, S. 284 [m. Hvhbg.].

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nunft und Unzweckmäßigkeit des kapitalistischen Systems in den Köpfen der Intellektuellen."137 In anderen Worten: Überzeugungsarbeit und gute Argumente sind gegenüber der Beharrungskraft der sozialen Kreise machtlos. Wenn man so will, hat Michels damit seinen spätaufklärerischen Visionen einer Sozialpädagogik bereits im Kontext der Parteiensoziologie selbst einen erheblichen Dämpfer verpaßt.

g) Die natürlichen Grenzen des Milieus Michels' Aufklärungsskepsis nimmt in den Jahren von 1907 bis 1911 zu; sein sozialpädagogisches Schlußkapitel in der Parteiensoziologie entspringt zweifellos den älteren Wertüberzeugungen des Autors. Die Kraft des besseren Arguments besitzt in dieser neuen Phase eigentlich nur noch insofern praktische Relevanz, als sie zur „Erschütterung des Selbstvertrauens im Gegner" beizutragen vermag. Ansonsten gilt aber: „die Überredungskraft hat eine natürliche Grenze, die in den sozialen Verhältnissen selbst gegeben liegt."138 Die Häufung von Begriffen aus dem Wortfeld des ,Natürlichen' ist eines der auffälligsten Charakteristika der Michelsschen Soziologie. Sie ist eng verbunden mit Erklärungen sozialer Handlungsmotive, die immer wieder auf die Faktoren ,Milieu' und ,Vererbung' zu sprechen kommen. So kann Michels feststellen, daß „Parteimitgliedschaft [...] auf Freiwilligkeit gestellt" sei. Da niemand zum Parteieintritt gezwungen sei, handle es sich hier „an sich" um „einen freien Willensakt". An sich, der Theorie nach. In der Praxis dagegen sei der „Sozialismus auch Milieuerscheinung. In gewissen Arbeiterkreisen ist Sozialismus absolut geistiger Habitus. Sich ihm zu entziehen, wäre Fahnenflucht, und als solche gefährlich für den Abtrünnigen selbst." Es sei keine Seltenheit, „daß der Proletarier sich nicht erst zum Sozialisten zu entwickeln braucht, sondern direkt in die Gedankenrichtung [...] hineingeboren wird [...] Der Sohn erbt vom Vater den Klassengedanken, den dieser [...] bereits vom Väter übernommen hatte. Der Sozialismus liegt ihnen ,im Blut'." 139 Milieutheoretische Grundannahmen prägen nicht nur die Parteiensoziologie, sondern bereits die gesamte frühe Soziologie von Robert Michels. Die sozialistische Idee gerät nun zur „ideologischen Emanation", zur „natürlichen und autochthonen Frucht" des „gegebenen Milieus".140 Dies setzt sich bis zum Ende seines Lebenswerkes fort. In seiner Studie „Einfluß des Milieus auf die Person"141 wird er seine frühen und späteren Arbeiten explizit als Beiträge zu Einzelaspekten der Milieutheorie kennzeichnen.142

137 138 139 140 141 142

Michels, Autoren-Druckfahne der Rezension zu Adler, Der Sozialismus ..., a.a.O. PS 89, S. 232 [m. Hvhbg.]. PS 89, S. 236-237. Michels, Zum Problem der Kooperation, in: Probleme der Sozialphilosophie, S. 1-44, S. 21. In: Die Biologie der Person, Bd. IV, 1928, S. 447-508. Michels, Einfluß des Milieus auf die Person, a.a.O., S. 508: Die Parteiensoziologie wird hier unter die Fragestellung „Einfluß des Parteimilieus auf die Person" subsumiert; seine Aufsätze zur Kooperation, zur Solidarität und zum Kastenwesen unter dem Aspekt des „Einflusses des gesell-

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Die gruppentheoretische Soziologisierung der Person, deren Denken und Streben auf einen Milieukomplex zurückgeführt wird, verbindet Michels mit Ludwig Gumplowicz, nach dessen Theorie Ideen, Moralvorstellungen, ja, jede Aussage über die Welt, niemals den aufklärerischen Regeln einer allgemeinen und nach logischen Kriterien überprüfbaren Suche nach Wahrheit gehorchen, sondern prinzipiell auf die Gruppe des Sprechers zu beziehen sind. Auch Gumplowicz reduziert die Anschauungen des Einzelnen wörtlich auf „Emanationen"143 seiner Gruppe, und auch bei ihm gerät das freiwillige Engagement des Einzelnen fur eine Idee zur Pseudo-Freiwilligkeit - angesichts der „sozialen Suggestion", die allem individuellen Streben zugrundeliegt: „Jede Gruppe hat ihr besonderes Interesse, für welches sie kämpft; die Einzelnen aber glauben infolge socialer Suggestion, dass sie für Ideen kämpfen; sie wissen nicht, dass diese Ideen erzeugt sind durch die Gruppeninteressen. So kämpfen die Einen vorgeblich für Freiheit und Fortschritt, die Andern für Ordnung und Autorität. Das sind die von Interessen der Gruppe erzeugten und ihren Mitgliedern suggerierten Ideen, welche als Losungsworte im Kampfe dienen. Diese Ideen haben eine fascinierende Gewalt über die Einzelnen und bilden das Band, das den Einzelnen an seine Gruppe kettet. Der Einzelne glaubt, dass er freiwillig für diese Ideen kämpft: er ahnt es nicht, dass die Gruppe ihn mittels socialer Suggestion gefesselt hat, damit er ihrem Selbsterhaltungsinteresse diene."144

h) Misoneismus Wenn der „soziale Austausch unter den Klassen" Michels zufolge ein individuelles Ausnahmephänomen ist, eine „Wellenkräuselung an der Oberfläche der sozialen Kämpfe", welche „die sozialen Antagonismen in keiner Weise abzuschwächen" vermag,145 dann liegt in dieser Beobachtung bereits eine weitere zutiefst gruppenpsychologische Einsicht mit eingeschlossen: der „Misoneismus". Michels selbst hat diesen Begriff, den wir als „Neuerungsfeindlichkeit" übersetzen können, nicht weiter erläutert, sondern als bekannt vorausgesetzt - und ihm eine nicht unerhebliche Bedeutung für die gesellschaftliche Entwicklung zugeschrieben: am „allgemeinen Misoneismus" seien „schon von jeher alle ernsten Reformen gescheitert". „Durch die weitverzweigte Arbeitsteilung des heutigen Kulturlebens" sei der Misoneismus obendrein „eher in Zunahme als in der Abnahme" begriffen. 146

143 144 145 146

schaftlichen Milieus auf die Person" behandelt. Weitere Zuordnungen seiner Publikationen zur Milieutheorie ebd. Gumplowicz, Sociologische Staatsidee, S. 212. Gumplowicz, Sociologische Staatsidee, S. 214. PS 89, S. 270. PS 89, S. 50.

VI.2. Die Vergeblichkeit der Demokratisierung

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Den „Misoneismus" finden wir auch in der Gruppensoziologie Gumplowicz'. 147 Im Gegensatz zu Michels finden wir in Gumplowicz' Werk aber auch das soziale Gesetz, welches aus gruppensoziologischer Perspektive zu begründen vermag, warum es so etwas wie eine dem sozialen Leben inhärente allgemeine Tendenz des „ M i s o n e i s m u s " überhaupt gibt. Gumplowicz nimmt nämlich an, „daß den sozialen Gruppen [...] ein Beharrungsgesetz innewohne, wie allen Naturwesen und Gegenständen, und daß dieselben aus der Beharrung in einem gegebenen sozialen Zustande zum .Übergange' in einen anderen immer nur durch adäquate äußere Ursachen und Einflüsse gebracht werden können." Veränderungen in einer sozialen Gruppe müßten einen „zureichenden sozialen Grund" haben: ein solcher liege nie in der Gruppe selbst, sondern in einer Einwirkung von außen, sei es eine andere soziale Gruppe oder auch höhere Gewalt.148 In anderen Worten: jede soziale Gruppe ist innvationsfeindlich, nur äußere Zwänge können ein .produktives' Konflikt- bzw. Krisenszenario schaffen, aus dem Neues entsteht. Wenn wir dies als theoretischen Hintergrund von Michels lapidarer Bemerkung über den „allgemeinen Misoneismus" akzeptieren, wird seine Ergänzung, daß der Misoneismus durch die „weitverzweigte Arbeitsteilung" im Wachsen begriffen sei, nachvollziehbar. Denn die Arbeitsteilung führt zu einer Vervielfältigung von organisierten Gruppeninteressen und Gruppenidentitäten, die in ihrer Fixierung auf den eigenen Status im Gesellschaftsgefüge jeden gesamtgesellschaftlichen Reformansatz, der ihnen ein Opfer fürs Ganze abverlangt, zu blockieren geneigt sind.

i) Der Instrumentalismus der Moral und das Gesetz der nationalen Transgression Mit seiner konflikttheoretischen Fundierung der Solidarität und seiner funktionalistischen Subsumtion von Werten und Ideen unter den „Selbsterhaltungstrieb" sozialer Gruppen, Kreise und oligarchischer Kliquen hat Michels einen Generalverdacht über moralische Werturteile geäußert: sie sind „Kampfesmittel", „ethisches Ornament der sozialen Kämpfe" - als „Hilfsmittel" der Gesellschaftsbetrachtung und zur „Definition historischer Entwicklungstendenzen" seien sie dagegen unbrauchbar.149 Damit hat er sich auf den von Autoren wie Gumplowicz, aber auch Mosca und Pareto proklamierten neuen soziologischen Tugendpfad begeben, wertgestützte Begründungen und Legitimierungen sozialen Handelns als instrumenten zu begreifen: die Berufung auf die Menschenrechte z. B. ist bei Gumplowicz nur deshalb von soziologischem Interesse, weil ihr eine „die Massen fanatisierende Macht" innewohne und sie imstande sei, den „Schein" zu erzeugen, „nicht nur für sich, sondern für das ganze Volk zu kämpfen". 150

147 148 149 150

Gumplowicz, Soziologische Staatsidee, S. 95. Gumplowicz, Grundriss, S. 127. PS 89, S. 5,17. Gumplowicz, Grundriss, S. 251.

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Außenpolitisch, mit Hinblick auf die ,Großgruppen' der Nationen, springt eine analoge Argumentationslinie ins Auge: So formuliert Michels 1909 in der Zeitschrift „Politisch-Anthropologische Revue", an der er gemeinsam mit Gumplowicz mitarbeitet, sein völkerpsychologisches Theorem von der „Tendenz zur Transgression". Michels, der hinsichtlich seiner persönlichen Wertvorstellungen ein Verfechter des Nationalitätenprinzips ist und im wechselseitig zugestandenen Recht auf nationale Selbstbestimmung eine logische Übertragung von Kants kategorischen Imperativ auf die internationalen Beziehungen sieht, entwickelt hier gleichwohl die pessimistische These, daß nur unterdrückte Völker das Nationalitätenprinzip anerkennen; im Moment der Befreiung aber würde die ehemals unterdrückte, nunmehr über eine eigene staatliche Organisation und deren Gewaltmittel verfügende Nationalität ins Lager der Unterdrücker und Eroberer übergehen. Der Idee des ethnischen Ausgleichs stehe die tatsächliche „Psyche aller Völker" gegenüber: „Das Nationalitätenprinzip wird nur zum eigenen Hausgebrauch in Anwendung gebracht. Es ist ein Monopol." „Die großen Prinzipien des ethnischen Idealismus haben bis auf den heutigen Tag - im höchsten Falle - nur bei den Völkern, die unter dem Joch des Fremdlings seufzen, eine Heimstätte gefunden. Die Unterdrückten allein können versprechen [...] sich von jeder Unterdrückung ihrer Nachbarvölker fernzuhalten. Zu großen und freien Nationen geworden, haben sie ihre Prinzipien stets revidiert." Dafür, daß alle Ansätze einer Moralisierung der internationalen Beziehungen auch in Zukunft keinerlei praktische Relevanz erlangen würden, macht Michels erneut den „Misoneismus" verantwortlich und eine Jahrhundertelange Tradition von Vorurteilen", die ihre Wurzeln in der „Rasse" und der „Sprache" hätten.151 Michels hat damit zumindest theoretisch die Konfliktsoziologie eines Gumplowicz auf den Nationalitätenkampf übertragen. Gumplowicz' Juristische' Kernthese lautet ja, daß das positive Recht ein Machtmittel der herrschenden Klassen sei, während die Idee der Gerechtigkeit die Waffe der Beherrschten sei. Wechseln Herrscher und Beherrschte ihre Positionen, findet automatisch ein Tausch der ethischen und juristischen Waffen statt. Michels' Argument, eine Jahrhundertelange Tradition von Vorurteilen" bilde letztlich das Bollwerk der Völkerpsychologie gegenüber neuen Einsichten, ist ebenfalls eine Denkfigur, die sich auch in Gumplowicz' tiefenhistorischer Sozialisationstheorie findet. Diese geht davon aus, daß sich geradezu archetypische Tiefenprägungen im Unterbewußtsein der Kollektive sedimentiert hätten: Jahrtausendealte Erfahrungen, die längst in fertigen Anschauungen und Vorstellungen sich auf Generationenreihen vererbten [...], jahrtausendealte Sympathien, Vorurteile und Eingenommenheiten"."2 Im übrigen darf der Professor aus Graz als geistiger Vater von Michels' nationaler Expansionslehre betrachtet werden, schrieb er doch schon Jahre vorher über das Nationalitätenprinzip: „Überhaupt zeigt die Geschichte unserer Zeit, daß die Staaten das 151 Michels, Pazifismus und Nationalitätenprinzip in der Geschichte. Ein Beitrag zur Völkerpsychologie, in: Politisch-Anthropologische Revue, 8. Jg., Nr. 8, November 1909, S. 409-422, S. 412, 414, 421,422. [m. Hvhbg.]. 152 Gumplowicz, Grundriss, S. 270 [m. Hvhbg.].

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Nationalitätsprinzip wohl anrufen, wenn sie dabei etwas gewinnen können, übrigens aber immer bereit sind, auch gegen das Prinzip zu nehmen, diesem Prinzip zuliebe aber nie was herausgeben, was sie einmal haben und behalten können." 153 Die Analogien im soziologischen Denken dieser beiden Autoren treten nicht zuletzt im nomothetischen Anspruch hervor, mit dem die sozialen und ethnischen Konflikte präsentiert werden. Aus der „Tendenz" wird bei Michels schon bald das „geheime Gesetz der Transgression": 154 „Jedes Volk", heißt es in Gumplowiczschen Duktus ganz lapidar, „ist bestrebt, über fremde Völker zu herrschen." Das Insistieren auf völkerpsychologische Gesetzmäßigkeiten unterstellt dem Beobachteten eine unabweisbare, transhistorische Geltung. Denn die Völker folgen diesem Gesetz immer, sei es „bewußt oder unbewußt"; sie können gar nicht anders. In anderen Worten: selbst wenn eine Nationalerziehung im Geiste des Selbstbestimmungsrechts der Völker imstande wäre, das Bewußtsein zu erreichen, wäre dies nur ein Remedium an der Oberfläche einer transgressiven Grundstruktur, die Michels zufolge „alle Bande der Logik und der Ethik" zerreißt. Zweifellos spricht für Michels' „Gesetz der Transgression" der Realismus, gleichzeitig hat es aber auch den Revers, daß es die Völkerrechtssubjekte für ihre Grenzüberschreitungen soziologisch exkulpiert - auch darin ist Michels' Darstellung der gruppistischen Soziologie aufs engste verwandt.

j) Nomothetischer Anspruch und Natur-Metaphern Obwohl Michels' Soziologie dem Besonderen, namentlich den nationalen Besonderheiten, viel Aufmerksamkeit widmet und er auch im Hinblick auf die Motivationen des Gruppenhandelns 155 um Differenzierungen bemüht ist, postuliert er immer wieder die „Gesetzmäßigkeit" sozialer Phänomene und Entwicklungen und suggeriert damit, daß diese in ihrer Grundstruktur identisch wie unwiderstehlich seien. Die Exkommunikation der Ethik aus der Soziologie ist in dieser Orientierung am Gesetzmäßigen immer schon einbeschlossen: „Wie alle soziologischen Gesetze", heißt es in der Einleitung zur Parteiensoziologie, „steht auch das Gesetz, das den immanenten Hang aller menschlichen Aggregate zur Kliquen- und Subklassen-Bildung ausspricht [gemeint ist das Gesetz von

153 Gumplowicz, Allgemeines Staatsrecht, S. 116. 154 Michels, Zum Problem des Fortschritts, in: ders., Probleme der Sozialphilosophie, S. 63-85, S. 77 [m. Hvhbg.]. 155 Vgl. Michels, Wirtschaft und Politik, in: Probleme der Sozialphilosophie, S. 188-204, S. 190: „Die soziale Gruppe unterliegt der ökonomischen Triebfeder in hohem Grade, wenn auch längst nicht absolut, schon weil ihr häufig die Erkenntnis der ökonomischen Notwendigkeit und Nützlichkeit fehlt, und sie deshalb, während sie glaubt, im Einklang mit dem ihr eigenen wirtschaftlichen Stimulus zu handeln, den ihrem wirtschaftlichen Vorteil entgegengesetzten Weg einschlägt." An der Unterstellung einer kompakten Gruppenpsychologie rüttelt freilich auch dieser Befund ihres zuweilen irrationalen Vorgehens in keiner Weise.

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der Oligarchie], jenseits von Gut und Böse."156 Noch deutlicher formuliert Michels sein nomothetisches Grundverständnis von den Aufgaben der Soziologie in seinen „Problemen der Sozialphilosophie": Die soziologischen Befunde sind hier „Momente, die mit dem guten Willen allein nicht verändert werden können. Wir haben es hier also mit ,Naturgesetzen [...] zu tun, die jenseits von Gut und Böse stehen". Die „Aufgabe" der Soziologie sei keine „teleologische", sei „nicht mit dem Wunschdenken zu bemeistern". „Sie besteht nicht darin, zu bestimmen, was gut und was schlecht angeordnet ist, sondern darin, festzustellen, wie die tatsächlichen Verhältnisse liegen und wohin die Tendenzen der Entwicklung führen." 157 Michels legt damit die Soziologie auf eben jene kognitive Selbstbeschränkung fest, die der Kollege Gumplowicz mit der Losung Theorie statt Therapie zur wissenschaftlichen Identität des Fachs erhoben hat.158 Auch Michels' neues Leitmotiv einer wechselseitigen Exklusion von „Naturgesetzen" und moralischen Werten folgt theoretisch den Vorgaben des ersten Begründers der Werurteilsfreiheit in der modernen Soziologie: „Aber eines ist sicher: zwischen Disziplinen, die Werturteile abgeben, und solchen, welche allgemeine Gesetze (welche alle Werturteile ausschließen!) aufstellen, muß doch ein prinzipieller Unterschied angenommen werden."159 Der nomothetische Ansatz begründet dabei fur Gumplowicz überhaupt erst das Existenzrecht der neuen Wissenschaft: „ohne soziale Gesetze keine Soziologie." Die „sozialen Gesetze" sollen dabei für die Gesellschaftswissenschaft das leisten, was die „Naturgesetze" für die Naturwissenschaft leisten.160 Auch wenn Michels die „Natur" im „Naturgesetz" in Anführungsstriche setzt, dann gibt er sich damit immer noch als Vertreter einer nomothetischen Soziologie in Analogie zu den Naturwissenschaften zu erkennen. Die direkte Folge dieses Ansatzes ist es, daß seine soziologischen Arbeiten in schöner Regelmäßigkeit ein Leitmotiv der Aufklärung nach dem anderen demontieren, und so vom kategorischen Imperativ des Sittengesetzes zur Anerkennung dessen gelangen, was Gumplowicz in einer polemischen Spitze gegen Kant den „kategorischen Imperativ der Naturgesetze"161 genannt hat. Michels hat spätestens in seinen Analysen zur ,wahren' kollektivpsychologischen Motivation bei der Anrufung des Nationalitätenprinzips diese Dissoziierung von sozialer Norm und sozialer Wissenschaft zum soziologischen Credo erhoben.

156 PS 11, S. VIII. 157 Michels, Zum Problem der internationalen Bourgeoisie, in: Probleme ..., S. 158-188, S. 188; ursprünglich: Michels, Zur Psychologie der Bourgeoisie in den verschiedenen nationalen Verbänden, in: Monatsschrift für Soziologie, 1. Jg., 1909, S. 465-476, 573-586. 158 Gumplowicz, Soziologie und Politik, ursprgl. 1891, N D in: ders., Soziologische Essays/Soziologie und Politik, Innsbruck 1928, S. 138-139: „Nun hat es aber die Wissenschaft der Soziologie so wenig mit der Lösung der sozialen Fragen zu tun, wie etwa die Astronomie mit der Abschaffung des Wechsels der Tages- und Nachtzeiten [...] Denn Wissenschaft ist Theorie und keine Therapie." 159 Gumplowicz, Soziologie und Politik, a.a.O., S. 167-168. 160 Gumplowicz, Grundriss, S. 103. 161 Gumplowicz, Soziologie und Politik, a.a.O., S. 228.

VI.2. Die Vergeblichkeit der Demokratisierung

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Gewiß ist die ostentative Betonung von ,werturteilsfreier' Forschung keine Gemeinsamkeit, die nur Michels und Gumplowicz betrifft - aber sie engt den theoriegeschichtlichen Ort von Michels' Soziologie schon sehr ein, zumal die Berufung auf naturgesetzliche Analogien in der gesellschaftlichen Entwicklung im Kontext der frühen deutschen Soziologie nicht gerade auf ungeteilten Beifall stößt. Die geradezu wesensverwandtschaftliche Nähe Michels' zu Gumplowicz läßt sich besonders plastisch in den Bildern einfangen, die die Autoren verwenden. So schreibt Michels über das Bemühen demokratischer Bewegungen, an der oligarchischen Realität etwas zu ändern: „Die demokratischen Strömungen in der Geschichte gleichen mithin dem steten Schlagen der Wellen. Immer brechen sie an der Brandung. Aber auch immer werden sie erneut. [...] Stets neue Wellen tosen gegen die stets gleiche Brandung." 162 Bei Gumplowicz heißt es sinngemäß wie metaphorisch nahezu identisch: „daß die menschliche Freiheit gegen die natürliche Notwendigkeit nichts ausrichtet, daß sie nur wie die schäumende Woge gegen das Felsenufer anstürmt, um gebrochen und zerstäubt von demselben abzuprallen". 163 Es scheint mir für den Gang dieser Untersuchung völlig unerheblich und im übrigen auch kaum verifizierbar, ob Michels bewußt ein Gumplowiczsches Bild leicht modifiziert übernommen hat. Entscheidender ist, daß die Perspektivierung des politischen Kampfes in Bildern eines Naturschauspiels dargeboten wird, einer Wechselwirkung von Elementarkräften. In diesen Bildern drückt sich nicht zuletzt auch die gescheiterte Emanzipation des „soziologischen Klassikers" Michels von der kognitiven Struktur einer mit naturgesetzlichem Anspruch auftretenden positivistischen Soziologie aus. Gleichzeitig verdeutlichen die maritimen Bilder der Politik, daß es nicht eines nietzscheanischen Ausgangspunktes bedarf, um in der sogenannten Kulturkrise beim Theorem der „ewigen Wiederkehr des Gleichen" zu landen. Das besorgt ein sich selbst revidierender Positivismus schon selbst.

2.5. Die Krise des Positivismus Wenn in dieser Arbeit von der Krise des Positivismus im fin de siècle die Rede ist, dann im Sinne einer schöpferischen Neuorientierung und kritischen Selbstinspektion, infolge derer tradierte Gewißheiten des positivistischen Gesellschafts- und Geschichtsbildes ad acta gelegt werden und ein „Positivismus der zweiten Phase" 164 entsteht. Dieser hält zwar hinsichtlich der Gesellschaftsmotorik an den darwinistischen und materialistischen Grundannahmen fest, die seit jeher das positivistische Selbstverständnis in seiner 162 PS 89, S. 378. 163 Gumplowicz, Grundriss, S. 319. 164 Vgl. André Kaiser, Politik als Wissenschaft. Zur Entstehung akademischer Politikwissenschaft in Großbritannien, in: Hübinger/v.Bruch/Graf, Kultur und Kulturwissenschaften um 1900: Idealismus und Positivismus, Stuttgart 1997, S. 277-295, S. 279.

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

Orientierung an den ,harten Fakten' im identitätsstiftenden Gegensatz zu ,metaphysisch-spekulativen' Gesellschaftsbetrachtungen konturiert haben. Dieser Identität ist aber offensichtlich jegliche positive Gewißheit über den Lauf der Dinge, wie sie typisch für die Comtesche und Spencersche Phase des Positivismus war, abhanden gekommen. Die aus der Dynamik des Gesellschaftsprozesses vermeintlich erwachsende fortschreitende Rationalisierung der gesellschaftlichen Ordnung ist fraglich geworden. Daher thematisiert der Positivismus der zweiten Phase einen Sozialdarwinismus ohne Aussicht auf ein humanes Telos der sozialen Kämpfe. Gleichzeitig wird dieser selbst-reflexive Positivismus offen fur neue ideologische und politische Optionen. Zu diesen Optionen zählt u. a. auch die Anleihe beim weltanschaulichen Gegner. Synthesen von Positivismus und Idealismus sind das typische Symptom dieser Weltanschauungskrise um die Jahrhundertwende, in der die geschichtsphilosophischen Glaubensgewißheiten des 19. Jahrhunderts fraglich werden. Materialistische und auch biologistisch eingefärbte Ansätze mischen sich jetzt auf wundersame Weise mit der Erkenntnis idealer Faktoren des Wandels, Forderungen nach einer ethischen Integration der Gesellschaft werden auch aus dem Munde von Erzpositivisten laut. Umgekehrt setzen sich neoreligiöse Reformatoren für eine Eingemeindung des Materialismus ein.165 Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit lassen sich wesentliche Merkmale der Krise des Positivismus am Werk Gumplowicz' exemplifizieren. Heuristisch ist dieser Umweg meiner Analyse über den Grazer Soziologen dadurch gerechtfertigt, daß die Inkohärenzen und Brüche des Systematikers ein Schlüssel zum Verständnis der „angewandten Soziologie"166 von Michels sind. Dessen weltanschauliche Wurzeln lagen zunächst im namentlich von Lombroso, Kautsky und Bebel geprägten progressiven positivistischen Diskurskontext. Michels hat dabei den Denunziationsbegriff „Positivismus" in seiner sozialistischen Phase stets affirmativ und in seiner fortschrittsphilosphischen Spielart gebraucht.167 Die Jahre ab 1908 bis zum Ersten Weltkrieg sind für Michels der definitive Abschied von diesem Positivismus der ersten Phase. Anhand des Vergleichs mit der Soziologie Gumplowicz' läßt sich zeigen, daß Michels nicht einfach nur die pessimistische' Version der zweiten Phase adaptiert, sondern auch die ungelösten Probleme des positivistischen Weltbildes übernimmt: so etwa die Frage nach der Integrationsfähigkeit moderner Gesellschaften, die durch die Sozialdiagnose des pessimistischen Gruppismus erst recht akut wird. Aber auch in der Aufwertung kultureller, geistiger und psychologischer Faktoren beschreitet Michels Wege, die sich bereits bei Gumplowicz infolge der Einsicht in die Unzulänglichkeit des darwino-materialistischen Ansatzes abzeichnen.

165 Exemplarisch am Fall Rudolf Eucken belegt diese Suche nach einer neuen Kultursynthese: Friedrich Wilhelm Graf, Die Positivität des Geistigen. Rudolf Euckens Programm neoidealistischer Universalintegration, in: Hübinger/v.Bruch/Graf, Idealismus und Positivismus, a.a.O., S. 53-85. 166 Vgl. PS 89, S. XLV: „Die Aufgabe der Wissenschaft der Soziologie ist nicht so sehr, Systeme zu schaffen, als Erkenntnisse zu vermitteln." Dieses wissenschaftliche Selbstverständnis bringt auch der Titel des 1919 erschienen Buches „Problemi di sociologia applicata" zum Ausdruck. 167 Vgl. Kapitel III; V.

VI.2. Die Vergeblichkeit der Demokratisierung

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2.5.1. Der Verlust des progressiven Vorzeichens und die Synthese von Aufklärung und Pessimismus Bei Gumplowicz konkretisieren sich die oben allgemein skizzierten Symptome der Krise des Positivismus wie folgt: der „ältere" zivilisationsoptimistische und fortschrittsorientierte Positivismus Comtescher Provenienz erlebt bei Gumplowicz eine antiteleologische Wende, die sich in einer geistigen Synthese von Aufklärung und Pessimismus, liberalem Ethos und reaktionärer Rhetorik168 niederschlägt. Synthese! Denn die Vergeblichkeitsthese ist bei Gumplowicz vielleicht das letzte Wort und die Konsequenz, auf die sein gesamtes Lebenswerk hinausläuft; aber auch der Grazer Soziologe wurzelt unüberhörbar im Diskurskontext des progressiven Denkens. Diese Wurzeln sind auch in den späten Textschichten seines Œuvres nicht gekappt. So stehen Gumplowicz' Plädoyer für die Trennung von Kirche und Staat und seine scharfe Ablehnung religiöser Missionsansprüche, 169 seine Forderung nach einem Rückzug des Staates aus der bürgerlichen Privatsphäre 170 sowie seine Kritik an traditional legitimierten Privilegien und „Volksbedrückungen" 171 in der Tradition der liberalen Aufklärung. In der Tradition der positivistischen Aufklärung steht auch seine „entwicklungsgeschichtliche" Deutung der geographischen Verteilung von Staatsformen, wonach die asiatische Despotie „die Staatsform der Vergangenheit", die europäische „konstitutionelle Monarchie die der Gegenwart" und die amerikanische „Republik die der Zukunft" sei.172 Auch sein Begriff der „socialen Entwicklung" enthält noch Spencerschen Zukunftsoptimismus, wenn er die „höheren Daseinsformen" als Ziel dieser Entwicklung ausgibt, und damit insbesondere die „gesicherte Rechtsstellung des Individuums" und wohlfahrtsstaatliche Minimalstandards meint. 173 In der Tradition des Pessimismus steht dagegen die Annahme, daß in der Geschichte der Menschheit nur die Formen wechseln, der Inhalt der menschlichen Geschichte aber auch in seinen kultivierten Gestaltungen immer derselbe bleibt: Kampf und Unterwerfung, Herrschaft, Knechtschaft und Ausbeutung. Den entgegengesetzten Weltbildern, die in Gumplowicz' Werk unvermittelt koexistieren, entsprechen dabei zwei unterschiedliche temporale Strukturierungen. In den freilich rar gesäten - optimistischen Textschichten seines Werkes klingt noch die zeitliche Struktur neuzeitlicher „Bewegungsbegriffe" (Republikanismus, Liberalismus etc.) an, die Reinhart Koselleck zufolge einen irreversiblen historischen Prozeß in einen durch den bisherigen „Erfahrungsraum" nicht gedeckten „Erwartungshorizont" perspektivieren

168 Vgl. Albert O. Hirschman, Denken gegen die Zukunft. Die Rhetorik der Reaktion, Frankfurt a.M. 1995. 169 L. Gumplowicz, Allgemeines Staatsrecht, 3. Aufl., Innsbruck 1907, S. 190-199. 170 L. Gumplowicz, Die Familie, in: Soziologische Essays/Soziologie und Politik (= Ausgewählte Werke Bd. IV), hg. v. G Salomon, Innsbruck 1928, S. 31-44. 171 Gumplowicz, Sociologische Staatsidee, a.a.O, S. 132. 172 Gumplowicz, Allgemeines Staatsrecht, S. 247. 173 Gumplowicz, Sociologische Staatsidee, S. 148.

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

und so einen „Vorgriff auf die Zukunft" formulieren.174 In den - dominierenden - pessimistischen Textschichten wird das Verhältnis von Erfahrung und Erwartung dagegen neu bestimmt. Die Regel der Aufklärungsphilosophie, „daß alle bisherige Erfahrung kein Einwand gegen die Andersartigkeit der Zukunft sein darf', 175 wird durch Gumplowicz in die gegenteilige Annahme überfuhrt, daß alle bisherige Erfahrung der Möglichkeit einer anderen Zukunft widerspricht. Ein derartiger Abbau der Kluft zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont käme Koselleck zufolge einem „Ende der ,Neuzeit' im Sinne des optimierenden Fortschritts"176 gleich. Die Gumplowiczsche Soziologie hat mit ihrer Betonung der Zyklizität und Kontingenz geschichtlicher Entwicklungen dieses „Ende der Neuzeit" mit eingeläutet. Ein ähnlicher geschichtsphilosophischer Spagat kennzeichnet die Soziologie Robert Michels': der Vision einer „grausamen Fatalität der Geschichte", welche die „Herrschaft einer kleinen Minorität" auf Dauer stellt,177 steht zum selben Zeitpunkt noch theoretisch unvermittelt die Überzeugung von einem durch die Aufklärung induzierten Fortschritt im europäischen Freiheitsbewußtsein und einer entsprechend „fortgeschrittenen sozialen Frage" gegenüber.178 Die von Karl Acham erwähnte Wesensverwandtschaft von Gumplowicz und Michels dürfte nicht nur mit den ähnlichen sozialtheoretischen Befunden, sondern entscheidend damit zu tun haben, daß beide Autoren den Übergang vom progressiven zum kritischen Positivismus der zweiten Phase vollziehen, aber in ihrem Geschichtsbild noch mit einem Bein in der ersten Phase stehen. So wird das progressive Drehbuch der Geschichte ja genaugenommen nicht umgeschrieben, sondern es wird für abgeschlossen erklärt. Wie beide Autoren aber die bisherige Entwicklung sehen, an deren Ende sie sich nun wähnen, bezeugt ihre anfangliche Verwurzelung in der radikalliberalen Tradition.179 In dieser Traditionslinie ist der Sieg der „Ideen von 1789", der Sieg des Bürgertums über Monarchie und Feudalismus zweifellos ein progressiver Quantensprung der geschichtlichen Entwicklung, nicht zuletzt, weil er das Ende des Erzfeindes aller Positivisten eingeleitet hat: des Gottesgnadentums und des Erbprinzips als den Insignien monarchischer Legitimität. In der radikalliberalen Tradition steht auch die Würdigung des Sozialismus als Erben eines Liberalismus, der seine universalen Versprechen nicht gehalten und sich in der Emanzipation der Bourgeoisie erschöpft habe. Die pessimistische Wende des radikalliberalen Geschichtsbildes setzt dagegen bei der Erkenntnis an, daß der Sozialismus zwar der Bourgeoisie die Waffe der „Idee der Menschenrechte" aus der Hand genommen hat, damit aber den Emanzipationsprozeß nicht mehr grundlegend

174 Vgl. Reinhart Koselleck, ,Neuzeit'. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe; sowie ders., ,Erfahrungsraum' und ,Erwartungshorizont' - zwei historische Katgorien, in: ders., Vergangene Zukunft, Frankfurt a.M. 1989, S. 300-348, S. 349-375. 175 Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 364. 176 Koselleck, Vergangene Zukunft, a.a.O., S. 374. 177 PS 89: S. 361. Vgl. diese Formulierung mit dem Eingangszitat von Büchner. 178 Michels, Grenzen der Geschlechtsmoral, S. 131-133. 179 Gumplowicz, Grundriss der Soziologie, S. 251; Michels, Le côté éthique du socialisme positiviste, a.a.O.

VI.2. Die Vergeblichkeit der Demokratisierung

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voranbringen kann, da die Emanzipation der Massen aus gesellschaftstrukturellen Gründen ausgeschlossen ist und als Emanzipation einer neuen politischen Klasse enden muß, die sich vom bürgerlichen Antipoden kaum unterscheiden wird. 180 Damit sind Reformen, gerade auf Druck der organisierten Arbeiterbewegung, nicht ausgeschlossen. Die Geschichte der Emanzipation ist aber an ein Ende gekommen, weil sie am irreduziblen Grundbestand an Ungleichheit und Ausbeutung, der „Mehrarbeit der einen zugunsten der anderen" (Gumplowicz) nur dies oder jenes mildern, strukturell aber nichts ändern kann. Mit der antiteleogischen Wende des Positivismus der zweiten Phase wird auch der genetische Code der Moralentwicklung umgeschrieben, vom Universalismus zur Kontextualität. Erschien dem progressiven Positivismus der ersten Phase die Realisierung aufklärerischer Leitmotive wie Autonomie und staatsbürgerliche Egalität als Entelechie der Evolution, so behandelt der Positivismus der zweiten Phase derartige Werte als kontingent, situativ und vor allem instrumentell. Das rationale Fundament von Wertorientierungen wird von ihm gänzlich in Frage gestellt, insofern alle Moral Gesellschaftsmoral ist, d. h. durch Gewohnheit und Aberglauben, nicht aber durch kritische Überlegung fundiert wird und stets funktional auf die Erfordernisse des Machtstrebens bezogen ist. Das, wofür der Sozialismus angetreten ist, wird in dieser Perspektive zur bloßen ideologischen „Emanation" des Arbeitermilieus und seiner .natürlichen' Strebungen. Zu den prominenten Werten der Moderne, die in diesem positivistischen Diskurskontext soziologisch dekonstruiert werden, zählt die Demokratie. Ihr Wert wird auf den einer herrschaftstechnischen Fiktion reduziert. Der Sieg der Demokratie - so läßt sich mit Michels und Gumplowicz sagen - hat keinen Einfluß auf die staatliche Hierarchie, sondern universalisiert die demokratische Maskerade der Führungsschichten.

2.5.2. Die Brücke vom positivistischen Sozialismus zur naturgesetzlichen Soziologie und die Synthese zwischen Positivismus und Neoidealismus Die oben demonstrierten Analogien zwischen der Gumplowiczschen Konfliktsoziologie und Michels' gewissermaßen reflexiv-skeptisch gewordenen und in eine soziologische Diagnose überführten Sozialismus lassen vermuten, daß es eine theoretische Brücke zwischen positivistischem Sozialismus und naturgesetzlicher Soziologie gibt, die Michels offensichtlich in den Jahren um 1909 überschritten hat. Der erste Pfeiler dieser Brücke ist die bei Gumplowicz auffallige Verwendung marxistischer Termini oder diesen analoger Begriffe bei der Gesellschaftsanalyse: Ausbeutung, Gruppenkampf als hervorstechendes Merkmal jeder gesellschaftlichen Formation

180 Gumplowicz, Sozialphilosophie im Umriß, S. 111-112 sowie S. 107, wo Gumplowicz den Sozialismus als Erben des Liberalismus bezeichnet. Michels hätte ihm da, wie gesehen (Kapitel II.3. „Ein Land aus Stuck"), sicher beigepflichtet.

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

und Motor der Entwicklung, Staat und Rechtssystem als sekundäre Manifestationen ungleicher Machtbeziehungen. Der zweite Pfeiler ist die antiteleologische Wende des Positivismus um 1900. Zur Illustration sei an die relativ wohlwollende Rezension von Gumplowicz' „Rassenkampf' durch Karl Kautsky erinnert,181 der im Hinblick auf die Vergangenheit der Menschheitsgeschichte die Aussagen des Grazer Soziologen teilte, aber ihm in Hinblick auf die zukünftige Entwicklung widersprochen hat. Die weitgehende Akzeptanz des „Rassenkampfs" durch den Chefideologen der II. Internationale belegt, wie stark der Marxismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts in seinen Adaptionen durch Kautsky und Engels naturgeschichtliche und - wenn auch progressiv gedeutete - sozialdarwinistische Elemente aufgenommen hat. Der Dissens hinsichtlich des Ziels der historischen Entwicklung dagegen kennzeichnet Kautsky als einen Positivisten der ersten - optimistischen Phase - und Gumplowicz als einen Positivisten der zweiten Phase, dessen paramarxistisch erscheinende Argumentation den genetischen Code des sozialen Antagonismus eben anders deutet und die utopischen Sinngehalte des Marxismus dementiert. Wenn also ein maßgebliches Kriterium des „Positivismus der zweiten Phase" die antiteleologische Wende ist, dann läßt sich sogar einigermaßen präzise datieren, wann Robert Michels' bei seiner Brückenüberquerung diesen zweiten Pfeiler erreicht hat. Während er sich noch 1908 zur „positivistischen Schule von Karl Marx" und zum „Endziel" bekennt,182 hat er bereits 1910 kurz vor Fertigstellung seiner Parteiensoziologie sein Marx-Verständnis erheblich gewandelt. Immer noch bezeichnet er sich zu dieser Zeit als Marxisten,183 aber er nennt Marx nunmehr in einer recht willkürlichen Ahnenreihe des Pessimismus (!) in einem Atemzuge mit Schopenhauer und Gumplowicz (!) und wirft den „modernen Parteisozialisten" vor, den „gewaltigen Pessimismus" Marxens über Bord geworfen zu haben, „um sich desto fester an den optimistischen Strohhalm zu halten, den der Politiker in ihm ihnen geboten hat."184 Das hat selbst Gumplowicz' Sohn Ladislaus höchst verwundert. Dieser schreibt im Juni 1910 an Michels unter Bezug auf dessen neues Marx-Verständnis: „War denn Karl Marx wirklich ein Pessimist? Wenn ein Arzt die Diagnose stellt: ,Du wirst drei Tage vom Fieber geschüttelt werden, dann aber dein Leben lang kerngesund sein' - so pflegt man eine solche Diagnose sonst doch wohl als optimistisch zu bezeichnen".185 Michels indes hat zu diesem Zeitpunkt das teleologische Versprechen der Klassenkampf-Theorie bereits

181 S.o. 182 Michels, Le côté éthique du socialisme positiviste, a.a.O. 183 So im Vorwort von „Storia del marxismo in Italia" (Roma 1910), wo er freilich einer dogmatischen Marx-Exegese eine Absage erteilt und sich für eine offene Weiterentwicklung der Manischen Theorie ausspricht. 184 Michels, Rezension zu Ludwig Gumplowicz: Der Rassenkampf, a.a.O. 185 Brief von Ladislaus Gumplowicz an Robert Michels, 16. Juni 1910, ARMFE.

VI.2. Die Vergeblichkeit der Demokratisierung

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von seinem Marx-Bild abgezogen 186 und wird auch in späteren Jahren an seiner lapidaren Einschätzung festhalten, daß Marx ein Pessimist sei.187 Es ist allerdings nicht nur der Gedanke eines sich im Evolutionsprozeß herauskristallisierenden Sinns, von dem sich der Positivismus der kritischen Phase verabschiedet. Er verliert auch zunehmend die systematische Kohärenz, die für ihn bis dahin typisch war. Er erlebt einen Umbau, ja ein Diffundieren und Andocken seiner Elemente in verschiedenste Richtungen. Bei Gumplowicz sind die theoretischen Bruchstellen und Inkohärenzen weitaus leichter erkennbar als bei Michels, dessen „historisch angewandte Soziologie" ihr Weltbild ja eher zwischen den Zeilen versteckt hält. Möglicherweise läßt sich Michels aber über den Rekurs auf Gumplowicz neu lesen und besser verstehen. Insofern nämlich bei Gumplowicz die Perspektivierung der Kontingenz der Gruppenkämpfe und immer wieder auch die Vision des Staatszerfalls am teleologischen Sinn des sozialen Antagonismus, nämlich der evolutiven Integrationsfortschritte, zweifeln lassen, treten Bruchstellen in der Argumentation auf. Und eben an diesen Bruchstellen kommt es zu einer Synthese zwischen dem Positivismus und seinem Antipoden: dem Neo-Idealismus. Ein Beispiel: Wenn Vergesellschaftung sich primär immer in den intermediären Instanzen der Gruppen, Milieus und Parteiungen vollzieht, und diese Instanzen in einem antagonistischen, ja sogar feindseligen Verhältnis zueinander stehen, ist es nur logisch, wie Gumplowicz das auch größtenteils tut, einen gesellschaftlichen Wertkonsens prinzipiell zu bezweifeln und darauf zu setzen, daß der Kampf der sozialen Wertsphären zu rechtlichen Arrangements fuhrt. Dies ist die Herleitung des Rechtsstaats aus einer sozialdarwinistischen Logik der Macht, in der sich durchaus noch optimistisches Zukunftsvertrauen ausdrückt. Die Synthese zwischen Idealismus und Positivismus beginnt dagegen an Stellen wie dieser: „Man kann getrost die Behauptung aufstellen, daß der größte Teil der im Staate vorkommenen Verbrechen und Gesetzesüberschreitungen aus den Konflikten der Gesamtmoral mit der Moral der sozialen Elemente entsteht [...] Solche häufigen Konflikte sind ein Beweis, daß es der höheren Einheit des Staates noch nicht gelungen ist, die sozialen Elemente zu einer einheitlichen sozialen Gemeinschaft zu verschmelzen - und allen Individuen im Staate jene höhere Moral einzu-

186 Wenige Jahre vorher hatte er noch ein optimistisches Marx-Verständnis gepflegt: Vgl. neben der schon erwähnten Schrift von 1908 auch Michels, Vorwärts mit Marx und Kant!, in: Volksstimme, 16. Jg., Nr. 48, 1905. 187 Vgl. Michels' späte Schrift „Soziologie als Gesellschaftswissenschaft", Berlin 1926, S. 51: „Den Beweis dafür, daß die Erforschung der geschichtlichen Geschehnisse [...] auch zu einer pessimistischen Lehre zu fuhren vermag, liefert der historische Materialismus von Karl Marx mit seiner Ewigkeitswert beanspruchenden Klassenkampfidee und seiner Katastrophenthese." Es handelt sich hiermit also nicht um eine der Marotten des späten Michels, sondern um eine Überzeugung, die sich bereits 1910 herauskristallisiert hat.

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

impfen, die für die Wohlfahrt der Gesamtheit ebenso nötig ist, wie die primitive Moral der Horde für die Wohlfahrt der Horde nötig war." 188 Neoidealistisch ist dies, insofern nunmehr eine einheitliche moralische Orientierung der Individuen zum Ansatzpunkt der nationalen Integration gemacht wird, positivistisch ist es gleichzeitig, insofern die medizinische Metapher der Impfung einem technokratischnaturwissenschaftlichen Gesellschaftsverständnis treu bleibt, und eben metaphorisch nicht am Geist, sondern am Leib ansetzt. Gumplowicz' Werk zeichnet somit eine weitere für die Krise des Positivismus typische Wende aus: vom selbstläufigen, evolutionstheoretisch garantierten Integrationsprozeß der Gruppen in den Kulturstaat hin zum Aufruf an die gemeinwohlorientierte Interventionskompetenz des Staates im Kampf der Gruppenmoralen. Diese theoretische Inkohärenz ist bereits Gumplowicz' Zeitgenossen Arthur Bentley aufgefallen, der das Lebenswerk des Polen 1908 dem amerikanischen Leser immerhin mit der Bewertung anpreist, daß dieses nicht nur fruchtbarer als das von Karl Marx sei, sondern daß selbst Georg Simmeis „Über soziale Differenzierung" allenfalls als Supplement zu Gumplowicz' Gruppensoziologie zu bewerten sei.189 Bentley sieht den Defekt der Gumplowiczschen Theorie in dem ungeklärten Verhältnis zwischen „sozialen" und „psycho-sozialen" Faktoren. Zwei Modelle stehen sich nämlich unvermittelt gegenüber: erstens ein kruder Reduktionismus, der das marxistische Basis-Überbau-Schema modifiziert und in eine sozialdarwinistische Sprache übersetzt: die „Psychologie" der Akteure, ihre Ideen und vordergründigen moralischen Überzeugungen reflektieren in diesem Modell nur den „Kampf ums Dasein". Zweitens aber hat Gumplowicz mit seinen Überlegungen zur Rechtsstaatsidee, zur Gesellschaftsmoral und zur Integrationskraft von sozialen Mythen eine Autonomie „psycho-sozialer" Faktoren eingeräumt, die sich vom Determinismus der Naturgesetze sogar emanzipieren und relativ verselbständigen können. Sie münden dann in eine Kollektivpsychologie, die sich nicht mehr eindeutig auf ein Gruppeninteresse reduzieren läßt und die sogar imstande ist, ihrerseits das Handeln der Akteure verschiedener Gruppen zu determinieren. 190 Anstatt diese theoretische Inkongruenz aber, wie der aufmerksame Beobachter Bentley dies tut, als „Defekt" zu bezeichnen, ziehe ich es vor, sie als repräsentativen Ausdruck einer Suchbewegung zu begreifen, in die das positivistische Denken um die Jahrhundertwende notwendigerweise geraten ist. Im Hinblick auf diese intellektuelle Suchbewegung sind die Parallelen zwischen Michels und Gumplowicz frappierend: beide diagnostizieren, ja dramatisieren geradezu die den nationalen Rahmen unterlaufende Wertintegration in den sozialen Milieus, welche untereinander regelrechte Kommunikationsgrenzen etablieren und die Entscheidung auf 188 Gumplowicz, Grundriss der Soziologie, S. 287. 189 Arthur F. Bentley, The Process of Government, pr. ed. 1908, rist. Cambridge 1967, S. 472: „Since Simmel's work gains its main practical value in the matter of group interpretation by its supplementary aid to Gumplowicz, the latter is no doubt the more important figure from this point of view." Für den Hinweis auf Bentley danke ich Harald Bluhm. 190 Bentley, Process of Government, a.a.O., S. 470-471.

VI.2. Die Vergeblichkeit der Demokratisierung

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den Konfliktweg nach Maßgabe des Rechts des Stärkeren verweisen. Dies ist zweifellos ein zentrales Thema der „Kulturkrise" im fin de siècle.191 Die „verschiedene gesellschaftliche Stellung" des Menschen ist in dieser Perspektive die Quelle für den jeweils „verschiedenen Maßstab des Moralischen". 192 So, wie hier bei Gumplowicz die moralische Assoziation des sozial Homogenen mit der sozialen Dissoziation der Gesellschaft korrespondiert, deckt sich seine positivistische Moralsoziologie vollkommen mit dem positivistischen Sozialismus des jungen Michels, der die „Parallelmoralen" bemerkt, die in jeder Gesellschaft koexistieren, ohne sich jemals zu treffen. 193 Als Soziologe des „Kastenwesens" kann Michels nach 1907 an diese Diagnose nahtlos anknüpfen. Es kennzeichnet aber das Dilemma der Gruppensoziologie, daß mit ihren herkömmlichen Kategorien nicht angemessen beschrieben und verstanden werden kann, was eine Gesellschaft zusammenhält. Die Kontingenz des soziologisierten Moralbegriffs und das damit verbundene Rätsel der sozialen Integration werden so in der Krise des Positivismus zur Einbruchsteile für eine kultursoziologische Kategorie, die einem idealistischen gesellschaftstheoretischen Ansatz verpflichtet ist und mit besonders viel Pathos gerade von konservativen Autoren hochgehalten wird: den Mythos. Die Quintessenz der Gumplowiczschen Soziologie lautet nämlich überraschenderweise, daß „nur mit dem Mythos die Moral aufrecht erhalten werden" kann und daß , jeder Angriff auf den ersteren den Fall der letzteren herbeiführen" muß. 194 Auf die aufklärerische Mythenentlarvung folgt somit die Einsicht in die Notwendigkeit der Mythenkonstruktion, gewissermaßen als Unterpfand der nationalen Identität und Integration von Gesellschaften. Bei Robert Michels stellen wir eine ähnliche Neuorientierung des Denkens fest. Diese setzt bereits in der sozialistischen Phase ein, wenn er die Parteitaktik kritisiert, die Emanzipation einer fatalistischen ökonomischen Entwicklungstheorie allein zu überlassen, und fordert, am „positivistischen Sozialismus" zwar festzuhalten, diesen aber um eine „ethische Seite" zu ergänzen. Als Soziologe baut Michels dann seine sozialpolitische Perspektive um: orientierte sich diese in der sozialistischen Phase noch an einem universalen Emanzipationsprozeß, so richtet sich in der soziologischen Frühphase der Fokus auf die antagonistische Vergesellschaftung und auf die daraus resultierenden egoistischen Teilsolidaritäten der Gruppen. Wenn man so will, sind es die soziomoralischen Integrationsdefizite moderner Gesellschaften, die Michels' Optik von nun präokkupieren. Mit dieser Wende der Michelsschen Fragestellung verlieren internationalistische Orientierungen an Bedeutung und steigt nunmehr das Interesse an der Nation als einer Solidaritätsquelle, die mit der konfliktsoziologischen Diagnose kontrastiert und sie gleichzeitig komplettiert. Es scheint mir zumindest mehr als eine zeitliche Entsprechung vorzuliegen, wenn Michels, in dem Moment, wo er sich auf eine Konfliktsoziologie ohne Telos einläßt, sich andererseits dem Phänomen nationaler Integration und den Gemeinsamkeit wie Handlungsfähigkeit 191 Vgl. Klaus Lichtblau, Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende, Frankfurt a.M. 1996, S. 392ff. 192 Gumplowicz, Grundriss der Soziologie, S. 292. 193 Michels, Beitrag zum Problem der Moral, in: Neue Zeit, Jg. 21, Bd.l, Nr. 15, 1903, S. 470-475. 194 Gumplowicz, Grundriss, S. 294.

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VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

über die Gruppengrenzen hinweg erzeugenden Mythen der Nation und den kollektiven Emotionen wie der „Vaterlandsliebe" zuwendet. „Da heißt es denn", kommentiert Gumplowicz das staatliche Interesse an einer nationalmythologischen Kompensation der gesellschaftlichen Dissoziation, „moralische Hebel ansetzen, dem Volke diejenigen Gefühle künstlich einimpfen, welche in der Herrenklasse das eigene Interesse erzeugt: Vaterlandsgefühle, dynastische Treue, Opferfähigkeit für die Gesamtheit."195 Mit der Niederschrift der „Parteiensoziologie" vollzieht sich so ein Kategorienwechsel in der Michelsschen Soziologie. Der zentrale Angelpunkt seiner bisherigen Gesellschaftsperspektive, die Kategorie der „Klasse", lebt zwar in seinen soziologischen Analysen einer gruppistischen Dissoziation der Gesellschaft in modifizierter Form fort. Aber sie dient nicht länger als Dementi, sondern unterstreicht das theoretische wie politische Erfordernis einer Kategorie, die fortan einen zentralen Stellenwert in seiner Publizistik einnehmen wird: die „Nation" und das damit verbundene Faszinosum einer klassentranszendierenden kulturellen wie emotionalen Vergemeinschaftung des Menschen. Mit den soziologischen Begriffen Gumplowicz' gesprochen: Michels' Optik geht von den biomaterialistischen „sozialen Faktoren" zu den „psychosozialen Faktoren", d. h. den idealen und kulturellen Motivationen des sozialen Handelns über. Dies wird besonders plastisch an seinem Aufsatz „Der ethische Faktor in der Parteipolitik Italiens."196 Dieser Beitrag ist in der Michels-Forschung überhaupt nicht gewürdigt worden, wohl weil man hier nur eine Idealisierung der Wahlheimat vermutete oder weil dieser Beitrag zur politischen Kulturforschung, der er zweifellos ist, allzu disparat zur Organisationssoziologie des Autors zu stehen scheint. Tatsächlich handelt es sich um das Pendant zur pessimistischen Gruppensoziologie und ihrer Tendenz zur Auflösung des gesellschaftlichen Zusammenhangs. Das, was Aufklärung und rationale Moralphilosophie nicht zu leisten vermögen, garantiert in Italien das nationale Empfinden, die „psychische Disposition der Italiener": der Streit der Parteien verläuft Michels zufolge deswegen in gehegten Bahnen, weil es ein allgemeines „Gefühl der Achtung und Rücksicht auf die gegnerische Meinung" und weil es Disputationsregeln wie den „contraddittorio" gibt, die tief im nationalen Selbstverständnis verwurzelt seien. Der ethische Faktor sei zudem eng mit ästhetischen Leitvorstellungen verwoben. Es ist somit auch ein allgemein geteiltes Gefühl der Schönheit moralischen Handelns, das die ethische Praxis in der italienischen Nationalkultur stütze. Derartige „psychosoziale" Faktoren nationaler Identität und Wertvorstellungen sowie ihr Potential, die partiellen Solidaritäten der Gruppen zu überwölben, stehen nun zunehmend bei Michels im Fokus des Interesses. Hintergrund dieser Schwerpunktverlagerung von der „Klasse" zur „Nation" ist die Unlösbarkeit der sozialen Frage}91 In diese Prognose münden die Überlegungen

195 Gumplowicz, Sozialphilosophie im Umriß, S. 71. 196 Michels, Der ethische Faktor in der Parteipolitik Italiens, in: Zeitschrift für Politik, III. Band, 1909, Heft 1, S. 56-91, ibs. S. 82, 88. 197 Vgl. Gumplowicz, Grundriss der Soziologie, S. 267: ,Jn dem harmonischen Zusammenwirken der sozialen Gruppen liegt die einzige mögliche Lösung der sozialen Frage, soweit diese eben mög-

VI.2. Die Vergeblichkeit der Demokratisierung

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Gumplowicz' und Michels' gleichermaßen. Eine Patentlösung dafür, wie den Gruppeninteressen ihre zentrifugalen Tendenzen genommen und sie in eine dem Interesse des Ganzen dienende Struktur eingebaut werden könnten, hat am Vorabend des Ersten Weltkrieges aber weder der eine noch der andere. Was beide zur Funktionalität des Nationalgefiihls zu sagen haben, ist analytisch und deskriptiv, nicht aber präskriptiv. Es wird Zeit, auf die Unterschiede der beiden Autoren zu sprechen zu kommen, die sich in vielerlei Hinsicht so ähnlich sind. Es mag überraschen: während der vermeintliche ,Rassenanthropologe' Gumplowicz tatsächlich zu den biologistischen Deutungsangeboten des Sozialen stets auf Abstand geblieben ist,198 wird ausgerechnet der ,Klassiker der Parteiensoziologie' zum Wortführer einer Aufnahme dieses dernier cri positivistischer Sozialtheorie in den Kanon der soziologischen Methoden.

2.5.3. Die Durchschlagskraft der naturwissenschaftlichen Metaphorik: Eugenismus und Anthropologie der Ungleichheit Auch wenn Michels die naturalistischen und biologischen Begriffe immer wieder in Anführungsstriche setzt und so ihnen scheinbar einen rein metaphorischen Status zuschreibt, ist die Durchschlagskraft der auf „Vererbung" und „Anpassung" setzenden Milieutheorie so groß, daß er zeitgleich zu seiner Organisationssoziologie die Frage nach den vermeintlichen anthropologischen Ursachen der sozialen Ungleichheit stellt. Dies ist nicht allein Michels' „Kompilationsgeschick" zuzuschreiben; 199 die Leichtigkeit, mit der er die Thesen der Anthroposoziologie 200 adaptiert, hat auch mit theoretischen Voreinstellungen zu tun. So findet er es alles andere als unplausibel, daß die untergeordnete „Klasse" auch Eigenschaften einer „Rasse" hat, da sie schon an „Körpergröße wie an Schädelweite, an meßbarer Sensibilität, an Widerstandsfähigkeit gegenüber der Müdigkeit" sich von den besitzenden Klasse geradezu ethnologisch unterscheide und diese Unterschiede durch milieuaffines Heiratsverhalten reproduziere und stabilisiere.201 Die biologischen Grundlagen der Gesellschaft erlangen für Michels im Kontext der Parteiensoziologie eine derartige Bedeutung, daß er als „Eugeniker" auf Kongressen für Programme der biologischen Sozialhygiene wirbt: namentlich die „Eliminierung gänzlich untauglicher wie

198 199 200

201

lieh ist." Vgl. Michels, Soziologie als Gesellschaftswissenschaft, Berlin 1926, S. 123; sowie Michels, Italien von heute, Zürich 1930, S. 239. Vgl. Gumplowicz' Kritik der „modernen Rassetheorien", in: Allgemeines Staatsrecht, Innsbruck 1907, S. 172-183, S. 172. Vgl. W. J. Mommsen, R. Michels und M. Weber, in: Max Weber und seine Zeitgenossen, a.a.O., S. 196. Vgl. zum intellektuellen Hintergrund dieses Ansatzes Erhard Stölting, Die anthroposoziologische Schule. Gestalt und Zusammenhänge eines wissenschaftlichen Institutionalisierungsversuches, in: Carsten Klingemann (Hg.), Rassenmythos und Sozialwissenschaften in Deutschland. Ein verdrängtes Kapitel sozialwissenschaftlicher Wirkungsgeschichte, Opladen 1987, S. 130-171. Michels, Zum Problem der Eugenetik, in: Probleme der Sozialphilosophie, S. 44-53, S. 46.

528

VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

sittlich minderwertiger Elemente aus der geschlechtlichen Zirkulation." Seine eugenetische Position steht zwar Züchtungsphantasien skeptisch gegenüber: es werde der Eugenik, so Michels, „mehr obliegen, zu verhindern, daß die Rasse bewußt verschlechtert wird als zu erzwingen, daß sie besser werde. [...] die Eugenetik wird nicht danach trachten dürfen, Menschen zu züchten, wie man Kaninchen züchtet [...], andererseits aber überall da helfend gesetzgeberisch eingreifen können, wo es gilt, untauglichen Menschen die Zeugung ebenso untauglicher Kinder unmöglich zu machen." Die Sterilisierungsversuche an Schwerverbrechern in den USA erwähnt Michels als „richtigen Weg" der Justizpflege.202 Der .geborene Verbrecher' Lombrosos läßt grüßen, auch wenn Michels hier einen biologischen Ansatz favorisiert, den die positivistische Kriminalistik am Anfang des Jahrhunderts überwunden hat.203 Wie man sieht, gebraucht Michels biologische Begriffe nicht nur um ihrer vermeintlichen Anschaulichkeit willen. Es ist nicht nur metaphorisch gemeint, wenn er in der Erstauflage der Parteiensoziologie schreibt, daß der organisierte Interessenkampf „einige Gruppen der Demokratie eugenisiert".204 Auf einer Eugenik-Tagung in London im August 1912 hat er seine ganze Parteiensoziologie in einem Vortrag allein unter diesem Aspekt behandelt: „Eugenics in Party Organization".205 Allerdings belegt gerade diese Schrift wieder einmal die Ambivalenz des biologischen Diskurses, aus dem reaktionäre wie progressive Konsequenzen gezogen werden konnten. 1912 präferiert Michels die sozialdemokratische' Konsequenz: „Ohne die [sozialistische] Parteiorganisation würden viel sozial nützliche Elemente in dem Sinne verloren gehen, daß sie niemals ihre soziale Klasse wechseln und ein Leben lang im Proletariat verbleiben würden; in anderen Worten: sie hätten keine Gelegenheit, ihren Lebensstandard zu verbessern und spezielle Fähigkeiten zu entwickeln, die sie befähigen, den Menschen zu helfen." In diesem Punkt bleibt Michels dem Bebeischen Sozialdarwinismus treu, der ja die Notwendigkeit des Sozialismus damit begründet hatte, daß die kapitalistische Gesellschaft zu einer Auslese der Besten eben nicht in der Lage sei.206 Offensichtlich hat auch Robert Michels an dieser Argumentationsfigur noch im November 1912 festgehalten: „Die aktuelle Basis des Kampfs ums Dasein besteht in der Ver-

202 Michels, Eugenetik, a.a.O., S. 50-51, 53. Der Aufsatz geht zurück auf seine Rede auf dem Florentiner „Sexual-Kongreß" im November 1910. Vgl. die Besprechung von Michels, Ein sexueller Kongreß in Italien, in: Die Neue Generation, 7. Jg., Heft 2, Februar 1911, S. 63-70; Vgl. auch Michels, Der Eugenismus, in: Neues Frauenleben, 24. Jg., Nr. 12, S. 316-319. 203 Ludwig Gumplowicz hat in dieser Frage klar für die Kriminalsoziologie und gegen die These vom „geborenen Verbrecher" Stellung bezogen. Verbrechen wurzeln demnach in sozialen Milieus und wer das Verbrechen abschaffen will, muß seine sozialen Prämissen beseitigen. Allerdings spricht auch Gumplowicz davon, daß die moralische Inferiorität in Unterschichtenmilieus „vererbt" werde. Vgl. ders., Das Verbrechen als soziale Erscheinung, in: Soziologische Essays, S. 45-66, S. 65. 204 PS 11, S. 283. In der zweiten Auflage (PS 89, S. 281) ist das „eugenisiert" durch ein „aristokratisiert" ersetzt worden. 205 Sonderabdruck London 1912, 8 Seiten. 206 Vgl. Kapitel III. 1. Der deutsche Darwinomarxismus.

VI.2. Die Vergeblichkeit der Demokratisierung

529

bindung intellektueller und physischer Gaben mit der zufalligen Tatsache der Geburt, d. h. einem bestimmten ökonomischen Milieu. In anderen Worten: eine wahre Selektion ist nicht möglich."207 .Sozialdemokratisch' ist auch Michels' Fazit, daß die Lebensgrundlagen der Unterschichten verbessert werden müßten, damit der Kampf ums Dasein auf einer „gesünderen und natürlicheren [sie] Basis" erfolgen kann. Die „Eugenetik" liefert somit für Michels eine nachhaltige Begründung für den Kampf um mehr Chancengleichheit. In diesem Sinne bleibt er seinen älteren Grundüberzeugungen eines positivistischen Sozialismus treu, denen zufolge der soziale Fortschritt an den Reproduktionsbedingungen in den Unterschichten-Milieus ansetzen müsse. Allerdings hat Michels nur zwei Jahre vorher, 1910, ein Buch in den deutschen Diskurskontext befördert, das diesem schon aus der Lombroso-Schule bekannten milieutheoretischen Optimismus einen erheblichen Dämpfer verpaßt: Alfredo Niceforos „Anthropologie der nichtbesitzenden Klassen", Übersetzung und Einführung von Robert Michels.208 Niceforo versucht hier mit anthropometrischen, biologischen und psychologischen Methoden die „ethnographische Inferiorität" der Unterschichten aufzuzeigen, deren zivilisatorischen Status er mit dem prähistorischen Menschen, dem Kind und dem „Wilden" vergleicht. Ob die physische und geistige Minderwertigkeit Ursache oder Folge von Armut sei, darauf antwortet Niceforo mit einem Sowohl-als-auch: seiner „Ätiologie"209 der proletarischen Inferiorität geht es um den Nachweis des „Zusammenwirkens" der angeborenen „bio-psychischen" Beschaffenheit des Unterschichtenangehörigen und der Beschaffenheit seines Milieus.210 Neben der Elitentheorie und der Massenpsychologie zählt die in Niceforos Studie vorgeführte Anthropologisierung des proletaroiden Status' zu den zentralen Themen in Michels' Turiner Zeit. Was mag ihn dazu bewogen haben, die über 500 Seiten zu übersetzen und der deutschen Öffentlichkeit zugänglich zu machen? Man sollte doch annehmen, nichts sei unvereinbarer für einen marxistisch geschulten Soziologen als ein biologischer Zugang zu den Erscheinungen des sozialen Lebens. In seiner Einführung hebt Michels zwar den methodischen Unterschied zwischen beiden Ansätzen hervor. Dies hindert ihn allerdings nicht daran, die Leistungen von Marx und Niceforo auf eine

207 Michels, Eugenics in Party Organization, S. 6-8. Die zitierten Stellen lauten im englischen Original: „Without party organization many socially useful elements would be lost, in the sense that they would never change their social class, and remain all their life long in the proletariat; in other terms, they would have no occasion to improve their standard of life and develop the special gifts which enabled them to help the people." (S. 6); „The actual basis of the struggle for life consists in the conjunction of intellectual and physical gifts with the casual fact of birth, that is to say, a definite economical milieu. In other words, there is no real selection possible [...]" (S. 8). 208 Alfredo Niceforo, Anthroplogie der nichtbesitzenden Klassen. Studien und Untersuchungen, Leipzig/Amsterdam 1910; mit einer Einführung von Robert Michels: „Das Proletariat in der Wissenschaft und ökonomisch-anthropologische Synthese, S. 3-28 [= Michels, Zum Problem der Behandlung des Proletariats in der Wissenschaft, in: ders., Probleme der Sozialphilosophie, S. 98-132], 209 Damit wissen wir auch, welchen Ursprungs dieser Begriff ist, der in Michels' „Soziologie des Parteiwesens" eine prominente Rolle spielt (vgl. „Ätiologie des Führertums" etc.). 210 Niceforo, Anthropologie der nichtbesitzenden Klassen, S. 438-441.

530

VI. Zur „Soziologie des Parteiwesens"

Stufe zu stellen: „Niceforos Theorien - das Resultat vorzugsweise anthropometrischer Untersuchungen - stützen auf das Glänzendste die Doktrin des historischen Materialismus. Was Marx ökonomisch bewies, das hat Niceforo anthropologisch bewiesen: die Existenz zweier sozialer Welten. Hat Marx den homo oeconomicus gezweiteilt [...] so zweiteilt nun Niceforo den homo physicus. [...] zwischen dem Armen und dem Reichen gibt es keine Typusgemeinschaft [...] Sie differieren in den anthropologisch-biologischen Merkmalen."211 Michels hat ganz offensichtlich nicht das geringste Interesse an einem Methodenstreit zwischen Soziologie und Soziobiologie. Er wähnt sich vielmehr in einem neuen Wissenschaftszeitalter der „ökonomisch-anthropologischen Synthese" und beschwört den Siegeszug der „evolutionistischen Methode", die einer „Periode des Immobilismus" das Ende bereitet habe und seiner Auffassung nach einen Innovationsschub in Anthropologie und Ökonomie gleichermaßen befördert hat.212 Hinter dem Banner der „Synthese" - die im übrigen auch für einen geistesgeschichtlichen Trend in der , spätwilhelminischen Synthesegesellschaft' steht - tauchen dann aber Ungereimtheiten im Detail auf, die eine gewisse weltanschauliche und methodische Haltlosigkeit des Autors deutlich hervortreten lassen: Indem Michels unterstellt, Niceforo begreife die anthropologische Differenz „als im letzten Grunde durch die Wirtschaft entstanden", schlägt er eine sozio-ökonomische Lesart von Niceforos Buch vor, die dieser selbst bestenfalls als die halbe Wahrheit seiner Studie hätte gelten lassen. Michels tut dies signifikanterweise aber nicht, um Niceforo fur eine genuin soziologische Sicht der Dinge zu vereinnahmen. Nein, Michels zufolge hat Niceforo einen Fehler gemacht, weil in seiner Darstellung die Abweichung des Reichen von dem Armen aus rein anthropologischen Gründen zuweilen zu sehr „ausser Acht" gelassen werde! Michels' Beispiel für Niceforos Lapsus ist der Adel. Dieser stamme schließlich größtenteils von gegenüber den „Durchschnittsbewohnern des Landes anthropologisch heterogenen Erobererhorden" ab.213 Diese Anleihe an eine Argumentationsfigur der Gumplowiczschen Rassenkampftheorie macht deutlich, daß Michels offensichtlich vor lauter „Synthesen" Schwierigkeiten hat, einen eigenen kohärenten Standpunkt zu beziehen. Nachdem er dem fälschlicherweise zum „Sozialwissenschaftler" deklarierten Niceforo die anthropologischen Leviten gelesen hat, finden wir Michels dann schon wieder bei der sozialen Reformarbeit: „Ist dieses geistig und defekte Proletariat, wie es sich in den Studien der politischsozialen Anthropologie unserem Auge zeigt, reif für seine Emanzipation als Klasse, und, wenn wir diese Frage verneinen müssen, was haben wir zu tun, um es reif zu machen?" Eine Frage, die Michels als „Fingerzeig" auf die „soziale Pädagogik" verstanden wissen will.214

211 212 213 214

Michels, Michels, Michels, Michels,

Das Das Das Das

Proletariat Proletariat Proletariat Proletariat

in der Wissenschaft in der Wissenschaft in der Wissenschaft in der Wissenschaft

..., ..., ..., ...,

S. S. S. S.

27. 24. 28. 28.

VI.2. Die Vergeblichkeit der Demokratisierung

531

Es ist gewiß ein verwirrendes Bild, das Michels als Soziologe abgibt: da wird einerseits die Selbst-Beschränkung auf die Feststellung sozialer Tatsachen als wissenschaftliche Tugend ausgegeben, andererseits aber wieder an die Sozialpädagogen appelliert; wird einerseits die Letztbegründung sozialer Tatsachen in der Ökonomie, andererseits aber auch in den anthropologischen Qualitäten der aristokratischen Herrenschicht vermutet. Gleichwohl dürfte gerade dieses Bild ein authentischer Ausdruck der kognitiven Krise und der daraus resultierenden Synthesebemühungen des Autors sein. Die anthroposoziologischen Synthesen der Turiner Zeit führen Fragestellungen der politisch aktiven Zeit fort und neuen Antworten zu. So ist die „evolutionistische Methode", der Michels nun das Wort redet, nicht mehr die progressive Glaubenslehre eines Bebel, Kautsky oder Ferri. Sie liefert inzwischen harte Fakten zugunsten der Annahme, daß die Emanzipation des „geistig und körperlich defekten Proletariats" entweder nicht möglich oder - zumindest auf lange Sicht - nicht wünschenswert sein kann. In diesem Sinne liegt die Rezeption von Niceforo auf einer Linie mit Michels' Warnung vor einer proletarischen Machtübernahme von 1908, als er einen damit verbundenen „Bankrott der Zivilität" prophezeite. 215 Allerdings greift zu kurz, wer diese kognitiven Veränderungen auf dem Weg vom sozialistischen Politiker zum Soziologen der Politik allein den Jahren 1908 bis 1911 zuschreibt. Im Fall Michels haben wir es mit einem längeren, 1911 noch nicht abgeschlossenen und im Ergebnis offenen Übergang im Sinne der Krise der Positivismus zu tun. Die „proletarische Naivität" ist ihm auch zu Hochzeiten seiner Parteinahme für direkte Massenaktionen nicht unbekannt gewesen. 216 Seine weltanschauliche Sozialisation im Kreise der Turiner Lombroso-Schule hat ihn von Anfang an für Konsequenzen im Niceforoschen Sinn empfänglich gemacht. Und auch die „Eugenik" ist ein Thema, das wir bereits beim jungen Michels kennengelernt haben. Die Akzeptanz sozial- und rassenanthropologischer Ansätze kennzeichnet ebenfalls bereits den Sozialisten, so etwa seine Rezeption der „feingeistigen Rassenstudie" von Guglielmo Ferrerò über das Judentum, 217 welches Michels selbst als eine „von Extremen beherrschte Rasse" 218 bezeichnet. Letztere Bemerkung sollte freilich nicht überbewertet werden. Ein Rassist oder Antisemit im Sinne der zeitgenössischen politischen Gruppierungen ist Michels zu keinem Zeitpunkt gewesen und hat derartige Tendenzen auch als Faschist abgelehnt. Indes ist er in der gewissermaßen selbstverständlichen Adaption und Reproduktion kollektiver Stereotypen, wie eben vom „Judentum", ein ,ganz normaler' Vertreter der zeitgenössischen Intelligenz gewesen. 219

215 216 217 218 219

Michels, Appunti sulla situazione presente del socialismo, a.a.O. Michels, Proletariat und Bourgeoisie ..., S. 448. Michels, Proletariat und Bourgeoisie ..., S. 111. Michels, Die deutsche Sozialdemokratie, a.a.O., S. 520. Zur Behandlung des Judentums in der Parteiensoziologie vgl. Werner E. Mosse, Die Juden in Wirtschaft und Gesellschaft, in: ders. (Hg.), Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890-1914, Tübingen 1976, S. 57-113, hier S. 100-103.

VII. Die unvollendete Soziologie des Patriotismus (1912 - 1936)

Die Rezeption seines Werkes hat Michels' wissenschaftliche Leistung weitgehend auf seine „Soziologie des Parteiwesens" reduziert. Als Theoretiker des Nationalismus und Soziologe des Nationalbewußtseins ist er ein Unbekannter geblieben. Dies mag insbesondere fur die bundesrepublikanischen Geistes- und Gesellschaftswissenschaften bis Ende der achtziger Jahre leicht nachvollziehbar sein, da hier Nationalismus in erster Linie ideologiekritisch als Irrweg und Pathologie der Moderne begriffen worden ist und man dem Thema allenfalls historische, aber keine gegenwartspolitische Relevanz attestierte. Institutionell schienen die westeuropäischen Demokratien den Nationalstaat schon über ihre transnationale Verflechtung mit der Europäischen Gemeinschaft allmählich hinter sich zu lassen. Philosophisch spiegelte sich das gewandelte Selbstverständnis im Postulat einer postnationalen europäischen Identität. Es gab, zumal im auf unabsehbare Zeit geteilten Deutschland, wenig Anlaß, die Ideengeschichte nach Begründungen und Analysen nationaler Identität abzuklopfen. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, der Wiedervereinigung und der Rückkehr der Stämme1 in Osteuropa hatte sich das geändert. In den neunziger Jahren avancierte die ,Nation' zu einem Mode-Thema der Politik- und Geschichtswissenschaften. Dabei gerieten neben den soziostrukturellen auch die ideellen Grundlagen des Nationalbewußtseins in den Blick. Stichworte wie die „imagined comunity"2 oder die „Nation als Modell politischer Ordnung"3 standen für das Interesse an den produktiven Leistungen und kreativen Voraussetzungen nationaler Identität. Im Kontext der osteuropäischen Revolutionen und der folgenden Sezessionsbewegungen gewann auch die frühere These Hannah Arendts wieder an Plausibilität, daß bislang allein der Nationalstaat die politische Ordnung gewesen ist, in der sich, wenn überhaupt, universale Prinzipien wie Menschenrechte, Partizipation und soziale Wohlfahrt haben verwirklichen lassen.

1 2

3

Vgl. Michael Walzer, Das neue Stammeswesen. Erörterungen über das Zusammenleben der Völker, in: Lettre International 16, Berlin, 1. Vierteljahr 1992. Vgl. Benedict Anderson, Imagined Comunities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983 (Dt. Ausgabe: „Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts", Frankfurt a.M./New York 1988). Andersons Buch erschien zwar schon vor 1989, ernsthaft diskutiert wurde es aber erst danach. Vgl. Herfried Münkler, Reich, Nation, Europa. Modelle politischer Ordnung, Weinheim 1996.

VII. Die unvollendete Soziologie des Patriotismus

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Trotz der damaligen Hochkonjunktur der Idee der Nation ist ein Rekurs auf Michels' Schriften allerdings ausgeblieben. Das ist durchaus verwunderlich, weil Michels sich zu seiner Zeit einen respektablen Ruf als Patriotismus-Experte erworben haben dürfte. Davon zeugen nicht nur seine umfangreichen Abhandlungen und die zahlreichen Einladungen zu Kongressen, um zu diesem Thema zu sprechen, sondern auch seine Mitarbeit an dem ersten autoritativen Handwörterbuch der deutschen Soziologie, wo man ihm den Artikel „Patriotismus" reserviert hat.4 Michels' erster Beitrag zum Patriotismus auf der akademischen Bühne ist sein Vortrag auf dem Zweiten Deutschen Soziologentag vom 20.-22. Oktober 1912 in Berlin. Michels, seit dem 1. Februar 1911 ordentliches Mitglied der „Deutschen Gesellschaft fur Soziologie",5 hält dort sein Referat über „Die historische Entwicklung des Vaterlandsgedankens". Dieses wird in der Folge Erweiterungen und Überarbeitungen erfahren, um schließlich 1929 in die materialreiche Monographie „Der Patriotismus" zu münden.6 Diese Kontinuität seiner Patriotismus-Studien hat Michels selbst dadurch kenntlich gemacht, daß er die Beendigung seiner Monographie auf den „Herbst Rom 1928", den Beginn aber mit „Turin 1913" datiert hat.7 Die Bedeutung, die Michels dieser Studie beigemessen hat, geht aus seiner Ankündigung im ,Archiv" 1913 hervor, daß die Abfassung eines „größeren Werkes" zum Patriotismus „einen alten Lieblingswunsch des Verfassers darstellt."8 Sein erklärtes Ziel, „vielleicht als erster" „den Patriotismus psychologisch zu erklären und ihn systematisch in seine historisch wandelbaren Wurzeln zu zerlegen"9 hat er in den Jahren von 1912 bis 1936 in zahlreichen Einzelstudien verfolgt.10 Der Band von 1929 nennt sich freilich „Prolegomena" und integriert nur

4 Michels, Art. Patriotismus, in: Handwörterbuch der Soziologie, hg. v. Alfred Vierkandt, Stuttgart 1931, S. 436-441. 5 Vgl. den von Tönnies, Simmel und Sombart unterzeichneten Brief desselben Datums in: busta „DGS", ARMFE. 6 Michels, Die historische Entwicklung des Vaterlandsgedankens (Referat), in: Verhandlungen des Zweiten Deutschen Soziologentages vom 20.-22. Oktober 1912 in Berlin, Tübingen 1913, S. 140182; ders., Zur historischen Analyse des Patriotismus, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 36. Band (1913), S. 14-43, 394-449; ders., Der Patriotismus. Prolegomena zu seiner soziologischen Analyse, München/Leipzig 1929 [italienische Ausgabe: Prolegomena sul patriottismo, Firenze 1933]; ders., Neue Polemiken und Studien zum Vaterlandsproblem, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 66, Heft 1, 1931, S. 92-131. 7 Michels, Der Patriotismus, a.a.O., S. VIII. 8 Michels, Zur historischen Analyse des Patriotismus, a.a.O., S. 14. 9 Michels, Neue Polemiken und Studien, a.a.O., S. 93. 10 Michels, Der patriotische Sozialismus oder sozialistische Patriotismus bei Carlo Pisacane, in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, Bd. 4, Heft2, 1913, S. 221-242; ders., État et Nationalité, in: Scientia, Bd. 18, 9. Jg., Nr. 1, Sonderabdruck, 12 Seiten; ders., Notes sur les moyens de constater la nationalité, [Vortrag, gehalten auf dem „Congrès international d'études" der „Organisation centrale pour une paix durable" in Bern 1916], Sonderabdruck La Haye 1917, 10 Seiten; ders., Appunti sull'aspetto morfologico del problema della nazione, in: Giornale degli economisti, 40. Jg., Nr. 3, 1925, S. 157-163; ders., Materialien zu einer Soziologie des Fremden, in: Jahrbuch für Soziologie, Heft 1, 1925, S. 296-319; ders., Über einige Ursachen und Wirkungen

534

VII. Die unvollendete Soziologie des Patriotismus

einen Teil dieser Arbeiten. Er widmet sich den Mythen der Nation, reflektiert die Beziehung zwischen „Vaterlandsliebe und Heimatgefühl", widmet den größten Teil des Buches zum Nationalismus interessanterweise der „Soziologie des Fremden" und endet in einem materialreichen Streifzug durch die sozialpsychologischen Bedeutungen und Funktionen des Nationalliedes. Das Vorhaben, diesen ,Vorbemerkungen' einen zweiteiligen Band mit einem ideengeschichtlichen Teil und einer „erkenntniskritischen Untersuchung" folgen zu lassen, hat Michels trotz der Ankündigung seiner „baldigen Vollendung"11 im Jahr 1931 nicht mehr verwirklichen können. Michels' „Patriotismus" ist damit ein Torso geblieben, der, wie sein Rezensent Ferdinand Tönnies, feststellte, zwar „artige und interessante Einzelheiten" enthalte und „von ungemein reicher Kenntnis vieler Literaturen" zeuge, aber eben nur „Beiwerk", kein eigentliches „Hauptwerk" sei.12 Der Aufsatz von 1913 und das Buch von 1929 unterscheiden sich maßgeblich darin, daß im ersten eher die historische Kontingenz des Nationalismus sowie seine kontextuelle Vielgestaltigkeit betont werden, während im zweiten die transhistorische nationale Sinnstiftung durch Mythen und Lieder eine größere Rolle spielt. Die folgende Darstellung des Patriotismus im Denken Robert Michels' versucht, zwischen dem wissenschaftlichen und dem politischen Lebensthema, das der Patriotismus für den Adoptivitaliener zweifellos gewesen ist, zu unterscheiden. Während der wissenschaftliche Beitrag Michels' hier trotz der Zeitspanne von 20 Jahren publizistischer Tätigkeit einer Querschnittsanalyse unterzogen werden soll, soll das politischpublizistische Engagement des Autors davon separiert zur Sprache kommen.13

des englischen Verfassungs- und Freiheitspatriotismus, in: Ethos, Vierteljahresschrift für Soziologie, 1. Jg., 2. Heft, 1926, S. 183-201; ders., Elemente zu einer Soziologie des Nationalliedes, in: Archiv für Sozialgeschichte und Sozialwissenschaft, Bd. 55, Heft 2, 1926, S. 317-361; ders., Nation und Klasse, in: Die Arbeit, 3. Jg., Heft 3-4, 1926, S. 158-166; ders., Vaterlandsliebe und Heimatgefiihl, in: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie, Jg. 6, Heft 3, 1927; ders., Prolegomena zur Analyse des nationalen Elitengedankens, in: Jahrbuch für Soziologie, Bd. 3, 1927, S. 184-199; ders., Über den amerikanischen Nationalitätsbegriff, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 28, Heft 2, 1928, S. 257-299; ders., Il patriottismo. Memoria letta all'Accademia di Scienze Morali e Politiche della Società Reale di Napoli, Napoli 1932, Sonderabdruck 17 Seiten; ders., Der Jugendbegriff der Nation, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 84, 1933, Heft 5, Sonderabdruck 15 Seiten. 11 Michels, Neue Polemiken und Studien, S. 95. 12 Ferdinand Tönnies, Rez. zu Michels, Der Patriotismus, in: Historische Zeitschrift, Bd. 143, München/Berlin 1931, S. 87-91. 13 Dazu zählte im übrigen bereits sein Engagement für den „demokratischen Nationalismus" in seiner sozialdemokratischen Phase (Kap. IIA). Im Anschluß werden wir uns Michels' Engagement für die italienischen Interessen im Kontext des Tripolis-Krieges (Kap. VIII) sowie des Ersten Weltkrieges (Kap. IX) widmen.

VII. Die unvollendete Soziologie des Patriotismus

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1. Michels' Begriff der Nation zwischen Vertrags- und Milieutheorie Ein Grund für die ausgebliebene Rezeption der Michelsschen Nationalismusforschung dürfte in einer sein Gesamtwerk generell charakterisierenden Rezeptionshürde bestehen: seine Publikationen als Soziologe scheinen vor allem von der Ambition des Autors motiviert, den Leser mit einer Fülle von Gesichtspunkten und historischen Beispielen zum jeweiligen Themenbereich zu versorgen. Kritiker haben Michels' Arbeiten daher ein „Warenhaus" genannt, das auf einem „glänzend organisierten Zettelkasten" fuße.14 Einen einheitlichen Erklärungsansatz, den roten Faden einer stringenten Theorie findet man tatsächlich selten. Und findet man ihn, so darf man sich sicher sein, daß der Autor ihn bald wieder fallen läßt, um ein neues Theorieangebot bzw. eine zum Vorstehenden konträre Beobachtung zu machen. Das gilt auch für sein Verständnis von Nation, von der er genaugenommen mehrere Begriffe hat, ohne sie miteinander zu vermitteln. Michels hätte diesen Eklektizismus freilich mit dem Hinweis verteidigt, daß soziale Tatsachen so kompliziert zusammengesetzt seien, daß sie wie ein Kaleidoskop immer auch andere Sichtweisen auf die Kombination ihrer Elemente zulassen. Der Gang durch seine Definitionen, Begriffe und Analysen liefert uns daher divergierende Deutungen des Phänomens Nation, die teils dem vertragstheoretischen Individualismus entlehnt sind, teils einem milieutheoretischen Determinismus. Aspekte der rationalen Vergesellschaftung und der emotionalen Vergemeinschaftung gehen bei Michels' Begriffsbestimmungen Hand in Hand. In seiner Definition des „nationalen Patriotismus"15 hat Michels die in früheren Jahren praktizierte16 analytische Trennung von Staat und Nation aufgegeben und aus-

14 Das erwähnt Michels selbst in „Der Patriotismus", S. VII. 15 Diese Begrifflichkeit ist tautologisch, weil Michels ja zwischen den Wortfeldern ,Nation* und ,Patria' nicht differenziert. Wahrscheinlich ist, daß er mit dem Substantiv Patriotismus die problematische, weil negativ konnotierte Vokabel Nationalismus' zu umgehen versucht, gleichzeitig aber mit dem Attribut , national' die Orientierung der modernen Vaterlandsliebe an der großen, ,abstrakten', staatlich verfaßten Nation festhalten will, die über die .konkrete' regionale Landsmannschaft oder lokale Dorfgemeinschaft weit hinausgeht. Daß Michels 1913 und 1929 bei seinen soziologischen Arbeiten zur Idee der Nation nicht von Nationalismus, sondern von Patriotismus spricht, dürfte mit der begriffsgeschichtlichen Entwicklung des ersteren zusammenhängen. Erstmals wurde der Begriff von Herder, und zwar in völkerfreundlicher Absicht verwendet. Er verschwindet dann wieder aus der Diskussion bzw. wird um die Jahrhundertwende als Denunziationsbegriff der politischen Linken verwendet. Beim jungen Michels etwa äußert sich das darin, daß Nationalismus als alleinstehendes Substantiv vom .Chauvinismus' nicht zu trennen ist und nur durch die Hinzufügung von Attributen wie demokratisch' oder international' akzeptabel wird. Das alleinstehende Substantiv Nationalismus' macht erst wieder in den zwanziger Jahren der Weimarer Republik Karriere, als es von der revolutionären Rechten positiv aufgeladen wird. Nach 1945 existieren vor allem zwei Semantiken von .Nationalismus': ein neutraler, im angelsächsischen Sprachraum dominierender Gebrauch im Sinne des ,nation-building' (Nation ist hier von Staat schwer zu unterscheiden) und die negative Variante einer kollektiven Aggressivität gegen Fremde nach innen und außen. Vgl. R. Koselleck, Art. „Volk, Nation ...", S. 400. Historiker neigen heute dazu, zwischen einem defensiv-bodenverbundenen .Patriotismus' und einem offensiv-massenmobilisierenden ,Na-

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VII. Die unvollendete Soziologie des Patriotismus

drücklich die Orientierung der Nation am Staat als Kriterium des modernen Nationalismus genannt: „Der nationale Patriotismus, der auf dem Boden des Gefühls erwachsen ist,17 ist der Wunsch einer durch Solidarität verbundenen Gruppe Menschen, den Staat, den sie bilden, zu erhalten und gegebenenfalls zu mehren, oder aber auch einen neuen Staat, der ihren Wünschen mehr entspricht, zu gründen, bzw. sich einem bereits bestehenden anzuschließen." Aufgrund dieser Nationalstaatsorientierung changieren die Patriotismen in ihrem Verhältnis zur Gegenwart zwischen der „nationalen Affirmation eines Sein" und der „nationalen Aspiration nach einem Seinsollen".18 Nationalismus, ganz wertfrei verstanden, ist somit untrennbar mit der Leitmaxime der politischen Selbstverwaltung im eigenen Nationalstaat verbunden. Was eine Nation zusammenhält, sind dieser Definition zufolge kollektiv geteilte Affekte, vor allem Zusammengehörigkeitsgefühl und Solidaritätsempfinden. Eine Nation wurzelt damit ausdrücklich nicht auf den objektiven Merkmalen ihrer Mitglieder. Nicht aus gemeinsamer Abstammung - diese ist als bloße Tatsache völlig irrelevant - , resultiert Michels zufolge eine Nation, sondern aus der sozialen Interaktion: „Die Lebensgemeinschaft, das soziale Band, wiegt schwerer als das intimste Blutband. Ohne das soziale Band ist die Stimme des Blutes für die Herausbildung von Solidaritäten völlig bedeutungslos."19 „Der Patriotismus ist keine angeborene Eigenschaft, sondern eine anerzogene, eine erworbene."20 Damit hat Michels bis in die Wortwahl den sozialisationstheoretischen Begriff der Nation von Ludwig Gumplowicz übernommen.21 Und wie dieser hat Michels den rassistischen Nationsbegriff mit dem empirischen Hinweis desavouiert, daß alle Nationen, selbst die kleinsten, aus Wanderungen entstanden sind und somit notwendigerweise „rassengemischt" seien.22

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tionalismus' zu unterscheiden. Die Begriffe werden damit nicht nur inhaltlich getrennt, sondern auch unterschiedlichen Epochen zugeordnet: Mit der Grenzmarke 1789 (Vgl. Heinrich-August Winkler (Hg.), Nationalismus, Königstein/Taunus, Vorwort, S. 5-6.) Eine viel stärkere wechselseitige Durchdringung beider Bewußtseinsformen behauptet dagegen Herfried Münkler, der auch die zeitliche Grenze von 1789 relativiert. Vgl. H. Münkler, Die Nation als politische Idee im frühneuzeitlichen Europa, a.a.O., S. 56-58. Vgl. Kapitel II.4. „Demokratischer Nationalismus" Michels schließt sich in diesem Punkt an die „sehr gute" Definition von Emile Durkheim an: „La Patrie est la Société politique sentie d'une certaine façon: c'est la Société politique vue du côté affectif." Michels, Historische Analyse, S. 413 Michels, Der Patriotismus, S. 133. Michels, Historische Analyse, S. 412. Daß das „soziale Band" stärker sei als das „Blutsband" ist auch die Überzeugung Ludwig Gumplowicz', der diese Erkenntnis auf den arabischen Philosophen Ibn Chaldun zurückfuhrt. Vgl. L. Gumplowicz, Ibn Chaldun: ein arabischer Soziologe des XIV. Jahrhunderts, in: ders. Soziologische Essays, a.a.O., S. 90-114. Michels, Art. „Patriotismus", a.a.O., S. 437. Vgl. auch Ludwig Gumplowicz, Grundriss der Soziologie, a.a.O., S. 155: Soziologie habe es mit „Menschengruppen zu tun, die anthropologisch bereits vielfach vermischt sind, welche anthropologische Vermischung aber auf das soziale Verhältnis derselben zueinander gar keinen Einfluß hat."

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Das heißt natürlich nicht, daß der Patriotismus trotz der heterogenen ethnologischen Zusammensetzung moderner Nationen nicht auch den Charakter einer Abstammungsgemeinschaft annehmen kann, indem er eine ,blutsmäßige' Verbundenheit aller Mitglieder imaginiert und postuliert. „Der Patriotismus wird, je nach den einzelnen Milieus, in denen er sich vorfindet, durch die verschiedenartigsten Elemente gebildet, die ihren Ingredienzen wie ihrer Zielsetzung nach nichts mit einander gemeinsam zu haben brauchen. Er ist bald Staat, bald Rasse, bald Sprache, bald lediglich Instinkt, und diese Einzelelemente kommen überdies in den verschiedensten Mischungen vor." Überdies spiegele die Geschichte des Vaterlandsgefiihls nur zu einem Teil ein „gefühlsmäßiges Moment" wider, zu einem anderen ist das Vaterland ein , juridischer Begriff*. Beide, sowohl die staatsrechtliche Zuschreibung als auch das gefühlsmäßige Zugehörigkeitsgefühl, sind Ergebnisse kontingenter und komplexer historischer Prozesse, die in der Regel, jeder logischen und ethischen Festhaltung spotten."23 Folglich sind die empirisch verifizierbaren Faktoren des Nationalbewußtseins - das Bewußtsein einer Rassen- und Stammesgemeinschaft, das allein abstammungsmythologisch von Interesse ist,24 die Sprachgemeinschaft, die religiöse Einheit, die aus dem Erlebnis von Kriegen, Niederlagen und Triumphen geborene „Schicksalsgemeinschaft" oder das Staatsbewußtsein - nur mögliche, aber nicht zwingende Faktoren von Patriotismus. All diese Komponenten werden von Michels einer Komponente untergeordnet, die sie teilweise oder auch ganz ersetzen kann: die „Willensgemeinschaft".25 Die Willensgemeinschaft als oberste, und damit unverzichtbare Leitkomponente des modernen Nationalismus besagt nichts anderes, als daß linguistische oder juridische Merkmale allein nicht ausreichen, Patriotismus hervorzubringen, sondern es entscheidend auf den Willen des einzelnen ankommt, an der wie auch immer gearteten kollektiven Identität zu partizipieren. Dieser „voluntaristische Vaterlandsbegriff' ist allerdings nur eingeschränkt der strengen empirischen Analyse verpflichtet und mündet in ein ethisches Postulat der individuellen Autonomie: „Wenn das Vaterland in dem Bereich unseres Willens liegt, so ist unsere Affektivität nur so lange an es gebunden, als Affektivität und Wille koinzidieren. Die vaterländische Solidarität ist der Zusammenschluß gemeinsamer Gefühle, Bedürfnisse und Hoffnungen. Wer in seinem Gefühlsleben, seinen wirtschaftlichen Bedürfnissen und dem transzendentalen Schatz seiner Hoffnungen nicht mehr mit seinen Mitvaterlandsbewohnem übereinstimmt, löst das Band des Vaterlandes, sei er nun Einzelmensch, soziale Klasse oder geographische Landsmannschaft. Vom voluntaristischen Standpunkte betrachtet, ist der Vaterlandsbegriff ein kontraktualer Begriff, vom Wohlbefinden und Wohlwollen der Kontrahenten abhängig."26

23 24 25 26

Michels, Vgl. den Michels, Michels,

Historische Analyse, S. 449. „Mythus des Woher" in: Michels, Der Patriotismus, S. 1-12. Art. „Patriotismus", S. 438. Der Patriotismus, S. 179.

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Für die Bewertung der politischen Praxis folgt daraus, daß „die gewaltsame Eroberung und Einverleibung eines Landes ohne Befragung seiner Einwohner [...] vom ethischen Standpunkt verwerflich" und daß ebenso ,jede Koërtion des Vaterlandsbegriffs den Klassen und Einzelpersonen gegenüber" zu verwerfen sei. Michels hat den „voluntaristischen Vaterlandsbegriff' aber nicht nur aus ethischen Gründen präferiert; er hat ihn auch gegen den moralischen Vorwurf, damit einer „patria ad libitum", einem Patriotismus der subjektiven Beliebigkeit, das Wort zu reden, mit dem Argument verteidigt, daß ohne diesen voluntaristischen Ansatz eine „verstehende Soziologie" des individuellen wie kollektiven Separatismus nicht möglich sei.27 So wie hier der Vaterlandsbegriff zwischen den Disziplinen der Ethik und der Soziologie wechselt, changiert er auch zwischen zwei Kategorien der zeitgenössischen Soziologie: zwischen der emotionalen Vergemeinschaftung und der rationalen Vergesellschaftung. Der rationalen Vergesellschaftung entspricht bei Michels die Rede vom „Vertragspatriotismus"28 bzw. die Titulierung der Mitvaterlandsbewohner als „Kontrahenten". Völkerrechtlich begründet dieser Vertragspatriotismus die Forderung, daß Bürger über ihre Zugehörigkeit zu einem Staat in freier Abstimmung entscheiden sollen. Privatrechtlich begründet der Willenspatriotismus den „Einzelübergang von einer Volksgemeinschaft in eine andere" im Aus- und Einbürgerungsrecht. Man könnte vermuten, Michels habe sich mit seiner Kennzeichnung der Nation als Vertragsverhältnis innerhalb der begrifflichen Rahmung Ferdinand Tönnies' bewegt, der den Begriff der Nation kategorial der „Gesellschaft" zugeordnet und vom Begriff „Volk" als der „durch natürliche Bande zusammengehaltenen Einheit" dichotomisch abgegrenzt hat.29 Max Weber hat demgegenüber die Nation als eine „gefühlsmäßige Gemeinschaft" bezeichnet, wobei er aufgrund der „sehr heterogen gearteten und verursachten Gemeinschaftsgefühle" das Besondere des Nationalgefühls allein in der „Tendenz zum eigenen Staat" erblicken konnte.30 Etwas später hat er sich in der Frage, welcher Faktor entscheidend die gefühlsmäßige Einheit der Nation prägt, für das gemeinsame politische Schicksal ausgesprochen: „Gemeinsame politische Schicksale, d. h. in erster Linie gemeinsame politische Kämpfe auf Leben und Tod, knüpfen Erinnerungsgemeinschaften, welche oft stärker wirken als Bande der Kultur-, Sprach- oder Abstammungsgemeinschaft. Sie sind es, welche [...] dem ,Nationalitätsbewußtsein' erst die letzte entscheidende Note geben."31 Wenn Michels nun die Komponente der „Schicksalsgemeinschaft" der „Willensgemeinschaft" unterordnet,32 hat er die Nation zwar in letzter Instanz als kontraktuale Vergesellschaftung begriffen. Indes ist sein Ansatz dem Weberschen viel näher als dem 27 28 29 30 31 32

Michels, Der Patriotismus, S. 180. Michels, Art. „Patriotismus", S. 439. Verhandlungen des Zweiten Deutschen Soziologentages, a.a.O., S. 49. Verhandlungen des Zweiten Deutschen Soziologentages, S. 52. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 515. Michels, Art. „Patriotismus", S. 438ff.

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Tönniesschen. Wie wir bereits in einem anderen Zusammenhang33 gesehen haben, war Tönnies' Dichotomie von Gemeinschaft und Gesellschaft Michels fremd. Ebenso hat sich auch Weber an diesem Modell nicht orientiert, sondern den Begriff der Vergemeinschaftung so weit modifiziert, daß er im Widerspruch zu seiner Grundlegung bei Tönnies stand: „Vergemeinschaftung", so Stefan Breuer, „entsprang für Weber aus subjektiven Gefühlen der Beteiligten, nicht aus einer objektiven, vegetativ-organischen Verbundenheit des Lebens, setzte also Individuierung und Differenzierung voraus. Sie war, zweitens, in hohem Maße abhängig von Deutungen, drückte also nicht eine je schon vorhandene gemeinsame Gesinnung aus (,Eintracht' i. S. von Tönnies), sondern bildete sich erst unter dem Einfluß vielfältiger Faktoren: war also nicht Grund, sondern Folge von Geschichte". Vergemeinschaftung konnte in dieser Perspektive an Vergesellschaftung anknüpfen und dieser einen Gefühlswert verleihen; umgekehrt habe Webers Begriffsgebrauch auch die Möglichkeit einer zweckrationalen Orientierung von Gemeinschaftsbeziehungen eingeschlossen.34 Wie Weber hat auch Michels sich bei der Sondierung gemeinschaftlicher' und gesellschaftlicher' Elemente im Patriotismus nicht auf Tönnies' begrifflichen Terrain bewegt, sondern ein komplementäres Verhältnis dieser Elemente behauptet: „Ein immanenter Gegensatz zwischen dem emotionellen und Vertragspatriotismus liegt mithin nicht vor."35 Eine Gemeinsamkeit zwischen Webers und Michels' Begriff der Nation ist auch die Absage an seine Bestimmbarkeit durch objektive Merkmale. Für Weber ist „Nation" ein „Begriff, der, wenn überhaupt eindeutig, dann jedenfalls nicht nach empirischen gemeinsamen Qualitäten der ihr Zugerechneten definiert werden kann." Weber unterscheidet sich allerdings von Michels darin, daß er bereits auf definitorischer Ebene die nationale Solidarität nicht als feste affektive Größe ins Spiel bringt, sondern als eine Wertentscheidung auffaßt, und das heißt bei Weber immer: als eine Entscheidung im Kampf der Werte, die bestimmte Gruppen gegen andere als verbindlich durchzusetzen versuchen. Während Michels in seiner Definition von einer „durch Solidarität verbundenen Gruppe Menschen", die den gemeinsamen Nationalstaat erhalten oder gründen will, spricht,36 ist nationale Solidarität bei Weber etwas, was nicht einfach von allen geteilt, sondern allen zugemutet wird. Welche spezifischen Orientierungen und welches Handeln durch den Appell an die nationale Solidarität zugemutet werden, kann nur das Ergebnis eines konfliktreichen Prozesses sein, dessen Ergebnis über Reichweite und Direktiven der Solidarität entscheidet: Der Begriff der Nation, so Weber, „besagt, im Sinne derer, die ihn jeweilig brauchen, zunächst unzweifelhaft: daß gewissen Menschengruppen ein spezifisches Solidaritätsempfinden anderen gegenüber zuzumuten sei, gehört also der Wertsphäre an. Weder darüber aber, wie solche Gruppen

33 Vgl. Kapitel II.2. Erotik, Feminismus und neue Sexualmoral. 34 Zitat und weitere Ausführungen zu Weber und Tönnies in: Stefan Breuer, Bürokratie und Charisma. Zur politischen Soziologie Max Webers, Darmstadt 1994, S. 134-135. 35 Michels, Art. „Patriotismus", S. 439. 36 Historische Analyse, S. 413.

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abzumessen seien, noch darüber, welches Gemeinschaftshandeln aus jener Solidarität zu resultieren habe, herrscht Übereinstimmung."37 Michels dagegen läßt in seiner Definition von Nation als Solidargemeinschaft die Nation aus den Sympathien der einzelnen wie aus einer spontanen freiwilligen Entscheidung hervorgehen. Er unterschlägt damit, was Herfried Münkler im Anschluß an Weber die „nationalstaatliche Solidaritätszumutung" genannt hat, und läuft Gefahr, zumindest wenn wir seine Definition des „nationalen Patriotismus" betrachten, das subjektive Merkmal des Affektes unter der Hand als objektives auszugeben. Ganz anders ist dagegen seine Problemwahrnehmung auf dem Gebiet nationaler Minderheiten. Hier hat seine Analyse den Aspekt der Zumutung nicht nur zum Gegenstand, sondern denunziert ihn um so drastischer als Zwangsveranstaltung. Wo „staatliches und affektives Vaterland" nicht koinzidieren, werde der Nationalstaat zum „Zwangsvaterland": „Den Patriotismus, den der Staat, unbekümmert um unverletzliche Menschenrechte, ganzen Gruppen, die er durch Waffengewalt nötigt, seine Untertanen zu bleiben, aufzwingt, ist wertlos. Für die von ihm betroffenen Zwangsmitglieder ist der Staat ein Zuchthaus." Während Weber von der Zumutung spricht, die die patriotische Solidaritätsfiktion fur jeden einzelnen Bürger bedeutet, sind die schärferen Worte von Michels einer enger gefaßten Problemwahrnehmung geschuldet: dem „Antagonismus" zwischen Staatsangehörigkeit und Volkstum und dem darin wurzelnden „inneren Kampf in der Seele des einzelnen, „der sich häufig zu äußerem Kampf steigert". „Da wird im Gemüt des Mannes ein furchtbarer Konflikt durchgekämpft zwischen dem koerzitiven Patriotismus des Staates und dem ambientalen, suggestiven Patriotismus des Sondervolkes, zwischen der Anziehungskraft des Staates und der Anziehungskraft der Gens." Die Solidaritätsgefühle, die hier konkurrieren, seien „beide anerzogen. Zur Anerziehung der einen dient die Schule; zur Anerziehung der anderen dient das Haus." Wo Nationalgefühl und Staatspflicht auseinanderfallen, entbrennt der „Kampf zwischen Schule und Haus".38 Es ist vielleicht kein Zufall, daß in Webers Definition der Nation der Kampf der Wertsphären39 direkt zum Ausdruck kommt und bei Michels nur in seiner Fokussierung der Minderheitenproblematik in ethnisch heterogenen Staaten. Michels' Begriff der Nation ist nämlich weniger durch den öffentlichen Kampf um seine Auslegung konturiert als durch einen milieutheoretischen Determinismus, was wiederum den individualistischen Ansatz seines „voluntaristischen Vaterlandsbegriffs" erheblich relativiert: „Das primäre Element bei der Bildung des Patriotismus ist der äußere Einfluß. Wie überall, so wirkt auch hier das Ambiente, das Milieu, auf die Sinnesart. Setzt ein Eskimokind nach Rom, und es wird, zum Jüngling herangereift, in Sprache,

37 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 528. 38 Michels, Historische Analyse, S. 414. 39 Für diesen Ansatz sprechen nicht zuletzt die „Kulturkämpfe" der Wilhelminischen Gesellschaft, bspw. im katholischen Milieu.

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Sitte, Sinnen und Empfinden zum jungen Römer; verpflanzt einen Römerbuben nach Grönland, und er wird zum Eskimo werden."40 Von den Solidaritätskonflikten innerhalb eines Individuums, zumal eines in komplexen Gesellschaften unter der Bedingung der „Kreuzung sozialer Kreise" (Simmel) sozialisierten Individuums, scheint der milieutheoretische Ansatz nichts zu wissen. Er öffnet zwar, indem er Nationalität von ethnischen Merkmalen entkoppelt und als Funktion des Ambientes auffaßt, das Tor für eine Art Universalanthropologie der nationalen Identitätsbildung. Er suggeriert aber gleichzeitig eine äußerst kompakte und stabile Vorstellung von der milieuinduzierten kollektiven Identität: „die Anpassungsfähigkeit des in jungen Jahren stehenden Menschen ist so gewaltig, daß er eine seiner Rasse widersprechende Art anzunehmen vermag, die ihm zur .zweiten Natur' wird."41 Das Beispiel des „Eskimojungen" und die der positivistischen Milieutheorie entnommene Rede von der „zweiten Natur"42 zeigen, daß wir es hier mit einer Sozialisationstheorie der Nationalität zu tun haben, wonach die Zugehörigkeit zu einer Nation von Kindesbeinen an anerzogen wird. Die in der Theorie ethnisch multioptionale Grundausstattung des Menschen wird durch die Macht des Milieus und die Macht der Gewohnheit - des „Misoneismus" - in der Regel geradezu zielsicher auf die Bahn der Anverwandhing an ein bestimmtes nationales Ambiente gelenkt. Das gelte auch für ethnisch heterogene Staaten: „Jedes Zusammenleben in einem Staatsverbande, auch wenn es koerzitiver Natur ist und die [ethnischen] Elemente recht disparat sind, gibt zur Entstehung einer Summe von gemeinsamen Einrichtungen und Gebräuchen Anlaß. Selbst an äußere, vielfach anscheinend geringfügige Merkmale der staatlichen Oberhoheit knüpft sich ein Gefühl der Anhänglichkeit, wie an die Besonderheiten von Briefmarken, Postkästen, Uniformen und andern Dingen des täglichen Lebens, die zu erblicken das Auge sich gewöhnt hat."43 Die Konsequenz dieses milieutheoretischen Verständnis von Natio-Genese ist ein einwanderungspolitischer Optimismus. Die „Metamorphose des Zugehörigkeitsgefuhls" von Einwanderern erscheint wie ein selbstläufiger Integrationsakt: „Zur Akkomodierung genügt in der Regel die konstante, ungestörte Einwirkung der fremden Umgebung."44 Das Entstehen einer, wie man heute zu sagen pflegt, ,Parallelgesellschaft', in der sich die Einwanderer den Patriotismus ihres Ursprungslandes bewahren, ist zwar nicht ausgeschlossen. Dazu bedürfe es aber „eines sehr großen Apparates von dem Ursprungslande gehörigen Schulen, Klubs, Konsulaten [...], zumal aber peinlicher gesellschaft40 Michels, Historische Analyse, S. 435. 41 Michels, Historische Analyse, S. 435. 42 Vgl. Ludwig Gumplowicz, Allgemeines Staatsrecht, a.a.O., S. 354: „Der Mensch ist eben .Gewohnheitstier'; die Gewohnheit wird bei ihm bald zur .zweiten Natur'." 43 Michels, Historische Analyse, S. 441 44 Michels, Historische Analyse, S. 436.

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licher Isolierung." Die Isolierung aber könne nur denen gelingen, „die sich mit einem Stacheldraht von Hauslehrern, nationalen Geistlichen und Gouvernanten umgeben und die Landessprache mit Absicht aus dem Hause ausschließen." Dem Milieutheoretiker Michels erscheinen aber selbst solche Festungen nicht uneinnehmbar: „Das Vaterland der Umgebung dringt auch durch die dicksten Mauern."45 Etwas kurz kommt dagegen das Eingeständnis, daß Integration - und die ist bei Michels, dem die Vorstellung einer ,multikulturellen Gesellschaft' inzwischen46 fremd ist, gleichbedeutend mit „Assimilation" - auch auf sozialen Voraussetzungen beruht, die der milieutheoretische Determinismus allein nicht erfüllen kann. Die Faktoren „Bildung und Reichtum" begünstigen den „Fusionsprozeß", während „Unwissenheit und Armut ihn verlangsamen". Der „arme Auswanderer" sei „erfahrungsgemäß der beste Patriot [seines Herkunftslandes]". Er halte „am zähesten an den Sitten und Gebräuchen des Heimatlandes fest." Der Erwerb von Häusern und Landbesitz forciere dagegen die „Entfremdung der Auswanderermassen vom alten Vaterlande", weil er ihnen buchstäblich ermöglicht, sich in der neuen Heimat „,häuslich' niederzulassen". Zu den die Integration begünstigenden Faktoren zählt auch die Ehe mit einer „Tochter des Landes" sowie die gezielte Unterbrechung von Einwandererströmen, die verhindern soll, daß die „Absorbierungstendenzen des Milieus" durch ungesteuerten Zustrom paralysiert werden. Eine Politik, für die Michels beispielhaft die USA anführt.47 Das letzte Argument deutet schon daraufhin, daß Michels' Einwanderungsoptimismus einen äußerst skeptischen Ausgangspunkt hat: Die unter bestimmten soziologischen Bedingungen prinzipiell mögliche Integration des Fremden hat nämlich eine hohe Hürde zu überwinden, die im Sinne einer xenophoben Grundstruktur des Sozialen am Anfang jeder Begegnung zwischen Fremden steht: „Der Fremde ist der Repräsentant des Unbekannten. Das Unbekannte bedeutet Absenz von Assoziation und flößt bis zur Antipathie gehende Scheu ein. [...] Xenophobie [...] entsteht aus Fremdgefühl, das heißt Beziehungslosigkeit zwischen Umwelten. Von der als bodenständig angenommenen Umwelt gehen dann die als xenophob bezeichneten Gefühle aus. Das Fremdgefühl ergibt sich aus dem Unterschied der Sprache, des Äußeren, der Barttracht, der Gangart, der Gesten, der Physiognomien, kurz aus dem gesamten psychischen und physischen Habitus, nicht zuletzt auch aus den Gewohnheiten und Speisen."48

45 Michels, Historische Analyse, S. 437. 46 Ursprünglich hat Michels, wie in Kapitel II.4. „Demokratischer Nationalismus" gesehen, insbesondere in seinem Aufsatz „Judentum und öffentliche Achtung", durchaus die Vorstellung vertreten, daß Minderheiten eben nicht den Weg der Assimilation gehen sollten, sondern ihre partikulare Identität, anstatt sie zu verschleiern, mit demonstrativen Selbstbewußtsein artikulieren sollten. 47 Michels, Historische Analyse, S. 438; Michels, Der Patriotismus, S. 151-155. Vgl. auch Michels, Über den amerikanischen Nationalitätsbegriff, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 28, Heft 2, S. 257-299. 48 Michels, Der Patriotismus, S. 120.

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Diese „natürlichen Grundlagen der Xenophobie" können auch durch ökonomische Unterschiede und eine damit einher gehende soziale Distanzierung motiviert sein: die „Verachtung der Armut" sei ebenfalls ein Faktor bei der „Genesis der Xenophobie". Historisch ist die Xenophobie ohnehin keine kontingente, sondern eine dem Nationalgefiihl inhärente Erscheinung. Schon die „erste Regung des aufkeimenden Vaterlandsgefühls" habe sich signifikanterweise gegen die Ausländer geltend gemacht, welchen es gelungen war, in hohe Ämter und Würden zu gelangen. Patriotisches Selbstbewußtsein konturiert sich somit auch, und dieses Merkmal ist für Michels ein überzeitliches Element des Nationalbewußtseins, aus einem „Konkurrenzneid" gegenüber Fremden, die in der Gunst des einheimischen Fürsten stehen, oder gegenüber privilegierten ausländischen Kaufleuten. 49 Was auch immer im einzelnen das Kriterium der Fremd-Wahrnehmung sein mag, seien es sprachliche, ethnologische oder habituelle Merkmale, so besteht das prinzipielle Problem der Begegnung mit Fremden darin, daß sie „in den meisten Einzelmenschen nicht den Eindruck einer Individualbegegnung, sondern einer Typbegegnung" auslöst: „die Kontakte sind nicht sympathetisch, sondern kategorisch." Das gilt fur die meisten Reiseberichte, welche die Menschen des bereisten Landes als „homogene Masse" („,sie schauen alle gleich aus' ") darstellen, und das gilt für die Wahrnehmung des Einwanderers im Einwanderungsland, in dessen Optik meist seine individuelle Eigenschaften hinter denen seiner ethnischen Herkunft zurückstehen. Jede Integration beginnt daher mit dem „Nicht-mehr-als-fremd-empfunden-werden durch die Menschen der neuen Umgebung". Dieser Prozeß werde bei „Masseneinwanderung" mit hoher Wahrscheinlichkeit erschwert bzw. vereitelt, weil der einzelne kaum noch eine Chance hat, seine kategorische Wahrnehmung durch die Einheimischen zu durchbrechen. Aber selbst bei Einzelwanderung werde die Wahrnehmung als Fremder länger dauern als die Eingewöhnung des Einwanderers in die neue Umgebung. „Der einzelne oder kleingruppige Fremde bleibt im Bewußtsein der heterogenen Masse länger Fremder als etwa die heterogenen Massen im Bewußtsein des Fremden selbst Fremde bleiben." Die Ursache hierfür liege im Unterschied zwischen „Massenpsychologie und Individualpsychologie: Der Eine, der die Vielen um sich sieht, gewöhnt sich leichter an die heterogenen Charakterzüge der Vielen, als diese sich an die heterogenen Charakterzüge des Einen, des aus dem Rahmen Herausfallenden, gewöhnen."50 Die strukturelle bzw. „natürliche" Xenophobie äußert sich allerdings nicht in jedem nationalen Kontext in gleicher Stärke: bei einem „Volk von hoher Kultur, großer Assimilationskraft und Selbstsicherheit" etwa vermag der Ausländer recht schnell, wenn erst einmal die Barriere der Sprache gefallen ist, als gleich empfunden zu werden. Günstige Integrationsbedingungen finden sich zudem in den „neuen Nationen" Nord- und Südamerikas. Hier ist es die Absenz alter Traditionen und eines großen Erinnerungsschatzes

49 Historische Analyse, S. 24-29. 50 Michels, Der Patriotismus, S. 126.

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sowie die heterogene Struktur von Einwanderungsgesellschaften, die es dem Einwanderer erlauben, zu „bleiben, was er ist, und doch [zu] werden, was die anderen sind."51 Milieutheoretischer Determinismus und vertragstheoretischer Individualismus haben bei Michels somit zwei unterschiedliche Konsequenzen: erstens folgt aus der Kombination der beiden Ansätze das Axiom von der prinzipiellen Wandelbarkeit des individuellen Vaterlandsgefuhls. Teils aus einer Wertentscheidung motiviert, teils aus der Macht des Milieus resultierend, können einzelne den Wechsel von der angeborenen zur gewählten nationalen Identität vollziehen. Zweitens folgt aus dem milieutheoretischen Ansatz aber eine äußerst kompakte Homogenitätsvorstellung nationaler Identität und eine Konfliktsoziologie des Patriotismus, die weniger die Konflikte innerhalb nationaler Gruppen als die zwischen ihnen wahrnimmt. Diese Konfliktsoziologie des Patriotismus ist insofern pessimistisch, als die milieuinduzierten homogenen Nationen untereinander im Modus der Heterogenität aufeinandertreffen - und damit einen gruppistischen Grundkonflikt auslösen, der weniger durch Verständigung, als vielmehr durch ihre Separierung voneinander lösbar erscheint. Darauf wird - im Zusammenhang mit Michels' Weltkriegspublizistik - zurückzukommen sein. Auf die Frage, was eine Nation sei, hätte Michels' neben den theoretischen Antworten der Milieutheorie und des Voluntarismus allerdings auch auf die Geschichte der Nation selbst verwiesen. Diese beginnt für ihn im Kontext von Renaissance und Reformation und zeigt in diesem geistes- und sozialgeschichtlichen Ursprung von Beginn an zwei wesentliche Charakteristika auf: der Nationalismus vollzieht eine gruppenbezogene Abstraktion der Affekte und die maßgeblichen soziologischen Träger dieser Abstraktion sind Intellektuelle.

2. Historizität, Kontingenz und Mythologie des Nationalismus Die Konsumtion des kleinen durch das große Vaterland Für Robert Michels hat die an den Dimensionen des institutionalisierten Flächenstaates orientierte Vaterlandsliebe ein eigentümliches Merkmal, das sie mit ihrem Antipoden, dem Internationalismus, teilt: „die physische Kontaktlosigkeit der sie Empfindenden zu den Mitempfindenden".52 Diesen abstrakten Solidargemeinschaften ist die originäre Form der Vaterlandsliebe an konkreter Anschaulichkeit überlegen: der Lokalpatriotismus ist dem Menschen, insofern Geburt und Erziehung am selben Ort zusammenfallen, geradezu „angeboren". Dennoch hat sich der abstrakte Landespatriotismus gegenüber seinem Konkurrenten durchgesetzt, indem er diesen von einer exklusiven Parzelle in eine nationale Teilgemeinschaft verwandelte. Die Geschichte des Patriotismus läßt sich auf die Formel bringen: „Das große Vaterland verschlingt das kleine, oder das Vaterland

51 Michels, Der Patriotismus, S. 140. 52 Michels, Der Patriotismus, S. 88.

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die Vaterstadt, die Heimat."53 Diese Konsumtion des lokalen durch den nationalstaatlichen Patriotismus hat eine Abstraktion der Affekte zur Voraussetzung und zur Folge: kämpfte der einzelne einst für die Dorfgemeinschaft, Haus und Hof, den heimischen Glockenturm und für andere trivial erscheindende, aber mit Erinnerungen und Gefühlen besetzte Dinge wie „das Tischtuch, die rauchende Suppe, das Kopfkissen", so fordert die nationalstaatliche Solidarität von ihm, als Soldat sein Leben für das große Vaterland zu lassen, das all diese Dinge erst geschaffen habe und zu garantieren beansprucht.54 Der ältere und in der Bodenständigkeit wurzelnde Lokal- bzw. „Glockenturmpatriotismus" dagegen enthält keine „Liebe zum Vaterland", er ist aufgrund seiner , Artverschiedenheit" durch „keinerlei logische Assoziation mit dem Landespatriotismus großen Stils verbunden".55 Wie war diese nationale Abstraktion der lokalpatriotischen Affekte möglich? Robert Michels zufolge beginnt der Nationalismus als Diskurs von Intellektuellen in der frühen Neuzeit. Nationale Gefühle werden anfangs „nur durch Elitemenschen" getragen.56 Daß der Begriff der Nation zunächst ein Elitephänomen ist, hat auch mit seiner Sozialgeschichte zu tun: „Der Name Natio selbst findet sich als Rechtsbegriff für eine organisierte Gemeinschaft zuerst an den Universitäten und auf den Konzilien vor."57 Im Mittelalter dient die nationale Zuordnung somit nur als Untergruppierungsmittel innerhalb und unter dem gemeinsamen Dach einer transnationalen, d. h. christlichen Kultur. Das ändert sich in dem Moment, wo aus dem Gruppierungsmedium ein Begriffsvehikel der exklusiven nationalen Selbstwahrnehmung und Abgrenzung gegenüber dem transnationalen Organisationszusammenhang der Papstkirche wird: „Das ausgehende Mittelalter, die Renaissance und die Reformation waren, zum Teil wenigstens, durch den Nationalismus der Intellektuellen bedingt, welche durch die hof- und schriftfähig gewordenen Vulgärsprachen (Nationalsprachen) ihr geistiges und persönliches Interesse darin fanden, sich vom Universalismus des Latein und des Papsttums abzuwenden."58 Damit ist neben der sozialen Gruppe der Träger eine weitere Voraussetzung für das Entstehen von Nationalbewußtsein in der frühen Neuzeit genannt: der Wandel der Kommunikationsmedien, namentlich das Verschwinden des Lateinischen und der Aufstieg der Vulgärsprachen. Diese hatten eine „hinsichtlich der Völker differenzierende Wirkung" und hatten zur Folge, „daß sich die Völker auf ihre Eigenart zu besinnen

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Michels, Der Patriotimsus, S. 91. Michels, Der Patriotismus, S. 90. Michels, Der Patriotismus, S. 88. Michels, Zur historischen Analyse, S. 21. Michels, Historisch-kritische Untersuchungen zum politischen Verhalten der Intellektuellen, S. 31. Michels, Historisch-kritische Untersuchungen zum politischen Verhalten der Intellektuellen, S. 31. Vgl. zur Idee der Nation in der frühen Neuzeit Herfried Münkler, Nation als politische Idee im frühneuzeitlichen Europa, in: Klaus Garber (Hg.), Nation und Literatur im Europa der frühen Neuzeit, Tübingen 1989, S. 56-86; ders. und Hans Grünberger, Nationale Identität im Diskurs der deutschen Humanisten, in: Helmut Berding (Hg.), Nationales Bewußtsein und kollektive Identität, Frankfurt a.M. 1994, S. 211-248.

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anfingen. Die Literatur wurde nunmehr so recht das Ausdrucksmittel nationalen Stolzes und nationaler Bestrebungen."59 Eine andere Voraussetzung für das Entstehen von Nationalbewußtsein ist die Erfahrbarkeit von und Identifikation mit größeren geographischen Räumen aufgrund der Mobilitätserfordernisse des Frühkapitalismus. „Bei geringer Mobilität" dagegen „findet eine Intensifikation und Lokalisation der Affekte statt."60 Die Faktoren der Vulgärsprache und der Mobilität haben unter einer Minderheit von Intellektuellen und Handelsreisenden eine Vorstellung von der Nation evoziert, die die existierenden feudalstaatlichen Grenzen unter- und überschreitet und somit in Frage stellt. In diesem Sinne geht die Nation dem Nationalstaat voraus.

Der Staat als nation-builder Es gibt aber historisch auch das entgegengesetzte Begründungsverhältnis von Nation und Staat, wonach es „der Staat war, der die Nation schuf. Die Tatsache der staatlichen Einheit erzeugt die Nation." So sei die Natio-Genese in England, Frankreich und Spanien verlaufen.61 Über diese drei Beispiele hinaus ist die Existenz frühmoderner Staatsstrukturen auch allgemein eine zwar nicht hinreichende, aber im Hinblick auf die Möglichkeit abstrakter Gemeinschaftserfahrungen unverzichtbare Vorbedingung dafür, daß der Nationalismus in der neuzeitlichen Geschichte entsteht und nicht schon im Mittelalter: „Man darf behaupten, daß in den Feudalzeiten, in denen die Untertanenpflicht zerspalten und in viele Teile zerlegt war, so daß manches Landeskind dem Landesherrn sagen konnte: ich bin ja gar nicht Euer Untertan!, das Bewußtsein, einem gemeinsamen Vaterlandes anzugehören, gar nicht hat aufkommen können. Zur Entstehung eines solchen Bewußtseins ist die Einheit des Staatsgesetzes unerläßliche Vorbedingung."

59 Michels, Zur historischen Analyse, S. 17. 60 Michels, Der Patriotismus, S. 89. 61 Historische Analyse ..., S. 16-17. Vgl. hierzu Theodor Schieder, Typologie und Erscheinungsformen des Nationalstaates in Europa, in: ders., Nationalismus und Nationalstaat. Studien zum nationalen Problem im modernen Europa, hg. v. Otto Dann u. Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 1992, S. 68ff. Schieder unterscheidet drei Wellen europäischer Nationalstaatsbildung: für die erste, westeuropäische Welle stehen Frankreich und England, wo sich die Nation infolge von Revolutionen innerhalb bereits bestehender Staatsgrenzen konstituiert hat. Die zweite, mitteleuropäische Welle (Italien, Deutschland) ist durch den Zusammenschluß zuvor getrennter Staaten gekennzeichnet. Die dritte Welle ist die osteuropäische von 1919, wo Nationalstaaten durch die Abtrennung aus der Konkursmasse transnationaler Reiche entstehen. Schieders Typologie richtet sich gegen die Dichotomie von ,subjektiv-politisch-progressiven' Nationalismus (Bsp. Frankreich) und ,objektiv-kulturell-rückwärtsgewandtem' Nationalismus (Bsp. Deutschland) bei Hans Kohn, Die Idee des Nationalismus, Frankfurt a.M., o.J. (Originalausgabe USA 1944), S. 309f.

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Weiteres Gewicht beim Aufbau der Nation erhält der Staat infolge der „Demokratisierung des modernen Staates", die Michels äußerst ambivalent darstellt. Mit der Demokratisierung gehe eine eine „Intensifizierung des patriotischen Gedankens" einher. Mit ihr bekommt der herkömmliche Patriotismus vor 1789, der das „Prärogativ der Literaten und einer Handvoll höherer Beamten gewesen war", eine „breitere völkische Basis". Und mit dieser neuen Basis werden auch neue Ansprüche daran formuliert, was die Nation sein und was sie leisten solle. So entsteht ein egalitärer Sozialpatriotismus, der das „Vorhandensein privilegierter Klassen und Dynastien [...] mit dem Begriff des Vaterlandes schlechterdings unvereinbar" hält62 Aber die Demokratisierung der Nation führt auch zu einer Intensivierung der Staatlichkeit. Indem der Staat seinen Bürgern Mitspracherechte gibt und sich militärisch von den fremden Landsknechten auf die allgemeine Volksbewaffnung umstellt, kann ihm die patriotische Gesinnung der Bürger, an die er sein Selbstbestimmungsrecht abgegeben hat, nicht egal sein. „Deshalb mußte es die erste Aufgabe der sich demokratisierenden Staaten sein, sich um die Mentalität ihrer Bürger zu kümmern. [...] Es war deshalb vonnöten, um dem Machtstaat stets neue Nahrung zuzuführen, ein Kraut zu pflegen, das erst künstlich gepflanzt werden mußte in eigens dazu hergerichteten Treibhäusern: die ,nationale Gesinnung'. Zu ihrer Erzeugung wurden nun Schule, Kirche, Heer, Vereinsbildung, direkte oder indirekte Regierungspresse bestellt. Der ganze Verwaltungsapparat wurde auf die künstliche Produktion von Patriotismus zugeschnitten. Haupthebel dabei blieb der Geschichtsunterricht, dem es oblag, den Kindergemütern die Herrlichkeit und den Glanz des eigenen Landes klar zu machen."63 Allgemeine Schulpflicht und allgemeine Wehrpflicht - das Militär ist auch eine , Schule des Volkes' - sind gewiß die schärfsten Geschütze gewesen, die der Staat im 19. Jahrhundert zur inneren Eroberung seines Territoriums eingesetzt hat.64 Die Demokratisierung und Nationalisierung der Staaten mündet so in der Praxis in die Verstaatlichung der Nation. NationaLsíaaf/í'c/ie und nationale Selbstbestimmung sind aber für Michels nicht dasselbe: während die Idee der nationalen Autonomie logisch eine Ordnung der politischen Landschaft in Europa nach dem Nationalitätenprinzip nahelegt, habe es „das Wesen des Staates" mit sich gebracht, „daß das Nationalitäten-

62 Michels, Historische Analyse ..., S. 402. 63 Michels, Historische Analyse ..., S. 401-402. 64 Eine Familie, so Eric Hobsbawm, mußte „schon an einem äußerst unzugänglichen Ort leben [...], wenn nicht das eine oder andere ihrer Mitglieder regelmäßig mit dem Nationalstaat und seinen Dienern in Berührung kommen sollte: durch den Briefträger, den Dorfpolizisten oder Gendarmen und schließlich durch den Dorfschullehrer; durch die Bediensteten der Eisenbahn [...] gar nicht zu sprechen von den Kasernen und Garnisonen und den kaum zu überhörenden Militärkapellen. In wachsendem Maße verschaffte sich der Staat einen Überblick über jeden seiner Untertanen und Bürger durch die Einführung regelmäßiger Volkszählungen". Vgl. Eric J. Hobsbawm, Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt a.M. 1992, S. 98.

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prinzip in seiner Anwendung stets wieder durchbrochen wurde."65 Zu diesem Wesen des Staates zählen Leitmotive wie die „Theorie vom europäischen Gleichgewicht" sowie die „höhere Gewalt des staatlichen Ausdehnungsbedürfnisses", welches sich auf das Nationalitätenprinzip nur so lange stützt, wie es ihm legitimatorisch nützt. Auch das Plebiszit, das theoretisch den „Grundgedanken des Nationalitätenprinzips in seiner reinsten demokratischen Fassung" zum Ausdruck bringe, unterliege in der Praxis meist der Manipulation durch das staatliche Expansionsinteresse. Als Beispiele für die Dominanz des Staats- Wesens bei der Regelung internationaler Grenzstreitigkeiten nennt Michels auch die „natürliche Grenztheorie", wonach die „Nation" von Alters her ein Anrecht auf bestimmte geographische Grenzen genieße. Diese Argumentation wird von Michels als pseudonational verworfen, weil „diese Bestimmungsform des Begriffes Nation [...] unverkennbare Spuren militärischer Zweckmäßigkeit sowie des allgemeinen Ausdehnungsbedürfnisses der Staaten in sich" trage. Der Erfolg dieser Theorie belegt den „Triumph der Staatspatria über die Nationalitätspatria" in Europa. National seien die „natürlichen Grenzbestimmungen", die „auf ethnische Tatsachen keine Rücksicht nehmen", nur insofern, als „von der Rücksichtslosigkeit [...] das eigene Volk nie selbst mit betroffen wird."66 Staatsraison und Nationalitätenprinzip sind somit Michels zufolge nicht nur unterschiedliche Prinzipien, sie sind Gegensätze: „Die Entstehung der modernen Staatengebilde hat sich, wenn wir von Italien absehen, stets ohne den ausgesprochenen Willen der Völker vollzogen. Vielfach sogar gegen den ausgesprochenen Willen."

Die Priorität der Nation und die These der Homogenität Aufgrund dieser Präponderanz des Staatsprinzips gegenüber dem Nationalitätenprinzip fällt der nationale Selbstbestimmungswunsch in der Regel nicht mit den existierenden nationalstaatlichen Grenzen zusammen. Damit kann Michels aber auch unter Hinweis auf die Geschichte der nationalen Freiheits- und Einheitsbewegungen in Europa seine Argumentation umdrehen und zeigen, daß die Nation offenbar doch nicht aus dem einheitlichen Verwaltungshandeln des Staates hervor-, sondern ihm systematisch vorausgeht: „Die Geschichte der modernen Nationen besteht aus einer unabsehbaren Folge von Irredentismen, von in scientia et conscientia bereits fertigen Völkern, deren ,Seelen' zu ihrer Vollendung und nötigen Ergänzung nach ihrem Körper suchen; sei es, daß dieser Prozeß in der Schöpfung eines Staates gipfelte, sei es, daß es um einen Wiederaufbau ging, sei es, daß es sich darum handelte, daß draußengebliebene Einzelteile ihren schon bestehenden nationalen Staat zu erreichen suchten."67

65 Michels, Historische Analyse ..., S. 407. 66 Michels, Historische Analyse, S. 408-411. 67 Michels, Neue Polemiken und Studien ..., S. 115.

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Diese Prioritätsthese der Nation, veranschaulicht in der Metapher , Anima petit corpus", läuft gewiß Gefahr, die viel komplexere Genese des modernen Nationalismus zu vereinseitigen. Dieser konnte je nach Entstehungskontexten tatsächlich dem ersehnten Staatsverband vorausgehen, er konnte aber auch in einem bereits bestehenden staatlichen Korsett sich entwickeln, was Michels ja auch 1913 mit Blick auf Frankreich und England so festgestellt hat. Michels' Thesen zu Staat und Nation sind daher nur richtig, wenn man sie synoptisch liest. In seiner Prioritätsthese von 1931 hat er dies auch beabsichtigt, dabei aber auffälligerweise die nation-building-Rolle des Staates auf die eines Verstärkers reduziert: „Mit seinem Prestige und seinem Gesetzesapparat formt der Staat die überkommene Nation weiter, feilt sie, veredelt sie, amalgamiert68 sie zu höherer Einheit. Diese Arbeit vermag der Staat jedoch nur dann zu vollbringen, wenn er ein völkisches Element vorfindet, das weiterformbar, feilbar, veredelungsfähig und amalgamierbar ist. Auch hier ergibt sich die These der Homogenität."69 Im Vergleich zum Vortrag vor der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) von 1912/13 hat Michels damit die Bedeutung des Staates reduziert und eine theoretische Modifikation vorgenommen, die im übrigen nicht zufällig ist, sondern mit dem Erkenntnisinteresse des Philofaschisten Michels einher geht, die Nation als eigenständige, dem Staat vorausgehende und von ihm unabhängige Entität zu konzipieren - zu einer Zeit, als der faschistische Staat die Nation ,inkorporiert'.70 Während die Zuspitzung der Priorität des Nationalen einer wie auch immer motivierten71 Theoriemodifikation des späten Michels entspringt, verbirgt sich hinter der „These der Homogenität" eine Problematik, die das Werk des Soziologen als ganzes kennzeichnet. Für diese These ließe sich zwar die Erkenntnis der Nationalismusforschung anfuhren, daß die Staatstätigkeit bei der Homogenisierung des Heterogenen immer wieder auf Grenzen gestoßen ist. Ernest Gellner etwa spricht in diesem Zusammenhang von der „Entropieresistenz" gewisser Ethnien und interkulturellen „Kommunikationsgrenzen".

68 Spätestens bei diesem Begriff hätte Michels sich fragen müssen, ob die Staatstätigkeit als Erklärungsfunktion für Nationalismus nicht doch höher zu gewichten sei und mit den ideativen Vorstellungen von der Nation vor ihrer Selbstverwirklichung im Nationalstaat nicht wenigstens als gleichberechtigter Faktor zu veranschlagen sei. Denn „amalgamieren" heißt in der soziologischen Sprache von Michels nichts anderes, als Heterogenes zu homogenisieren, d. h. das Entwicklungspotential alternativer ethnischer Vorstellungen und ihre Sprengkraft zu entschärfen. 69 Michels, Neue Polemiken und Studien ..., S. 115. 70 Vgl. Michels, La Latinité, in: Revue d'Ethnographie, Nr. 27-28,1926, Extrait 1927, S. 194-211, S. 207. 71 In Kapitel IX.8. werde ich in einem Vorgriff auf Schriften aus der faschistischen Zeit zeigen, daß die idealistische Revision der Nation Michels als Fluchtpunkt seiner liberalen Überzeugungen dient, der in auffälligen Kontrast zu den Freiheitsberaubungen im faschistischen Staat steht.

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Der Nationalismus benutzt demnach „einige der bestehenden Kulturen und wandelt sie [...] um, aber er kann nicht alle benutzen: es gibt einfach zu viele." 72 Gegen die „These der Homogenität" spricht aber, daß es eine ethnische Homogenität nur im Hinblick auf bestimmte Kriterien gibt (Sprache, Religion, Hautfarbe), denen niemals alle Angehörigen eines Volkes entsprechen. Homogenität, zumal ,völkische Homogenität' ist daher eine Projektion und im Hinblick auf unseren Zeitkontext ein typischer Erwartungsbegriff der zwanziger und dreißiger Jahre. Es ist auffällig, daß selbst der historisch argumentierende Vaterlandsexperte Michels diesen unhistorischen Begriff als objektive Tatsachenbeschreibung übernimmt. Denn selbst wenn man bei einer Gruppe von Menschen Homogenität auf einen bestimmten Aspekt hin beobachten könnte, wäre diese Homogenität nicht mehr als ein transitorisches Zwischenergebnis und fragiles Produkt historischer Entwicklungen, abhängig zudem von Faktoren der Homogenisierung (Verwaltungshandeln, allgemeine Schulpflicht, Industrialisierung etc.), die der Homogenität vorausgehen und sie keinesfalls vorfinden. Die „These der Homogenität" impliziert darüber hinaus politisch brisante Konsequenzen: schon im ersten Weltkrieg hält Michels eine friedliche Nachkriegsordnung nur mittels einer strengen Separierung der Völker von einander für erreichbar.73 Diese Überzeugung ist die Folge theoretischer wie kognitiver Vorentscheidungen: schon beim jungen Propagandisten des Selbstbestimmungsrechts der Völker hatten wir den Verdacht geäußert, daß es bei der Realisierung dieser Norm für Michels offensichtlich zum homogenen Nationalstaat keine institutionelle Alternative gab. Diese Alternativlosigkeit dürfte durch seine akademische Sozialisation in den Jahren seit 1908 nicht unerheblich durch die Rezeption des „Gruppismus" (Ludwig Gumplowicz) und seiner ehernen Gruppierungsgesetze zementiert worden sein: sie fließen bereits in Michels' ersten großen Beitrag zum Nationalismus von 1912/1913 fast unmerklich in die historische Darstellung ein, etwa wo Michels das Ende konfessioneller zugunsten nationalstaatlicher „Machtgruppierungen" infolge des Dreißigjährigen Krieges damit erklärt, daß das „Gefühl der Zusammengehörigkeit des ethnisch und linguistisch Homogenen" selbst die Kriegswirren überlebt habe, während sich die „Anziehungskraft des ethnisch und linguistisch Heterogenen auf die Dauer als unmöglich" erwiesen hätte. 74 Im Duktus wie im materialen Gehalt der Aussage können wir jenes epistemologische Feld des Gruppismus wiedererkennen, das Michels' soziologisches Denken prägt 75 und das ihn von Max Weber trennt. Wo Michels objektivistische Homogenitätsthesen aufstellt, spricht Weber viel präziser - und im Einklang mit dem subjektiven Ausgangspunkt auf der definitorischen Ebene von Nation - vom Homogenitätsglauben. Undenkbar, bei Weber etwas über die „Anziehungskraft des Homogenen" zu finden. Stattdessen lesen wir „Gemeinsamkeitsglaube", „Gemeinsamkeitsempfinden" oder „Glaube an den Bestand einer nationalen' Gemeinsamkeit". 76 72 73 74 75 76

Ernest Gellner, Nationalismus und Moderne, Berlin 1991, S. 76, S. 90-113. Hierauf komme ich im Zusammenhang mit seiner Weltkriegspublizistik zurück. Historische Analyse, S. 23. Vgl. Kapitel VI.2.4. ,Gruppistische' Begriffe, Positionen und Theorien in Michels' Soziologie. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 242.

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Freilich fließen in Michels' historische Analyse, was am eingangs erwähnten Eklektizismus des Autors liegt, auch ganz andere Ansätze ein, die den Sieg der nationalen über die konfessionelle Solidarität in Abhängigkeit vom Niveau der historischen Entwicklung deuten: „Damit das religiöse Band auf immer das lokale zerschnitte, hätten die Völker Europas auf noch niederer Kulturstufe stehen müssen. Im siebzehnten Jahrhundert aber war das Geistesleben der Völker doch schon zu rege, der Schatz an gemeinsamen Elementen doch schon zu mächtig, als daß er ständig zugunsten transzendentaler Vorstellungen unterdrückt zu werden vermocht hätte."77 Die Rede von der „Kulturstufe" impliziert hier einen modernisierungstheoretischen Begriff von Nation, der nationale Identität an das Vorhandensein „konnektiver Gedächtnisstrukturen"78 knüpft und damit den Grad des Nationalbewußtseins in Abhängigkeit von kollektiver Bildung und dem Niveau ihrer technischen Reproduzierbarkeit bemißt.79 Besonders plastisch hat der Gruppensoziologe Ludwig Gumplowicz diesen Ansatz in seiner NationalismusTheorie der, jungen Völker" erläutert.80 Während Michels in seinen allgemeinen theoretischen Aussagen den Ausdruck der Homogenität als Leitmotiv nationaler Gruppierungsprozesse mit seinen problematischen Konnotationen von ethnischer Homogenität, Assimilation und Abstoßung des Heterogenen gebraucht, geben seine Ausführungen zum historischen Wandel und zur historischen Vielfalt des Vaterlandsbegriffs vielmehr Anlaß, die Nation nicht als ein aus völkerpsychologischen Gesetzmäßigkeiten resultierendes, sondern als ein kontingentes, von unvorhersehbaren historischen Prozessen, Konstellationen und Deutungskämpfen abhängiges Phänomen zu verstehen. Webers Begriff vom „Gemeinsamkeitsglauben" wäre in diesem Zusammenhang deshalb heuristisch so wertvoll gewesen, weil er bewußt offen läßt, auf welche Gemeinsamkeiten sich die kollektive Homogenitätsfiktion bezieht. 77 Historische Analyse ..., S. 23. 78 Vgl. hierzu Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, S. 18, 25, 160. 79 Vgl. Ernest Gellner, Nationalismus und Moderne, Berlin 1991. 80 Vgl. Ludwig Gumplowicz, Allgemeines Staatsrecht, a.a.O., S. 29: heutzutage, in dem Zeitalter des Dampfes und der Schnellpressen, wird von jungen Völkern Kultur tatsächlich über Nacht erworben - sie brauchen nicht erst Jahrhunderte daran sich abzumühen - das haben andere für sie getan [...] Es ist unglaublich, wie schnell sich heutzutage Völker, deren Kultur von gestern datiert, zur geistigen Höhe aller Kulturvölker aufschwingen". Gumplowicz' Beispiel sind die Tschechen, „deren Kultur kaum seit den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts datiert" und die es dennoch spielend mit den älteren Kulturvölkern aufnehmen könnten: „Bis es die Deutschen zu einem ,Brockhaus' oder ,Meyer' gebracht haben, das hat allerdings lange gedauert. Viele Jahrhunderte gelehrter Bildung mußten vorausgehen, eine lange Reihe Generationen von ,Denkern und Dichtem' haben an dem Schatz des Wissens und geistigen Könnens gearbeitet, um so einen ,Brockhaus' möglich zu machen. Da kommt so ein junger Springinsfeld auf dem Gebiete der Kultur wie das tschechische Volk, und ehe man sich versieht, haben sie ihr Wissenschaftliches Lexikon' (Naucny Slovnik), der es in all und jedem mit der Jubelausgabe des Brockhaus aufnimmt... Man sagt, daß die Kinder in unserer Zeit schon intelligenter geboren werden: dasselbe scheint mit den jungen Kulturvölkern der Fall zu sein."

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Zwischen Abstammung und Abstimmung: die Nation als politischer Kampfbegriff So zeigt Michels im französischen Fall, daß ein staatszentrierter Nationalisierungsprozeß schon vor der ,Großen Revolution' durch die „demotische Nivellierung" (Emerich Francis) der Untertanen eingetreten war, relativiert aber die gängige These von der jWestlich'-politischen Willensnation, indem er auf die Vorstellungen einer gemeinsamen ethnischen Abstammung verweist, die bereits im vorrevolutionären Frankreich in das kollektive Selbstbild einflossen und später von den Revolutionären übernommen wurden.81 Ein „staatliches Zusammengehörigkeitsbewußtsein ohne jede ethnische Basis", so Michels, habe nicht Frankreich, sondern Preußen bereits im 18. Jahrhundert hervorgebracht, auch wenn diese Zusammengehörigkeit noch keine Bürger, sondern „Untertanen" umfaßte. Vom preußischen Staatspatriotismus unterscheidet Michels die englische Variante des Staatspatriotismus, den er einige Jahre später als „Verfassungs- und Freiheitspatriotismus" bezeichnen wird. 82 Patriotismus meint hier den Stolz auf das Vaterland, „weil es frei war, d. h. seinen Bürgern Freiheit ließ". Repäsentativ für diese Variante des Patriotismus seien John Bolingbrokes „Letters on the Spirit of Patriotism" (1735), in denen nicht nur die Gemeinwohlpflichten des „Patriot King" - Michels zufolge „ein ganz neuer Terminus, der zwei bisher völlig getrennte Begriffe kühn miteinander verschmolz" dargelegt werden, sondern vor allem die „patriotischen Pflichten der Parteien", wonach die Tories eine Pflicht zur Verteidigung des Bestehenden haben, die Whigs dagegen, es anzugreifen. Dies wird aus zweierlei Gründen von Michels als qualitativer Quantensprung in der Geschichte des Patriotismus gewertet. Erstens dokumentiere sich in dieser englischen Variante des Patriotismus „die klare Einsicht in seine soziale und politische Bedingtheit". Zweitens wird patriotisches Handeln nicht mit einer bestimmten politischen Position oder Partei verknüpft, sondern analog zum verfassungsgemäßen Streitverfahren als Ringen um die beste Lösung verstanden: „Patriotisch ist, wer das Wohl des Vaterlandes will." Dem Vaterland „zu dienen, sind mehrere Möglichkeiten vorhanden, über deren Auswahl Temperament und Überzeugung entscheiden. [...] Vaterlandsliebe schließt selbst solche Mittel und Wege keineswegs aus, die einander ausschließen." Ein derartiger Patriotismus hatte aber auch einen bestimmten kulturellen und historischen Kontext zur Voraussetzung und habe „nur auf dem Boden einer angesehenen Parlamentsregierung" erwachsen können. 83

81 Michels weist diese ethnische Fundierung des nationalen Selbstverständnisses in der französischen Revolution u. a. beim Abbé Sieyès nach (Michels, Der Patriotismus, S. 5). 82 Vgl. Michels, Über einige Ursachen und Wirkungen des englischen Verfassungs- und Freiheitspatriotismus, in: Ethos. Vierteljahrschrift für Soziologie, 1. Jg., 2. Heft, 1926, S. 183-201. Mir ist nicht bekannt, ob damit das Jahr 1926 zur begriffsgeschichtlichen Geburtsstunde des „Verfassungspatriotismus" erklärt werden kann, der ja in der alten Bundesrepublik durch die Schriften Dolf Sternbergers und vor allem in seiner Verwendung durch Jürgen Habermas zu einem Lieblingsbegriff des linksliberalen Feuilletons avancierte. 83 Alle Zitate in Michels, Historische Analyse ..., S. 35-37.

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Mag Michels auch den englischen Verfassungspatriotismus erstaunlich vorurteilslos schildern - man hat sogar den Eindruck: mit Sympathie - , so behandelt er ihn jedoch nicht als ein reproduzierbares Modell. Seine einem historischen Relativismus verpflichtete Analyse konstatiert vielmehr das Scheitern vergleichbarer Entwürfe nationaler Identität in anderen Kontexten. Im Frankreich der Revolution etwa sei es beim Versuch der revolutionären Umsetzung des republikanischen Vaterlandsbegriffs zu einer „innerpolitischen Metamorphose" des Patriotismus gekommen. Damit spricht Michels an, was Koselleck die „Ideologisierung" der Nation84 genannt hat. Der Patriotismus ist in diesem Kontext nicht das Medium gemeinsamer Überzeugungen, sondern wird zum parteipolitischen, ja weltanschaulichen Streitobjekt. Obendrein von „geschichtsphilosophischen Erwägungen" der Revolutionäre determiniert, fuhrt die innenpolitische Metamorphose zum „gänzlichen Bruch innerhalb der Völker", „von denen jedes, wie einst zur Zeit der religiösen Wirren, in zwei Teile gespalten erscheint". Aus der französischen Revolution, so Michels, habe der „moderne Vaterlandsgedanke" zwar den neuen Grundsatz der juristischen und politischen Gleichheit schöpfen können, aber dieser „Demokratisierung" (Koselleck)85 der Nation habe eben kein Minimalkonsens in der Frage gegenübergestanden, wie das Vaterland politisch geordnet sein möge. In dem Maße, wie die Revolutionsregierung die Ausdrücke „radikal" und „vaterlandsliebend" in eins setzte, sei ein „parteipolitisch aufgefaßter Patriotismus" entstanden, eine „Verklüftung des französischen Patriotismus", die noch tief in die Restaurationsepoche andauerte und deren Spuren sich sogar noch in der Gegenwart (1913) finden würden. Der Exkurs in die französische Nationalgeschichte gerät für Michels zu einer Lektion über die mangelnde Praktikabilität einer strikt rationalistischen und universellen Selbstauslegung des Patriotismus. Durch das zeitweilige Verlassen einer gemeinsamen ethnischen und linguistischen Basis der Grande Nation habe der französische Patriotismus sein „nationales Zentrum" verloren und sich „entnationalisiert". Er sei zu einer „Weltanschauungssache" geworden: „als Mitbürger wurde der gleichdenkende Mensch", und das konnten Revolutionäre aus aller Herren Länder sein, „nicht der gleichsprechende oder im gleichen Staatsverbande lebende Mensch, empfunden." Fazit: „Es kostete

84 Vgl. Reinhart Koselleck, Art. „Volk, Nation, Nationalismus, Masse", in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, S. 147. „Ideologisierung" bezeichnet den Streit um die richtige Attributierung der Nation: christlich, monarchisch, liberal, völkisch, demokratisch usw. Vgl. August Ludwig v. Rochau, Grundsätze der Realpolitik, angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands (1853/69), hg. v. Hans-Ulrich Wehler, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1972, S. 57: „Die Frage nach dem wahren, dem eigentlichen Volk, pflegt allen Parteien sehr geläufig zu sein, und jede Partei findet das wahre, das eigentliche Volk da, wo sie ihre eigenen Ansichten oder wenigstens bereitwillige Werkzeuge für ihre Zwecke findet." 85 Nach Koselleck, Art. „Volk", S. 147, erfolgt mit Aufklärung und französischer Revolution begriffsgeschichtlich die Demokratisierung von „Nation", die nunmehr alle Mitglieder eines Volkes, herrscher und Beherrschte, umfaßt. Die ständischen (.Adelsnation"), regionalen und sozialen Nebenbedeutungen verschwinden.

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Mühe, beiden [innerpolitischen Patriotismen] beizubringen, daß das Vaterland mehr sei als eine bestimmte Herrschaftsform." 86 Neben der Ideologisierung, oft auch mit ihr verbunden, ist die Instrumentalisierung des Patriotismus ein fester Bestandteil seiner Geschichte. Ausgerechnet dem „parasitären Patriotismus" gelinge es dabei immer wieder, sein Tun als national auszugeben und der Öffentlichkeit über seine wahren Motive Sand in die Augen zu streuen: „Der parasitäre Patriot kämpft im Kriege nicht, um sein Land zu verteidigen, sondern um zu verhindern, daß sein Recht, als Parasit der Volkskraft zu leben, auf einen Ausländer übergehe. , Vaterlandsverteidiger dieser Art sind in demselben Sinne Patrioten wie zwei Jagdhunde, die sich um ein erlegtes Wild beißen, Tierfreunde sind'." 87 Exemplarisch für die Kontingenz des Nationalismus steht nicht zuletzt die - zumindest der Michelsschen Darstellung zufolge - völlig offene Situation im Kontext der Befreiungskriege. Ungeachtet der historischen Haltbarkeit seiner Rekonstruktion, gehen in diese theoretische Annahmen ein, welche angetan sind, seine These von der Homogenität gänzlich zu dementieren.

Die Kontingenz militärischer Erfolge als Quelle neuer kollektiver Identitäten Der napoleonische Imperialismus hätte in Europa einen transnationalen Reichspatriotismus verankern können. Ein derartiges Projekt hätte Michels zufolge Aussicht auf Erfolg gehabt, weil der „patriotisme de la patrie napoléonienne" einige attraktive Elemente aufwies: neben der „Glorie" - „der mächtigste, internationalste Anreiz für alle Romantiker, alle Erfolgsanbeter, alle Abenteurer" die außergewöhnlichen Aufstiegsmöglichkeiten auch für einfachste Kreise in der napoleonischen Armee sowie „die soziale Befreier-Rolle Napoleons, der wenigstens zunächst sehr starke demokratische Zug". Durch das napoleonische Intermezzo sei „europäischer Patriotismus" aufgekommen.88 Dem in der deutschen Nationalgeschichtsschreibung des Kaiserreiches gepflegten „Mythos vom Aufbruch" der deutschen Nation im Kampf gegen Napoleon hat Michels dagegen, unter Hinweis auf die Akzeptanz französischer Orden in westdeutschen Städten und deutsch-französische Eheschließungen, widersprochen: „Nichts regte sich in Deutschland gegen Napoleon". „Die Begeisterung, welche das preußische Volk 1813 zu den Fahnen trieb", sei vielmehr der preußische Staatspatriotismus gewesen.89 Und 86 Michels, Historische Analyse ..., S. 37-43. 87 Michels, Historische Analyse, S. 422. Das Zitat im Zitat stammt aus: Gustav F. Steffen, Die Demokratie in England, Jena 1911, S. 104. 88 Michels, Historische Analyse ..., S. 394-396. 89 Michels, Historische Analyse, S. 397-399. Als Beispiel für den preußischen Staatspatriotismus nennt Michels das preußische Nationallied von 1830, wo es heißt: „Ich bin ein Preuße, kennt ihr

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nicht das deutsche Volk sei von Friedrich Wilhelm III. zu den Waffen gerufen worden, sondern „Brandenburger, Preußen, Schlesier, Pommern, Litauer". 90 Die „deutsche Gesinnung" ist für Michels nicht die moralische Triebfeder in den Befreiungskriegen gewesen, sondern sie ist vielmehr das Ergebnis des siegreichen Krieges: „da erzeugte der Erfolg, dieser größte Lehrmeister des Patriotismus, deutsche Gesinnung." 91 Militärischer Erfolg ist aber, so vorausschauend und klug seine Strategen ihn auch immer herbeigeführt haben mögen, ein kontingentes Phänomen par excellence: die durch den Krieg bewirkte Machtkonstellation hätte auch je nach Ausgang anders aussehen können und auch ganz andere „Gesinnungen" hervorrufen können. Die pure Faktizität erfolgreichen Staatshandelns kann dem Vaterlandsempfinden der von ihr betroffenen Menschen also durchaus eine neue Richtung geben. Allerdings muß sich dann wohl auch ein „Generalstab von Mythologen, Archäologen und Dichtern" 92 finden, der imstande ist, die Kontingenz politischer Ereignisse mit einer sinnhaften Erzählung der Nationalgeschichte aufzufüllen. Diesem Aspekt hat sich Michels erst in den zwanziger Jahren zugewendet. Während seine Vorkriegsarbeiten zum Patriotismus stärker die Kontingenz und Wandelbarkeit des Phänomens beleuchten, beginnt seine Monographie von 1929 gleich im ersten Kapitel mit dem „Mythus des Vaterlandes".

Mythen des Ursprungs und der Mission Michels' Beschäftigung mit den Mythen der Nation ist nicht isoliert von einem geistesgeschichtlichen Trend zu sehen, gegenüber dem der positivistische Intellektuelle lange Zeit immun gewesen ist, der aber Michels' Denken infolge des Aufstiegs des Faschismus in Italien immer deutlicher prägt: der Neoidealismus. Es ist die Zeit der großen Sorel-Rezeption bis weit in das bürgerliche Lager. Beifall oder zumindest ein allgemeines Interesse findet insbesondere dessen Lehre, daß soziale Mythen, mögen sie auch empirisch falsch sein, Realitäten induzieren können, die es ohne sie nie gegeben hätte.

meine Farben?". „Farben aber", so Michels, „sind ein staatliches Symbol. Es ist bezeichnend, daß dieses das einzige gemeinsame Band war, auf das sich der preußische Patriot berufen konnte. Ein preußisches Volk im ethnischen Sinne konnte es bei der Zerstreutheit und Zerrissenheit der preußischen Besitzteile, die mit Unterbrechungen von Memel bis Kleve reichten, und durch Konfession, Rasse, Temperament, Gewohnheiten und Lebensweise vielfach gespalten waren, füglich nicht geben." 90 Für Michels und gegen den Mythos vom Erwachen der deutschen Nation spricht auch diese Eintragung im „Campe"-Lexikon, Bd.5, von 1811: „Man spricht und liest vielfach von dem britischen, französischen ... etc. Volke. Nur an einem deutschen hat es leider gefehlt, und man muß hoffen, daß eins aus den Trümmern des deutschen Reiches einst erstehen werde". Zit. n. Reinhart Koselleck, Art. „Volk, Nation, Nationalismus", a.a.O., S. 386. 91 Michels, Historische Analyse ..., S. 398. 92 Michels, Historisch-kritische Untersuchungen zum politischen Verhalten der Intellektuellen, a.a.O., S. 31.

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Das macht gerade dort Eindruck, wo die Realität der Nachkriegsgesellschaft als unerträgliche Enttäuschung einstiger Hoffnungen empfunden wird. Die Mythomotorik des Nationalen ist somit im zeitgenössischen Kontext ein Modethema. Für Michels erweist sich der mythologische Ansatz im Kontext seiner Patriotismus-Studien als besonders wertvoll, weil er ihm erlaubt, nach der historischen Analyse der Kontingenz die produktive wie integrative Funktion von kollektiven Gemeinschaftsfiktionen für den Nationalismus in den Blick zu bekommen. Er unterscheidet dabei zwischen „Mythen des Woher" und solchen des „Wohin". Die Herkunftsmythen resultieren aus dem Bestreben jeder Nation „nachzuweisen [...], als erste auf die Welt gekommen zu sein."93 Aus der „Erstgebürtigkeit" lassen sich im besonderen Rechtsansprüche ableiten und im allgemeinen „Selbstachtung und Selbstvertrauen" generieren. Die mythologische Selbstbegründung verbindet sich zudem mit dem Gedanken einer „unlösbaren Vereinigung von Volk und Gott". Nationen „halten sich für Lieblingsvölker Gottes oder Göttervölker" - eine Besonderheit des Vaterlandsdiskurses, für die Michels nicht zuletzt mit Blick auf den Ersten Weltkrieg eine Reihe von Beispielen anführt, etwa die Anrufung Gottes als „treuen Alliierten der Deutschen".94 Die retrospektive Verewigung der Nation impliziert Michels zufolge ihre prospektive Verewigung: „Dem Glauben der Entstehung der Nation aus der Ewigkeit entspricht logisch der Glaube vom ewigen Bestand derselben."95 In anderen Worten: dem „Bedürfnis nach grauem Uralter" korrespondiert eines nach „ewiger Jugend".96 Dabei neigen Nationen dazu, ihre transhistorische Existenz mit ihrer besonderen Rolle für die Weltläufe zu begründen und sich zum Träger einer Mission zu stilisieren. Beispiele sind Emanuel Geibels Diktum „Und es mag am deutschen Wesen einmal noch die Welt genesen", Houston Chamberlains Rede vom „Weltführertum" des deutschen Volkes oder Michelets dem französischen Volk zugeschriebene Maxime „vivre pour le salut du monde". Derartige Intellektuellenvisionen waren erfolgreich, weil, so Michels, der „Gedanke der Erfüllung einer Mission" den Völkern „Lebenskraft und Glauben an ihre Daseinsberechtigung" verleiht. Allerdings sei den internationalen Beziehungen nichts gefährlicher als eben dieser „Glaube der nationalen Einzelteile der Menschheit" an ihre jeweilige Mission: „denn er ist ganz Willkür, jeder Nachprüfung entzogen, gegebener Mutterboden für Psychosen". Mehr noch: der nationale Missionsgedanke oder auch „nationale Messianismus" ist imperial und sprengt das paritätisch-segmentierte Nebeneinander der Nationen zugunsten eines hierarchischen Über- und Unterordnungsprinzips. „Mission hat stets aggressiven Charakter". Sie ist damit dem Reichsgedanken verwandt und negiert das nationale Selbstbestimmungsprinzip.97

93 Michels, Der Patriotismus, S. 10 94 Michels, Der Patriotismus, S. 10. So soll Max Weber nach dem Erhalt schlechter Nachrichten von der Front seine Faust drohend gegen den Himmel gerichtet und gesagt haben: „Der verfluchte Schuft dort oben!". 95 Michels, Der Patriotismus, S. 12. 96 Michels, Der Jugendbegriff der Nation, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 139. Bd., III. Folge, Bd. 84, 1933, Sonderdruck 12 Seiten, S. 1. 97 Michels, Der Patriotismus, S. 40-42.

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3. Ein relativistisches Forschungsprogramm: das „Rembrandtsche Bild" Ein normativ ausgezeichnetes politisches Ordnungsmodell des Patriotismus, wie noch wenige Jahre zuvor das des „demokratischen Nationalismus", findet sich in Michels' Vorarbeiten zu einer Soziologie des Patriotismus nicht mehr. Sowohl der voluntaristische wie auch der milieutheoretische Begriff der Nation enthalten sich einer Stellungnahme, welche politische Ordnung für den Nationalstaat wünschenswert sei. Die Kontinuität des nationalen Selbstbestimmungsprinzips in seinem Denken98 ist jedenfalls spätestens nach dem Ersten Weltkrieg nicht länger auf die demokratische Staatsform angewiesen. Vielmehr wird Michels das nationale Selbstbestimmungsrecht auf das vor der Gefahr ethnischer Fremdherrschaft geschützte Leben im weitgehend homogenen Nationalstaat reduzieren. Die Demokratie fungiert beim späten Michels dann auch logischerweise nicht länger als Garant eines progressiven Patriotismus, sondern steht in einem weitaus komplizierteren Verhältnis zur Idee der Nation: als Fundamentaldemokratisierung im 19. Jahrhundert ist sie historisch die Bedingung der Intensivierung des Nationalbewußtseins, sie katapultiert die Nation auf den Thron der politischen Werte und macht sie zur Legitimitätsquelle des staatlichen Handelns - aber die Demokratie wird nunmehr dafür verantwortlich gemacht, daß der Patriotismus sich eher in seinen egoistischen und chauvinistischen Formen äußert: die Unterdrückung ethnischer Minderheiten, so Michels 1913, sei ein „Ausfluß der Demokratie. Da entsteht die Formel der Gleichsetzung von Staat und Volk, d. h. vom unbedingten, unumschränkten Recht des letzteren, oder vielmehr der es ausmachenden nationalen Majorität, der ethnischen Minorität kraft des Werkzeuges Staat Gesetze zu diktieren und sie zu vernichten."99 In der Realität ist „demokratischer Nationalismus" das Gegenteil dessen, was Michels einst von ihm erwartete: er leitet keine Konkretisierung des Internationalismus ein, sondern befördert im Namen des Volkes chauvinistisch-imperiale Tendenzen nach innen und nach außen. Unter diesen Bedingungen hat auch der sozialistische Internationalismus keine Zukunft. Die sozialistischen Parteien werden sich unter den Bedingungen der Demokratie dem Patriotismus des statistischen Medianbürgers annähern. Längst artikuliert sich im Proletariat eine imperiale „Sehnsucht nach Eroberung und Besiedelung eigener Kolonialgebiete, nach kriegerischer Betätigung", „wie man sie noch vor wenigen Jahren für unmöglich gehalten haben würde."100 Während die Diagnose des erodierenden Internationalismus frühere Prognosen bestätigt,101 steht die nüchterne Feststellung, daß eine imperialistische Politik durchaus im Interesse der nationalen Arbeiterschaft liegen kann,102 für die Erosion von Michels' 98 99 100 101 102

Vgl. hierzu den Überblick am Anfang von Kapitel II.4. „Demokratischer Nationalismus". Michels, Historische Analyse, S. 415. Michels, Historische Analyse, S. 428-429. Vgl. Kapitel IV.5. Probelauf für den Weltkrieg. Michels, Historische Analyse, S. 449. Der Imperialismus drohe „dem theoretischen Internationalismus der Arbeiterschaft nach und nach vollends den Garaus zu machen". „Der Imperialismus beabsichtigt, den Erzeugnissen des Landes alte Märkte zu sichern und neue Märkte zu erobern."

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VII. Die unvollendete Soziologie des Patriotismus

eigenen weltanschaulichen Gewißheiten aus seiner sozialistischen Phase. Bis etwa 1909 hätte er kriegerische Überfälle auf andere Länder als pathologische Abweichung vom zivilisatorischen Modernisierungspfad gewertet. Sein progressives weltanschauliches Koordinatensystem löst sich aber in den Jahren nach seiner Turiner Antrittsvorlesung auf. Der Destruktion seines Aufklärungs- und humanen Fortschrittsoptimismus durch völkerpsychologische Gesetze wie dem „der nationalen Transgression" korrespondiert dabei die Entdeckung des historischen Relativismus als einer neuen wissenschaftlichen Tugend. Allgemeinen Deutungsangeboten des Patriotismus aus der Milieutheorie und des Vertragsindividualismus steht nicht zufallig eine Flucht in die Geschichte der Vaterlandsbegriffe gegenüber, die sich einem logischen Muster kaum fügen wollen. Dem historischen Relativismus entspricht eine Definition von Nation, die wir ebenfalls in diesen Tagen bei Michels finden, die aber Nation so definiert, daß sie den Anspruch auf eine allgemeine Theorie gänzlich aufgibt. Sie lautet: „Die Nation ist ein veränderliches, komplexes Konglomerat. Da ist es nicht nur ein heikel Ding, Werturteile zu fallen, sondern selbst, Tatsachenbestände festzustellen. Heinrich Heine hat einmal darauf hingewiesen, daß mehr als ein Menschenalter dazu gehöre, das Wesen auch nur eines einzigen Menschen kennen zu lernen; eine Nation aber bestehe aus vielen Millionen von Menschen. Daher ist es unmöglich, eine Nation als Summe mehr oder weniger unbekannter, mit differenzierten Eigenschaften versehener Konkreter ,abstrahieren' zu wollen. Keine Motivreihe ist ausreichend, ein historisches Phänomen restlos zu erläutern. Jedes Movens ist mit hundert anderen verflochten. Bagehot hat gesagt, eine wirklich gute wissenschaftliche Arbeit müsse einem Rembrandtschen Bild gleichen, indem sie auf einige sozusagen bevorzugte Vorgänge, nämlich die wertvollsten und

Michels bezeichnet den Imperialismus zwar in Anlehnung an sozialistische Autoren als eine „aggressive Form des spezifisch kapitalistischen Patriotismus", er glaubt aber, daß dieser „kapitalistische Patriotismus" nicht nur im Interesse der Unternehmer liegt, sondern die Eroberung neuer Märkte nicht zuletzt für die heimische Arbeiterschaft attraktiv sei - zumindest dort, wo die industrielle Blüte eines Landes auf der Exportindustrie beruht. Dann nämlich „betrifft die Abhängigkeit vom die Waren dieser Industrie importierenden Ausland alle an der Herstellung dieser Waren interessierten Bevölkerungsteile, also Industrieherren und Aktionäre so gut wie Industriearbeiter." Ein Stocken des Absatzes hätte nicht nur einen Vermögensverlust der Unternehmen, sondern auch Arbeitslosigkeit zur Folge. „Diese Zusammenhänge sind so klar, daß sich die Industriearbeiterschaft auf die Dauer dem Bewußtsein der Produzentensolidarität" gegenüber dem Ausland nicht entziehen könne. Dieses Bewußtsein wird ironischerweise durch die sozialistische Doktrin selbst gestützt, wonach „die Produktivität der Arbeit über die Kaufkraft der einheimischen Massen immer mehr hinwegwächst, wodurch ein stets größer werdendes Bedürfnis nach wachsender Steigerung äußeren Konsums entsteht." Der Imperialismus gebe damit den Massen „Geld und Brot", vorausgesetzt, sie sind in der Lage, durch eine straffe Interessenorganisation „den Gewinn der Kapitalisten in etwas zu kontrollieren und sich einen Teil der Beute zu ertrotzen." Der englische Imperialismus zeigt, daß die „privilegierte, ständisch organisierte englische Arbeiterschaft diese Zusammenhänge begriffen und in engem Klasseninteresse ausgebeutet hat."

VII. Die unvollendete Soziologie des Patriotismus

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merkwürdigsten, ein scharfes Licht fallen lasse, während alles andere dem Dunkel anheimfalle. Wir sind uns voll bewußt, daß auch unsere Analyse des Patriotismus nur einem Rembrandtschen Bilde gleichen kann." 103 Mit dem „Rembrandtschen Bild" hat Michels ein Forschungsprogramm skizziert, das unverkennbar auf die Krise der geschichtsphilosophischen Metaerzählung des Fortschrittsoptimismus reagiert, getreu dem Motto: wer den Glauben an den die Einzelphänomene übergreifenden historischen Sinn, an das gemeinsame Ziel der historischen Entwicklung verliert, wendet sich dem Besonderen zu. „Immedesimarsi" - das „sich einfühlen" lautet von nun an das methodische Zauberwort, mit dem Michels seinen Erkenntnisanspruch begründen wird. Daß eine Nation ein veränderliches Konglomerat ist, hat Michels besonders drastisch am Beispiel Italiens erfahren müssen. Das imperialistische Abenteuer von 1911/12 namens Tripoliskrieg stürzt sein altes Italienbild in die Krise und verlangt eine Erklärung.

103 Michels, Historische Analyse, S. 445.

Vili. Apologie und Kritik des italienischen Imperialismus (1911-1912)

„Man muß schon manchmal ein schlechtes Geschäft machen, um zu vermeiden, eine schlechte Figur zu machen."1

Die italienische Expansionspolitik in den Jahren 1911 und 1912, die mit der Annexion von Tripolis beginnt, einen Krieg mit der Türkei zur Folge und mit dem Frieden von Lausanne die italienische De-facto-Gewalt über Libyen zum Ergebnis hat, ist für Robert Michels der „definitive Bruch Italiens mit der ethischen Politik"2 gewesen. Welchen Sensationswert der Tripoliskrieg für den Autor gehabt haben muß, erschließt sich insbesondere aus seinem Italien-Bild vor 1911. Da war Italien das demokratische, pazifistische und ,ethische' Land par excellence, in dem altruistische Prinzipien einen substantiellen Maßstab für das politische Handeln zu bilden schienen. Republiken wie Monarchien in aller Welt waren längst vom „modernen Imperialismus" durchdrungen nur Italien schien sich der allgemeinen Tendenz zu widersetzen: „Mit Liebe und Ehrfurcht schauten die Friedensfreunde und die Gegner der Expansionspolitik auf Italien, gleich als auf einen der Brandung trotzenden Felsen der Gerechtigkeit, den einzigen, den das Meer der stürmischen Wellen intakt gelassen hatte."3 Italien schien zum „Idealland nationaler Gerechtigkeit" geradezu prädestiniert, weil es einen „Einheitsstaat fast ohne heterogene Elemente" bildete und die „einzige aggressive Form italienischer Vaterlandsliebe" der Irredentismus war, dessen selbsterklärtes Ziel nicht die Unterdrückung fremder, sondern die „Befreiung" eigener Volksteile war. Der außergewöhnliche italienische Nationalgeist schien für Michels am treffendsten in der Losung der Garibaldianer in den Befreiungskämpfen gegen Österreich zum Ausdruck zu kommen: „Passate l'Alpi e tornerem fratelli!" - „Geht über die Alpen zurück, dann werden wir wieder zu Brüdern werden". Das, so Michels, sei „gesunder Internationalismus" gewesen.

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Michels, Rezension zu Gaetano Moscas Buch „Italia e Libia" (Milano 1912), in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 36, Heft 1, Januar 1913, S. 308-309. Michels, Italien von heute, Zürich/Leipzig 1930, S. 180. Michels, Elemente zur Entstehungsgeschichte des Imperialismus in Italien, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. XXXIV, Heft 1 und 2, Januar/Februar 1912, Separatabdruck 93 Seiten, S. 2.

Vili. Apologie und Kritik des italienischen Imperialismus

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1911 ist dies Geschichte. Jetzt entfaltet auch im klassischen Land des Nationalitätenprinzips das „Gesetz der nationalen Transgression" seine Wirkung. Michels hat den Tripoliskrieg ausdrücklich als Beweis seiner eigenen pessimistischen These gewertet, wonach Völker das Selbstbestimmungsrecht nur so lange als ethische Maxime pflegen, wie ihnen Gelegenheiten und Möglichkeiten zur Expansion versagt sind.4 In seinen beiden umfangreichen Imperialismusschriften5 verfolgt er allerdings einen komplexeren Erklärungsansatz, der über die nomothetische Ableitung des Besonderen aus einem allgemeingültigen Gesetz weit hinausgeht. Michels will den italienischen Imperialismus gerade aus seinen besonderen Motiven verstehen und widmet sich sowohl den materiellen Triebkräften des italienischen Imperialismus als auch den Stimmungen und Interpretationen der politischen und intellektuellen Deutungseliten, die dem Waffengang vorausgehen bzw. ihn legitimatorisch begleiten. Dazu dürfte ihm nicht zuletzt das Meinungsklima in seinem eigenen intellektuellen Umfeld inspiriert haben, nimmt er doch gerade unter den sozialistischen italienischen Akademikern in Reaktion auf den kolonialen Eroberungskrieg eine ungeahnte, blitzartige Bildung von Sozialpatriotismus wahr. Und nicht nur dort. Der gesamte Nationalcharakter scheint in jenen Tagen wie verwandelt: „die begeisterte und fast einstimmige, in die Tat umgesetzte Zustimmung des Friedensvolkes zu einer großzügigen Politik nationaler kriegerischer Expansion"6 verlangt nach einer Erklärung. Mit seiner Analyse des italienischen Libyen-Unternehmens leistet Michels einen im zeitgenössischen Kontext durchaus innovativen Beitrag zur Imperialismustheorie. Im Fall Italiens nämlich sind klassische ökonomische Zielsetzungen des Kolonialismus zwar virulent, aber weitaus weniger relevant als die demographischen - Überbevölkerung und Auswanderung betreifenden - Gründe sowie politische und „volkspsychologische" Motive. Der italienische Imperialismus ist ein „eigener Typus".7 Die besondere Pointe von Michels' Studie besteht zweifellos in ihrem Ergebnis, daß der italienische Imperialismus die von ihm angeführten demographischen und ökonomischen Ziele gänzlich verfehlen und sich das Tripolis-Unternehmen damit als nutzlos erweisen wird. Nur im Hinblick auf die politische und volkspsychologische Zielsetzung, sich im imperialen Konzert der europäischen Mächte Respekt zu verschaffen, sei ein relativer, aber auch vergänglicher Teilerfolg errungen worden, der wiederum dadurch eingeschränkt werde, daß Italien aufgrund seiner industriellen Unterentwicklung gar nicht in der Lage sei, das im Krieg eroberte Land aus eigener Kraft zu kolonialisieren. Michels spricht in diesem Zusammenhang vom kolonialpolitischen „Dilettantismus"8 der Italiener und tritt auch der heroischen Nationalpropaganda vom „großen Sieg"

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Michels, Elemente zur Entstehungsgeschichte des Imperialismus in Italien, a.a.O., S. 66. Vgl. zum „Gesetz der nationalen Transgression" auch Michels, Pazifismus und Nationalitätenprinzip in der Geschichte, a.a.O. Michels, Elemente zur Entstehungsgeschichte des Imperialismus in Italien, a.a.O.; erweiterte Fassung auf italienisch: Michels, L'Imperialismo italiano. Studi politico-demografici, Milano 1914. Michels, Elemente zur Entstehungsgeschichte des Imperialismus in Italien, S. 3. Michels, Elemente zur Entstehungsgeschichte des Imperialismus in Italien, S. 93. Michels, Entstehungsgeschichte des Imperialismus, S. 79.

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V i l i . Apologie und Kritik des italienischen Imperialismus

entgegen: aufgrund der erdrückenden Übermacht der italienischen Armee gegenüber den türkisch-arabischen Streitkräften könne von „großen militärischen Taten" nicht die Rede sein. 9 Würde man obendrein die Annexion Libyens nicht an den Zielsetzungen der Akteure messen, sondern einen „ethischen oder demokratischen" Maßstab anlegen, fiele die Bewertung noch negativer aus. Unter moralischen Gesichtspunkten sei ,jedweder Imperialismus als eine Strömung, die den Maßstab für fremdes Recht verloren hat und über die Selbstbestimmung ihr unbequemer Völkerschaften zur Tagesordnung übergeht, gerichtet." 10 Trotz dieser klaren Befunde und Worte ist in der Michels-Rezeption die Imperialismus-Studie als politisches Bekenntnis zur imperialistischen Politik des italienischen Königreiches gewertet worden, insbesondere als Bekenntnis zu der neuen imperialistischen Intellektuellenströmung u m Enrico Corradini, die seit 1909 mit weitreichenden Forderungen nach einer Expansionspolitik im Mittelmeerraum auftritt. 11 Ein Grund für diese - hier zu widerlegende - Einordnung dürfte dem Ansatz der früheren Forschung geschuldet sein, Michels' intellektuelle Biographie vor d e m Ersten Weltkrieg als Vorgeschichte der späteren philofaschistischen Optionen zu lesen. Ein weiterer Grund dürfte in Michels auffallend ,einfühlsamen' Darstellung liegen: seit seiner Parteiensoziologie lautet sein erklärtes Wissenschaftsideal, soziale Phänomene in ihrer „Wesenheit" zu

9 Michels, Entstehungsgeschichte des Imperialismus, S. 86. 10 Michels, Imperialismus, S. 92. 11 Die Einordnung Michels' als Imperialisten Corradinischer Provenienz hat für die weit verbreitete These einer kontinuierlichen Entwicklung von revolutionär-sorelianischen Syndikalisten zum Faschisten eine Scharnierfunktion. Besonders prägnant bei Winkler, in: Wehler 1972, S. 72: „Ganz im Sinne der Nationalisten um Enrico Corradini begreift Michels Italien als proletarische Nation und verteidigt seinen Expansionismus mit Argumenten, die die Rhetorik des späteren Faschismus vorwegnehmen." Ebenso Röhrich 1972, S. 11 Iff.; Sternhell, Entstehung der faschistischen Ideologie, a.a.O., S. 208, 243; Stölting, in: Kaesler 1999, S. 232, 241. Ohne sich auf die biographische Kontinuitätsthese vom revolutionären Voluntarismus einzulassen, spricht auch Milles (S. 15) von Michels als einem „Anhänger des italienischen Nationalismus [...] auch in seiner imperialistischen Gestalt" und sieht Pfetsch (1989: S. XX), „im Jahre 1911" eine Zäsur, in der sich Michels' Auffassungen „vom internationalen Sozialismus zum italienischen Nationalismus und Faschismus" wandelten. Tuccari, der eigentlich der Argumentation Röhrichs u. a. widerspricht und Michels' Werdegang aus dessen vermeintlich rousseauistisch geprägten Demokratiebegriff zu erklären versucht, ist gleichwohl ebenfalls der Meinung, daß die faschistische Option in seiner Imperialismus-Studie „präfiguriert" gewesen sei (Tuccari 1993, S. 310). Von diesen Einschätzungen unterscheidet sich die von Juan J. Linz. Linz (1966) nimmt zwar Röhrichs Argumentation vorweg, indem er schreibt, daß Michels' spätere faschistische Option einfach plausibler erscheine, wenn man davon ausgeht, er sei ein revolutionärer Syndikalist und die Klammer seines Denkens eine „voluntaristische Sicht der Welt" gewesen (S. XXI). Interessanterweise sieht er dann aber weniger aus ideologischen Gründen in der Imperialismus-Studie einen Vorboten der Faschismus-Schriften, sondern aus methodischen Gründen: Michels lasse sich von neuen Bewegungen, gerade wenn sie seiner eigenen Ausgangsposition widersprechen, irritieren; in einem zweiten Schritt sucht er sie zu verstehen und zu erklären und zerlegt sie in die Elemente ihrer Entstehung, um anschließend das Erklärte als eine historische Notwendigkeit zu begreifen (S. XXVII). Diese Beobachtung von Linz ist zutreffend.

Vili. Apologie und Kritik des italienischen Imperialismus

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erklären und in ihrer „Ätiologie" zu verstehen. 12 Das fuhrt gewiß zu einer verdächtig affirmativ wirkenden Darstellung im Haupttext, die allerdings, wie dieses Kapitel zeigen will, immer wieder von Distanzierungen durchbrochen oder durch separate Kritik in den Fußnoten ergänzt wird. „Italien besitzt ein reales Bedürfnis nach Ausdehnung", 13 lautet ein Fazit von Michels' Studie, das - isoliert zitiert - sicherlich als proimperialistische Äußerung verstanden werden kann, weil es im zeitgenössischen Diskurskontext die Position der Expansionsbefiirworter stärkt, wird ihnen hier doch von wissenschaftlich autorisierter Stelle das Argument der objektiven Notwendigkeit ihrer Ziele an die Hand gegeben. Indes ist die Begründung dieser These viel zu differenziert, als daß man dem Autor eindeutige politische Absichten unterstellen könnte.

1. Demographische Begründung und neomalthusianische Kritik des Kolonialkrieges Die italienische Expansionspolitik ist zunächst einmal das Ergebnis einer demographischen Krise, die Michels anhand von Statistiken sowie der gesellschaftlichen Interpretation dieser Statistiken aufzeigt. Das Land leidet diesen Zahlen zufolge nicht nur an einer permanenten Übervölkerung. Es hat auch eine im europäischen Vergleich hohe Bevölkerungsdichte, obwohl es aufgrund des vom permanenten Bevölkerungsüberschuß induzierten Mangels an Brot und Arbeit seit Jahren ein Auswanderungsland ist. Jährlich wandern hunderttausende italienische Staatsbürger (allein im Jahre 1909 über 625.000)14 aus, um in anderen europäischen Ländern, im Mittelmeerraum sowie in Übersee ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Über fünf Millionen Italiener, so eine Schätzung von 1908, leben im Ausland. 15 Die Rückkehrerquote bei den Auswanderern liege bei etwa fünfzig Prozent. Spätestens die zweite Generation der Auswandererfamilien gehe dem Mutterland dann unwiederbringlich verloren - eine Folge milieutheoretisch begründeter Assimilationstendenzen einerseits, staatsrechtlicher Optionen wie der doppelten Staatsbürgerschaft oder dem ius solis in Amerika andererseits. Die Situation der italienischen Migranten ist dabei aus integrationspolitischer Sicht prekär: sie entfremden sich der alten, „ohne in der neuen Heimat recht aufzugehen." 16 Mehrheitlich aus Landarbeitern und Tagelöhnern zusammengesetzt, teilen die italienischen Einwanderer das Schicksal von Armutsmigranten, die wie „verschämte Heimatlose" wirken: „Sie zogen nicht aus, um zu herrschen oder um frei zu leben, sondern um zu schuften und zu dienen". Die Folge sind Diffamierung und Ausgrenzung im Einwanderungsland und die Zementie-

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Michels, Imperialismus, S. 92. Michels, Imperialismus, S. 91. Vgl. Statistiken in Michels, Imperialismus, S. 4ff. Michels, Imperialismus, S. 15. Michels, Imperialismus, S. 29.

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Vili. Apologie und Kritik des italienischen Imperialismus

rung des „geringen Ansehens der Italiener im Ausland."17 Das wirtschaftliche Fortkommen ist ihnen erschwert. Die Erfolgreicheren unter ihnen, die meist mittelständischer Herkunft sind, bringen dagegen ihre im Mutterland erworbenen Kenntnisse, etwa im Wein- und Olivenbau, in ausländische Unternehmen ein, die dann in Konkurrenz gegen die Exportartikel des Mutterlandes treten. Es gibt zwar auch positive Auswirkungen der Auswanderung wie die regelmäßigen Geldsendungen an Familienangehörige im Herkunftsland. Der Saldo der Auswanderungsbilanz ist allerdings negativ, zumal wenn man sich, wie Michels, die nationalökonomische Betrachtungsweise Gustav Schmollers zu eigen macht. Dann nämlich ist der „erwachsene Mensch [...] ein Anlagekapital (auf ihn verwendete Kosten fur Speisung, Kleidung, Wohnung, Schule)". Auswanderer bedeuten für eine Volkswirtschaft „unvergoltene Ausgaben fur Erziehung sowie mitgenommenes Kapital".18 Wie man sieht, sind es nicht die Zahlen allein, welche die demographische Krise zur Krise machen. Dann könnte man ja auch Migration und Entnationalisierung der Auswanderer als eine Problemlösung verstehen, welche die Nöte auf dem heimischen Arbeitsmarkt lindert. Es ist vielmehr die patriotische und nationalökonomische Interpretation des Zahlenmaterials, durch welche die Krise als Krise wahrgenommen wird und ein akuter Handlungsbedarf entsteht: die „Sorge um die vorzugsweise nationale Erhaltung eines immensen, vorderhand im eigenen Lande nicht ernährbaren Bevölkerungsüberschusses. Der brennende Wunsch, die eigenen Söhne nicht mehr als Kulturdünger an fremde Völker abgeben und fremdes Kapital durch italienische Arbeitskraft und Geschicklichkeit mästen zu brauchen. Die Sehnsucht nach einem das Mutterland mit seinen Auswanderern verbindenden politischen, sprachlichen, intellektuellen, wirtschaftlichen Band; nach der Schaffung einer Siedlungskolonie für die überschüssigen Kräfte eines physiologisch kräftigen und gesunden Volkes."19 Die Kopplung von Zahlen und den auf sie reagierenden Stimmungen und Deutungsmustern machen Michels' Imperialismus-Studie gleichsam zu einem Gesellschaftsreport über die innere Verfassung des Vorkriegsitaliens. Die darin dokumentierte These, daß ,Tripolis' im Kontext der Feiern zum fünfzigsten Jahrestag der nationalen Einheit eine Erneuerung des italienischen Nationalgefühls bewirkt habe, die über alle Parteigrenzen hinweggegangen sei, ist nicht zu beanstanden. Sie wird von der Forschung bestätigt.20 Auf den neuen Nationalstolz, der in Michelsscher Lesart nicht zuletzt eine

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Michels, Imperialismus, S. 50. Michels, Imperialismus, S. 45. Michels, Imperialismus, S. 91-92. Vgl. Emilio Gentile, La Grande Italia. Ascesa e declino del mito della nazione nel ventesimo secolo, Mailand 1997, S. 12, 15; S. 105ff., der von dem die politischen Lager übergreifenden „allgemeinen Konsens" in der Tripolis-Politik spricht. Vgl. auch Silvio Lanaro, Nazione e Lavoro. Saggio sulla cultura borghese in Italia 1870-1925, 3. Ausg., Venezia 1988, S. 52, der vom „euphorischen Klima des Libyen-Krieges" spricht. Vgl. zudem Giuseppe Bedeschi, La fabbrica delle ideologie. Il pensiero politico nell'Italia del Novecento, Roma-Bari 2002, S. 52, der drei Ursachen des „nationalistischen Erwachens" nennt: a) die ungelösten Fragen von Demographie und Emigration, b) die Empörung über die österreichische Annektion Bosniens, bei der die italienische Seite im europäis-

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Kompensation nationaler Kränkungen ist, werde ich im Zusammenhang mit den politischen und psychologischen Gründen für den Krieg zurückkommen. Michels' Nähe zu den Phänomenen birgt freilich auch eine Gefahr. Sie gefährdet den Anspruch des Autors auf Objektivität und Neutralität. Schon im zeitgenössischen Kontext sieht sich Michels mit dieser Außenwirkung seiner Darstellung konfrontiert: in Dutzenden von Kommentaren in Deutschland und anderen Ländern wird ihm unterstellt, eine „Apologie" des italienischen Krieges verfaßt zu haben: „Meine Artikel wurden als [...] Rechtfertigung der italienischen Politik wiedergegeben."21 An dieser Rezeption ist der Autor selbst keineswegs schuldlos. Michels argumentiert, wo er die Motive begreiflich machen will, nicht aus der Position des kritischen Beobachters, er referiert nicht im Konjunktiv, sondern er befindet sich im Innenraum des Kriegsdiskurses und formuliert dessen Selbstrechtfertigungen im Indikativ: „es führt eine logische Kette von der Betrachtung der objektiven Tatsachen der italienischen Demographie zur Aufstellung des Postulats eigener Kolonien." Auswanderung, so Michels, führe zum Verlust an Menschen, zu Entnationalisierung, Entfremdung und Konkurrenz. „Ergo: Italien muß eigene Kolonien zu gründen suchen."22 Dieses Fazit findet sich obendrein in einem als „Synthese" bezeichneten Kapitel mit dem Titel „Das Recht auf politischdemographische Kolonisation".23 Ein Recht auf Kolonisation durch Besetzung fremder Gebiete gegen den Willen der dort ansässigen Bevölkerung kann es aber nach ethischen Maßstäben, wie dies Michels selbst ausführt,24 gar nicht geben. Das Recht, von dem hier die Rede ist, ist daher offensichtlich das Rechtsgefühl, das im Kontext des Tripolis-Krieges die inneritalienische Debatte dominiert. Für meine Lesart, daß Michels die imperialen Wandlungen der italienischen politischen Kultur nachvollziehbar machen, aber eben der affirmativen Darstellung zum Trotz nicht legitimieren25 will, sprechen seine Einwände gegen das demographische Argument. Der Bevölkerungsüberschuß und die daraus erwachsene Auswanderungsproblechen Machtspiel weder konsultiert wurde noch ihr territoriale Kompensationen in Aussicht gestellt worden sind, obwohl die Vergrößerung des Habsburgerreiches aufgrund der irredentistischen Konflikte nationale italienische Interessen berührte; c) die ökonomische Depression von 1907/8, welche die Verteilungskonflikte verschärfte und einige Unternehmer nach Investitionsgelegenheiten in möglichst - eigenen Kolonien Ausschau halten ließ. Bei Michels' Ursachenanalyse finden wir diese Punkte allesamt wieder, wobei der letztere - gewissermaßen die klassische Begründung des Imperialismus - von ihm als schwächste Triebfeder des Tripolis-Krieges eingestuft wird. 21 Michels, Imperialismo italiano, Prefazione, S. VII-XI: ,Anche in altri paesi questi miei articoli furono riportati e citati a titoli di documento e di giustifiazione per la politica italiana" (IX). Michels dokumentiert diese Rezeption in seiner Einleitung zur italienischen Ausgabe im übrigen, um gegen diesen Eindruck des Apologetischen zu „protestieren": „Trascrivo queste righe solo per protestare contro la parola apologia [...]" (XI). 22 Michels, Imperialismus, S. 47-48. 23 M. Hvhbg. 24 Vgl. oben bzw. Michels, Imperialismus, S. 92. 25 Es gibt zwar eine Rechtfertigungstendenz, aber diese wird erst im internationalen wie innenpolitischen polemischen Kontext plausibel. Daraufkomme ich am Schluß zurück.

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matik sind für ihn nämlich zu einem großen Teil Versäumnissen der italienischen Politik und Gesellschaft geschuldet. Es führt keine Einbahnstraße vom Bevölkerungswachstum zur Notwendigkeit oder gar zum „Recht auf Kolonisation". Derartige „demographische Gesetze, welche die Wissenschaft bisher für unumstößlich hielt", seien mit Blick auf hochindustrialisierte Länder wie Deutschland leicht zu widerlegen. Dort sei nämlich die Gleichzeitigkeit von drei Trends zu beobachten, „von denen sonst zwei den dritten auszuschließen pflegen: Abnahme der Auswanderung, bei gleichzeitigem starken Wachstum der Bevölkerung und Zunahme der Einwanderung".26 Dafür, daß die wachsende Zahl von Deutschen und Ausländern am „Futtertroge Germanias" Platz findet, „ohne daß im geringsten Hungersnot entsteht und Streit um die Plätze stattfindet", gibt es eine einfache Erklärung: „das Wunder des modernen Industriebetriebes". Deutschland habe einen Weg zur Absorption des Bevölkerungsüberschusses eingeschlagen, den Friedrich Naumann pointiert auf den Begriff gebracht hat: „es gäbe für ein kinderreiches Volk nur ein Mittel, dem Elend zu entgehen: es müsse ein Volk der Maschinen werden".27 Im Vergleich mit Deutschland werden so die Modernisierungsdefizite Italiens deutlich und ihre dramatischen Folgen: die Höhe der italienischen Auswanderung ist in dieser vergleichenden Perspektive „zum Teil eine künstliche, unnatürliche, hervorgerufen durch eine mangelhafte Organisation der Arbeit und eine durchaus ungenügende Ausnützung der natürlichen Kräfte des Landes". Von der Einführung intensiverer Bodenkultur, der Zerschlagung unrentabler Latifundien über die Besserung der Pachtverträge und die Bekämpfung des Absentismus der Großgrandbesitzer bis hin zur „inneren Kolonisation" wie der Trockenlegung sumpfigen Geländes gebe es für Italien durchaus eine Reihe von Ansatzpunkten für eine Rationalisierung der Wirtschaft und für Handlungsoptionen der staatlichen Verwaltung zur Bekämpfung der sozioökonomischen Auswanderungsursachen. Der Vergleich mit Deutschland macht aber auch die Grenzen dieses Modernisierungsansatzes deutlich. Die Industrialisierung stößt in Italien auf das Hindernis, daß das Land eines der kohlenärmsten Länder der Welt ist. Die Kohle sei aber der wichtigste Brennstoff der Industrialisierung. „Bisher ist die Verbreitung der Industrie der Verteilung der Kohlenlager nahe gefolgt. Kohlenreiche Länder waren industriereich, kohlenarme industriearm." Das Erfordernis des Ressourcenimports bedeute eine empfindliche finanzielle Belastung der einheimischen Industrie. Ob der Kohlemangel durch alternative, hydroelekrische Verfahren der Energiegewinnung kompensiert werden könne, sei fraglich.28 Fazit: Der Rückstand der italienischen Industrie „um ein Viertel Jahrhundert" hat teils natürliche Ursachen, teils ist er aber auch hausgemacht. Aufgrund der lang-

26 Michels, Imperialismus, S. 35. Ausführlich hierzu: Michels, Studi di fenomenologia demografica. Simultaneità dei tre termini: Aumento della popolazione, crescenza dell'immigrazione e decrescenza dell'emigrazione in Germania, in: La Riforma Sociale, anno XVIII, Vol. XXII, fase. 7, 1911, Sonderabdruck 40 Seiten. 27 Michels, Imperialismus, S. 36; Vgl. Friedrich Naumann, Neudeutsche Wirtschaftspolitik, Berlin 1902, S. 21. 28 Michels, Imperialismus, S. 37-38.

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jährigen Reformarbeit, die Italien bevorstehe, sei vorerst mit einer Reduzierung der Auswanderung durch Industrialisierungsfortschritte nicht zu rechnen. Mögen also die Industrialisierungsdefizite unter der Hand ein Argument dafür liefern, daß es zur Kolonisationspolitik in absehbarer Zeit keine Alternative gebe, so sind sie andererseits das zentrale Gegenargument gegen die von den Imperialisten angeführten ökonomischen Begründungen: die italienische Ausfiihrindustrie sei viel zu unterentwickelt, als daß sie rational nachvollziehbar die Sicherung von Absatzmärkten durch eine imperialistische Politik rechtfertigen könnte.29 Während der Industriepolitik somit enge Grenzen gesetzt sind, in absehbarer Zeit zu einer alternativen, nicht-kolonialistischen Lösung des demographischen Problems beizutragen, gibt es in der Gesellschaftspolitik durchaus ein taugliches Mittel, die Auswanderung zu bekämpfen: die „Anwendung neomalthusianischer Mittel zur Herabsetzung des Geburtenüberschusses." Michels selbst betätigt sich zu diesem Zeitpunkt innerhalb der italienischen Reformdebatte als entschiedener Propagandist der Empfängnisverhütung und einer progressiven Sexualpädagogik, von der er sich nicht zuletzt einen Fortschritt in der Gesellschaftsmoral verspricht.30 Das wird auch in seiner Imperialismus-Studie deutlich, wo er im Hinblick auf das italienische Reproduktionsverhalten schreibt, daß „eine Bevölkerung, die mehr Kinder in die Welt setzt, als ihr Land ernähren kann, und sie somit sicherer Misere überliefert, sexual leichtsinnig und ökonomisch unvorsorglich handelt und moralisch nur ein schwach entwickeltes Verantwortlichkeitsgefühl besitzt."31 Ein konsequenter „Neomalthusianismus" würde auch die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt entschärfen und somit gerade die soziale Situation der Lohnarbeiter verbessern. Das Problem dieses Ansatzes besteht darin, daß Michels in Italien aufgrund von ideologischen und mentalen Vorbehalten für diese Lösung keine Mehrheiten ausfindig machen kann. Der größte Gegner des Neomalthusianismus sei die Dominanz von „Gedankenreihen militärischer und nationaler Natur" in der politischen Kultur, welche die „Macht eines Volkes" nach der „Zahl seiner wehrhaften Männer" berechnen und trotz der aus der Überbevölkerung resultierenden Versorgungskrise den Geburtenüberschuß zur „nationalen Pflicht" erklären, während Strategien seiner Reduzierung als „Verrat am Vaterland" diffamiert würden. In seinen Beiträgen zur Sexualreform hat Michels diese Position als militaristisches Nutzenkalkül kritisiert, das nur an der Vermehrung „menschlichen Kanonenfutters" interessiert sei.32 Ein weiteres Hindernis für eine progressive

29 Michels, Imperialismus, S. 65. 30 So beteiligt er sich als Referent auf dem Florentiner Sexualkongress vom 17. bis 20. November 1910. Vgl. Michels, Ein sexueller Kongreß in Italien, in: Die Neue Generation, 7. Jg., Heft 2, Februar 1911, S. 63-70. Vgl. auch Michels, Il Neomalthusianismo: il suo diritto all'esistenza, in: Critica Sociale. Rivista quindicinale del socialismo, anno XXI, Nr. 8, S. 121-123; sowie das Kapitel II.2. Erotik, Feminismus und neue Sexualmoral. 31 Michels, Imperialismus, S. 42. 32 Vgl. seine Antwort auf eine Umfrage der Zeitschrift „Pagine Libere": Michels, Risposta all'inchiesta sull'opportunità della propaganda neomalthusiana in Italia, in: Pagine Libere, Jg. IV, Januar 1910, S. 44-46, wo er resümiert, daß nur Enthaltsamkeitsgläubige („credenti all'astenzione") und

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Sexualmoral sei die weit verbreitete Ansicht, Verhütungspraktiken seien der „geistigen und körperlichen Gesundheit des Volkes" schädlich. Im linksradikalen Bereich schließlich kursieren die „nicht ernst zu nehmenden Bedenken einiger syndikalistischer Theoretiker", die sich von einer hohen Natalität eine wachsende Arbeiterschaft, wachsende Verelendung und folglich die soziale Revolution erhoffen. Sozialistische Sexualreformer wie Giulio Casalini seien mit ihren Plädoyers fiir eine nationale Geburtenkontrolle Ausnahmeerscheinungen und es gebe ,jetzt weniger denn je" Anzeichen dafür, daran könnte sich bald etwas ändern.33

2. Politische Begründung der Expansion mit antiimperialistischen Tönen Die demographischen Beweggründe und vagen Hoffnungen auf eine Absorption des Bevölkerungsüberschusses durch eigene Kolonien allein hätten Italien wohl kaum zum Krieg veranlaßt, wenn sich nicht gleichzeitig seine politische Kultur gewandelt hätte und ein allgemeines Klima entstanden wäre, in dem die militärische Eroberung von Kolonien als ,gerechte Sache' ausgegeben werden konnte. Die damit verbundene Abkehr vom Konsens des Nationalitätenprinzips und der neue, sich auf die Fähigkeit zur Expansion berufende Nationalstolz werden von Michels als Reaktionen auf eine tieferliegende Kränkung des nationalen Selbstbewußtseins analysiert. Das „plötzliche Erwachen eines kriegerischen Imperialismus" stehe in engem Zusammenhang mit den „kolonialen Kämpfen und kolonialen Eroberungen, wie sie in jüngster Zeit insbesondere von Frankreich, Deutschland, England, Japan, Rußland und den Vereinigten Staaten betrieben wurden". In diesem Kontext sei in der italienischen öffentlichen Meinung der „bittere Gedanke" aufgekommen, „ausgeschlossen zu sein aus der Reihe der Völker, die da wollen und wagen, derer, die da auf Raub ausgehen und mit Beute beladen ihr Schifflein nach Hause fahren. Ausgeschlossen, teils durch eigene Schuld und Verzagtheit, teils durch die Böswilligkeit der Nachbarvölker."34 Diese Stimmung sei besonders durch den Vergleich mit der Politik Österreichs angeheizt worden. Die österreichische Annexion Bosniens und der Herzegowina (Oktober 1908), bei der Italien keine territorialen Entschädigungen als Kompensation für den Zuwachs seines „mächtigen Rivalen" hat durchsetzen können, habe sich mit dem Unmut über die langjährigen und immer noch erfolglosen Kämpfe um die Gleichberechtigung der italienischen Irredenta in Österreich „multipliziert". In diesem Kontext sei neben dem „alten Irredentismus" um 1909 der ,junge Nationalismus" entstanden, der die irredentistische Forderung nach einer Erweiterung der Nordostgrenze zwar in sein Programm übernommen hat, aber viel stärker den Blick auf das Mittelmeer richtet. Dieser , junge Nationalismus" äußert sich in einer Vielzahl von Zeitungsgründungen „utilitari militari propensi a qualunque aumento di pendu à canon umana" etwas gegen die neomalthusianische Reform haben könnten. 33 Michels, Imperialismus, S. 44. 34 Michels, Imperialismus, S. 67.

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sowie im publizistischen Engagement von Intellektuellen wie Enrico Corradini35 und einigen anderen, darunter auch der uns aus Michels' sozialistischer Frühphase bekannte Lombroso-Schüler Scipio Sighele.36 Auf dem ersten Kongreß der „Associazione nazionalista" in Florenz im Dezember 1910 habe „wie bei allen jungen und improvisierten Bewegungen" zwar in vielen Fragen Unklarheit geherrscht. Allerdings habe es einen außenpolitischen Grundkonsens darin gegeben, daß Italien sich vom Dreibund verabschieden solle, ohne neue Bündnisse einzugehen. „Das Losungswort war etwa: Mißtrauet den Verbündeten (Österreich, Deutschland), aber mißtrauet auch den Freunden (Frankreich und England)!"37 Ursächlich für dieses Mißtrauen und die trotzige Losung „Italia farà da sè" ist weniger ein stabiles Selbstbewußtsein, sondern eine Kränkung, eine „gereizte Denkweise", die die neue Strömung charakterisiert, insbesondere seit der Zweiten MarokkoKrise von 1911, an deren Ende Deutschland und Frankreich die französische Vorherrschaft in Marokko besiegelten, ohne daß den Italienern irgendein Mitspracherecht bei der Aufteilung der nordafrikanischen Küste eingeräumt wurde. In dieser Situation habe der neue Nationalismus nicht nur das Nationalitätenprinzip ad acta gelegt, er hat die überkommenen ethischen Festlegungen auch fur die Schwäche der italienischen Politik verantwortlich gemacht. Diese Stimmung gibt Michels mit den Worten wieder: „Warum gönnt man nur uns allein keinen Machtzuwachs? Warum sollen wir vor allen Völkern Europas allein dem politisch schädlichen Idealismus huldigen, dem Nationalitätenprinzip zu Ehren auf jede Mehr-als-Landesverteidigungs-Politik verzichten und deshalb, während rechts und links von uns die Völker zum Sturm blasen und die Welt untereinander aufteilen, in regungsloser Ehrlichkeit den spottenden Brüdern vom europäischen Konzert das gute Beispiel eines Eremiten geben, der aus christlicher Nächstenliebe auf die Güter dieser Welt verzichtet [,..]?"38 Kurzum: unter dem Eindruck der kolonialen Aufteilung Afrikas durch die anderen europäischen Mächte ist der Wunsch gewachsen, endlich „Realpolitik" zu betreiben. Dafür, daß die Gedanken Corradinis und anderer nationalistischer Intellektueller so unmittelbar in die Tat umgesetzt worden sind, habe es aber auch der Gunst der Umstände bedurft: erstens die patriotische Massenbegeisterung, die durch die Feiern des Jahres 1911, dem fünfzigsten Jahrestag der nationalstaatlichen Einheit, erzeugt worden war. Zweitens die nach Abschluß des deutsch-französischen Marokko-Vertrages eingetretene günstige internationale Lage. Deutschland und Frankreich waren nach der „langen bangen Spannung des Marokkokonfliktes in der détente begriffen und deshalb, nach psychologischen Gesetzen, die auch die Völker regieren, ruhebedürftig". Gleichzeitig 35 Für die Programmatik des neuen Nationalismus zentral ist dessen Schrift „II Volere d'Italia" (Neapel 1911) 36 Vgl. Scipio Sighele, Pagine Nazionaliste, Mailand 1910; ders., Il Nazionalismo italiano e i partiti politici, Mailand 1911. 37 Michels, Imperialismus, S. 69. 38 Michels, Imperialismus, S. 69.

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habe der Antagonismus zwischen Deutschland und England einen neuen Höhepunkt erreicht. Ein Widerspruch gegen die italienischen Kolonialbestrebungen sei von keiner dieser beiden Seiten zu erwarten gewesen, weil er Italien automatisch in das Lager des Gegners getrieben hätte. Die Beziehungen zu Frankreich schienen obendrein durch den Geheimvertrag abgesichert, den Italien 1902 mit Frankreich geschlossen hatte und in dem ihm das politisch der Türkei angegliederte Libyen als „Interessensphäre" zugewiesen worden war. Ausschlaggebend fur den Waffengang war schließlich die Einsicht der Regierung in die „Notwendigkeit, die durch den Marokkovertrag entstandene Kräfteverschiebung im Mittelmeer durch die Eroberung des einzigen noch nicht in fremden Händen befindlichen [...] Länderkomplexes zu kompensieren und zu verhindern, daß England mit Ägypten, Malta, Cypern und Gibraltar und Frankreich mit Tunis, Algerien und Marokko die Herren des Meeres wurden, dessen Wellen die Gestade der Halbinsel bespülten." In dieser einmaligen Situation „hieß es zugreifen oder Verzicht leisten".39 Von diesem nüchternen Abwägen der Notwendigkeit und der Gelegenheit eines Kolonialkrieges durch die Regierung sind freilich die über das Tripolis-Unternehmen weit hinaus gehenden Erwartungshaltungen und Zielvorstellungen des imperialistischen Diskurses zu unterscheiden. Das Aufblühen des Imperialismus werde nämlich, wie Michels feststellt, durch „historische Reminiszenzen" an das Imperium Romanum genährt. Das Mittelmeer gelte in den Köpfen von Poeten, Altertumsforschern und politischen Romantikern als „Mar Nostrum" und die nordafrikanische Küste werde in dieser Debatte als „altes Römerland" beansprucht: „Dieser Anspruch malt sich in den Köpfen der Romantiker geradezu als ein Rechtsanspruch, ein moralisches Postulat. Die anderthalbtausendjährige Unterbrechung mit all ihren tatsächlichen Rechtsverhältnissen formalrechtlicher wie sittlicher Natur wird kühn übersprungen. Da hört man Sentenzen von der logischen Schlußkraft wie folgende: Tripolis, das uns gehörte, muß wieder unser werden." Diese Facette des Kriegsdiskurses verbinde die italienischen Imperialisten mit den Imperialisten aller übrigen Länder, den Deutschen, Griechen, Franzosen und Serben, insofern sie ihre Forderungen mit der Wiederherstellung vergangener Reiche begründen, die als Vorläuferstaaten des eigenen Nationalstaates ausgegeben werden. In diesem Punkt - mag man auch im übrigen Michels' Darstellung der demographischen und politisch-psychologischen Kriegsgründe apologetische Tendenzen unterstellen können - schlägt Michels geradezu antiimperialistische Töne an. Die Legitimation imperialer Machtansprüche über die Kontinuitätshypothese zwischen den alten Reichen und den jungen Nationalstaaten verwirft er als pseudohistorisch und „ungemein gefährlich": „Die Theorie: was ehemals unser und von unserem Blute durchtränkt, muß wieder von uns in Besitz genommen werden, muß in ihrer bunten Verwirrung aller

39 Michels, Imperialismus, S. 70.

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Rechtsbegriffe, Sprachgrenzen und Selbstbestimmungsrechte der Völker dazu fuhren, den Krieg aller gegen alle zu provozieren und die Geschichte nicht auf Grund moderner Rechtsbegriffe sondern alten Unrechtes zu revidieren. Wenn alle Nationen es als ihr historisches Recht beanspruchen dürften, die Grenzen ihrer , Glanzzeit' - die zudem meist noch in Epochen zurückreichen, in denen die ethnische Zusammensetzung der Völker eine ganz andere war, als sie es heute ist wiederherzustellen, würde Europa in einen Tummelplatz wilder Horden verwandelt und in die Zustände der Völkerwanderung zurückversetzt werden."40 Wenn man schon Michels' Imperialismusstudie als politisches Bekenntnis verstehen will, dann verbietet sich auf jeden Fall eine Einstufung in den extremen Imperialismus und läßt sich Michels' Position im Kriegsdiskurs allenfalls als moderat bezeichnen. Dafür spricht auch, daß er diejenigen, die fordern, das 1887 von Frankreich besetzte Tunis „in einem blutigen und ungewissen Krieg" zurückzuerobern, als „Hitzköpfe" bezeichnet. Wir können also festhalten, daß Michels innerhalb bestimmter Grenzen, die die Begründung als auch die Zielsetzung betreffen, für die imperialistische Politik von 1911/12 Verständnis aufbringt. Eine andere Frage ist es, ob er das Tripolis-Unternehmen im Hinblick auf diese verständlichen Motive und Ziele für funktional hält.

3. Die Dysfiinktionalität des Kolonialkrieges Die Vorzeichen waren nicht besonders günstig. Tripolis - wenn auch von Michels als „definitiver Bruch mit der ethischen Politik" Italiens charakterisiert - war nicht deren erster. Schon in Reaktion auf das nationale Trauma der Besetzung Tunis' durch die Franzosen war Italien bekanntlich dem „Dreibund" mit Deutschland und Österreich beigetreten, hatte damit zumindest regierungsofFiziell seine irredentistischen Ansprüche gegen Österreich zurückschrauben müssen und war gleichzeitig in sein erstes imperiales Abenteuer in Abbessinien gestartet, mit dem die von den Franzosen zugefügte Schmach kompensiert werden sollte. Abbessinien wurde 1889 Protektorat, ging dann aber wieder nach einem in Überschätzung der eigenen Kräfte begonnenen Krieg verloren. Der Krieg gegen Abbessinien von 1894 und die Niederlage von Adua 1896 hatten den Sturz der Regierung Crispí zur Folge. Mit Blick auf Abbessinien schreibt Michels, es sei „der traurige Versuch" gewesen, „an der Ostnordostküste Afrikas das zu gewinnen, was an der Nordostküste verloren war. Es war ein Versuch mit untauglichen Mitteln an einem untauglichen Objekt." Was von diesem ersten Kolonialkrieg übrig geblieben sei, Eritrea und Benadir, sei ungeeignet, imperialistische Bedürfnisse zu befriedigen. Völlig unbrauchbar sei es auch als Siedlungsland.41

40 Michels, Imperialismus, S. 74. 41 Michels, Imperialismus, S. 75.

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Folgt man Michels' Analyse des Kolonialkrieges von 1911, dann wird auch dessen Kosten-Nutzen-Bilanz nicht viel besser aussehen als der vorangegangene. Ökonomisch betrachtet, habe der Krieg zwar in bestimmten Industriesektoren für einen kriegstypischen Auftragsboom gesorgt und sei in der Metallwaren-, Nahrungsmittel- und in der Textilindustrie sowie im Schiffsbau eine industrielle „geschäftspatriotische Kriegspartei" entstanden, die von zahlreichen Lieferaufträgen der Regierung profitiert. Dies sei aber logischerweise nur eine vorübergehende Erscheinung. Für die italienische Exportindustrie der Nachkriegszeit werde die Gewinnung von Tripolis dagegen keine „nennenswerten Vorteile" bieten. Das ergebe sich einerseits daraus, daß „Tripolitanien" schon vor dem Krieg als Handelsraum keine besondere Rolle spielte, und andererseits durch den Krieg selbst, der bereits bestehende soziostrukturelle Handelshemmnisse weiter potenziert habe: „die natürliche Armut der Bevölkerung, welche durch die Greuel und die Zerstörung dieses ganz besonders unerbittlichen und verheerenden Krieges noch bis an die Grenzen des Menschenmöglichen gesteigert worden ist, wird den Handel und Wandel auch nach Wiederherstellung geordneter Zustände noch auf Jahrzehnte hinaus lahmlegen." 42 Ebenso ist der Krieg selbst ein mitentscheidender Grund dafür, daß sich die demographisch motivierten Zielvorstellungen, die ihm zugrunde lagen, nicht realisieren lassen werden. Auch wenn die arabische Bevölkerung in Libyen Merkmale der Unterentwicklung aufweise, so würden die Italiener doch auf ein relativ selbstbewußtes „Kulturvolk" stoßen, das seine Identitätsreserven aus einer „großen Vergangenheit" beziehe und sich nicht ohne weiteres in die „italienische Abart der westeuropäischen Kultur" integrieren lasse. Das zeige schon die Koexistenz „ohne jeden inneren Kontakt" zwischen Franzosen und Arabern in den französischen Kolonien unter friedlichen Bedingungen. „Die Italiener aber haben durch ihre Kriegführung in der mohammedanischen Bevölkerung auf Jahrzehnte, vielleicht auf Jahrhunderte hinaus Haß gesät und auf diese Weise ein ohnehin der Anpassungsfähigkeit entbehrendes, stolzes und eigenartiges Volk zu jeder, für den Kulturfortschritt eines Landes so unerläßlichen Zusammenarbeit untauglich gemacht." 43 Ein Kolonisationsprojekt, so läßt sich umgekehrt aus diesen Zeilen schlußfolgem, kann Michels zufolge nur dann erfolgreich sein, wenn die Integration der einheimischen Bevölkerung in den neuen politischen Verband gelingt. Der Erfolg hängt zweitens von der richtigen soziologischen Mischung der Kolonialisten ab. Ob dies in Tripolis so sein wird, ist fraglich: Bauern, Lohn- und Facharbeiter, Handwerker und Unternehmer mit Eigenkapital zeigen nur wenig Interesse an der Kolonie. Stattdessen habe Tripolis eine Reihe von „Abenteurern" angezogen, „die durch die Erzählungen der nationalistischen Presse über das neue Eldorado angelockt worden sind". Darüberhinaus sei der übliche „Militärtroß" von Hausierern, Dirnen und Schankwirten zu verzeichnen, die von den stationierten Soldaten leben. Für Siedlungsbauern dagegen biete das Land mit seiner fünf Monate andauernden Trockenheit und den

42 Michels, Imperialismus, S. 78. 43 Michels, Imperialismus, S. 80.

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geringen Erträgen keinerlei Anreiz. Für die Lohnarbeiter ist die Kolonie kaum attraktiv, weil die einheimische Arbeitskraft so billig ist, daß sie mit ihr nicht konkurrieren können. Amerika wird gerade für die mittellosen Lohnarbeiter, die auf dem italienischen Arbeitsmarkt nicht gebraucht werden, weiterhin die erste Adresse ihrer Auswanderungsziele sein. Am demographischen Maßstab gemessen, „wird die Besetzung von Tripolis von der Geschichte wahrscheinlich wohl als ein aus falscher Berechnung getaner Fehlschritt gebucht werden". 44 Und wenn Michels' soziologische Analyse der Tripolis-Siedler richtig ist, können wir schlußfolgern, daß der italienische Imperialismus in Tripolis auch an einem weiteren Anspruch gescheitert ist: nämlich ein proletarischer Imperialismus zu sein. Mit diesem Slogan und der darin enthaltenen Verheißimg, eine neue nationale Heimstatt für die italienischen Armutsmigranten zu schaffen, hatte Corradini seinen imperialistischen Forderungen sozialpatriotischen Nachdruck zu geben versucht. Einen Teilerfolg indirekter Art gesteht Michels dem italienischen Imperialismus immerhin zu. Der Krieg war ja auch aus nationalen Prestigegründen geführt worden. In der Vorkriegszeit sei in der öffentlichen Meinung immer wieder geäußert worden, daß die Japaner von Europa zwar als Künstler und Ästheten respektiert, als „politisches Volk" aber erst in dem Moment geachtet und geehrt worden seien, als sie sich durch den militärischen Sieg über Rußland mit den Waffen in der Hand Respekt zu schaffen vermocht hatten. Offenbar sah man in Italien die eigene Situation ganz ähnlich und erhoffte sich von den Siegen in Nordafrika, daß sie auch den italienischen Emigranten im Ausland ein größeres Ansehen verschaffen könnten. Daß der italienische Auswanderer nach der Eroberung Tripolis' „sein Haupt stolzer heben" werde, das vermutet auch Michels. „Das Selbstgefühl des Italienertums wird [...] in der ganzen Welt erwachen und auch im Ärmsten hervortreten, wenn er sich seines Stammes wegen im Auslande verachtet fühlen wird." Michels' Hypothese basiert auf einem völkerpsychologischen Machiavellismus: „Die Nichtitaliener [...], die in ihrer großen Mehrzahl nicht von philosophischen und ethischen Kategorien geleitet werden, sondern nur vor Macht und Erfolg Respekt und Ehrfurcht haben, werden den Angehörigen des siegreichen Volkes jenes Ansehen nicht versagen, das sie den Angehörigen des friedlichen Volkes versagt hatten." 45 Diese veränderte Wahrnehmung ist für die italienischen Lohnarbeiter im Ausland durchaus auch von praktischem Nutzen. Sie dürften sich die schlechte Behandlung und die geringen Löhne nicht mehr so leicht bieten lassen, weil das Tripolis-Prestige den„high spirits" in Lohnbewegungen zu gute komme und den „Grad an Zusammenhalt und Selbstgefühl" steigere. „Selbstvertrauen ist ein überaus wertvoller Faktor in Klassenkämpfen." Michels schränkt die Bedeutung dieser Beziehung von Außenpolitik und Migrantensituation aber erheblich ein. Das neue außenpolitische Prestige könne nur insoweit Mißstände in der Arbeitsmigration beseitigen, als diese in der Vorkriegszeit tatsächlich auf die vermeintliche ,3ravheit" der italienischen Regierungspolitik beruhten. „Die der

44 Michels, Imperialismus, S. 85. 45 Michels, Imperialismus, S. 88.

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Auswanderung inhärenten proletarischen Stigmaten indes wird auch ein siegreicher Krieg nicht aus der Welt schaffen können." Michels empfiehlt daher einen alternativen Lösungsweg, der den imperialistischen Lösungsansatz als dysfunktional verwirft: „Um sich im Auslande dauernden Respekt zu verschaffen, muß der italienische Auswanderer eine größere Schulbildung und ein größeres Kapital mitbringen, als er es heute tut. Ein anderes Mittel gibt es nicht."*6 Die hier angemahnte Verbesserung der Allgemeinbildung und der Vermögenssituation in den Unterschichten verweist auf das innenpolitische Reformprogramm des Ministerpräsidenten Giolitti, der sich zu diesem Zeitpunkt u. a. für die Erweiterung des Wahlrechtes und ein allgemeines Sozialversicherungssystem ausgesprochen hatte. Indes zeigt sich Michels im Hinblick auf die politischen und sozialen Reformen äußerst skeptisch. Und wieder einmal ist es der Krieg, den er dafür verantwortlich macht, daß die meisten Reformen auf halbem Wege stecken bleiben oder gar nicht mehr in Angriff genommen werden: „Wahrscheinlich dünkt es mir [...] zu sein, daß Italien seinen ersten größeren imperialistischen Versuch mit sehr empfindlichen Rückschlägen in der inneren Politik, insbesondere auch erhöhter Steuerlast, wird bezahlen müssen. Daß die Arbeiterbewegung als solche und der Sozialismus auf Jahre hinaus zum mindesten innerlich geschwächt aus dem Kriege hervorgehen werden, ist ebenfalls ausgemachte Sache."47 Michels' Prognose ist kurz darauf zumindest in einem wesentlichen Punkt widerlegt worden: durch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts von 1912. Auch dies war eine Folge des Krieges, der einen Umschwung der öffentlichen Meinung bewirkt hatte: „Allenthalben wird anerkannt, daß man den Männern, die sich so gut im Felde zu schlagen verstanden hätten, die Ausübung der ersten Bürgerpflicht vorzuenthalten nicht mehr das Recht habe."48

4. Ideengeschichtlicher Kontext und politisch-moderierende Motivation von Michels' Imperialismus-Studie Wie gesehen, hat Michels nur für einen Teil der Selbstbegründungen des italienischen Imperialismus Verständnis aufgebracht und seinen extremen Varianten eine klare Absage erteilt. Corradini und Sighele, die ihre weitgehenden Territorialforderungen mit dem Hinweis auf einstige römische Grundbasen legitimieren, nennt er auch an anderer Stelle „nationalistische Heißsporne".49 Würde die italienische Regierung Corradinis politischen Empfehlungen folgen, so liefe das auf eine „AHerweltsfeindespolitik" hinaus.50 46 47 48 49

Michels, Imperialismus. S. 89 [meine Hvhbg.]. Michels, Imperialismus, S. 92. Michels, Imperialismus, S. 92. Michels, Rußland als Vormacht des Slawentums und das moderne Italien, in: Zeitschrift für Politik, IV. Band, Heft 4, 1911, S. 554-568, S. 565. 50 Michels, Rezension zu Corradini, Il Volere d'Italia (Napoli 1911), in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, Bd. XXXII, Heft 2, März 1911, S. 604-606.

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Was die demographischen und ökonomischen Ziele der italienischen Tripolis-Politik betrifft, so ist Michels' Analyse dazu angetan, die Zielverwirklichung mit den Mitteln des Krieges für gescheitert zu erklären. Als einzig greifbarer Erfolg bleibt die gelungene machtpolitische Demonstration übrig. In der Geschichte der Imperialismustheorien nimmt Michels mit seiner Studie eine Sonderstellung ein. Die gängigen zeitgenössischen ökonomischen bzw. finanzökonomischen Erklärungsansätze, wie sie - unterschiedlich elaboriert - von John A. Hobson,51 Rudolf Hilferding52 und Rosa Luxemburg53 vorgetragen worden sind, scheinen im italienischen Fall nicht zu greifen. Aufgrund seiner These von der ökonomischen Dysfunktionalität des Tripolis-Krieges könnte man Michels eher mit Joseph A. Schumpet e r Ansatz vergleichen. Dieser stellt die kritische Imperialismustheorie sozialistischer Provenienz auf den Kopf, indem er postuliert, der Kapitalismus sei seinem Wesen nach eigentlich „antiimperialistisch". Schumpeter bestreitet so die Möglichkeit einer Ableitung imperialistischer Politik aus ökonomischem Nutzenkalkül und sucht - darin eben Michels ähnlich - nach seinen psychologischen Ursachen. Schumpeter zufolge ist der „Imperialismus [...] ein Atavismus". Er sei gemeinsam mit anderen irrationalen Einstellungen wie Militarismus und Nationalismus ein psychologisches Relikt „früherer Epochen", das die Staaten der Gegenwart hindere, auf einem Niveau zu agieren, das ihrer Entwicklung angemessen wäre.54 Was Michels von Schumpeter unterscheidet, ist der Zungenschlag, mit dem der psychologische und anti-ökonomistische Ansatz durchbuchstabiert wird. Michels würde den italienischen Imperialismus nicht als „Atavismus" bezeichnen. Vielmehr leistet er einen Beitrag zur politischen Imperialismustheorie, wie sie sich in den Arbeiten Wolfgang J. Mommsens findet: ebenfalls gegen ökonomische Deutungsmuster gerichtet, hat dieser auf die Bedeutung von „politischen Erwartungen und Sehnsüchten nationalistischer Färbung" insistiert und resümiert: „Erst im Streckbett nationaler Rivalitäten entwickelte der moderne Kapitalismus imperialistische Züge."55 Dieses Erklärungsmodell scheint dem Michelsschen Ansatz am nächsten zu kommen, der die imperiale Wende der italienischen Politik - von den demographischen Ursachen einmal abgesehen - aus einem nationalen Prestigedenken heraus erklärt, das maßgeblich aus dem Erlebnis der kolonialen Expansion der anderen Großmächte resultiert. Wenn wir somit Michels' Studie der politischen Imperialismustheorie zuordnen, stellt sich vor dem Hintergrund ihrer - der negativen Kriegsbilanz zum Trotz - apolo-

51 John A. Hobson, Imperialism: A Study, 2. Aufl., London 1905. 52 Rudolf Hilferding, Das Finanzkapital. Eine Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus, Wien 1910. 53 Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Kapitalismus, 1913; ND Frankfurt 1970. 54 Joseph A. Schumpeter, Zur Soziologie der Imperialismen (1919), in: ders.: Aufsätze zur Soziologie, Tübingen 1953; zit. nach Walther, Rudolf: Imperialismus, in: Geschichtliche Grundbegriffe (GG), Bd.3 H-Me, Stuttgart 1982, S. 171-236, S. 210. 55 Wolfgang J. Mommsen, Das Zeitalter des Imperialismus, in: Fischer Weltgeschichte, Bd. 28, Frankfurt 1969. Zit. nach Walther, in: GQ Bd.3, S. 234.

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getischen Töne gleichwohl weiterhin die Frage nach der spezifischen Motivation des Autors. Die Auswahl des Themas belegt zunächst, was an Michels' soziologischem Werk insgesamt charakteristisch ist: die Aufmerksamkeit für neue soziale Bewegungen im statu nascendi. Dieser rote Faden zieht sich von der italienischen Landarbeiterbewegung der Jahrhundertwende bis zum Tripoliskrieg, nur daß jetzt weniger Bewegungen mit sozialistischem Programm, sondern Bewegungen mit nationalem Charakter im Fokus des Interesses stehen.56 Die apologetischen Töne seiner Imperialismusschrift sind dort am stärksten, wo Michels die ethische Kritik des Normenuniversalismus in den Fußnoten piaziert und sich im Haupttext eines relativistischen Wertemaßstabes bedient. So stellt er im Schlußkapitel die Suggestivfrage, ob ein „Staat, in welchem 48 Prozent der Bevölkerung des Lesens und Schreibens nicht mächtig sind, [...], wo breite Gefilde brach und unbebaut daliegen, in welchem die Arbeiterschutzgesetzgebung noch in ihren Anfangen begriffen ist, in welchem weite Teile des Landes sich noch keiner einwandfreien Wasserversorgung erfreuen" - ob ein derartiges Land wie Italien überhaupt ein Recht daraufhabe, „Kolonien zu gründen und anderen, vermeintlich niedriger stehenden Völkern seine Zivilisation' aufzudrängen?" Allein die Fragestellung, die unverkennbar die Argumente der Kritiker des italienischen Expansionismus auflistet, suggeriert ein klares ,Nein'. Michels bestreitet aber kategorisch in seiner Anwort, daß das aufgeworfene Problem ethisch, juristisch oder nationalökonomisch gelöst werden könne. Es sei „rein historisch experimenteller Natur", womit der Autor nichts anderes sagen will, als daß nur die Realhistorie selbst den Bewertungsmaßstab liefern könne: „Wenn die Tatsache, daß das Heimatland selbst mit schweren sozialen Mißständen behaftet ist, einen Hinderungsgrund für jede koloniale Schöpfung und auswärtige Aktion bedeuten sollte, so hätte in der Geschichte Kolonisation niemals stattfinden dürfen." Historisch mache es daher wenig Sinn, nach der Rechtmäßigkeit des Kolonialismus zu fragen, sondern vielmehr, ob die Kräfte der Kolonialmacht überhaupt zur Kolonisation ausreichen. „Diese Frage kann, bezüglich Italiens gestellt, nicht ohne Zaudern bejaht werden."57 Man ist geneigt, diese historisch-relativistische Experimentierklausel, mit der Michels die moralische Exkulpation des Kolonialismus betreibt, als Bruch in seiner intellektuellen Biographie zu interpretieren, insbesondere, wenn man sich die Schärfe in Erinnerung ruft, mit welcher der junge Sozialdemokrat wenige Jahre zuvor die Kolonialpolitik des Kaiserreiches kritisierte.58 Indes stellt Michels' Argumentation, ideengeschichtlich betrachtet, keinen eindeutigen Bruch mit der sozialdemokratischen Tradition und mit seinen früheren Positionen dar. So hat Michels tatsächlich bereits 1905 seine These einer demographisch induzierten Notwendigkeit von Expansion vorweggenommen: in einer entwickelten Gesellschaft, die den Kampf um die Daseinsbedingungen auf eine höhere 56 So auch Giovanni Sabbatucci, Introduzione, in: Michels, Storia critica del movimento socialista italiano fino al 1911, Roma 1979, S. IX-XXVIII, S. XVII. 57 Michels, Imperialismus, S. 89-90. 58 Vgl. Michels, Formen des Patriotismus, a.a.O., S. 19.

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Stufe gestellt hat und deren hygienische und gesundheitspolitische Standards einer immer größeren Zahl von Menschen das Überleben sichern, werde der Bevölkerungsüberschuß zum Problem. Die Gründung eigener Kolonien werde „wirklich notwendig". Die Kolonie sei dann nicht mehr ein „Luxusobjekt", sondern ein „Gebrauchsobjekt".59 Ab einem bestimmten Entwicklungsgrad, namentlich in der „sozialistischen Gesellschaft" werde der Zivilisationsexport in „barbarische oder halbbarbarische Gesellschaften" sogar zur „heiligen Pflicht".60 Michels' intellektueller Gewährsmann bei dieser Relativierung des prinzipiellen Kolonialismusverbots war kein geringerer als Eduard Bernstein. Bernstein hatte schon im Jahr 1900 geschrieben, daß „die höhere Kultur gegenüber der niedern stets das größere Recht auf ihrer Seite, ja, die Pflicht [hat], sich jene zu unterwerfen". Ausweis der höheren Kultur waren ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, technische und humane Standards der Arbeitsorganisation und Rechtsschutz. Die Kolonisation legitimierte Bernstein unter anderem mit einem Argument, mit welchem üblicherweise die Ansprüche der Kolonisten attackiert werden, mit welchem hier aber die Ansprüche der Kolonisierten negiert werden: „keinem Stamm, keinem Volk [...] kann ein unbedingtes Recht auf irgend ein Stück der bewohnten Erde zugesprochen werden." Die Seßhaftigkeit als solche begründete somit bei Bernstein keine, die Fähigkeit zur Kolonisation dagegen sehr wohl territoriale Ansprüche. „Bedingung sei", so Bernstein, daß die Kolonisation „die wirtschaftliche Energie der Nation nicht durch Ablenkung eines erheblichen Teils ihrer Kräfte ernsthaft beeinträchtigt."61 Es ist unübersehbar, daß Maßstäbe, die von Bernstein an den Kolonialismus gelegt werden, auch Michels' Feder bei seiner Analyse des Tripolis-Unternehmens leiten. Im Fokus des Interesses steht die Frage nach der Fähigkeit zur Kolonisation und, in zweiter Linie, auch die Prüfung des Umgangs mit den Kolonisierten nach humanen Kriterien. Selbst diese müssen aber wohl nicht denselben Rechtsmaßstäben genügen, die im Mutterland gelten, schreibt Bernstein doch, daß den Eingeborenen „derjenige Schutz gesichert" werden müsse, „auf den sie nach Maßgabe ihrer kulturellen Entwicklung und Bedürfnisse Anspruch haben."62

59 Michels. Il problema coloniale di oggi e di domani, in: Il Divenire Sociale, 1. Jg., Nr. 19, 1905, S. 307-308: „in una società insomma, in cui la vita umana è rispettata, nascerà e crescerà una volta tanta numerosa prole che essa avrà davanti à se un vero problema d'eccesso di popolazione. Allora naturalmente questa società dovrà estendersi e cercarsi nuovi luoghi e nuove patrie. Allora soltanto la colonia diventerà realmente necessaria e non sarà più un oggetto di lusso, ma un oggetto d'uso." 60 Michels, Il problema coloniale, S. 308: „E poi la società socialistica [...] avrà il sacrosanto dovere di dar parte della sua relativa felicità [...] anche a quest'altra società rimasta barbara o semibarbara [...]." 61 Eduard Bernstein, Der Sozialismus und die Kolonialfrage, in: Sozialistische Monatshefte, 1900, S. 549-561, hier zitiert nach einem Wiederabdruck in: Sozialdemokratie und Kolonien, hg. V. Alfred Mansfeld, Berlin 1919, Reprint Münster 1987, S. 58-59. Michels hatte Bernsteins Kolonialtheorie dessen Schrift „Zur Geschichte und Theorie des Sozialismus" (Berlin-Bern 1901) entnommen. 62 Meine Hervorhebung

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Die Frage nach dem Recht auf Kolonisation bzw. nach Rechtshindernissen im Völkerrecht dagegen spielt in dieser Variante des sozialdemokratischen Kolonialdiskurses63 keine Rolle. Die überraschende Kontinuität der Argumentation darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß identische Argumente in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Funktionen haben. Im Kontext von 1911/12 dient Michels' Verlagerung der Fragestellung vom Normenuniversalismus zum Normenrelativismus in Verbindung mit dem Erfordernis eines kolonialistischen Befähigungsnachweises zwei Zielen: Erstens, das ist eine Grundmelodie der gesamten Imperialismusstudie, möchte Michels ganz offensichtlich seine Wahlheimat vor moralischen Vorwürfen aus dem Ausland verteidigen und diesem die italienischen Kriegsmotive plausibel machen. Zweitens aber möchte er auch - nach innen gerichtet - die patriotische Begeisterung in dieser Wahlheimat dämpfen. Für dieses doppelte Erkenntnisinteresse spricht seine Bemerkung über die schwierigen politischen Kontextbedingungen seiner Studie, die dadurch charakterisiert seien, daß „drüben internationale Entrüstung und hüben nationales Hochgefühl alle Besinnung, alles Gleichmaß zu rauben im Begriffe stehen".64 Auch an anderer Stelle kommt Michels immer wieder auf diesen polemischen Kontext zu sprechen, z.B. auf die „erbitterte Kampagne der deutschen Presse gegen Italien" anläßlich des Tripolis-Krieges. Ohne die „edlen Momente, insbesondere ein an sich durchaus berechtigtes Mitleid mit den Arabern" in Abrede stellen zu wollen, stören ihn dabei die seiner Meinung nach unredlichen Momente der Kampagne: die Kritik am Kolonialkrieg von selten Kolonien besitzender Länder. Und er bemängelt die darin zum Ausdruck kommende „Ignoranz bezüglich der Stellung Italiens als Mittelmeermacht".65 Andererseits beschreibt er immer wieder kritisch die innere Verfassung Italiens zur Zeit des Krieges, „wo eine über alle Begriffe wilde und gedankenlose Kriegsstimmung jede Besinnung raubte und die öffentliche Meinung für Diskussionen völlig untauglich machte."66 Anders als die Imperialismusthese in der Michels-Forschung unterstellt,67 hat Michels sich von der kolonialistischen Kriegseuphorie in Italien keineswegs anstecken lassen. Er

63 Grundsätzlich verstand sich die deutsche Sozialdemokratie als erbitterter Gegner von Militarismus und Imperialismus und intensivierte sie in diesem Zeitraum ihre Propaganda gegen Kolonialskandale. Dieser antiimperiale Grundkonsens kommt bei Bernstein darin zum Ausdruck, daß er den s. E. legitimen Kolonialismus vom „Kolonialchauvinismus" unterscheidet, dem die „Sozialdemokratie unbedingt feindlich gegenüber" stehen müsse. Ein entschiedener Gegner von Bernsteins Position war Rosa Luxemburg. 64 Michels, Imperialismus, S. 89-91. 65 Michels, Gedanken zum Problem: Italien und Deutschland, in: Das Freie Wort, 12. Jg., Nr. 10, Zweites Augustheft 1912, S. 366-371, S. 370/71 66 Michels, Rezension zu Gaetano Mosca, Italia e Libia (Milano 1912), in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 36, Heft 1, Januar 1913, S. 308-309. 67 Vgl. Röhrich 1972, S. 112: „Der emotional auf die Ereignisse reagierende Michels schöpfte Hoffnung, als man in Italien damit begann, an die interessi und dignità della nazione zu appellieren.

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hat sie vielmehr für höchst bedenklich gehalten. Allerdings hat er das Gefühl, es sei ihm als „Fremden" nicht möglich, auf eine Veränderung der öffentlichen Meinung einzuwirken. Ebenfalls anläßlich des Tripolis-Krieges schreibt er: „In siegreichen Kriegen pflegen Völker, und zwar die sog. Intellektuellen an der Spitze, das klare Urteil über sich selbst zu verlieren und einer gefährlichen Selbstüberschätzung, einer Folge nervöser Überreizung, anheimzufallen. Da ist es nützlich und heilsam, wenn sich unter den ihnen Angehörenden selbst ein Mann findet (ein Fremder vermag diese Aufgabe in keinem Falle zu erfüllen), der das pädagogische Werk übernimmt, [...] das Volk wieder zur Besinnung zu bereden."68 Der nationale Enthusiasmus und der neue Geschmack an nationalistischer Rhetorik ließe sich an zahlreichen Beispielen illustrieren. So schreibt der Sozialist Scipio Sighele angesichts von „Tripolis", daß sich „der Traum meines Lebens" erfüllt habe. Grund: „Ganz Italien ist nationalistisch". Der „Wille zur Macht und zur Größe des Vaterlandes", den vor dem September 1911 kaum jemand auszusprechen gewagt hätte, sei mit dem Krieg zum allgemein akzeptierten Ausdruck des neuen Nationalbewußtseins geworden.69 Ohne in dieser Arbeit die gesamte Phalanx der erklärten Nationalisten zitieren zu müssen, wird m. E. die nationale Euphorie infolge des Krieges besonders bei denjenigen greifbar, die ihr traditionell höchst skeptisch gegenüberstehen. Auch die pazifistische Zeitschrift „Vita Internazionale" muß anerkennen, daß ein „neues Italien" entstanden sei. Sie bedauert zwar das „traurige Phänomen des notwendigen [!] Krieges", um dann aber zur Eloge auf die „Soldaten und Bürger Italiens" zu kommen, deren Leben, Kämpfen und Sterben ihresgleichen nur in der Geschichte des antiken Rom und Griechenland finde.70 In diesem Kontext sucht Michels nicht nach Propagandisten der nationalen Selbstverherrlichung, sondern nach Propagandisten der nationalen Ernüchterung. Er findet sie vor allem in dem liberalen Monarchisten Cesare Spellanzon, mit dem er in der skeptischen Beurteilung des Kriegsnutzens weitgehend übereinstimmt,71 sowie - bei völliger Übereinstimmung der Analyse - in Gaetano Mosca. Mosca war im Hinblick auf die demographischen und wirtschaftlichen Hoffnungen zu einem „vernichtenden Urteil" über den Krieg gekommen. Wie Michels glaubte Mosca, daß die Vorteile des Krieges eher psychologischer Natur waren. „Er sagt: eine Nation ist wie ein Individuum; sie lebt

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Der von Enrico Corredini geleitete Partito Nazionale [...] schien das von Michels gesuchte kraftvolle Element zu verkörpern [...]". Für diese Psychoanalyse gibt es nicht den geringsten Beweis in den Quellen. Michels, Rezension zu Cesare Spellanzon, L'Africa Nemica. La Guerra, la Pace e le Alleanze, Venezia 1912, in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, Bd. 36, Heft 3, Mai 1913, S. 981-982. Zit. nach Gentile, Grande Italia, S. 73. Gentile, Grande Italia, S. 74. Vgl. die o. g. Rezension zu Spellanzon, in der Michels die Übereinstimmungen mit seiner eigenen Studie Punkt für Punkt vermerkt. Der Dissens zwischen ihm und Spellanzon besteht in der Frage, ob die außenpolitische Konstellation für den Tripolis-Krieg günstig war. Spellanzon verneint, Michels, wie oben gezeigt, bejaht dies.

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nicht von Brot allein, sondern auch von Ehre. Er findet daher ein treffliches Wort: man muß schon manchmal ein schlechtes Geschäft machen, um zu vermeiden, eine schlechte Figur zu machen."72

5. „Megalomanischer Einschlag": Michels' Distanz zum neuen Nationalismus Enrico Corradinis Zu Corradini hat Michels dagegen in wesentlichen Punkten - im Hinblick auf die Beurteilung des Krieges wie auf die imperiale Doktrin - Abstand gehalten. Allerdings hat er, wenn auch nicht die Konsequenz, so doch die Gründe geteilt, mit denen Corradini sein Programm rechtfertigte. Diese betrafen die Kritik am Dreibund, aus denen Italien keinen wirklichen Nutzen zu ziehen schien; die demographische Frage sowie die Verärgerung darüber, von den anderen Mächten in die Rolle des außenpolitischen „Aschenbrödels" gedrängt zu werden. Namentlich Corradinis Analyse der Zustände im französisch verwalteten Tunis, wo über 125.000 italienische Auswanderer meist niedere Tätigkeiten verrichteten, während Leitungspositionen in Verwaltung und Industrie exklusiv aus dem geringen Reservoir der nicht mehr als 30.000 Franzosen besetzt wurden, hat Michels als einen erklärenden Faktor für das Aufkommen des Jungen Nationalismus" voll akzeptiert.73 Corradinis ideologische Neubegründung des italienischen Kolonialismus als „Imperialismus der armen Leute" dagegen, seine Vision von der Mission des italienischen Volkes, das den sozialistischen Klassenkampf beerben und dabei die Kategorie der Klasse durch die Kategorie der Nation ersetzen würde, um als „Proletenvolk" in den Kampf gegen die reichen Völker zu treten - diese Vision hat Michels zufolge nur in ihrem empirischen Ausgangspunkt recht: das starke proletarische Element in der italienischen Emigrantenstatistik. Ansonsten bemerkt er ihren „megalomanen Einschlag"74 und attestiert er Corradinis Parallelisierung von Nationalismus und Klassenkampf, daß „sie mehr von künstlerischer Gestaltungsgabe als von theoretischer Durchdringung des Stoffes Zeugnis ablegt".75 Mit diesen Zitaten soll nicht bestritten werden, daß Michels an mehr als einer Stelle eine gewisse Faszination durch Corradini zu erkennen gibt. Diese wurzelt allerdings weniger in gemeinsamen politischen Zielen, sondern in dem Sensationswert, den die Publizistik dieses Propagandisten des „noch völlig unfertigen italienischen Nationalismus" im imperialen Begründungskontext gehabt haben dürfte: Corradinis Aufstieg als tonangebender Intellektueller der neuen nationalistischen Bewegung und die Akzeptanz, 72 So gibt Michels in seiner Rezension die Gedanken von Mosca in „Italia e Libia" (Milano 1912) wieder. Vgl. Archiv fur Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 36, Heft 1, Januar 1913, S. 308-309. 73 Vgl. Michels, Imperialismus, S. 54. 74 Michels, Imperialismus, S. 58. 75 Michels, Rezension zu Enrico Corradini, Il Volere d'Italia (Napoli 1911), in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. XXXII, Heft 2, März 1911, S. 605.

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auf die seine imperialistische Philosophie stößt, sind Seismographen des Bruchs mit der traditionell ethisch geprägten öffentlichen Meinung Italiens, deren „friedlichen Grundzug" Michels kurz zuvor noch in einer anderen Studie festgehalten hatte.76 Mit Corradini betritt ein neuer Typus des Intellektuellen-Politikers die politische Bühne, der auf moralische Vorbehalte und diplomatische Erwägungen keinerlei Rücksicht nimmt: „Der Autor", schreibt Michels über Corradini, „steht ganz auf dem Standpunkt der Machtpolitik, dessen äußerste Konsequenzen er zieht, und zwar mit einer Ehrlichkeit zieht, daß kaum ein Ausländer, welcher Nation er immer angehöre, sich ihm anzuschließen vermöchte."77 Zweitens dürfte der machtpolitische Reduktionismus von Corradini mit Michels' eigener sozialwissenschaftlicher Heuristik koinzidieren, die infolge seiner soziologischen Sozialisation auf den Kurs der „Realpolitik" einschwenkt. Machiavellistische Sentenzen, die ethische Positionen und den Bruch mit ihnen nur als Varianten einer grundlegenden machtpolitischen Gelegenheitsstruktur begreifen, sind bei Michels immer häufiger zu vernehmen. „Der Verzicht auf Kolonien" ist in dieser Optik weniger Ausdruck einer moralischen Position, sondern „stets ein Zeichen militärischer und diplomatischer Schwäche."78 Das könnte auch von Corradini stammen, der, ähnlich wie der politische Soziologe - nicht der Ethiker! - Michels, den Rückgriff auf das Nationalitätenprinzip nur als eine Momentaufnahme im Leben der Völker begreift, als eine Zwischenphase im grundlegenden „Kampf um Herrschaft", den jedes Volk bei nächster Gelegenheit wieder aufnehmen werde. Emilio Gentile betont völlig zu Recht, daß sich in dieser Argumentationsfigur ein „starker Untergrund positivistischen Naturalismus" in Corradinis Denken artikuliere.79 In diesem weltanschaulichen Hinterland, in dem, was wir bereits im Hinblick auf Michels' Affinitäten zu Ludwig Gumplowicz als „Krise des Positivismus" bezeichnet haben, lassen sich zweifellos Schnittmengen zwischen Corradinis Imperialismus und Michels' pessimistischer Soziologie bilden. Und weniger in den publizierten Quellen als vielmehr in Michels' Tagebuchnotizen finden wir Indizien dafür, daß die neonationalistische Machtpolitik zwar nicht seine Zustimmung findet, aber sehr wohl mit einer handfesten Krise des Liberalismus in seinem Denken einher geht: „Die Nationalisten sagen, nur für Italien zu kämpfen und zu diesem Zweck jedes Mittel anzuwenden; sie fügen hinzu, daß Freiheit, Gerechtigkeit, Nationalitätenprinzip, Demokratie Märchen sind [...]; sie sagen die Wahrheit und tun Böses. Die Liberalen hingegen, die sich [...] abstrakten Konzepten hingeben, lügen und [...] handeln nicht besser."80

76 Michels, Der ethische Faktor in der Parteipolitik Italiens, in: Zeitschrift für Politik, Bd. III, Heft 1, 1909, S. 56-91. 77 Michels, Rezension zu Enrico Corradini, Il Volere d'Italia (Napoli 1911), in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. XXXII, Heft 2, März 1911, S. 605. 78 Michels, Rezension zu Enrico Leone, Espansionismo e Colonie (Roma 1912), in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, Bd. XXXIV, Heft 2, März 1912, S. 662-663. 79 Emilio Gentile, Grande Italia, S. 109 80 Unter dem Titel ,3ric-à-Brac" findet sich bei den .Appunti di Roberto Michels", busta 1, ARMFE, ein Notizbuch, das fast ausschließlich Notizen aus der Ersten Weltkrieg und der Nachkriegszeit

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Diese Tagebuchnotizen sind nicht nur dazu angetan, Michels' Einordnung in den Corradini-Nationalismus zu widerlegen. Sie führen überhaupt jeden Versuch ad absurdum, Michels irgendeiner parteipolitischen Richtung zuzuordnen. Stattdessen indizieren sie, indem sie mentalitätsgeschichtlich der Legitimitätskrise des liberalen Nationalstaates nach dem Krieg vorgreifen, was an Michels eigentlich exemplarisch ist: nicht der Kampf gegen den Liberalismus unter präfaschistischen Vorzeichen, sondern die schleichende Erosion des Liberalismus in der linksliberalen bürgerlichen Intelligenz selbst. Daß Michels mit der Weltanschauung des neuen Nationalismus herzlich wenig gemein hat, zeigt sich auch, wenn wir den „positivistischen Naturalismus" in Corradinis Schriften beiseite lassen und an ihre andere Seite erinnern. Sie sind nämlich auch hochmoralisch, und zwar im neoidealistischen Sinne: wo ein Georges Sorel die klassenkämpferische Moral aus der Erfahrung des Straßenkampfes und seiner narrativen Verdichtung im Mythos der Gewalt hervorgehen wissen wollte, strebt Corradini eine moralische, ja spirituelle Renaissance der italienischen Nation über den „Kult des Krieges" und die Mythen der „proletarischen Nation" und des „nationalen Sozialismus" an. Diese Mythologeme verfolgen eine revolutionäre Absicht, indem sie dem risorgimentalen Gründungsmythos des liberalen Nationalstaates die Legitimität bestreiten bzw. ihn fur obsolet erklären. Der heroische Bellizismus Corradinis und seiner Anhänger ist dabei alles andere als rückwärtsgewandt. Sein Appell an kriegerische Tugenden und Opferbereitschaft zielt letztlich auf die Modernisierung der Nation. Der industrielle und technologische Rückstand wird dem parlamentarischen System zu Lasten gelegt, eine autoritäre Führung dagegen erscheint als das beste Modernisierungsvehikel. Der Feind des neuen Nationalismus ist somit die liberale Regierungsklasse, namentlich der linksliberale Ministerpräsident Giolitti. Das Jahr 1912, als vorläufiger Kulminationspunkt des neuen Nationalismus, kann damit rückblickend gewiß als Wendepunkt betrachtet werden, der ein Dezennium des Kampfes um die Auslegung des nationalen Selbstverständnisses einleitet, in dem sich zwei Konzepte gegenüberstehen: das risorgimentale, dessen Exponenten, egal ob sie für oder gegen den Libyen-Krieg gewesen sind, am Nationalitätenprinzip, an der Idee der Freiheit und liberalen Demokratie festhalten; sowie das imperiale, das all diese Ideen als Hindernisse auf dem Weg zur Vollendung der inneren Einheit der Nation empfindet und Macht und Expansion zu Leitmotiven des politischen Handelns ausruft. Dieser Konflikt zweier nationaler Mythensysteme endet 1922 mit dem Machtantritt Mussolinis und der Abspaltung des Nationalstaates von der liberalen Demokratie.81 Vor diesem Hintergrund ist nicht nur Michels' Position zum Tripolis-Krieg, sondern auch sein Verhältnis zur amtierenden liberalen Regierung ein interessanter Lackmustest, mit dem sich seine vermeintlichen Affinitäten zum neuen Nationalismus überprüfen enthält. Dort auf S. 59: „I nazionalisti dicono di non combattere che per l'Italia e di adoperare a questa fine ogni mezzo; aggiungono che libertà, giustizia, principio di nazionalità, democrazia sono fole; affermano che l'Italia vuole, deve estendersi senza tener calcolo di cotali [unleserliches Wort]; dicono la verità ma fanno male. I liberali invece che si pascono di [unleserlich] e di concetti astratti, dicono le bugie e non fanno [hinzugefügt: agiscono] meglio". 81 Emilio Gentile, Grande Italia, S. 76.

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lassen. Dabei fällt auf, daß ein zentrales Thema von Michels' Vorkriegsschriften die Modernisierung des Landes ist. Im Gegensatz zu den antiliberalen Kritikern der Regierungen Giolittis und seines rechtsliberalen Nachfolgers Salandra sieht Michels aber Italien bereits auf einem erfolgreichen Modernisierungspfad. Er wirbt regelrecht fur das „moderne Italien" und fordert seine Leser auf, dieses gegenwärtige Italien mit seinen Fortschritten in der Arbeiterschutz- und Sozialgesetzgebung, in der Volksbildung und in der Hygiene endlich zur Kenntnis zu nehmen, anstatt seine Kultur auf Geschichte - das antike Rom oder die Renaissance - zu reduzieren.82 Daß Italien auf dem Weg zur Moderne noch einiges nachzuholen hat, ist in dieser Anerkennung seiner Fortschritte gewiß eingeschlossen. Aber Michels' Leitpfaden zur Moderne ist nicht der imperiale Mythos des neuen Nationalismus, er ist viel konkreter: Deutschland! Weniger verfassungspolitisch - da hält sich der einstige Kritiker des Wilhelminismus jetzt vornehm zurück - , aber doch sozialpolitisch und wirtschaftspolitisch. Den Aufstieg zur fuhrenden Exportnation bei gleichzeitiger Verbesserung der Lebensbedingungen in der Industriearbeiterschaft nennt Michels nun ein „Wunder", weil Deutschland es geschafft habe, der wachsenden eigenen Bevölkerung wie einer steigenden Zahl von Zuwanderern gleichermaßen erträgliche Lebensbedingungen zu ermöglichen, ohne daß, wie im italienischen Fall, ein pauperisierender Überschuß das Weite suchen müsse. Vielleicht ist dies der eigentliche Wendepunkt in Michels' Biographie. Der Autor entdeckt im italienischen ,Exil' seine „lebhafte Bewunderung" für Deutschland.83 Und er ist sich sicher, daß unter all den Faktoren, denen Deutschland sein soziales und ökonomisches Niveau verdanke, der „moderne Kapitalismus" den „ersten Platz" einnehme.84 An diesem Modell einer sozialstaatlich abgefederten, industriekapitalistischen Steigerung der nationalökonomischen Produktivität orientiert sich auch Michels' Darstellung von Italiens Weg in die Moderne, dessen charakteristische Wegmarken nicht nur die Industrialisierung, die Nutzung alternativer Energieträger wie der Wasserkraft und Bildungspolitik heißen, sondern eben auch „Sozialgesetzgebung": „Und so ist denn auch die modernste und verfeinertste Art, den Kampf zwischen Kapital und Arbeit zwar sicherlich nicht aus der Welt zu bringen, aber doch immerhin abzustumpfen und in das

82 Michels, Über einige Grundzüge des modernen Italien [Vortrag, gehalten in der Akademischen Gesellschaft zu Basel, Winter 1914/15], in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 6, Heft 1, Juli 1915, S. 41-53. 83 Vgl. Michels, Saggi economico-statistici sulle classi popolari, Milano-Palermo-Napoli 1913, S. 271272: „ci sentiamo invasi da un vivo senso d'ammirazione [...] per un paese che [...] può dar pane simultaneamente ad un numero crescente dei suoi figli, ai quali va aggiunto un numero crescente di stranieri [...], per un paese ove tutte le braccia trovano lavoro e tutte le bocche quel tanto che basta a sfamarle." In diese Bewunderung stimmen auch italienische Kommentatoren ein: Vgl. J.A. De Johannis, Popolazione ed emigrazione, in: Resto del Carlino, 16.2.1912: „non si può che condividere il giudizio del prof. Michels quando afferma di sentirsi ammirato per la Germania." 84 Michels, Saggi economico-statistici sulle classi popolari, S. 272: „Nè andiamo a tentoni se nella ricerca delle cause che hanno determinato cotesto settimo miracolo, sul quale ci è piaciuto richiamar l'attenzione degli studiosi in economia indichiamo il primo posto al capitalismo moderno."

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Kulturleben der Gegenwart einzuordnen, die moderne Arbeiterschutzgesetzgebung [...] in Italien eingeführt worden."85 Diese Sentenzen zeigen, daß der Sozialreformismus, der mit Michels' Rückkehr nach Turin 1907 wieder auflebte,86 sich bis in den Ersten Weltkrieg fortsetzt. Implizit können sie sogar als eine Positionierung in der verschärften innenpolitischen Debatte gelesen werden - und zwar gegen den Partito socialista italiano. Die italienischen Sozialisten haben nämlich 1912 den reformistischen Weg der Vorjahre verworfen und gehen auf revolutionären Kurs. Nicht Kooperation im, sondern strikte Klassenfeindschaft gegen den Nationalstaat heißt nun die Devise.87 Michels' Sozialreformismus hat sich allerdings auf ein bescheideneres Maß reduziert, insofern die einstmals mit der Sozialreform eng verbundene Frage nach der politischen Modernisierung in seinen Aufsätzen nach der Parteiensoziologie keine prominente Rolle mehr spielt. Diese Rolle übernehmen jetzt volkswirtschaftliche Fragen. Eher am Rande finden sich Indizien dafür, daß Michels auch im Kontext seiner ImperialismusStudien noch einen politischen Begriff von Moderne pflegt, der diese mit Liberalität und Pluralität gleichsetzt. Dies zumindest geht aus seiner Antwort auf die Kampagne der Zeitung „Giovane Italia" für eine „Translation des Vatikans" außerhalb der nationalen Grenzen hervor. Die Idee der Vertreibung des Vatikans, so Michels, sei „in sich illiberal und im Widerspruch mit den modernen Ideen der Freiheit, und deshalb nicht wünschenswert."88 Michels, der sich in der Einleitung seiner Antwort zum Atheismus bekennt, geht es hier nicht um die katholische Kirche im besonderen. Ihre Vertreibung sei deshalb abzulehnen, weil ein illiberaler Akt per se nicht wünschenswert sei. In puncto Liberalität, Sozialreform, ökonomischer Modernisierung hat sich Michels in jenem Kontext, als die „neuen Nationalisten" innenpolitisch eine alternative Regierungsform und einen Bruch mit der politischen Kultur favorisieren, als loyaler Botschafter des „modernen Italiens" und damit notgedrungen auch seiner links- wie rechtsliberalen Regierungen betätigt. Was die politische Verfassung betrifft, so finden sich zwar in seinen Vorkriegsschriften keine Elogen auf das liberaldemokratische System, aber es gibt auch nicht die geringste Spur eines Plädoyers für eine revolutionäre System-

85 Michels, Grundzüge des modernen Italiens, S. 43. 86 Vgl. Kapitel V. 87 Emilio Gentile, Grande Italia, S. 77. Die revolutionäre Wende des PSI hätte eigentlich für Michels aus organisationssoziologischer Sicht von Interesse sein müssen, insofern dieser Vorgang zentrale Annahmen vom „konservativen Charakter der Parteiorganisation" (Michels) infrage stellt. Revolutionäre Gegenbewegungen zum Verkrustungsprozeß der Parteiorganisation werden in Michels' Oligarchietheorie ja nur von Minderheiten bzw. abtrünnigen Renegaten in Gang gesetzt. Aus der Mitte der Partei und auf der Basis des Mehrheitsbeschlusses eines Parteitages ist die Rückkehr zur Intransigenz nach jahrelanger parlamentarisch-reformistischer Praxis seiner eigenen Theorie zufolge eigentlich ausgeschlossen. 88 Michels, [Risposta alla inchiesta: „Per la ,traslazione del Vaticano. Il grande referendum internazionale organizzato dalla ,Giovane Italia'], in: Giovane Italia, 17. Aprii 1910, S. 15: „ritengo che la questione se è possibile o meno di scacciare il Vaticano dai confini d'Italia - cosa in sè illiberale e contraria alle idee moderne di libertà, e perciò non desiderabile - sia di poca importanza."

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transformation im Sinne des Antiliberalismus. Insgesamt steht seine durch und durch loyale Haltung zur jeweils amtierenden Regierung im Widerspruch zum systemdelegitimierenden und -destablisierenden Ansatz der „neuen Nationalisten". Seine Loyalität mit der liberalen Regierungspolitik kann durchaus kritisch sein, wie seine nüchterne Bilanzierung des Tripolis-Krieges, aber auch seine Forderung nach einer stärkeren Akzentuierung der Sozialpolitik zeigen. Aber sie prädestiniert ihn eben nicht zum präfaschistischen Systemoppositionellen, sondern eher zum Regierungsberater. Tatsächlich wird Michels im Ersten Weltkrieg fur die Regierung Salandra nicht nur die Aufgabe eines akademischen Botschafters italienischer Interessen nach außen übernehmen, sondern er wird auch Berichte zur internationalen Lage schreiben, die nicht für die Öffentlichkeit, sondern für den italienischen Generalkonsul in Basel bestimmt sind.89 Das stärkste Indiz für die Kluft zwischen Michels und dem „neuen Nationalismus" Corradinischer Provenienz ist allerdings der Umgang mit dem Kriegsthema. Obwohl Michels Sympathien und Verständnis für die italienische Expansion aufbringt, zeugt seine Berichterstattung von einer politischen Kultur, die mit Pazifismus sehr viel, mit Imperialismus rein gar nichts gemein hat. Michels' Texten fehlen alle typischen Konnotationen des nationalistischen Kriegsdiskurses wie die Glorifizierung von Stärke und Gewalt sowie die Verherrlichung des Krieges.90 Zwei Jahre nach seiner Imperialismus-Studie im „Archiv" hat er seine Distanz zum nationalen Bellizismus in seinem Vorwort zur italienischen Buchausgabe in aller Deutlichkeit demonstriert. Seine Worte dürften in den Ohren der Imperialisten, die den Kult von der Moralität des Krieges pflegten, wie Hochverrat geklungen haben: „Ich gestehe, daß mich der Ausbruch des Krieges aus mehreren Gründen in den tiefsten Schmerz versinken ließ". Als ersten Grund nennt er das „unvermeidliche physische und moralische Elend, das jeder Krieg mit sich bringt"; dann führt er für sein Unbehagen die durch Krieg und Presse erzeugte „Verwirrung" und „mentale Übererregung" in der öffentlichen Meinung an und kritisiert am italienischen Kriegsdiskurs dessen „seltsame Unfähigkeit, zu verstehen, daß der arabische Widerstand vom menschlichen Standpunkt aus notwendig und eine Pflicht war". Nicht zuletzt in dieser Ignoranz des legitimen arabischen Selbstbehauptungswillens habe er mit „Bitterkeit" wahrgenommen, wie eine „Flut von mehr oder weniger rhetorischen Figurationen, die nicht der Kritik des bescheidensten gesunden Menschenverstandes standhalten können", das nationale „Erbe" versenkt habe. Gemeint ist ohne Zweifel das risorgimentale Erbe. Der Krieg habe die „gewalttätige Entwertung aller moralischen Werte des italienischen Lebens" bewirkt: „die Massen, die gebildeten Schichten nicht ausgeschlossen, erinnerten sich überhaupt nicht mehr, als sie ihre Lobeshymnen auf die Eroberung von Tripolis als einer Fortset-

89 Es handelt sich um Berichte an den königlichen Generalkonsul in Basel. Vgl. „Relazione fatta da Roberto Michels al R. Console Generale d'Italia a Basilea, comm. Tito Chiovenda, nell'aprile 1917", ARMFE. Diese Tätigkeit hat Michels auch nach der faschistischen Machtübernahme fortgesetzt. Vgl. „Relazione fatta da Roberto Michels al R. Console Generale d'Italia a Basilea sopra un viaggio in Cecoslovacchia, nel 1923", ARMFE. 90 Da schließe ich mich der Bewertung Corrado Malandrinos an, in: ders., Lettere di Roberto Michels e di Augustin Hamon, a.a.O., S. 506.

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zung des heiligen Krieges des Risorgimento sangen, daß damals Italien die Fremden aus seinem eigenen Haus jagte, während es jetzt als Fremder in das Haus eines anderen einbrach."91 Während andere den Kriegsausbruch als Beginn der nationalen Wiedergeburt feierten, habe er „eine der schlimmsten Krisen meines Lebens durchgemacht."92 Um diese zu überwinden, habe er nur ein Mittel gesehen: durch die Analyse des Phänomens Klarheit über die „aktuelle Phase des italienischen Patriotismus" zu bekommen. Ergebnis: „Die Untersuchung [...] war weder dazu angetan, mir meine Sorgen zu nehmen noch meine Prinzipien zu ändern."93 Michels' selbsterklärte Prinzipientreue - gemeint ist vor allem das antiimperialistische Nationalitätenprinzip - werden wir im folgenden Kapitel über seine Weltkriegspublizistik überprüfen. Schon an dieser Stelle aber können wir einen Wandel seiner intellektuellen Physiognomie festhalten, der damals wie heute die Rezeption seines Œuvres nach der Parteiensoziologie zuweilen zu einem Verwirrspiel werden läßt. Michels selbst stellt in seinem Vorwort von 1914 einen „gewissen Gegensatz" fest „zwischen dem Gemütszustand, der mich dieses Buch zu schreiben veranlaßte, und dem Eindruck, den das Buch selbst in der europäischen Presse hervorgerufen hat."94 Dieser Eindruck eines „avvocato f...] della causa italiana", eines „nazionalista italico", dürfen wir hinzufügen, ist an ihm auch Jahrzehnte nach dem Tripolis-Krieg noch haften geblieben. Michels nennt diesen Widerspruch zwischen Motiv und Wirkung einen nur „scheinbaren" und führt für den widersprüchlichen Eindruck methodische, emotionale und nationalpädagogische Gründe an, die ihn beim Verfassen der Studie geleitet hätten:

91 Michels, Prefazione, in: ders., Imperialismo italiano, S. V-VI: „Confesso che lo scoppio della guerra di Tripoli m'immerse, per più di un motivo, nel più profondo dolore: per le inevitabili miserie fisiche e morali che ogni guerra comporta; per lo scompiglio che la sovraeccitazione mentale, gettata dalla guerra e da una stampa spesso malamente consigliata e peggio consigliarne, nelle masse, doveva fatalmente generare nell'anima di un popolo naturalmente generoso; per il senso di amarezza nel veder un diluvio di figurazioni più o meno rettoriche che non reggevano alla critica del più modesto buon senso, sommergere tutto quanto il patriomonio che una storia, gloriosa, di cento anni, aveva accumulato nei cervelli della gioventù; nel veder dilagare una strana incapacità di comprendere che la resistenza araba era, dal punto di vista umano, necessaria e doverosa, ed offriva, mutatis mutandis, molti punti di contatto con la difesa nazionale di qualunque altro popolo anche più civilizzato; di sentire, come le masse, i ceti colti non esclusi, non ricordavano affatto, inneggiando alla conquista di Tripoli come ad una continuazione della santa guerra del risorgimento, che l'Italia allora scacciò gli stranieri da casa sua, mentre adesso andava a far da straniera in casa d'altri; per l'assistere insomma ad una brusca e quasi violenta svalutazione di tutti i valori morali in corso nella vita italiana." 92 Michels, Imperialismo italiano, S. VI: „Passai una delle più terribili crisi della mia vita." 93 Michels, Imperialismo italiano, S. VII: „L'esame che feci del nuovo problema, certo non valse nè a distruggere le mie preoccupazioni, nè a cambiare i miei principii." 94 Michels, Imperialismo italiano, S. XIII: „Si potrebbe forse obiettare che tra lo stato d'animo che mi indusse a scrivere questo libro e l'impressione che il libro stesso suscitò nella stampa europea, vi è una certa antitesi."

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erstens das Leitmotiv wissenschaftlicher Objektivität, was in diesem Fall den Verzicht auf normenuniversalistische Maßstäbe und stattdessen die Konzentration auf diejenigen Faktoren fordert, die den italienischen Imperialismus erklären - mit der Konsequenz allerdings, daß dieser dann nicht einfach - ethisch betrachtet - als ein Rechtsverstoß oder Bruch mit der tradierten Nationalgeschichte erscheint, sondern als eine „historische Notwendigkeit". Zweitens erklärt er den italienfreundlichen Grundton, der trotz aller Zweifel und Kritik am Tripolis-Unternehmen die Melodie macht, mit einer völkerpädagogischen Maxime - „meinem Eckpfeiler der kollektiven Pädagogik": Demnach sei es die Pflicht des Gelehrten, in Frankreich gut von Deutschland und in Deutschland gut von Frankreich zu reden und nur im betreffenden Land selbst von einer Nation schlecht zu reden. Drittens nennt Michels seine emotionale Prädisposition - die Liebe zu seiner Wahlheimat. All diese Faktoren sind ernst zu nehmen: insbesondere der Hinweis, nicht über irgendein Land zu schreiben, sondern über die „patria adottiva", wird in der Folge immer wiederkehren, zumindest wenn es über neue Entwicklungen aus Italien zu berichten gilt. In gewisser Weise ist Michels' Imperialismusstudie dann doch prototypisch für die späteren Faschismus-Schriften. Nicht in einem ideologischen Sinn, wie das in der Rezeption immer wieder unterstellt worden ist, sondern vielmehr im Modus der intellektuellen Krisenbewältigung, auf den Michels zurückgreift, sobald sich in seiner Wahlheimat etwas Neues, Irritierendes tut. Auf die persönliche Krise folgt die Flucht in die Arbeit, in die Analyse des Neuen, das in die soziographischen und psychologischen Elemente seiner Entstehung zerlegt und so verstanden und erklärt wird. Am Ende wird das Neue dabei immer den Charakter des Unwiderstehlichen, der „historischen Notwendigkeit" haben. Die Affirmation des Neuen durch seine Herleitung aus objektiven Tendenzen der Gesellschaft wird schließlich durch die emotionale Voreinstellung seines Wahlpatriotismus verstärkt. Die Botschaft dieser Form der Politreportage lautet: was ist, das soll auch so sein, und selbst wenn man hier und da etwas an einer Entwicklung auszusetzen hat, müsse man sich dennoch in einen hohen Maß für sie interessieren und in ihren faszinierenden Einzelaspekten beleuchten.95 Es ist nicht Absicht dieses Kapitels gewesen, die apologetischen Tendenzen von Michels' Imperialismus-Studie zu widerlegen. Michels selbst hat an mehreren Stellen ausdrücklich von seiner Motivation geschrieben, die italienische Politik gegenüber den Vorwürfen aus dem Ausland verteidigen und sie plausibel machen zu wollen. Ziel dieses Kapitels war es vielmehr zu zeigen, daß es gute Gründe gibt, die landläufige Identifikation der Michelsschen Position mit dem Corradini-Imperialismus als eine Fehlinterpretation der früheren Forschung ad acta zu legen. Michels' - dem imperialistischen Diskurs zuwiderlaufendes - Bekenntnis zu den risorgimentalen Werten im Vorwort seiner Imperialismus-Studie soll schon bald auf eine erneute Probe gestellt werden: im Kontext des Eintritts Italiens in den Ersten Weltkrieg kommt es nicht nur zur üblichen Debatte zwischen Interventionsbefürwortern

95 Juan J. Linz' Beobachtungen in diesem Zusammenhang (1966: S. XXVII) stimme ich voll zu.

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und -gegnern. Vielmehr streiten auch im Lager der Interventionisten selbst zwei Gruppierungen um die angemessene Rechtfertigung dieser Intervention. Die Frage lautet, ob Italien diesen Krieg auf der Basis imperialer Ansprüche oder auf der Grundlage des Nationalitätenprinzips führen soll. Michels wird sich in diesem Konflikt zwischen dem „neuem" und dem alten - risorgimentalen - Nationalismus auf die Seite des letzteren schlagen. Zunächst aber wird er so lange, wie die Regierung Salandra keine Entscheidung getroffen hat, für die Kriegsenthaltung plädieren.

IX. Der Fremde im Kriege Ein unbekanntes Kapitel der Intellektuellengeschichte des Ersten Weltkrieges (1913-1920)

„Der Krieg betrübt mich zutiefst. Was soll man tun? Was denken? Was wünschen? Ich würde gerne ein Buch schreiben. Ich wage es nicht. Man würde mich lebendig verbrennen. Ja, die Deutschen, aber vielleicht auch die anderen."1

1. Der Krieg der Intellektuellen und die Marginalität des Krieges in der Michels-Rezeption Als die deutsche Regierung am Mittag des 31. Juli 1914 in Reaktion auf die russische Mobilmachung den „Zustand drohender Kriegsgefahr" ausruft, bewirkt diese Mitteilung des drohenden Krieges unter den Deutschen weniger Angst und Sorge, sondern katapultiert eine seit dem österreichischen Ultimatum an Serbien vom 24. Juli um sich greifende euphorische Kriegserwartung auf die Höhe eines patriotischen Taumels. Die folgenden Tage stürzen mit ihrer Kette von Kriegserklärungen, Bündnisfall- und Interventionsmechanismen ganz Europa in jenen Krieg, der später als die „Urkatastrophe" (George F. Kennan) des 20. Jahrhunderts bezeichnet werden wird. Im zeitlichen Kontext seines Ausbruchs dagegen wird er auf allen beteiligten Seiten und unter feierlicher Anteilnahme nahezu aller Bevölkerungsschichten von einer derartigen Massenbegeisterung begleitet, daß Historiker von der ,Aufbruchstimmung des August 1914"2 sprechen. Dieser mentale Umstand seines Ausbruchs unterscheidet den Ersten vom Zweiten Weltkrieg: während der zweite eher ein „Krieg der Unfreiwilligen" war, überwiegt im ersten der Aspekt eines „Krieges der Freiwilligen".3 Dies dokumentieren zahlreiche 1

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Brief von Michels an Augustin Hamon, 19. Januar 1915, in: Corrado Malandrino, Lettere di Roberto Michels e di Augustin Hamon, a.a.O., S. 550: „La guerre me désole tout à fait. Que faire? Que penser? Que désirer. Je voudrais écrire un livre. Je n'ose pas. On me brûlerait vif. Oui, c'est les allemandes, mais peut être aussi les autres." Vgl. Wolfgang J. Mommsen, Deutsche kulturelle Eliten im Ersten Weltkrieg, in: ders. (Hg.), Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996, S. 1-15, S. 8. Über diese Unterscheidung bestand auf der 43. Internationalen Tagung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes Potsdam zum Thema „Krieg, Kriegserlebnis, Kriegserfahrung in Deutschland 1914-1945" im März 2001 allgemeiner Konsens. Vgl. auch den Tagungsband: Bruno Thoß/Hans-

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Reden, Tagebuchaufzeichnungen, Briefe und Fotografien v o n den öffentlichen Plätzen. In Deutschland entstehen allein im Monat August etwa eineinhalb Millionen (!) Kriegsgedichte und melden sich zwei Millionen Freiwillige z u m Kriegsdienst. 4 Im Sommer 1914 sind sich freilich auch die meisten noch sicher, daß der Krieg spätestens Ende des Jahres beendet sein würde. 5 G e w i ß gibt es auch, zumal in der Arbeiterschaft, viele Menschen, die die Notiz v o m Krieg nur mit Widerwillen oder Fatalismus aufnehmen. D i e dominierende Stimmung dagegen ist eine zum Krieg bereite patriotische Hochstimmung, die im übrigen für alle beteiligten Länder kennzeichnend ist: „die Szenen, die sich in Berlin und München abspielten, [unterschieden] sich nicht besonders v o n jenen in London, Paris und St. Petersburg". 6 Wenn die Skeptiker und Gegner des Krieges kaum zu hören sind, so liegt das sicherlich auch daran, daß die Intellektuellen, die Wissenschaftler, Schriftsteller und Journalisten, die kraft ihrer Artikulations- und Deutungskompetenz Meinungen und Stimmungslagen zum Ausdruck verhelfen und sie auch entsprechend verbreiten können, in ihrer überwältigenden Mehrheit die Kriegsbegeisterung teilen und sich hinter ihre jeweilige Regierung stellen. D i e Intellektuellengeschichte des Weltkrieges ist in den vergangenen zwanzig Jahren Gegenstand zahlreicher Untersuchungen gewesen. 7 Ein Ergebnis dieser Untersuchungen

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Erich Volkmann (Hg.), Erster Weltkrieg - Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich, Paderborn u. a. 2002. Siehe auch das Kapitel „Willingly to war" in: Hew Strachan, The First World War, Bd. 1: To Arms, Oxford 2001; sowie Wolfgang J. Mommsen, Der Erste Weltkrieg und die Krise Europas, in: Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Irina Renz, „Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch ...". Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkrieges, Frankfurt a.M. 1996, S. 30-52, ibs. S. 32. Vgl. auch Stefan Zweig, Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt a.M. 1994 [1944], S. 264, wo der Unterschied zwischen 1939 von 1914 folgendermaßen geschildert wird: „Man gehorchte [1939], aber man jubelte nicht. Man ging an die Front, aber man träumte nicht mehr, ein Held zu sein." Diese auf Deutschland bezogenen Zahlen entnehme ich Sven Papcke, Dienst am Sieg. Die Sozialwissenschaften im Ersten Weltkrieg, in: ders., Vernunft und Chaos. Essays zur sozialen Ideengeschichte, Frankfurt a.M. 1985, S. 125-142, S. 128. Erstaunlich ist, daß auch die militärischen Eliten dieser Illusion anhingen, obwohl nur wenige Jahre zuvor es unter Militärs eine weit verbreitete Überzeugung war, daß ein europäischer Krieg nach 1871 nicht mehr führbar sei. In seiner letzten Rede im Deutschen Reichstag am 14. Mai 1890 hat einer der erfolgreichsten Feldherrn des 19. Jahrhunderts, Helmuth von Moltke, dieses Unheilsbewußtsein auf den Begriff gebracht: „wenn dieser Krieg zum Ausbruch kommt, so ist seine Dauer und ist sein Ende nicht abzusehen. Es sind die größten Mächte Europas, welche, gerüstet, wie nie zuvor, gegen einander in den Kampf treten [...] es kann ein siebenjähriger, es kann ein dreißigjähriger Krieg werden, - und wehe dem, der Europa in Brand steckt, der zuerst die Lunte in das Pulverfaß schleudert!" (Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, VIII. Legislaturperiode, I. Session 1890/91, 1. Band, Reprint Bad Feilnbach 1986, S. 76.) Vgl. auch M. Epkenhans/ G P. Groß (Hg.), Das Militär und der Aufbruch in die Moderne 1860-1890, München 2003. Roger Chickering, Das Deutsche Reich und der Erste Weltkrieg, München 2002, S. 28. Vgl. zur Intellektuellengeschichte des Krieges: Peter Hoeres, Krieg der Philosophen. Die deutsche und britische Philosophie im Ersten Weltkrieg, Paderborn 2004; Steffen Bruendel, Volksgemein-

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besteht darin, daß die intellektuelle Kriegsbegeisterung des ersten Jahres nicht Ausdruck einer denkschulentypischen Attitüde ist und somit nicht aus einer bestimmten weltanschaulichen Wurzel abgeleitet werden kann: „Rationalisten und Irrationalisten, Idealisten und Anti-Idealisten, Neukantianer, Lebensphilosophen, Pragmatisten - sie finden sich alle unter den kriegsbegeisterten Intellektuellen, und selbst der Marxismus machte seine Vertreter nicht immun gegen Hoffnungen, die sich an den Krieg hefteten."8 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit lassen sich bei einem Durchgang durch die einschlägige Forschungsliteratur drei zentrale Motive im intellektuellen Diskurs erkennen, die eine positive bis euphorische Haltung gegenüber dem Ersten Weltkrieg bewirkt haben: 1.) Ein Offenbarungserlebnis ist fur die meisten die im Kriege scheinbar nachgeholte innere Einigung der Nation. In Deutschland ist dies untrennbar mit dem 1. August 1914, als der Kaiser mit der Formel „Ich kenne keine Parteien und keine Konfessionen mehr" die nationale Versöhnung anbietet, und dem 4. August verbunden, als die einst vaterlandslos gescholtene Sozialdemokratie im Reichstag die Kriegskredite bewilligt und gelobt, in der Stunde der Gefahr das Vaterland nicht im Stich zu lassen. Angesichts der von vielen seit Jahren beklagten Zerklüftung des Reiches in Parteien, Klassen und Milieus wirken diese Ereignisse wie eine sensationelle Wandlung. In diesen Augusttagen verspüren viele, wie auch der Mitherausgeber des ,Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik", Edgar Jaffé, eine „fast lückenlose Einheit des nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls".9 Und Georg Simmel notiert - durchaus repräsentativ für die Stimmung in der deutschen Intelligenz - , „daß die Form der deutschen Existenz in den Schmelztiegel geworfen wurde [...]. Verschwunden ist damit der Mammonismus [...]; verschwunden die Selbstsucht der einzelnen und der Klassen, für die der Gedanke des

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schaft oder Volksstaat? Die ,Ideen von 1914' und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003; Kurt Flasch, Die geistige Mobilmachung: die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg, Berlin 2000, Jeffrey Verhey, Der ,Geist von 1914' und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000; Barbara Beßlich, Wege in den .Kulturkrieg'. Zivilisationskritik in Deutschland 1 8 9 0 - 1914, Darmstadt 2000; Gerhard Kaiser, Wie die Kultur einbrach: Giftgas und Wissenschaftsethos im Ersten Weltkrieg, in: Merkur, Bd. 56 H. 633-644, 2002, S. 210-220; Ulrich Sieg, Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg: Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe, Berlin 2001; Wolfgang J. Mommsen (Hg.), Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996; Hans Joas/Helmut Steiner (Hg.), Machtpolitischer Realismus und pazifistische Utopie. Krieg und Frieden in der Geschichte der Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M. 1989; Sven Papcke, Dienst am Sieg. Die Sozialwissenschaften im Ersten Weltkrieg, in: ders., Vernunft und Chaos. Essays zur sozialen Ideengeschichte, Frankfurt a.M. 1985, S. 125-142; Bernd Hüppauf (Hg.), Ansichten vom Krieg. Vergleichende Studien zum Ersten Weltkrieg in Literatur und Gesellschaft, Königstein 1984; Klaus Vondung, Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen, Göttingen 1979. Hans Joas, Die Sozialwissenschaften und der Erste Weltkrieg: eine vergleichende Analyse, in: Mommsen, Kultur und Krieg, a.a.O., S. 17-29, S. 17. Zit. n. Papcke, Dienst am Sieg, a.a.O., S. 126-127.

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Ganzen zur Chimäre wurde."10 Das kriegsinduzierte Erlebnis der inneren Einheit ist keine deutsche Besonderheit. Was hier der „Burgfrieden" genannt wird, ist in Frankreich das neue politische Glaubensbekenntnis der „union sacrée".11 Im August 1914 trägt so das Solidarprinzip der Nation den Sieg davon und destruiert das Konzept der internationalen Klassensolidarität, ein Ereignis, an dem namentlich die sozialistischen Parteien aller beteiligten Länder mitwirken. Insofern viele daraus die Prognose ableiten, daß mit dem Augusterlebnis die Überwindung der Interessengegensätze innerhalb des Nationalstaates überhaupt verbunden sei, entstehen Illusionen, die nur bitter enttäuscht werden können und auch werden. Die homogenisierende Wirkung des Kriegserlebnisses bleibt dessen ungeachtet ein historisches Faktum, das viele Zeitgenossen in ihren Erinnerungen bezeugen.12 Robert Michels hat sie später unter dem Begriff der „Psychose" abgehandelt: „Eine der erschreckendsten Erscheinungen des Völkerkrieges bestand in der ausnahmslosen Kritiklosigkeit, mit welcher die einzelnen Völker auch in ihren erlesensten Schichten die Politik ihrer Regierung mitverfochten." Von einer kleinen Minderheit abgesehen, die es vorzog, „ihre abweichende Haltung in kluges Schweigen zu verhüllen", sei die „ungeheure, einzig wahrnehmbare Mehrheit [...] allenthalben von dem Gedanken ihres nationalen Rechtes gänzlich hypnotisiert" gewesen: „Wie eine schwere Form der Geisteskrankheit legte sich der patriotische Nebel über sie und bedeckte sie mit seiner, ihr alle Besinnung, alles Gleichmaß, alles Gerechtigkeitsgefühl raubenden Tarnkappe." „Unbegreiflich" müsse dies dem erscheinen, der die großen Meinungsverschiedenheiten innerhalb der kriegsbeteiligten Länder vor dem Krieg kannte. Das abrupte Ende der inneren Pluralität war Michels zufolge teils, massenpsychologisch gesehen, die „Folge eines vaterländischen, alles Ungleiche gleichmachenden Rausches"; teils entsprang es aber auch den Maßnahmen der Staatsgewalt, war „Folge der gar nicht hoch genug anzuschlagenden Gewalt, welche sich die Regierung in den ersten maßgebenden Wochen nach Kriegsausbruch auf Grund der Staatsnotwendigkeiten erwirbt, und durch welche die Presse als Machtmittel in der Hand des Hauptinteressenten Staat konzentriert und von jeder Kritik isoliert wird."13

10 Georg Simmel, Bergson und der deutsche ,Zynismus', in: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik, Heft 9, 1914/15, Spalte 199; zitiert nach Klaus Lichtblau, Georg Simmel, Frankfurt a.M./New York 1997, S. 120. 11 Marcus Llanque, Demokratisches Denken im Krieg. Die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg, Berlin 2000, S. 24; Vgl. Thomas Raithel, Das ,Wunder der inneren Einheit. Studien zur deutschen und französischen Öffentlichkeit bei Beginn des Ersten Weltkrieges, Bonn 1996. 12 Stefan Zweig, Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt a.M. 1994 [1944], S. 261: „Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muß ich bekennen, daß in diesem ersten Aufbruch der Massen etwas Großartiges, Hinreißendes, Verführerisches lag, dem man sich schwer entziehen konnte. [...] Wie nie fühlten die Tausende und Hunderttausende Menschen, was sie besser im Frieden hätten fühlen sollen: daß sie zusammengehörten. [...] Alle Unterschiede der Stände, der Sprachen, der Klassen, der Religionen waren überflutet für diesen einen Augenblick von dem Gefühl der Brüderlichkeit." 13 Michels, Einfluß des Milieus auf die Person, in: Die Biologie der Person, Bd. IV, Lieferung 10, 1928, S. 447-508, S. 462-464.

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2.) Ein weiterer bedeutender Faktor der intellektuellen Kriegseuphorie entstammt einer ästhetischen Zivilisationskritik, die den Krieg als „Befreiung von der tödlichen Langeweile eines sterilen Materialismus" erlebt.14 Von der Oberflächlichkeit und Künstlichkeit des Vorkriegslebens zum persönlichen und nationalen Existenzbeweis im Krieg - dieser bellizistische Vitalismus läßt Werner Sombart das „Weltfest des Krieges"15 bejubeln und viele andere an eine moralische Regeneration der gesamten Nation glauben. Robert Michels hat diese Strömung auch in Italien bemerkt und mit den Worten charakterisiert, daß sie „den Krieg um des Krieges willen" fordere und als Ausfluß ihrer kollektiven „romantischen Infektion" die Beteiligung am Konflikt als eine „ästhetische oder moralische Notwendigkeit" hinstelle.16 3.) Der Pazifismus spielt in diesem Kontext keine Rolle.17 Das hat die meisten Politiker überrascht: angesichts der machtvollen Friedensdemonstrationen in allen europäischen Großstädten in den Jahren zuvor hatten sie mit dem Gegenteil gerechnet.18 Stattdessen wird der Krieg insbesondere von den intellektuellen Deutungseliten in ihrer überwältigenden Mehrheit, wenn schon nicht mit bellizistischer Begeisterung, so doch zumindest äußerst optimistisch - als eine Wende zum Besseren - aufgenommen. Ihre positive Einschätzung verdankt sich nicht zuletzt der intellektuellen Befähigung zur Sinnproduktion, die diesen Krieg zu einem Kampf um kulturelle Prinzipien und geistigmoralische Werte stilisiert und legitimiert. Der Erste Weltkrieg ist daher auch als ein „Kulturkrieg" in die Annalen eingegangen, weil er weit ab von der Front mit der Feder geführt worden ist. Die Masse an Sinnstiftungsliteratur, die er hinterlassen hat, deutet darauf hin, daß er von vielen Intellektuellen geradezu als eine bildungsbürgerliche Herausforderung angenommen worden ist.19 Das herausragende Deutungsmuster in diesem Kontext ist das Paradigma von ,Kultur versus Zivilisation' auf deutscher Seite, und von Zivilisation versus Barbarei' auf französischer Seite. Wenn Werner Sombart den Krieg

14 So Wolfgang J. Mommsen, Einleitung: „Die deutschen kulturellen Eliten im Ersten Weltkrieg", in: ders. (Hg.), Kultur und Krieg, a.a.O., S. 1-15, S. 7, über Georg Heym, Robert Musil und Ernst Toller. 15 Zit. n. Papcke, Dienst am Sieg, S. 128. 16 Michels, I problemi attuali della politica italiana, Sonderabdruck der Zeitschrift „Nuova Antologia", Rom Mai 1915, 14 Seiten, S. 14: „Un piccolo nucleo di italiani propugna l'entrata in guerra della loro patria, affermando quasi per contagio romantico la necessità estetica o morale di partecipare al conflitto [...]; vuole insomma la guerra per la guerra." 17 Lähmung und Ratlosigkeit kennzeichnen den organisierten Pazifismus zu Beginn des Krieges. Namhafte Mitglieder der „Deutschen Friedensgesellschaft" wie Wilhelm Foerster (nicht zu verwechseln mit seinem Sohn Friedrich Wilhelm) werden sogar im Oktober 1914 den nationalistischen A u f r u f , A n die Kulturwelt" unterzeichnen, der das militärische Vorgehen des Deutschen Reiches rechtfertigt. Vgl. Karl Holl, Pazifismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988, S. 103ff. 18 Sir Michael Howard, Der Erste Weltkrieg. Eine Neubetrachtung, in: Jay Winter/Geoffrey Parker/ Mary R. Habeck, Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert, Hamburg 2002, S. 19-34, S. 24. 19 Vgl. allgemein die Beiträge in Mommsen, Kultur und Krieg, a.a.O.; sowie Marcus Llanque, Demokratisches Denken im Krieg. Die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg, Berlin 2000, S. 23: „Die Sinnstiftungsliteratur war ein bildungsbürgerliches Ereignis und trug komprimiert alle Züge bildungsbürgerlicher Geltungssucht, die für das politische Denken nur selten Früchte getragen hat."

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als Konflikt zwischen einer heldenhaften' deutschen und einer ,krämerischen' westlichen Kultur ausgibt, so steht er bei aller ihm eigenen Zuspitzung durchaus auf der Höhe einer weit verbreiteten und akzeptierten Selbstwahrnehmung deutscher Intellektueller. In der antipodischen Gestaltung der öffentlichen Kriegsrhetorik mit den Begriffen „deutsche Kultur" versus „westliche Zivilisation" vollziehen diese in den „Ideen von 1914"20 den Schulterschluß zwischen dem „Machtstaat" und dem „Kulturstaat" und verteidigen den in der Vorkriegszeit noch verachteten „Militarismus" als Wesensverwandten der „deutschen Freiheit". Demgegenüber verteidigen französische, englische und später auch amerikanische Autoren den Kampf ihrer Staaten als Kampf für Freiheit und Demokratie und gegen die deutsche „Barbarei". Das Deutsche Reich befördert diesen Barbarei-Vorwurf durch seine eigene Kriegführung: den völkerrechtswidrigen Einmarsch in Belgien und die Zerstörung der Bibliothek von Leiden gleich zu Kriegsbeginn. Die Intellektuellen der alliierten Seite begnügen sich aber beim Nachweis der deutschen „Barbarei" nicht mit diesen Vorfällen, sondern führen sie auf eine pathologische Fehlentwicklung des „deutschen Geistes" zurück. Zum prominenten Fallbeispiel avanciert in diesem Diskurs Heinrich von Treitschke, in dessen Werk die „Gesinnung" der Deutschen schlechthin zu ihrem Ausdruck komme. 21 In der Forschung ist dieser „Krieg der Geister" immer wieder - insbesondere unter Rückgriff auf die These vom „deutschen Sonderweg" - als Ausdruck der unterschiedlich entwickelten politischen Kulturen und damit als Resultante historischer Präfigurationen gewertet worden. So war die „union sacrée" in Frankreich mit einem Stolz auf die eigene republikanische Ordnung verbunden, die sich schon vorher etabliert hatte, während der deutsche „Burgfrieden" von politischen Ordnungsvorstellungen dominiert war, die sich als Alternative oder Gegenentwurf zu den „Ideen von 1789" verstanden. In Deutschland ist die Parlamentarisierung des Reiches tatsächlich erst später - infolge der allgemeinen Desillusionierung über den „Stellungskrieg" bzw. die „Materialschlacht" auf die Tagesordnung der intellektuellen Debatte gelangt. Andererseits ist in jüngerer Zeit auch die Eigendynamik des Konfliktes stärker betont worden, die davor bewahren sollte, den fundamentalistisch ausgetragenen „Kulturkrieg" als Ausfluß zwingender historischer Traditionslinien, etwa der , freiheitlichen Kultur des Westens' einerseits, der .autoritären deutschen Kultur' andererseits, zu verstehen. In dieser Lesart schaukeln sich erst im „polemischen Gespräch" unter Kriegsbedingungen Selbst- und Fremdbilder wechselseitig hoch, die dann Deutungsmacht erlangen und die es ohne den Krieg so sicherlich nicht gegeben hätte. 22

20 Hier im weiteren Sinne verstanden. Ursprünglich stammt der Begriff von dem Soziologen Johann Plenge, der damit eine am Vorbild der Kriegswirtschaft orientierte rationalere Organisation der Gesellschaft propagierte. 21 So Emile Durkheim, Deutschland über alles'. Die deutsche Gesinnung und der Krieg, Paris 1915; Neudruck in ders., Über Deutschland. Texte aus den Jahren 1887-1915, Konstanz 1995, S. 245-290. 22 In jüngster Zeit ist oft bezweifelt worden, ob es sich bei der Begriffskontrastierung im deutschen Kriegsdiskurs wirklich um die Verlängerung einer zivilisationsfeindlichen Tradition in Deutschland handele oder ob man statt dessen von einer zivilisationsfeindlichen Wende sprechen solle, die erst mit dem Krieg zum Durchbruch gekommen sei. Vgl. hierzu Jörg Fisch, Art. „Zivilisation,

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Eine alternative Lesart des Kriegsdiskurses, die ihn weder als Fortsetzung einer bestimmten politisch-kulturellen Tradition noch als Phänomen sui generis versteht, hat in diesem Zusammenhang Robert Michels vorgeschlagen: seines Erachtens sind die kollektiven Selbst- und Fremdbilder des Kriegsdiskurses schon vorher potentiell vorhanden gewesen, es bedurfte aber des Krieges, um sie aus den moralischen Hegungen der Vorkriegszeit zu entfesseln. Der Weltkriegsliteratur komme daher ein besonderer heuristischer Wert für das Studium der Psychologie des Nationalismus zu: Sie bringe „nichts, was im natürlichen Ruhezustand der Völker nicht bereits vorhanden gewesen wäre und f...] bietet in ihrer Offenheit und Ungebundenheit angesichts des normalerweise vorhandenen moral restraint sonst schwer erhältliche Aufschlüsse."23 Es mag verwundern, daß Robert Michels in den zahlreichen Studien zur Geschichte der Intellektuellen in der Zäsur von 1914 - von wenigen Randbemerkungen abgesehen nicht vorkommt; weder theoretisch, trotz seiner am Weltkrieg exemplifizierten Überlegungen zur Rolle des nationalen „Messianismus" und Missionarismus in der Kriegführung,24 noch biographisch, obwohl er doch als der „wahrscheinlich kosmopolitischste Intellektuelle der Jahrhundertwende"25 gilt. Wenn dieser sich nun ausgerechnet als „Propagandist für Italiens Kriegseintritt gegen Deutschland" (Paul Honigsheim)26 betätigt haben soll, wäre dies doch Anlaß genug gewesen, Michels in die Analyse der intellektuellen Kriegspathologien aufzunehmen. Für dieses Manko gibt es eine einfache Erklärung: im landläufigen Michels-Bild gelten dessen Weltkriegspositionen gerade nicht als eine spezifische Reaktion auf die

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Kultur" in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, Stuttgart 1992, S. 679-774, dort S. 752 und 759, demzufolge die nationalistische Polarisierung der beiden Begriffe nur eine auf den Weltkrieg beschränkte Episode in der begriffsgeschichtlichen Entwicklung darstellt. Viel spricht für die Einschätzung von Jürgen von Ungern-Sternberg, daß der „Krieg der Geister" ein „polemisches Gespräch" gewesen ist, das „nicht von der Analyse nur eines Partners her verstanden werden kann". Der emphatische Begriff „deutscher Kultur" sowie die positive Wendung des Denunziationsbegriffs „Militarismus" im Aufruf deutscher Professoren „An die Kulturwelt!" erweisen sich in dieser Perspektive als Ausdruck der Defensive auf einem semantischen Feld, das mit dem deutschen Einmarsch in Belgien durch die alliierten Vorwürfe gegen die „deutsche Barbarei" bereits konfiguriert war. Für die Bedeutung des polemischen Kontextes spricht, daß von deutscher Gelehrtenseite die französischen und englischen Denunziationen der Barbarei, gerade insofern sie sich auf die militaristische und autokratische politische Kultur beziehen, nicht negiert, sondern mittels eines Vorzeichenwechsels auf eine höhere Stufe, der „deutschen Kultur" eben, gehoben und ins SelbstAffirmative gewendet werden. Vgl. Jürgen von Ungern-Sternberg, Wie gibt man dem Sinnlosen einen Sinn? Zum Gebrauch der Begriffe ,deutsche Kultur' und ,Militarismus' im Herbst 1914, in: Mommsen, Kultur und Krieg, a.a.O., S. 77-96. Michels; Neue Polemiken und Studien zum Vaterlandsproblem, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Heft 1, Bd. 66, August 1931, S. 92-131. Michels, Der Patriotismus, a.a.O., S. 21-49. So Frank R. Pfetsch in seiner Einleitung zur „Soziologie des Parteiwesens", 4. Aufl., a.a.O., S. XVIII. So Paul Honigsheim, Die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Heft 1, 11. Jg., 1959, S. 3-10, S. 10.

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Zäsur von 1914. Dem „stereotipo mistificato" (Ferraris) der älteren Studien über Michels zufolge sind bei ihm die Würfel schon vorher, etwa 1911/12, gefallen, mit seinem vermeintlichen Anschluß an den imperialistischen Nationalismus Enrico Corradinis. Die bis heute in nahezu allen Einführungen als festes biographisches Datum präsentierte Hypothese, Michels habe einen Kriegseintritt Italiens gegen Deutschland propagiert, ergibt sich somit logisch aus der vorhergehenden Hypothese der älteren Studien, er sei ein Parteigänger der ohnehin interventionistischen Neonationalisten gewesen. Eine Variante dieses Ansatzes besteht in der Hypothese, er habe sich aus einem bellizistischen Voluntarismus heraus der interventionsbefürwortenden Minderheit der italienischen Sozialisten um Benito Mussolini angeschlossen - eine Behauptung, für die übrigens nie der geringste empirische Beleg erbracht worden ist.27 In der Optik der früheren Forschung ist es dabei einerlei, ob Michels' Kriegskurs durch das Corradini- oder das Mussolini-Spektrum motiviert gewesen ist, weil vor dem Hintergrund des vorausgesetzten „intrinsischen Links-Rechts-Zusammenhangs" (Frank R. Pfetsch) beide Spektren ohnehin an einem gemeinsamen, präfaschistischen Strang gezogen haben. Völlig neue Töne, die dieses tradierte Bild erheblich differenzieren, sind allein in einigen jüngeren italienischen Publikationen zu finden. Im Hinblick auf die Phase zwischen dem Kriegsbeginn am 1. August 1914 und dem Kriegseintritt Italiens am 24. Mai 1915 ist schon Luciano Tosi aufgefallen, daß Michels sich am Krieg mit der Feder offensichtlich nicht beteiligen wollte, seine Publikationen auf eine „Beruhigung der Gemüter" abzielten und sie die „manichäische Optik" vermieden, die fur den intellektuellen Kriegsdiskurs typisch war. Ganz lapidar stellt Tosi auch fest, daß Michels bis zum italienischen Kriegseintritt, und zwar noch am Vorabend des 24. Mai 1915 für die Neutralität seiner Wahlheimat eingetreten ist.28 Dieser Befund ist inzwischen durch die Herausgabe der Weltkriegskorrespondenz von Michels mit dem französischen Sozialisten Augustin Hamon und dem Berliner Verleger Julius Springer bestätigt und vertieft worden. Auch die Motive, die Michels nach der italienischen Intervention veranlaßt haben, diese entgegen seiner neutralistischen Position vorher zu rechtfertigen, sind darin dokumentiert: allen voran das Ziel einer Neuordnimg Europas nach dem Nationalitätenprinzip und die Befriedigung der irredentistischen Ansprüche Italiens im Konflikt mit Österreich. 29

27 So schreibt Röhrich (1972: S. 116), ohne dies zu belegen, Michels „verfolgte inmitten einer kriegsbegeisterten Minderheit die Kundgebungen Mussolinis". Vgl. auch Heinrich A. Winkler, Robert Michels, a.a.O., S. 72: „Von den Positionen her, die er schon vor 1914 bezogen hatte, war es kaum noch verwunderlich, daß Michels während des Krieges seine Sympathien jener Richtung innerhalb der Linken zuwandte, die mit dem parteioffiziellen Pazifismus resolut brach." 28 Luciano Tosi, Michels, la prima guerra mondiale e le relazioni internazionali, in: Gian Bagio Furiozzi (Hg.), Roberto Michels tra politica e sociologia, a.a.O., S. 171-193, S. 178: Michels „cercò di far opera di pacificazione degli animi, evitando le rigide contrapposizioni e rifiutando l'ottica manichea tipica allora di molti intellettuali [...]." „alla vigilia dell'intervento [...] Egli tentava di giustificare la neutralità dell'Italia [...]." 29 Corrado Malandrino, Lettere di Roberto Michels e di Augustin Hamon (1902-1917), in: Annali della Fondazione Luigi Einaudi, Vol. XXIII, Torino 1989, S. 487-562; Timm Genett, Lettere di

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Im folgenden soll Michels' Kriegsposition vor und nach der italienischen Intervention beleuchtet werden. Dabei wird zu zeigen sein, daß der Kriegsausbruch für Michels zunächst ein traumatisches Erlebnis ist, auf das er aus einer europäischen und geradezu pazifistischen Haltung mit tiefer Abscheu reagiert. Mit dem Kriegsverlauf setzt sich allerdings die normative Krise des Autors fort. Legt man private wie öffentliche Äußerungen nebeneinander, dann teilt sich darin eine innere Zerrissenheit zwischen mehreren miteinander kontrastierenden Positionen mit: so drückt sich Michels' alteuropäischer Werteuniversalismus und Kosmopolitismus in seiner Forderung einer Neuordnung Europas nach dem Nationalitätenprinzip sowie in seinem Eintreten für eine europäische Zollunion aus. Unvermittelt daneben stehen einerseits Bewertungen des Kriegsgeschehens allein nach Maßgabe der italienischen Interessen, etwa des vom Ministerpräsidenten Salandra ausgerufenen „sacro egoismo" - der von Michels erst neutralistisch, dann interventionistisch, im Hinblick auf die Kriegsziele allerdings moderat gedeutet wird - , und andererseits ein historischer Pessimismus, der dem Kriegsgeschehen jeglichen Sinn und allen beteiligten Seiten, den Franzosen wie den Deutschen, die beanspruchte demokratische oder kulturelle Legitimation zur eigenen Kriegsführung abspricht. Indem Michels aber schließlich den Irredentismus, d. h. die , Erlösung' der Italiener im Trentino und in Triest, als das einzig legitime Motiv der italienischen Intervention ausgibt und allen weitergehenden Kriegszielen eine Absage erteilt, schlägt er sich im inneritalienischen Deutungskampf um das nationale Erbe auf die Seite deijenigen, die den garibaldinisch-risorgimentalen Gründungsmythos propagieren, und stellt sich zumindest der sachpolitischen Argumentation nach gegen den Imperialismus der ,neuen Nationalisten' um Corradini. Dennoch ist Michels' Selbstdarstellung, wonach sein Kriegsengagement nur die logische Fortsetzung seines Vorkriegsirredentismus und seines Einsatzes für das Selbstbestimmungsrecht der Völker sei, nicht überzeugend. Der Mai 1915 bedeutet für sein Wirken die definitive Wende vom staatsskeptischen zum regierungstreuen Patriotismus. Michels legt im Mai 1915 die theoretische Unterscheidung zwischen Staats- und Nationspatriotismus ad acta und betätigt sich objektiv wie ein Sprecher der italienischen Regierung im Ausland. Mit seiner moderaten Darlegung der italienischen Interessen, dem Verzicht auf aggressive Töne und dem universalistischen Argumentationsmuster des Nationalitätenprinzips setzt sich Michels dabei zwar dezidiert vom konfrontativen Stil des ,Kulturkrieges' ab. Das ändert aber nichts daran, daß Michels in diesem Krieg wie viele andere Intellektuelle Propaganda betreibt. Denn die Kriegspolitik der Regierung Salandra, die er ab dem 24. Mai 1915 legitimiert, ist expansiv angelegt und schert sich nur wenig um Minderheitenrechte in den ihr im Londoner Abkommen zugesprochenen Territorien. Insofern liefert Michels im Mai 1915 seinen ersten Beitrag zur .trahison des clercs' (Julien Benda). Dieser Verrat einstiger Grundpositionen ist um so überraschender, als Michels innerhalb von wenigen Wochen dabei auch seine fiinda-

Roberto Michels e di Julius Springer, (1913-1915), in: Annali della Fondazione Luigi Einaudi, Vol. XXX, Torino 1996, S. 533-555.

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mentale Kriegsskepsis beiseite legt und den Neutralitätskurs verwirft. Max Weber hat ihm in diesem Zusammenhang Opportunismus vorgeworfen. Der Erste Weltkrieg stürzt den Autor darüber hinaus in eine nationale Identitätskrise. In der polarisierten internationalen Debatte wird Michels schon bald zwischen allen Stühlen sitzen: in Deutschland als Verräter verfemt und in Italien als Ausländer argwöhnisch beäugt. Die ostentativ vorgetragene „Liebe zu Italien", die zuweilen den Aspekt eines Patriotismus sans phrase hat, ist ohne diesen Diskurskontext, in dem sich der praktisch staatenlose Michels bewegt, nicht zu verstehen. Vieles läßt vermuten, daß erst der Krieg ihn auf Bahnen gelenkt hat, welche für die frühere Forschung schon vorher zementiert gewesen sind. In einem Exkurs zu Michels' Aktivitäten in der deutschsprachigen Soziologie werden wir zu dem Ergebnis kommen, daß Michels seinen Antrag auf die italienische Staatsbürgerschaft, den er 1913 stellt, aber erst 1921 bewilligt bekommt, zunächst nicht als Bruch mit Deutschland verstanden hat, sondern daß er bis in den August 1914 nach einer Professur in Deutschland strebt. Vor diesem Hintergrund ist der Krieg in Michels' Biographie auch als definitives Ende eines kosmopolitischen Lebensideals zu verstehen, in dem sich elektiver Patriotismus und beruflicher Lebensweg nicht notwendig überschneiden müssen. Im Anschluß an die Rekonstruktion seiner interventionistischen Wende vom Mai 1915 werde ich im Schlußteil wieder auf die ,andere' Seite von Robert Michels eingehen, der bis in die frühe Nachkriegszeit Kontakt zur pazifistischen Kriegsopposition um Willhelm Muehlon und Eduard Bernstein hält. In diesem Kontext geht es um die Kritik an der deutschen Kriegsschuld und die Mitverantwortung der deutschen Sozialdemokraten. Für diesen Komplex hat sich Michels internationalistische und antimilitaristische Töne bewahrt, die in krassem Gegensatz zu seiner bedingungslosen Solidarität mit dem italienischen Kriegskurs stehen. Kritische Untertöne sind von ihm zwar auch im italienischen Kontext zu vernehmen, aber diese äußert Michels nie politisch, sondern mythologisch. Seine Arbeit am nationalen Mythos der Italiener ist eindeutig den Normen der Liberalität, Toleranz und des Individualismus verpflichtet. Damit , leistet' sich Michels ein mythisches Kontrastprogramm zu der von ihm selbst legitimierten Realpolitik Italiens. Derselbe Vorgang wird sich in den zwanziger Jahren nach der Machtübernahme Mussolinis wiederholen. Die Rekonstruktion der Michelsschen Weltkriegspublizistik wäre aber nur Stückwerk, wenn sie nicht auch die Frage stellen würde, welche Analyse des Krieges von dem Autor vor dem Hintergrund seiner Vorkriegspublizistik zu erwarten gewesen wäre. Den drohenden Krieg zwischen Frankreich und Deutschland hatte Michels ja schon als Sozialdemokrat prognostiziert und dies vor allem mit der unvollendeten, nämlich politisch steckengebliebenen Modernisierung des Deutschen Reiches begründet. Von seiten der linksliberalen Intelligenz ist dementsprechend von Michels eine Wiederaufnahme früherer Analysen erwartet worden. Auch erwartete man von ihm ein publizistisches Kriegsengagement zugunsten der ,westlichen Demokratie' gegen die ,preußische Autokratie'. Als Richard Greilings anonyme Streitschrift gegen das Kaiserreich - das berühmte „J'accuse" - erscheint, wird man Robert Michels der Autorenschaft verdächtigen bzw. ihm dazu gratulieren.

IX.2. Abschied vom deutschen Sonderweg

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2. Abschied vom deutschen Sonderweg: Die ausgebliebene modernisierungstheoretische Analyse des Krieges Schon 1906 hatte Michels prognostiziert, daß der „genetische Punkt" des kommenden innereuropäischen Krieges „exklusiv im offiziellen Deutschland" liege.30 Was den Ausbruch eines Krieges gerade von deutscher Seite so wahrscheinlich machte, waren Michels zufolge die Modernisierungsdefizite im politischen Institutionengefiige wie in seiner politischen Kultur, in denen er eine „kriegerische Fatalität" angelegt sah. Institutionell neigte das seiner Meinung nach letztlich autokratische Deutschland schon aufgrund seiner Herrschaftsform eher zum Krieg als das republikanische Frankreich, weil die auf Prärogativen wie der Kriegserklärungsbefugnis und dem Auflösungsrecht gegenüber dem Reichstag beruhende Autorität Wilhelms II. im Ernstfall in dem machtlosen Parlament kein ernst zu nehmendes Gegengewicht finden würde. Was in den Entscheidungsstrukturen des Reiches, insbesondere im persönlichen Regiment des Kaisers angelegt war, wurde Michels' frühen Analysen zufolge durch die „militarisierte Psychologie" der Mittelklassen komplettiert. Nicht weil das Bürgertum bellizistisch sei, sondern aufgrund seiner mentalen Militarisierung - als deren Angelpunkt Michels wie Eckart Kehr die Institution des Reserveoffiziertitels hervorhob - könne die Regierung „sicher sein, daß ihr diese Schichten blind folgen werden". Zu den kriegsbegünstigenden Faktoren der politischen Kultur der Deutschen zählte zudem ein pathologisches Nationalbewußtsein, das teils durch die Regierung zum Zwecke der Systemstabilisierung forciert, teils auch durch neue nationalistische Strömungen in der Gesellschaft vorangetrieben wurde. Im aggressiven Nationalismus der Mittelschichten verbanden sich pangermanisch-imperiale Elemente mit atavistischen Hymnen auf die „gewaltige physische Kraft des eigenen Volkes". Daß ausgerechnet die deutsche Bourgeoisie dem Großmacht- und nationalem Prestigedenken anhing, war für Michels der Beweis einer historischen Fehlentwicklung Deutschlands seit der Niederlage des politischen Liberalismus von 1871: „Nicht der Krieg", hatte Michels im Kontext der ersten Marokko-Krise postuliert, „sondern die Zollunion mit Frankreich müßte die Devise eines Kapitalismus in Deutschland sein", wenn er „selbstbewußt" wäre. Seine Prognose des kommenden Krieges begründete Michels schließlich auch damit, daß die bestorganisierte Arbeiterbewegung Europas, die deutsche Sozialdemokratie, im Ernstfall nichts tun würde, um diesen Krieg zu verhindern, sondern höchstwahrscheinlich ihn sogar unterstützen würde. Er begründete dies damit, daß die Selbsterhaltungsimperative der Parteiorganisation eine Anpassung des Organisationshandelns an die konservativen Tendenzen des Reiches bewirkt und sich darüber die politischen Modernisierungsdefizite des Gesamtstaates innerhalb der Partei reproduziert hatten. So wie Michels in den Jahren 1905 bis 1907 angesichts der ersten Marokko-Krise das ökonomische und militärtechnologische Fortgeschrittensein Deutschlands mit der

30 Michels, Divagazioni sullo Imperialismo Germanico e la Questione del Marocco, a.a.O., S. 5. Bei der folgenden Skizze verzichte ich auf weitere Fußnoten, da die einzelnen Thesen bereits im Kapitel IV.5. (Probelauf für den Weltkrieg) ausführlich dokumentiert worden sind.

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autoritären Verformung seiner politischen Institutionen und seiner politischen Kultur kontrastiert und diese widersprüchliche Modernisierung auf die Ebene der Kriegsursachenforschung extrapoliert hat, erinnert dies an ähnliche Ansätze im Spektrum des amerikanischen Liberalismus, namentlich Thorstein Vehlens „Imperial Germany and the Industrial Revolution".31 Hans Joas hat die Vermutung ausgesprochen, daß in dieser amerikanischen Erklärung des Ersten Weltkrieges ein eigenständiger Ursprung der deutschen Sonderwegsdebatte liegt. Die Definition Deutschlands als „Irrläufer der Modernisierung" habe es nämlich erlaubt, den Krieg als „Relikt der Barbarei" und nicht als „Produkt der Moderne" zu begreifen, und damit auch eine Wiederaufnahme des progressiv-evolutionären Weltbildes nach seiner anfänglichen Erschütterung ermöglicht.32 Die Kategorien dieses modernisierungstheoretischen Ansatzes sind freilich seinerzeit nicht allein in den USA entdeckt worden, in den Köpfen europäischer Linksliberaler kursierten sie - wie im Fall Michels - schon vor dem Weltkrieg und sollten dann auch Eingang in die dichotome Propaganda eines Krieges zwischen der westlich-demokratischen „Zivilisation" und dem deutschen „Militarismus" finden. Michels hat seine Überlegungen aus der Vorkriegszeit nicht wieder aufgenommen. Anregungen gab es dazu. So hat Eduard Bernstein 1917 Michels' Vorkriegsschriften rückblickend als „Vorhersagungen" gewertet, „die man lieber nicht in Erfüllung gehen sieht."33 Der ehemalige Krupp-Direktor und zum Antimilitarismus konvertierte Wilhelm Muehlon schlägt 1918 eine Neuausgabe der Vorkriegsschriften vor.34 Und Ernest Belfort Bax erwähnt ebenfalls 1918 in einer Reflexion über den Ersten Weltkrieg Michels' Engagement vor dem Krieg.35 Daß es bei Michels zu einer, wie oben angedeutet, modernisierungstheoretischen, am deutschen Sonderweg orientierten Interpretation dann jedoch nie gekommen ist, kann ein bedeutendes Indiz dafür sein, daß das weltanschauliche Hinterland einer solchen Deutung, das evolutionär-progressive Welt- und Geschichtsbild, im Krieg erodiert. Diese Erosion, die sich für Michels' weitere Entwicklung als definitiv erweisen wird, schließt eine Erosion seiner universalen bzw. kosmopolitischen Wertüberzeugungen nicht notwendigerweise ein. Sie nimmt ihnen aber ein für allemal ihre geschichtsphilosophische Garantie. Nicht zufällig teilt sich in Michels' ersten Reaktionen auf den Kriegsausbruch eine Kontingenzerfahrung mit, die man in dieser Dimension nicht von ihm kannte. Der Krieg wird ihm zum Indikator eines heillosen Zufallsspiels der Evolution. Er bezweifelt, daß die Anomie der Schlachtordnung irgendein humanes Ziel befordern

31 Erstauflage 1915, zuletzt New Brunswick/N.J. 1990. 32 Hans Joas, Die Sozialwissenschaften und der Erste Weltkrieg: eine vergleichende Analyse, in: W. J. Mommsen, Kultur und Krieg, a.a.O., S. 17-29. 33 Brief von Bernstein an Michels, 19.6.1917, ARMFE. 34 Vgl. den Brief von Michels an Muehlon, 9.2.1918, Archiv des Institutes für Zeitgeschichte München, Signatur ED 142/18; Nr. 3159. Michels gibt hier sein Einverständnis zu einem Neudruck von „Die deutsche Sozialdemokratie im internationalen Verbände." 35 Vgl. Rezension von Michels zu Ernest Beifort Bax, Reminiscences and Reflexions of a mid and late Victorian, London 1918, in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, Sonderabdruck, Bd. 4 [? unleserlich], Heft 1, o.J., S. 146-148.

IX.3. Resignative Skepsis und politische Neutralität

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könne, da über den Ausgang des Krieges andere Faktoren als die jeweiligen moralischen Begründungen entscheiden. Alles scheint somit möglich - sicher scheint ihm nur eines zu sein: daß auch die edleren Beweggründe der Kriegführung in der Stunde des Sieges entweder vergessen oder in Instrumente der Unterwerfung verwandelt würden, und daß der „Frieden fast noch scheußlicher als der Krieg sein wird: haßsüchtig, nachtragend, jammervoll und wenig befriedigend. Denn man muß sagen, muß es vorhersehen, daß er keines der Probleme lösen wird, die uns am Herzen liegen."36

3. Resignative Skepsis und politische Neutralität (August 1914 - Mai 1915) Kriegsverachtung und Verzweiflung kennzeichnen Michels' Reaktion auf den August 1914. Die Zeilen, die er unmittelbar nach Kriegsausbruch an seine Frau richtet, können dabei auch als Dementi einer bis dato - dem soziologischen Pessimismus der Voijahre zum Trotz - noch fortbestehenden progressiven Weltanschauung gelesen werden: ,JDer Krieg zerstört viele meiner schönsten Hoffhungen u. nimmt mir den letzten Rest Optimismus u. Idealismus, d. h. Glaube an die Vernunft im Menschenleben."3? Diese resignative Stimmung hält noch Monate an, wird dann durch sein patriotisches Engagement für Italien unterbrochen, begleitet ihn aber während des gesamten Krieges.38 Noch am Tag des italienischen Kriegseintritts, am 24. Mai 1915, schreibt er an Augustin Hamon: „Meine Meinung über den Krieg? [...] Ich verachte ihn. Ich glaube nicht, daß er irgendetwas Nützliches herbeiführen wird."39 Ebenfalls im Mai 1915 bekräftigt er seinen Kosmopolitismus und artikuliert deutlich seine intellektuelle Isolation in einem Kontext, der vom nationalistischen Gesinnungszwang geprägt ist: „Der Krieg hat mich völlig in die Verzweiflung getrieben und ich weiß nicht mehr, an was ich glauben soll. Auch wenn ich eher der Sache der Alliierten

36 Brief von Michels an Hamon, 16. Februar 1917, in: Malandrino, Lettere ..., S. 560-561: „Pauvre humanité; et dire que la paix sera presque plus hideuse que la guerre: haineuse, rancunière, déchirée et peu satisfaisante. Car il faut dire, le prévoir, qu'elle ne résoudra point tous les problèmes qui nous tiennent à coeur." 37 Brief von Robert Michels an seine Frau Gisela, 2.8.1914, ARMFE. Meine Hervorhebung: semantisch indiziert die Explikation von „Idealismus" als „Glaube an die Vernunft im Menschenleben" eine fortbestehende Verankerung im Wertekosmos der europäischen Aufklärung. Der Appell an die Vernunft unterscheidet Michels von den neuen sozialen Bewegungen von rechts, steht aber auch in Kontrast mit seinen eigenen soziologischen Studien. 38 Vgl. den oben zitierten Brief an Hamon vom Februar 1917, dessen Prognose, der Krieg werde keines der Probleme, die „uns am Herzen liegen", einen Kontrast zu Michels' gleichzeitigem patriotischem Engagement für Italien zu diesem Zeitpunkt bildet. 39 Zit. n. Malandrino, Lettere di Michels e Hamon, S. 554: „Mon avis sur la guerre? Le voilà, en quelques mots. Je la déteste. Je ne crois pas qu'elle aboutira à quelque chose d'utile."

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zuneige, bin ich zu sehr Internationalist von Blut, Kultur und Geschmack, um einseitig sein zu können. Und einseitig zu sein, das ist geradezu die Pflicht in dieser Stunde."40 Ohne Kenntnis der Briefe an Hamon wüßten wir nicht, daß Michels in den ersten Kriegsmonaten überhaupt eine Präferenz für die eine oder andere Seite gehabt hat. Nur in seinen privaten Äußerungen und in seinem Kriegsnotizbuch gibt er zu erkennen, daß er eine deutsche Hegemonie in Europa mehr fürchtet als alles andere41 und daher „eher der Sache der Alliierten" zuneigt. In seinen gedruckten Äußerungen dagegen läßt er nicht die geringste Präferenz erkennen und enthält er sich auch jeglicher Kritik am Vorgehen des deutschen Militärs in Belgien. 42 Stattdessen hält er es für seine vorrangige Aufgabe, die kriegführenden Nationen an die „Notwendigkeit" zu erinnern, daß „die Kombattanten von heute sich schon morgen verbünden müssen". Italien, Frankreich und Deutschland seien nämlich „bestimmt, den großen Verteidigungsblock der europäischen Zivilität zu konstituieren."43 Dieses Nachkriegsprojekt hat Michels bereits im September 1914 thematisiert und die Zoll-Union Kontinentaleuropas propagiert. Die „Vorteile der wirtschaftlichen Einheit ganz Kontinentaleuropas" wären dank der Beseitigung der Zollschranken so riesig, daß die Arbeiterbewegung, anstatt sich in „patriotischer, sozialer und militärischer Kollaboration" mit den nationalstaatlichen Regierungen zu bekämpfen, alles tun müßte, um dieses Ziel zu erreichen.44 In Michels' ökonomischer Europa-Konzeption wäre England

40 Brief von Michels an Hamon, 5. Mai 1915, in: Malandrino, Lettere, S. 552: „La guerre m'a complètement exaspéré et je ne sais plus à quel saint me vouer. Tout en étant plutôt favorable à la cause des alliés, je suis trop internationaliste de sang, de culture et de goût pour être unilatéral. Et être unilatéral c'est presque un devoir, en ce moment-ci." 41 Brief von Michels an Hamon, 24. Mai 1915, in: Malandrino, Lettere di Michels e Hamon, S. 554: „La conséquence en sera une hégémonie, plus ou moins larvée, de l'Allemagne au moins en Europe." 42 Die Invasion Belgiens verurteilt Michels auch ab dem Mai 1915 nur am Rande; später auch in: Michels, L'Associazione internazionale per la tutela legale dei lavoratori e la Lega delle Nazioni, in: Supplemento economico del giornale ,11 Tempo', Nr. 16, 20.8.1920, S. 3. 43 Arcali, La democrazia e la guerra, Un'ora con Roberto Michels, in: Il resto del Carlino, Bologna, 19.11.1914: „Allora, forse - concluse il Michels - l'Italia potrebbe per la prima avvertire quella necessità che oggi non si può indicare senza crudele ironia ... Che ironia, infatti, dire ai combattenti d'oggi che dovranno allearsi domani [...] Eppure Italia, Francia e Germania [...] sono destinate a costituire il grande blocco di difesa della civiltà europea." 44 La Guerra Europea al lume del Materialismo Storico. Contributo alla psicologia della guerra mondiale del 1914, [Manuskript unterzeichnet mit „settembre 1914"], in: Riforma Sociale, fase. 11-12, November/Dezember 1914, S. 945-957, S. 956: „[...] lo scambio commerciale tra gli Stati d'Europa è aggravato di spese doganali che non possono che ostacolare assai gravemente il commercio dei paesi europei sul mercato mondiale. I vantaggi che risulterebbero dall'unione economica di tutta l'Europa continentale sarebbero talmente preziosi da indurre lo stesso il proletariato socialista a lottare in prima linea per il raggiungimento di questa mèta." Vorher, S. 948, spricht Michels von der „collaborazione patriottica, sociale e militare" der deutschen Sozialdemokratie mit der Reichsregierung.

IX.3. Resignative Skepsis und politische Neutralität

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allerdings ausgeschlossen gewesen. 45 Aus ökonomischen Gründen hat er etwas später auch die im Krieg aufgekommene Idee einer Zollunion zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn für wenig wahrscheinlich gehalten, da die deutsche Exportindustrie in vielen Sektoren für die junge österreichische Industrie eine Konkurrenz darstellte, gegen die diese machtlos sei. 46 Exemplarisch für seinen strikt neutralistischen Kurs in den ersten neun Kriegsmonaten ist ein umfangreiches Interview vom November 1914 im „Resto del Carlino".47 Hier wird er von dem Journalisten Paolo Arcari ausdrücklich als ein Intellektueller gelobt, der im Gegensatz zu anderen den Krieg nicht mittels der „simplizistischen Gegenüberstellungen von Freiheit und Tyrannei, Zivilität und Barbarei" interpretiert.48 Wenn Arcari Michels korrekt wiedergegeben hat, dann hat er im November 1914 nicht nur den französischen „Barbarei"-Vorwürfen an die deutsche Adresse widersprochen, sondern auch den demokratischen Nimbus, auf den sich die Entente legitimatorisch stützte, erheblich relativiert: nur wenn man die Partizipationsmöglichkeiten, die faktische Rechtsgleichheit und die Meinungsfreiheit als Kriterium heranziehe, seien Frankreich, Belgien und England demokratischer als Deutschland. Verstehe man dagegen Demokratie weniger als politische, sondern vielmehr als soziale Demokratie im Sinne der allgemeinen Hebung des Lebensstandards und sozialer Versicherungs- und Fürsorgeeinrichtungen, dann stehen die Alliierten weit unter Deutschland.49 Charles Gide hat Michels' relativi45 England sei, wie Michels im Gegensatz zu Luigi Einaudi analysiert, das einzige Land der Entente, dem vom Krieg gegen Deutschland ökonomische Vorteile winken, weil es während des Krieges dessen Handelsbeziehungen mit außereuropäischen Ländern übernehmen und somit seinen größten europäischen Export-Konkurrenten ausstechen könne. Ein ökonomische Konkurrenz wie zwischen Deutschland und England existiere dagegen zwischen Deutschland und Frankreich nicht, wie überhaupt im Lichte der ökonomischen Interessen Deutschland, Frankreich und Italien eigentlich schon längst hätten zusammenfinden müssen, da doch die Interessengegensätze zu England, USA, Rußland und Japan weitaus größer seien als die zwischen ihnen. Michels stützte sich dabei auf die Überlegungen von Richard Calwer, Weltpolitik und Sozialdemokratie, in: Sozialistische Monatshefte, Jg. 9, September 1905. Vgl. Michels, La Guerra Europea al lume del materialismo storico, a.a.O., S. 955-957. 46 Michels, Sull'idea dell'unione doganale tra gli imperi centrali, in: Riforma sociale, Jg. 23, Heft 57, Mai/Juni/Juli 1916, Sonderabdruck 23 Seiten, ibs. S. 22: „Anzi, non vi ha, in genere, per la giovane industria austriaca, avversaria e concorrente più temibile che l'industria esportatrice germanica." 47 Paolo Arcari, La democrazia e la guerra. Un'ora con Roberto Michels, in: Il resto del Carlino, Bologna, 19.11.1914 48 Arcari, La democrazia la guerra, a.a.O.: „La conversazione venne a poco a poco, fissandosi sull'interpretazione ideale della guerra odierna, quando parlate con un francese o con un belgo vi è molto difficile sottrarvi, senza allentare vincoli ideali di simpatie, alla distinzione ed alla contrapposizione semplicistica della Libertà e della Tirannide, della Civiltà e della Barbarie, a un categorico divisionismo di bianco e di nero. Roberto Michels non è certo incline a queste antinomie violente e verbali." 49 Arcari, La democrazia la guerra, a.a.O.: „Se intendiamo per democrazia quel complesso di guarantigie onde abbisogna la libertà di stampa, e parola, di associazione e di organizzazione politica, essa è molto più ampia, più sicura in Inghilterra, in Francia, nel Belgio [...] che in Germania. Ma

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IX. Der Fremde im Kriege

stischem Demokratiebegriff in diesem Zusammenhang mit dem Argument widersprochen, daß die Arbeitergesetzgebung in Deutschland Ausfluß einer Souveränität sei, an der das Volk nicht teilhabe.50 Michels hat dagegen in einer späteren Replik eingewandt, daß die deutschen Sozialgesetze als ein „Kompromiss zwischen einer autokratischen Regierung und den lebendigen Kräften der Demokratie", insbesondere der deutschen Sozialdemokratie, zu werten seien. Auch wenn die Regierung mit den sozialen Zugeständnissen eine Zähmung der Arbeiterbewegung beabsichtigt habe, könnten die „deutschen Demokraten", einschließlich der „extremen Linken", sehr wohl bei der sozialen Gesetzgebung auch von „ihrer Eroberung" sprechen.51 Dieser Werterelativismus im Kontext des Krieges läßt sich als eine Antwort auf den Kulturkrieg deuten und damit als einen Versuch, die moralischen und kulturellen Rechtfertigungsgründe der Kriegsführung infrage zu stellen. Das propagandistische Diskursmuster Zivilisation versus Barbarei' hat für Michels nur insofern eine empirische Grundlage, als die öffentliche Meinung in den einzelnen Ländern eine Abstufung der Feindschaften nach zivilisatorischen Standards vorzunehmen scheint: so sei der Krieg gegen Rußland in Deutschland weitaus populärer als der Krieg gegen Frankreich und seien die „Russen für die Deutschen das, was die Deutschen in den Augen der Franzosen" sind: „Barbaren". In seinem Interview mit Arcari widerspricht er aber kategorisch der Vermutung, daß sich in diesen Differenzierungen ein demokratischer Stimulus und Sinn des Krieges offenbare: „Die Idee der Demokratie hat keine große Bedeutung in der Kriegsführung und wird sie auch nicht in den Bestimmungen des Friedens haben." Man könne nicht glauben, daß der Krieg die „demokratische Zivilität" entwickle.52 In diesem Punkt bleibt Michels auch früheren Überzeugungen treu.53

se per democrazia intendiamo il progressivo ellevarsi del tenore di vita, l'ascesa economica e morale delle classi operaie, se vediamo, insomma, democrazia dove più fitta sia la maglia delle provvidenze sociali, niun dubbio possibile - è risaputo - che la Francia e l'Inghilterra siano alquanto al disotto della Germania." 50 Charles Gide, La guerre et la démocratie, in: L'Émancipation, Bd. 28, Nr. 12, Dezember 1914, zit. η. Michels, In tema di guerra e di democrazia. Appunti, in: Riforma Sociale, Bd. 26, Fase. 4-5, April-Mai 1915, Sonderdruck 9 Seiten, S. 4: „Egli [Gide] poggia la sua asserzione aggiungendo che la legislazione operaia tedesca è nient'altro che un'emanazione del sovrano alla quale il popolo non ha nessuna parte." 51 Michels, In tema di guerra e di democrazia. Appunti, in: Riforma Sociale, Bd. 26, Fase. 4-5, AprilMai 1915, Sonderdruck 9 Seiten, S. 4-5: „Era [la legislazione sociale] un compromesso tra un Governo autocratico e le forze vive della democrazia."; „Epperò i democratici germanici non hanno tutti i torti, al postutto, a considerare la legislazione sociale fattasi nel loro paese, al una loro conquista." Zur extremen Linken: „Lo storico [...] peccherebbe egualmente di leggerezza misconoscendo [...] il grandissimo aiuto prestato dall'estrema sinistra all'opera.". Diese Analyse der Mitwirkung der deutschen Linken an der Sozialgesetzgebung des Kaiserreiches folgt implizit der Idee eines Parallelogramms der sozialen Kräfte, das Michels von dem positivistischen Gesellschaftstheoretiker Enrico Ferri übernommen hat. Vgl. hierzu ibs. unser Unterkapitel IV.2.3. 52 Arcari, La democrazia la guerra, a.a.O.: „Ecco perchè c'è nella stampa e nella popolazione tedesca minore accanimento contro la Francia: Perchè i francesi sono veduti sempre nel riflesso delle guerre napoleoniche mentre i russi sono pensati come barbari (i russi sono per i tedeschi quello che

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Michels' Weigerung, sich die Diskursmuster des „Kulturkrieges" zu eigen zu machen, entspringt nicht dem Kontext des Augusterlebnisses und des Zusammenbruches der „europäischen Zivilität", sondern resultiert aus Überzeugungen, die sich schon in der Vorkriegszeit herausgebildet hatten. Bereits in seinen ersten Patriotismus-Studien 1912/13 stellt Michels fest, daß der „Kulturpatriotismus" westlicher Provenienz „häufig als Deckmantel für das elementare Ausbrechen latent vorhandener Patriotismen tout court" fungiere und sogar zur Legitimierung von Angriffskriegen angeführt werde: „Englische, französische, italienische Sozialisten haben sich häufig zu Erklärungen hinreißen lassen, daß sie nötigenfalls im Namen der höheren Zivilisation ihres Vaterlandes gegen das Deutsche Reich und Oesterreich zu den Waffen greifen werden." 54 Michels hat damit den „Kulturpatriotismus" sozialistischer oder linksliberaler Provenienz, dem er sich selbst in jüngeren Jahren noch verpflichtet gefühlt hatte, einer äußerst skeptischen Revision unterzogen. Erstens, weil in der politischen Praxis seine rhetorische Instrumentalisierung durch rein chauvinistische Motive zu befürchten ist; zweitens, weil die Berufung auf die eigene höhere Kultur dem Krieg die unwiderstehliche Legitimation einer „Mission" verleiht und damit eine konfliktverschärfende Wirkung hat. Denn der Missionsgedanke, egal von welcher Seite in Anspruch genommen, zielt anstelle eines paritätischen auf ein hierarchisches Verhältnis der Nationen untereinander.55 Obwohl sein eigenes „kulturpatriotisches" Engagement in der Marokko-Krise von 1905/6 anderes hätte vermuten lassen, hat er 1912/13 somit deutlich gemacht, daß seiner Meinung nach kein Kultur-Begriff einen Krieg innerhalb Europas rechtfertigen könne und daß er sich an seiner solchen Debatte wohl nicht beteiligen würde. Tatsächlich hat er im Krieg dann auch der französischen Selbstlegitimation, den Krieg gegen Deutschland für die Demokratie zu führen, nicht weniger widersprochen als der von deutschen Sozialdemokraten ausgegebenen Maxime, dasselbe gegen Rußland zu tun. Erst Jahre später, als der Weltkrieg beendet ist, wird Michels wiederum Töne anschlagen, die semantisch eindeutig dem demokratischen Interventionismus der italienischen Linksliberalen um Salvemini zuzuordnen sind: die italienische Kriegsteilnahme an der Seite des Westens gegen die Zentralmächte, schreibt er Anfang der zwanziger Jahre, sei im Hinblick auf die inneritalienische Debatte als ein „Sieg des Irredentismus [...] über den Imperialismus" zu werten. „Insofern war es wenigstens ein Krieg der Demokratie gegen die Autokratie, den Italien führte [...]".56

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i tedeschi per i francesi) e gli inglesi nell'effetto di sleali concorrenti. Ma - concludendo - neppure in questa lieve e quasi inawertibile gradazione delle ostilità, si può trovare una causa democratica. L'idea della democrazia non ha molta importanza nella condotta della guerra e non ne avrà nelle disposizioni della pace. Non si può credere che la guerra abbia a sviluppare la civiltà democratica." Bereits 1907 hat Michels sozialdemokratischen Überlegungen widersprochen, wonach die zu Friedenszeiten nicht erreichte Demokratie sich als Ergebnis eines verlorenen Krieges gewissermaßen von selbst realisieren könnte. Vgl. Kapitel IV.5. Probelauf für den Weltkrieg. Michels, Historische Analyse, S. 432 [m. Hvhbg.]. Vgl. Michels' Ausführungen zum Missionsgedanken und zum „Messianismus im Weltkrieg" in seinem Buch „Der Patriotismus" (a.a.O., S. 21-49). Michels, Sozialismus und Faszismus, München 1925, S. 191

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IX. Der Fremde im Kriege

In den ersten Kriegsmonaten selbst hat sich Michels derartiger Bewertungen des Geschehens zumindest öffentlich enthalten. Ebensowenig hat er sich über Inhalt und Ziel seiner damaligen Kontakte zu den emigrierten Pazifisten in der Schweiz geäußert. Seine Korrespondenz bezeugt zum Beispiel ein Treffen mit Romain Rolland57 am 20. März 1915. Rollands Appell an die Intellektuellen, sie mögen sich eine vom nationalistischen Kriegsdiskurs unabhängige Gesinnung bewahren und für die Völkerverständigung eintreten, kommt zweifellos Michels' Denken und Fühlen zu diesem Zeitpunkt sehr nahe.58 An seinen späteren guten Kontakten zur Regierung Kurt Eisners werden wir sehen, daß Michels auch zu den deutschen Exilanten in der Schweiz einen guten Draht gehabt hat. Es gibt Indizien, daß, wenn Michels in seiner Korrespondenz mit Hamon immer wieder andeutet, „in diesem Krieg" seien seine Sympathien „eher auf französisch-englischer Seite",59 dies möglicherweise doch mehr mit den Wertorientierungen des westlichen Zivilisationsdiskurses zu tun, als Michels' öffentliche Ablehnung der Kriegsbegründung mit Kulturprinzipien zunächst vermuten läßt. Am 19. September 1915 schreibt ihm nämlich Hamon, daß in mehreren französischen und belgischen Zeitungen Michels als der Autor der antideutschen Kriegsbroschüre „J'accuse" genannt werde. Tatsächlich ist der Autor aber der in die Schweiz emigrierte Pazifist Richard Greiling. Greiling führt in seinem „J'accuse" den Nachweis der deutsch-österreichischen Kriegsschuld: nicht einen Verteidigungskrieg führten demnach die Zentralmächte, sondern einen von langer Hand geplanten Eroberungskrieg. Mit der in zahlreiche Sprachen übersetzten Anklageschrift landet Greiling einen Welterfolg.60 Da die Publikation „von einem Deutschen" überschrieben ist, wird sie für die alliierte Kriegspropaganda zur geistigen Munition. Gleichzeitig spekuliert man in Frankreich wie Deutschland über die Identität des Autors, der für die eine Seite ein Held, für die andere ein Vaterlandsverräter ist. Hamon hat kaum Zweifel, daß es sich dabei um seinen Korrespondenten handeln muß und er bietet Michels an, ihm zu Ehren einen Aufsatz zu verfassen: „Wenn der Autor Robert Michels ist, dann ist das für Sie ein veritabler Ruhmestitel."61 Michels muß freilich dementieren, aber seine Antwort läßt keinen anderen Schluß zu, als daß er sich im Herbst 1915 mit dem Inhalt von Greilings Buch durchaus identifiziert: „Mein lieber Freund, erst jetzt komme ich dazu, J'accuse zu lesen. Ich finde darin viele meiner

57 Vgl. Michael Klepsch, Romain Rolland im Ersten Weltkrieg. Ein Intellektueller auf verlorenem Posten, Stuttgart 2000. 58 Vgl. Brief von Romain Rolland an Michels, 19. März 1915, ARMFE. 59 Brief von Michels an Hamon, 25. Oktober 1914, zit. Malandrino 1989, S. 542: „[...] mes sympathies dans cette guerre étant plutôt du coté franco-anglais." 60 Vgl. Helmut Donat, Richard Greiling, in: ders./Karl Holl, Die Friedensbewegung. Organisierter Pazifismus in Deutschland, Österreich und in der Schweiz, Düsseldorf 1983, S. 162-163. Vgl. auch Holl, Pazifismus in Deutschland, a.a.O., S. 106. 61 Brief von Hamon an Michels, 19.September 1915, in: Malandrino, S. 555: „Cher ami, Plusieurs journaux de France et d'ici annoncent que c'est vous l'auteur de J'accuse. [...] Si l'auteur est Robert Michels, c'est pour vous un véritable titre de gloire."

IX.3. Resignative Skepsis und politische Neutralität

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Ideen wieder. Man könnte auch sagen, daß ich nicht der Autor bin, obgleich ich es sein könnte."62 Diese Aussage indiziert politische Sympathien mit dem demokratischen und antiimperialistischen Kriegsdiskurs des Westens, deren öffentliche Äußerung sich Michels ansonsten versagt. Die außerordentliche Zurückhaltung, die sich Michels auferlegt, sobald es darum geht, Farbe zu bekennen, erstreckt sich bis in seine private Korrepondenz. Als Hamon einmal ausführlich seine Enttäuschung über das kaisertreue Verhalten der deutschen Sozialdemokratie referiert und trotzig verkündet, daß dieser Krieg letztlich seinen guten Ausgang in der „sicheren" Niederlage von „kaiserisme" und „militarisme" finden werde, versucht Michels auszuweichen - so, als ob er befurchten müßte, irgendwann einmal für allzu deutliche Äußerungen zur Rechenschaft gezogen zu werden: die vom Krieg aufgeworfenen Fragen seien „äußerst komplex", eine „wissenschaftliche Synthese", so meint er, sei erst nach dem Krieg möglich. Dann äußert er zwar wiederum seine Sympathie für die Entente - aber er klingt, als befände er sich in einem Gespräch unter Diplomaten: „Auch wenn ich den größten Respekt für die deutsche Zivilisation und den deutschen Charakter habe, so erlauben mir doch weder meine Theorien noch mein Gerechtigkeitsgefühl, mich auf die Seite der Zentralmächte zu schlagen." Im selben Brief gibt Michels aber auch zu erkennen, daß dieser Krieg - dessen offiziellen Begründungen er ja keinen Glauben schenken mag - für ihn doch einen Sinn haben könnte. Er hoffe, daß der blutige Konflikt durch „die rigide Anwendung des Nationalitätenprinzips mittels des Plebiszits" sein Ende finden werde. Anderenfalls würde der aktuelle Krieg „auf fatale Weise weitere Kriege in sich schließen, usque ad infinitum1",63

Damit kommen wir zu einem weiteren Kennzeichen der Michelsschen Kriegspublizistik: seine Grundhaltung ist, wie gesehen, pessimistisch, ratlos und skeptisch. Die Diskrepanz zwischen öffentlichen und privaten Äußerungen läßt eine erhebliche Verunsicherung erkennen, die für den Autor bislang untypisch war.64 Jetzt bemüht er sich, noch seine privaten Äußerungen zu kontrollieren. Öffentlich bezieht er den Standpunkt des Europäers, der sich aus den gegenseitigen Schuldvorwürfen heraushält. Auch deshalb 62 Michels an Hamon, 1. Oktober 1915, in: Malandrino, S. 556: „Mon cher ami, je viens de lire J'accuse seulement maintenant. J'y retrouve beaucoup de mes idées. Autant vous dire que je ne suis pas l'auteur tout en pouvant l'être [...]." 63 Brief von Michels an Hamon, 16. November 1914, zit.n. Malandrino, S. 546-547: Tout en ayant le plus grand respect pour la civilisation et aussi pour le caractère allemande, ni mes theories ni mon sentiment de justice me permettent de me ranger sûrement du coté des puissances centrales". „Mon coeur et mon cerveau vont d'accord en esperant que le conflit sanglant sera terminé par l'application rigide du principe des nationalités moyennant le plebiscite. Sans cela, la guerre actuelle comprendra fatalement des autres guerres, usque ad infinitum. " 64 Diese Verunsicherung dürfte neben der normativen Krise des Autors sowie der Sorge, zu frühzeitig später sich als inopportun erweisende Meinungen zu äußern, auch ganz private, familiäre Ursachen haben: Robert und Gisela Michels haben nun einmal ihre ganze Familie in Deutschland. Vor diesem Hintergrund hat die monatelange Diskussion über einen italienischen Kriegseintritt gegen das Kaiserreich auch den Aspekt einer familiären Zerreißprobe und dürfte eine besondere psychische Belastung darstellen.

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IX. Der Fremde im Kriege

muß er allen beteiligten Nationen das Recht absprechen, den Krieg ,im Namen der Demokratie' zu führen, und pflegt einen relativistischen Demokratiebegriff, der auch dem Deutschen Kaiserreich demokratische Züge zuerkennt. Das hätte von Michels wohl niemand erwartet. Er enthält sich seiner Stimme in der Debatte über Zivilisation, Kultur und Barbarei und spricht der Anomie des Schlachtfeldes jeglichen Sinn ab - und doch öffnet sich ein Sinnfenster in diesem Krieg, ein Ausblick auf eine gerechtere Nachkriegsordnung, der es Michels ermöglicht, ein moralisches Ziel zu erkennen, für das es sich zu kämpfen und zu schreiben lohnt, und sich auf der Bühne der intellektuellen Sinnproduktion zurückzumelden: die Neuordnung Europas nach dem Nationalitätenprinzip. „Ohne Umschweife" bekennt er sich zum Recht auf nationale Selbstbestimmung und zu seiner Methode, dem plebiszitären Referendum. Michels verläßt damit die strikt neutralistische und skeptische Deckung, nicht nur weil das Nationalitätenprinzip dem Menschenrechtsuniversalismus des Westens zuzurechnen ist, sondern auch weil die „Leugnung des Nationalitätenprinzips" zu den zentralen Vorwürfen westlicher Intellektueller an die Adresse der deutschen Kriegspolitik zählt.65 Während Michels weiterhin bestreitet, in diesem Krieg gehe es um die Verwirklichung von Demokratie, avanciert das Nationalitätenprinzip gewissermaßen zum demokratischen Fluchtpunkt, ja zum Demokratiesubstitut in seiner Kriegspublizistik. Als besonderen demokratietheoretischen Vorzug des Nationalitätenprinzips hebt Michels hervor, daß es nicht nur das demokratische Prinzip auf die Außenpolitik übertrage, sondern mit dem Instrument des Plebiszits auch eine klare und direkte Willensbekundung der nationalen Zugehörigkeit ermöglicht - womit es ein Partizipationsniveau erreicht, das weit über die repräsentativen Entscheidungsverfahren in der demokratischen Innenpolitik hinausgeht.66 Das Nationalitätenprinzip gerät in Michels' Argumentation geradezu zur Voraussetzung einer demokratischen Entwicklung. Im Hinblick auf die Nachkriegsordnung erhebt er es zum „Prüfstein für die Existenz einer authentischen Demokratie. Denn es kann dort keine Demokratie geben, wo der Staat mit Gewalt Völkerschaften gefangenhält, die ihm nicht aus freier Zustimmung zugehören."67 Die Frage, ob nicht der Wille der plebiszitär ermittelten nationalen Mehrheit, zumal dieser durch ein demokratisches' Verfahren legitimiert wäre, mindestens genauso gefahrlich für die Freiheit und Rechte der im Plebiszit unterliegenden nationalen Minderheit ist wie ein transnationales ,Reichs'-Gebilde mit einer privilegierten Nationalität, stellt sich für Michels an keiner Stelle. Diesen blinden Fleck seines „demokratischen

65 Vgl. Emile Durkheim, „Deutschland über alles", a.a.O., S. 282. 66 Michels, In tema di guerra e democrazia, a.a.O., S. 7: „[...] non esito a dichararmi senz'ambagi fautore convinto del principio di nazionalità. Tale principio è il principio trapiantato sul terreno della politica estera. Aggiungerei che quello è il suo vero campo. Il principio di nazionalità e il suo mezzo, il referendum plebscitario, si elevano ben al disopra della democrazia ad. usum internum, essendo il primo di gran lunga più chiaro [...]". 67 Michels, In tema di guerra e democrazia, a.a.O., S. 7-8: „Comunque, è questa [die Rücksicht auf das Nationalitätenprinzip] una pietre de touche per l'esistenza, o meno, di una democrazia autentica. Perchè non può esservi democrazia laddove lo Stato detiene, con la forza, popolazioni a lui non appartenenti per libero consenso."

IX.3. Resignative Skepsis und politische Neutralität

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Nationalismus" haben wir bereits anhand seiner Frühschriften thematisiert.68 Die Vorstellung, mit Plebisziten das Problem der nationalen Selbstbestimmung zu lösen, muß man insbesondere mit Blick auf ethnisch gemischte Territorien mindestens als naiv, wenn nicht als höchst gefahrlich, beurteilen. Immerhin hindert ihn sein historischer Pessimismus daran, mit seinem Konzept in die Offensive zu gehen. Es ist typisch für Michels' Zerrissenheit in diesen ersten Wochen und Monaten des Krieges, daß er das optimistische Sinnfenster am historischen Horizont, kaum, daß es sich geöffnet hat, gleich wieder zuschlägt. Er propagiert das Nationalitätenprinzip theoretisch und moralisch und negiert es historisch und praktisch: das nationale Selbstbestimmungsrecht, antwortet er Arcari, werde in der Praxis allenfalls „auf Kosten der Besiegten" durchgesetzt werden, d. h. die Sieger werden sich den Zumutungen dieses Prinzips entziehen und die ethnischen Ungerechtigkeiten auf ihrem Territorium fortsetzen bzw. ihnen neue hinzufügen. 69 Und an anderer Stelle fragt er sich: „Existiert eigentlich ein psychologisches Gesetz, welches verlangt, daß die Geschichte der Völker auf ein chassez-croisez hinausläuft, auf eine Abfolge von Unterdrückungen, dergestalt, daß das erlöste Volk letztlich immer wieder neue unerlöste Völker schafft?" 70 Diese fortwährende Unsicherheit darüber, ob man von diesem Krieg irgendetwas erhoffen oder fordern könnte, macht Michels bis zur italienischen Intervention für den Krieg mit der Feder untauglich. In geradezu idealtypischer Verdichtung findet sich das unvermittelte Nebeneinander von Optimismus und Pessimismus in seinem Brief an Hamon vom 24. Mai 1915. Da skizziert er seine sehr konkreten Vorstellungen von einem gerechten, nach dem Nationalitätenprinzip gestalteten Nachkriegseuropa: „Deutschland wird Belgien, das Elsaß und Polen verlieren und sich die deutschen Teile Österreichs anschließen. Italien wird das Trentino, Triest und die Hälfte Istriens bekommen. Man wird ein serbo-kroatisches Reich bilden. England wird die Ehre zukommen, einen Beitrag zur Rettung der kleinen Ländern geleistet zu haben, aber es wird seinerseits auf italienische und spanische Gebietsstücke, die es noch besitzt, verzichten und Irland die Autonomie geben." Und im selben Atemzug läßt er alle Hoffnung fahren: „Ich glaube jedoch, daß nichts dergleichen geschehen wird, und daß das Schicksal Europas nach dem Recht des Stärkeren entschieden werden wird, das vom Recht nur den Namen hat." 71

68 Vgl. Kapitel II.4. „Demokratischer Nationalismus" 69 Arcari, La democrazia la guerra, a.a.O.: „È appena da sperare che dalla guerra debba venir riconosciuto il principio della nazionalità', il diritto dei popoli a governarsi da sè , enunciato - dopo mezzo secolo di oblio - da Lord Churchill. Ma si può facilmente prevedere che sarà attuato a spese dei vinti. Sarà un obbligo etico imposto ai vinti ed al quale i vincitori si sottraranno conservando o ampliando tutti i loro imperi con le ingiustizie etniche che vi sono o vi sarebbero congiunte." 70 Michels, In tema di guerra e di democrazia, S. 9: „Esiste proprio una legge psicologica che vuole che la storia dei popoli si risolva in quel chassez-croisez, in quel turno di oppressioni che fa sì che il popolo redento finisce per creare, esso stesso, dei popoli irredenti!" 71 Brief von Michels an Hamon, 24. Mai 1915, in: Malandrino, Lettere di Michels e Hamon, S. 554: „Mes sympathies sont pour une reconstruction de l'Europe selon le principe des nationalités. Cela

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IX. Der Fremde im Kriege

Michels hat somit die verschiedenen ,kulturellen' Begründungen des Krieges verworfen und selbst seine eigenen Vorstellungen von einem gerechten Krieg mit einem Fragezeichen versehen. Auf der anderen Seite hat er aber auch einer ökonomischen Analyse der Kriegsursachen eine Absage erteilt. Sein Projekt einer europäischen Zollunion ist mit der Diagnose verbunden, daß dieser Krieg eben nicht auf der Höhe der objektiven wirtschaftlichen Erfordernisse der Zeit steht. Der Krieg ist damit für Michels der definitive Beweis des Versagens des historischen Materialismus und seines Insistierens auf die ökonomische Rationalität als vermeintlichen Motor der Geschichte. Die transnationale Solidarität der Arbeiterklasse aufgrund ihrer vermeintlich gemeinsamen Klassenlage habe sich ebenso als Irrglaube erwiesen wie die marxistische Überzeugung, Kriege resultierten aus einer bourgeoisen Strategie der Kapitalakkumulation. Selbst England, das einzige europäische Land, das in seiner Handelskonkurrenz mit Deutschland von diesem Krieg mittelfristig ökonomisch zu profitieren scheint, dürfte seine Entscheidung für den Kriegseintritt in erster Linie von geopolitischen Erwägungen abhängig gemacht haben: der Verhinderung einer Hegemoniebildung auf dem Festland.72 Eine der „sichersten Ursachen des gegenwärtigen Krieges" ist für Michels dagegen der „politische Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland". Dieser sei aus der Annexion von Elsaß-Lothringen hervorgegangen und durch keinerlei Handelskonkurrenz verschärft worden, was die Schwäche ökonomischer Erklärungsansätze um so deutlicher mache.73 Damit betritt Michels das nach dem Dementi der ökonomischen und kulturellen Begründungen verbleibende Terrain der Kriegsursachenanalyse. Wenn es für die meisten Beteiligten ökonomisch an diesem Krieg nichts zu gewinnen gibt und die kulturellen Legitimationen der Kriegsführung höchst ideologisch, instrumenten und fragwürdig sind,

veut dire que l'Allem[agne] perdra la Belgique, l'Alsace, la Pologne, et se rattache les parties allemandes] de l'Autriche. L'Italie aura le Trentin, Trieste et la moitiée de l'Istrie. On fera un grand règne serbo-croate. L'Anglet[erre] aura eu l'honneur d'avoir contribué à sauver les petits pays, mais tâchera à renoncer à son tour aux débris italiens et espagnols qu'elle a encore et donnera l'autonomie à l'Irlande. Je crains cependant que rien de cela n'arrive, et que les sorts de l'Europe seront décidés d'après le droit du plus fort, qui n'a du droit que le nom." 72 Michels, La Guerra Europea al lume ..., S. 951. Vorrangigstes Ziel der englischen Europa-Politik sei es seit der frühen Neuzeit gewesen, „di por saldo ostacolo alla costituzione di egemonie sul continente europeo." Die offiziellen politischen Begründungen Lloyd Georges und Winston Churchills, England führe den Krieg zur Verteidigung von Recht und Freiheit, insbesondere der kleinen Völker wie Belgien, nennt Michels allerdings mit Blick auf das englische Imperium und dem verletzten Selbstbestimmungsrecht der Buren, Inder und Malteser „Hypokrisie". Vgl. Michels, La Guerra Europea ..., S. 950. Vgl. dagegen das spätere Einverständnis mit Ernest Beifort Bax' These vom ,gerechten Krieg' der Engländer, „daß, während die kolonialen Kriege Englands ungerecht, seine kontinentalen Kriege gerecht, d. h. im Interesse Europas liegend gewesen seien.", in: Michels, Rezension zu Bax, Reminiscences and Reflections of a mid and late Victorian, a.a.O., S. 147. 73 Michels, la Guerra Europea ..., S. 957: „Ponendo mente al fatto che una delle cause più sicure dell'attuale guerra sta nel contrasto politico tra Francia e Germania, scaturito dall'annessione dell'Alsazia-Lorena nel 1851, e che tale conflitto non è stato per nulla acuito da concorrenze commerciali, pare evidente la debolezza delle sue determinanti economiche."

IX. 3. Resignative Skepsis und politische Neutralität

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bleibt nur eine der rationalen Analyse zugängliche Zielsetzung übrig, die je nach Lagebeurteilung eine Entscheidung für oder gegen den Krieg plausibel machen kann: das nationale Interesse an den geopolitischen Wirkungen des Krieges, der Wunsch nach Hegemoniebildung und -Verhinderung, d. h. nach Wahrung der eigenen nationalstaatlichen Einflußsphäre, sowie die möglicherweise günstige Gelegenheit, durch territoriale Grenzrevisionen die Probleme der eigenen nationalen Minderheiten zu lösen. Mit dieser geopolitischen Perspektive auf die nationalen Interessen findet Michels am Vorabend des italienischen Kriegseintritts wieder den Halt, den er in moralischer Perspektive seit Kriegsbeginn verloren hat. In seiner Schrift „I problemi attuali della politica italiana" prüft er, ob Italien den seit dem 4. August 1914 verkündeten Neutralitätskurs beibehalten solle oder nicht. Vom Duktus wie von den durch und durch ,realpolitischen' Kriterien der Analyse her ist diese Analyse seiner Imperialismus-Studie aufs engste verwandt.74 Er legt den Italienern nahe, ihre Entscheidung auf der Grundlage einer „sorgfaltigen Analyse der globalen diplomatischen und militärischen Umstände" zu treffen, „d. h. nach einfachen Kriterien der Opportunität".75 In die Kalkulation der Umstände und Gelegenheiten fließen freilich auch normative Maßstäbe ein, die das nationale Interesse an ein in der Nationalgeschichte wurzelndes kollektives Selbstbild knüpfen. Und hier, in der nationalen Identität, liegt für Michels das „Dilemma der italienischen Politik". Denn seit der garibaldinisch-risorgimentale Gründungsmythos durch den Imperialismus revidiert und infrage gestellt wird, scheint darüber auch der geopolitische Kompaß abhanden gekommen zu sein. Das habe sich besonders seit Kriegsbeginn bemerkbar gemacht und sei nicht ohne Auswirkungen auf die internationalen Beziehungen geblieben. So umwerben Deutschland und Österreich Italien mit Zusagen über seine künftige Rolle als Mittelmeer- und Kolonialmacht und stoßen damit bei den Imperialisten auf Resonanz, die für einen Kriegseintritt zugunsten der Zentralmächte optieren. Frankreich und England dagegen locken mit territorialen Zusagen für das Trentino und Triest. Dies erklärt die Präferenz des irredentistischen Nationalismus für die Entente. Zwischen diesen beiden interventionswilligen, aber völlig konträren Strömungen befinde sich die skeptische Mehrheit des Landes, die angesichts dieser Offerten die kriegsstrategische und möglicherweise kriegsentscheidende Bedeutung Italiens zu spüren bekommt, gleichzeitig aber aufgrund der Ernsthaftigkeit der

74 Michels, I problemi attuali della politica italiana, Sonderabdruck der Zeitschrift „Nuova Antologia", Rom 1915 [ohne Angabe von Band- und Heftnummer], 14 Seiten. Die geistige Verwandtschaft mit seiner Imperialismus-Studie gilt bis in die Fußnoten, die Michels wiederum nutzt, um sich von Schlußfolgerungen im Haupttext zu distanzieren, die er für möglich, aber nicht für wünschenswert hält. So konstruiert er hypothetisch die bündnispolitischen Voraussetzungen für eine italienische Dominanz im Mittelmeer und fügt in der Fußnote hinzu, daß er als entschiedener Gegner von Hegemonien eine derartige Politik nicht unterstützen könne. Vgl. S. 13, Fußnote: „E inutile aggiungere che l'autore, fervido avversario di egemonie troopo spiccate tra i popoli, non caldeggia personalmente nessuna delle ipotesi qui prese in esame." 75 Michels, I problemi attuali della politica italiana, S. 12: „[...] la soluzione del problema in un senso o nell'altro deve essere prospettata dagli italiani soltanto sul fondamento di una accurata analisi delle varie situazioni diplomatiche e militari mondiali, cioè con semplici criteri di opportunità."

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IX. Der Fremde im Kriege

Situation und der Schwere der Entscheidung nur einen Wunsch habe: „Italien möchte allein gelassen werden [...], um seine Entscheidung reifen zu lassen". Diese Reaktion auf den Krieg ist für Michels gleichsam der mentale Hintergrund der vom Ministerpräsidenten Salandra ausgerufenen politischen Maxime vom „heiligen Egoismus der Vaterlandsliebe".76 Man will Zeit gewinnen und scheut die Gefahr voreiliger Verwicklungen mit unabsehbaren Folgen. In der Frage, welche geopolitischen Motive eher und welche weniger für eine italienische Kriegsintervention ausschlaggebend sein sollten, hat Michels selbst eine klare Präferenz. Er gibt zwar zu, daß es im nationalen Interesse Italiens liege, eine Verschlechterung seiner geopolitischen Position im Mittelmeer, gerade im Hinblick auf die afrikanischen Kolonien, zu verhindern. Das stärkste Motiv aber, das Italien in den Konflikt hineinziehen könnte, ist für ihn die Sorge, daß ein gestärktes Österreich oder aber ein mit Rußland verbündetes Jugoslawien die Adria dominieren und die irredentistischen Ziele Italiens im Hinblick auf den Trentino und Istrien vereiteln könnten. Anders gewendet, und das ist das Fazit von Michels' Analyse, sollte und - da ist er sich sicher werde Italien so lange an seiner Neutralität festhalten, wie ihm die Revision seiner nationalen Grenzen auch auf friedlichem Wege möglich erscheint.77 Damit hat Michels in der zeitgenössischen polemischen Auseinandersetzung eine Stellungnahme zugunsten des Abwartens bezogen. Mit seiner nüchternen Kalkulation, angesichts der Unwägbarkeiten des Krieges möge Italien ihm so lange fern bleiben, wie es durch die kriegsbedingte „Revolution aller alten Beziehungen" nicht in seinen Interessen verletzt werde, sieht er sich nicht nur im Einklang mit der „großen Mehrheit des italienischen Volkes". Er grenzt sich damit auch demonstrativ von zwei in seiner Darstellung minoritären Positionen ab, die sich in der italienischen Debatte zu Wort melden. Da sei einerseits eine Gruppe von Kriegsbefürwortern, die „quasi aus einer romantischen Infektion die ästhetische und moralische Notwendigkeit einer Beteiligung am Konflikt" behauptet. Sie wolle „den Krieg um des Krieges willen". Die andere Gruppe - die Kriegsgegner - dagegen wolle aus einer „übertriebenen Liebe des ruhigen Lebens" das nationale Interesse lieber zurückstellen.78 76 Michels, I problemi attuali della politica italiana, S. 12: „In questo terribile momento della storia del mondo [...] l'Italia vuol essere lasciata sola, [...], per maturare le decisioni, [...] esclusivamente in base a quel principio che l'attuale Presidente del Consiglio, confortato dall'approvazione unanime della nazione, riassumeva nelle parole: ,il sacro egoismo dell'amor di patria'". 77 Michels, I problemi attuali della politica italiana, S. 14: „Quindi la soluzione del problema: guerra o pace, dipende per l'Italia dalla possibilità di riacquistare per vie pacifiche i suoi confini, etnicamente naturali, nel Trentino ed in Istria." 78 Michels, I problemi attuali della politica italiana, S. 14: „Un piccolo nucleo di italiani propugna l'entrata in guerra della loro patria, affermando quasi per contagio romantico la necessità estetica o morale di partecipare al conflitto [...]; vuole insomma la guerra per la guerra. Un altro piccolo gruppo sarebbe disposto per eccessivo amore del quieto vivere a rinunciare alle aspirazioni del pensiero italiano. Invece la grande maggioranza del popolo italiano [...] sarebbe ancor oggi lieta se l'Italia potesse rimanere estranea alla guerra, riuscendo ad avere la sicurezza, presidiata dalle insispensabili garanzie diplomatiche, che essa da questa rivoluzione in tutti i vecchi rapporti, nin uscirà per nulla diminuita nei suoi giusti interessi e nei suoi sacri diritti."

IX.3. Resignative Skepsis und politische Neutralität

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Im Mai 1915, nach Monaten der Kriegsbeobachtung, hat Michels damit in der inneritalienischen Debatte klar Stellung bezogen. Sowohl dem gesinnungsethischen Pazifismus wie auch dem gesinnungsbellizistischen Interventionismus erteilt er eine unmißverständliche Absage und plädiert für eine kühl die Chancen und Risiken kalkulierende Neutralitätspolitik nach Maßgabe der irredentistischen Interessen der Nation. Damit schlägt er sich in der Debatte um das nationale Erbe erneut auf die Seite des liberal-demokratischen Gründungsmythos, der die ,Erlösung' der nationalen Minderheiten in ÖsterreichUngarn nicht als expansionistisches Programm, sondern im Gegenteil als elementaren Bestandteil einer antiimperialistischen Strategie auf dem Weg zur Versöhnung der Völker versteht. Der demokratische Interventionismus' von Salvemini oder Bissolati findet in Michels' Rekonstruktion der inneritalienischen Debatte keine besondere Erwähnung. Michels dürfte in ihm entweder eine Untergruppierung der offensiven Kriegsbefiirworter gesehen haben oder ihn aber aufgrund seiner ideologischen Motivation dem risorgimentalen Nationalismus zugeordnet haben. Risorgimentaler und imperialistischer Nationalismus bleiben für Michels die beiden dominanten Antipoden im Kampf um die nationale Selbstauslegung. Beide schließen sich theoretisch wie praktisch aus: der „Nationalismus" verstehe sich als ,Anwendung des Nationalitätenprinzips, d. h. als Anerkennung des Rechts jedes Volkes, über sich selbst zu herrschen; während der Imperialismus schon per Definition auf solche Rechte keinerlei Rücksicht nimmt und sich moralisch allein auf politische, militärische und ökonomische Zwecke stützt, und nicht auf Prinzipien ethischer und demokratischer Ordnung."79 Michels unterscheidet darüber hinaus vom risorgimentalen noch eine „extreme Avantgarde des Nationalismus", die mit dem Nationalitätenprinzip auch territoriale Ansprüche gegen Frankreich erhebt, weil dieses mit Korsika und Nizza über Gebiete verfüge, deren Bewohner zumindest historisch italienischer Abstammung seien. Auch in diesem Konflikt gibt er sich als Vertreter jenes Irredentismus zu erkennen, der sich nicht für Abstammungslinien interessiert, sondern allein für die nicht-assimilierten Minderheiten im Ausland, sprich: Österreich. Die längst vollzogene Assimilation von Ursprungsitalienern auf französischem Gebiet verbietet es ihm zufolge, diese als Irredenta zu bezeichnen. Als seine Überlegungen zum nationalen Interesse Italiens im Mai 1915 auf gedrucktem Papier erscheinen, dürfte Michels allerdings längst klar gewesen sein, daß die neutralistische Auslegung des „sacro egoismo" schon bald von den Ereignissen überholt werden würde. Michels ist zu diesem Zeitpunkt Präsident des Baseler Komitees der Società Nazionale Dante Alighieri - eine Funktion, die er von 1914 bis 1919 ausübt. Diese Gesellschaft ist mehr als ein italienisches Kulturinstitut, sie vertritt auch die 79 Michels, I problemi attuali della politica italiana, S. 11 : „È chiaro che i due indirizzi fondamentali della politica estera italiana si escludono teoricamente l'un l'altro. [...] Il nazionalismo vuol essere l'applicazione del principio di nazionalità, cioè il riconoscimento del diritto di ogni popolo a disporre di sè stesso; mentre l'imperialismo non tien conto, per definizione, di tali diritti e poggia moralmente solo su finalità politiche, militari ed economiche, non su principi di ordine morale e democratico."

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IX. Der Fremde im Kriege

politischen Interessen Italiens im Ausland, favorisiert zu diesem Zeitpunkt längst den Interventionismus und steht in engem Kontakt mit der Regierung. 80 Es ist durchaus plausibel, daß Michels' spürbare Verunsicherung in den ersten Kriegsmonaten und die damit verbundene Abneigung, öffentlich und unmißverständlich fur die Entente oder die Zentralmächte Position zu beziehen, auch damit zu tun hat, daß monatelang völlig offen bleibt, ob seine Wahlheimat in den Krieg eintreten und auf welche Seite sie sich schlagen wird. Aufgrund seines Präsidentenamtes in der Società Dante Alighieri dürfte Michels allerdings recht frühzeitig über den mit dem Londoner Abkommen am 26. April 1915 sich abzeichnenden Interventionskurs informiert gewesen sein. Als die Regierung am 24. Mai 1915 offiziell ihre Entscheidung bekannt gibt, an der Seite Frankreichs und Englands in den Krieg zu ziehen, kommt das für Michels ganz sicher nicht überraschend. Er braucht nur eine vorbereitete Erklärung aus seiner Schreibtischschublade zu ziehen: seine „dichirazione dell'italianità", in der Michels nicht nur seine ,Italianität' deklariert, sondern auch seine bedingungslose Solidarität mit dem italienischen Kriegskurs. Damit beginnt für ihn eine völlig neue Phase in diesem Krieg, die mit den ersten neun Monaten nichts mehr zu tun hat. Diese Wende ist nach unserer Rekonstruktion von Michels' öffentlichen und privaten Äußerungen bis zum Mai 1915 überraschend und, je mehr wir sie in ihren einzelnen Aspekten beleuchten werden, desto suspekter mutet sie an. Vorher aber verlassen wir die Sphäre des politischen Diskurses und wenden uns der für das Verständnis eines intellektuellen Lebensweges nicht unwichtigen persönlichen und vor allem beruflichen Lebensplanung zu. Diese wird nämlich von dem Krieg über den Haufen geworfen.

4. Vereitelte Karriereplanung: die „Professur in Deutschland" Der Krieg raubt Robert Michels nicht nur, wie er am 2.8.1914 seiner Frau mitteilt, den „Glauben an die Vernunft im Menschenleben". Der Krieg wird von dem Soziologen auch als Eingriff in die persönliche Karriereplanung erlebt: „An Professur in Deutschland ist nunmehr kaum noch zu denken". 81 Das klingt überraschend. Hat Michels seine Aspirationen auf eine Professur in Deutschland nicht bereits spätestens 1906 ad acta legen müssen? Und ist nicht die 1913 beantragte italienische Staatsbürgerschaft als Indikator für die weiter fortgeschrittene Entfremdung von Deutschland zu werten? Andererseits erscheint es aber auch plausibel, daß Michels mit seinem Austritt aus der italienischen und deutschen Sozialdemokratie sowie mit seiner sozialismuskritischen Parteiensoziologie wesentliche Hindernisse auf dem Weg zu einer Professur in Deutschland, der ja nach Aussage Max Webers von 1908 nicht Gründe fehlender Kompetenz entgegengestanden hatten, 82 beseitigt hat. Und sein 80 Für diese Hinweise danke ich Corrado Malandrino. 81 Brief an Gisela Michels-Lindner, 2.8.1914, ARMFE. 82 Max Weber, Die sogenannte .Lehrfreiheit' an den deutschen Universitäten, in: Frankfurter Zeitung, 20.9.1908.

IX.4. Vereitelte Karriereplanung: die „Professur in Deutschland"

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Antrag auf die italienische Staatsbürgerschaft muß in diesem Zusammenhang nicht zwangsläufig von Nachteil sein: schließlich ist Italien bis zum Kriegsausbruch Verbündeter des Deutschen Reiches. Die Überraschung ist eine Tatsache: Robert Michels hat bis zum Kriegsausbruch den Gedanken an eine Rückkehr nach Deutschland nie aufgegeben und in den Jahren unmittelbar vor dem Weltkrieg intensiv die Möglichkeit einer Fortsetzung seiner akademischen Karriere an einer deutschen Universität ausgelotet. Diese Erkenntnis verdanken wir allein der archivierten Korrespondenz, die zum Teil - dank der Max-Weber-Gesamtausgabe auch in gedruckter Fassung vorliegt. Eine Professur in Deutschland - das dürfte 1913 und 1914 ein Dauerthema zwischen Michels und seinen Kollegen aus der deutschen Soziologie gewesen sein. So fugt etwa Emil Lederer seinen herzlichen Glückwünschen zu Michels' Ruf an die Baseler Universität im Sommer 1913 die Erwartung hinzu, „daß Ihnen diese Form des Übergangs an eine deutsche Universität sicher die sympathischste ist". Lederer und seine Frau Emy Lederer-Seidler freuen sich insbesondere, daß ob der Nähe Basels zu Heidelberg „wohl öfter die Gelegenheit, Sie hier zu sehen, gegeben sein wird".83 Die Nähe Basels spielt auch in einem am 30. Juni 1913 - noch im Vorfeld von Michels' Berufung - geschriebenen Brief Max Webers an Gisela Michels-Lindner eine zentrale Rolle, auch wenn Weber die daraus resultierenden Karriereaussichten skeptischer beurteilt: „Ihnen zu ,rathen' wäre nicht leicht. [...] Klar ist, daß Niemand Ihrem Mann garantieren kann, daß er von Basel so bald wieder fortkommt. Denn in Deutschland bleiben die Chancen in jedem Fall die denkbar ungünstigsten für ihn. [...] Aber natürlich bedeutet das Bleiben in Turin, daß die Wahrscheinlichkeit, nach Deutschland zu kommen - gering wie sie ist! - noch etwas geringer wird. Denn Basel ist immerhin näher, man rechnet ihn eher als ,deutschen' Professor etc."84 Auch wenn wir wiederum wie in der gesamten Korrespondenz zwischen den Webers und den Michels' - das Schreiben der letzteren nicht kennen, da es wie alle anderen verschollen ist, so geht aus Webers Antwort eindeutig hervor, daß der Lehrstuhl in Basel von Michels allein als ein mögliches Sprungbrett nach Deutschland in Erwägung gezogen worden ist. Daher sieht sich Weber auch genötigt, von Verhandlungen mit der Baseler Universität abzuraten, solange sie von Michels nicht mit der prinzipiellen Bereitschaft" geführt würden, diesen Weg mit allen Konsequenzen und Unwägbarkeiten gehen zu wollen. Webers Ratschläge in diesem Zusammenhang sind ein wichtiges Indiz für die Seelenlage der Familie Michels am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Einerseits verweist er nämlich auf die „Italianisierung der Kinder" und den Unwillen der Eltern, das von ihnen geliebte Italien bald schon zu verlassen. Andererseits deutet Weber aber auch das mögliche Motiv an, das Michels dazu bewegt, trotz seiner Italienliebe und allein aufgrund vager Hoffnungen auf einen Wechsel nach Deutschland in die ungeliebte Schweiz zu gehen: „Ich habe ja keine Ahnung, wie die Chancen Ihres Mannes in Italien eigent83 Brief von Emil Lederer mit Postscriptum von Emy Lederer-Seidel an Michels, 6. August 1913, ARMFE [kursiv von mir], 84 Brief von Max Weber an Gisela Michels-Lindner, 30. Juni 1913, in: MWG II/8: Briefe 1913-1914, Tübingen 2003, S. 256-258.

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IX. Der Fremde im Kriege

lieh stehen. Gilt er nicht vielleicht dort doch als ,Deutscher'? der deshalb hinter den ,Landeskindern' rangiert, ceteris paribus?"85 Zehn Tage später wird Weber noch deutlicher: Er verneint die Karriereoptionen in Deutschland kategorisch mit dem Hinweis, daß Michels als „Soziologe" und nicht als „Fach-Ökonom"86 gilt: „Nochmals: eine Carriere in Deutschland ist für Ihren Mann - wenn nicht Zeichen und Wunder geschehen, mit denen man doch absolut nicht rechnen darf und kann - ganz ausgeschlossen." Damit widerspricht Weber entschieden anderen Ratgebern, die zu dieser Zeit der Familie Michels offensichtlich große Hoffnung machen: „Wer das Gegenteil sagt, sagt ihm etwas Freundliches ohne Verbindlichkeit." Möglicherweise bezieht sich Weber hier auf den gerade in Heidelberg habilitierten Emil Lederer, wenn er hinzufügt: „Ich weiß doch, wie es in Baden läge, und da stehen die Dinge besser als sonstwo." Der Lehrstuhl für Nationalökonomie und Statistik in Basel wird Weber zufolge also nicht das ermöglichen, was sich die Michels von ihm erwarten. Um so mehr interessiert ihn das Motiv eines latenten Italien-Verdrusses, das er jetzt nicht mehr in die höfliche Frageform kleidet: „Aber gelegentlich hatte ich doch den Eindruck: daß auch Ihnen Italien keine ganz reine Freude sei. Und als Deutscher hat Ihr Mann doch auch in Italien nicht die gleichen Chancen wie ein Italiener, denke ich."87 Zu dieser Einschätzung ist Weber schon bei früheren Begegnungen mit der Familie Michels in ihrem Turiner Domizil gekommen.88 Michels entscheidet sich schließlich für ernsthafte Verhandlungen mit der Baseler Universität und wird am 26. Juli 1913 auf den Lehrstuhl für Nationalökonomie und Statistik berufen. Die seit Jahren ersehnte Professur erlangt er allerdings nur, weil der erste Kandidat für den Posten, Ladislaus von Bortkiewicz, die Berliner Universität vorzieht und der zweite Wunschkandidat, Franz Eulenburg, von der Berufungskommission wegen seiner jüdischen Abstammung abgelehnt wird. Aus demselben Grund wie bei Eulenburg fallen auch die fachlich nach Ansicht der Kommission zweifellos geeigneten Robert Liefmann, Paul Mombert und Arthur Salz durch. Erst danach kommt Michels für Basel in einem erweiterten Auswahlverfahren überhaupt in Frage und setzt sich gegen die Kollegen Othmar Spann und Werner Wittich durch. Der Kommissionsbericht bestätigt im übrigen Max Webers Bedenken: Michels sei wie die beiden anderen Kandidaten ein „vorläufig noch etwas einseitiger Spezialist, seine Interessen gehörten bisher hauptsächlich der Soziologie [...]". Ausschlaggebend für Michels' Berufung ist diesem Bericht zufolge das „wesentlich weitere" Interessengebiet seiner Untersuchungen, seine „Soziologie des Parteiwesens" sowie der Umstand, daß der „Verein für Sozialpolitik" ihn mit einer Untersuchung über die Preise von Industrieprodukten in Italien betraut hat

85 Brief von Weber an Gisela Michels-Lindner, 30. Juni 1913, a.a.O. 86 Dies ist exakt dieselbe Argumentation, mit der Luigi Einaudi einige Jahre vorher Michels eine skeptische Karriereprognose erstellte. Vgl. das Kapitel V. 1. Economia politica pura. 87 Brief von Max Weber an Gisela Michels-Lindner, 10. Juli 1913, in: MWG II/8, S. 268-269. 88 Vgl. den Brief von Max Weber an Marianne Weber vom 22. April 1911 nach einem Besuch in Turin, in: MWG II/7, S. 200: „Beide doch sehr enttäuscht, daß im Grunde doch in der italienischen Universität die Sache auch so sei wie bei uns, soweit das Persönliche in Frage steht. Er offenbar sehr resigniert geworden politisch."

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und ihn „Männer wie Max Weber und Werner Sombart zur Leitung der fuhrenden sozialwissenschaftlichen Zeitschrift Deutschlands, des Archivs für Sozialwissenschaft", herangezogen haben. Im übrigen genieße er den „Ruf eines ausgezeichneten Redners und glänzenden Dozenten, spricht mehrere Sprachen gleich sicher" und sei „eine ungewöhnlich blendende und facinierende Persönlichkeit". „Persönlich macht Michels einen ganz ungewöhnlich gewinnenden und sympatischen [!] Eindruck."89 Sowenig Michels für Basel, so ist auch Basel für Michels alles andere als ,erste Wahl'. Seine Wahlheimat Italien wieder zu verlassen, ist für ihn wie für die ganze Familie schmerzlich. Es gibt dafür nur ein letztlich zwingendes Motiv: die Behinderung seiner akademischen Karriere in Italien aufgrund seiner deutschen Herkunft und die Hoffnung, via Basel mittelfristig eine Professur in Deutschland zu bekommen. Die Deutschlandpläne bleiben auch nach der Berufung auf der Tagesordnung seiner persönlichen Lebensplanung. Er dürfte sich dabei mit unverminderter Intensität und Kontinuität über diese Karriereziele mit seinen Kollegen aus der deutschen Soziologenzunft ausgetauscht haben. Einige von ihnen haben dabei offenbar Michels' Chancen als weitaus aussichtsreicher beurteilt als sein Freund Max Weber. So etwa Alfred Vierkandt, der noch am 19. August 1914 [!] Michels schreibt: ,Jetzt könnten Sie wohl auch bei uns eine Professur bekommen?"90 Auf den Adressaten muß diese Frage wie eine völlige Fehlinterpretation der Lage gewirkt haben. Schließlich weiß Michels, daß der neue politische Kontext seit dem Kriegsausbruch nicht die Beförderung, sondern die definitive Vereitelung seine Karrierepläne in Deutschland bedeutet. Michels' 1913 gestellter Antrag auf die italienische Staatsbürgerschaft bringt ihn jetzt in Schwierigkeiten: aufgrund seiner Neutralität ist Italien nur noch nominell Verbündeter des Deutschen Reiches, faktisch hat es in den Augen der deutschen Eliten , Verrat' begangen. Vierkandts optimistische Frage nach den .jetzt" verbesserten Berufungsmöglichkeiten an einer deutschen Universität mißdeutet aber nicht die Kriegssituation, sondern abstrahiert von ihr. Sein Jetzt" bezieht sich allein auf ein gemeinsames aktuelles akademisches Projekt, das auf dem besten Weg seiner Realisierung ist und das Michels ein enormes wissenschaftliches Prestige einbringen könnte. Michels ist nämlich zu diesem Zeitpunkt der angehende Herausgeber des ersten „Handwörterbuches für Soziologie".

4.1. Exkurs: Anerkennung, Konkurrenz und Selbstüberforderung Michels' Aufstieg in der deutschen Soziologie vor dem Krieg In der Zeit nach seiner „Soziologie des Parteiwesens" hat Robert Michels seine persönlichen Beziehungen innerhalb der deutschen Soziologenzunft erheblich ausgebaut und dabei auch kollegiale Verbindungen jenseits seiner schon länger bestehenden Freund-

89 Die Hintergrundinformationen zu Michels' Berufung sowie die Zitate aus dem Kommissionsbericht finden sich in MWG II/8, S. 256. 90 Brief von Alfred Vierkandt an Michels, 19.8.1914, ARMFE [Kursives im Original unterstrichen].

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Schäften zu Sombart und Weber geknüpft. Dies dokumentieren insbesondere die Briefe von Leopold von Wiese, Alfred Vierkandt, Emil Lederer und Edgar Jaffé im Turiner Archiv. Außerdem übernimmt er Ämter und Aufgaben, die ihm im Institutionalisierungsprozeß der jungen Wissenschaft zu Prestige und Einfluß verhelfen. Man könnte durchaus sagen: Michels hat vor dem Krieg in der deutschen Soziologie Karriere gemacht. Zum 1. Juli 1913 wird er Mitherausgeber des „Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik". Dies erweist sich als karrierestrategischer Schachzug, insofern Michels damit rechtzeitig einen der Berufungsgründe herbeiführt, die für die Baseler Universitätskommission ausschlaggebend sind. Michels hat sich um dieses Amt seit Oktober 1912 intensiv bemüht. Edgar Jaffé zufolge, dem Besitzer und schriftführenden Herausgeber des „Archivs", ist Michels auf ihn am Rande des Soziologentages in Berlin (20.-22. Oktober 1912) mit der Erklärung zugegangen, „daß man ihm von anderer Seite Anerbietungen gemacht habe, in eine bereits bestehende oder neuzugründende Zeitschrift [...] einzutreten, daß er sich aber bis zum 1. Januar Bedenkzeit ausbedungen habe, für den Fall sein Eintritt ins Archiv möglich werden sollte, in welchem Falle er auf obiges Angebot verzichten würde. Trotz meiner sehr deutlichen Zurückhaltung drängt er mich fortwährend, mich zu entscheiden, hat die Sache dann auch Max Weber gegenüber schriftlich erwähnt und dadurch den Stein ins Rollen gebracht."91 Die Herausgebertätigkeit ist Michels somit nicht angetragen worden. Er drängt sich vielmehr selbst dem zunächst sehr reservierten Jaffé auf, indem er unter anderem andeutet, besser: androht, im Falle einer Nichtaufnahme ins „Archiv" zu einer namentlich nicht genannten Konkurrenz zu gehen. Sein Drängen wäre vielleicht erfolglos geblieben, wenn sich nicht sein Freund Max Weber für ihn eingesetzt und zwischen Jaffé und Michels erfolgreich vermittelt hätte.92 Ein halbes Jahr später, am 3. Januar 1914, wird Michels in den Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziologie gewählt und bekommt das Amt des „Rechners" übertragen.93 Hier dürfte es sich allerdings nicht um einen bewußten Schritt in der Karriereplanung handeln. Offensichtlich ist Michels am Amt des Schatzmeisters gar nicht 91 Mitteilung von Edgar Jaffé an den Verleger des „Archivs", Paul Siebeck vom 11. Dezember 1912, in: MWG II/7, 2. Halbband: Briefe 1911 - 1 9 1 2 , S. 759. 92 Vgl. Brief von Max Weber an Edgar Jaffé vom 4.12.1912 und an Robert Michels vom selben Tag (in: MWG II/7, 2. Halbband, S. 777-778). Weber hätte sich in diesem Zusammenhang gewünscht, daß Michels gleich als erstes auf ihn zugegangen wäre, weil so die anfängliche Irritation Jaffés hätte vermieden können. Vgl. Brief von Weber an Michels, 6.12.1912, in: MWG II/7, 2. Halbband, S. 780. Webers Einsatz war dabei auch durch dessen Eigeninteresse motiviert, sich selbst aus der offenbar lästig gewordenen Herausgebertätigkeit zurückzuziehen. Vgl. Brief von Max Weber an Edgar Jaffé vom 21. November 1912, in: MWG II/7, 2. Halbband, S. 764: „Michels kann sehr einfach geholfen werden. Sie wissen, daß mir mein Name auf dem „Archiv" längst fatal ist, weil ich, vor Allem, immer wieder nicht in der Lage bin ernstlich mitzuarbeiten. Es ist jetzt die gegebene Gelegenheit, daß ich ausscheide u. Mfichels] statt dessen als ,Auslandsredakteur' eintritt, wogegen Sombart sicher nichts hat. Um die Sache gleich perfekt zu machen, kündige ich hiermit meine Beteiligung zum nächsten zulässigen Termin und teile dies Michels mit." 93 MWG II/8, S. 465.

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interessiert gewesen. Zumindest hat er das Amt praktisch nie angetreten, nach Auskunft einer allerdings etwas fragwürdigen Quelle ist ihm diese Wahl wenig später nicht einmal mehr „erinnerlich". 94 Dabei hat ihn der Erste Vorsitzende der DGS, Ferdinand Tönnies, ausdrücklich am 3. März 1914 im Vorstand „willkommen" geheißen. 95 Mag die Wahl vom Januar 1914 also für Michels ohne Konsequenzen gewesen sein, so werfen die Umstände doch ein interessantes Licht auf Michels' Verhältnis zu Max Weber. Dieser nämlich vollzieht nach seinem 1912 erfolgten Rückzug aus dem DGSHauptausschuss einen weiteren Schritt der Distanzierung und läßt sich von der Mitgliederliste der Gesellschaft streichen. Webers Begründung: „Der Vorstand der Gesellschaft ist z.Z. so zusammengesetzt, daß ihm zwei Herren (einer als Rechner) angehören, welche in Berlin als Referenten dem § 2 der Statuten widersprechend gehandelt haben. Vor allem aber ein Herr als Vorsitzender, der diesen § [...] öffentlich vor einem zu seiner Erörterung unzuständigen Publikum [...] angriff'. 96 Mit letzterem ist Rudolf Goldscheid gemeint, der entschiedene Gegner der von Weber geforderten und in den Statuten der DGS verankerten Werturteilsfreiheit. Die beiden ersten sind Paul Barth und Robert Michels. Während die langjährigen Auseinandersetzungen zwischen Weber und Goldscheid bekannt sind und anläßlich von Barths Referat auf dem zweiten Soziologentag in Berlin sogar ein Eklat dokumentiert ist, der seinerzeit auch in der Tagespresse nachzulesen war, kennen wir im Fall von Michels nicht den genauen Grund, warum sein ebenfalls in Berlin gehaltener Vortrag über die „Entwicklung des Vaterlandsgedankens", auf den Weber sich hier bezieht, gegen das Prinzip der Werturteilsfreiheit verstoßen haben soll. Wertfragen wie die von Barth, ob der nationale dem internationalen Staat vorzuziehen sei, hat Michels' historischer Abriß ja eben nicht aufgeworfen. Michels macht zwar aus seiner Überzeugung von der ethischen Richtigkeit des Mancinischen Nationalitätenprinzips keinen Hehl. Aber ethische Prinzipien wie das Nationalitätenprinzip werden von Michels in diesem Vortrag weniger als Maßstab dafür

94 Vgl. Michels' Gegendarstellung zu einem mir nicht bekannten Zeitschriftenartikel mit dem Titel „Wortlaut der gewünschten Notiz", Kopie im ARMFE, Original in der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek in Kiel: „In der ersten Nummer der Zeitschrift teilt Professor F. Tönnies mit, daß im Herbst 1913 nach der Berliner Tagung des zweiten Soziologentages und nach dem Rücktritt von Professor Max Weber der Endunterzeichnete zum Rechner in den Vorstand gewählt wurde. Ich bezweifele das nicht, lege aber Wert darauf festzustellen, daß ich besagtes Amt (dessen Übertragung selbst mir nicht erinnerlich) nie angetreten, nie ein Rechnungsbuch, nie eine Vorstandssitzung mitgemacht, überhaupt nie im Namen des Vereins gesprochen oder geschrieben habe. Ich lege fernerhin Wert darauf, hier festzustellen, daß ich aus dem Verein aus den gleichen naheliegenden Gründen, aus denen meine Austritt aus der Mitleitung des Archivs für Sozialwissenschaften erfolgte, 1914 noch vor dem Eintritt Italiens in den Krieg, ausgetreten bin." Die Informationen dieser Quelle sind höchst fragwürdig. Sowohl der zweite Soziologentag ist falsch datiert (er fand 1912 statt) als auch Michels' Austritt aus dem „Archiv", der erst mit Italiens Kriegseintritt erfolgt. Nach den Recherchen der Mitarbeiter der MWG (s. o.) ist Michels auch nicht im Herbst 1913, sondern eben am 3. Januar 1914 zum Rechner gewählt worden. Glaubwürdig erscheint mir allein die Mitteilung, daß Michels das Amt nie tatsächlich ausgeübt hat. 95 Brief von Ferdinand Tönnies an Michels, 3. März 1914, ARMFE. 96 Brief von Max Weber an Hermann Beck, 17. Januar 1914, in: MWG II/8, S. 469-472.

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herangezogen, wie die Welt sein soll, sondern als ideengeschichtliche Phänomene, deren Umsetzung in der politischen Praxis meist auf das Gegenteil dessen hinausläuft, was diese Maximen ursprünglich intendiert haben. Michels' Vortrag von 1912 sensibilisiert eher für die Kluft zwischen der Logik ethischer Maximen und der Machtlogik politischen Handelns und für die Kontingenz des nation-building, als daß er einen bestimmten Typus von Nationalgeschichte normativ auszeichnet.97 Dennoch ist Michels' Konfrontation der ambivalenten, zum Teil imperialen Geschichte des Nationalismus mit dem universalistischen Nationalitätenprinzip offensichtlich für Weber schon zuviel gewesen: jeder Blick in Michels' Rede von 1912, moniert Weber im Januar 1914, hätte genügt, „um zu zeigen, daß auch nicht die geringste sachliche Nötigung zur Hereinziehung von Wertungsfragen bestand".98 Seltsamerweise hat Weber, der ja in solchen Fragen ein offenes Wort pflegte, in seinen Briefen an Michels unmittelbar nach dem Soziologentag diesen nicht wegen seines Vortrages gescholten. Vielmehr gewinnt man den Eindruck, daß Weber Michels im Anschluß an die Berliner Tagung ins Vertrauen zieht, wenn er sich diesem gegenüber über die „ k l e b r i g e n Insekten wie Hrn Goldscheid" und „diese Herren" beklagt, „von denen Keiner es sich einmal verkneifen kann [...], mit seinen mir unendlich gleichgültigen subjektiven ,Vorträgen' das Publikum zu behelligen".99 Michels' „Hereinziehung von Wertungsfragen" ist auch keinerlei Hinderungsgrund für Weber, sich gleich im Anschluß an die Berliner Tagimg für Michels' Aufnahme in das „Archiv" zu verwenden, wo Michels als Herausgeber Veto- und Vorschlagsrechte bekommt, mit denen er ja immerhin die wissenschaftliche Ausrichtung der Zeitschrift mitbestimmen kann. Wenn Weber über ein Jahr später Michels unter seine persönlichen Gegner im Werturteilsstreit der frühen deutschen Soziologie subsumiert, ja genaugenommen sogar unter die Gruppe von Soziologen, die im DGS-Vorstand den Ton angibt und es ihm, Weber, daher unmöglich macht, in einer solchen Vereinigung auch nur einfaches Mitglied zu sein, dann ist dies vor diesem Hintergrund ein wenig überraschend. Es ist zu vermuten, daß Weber möglicherweise 1912 im Fall Michels längst die Hoffnung aufgegeben hatte, diesen von seinen methodischen Vorstellungen zu überzeugen, und daher eine entsprechende Kritik unterlassen hat. 1914 dagegen spricht er den Vorfall - allerdings nur gegenüber Dritten, nicht gegenüber Michels - an, um so seinen Austritt aus der DGS mit fachlichen Gründen rechtfertigen zu können. Trotzdem ist der ganze Vorgang schwer nachzuvollziehen, weil für Weber im Anschluß an den Soziologentag bei aller Freundschaft keinerlei Verpflichtung bestanden hätte, einen Kollegen in das „Archiv" zu befördern, dessen methodische Kompetenz er dermaßen anzweifelt, ja für unerträglich hält. Vielleicht gibt es für Webers späte Kritik an Michels' Referat noch ein anderes Motiv. Soviel zumindest ist sicher: er hat im Januar 1914 durchaus einen triftigen Grund gehabt, über Michels verärgert zu sein. Es ist derselbe, der Alfred Vierkandt noch kurz nach Kriegsausbruch eine baldige Berufung Michels' zum Universitätsprofessor in 97 Vgl. Kapitel VII. Die unvollendete Soziologie des Patriotismus; sowie zur Mancini-Rezeption Kapitel II.4. 98 Brief von Weber an Edgar Jaffé vom 22. Januar 1914, in: MWG Π/8, S. 478-483, S. 480. 99 Brief von Weber an Michels, 9. November 1912, in: MWG II/7, 2. Halbband, S. 732-733.

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Deutschland erwarten läßt - das erste „Handwörterbuch für Soziologie", an dessen Herausgabe Michels etwa seit Mai 1913 arbeitet. Wäre der Weltkrieg nicht dazwischen gekommen, wäre dieses auf drei Bände projektierte Lexikon mit Einträgen zu Vordenkern, Schlüsselautoren und Schlüsselbegriffen der Soziologie im Leipziger Veit-Verlag100 erschienen. Es wird Jahre dauern, bis die deutsche Soziologie in einem zweiten Anlauf 1931 dieses Projekt realisiert - unter demselben Namen, herausgegeben von Alfred Vierkandt.101 Von dem Vorkriegsprojekt ist nur ein gedrucktes Sach- und Namensregister sowie eine umfangreiche Korrespondenz Übriggeblieben. Ferdinand Tönnies hätte hier u. a. Grundsätzliches zur „Öffentlichen Meinung" beigesteuert.102 Dafür, daß Michels mit der Rekrutierung von Autoren und der Verteilung der Themen schon weit vorangeschritten war, ist in einigen Fällen eine erhebliche Überzeugungsarbeit notwendig gewesen. Tönnies etwa plagen trotz seiner prinzipiellen Bereitschaft zur Mitarbeit gelegentlich „starke Zweifel" an Michels' „Unternehmung". Er befürchtet, daß diese „der Soziologie in ihrem gegenwärtigen Stadium mehr schaden als nützen wird".103 In anderen Worten: wenn solch ein Handbuch zu früh, gar mit handwerklichen Mängeln, erscheint, kann es die akademischen Institutionalisierungsziele der jungen Wissenschaft auch fürs erste vereiteln. Ganz anderer Meinung sind da Alfred Vierkandt und Leopold von Wiese, die sich von Michels' Handbuch eine Beförderung der Soziologie auf ihrem Weg zur anerkannten wissenschaftlichen Diszif 104 phn erwarten.

100 Der Verlag „Veit & Comp." fusioniert nach dem Ersten Weltkrieg mit anderen Verlagshäusem zur „Vereinigung Wissenschaftlicher Verleger Walter de Gruyter & Co.". 101 Alfred Vierkandt, Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1931. Vgl. dazu Michels' Rezension in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 36, Heft 1, Juli 1932, S. 35-44 des Literaturteils, wo er als Manko nicht zuletzt die mangelnde Berücksichtigung seiner eigenen Beiträge zur Soziologie festhält: „Von den großen modernen Schulen der Soziologie fehlen die Strafrechtler von Ferri und Garofalo bis auf Liszt, die Darstellung der nichtbesitzenden Klassen aus anthropologischem Substrat von Niceforo, die ganzen wertvollen Leistungen der Soziologie auf dem Gebiete der politischen Wissenschaften, die von Tocqueville auf Gaetano Mosca [...] gehen, ferner meine Lehre von dem Oligarchischen Gesetz in den Parteibildungen [...] u. a. m völlig. In seiner bedeutsamen Rede anläßlich des Jubiläums seiner Lehrtätigkeit in Lausanne (1917) hat Vilfredo Pareto folgende Namen seiner Zeitgenossen unter den Soziologen als die für ihn wertvollsten genannt: Georges Sorel, Ostrogorski, Michels, Lombroso, Enrico Ferri [...]. Es ist auffallend, daß von den hier genannten Namen ein beträchtlicher Teil nicht Erwähnung gefunden hat." (S. 42). 102 Sozusagen als Prolegomena zu seinem späteren Werk „Kritik der öffentlichen Meinung" (1922). Vgl. die Briefe von Michels an Tönnies vom 28.9.1913 und vom 7.1.1914, Kopie ARMFE (Original im Nachlaß Tönnies der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek in Kiel.) 103 Brief von Tönnies an Michels, 5.1.1914, ARMFE. 104 Vgl. Brief von Vierkandt an Michels, 7.11.1913, ARMFE: „Ihren Plan eines Handwörterbuch [handkorrigiert; ursprgl. Schreibfehler: „Handwerkerbuch"!] finde ich sehr glücklich; seine Durchführung wird gewiß dazu beitragen, die Ansichten über das Wesen der Soziologie zu klären und ihr Ansehen zu erhöhen." Brief von Leopold von Wiese an Michels, 14.12.1913, ARMFE: „Von ihrem Plan, ein „Handwörterbuch der Soziologie" herauszugeben, erfuhr ich bereits von anderer Seite. Er interessiert mich sehr [...]". Von Wiese hat Michels gleich über zwanzig Themen angeboten:

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Neben dem umfangreichen Stichwortverzeichnis105 hat es auch ein „Zirkular", eine Projektskizze, gegeben, das, wie Michels später schreibt, „zu einer großangelegten, auf die wissenschaftliche Mitarbeit eines ausgedehnten internationalen Gelehrtenstabes berechneten Enzyklopädie der Soziologie [...] auffordern sollte". Dieses Zirkular habe die These verfochten, daß „alles in allem die wertvollste Arbeit auf dem Gebiete der Soziologie nicht von denen geleistet worden ist, die sich offiziell als Soziologen bezeichnet haben, sondern von solchen, die ihre Werke in ihrer Eigenschaft als Biologen, Philosophen, Nationalökonomen und Historiker schrieben."106 Dieser Ansatz antizipiert Michels' Begriff von Soziologie als einer „Grenzenwissenschaft", eines interdisziplinären Unternehmens der „Erfassung und Bindung von Heterogenien", das unter Rückgriff auf andere Wissenschaften, aber mit „eigenen Beobachtungsmethoden" und „typisch eigenen Darstellungsmethoden", gesellschaftliche Tatsachen in ihrer „Komplexheit" und „Multiformität" verstehen soll.107 Angesichts dieser - freilich erst später formulierten - Definition darf man durchaus bezweifeln, ob das Handbuch die kognitive Identität der Soziologie gefestigt oder vielleicht doch eher auf ein willkürliches Tableau von Namen, Themen und, den Nachbarwissenschaften entliehenen, Methoden hinausgelaufen wäre. Tönnies etwa kann einige Einträge in Michels' Namensverzeichnis überhaupt nicht nachvollziehen und fordert, den Geographen Roland Bonaparte sowie die mit Michels eng befreundete Lombroso-Familie wieder zu streichen. Michels hat in einem ersten Entwurf tatsächlich nicht nur Cesare Lombroso aufgeführt, sondern auch gleich noch dessen Töchter Gina und Paola. „Einige Lombrosos", d. h. Gina und Paola, verspricht er schließlich wieder zu streichen, aber nicht Cesare, der doch „mit Theorien hervorgetreten [ist], die ihrer Richtung nach zwar ««^soziologisch waren, die aber nicht ohne Einfluß auf die Soziologie gewesen sind". Die Eintragung Bonapartes verteidigt Michels - mit der Begründung, daß dieser „auf dem letzten Int. Kongress der Soziol. Institute (in Rom) aktiv teilgenommen" habe. Dann erklärt er sich gegenüber Tönnies bereit, diesen zu „opfern", Otto Weininger dagegen nicht, weil der wiederum „von sehr autoritativer Seite zur Aufnahme empfohlen" worden sei.108

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von „Ehe" und „Ehescheidung" über „Polygamie", „Adel" und „Bürokratismus" bis zu „Ratzenhofer" und „Schmoller". Vierkandt hätte vor allem Themen aus dem sozialpsychologischen Bereich wie „Suggestion" sowie „Imitation" und „Nachahmung" bearbeitet, die Michels in seinem Sachverzeichnis getrennt aufgeführt hatte. „Vorläufiges Sach- und Namen-Register des Handwörterbuches für Soziologie", busta Tönnies, ARMFE. Diese Auskunft finden wir in Michels, Rezension zu Vilfredo Pareto, Trattato di Sociologia generale, Florenz 1916, und Gino Borgatta, L'opera sociologica e le Feste giubilali di Vilfredo Pareto, Turin 1917, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 47, Heft 2, Dezember 1920, S. 555-560, S. 560. Eben dieser Gedanke wird von Michels auch in seinem Werk „Soziologie als Gesellschaftswissenschaft", Berlin 1926, S. 81, ausgeführt. Michels, Soziologie als Gesellschaftswissenschaft, a.a.O., S. 80-82. Vgl. den Brief von Michels an Tönnies vom 28.9. 1913 sowie vom 7.1.1914, Kopie im ARMFE.

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Max Weber ist diesen Debatten fern geblieben und hat ebenso wie seine Frau Marianne eine Mitarbeit an dem Handwörterbuch abgelehnt. Während er Michels gegenüber betont, keine Pflichten übernehmen zu wollen, „die wir nicht erfüllen können",109 macht er dem Verleger Paul Siebeck deutlich, daß er wohl auch in der Sache wenig von Michels' Projekt hält: „Die Concurrenz von Michels furchte ich nicht. Ich kenne den Plan der Sache, habe die Mitarbeit abgelehnt, verspreche mir aber nicht viel von der Ausführung. [...] Die Nationalökonomie ist sehr gering vertreten darin, die Soziologie vielfach schlecht vertreten. Jedenfalls ohne neue ,Ideen'. Das Unternehmen ist nützlich', aber [...] ich halte es nicht für eine ,Concurrenz'." 110 Konkurrenz sei Michels' Handbuch eher für den Gustav Fischer Verlag und dessen „Handwörterbuch der Staatswissenschaften" sowie dessen „Wörterbuch der Volkswirtschaft", nicht aber - und damit geht er auf Siebecks Hauptsorge ein - für den von Weber selbst betreuten „Grundriss der Sozialökonomik", der bei Siebeck erscheinen soll. Michels, der als Mitherausgeber des ,Archivs für Sozialwissenschaften" selbst auch vertraglich mit Siebeck verbunden war, hatte bei dem Heidelberger Verleger mit seinem Projekt im Veit-Verlag erhebliche Verstimmungen ausgelöst, zumal er sich auch um andere Autoren, neben Weber vor allem Emil Lederer, bemühte, die bereits an den bei Siebeck erscheinenden „Grundriss" mitarbeiteten. Weber übernimmt in diesem Zusammenhang die Aufgabe des Vermittlers und Schadensbegrenzers: „Michels werde ich bitten, doch nicht unsre Mitarbeiter zu beschlagnahmen, er ist mir verpflichtet. Aber an sich halte ich Lederer' s Mitarbeit für unschädlich. Das ,Handbuch' ist viel umfänglicher als dies Unternehmen." Mit „Handbuch" meint Weber in diesem Fall seinen Beitrag über „Wirtschaft und Gesellschaft", der im Rahmen des „Grundrisses der Sozialökonomik" erscheinen soll.111 Auch Robert Michels ist Mitarbeiter des „Grundrisses", für den er zwei Beträge liefern wird: „Wirtschaft und Rasse" 112 sowie die „Psychologie der antikapitalistischen Massenbewegungen". 113 Sein Handwörterbuch weckt bei Weber die ja nicht unbegründete Sorge, daß Michels diese Beiträge entweder mit erheblichem zeitlichen Verzug oder aber in schlechter Qualität liefern wird. 114 In diesem Sinne muß er Michels mahnen und gleichzeitig in Bezug auf Lederer sicherstellen, daß dieser keine „Parallelarbeit" macht und nicht etwa seine Beiträge zweifach verwertet, weil dies „dem Geist des Verlagsvertrages widersprechen" würde. 115 Das Handbuchprojekt hat Michels somit nicht nur Lob und Anerkennung eingebracht, es hat auch die Beziehungen zu manchem Kollegen, insbesondere dem Verleger

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Brief von Weber an Michels, 18. November 1913, in: MWG II/8, S. 382. Brief von Weber an Paul Siebeck, 6. November 1913, in: MWG II/8, S. 348. Brief von Weber an Paul Siebeck, 6. November 1913, in: MWG II/8, S. 353. Erscheint kriegsbedingt erst 1923, in: Grundriss der Sozialökonomik, II. Abt., 1. Teil, Tübingen 1923, S. 124-187. 113 Erscheint kriegsbedingt erst 1925, in: Grundriss der Sozialökonomik. Abt. IX, Teil 1, Tübingen 1925, S. 241-359 114 Briefe von Weber an Robert Michels vom 9., 18. sowie 22. November 1913, in: MWG II/8, S. 364-365; S. 382; S. 396. 115 Brief von Weber an Emil Lederer, 9. November 1913, in: MWG II/8, S. 361-363, S. 362.

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Paul Siebeck, belastet, um so mehr als Michels seine akademischen Ambitionen mit einem derartigen Publikationseifer verfolgt, daß, wie Weber richtig bemerkt hat, entweder die Qualität oder die zeitnahe Vertragserfüllung Schaden nehmen müssen. So hat Michels neben seiner Lehrtätigkeit als Professor, seiner redaktionellen Mitarbeit im „Archiv", seinem Handwörterbuch und seinen Beiträgen für den „Grundriss" - um nur einige Hauptaufgaben zu nennen, die noch durch das in seiner Bibliographie dokumentierte weite Feld seiner publizistischen Aktivitäten zu ergänzen wären - an einem Buch „Über den Patriotismus" gearbeitet, dessen fertiges Manuskript bis November 1913 bei Siebeck abzuliefern gewesen wäre. Das ist offensichtlich unmöglich gewesen und führt im Frühjahr 1914 zur Vertragskündigung durch Siebeck. Dieser hat Weber vertraulich mitgeteilt, daß er über Michels „sehr ungehalten" sei, „weil er an Stelle rechtzeitiger Erfüllung des mit mir abgeschlossenen Vertrags die Herausgabe des Lexikons der Soziologie im Verlage von Veit & Co. übernommen hat."116 Michels' rastlose Übernahme akademisch höchst ambitionierter Projekte gerade auf dem deutschen Buchmarkt ist aller Wahrscheinlichkeit vorrangig dem Ziel geschuldet gewesen, seine Chancen auf einen Lehrstuhl in Deutschland zu erhöhen, an die, wie gesehen, nicht nur Michels selbst, sondern auch einige seiner Kollegen bis zum Kriegsausbruch fest glauben. Michels dürfte klar gewesen sein, daß er von seiner Fachkompetenz her schwer einer bestimmten Fakultät zuzuordnen war. Soziologen haben seinerzeit, ob in Deutschland, Italien oder der Schweiz, allenfalls Aussichten auf einen Lehrstuhl der Nationalökonomie. Dazu hat Michels aber noch nichts einschlägiges veröffentlicht.117 Sein Versuch, dieses Manko mit zweifellos thematisch hochinteressanten publizistischen Ideen zu kompensieren, stößt aber immer wieder an die Grenzen der persönlichen Leistungsfähigkeit und führt zu Zweifeln an seiner Zuverlässigkeit. Außerdem strapaziert Michels' gespanntes Verhältnis zu Siebeck auch immer wieder das Verhältnis zu Weber, der von Siebeck als Schlichter angerufen wird und erneut vermitteln muß: „Mißlich ist ein solcher Auftrag stets: mindestens Einen verstimmt man!"118 Weber gibt in seinem Schiedsspruch schließlich Siebeck juristisch recht, auch wenn er die das Patriotismusprojekt beendende Vertragsauflösung „normalerweise als trotzdem sehr unfreundlich und daher unbillig" zu bezeichnen geneigt wäre. Wegen „besonderer Umstände" aber, so Weber an Michels, sei es Siebeck nicht zu verdenken, daß er von seinem formellen Recht Gebrauch macht. Der Verlag sieht sich nämlich im Frühjahr 1914 genötigt, ein weiteres Projekt mit Michels zu kündigen: in der Reihe „Beiträge zur

116 Brief von Siebeck an Weber vom 24. April 1914, dokumentiert in: MWGII/8, S. 639-640, Anm. 2. 117 Die einzige Buchveröffentlichung ist die Aufsatzsammlung „Saggi economici sulle classi popolari" (Palermo 1913), die sich unter anderem mit dem Entstehen des neuen Mittelstandes, der Kritik der Verlendungstheorie und der Behandlung des Proletariats in der Wissenschaft beschäftigt. Die einzelnen Aufsätze zu ökonomischen Fragen, die er bis zum Weltkrieg vorlegt, haben meist einen eher sozialpsychologischen oder einen historischen Zuschnitt, wie sein „Wirtschaftsleben und Staatsfinanzen in Piémont zu Beginn des 18. Jahrhunderts" (in: Vierteljahresschrift für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 3. Heft 1911, S. 424-442). Systematische Beiträge zur Volkswirtschaft dagegen fehlen. 118 Brief von Weber an Michels, 26. April 1914, in: MWG II/8, S. 646.

IX.4. Vereitelte Karriereplanung: die „Professur in Deutschland"

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Parteigeschichte" sollte Michels einen Band über die „Geschichte des Sozialismus in Italien" schreiben. Das Manuskript muß aber von dem Herausgeber abgelehnt werden, weil es übermäßig bereits publizierte Arbeiten beinhaltet und wegen mangelnder Qualität. Damit nicht genug, muß Weber Michels auch noch mitteilen, daß von den Arbeiten, die Michels in jüngster Zeit dem „Archiv" empfohlen habe, eine „Gefahrdung des Niveaus" ausgehe und die Empfehlungen daher abzulehnen seien. Auch dies sei einer der Umstände, die Siebeck zu seinem drastischen Schritt bewogen hätten. 119 Keine Frage: Robert Michels hat in der unmittelbaren Vorkriegszeit durch die Quantität seiner Veröffentlichungen und Projekte deren Qualität und damit auch seine eigene wissenschaftliche Reputation aufs Spiel gesetzt. Der Hintergrund seines rastlosen Publikationswillens dürfte im übrigen nicht nur vom Streben nach einer ansehnlichen Publikationsliste motiviert, sondern auch pekuniärer Art sein. Nach Aussagen der Familie hat Michels einen kostspieligen respräsentativen Lebensstil gepflegt. 120 So wie er als bürgerlicher Renegat und sozialistischer Publizist vom Schreiben leben mußte, muß er nun diesen Lebensstil durch Veröffentlichungen mitfinanzieren. Zahlreiche Briefe im Turiner Archiv dokumentieren nicht nur, daß Michels ständig neue Bücher und Aufsätze - die häufig tatsächlich nur Reproduktionen älterer Arbeiten darstellen - auf den Markt zu bringen versucht, sondern daß er sich mit seinen Verlegern auch ständig über die angemessene Vergütung streitet. Diese Auseinandersetzungen hat Michels mit besonderer Heftigkeit gefuhrt. Als der Veit-Verlag ihm seiner Meinung nach ein zu geringes Autorenhonorar für die deutsche Übersetzung seines Buches über den italienischen Imperialismus anbietet, stilisiert der Professor diese Verhandlung zum „Klassenkampf' zwischen Verleger und Verfasser.121 Die Differenzen, die sich im Zusammenhang mit dem Werturteilsstreit, mit dem Handwörterbuch und im Verhältnis zu Siebeck andeuten, haben das persönliche Verhältnis zwischen Weber und Michels sicherlich belastet. Weber betont allerdings, bei allem fachlichen Dissens mit Michels „auf sehr freundlichem Fuß" zu stehen. 122 Und nach dem Schiedsspruch im Siebeck-Streit bekennt er dem offensichtlich ausfallig gewordenen und wütenden Michels gegenüber: „Ich scheine der einzige Mensch zu sein, der Ihnen unangenehme Wahrheiten sagt! Aber ich opfere einer Freundschaft keinen Zoll meines Gewissens. Wollen Sie daraufhin unsrer Freundschaft ein Ende machen, wie es scheint, so muß es geschehen, so leid es mir thun mag." 123 Das ist absolut ehrlich gemeint, bietet Weber Michels doch zwei Tage später um einer Beilegung der Streitig-

119 Vgl. den Brief von Weber an Michels vom 30. Mai 1914 sowie die redaktionellen Anmerkungen, in: MWG II/8, S. 688-689. 120 So die Michels-Enkelin Maria Gallino in Erinnerung der Schilderungen ihrer Mutter Daisy Michels von der „Salon-Kultur" im Hause Michels mit seinen zahlreichen internationalen Gästen. Vgl. dazu auch Claudio Pogliano, Tra passione e scienza Robert Michels a Torino, a. a. O., S. 24. 121 Brief von Michels an den Veit-Verlag 2.2.1914. Mein Dank für die Überlassung dieser Kopie wie auch der des Antwortschreibens vom 10.2.1914 gilt dem Nachfolgerverlag „Walter de Gruyter". 122 Brief von Weber an Hermann Beck vom 17. Januar 1914, in: MWG II/8, S. 469-472, S. 471. 123 Brief von Weber an Michels vom 2. Juni 1914, in: MWG 11/8, S. 696-698.

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IX. Der Fremde im Kriege

keiten willen an: „Mündlich, als Freund, stehe ich jeden Tag und jede Stunde, auf die Sie sich anmelden, zur Verfugung."124 Wenige Wochen, nachdem Weber und Michels offensichtlich ihren Streit beigelegt haben, bricht der Krieg aus. Die .jahrelange Freundschaft" bricht zwar nicht, wie Michels später schreibt, ,gleich zu Beginn des Krieges, wenigstens in ihrer wertvollsten persönlichen Form" zusammen.125 Vielmehr indiziert die vorliegende Korrespondenz eine wechselseitige Rücksichtnahme in den ersten Kriegsmonaten. Beiden Autoren dürfte die große Diskrepanz zwischen ihnen in ihrer unmittelbaren Reaktion auf den Kriegsausbruch bewußt sein. Während Michels, wie gesehen, sich in eine monatelange pessimistische Resignation begibt, empfindet Weber den Krieg als „groß und wunderbar, es lohnt sich, ihn zu erleben - noch mehr würde es sich lohnen, dabei zu sein, aber leider kann man mich im Feld nicht brauchen".126 Diese euphorische Grundstimmung, daß der Krieg „groß und wunderbar" sei, findet sich mehrfach in Webers Briefen an seine Kollegen in den ersten Kriegswochen.127 Gegenüber Michels verkneift sich Weber dagegen derartige Töne, erinnert ihn an vertragliche Pflichten - daß der Grundriß der Sozialökonomik etwa ein Jahr nach dem Kriege erscheinen werde und Michels bis dahin liefern müsse - oder aber spricht die psychische Belastung an, die das Kriegserlebnis für ihn bedeute. So fragt er sich, „in welcher geistigen Verfassung ich aus diesem Kriege einmal herauskomme",128 und befürchtet, er werde, „wenn dieser Krieg vorbei ist, für lange Zeit zu jeder Arbeit unfähig sein".129 Gegenüber seinem Freund Michels spricht Weber somit allein die negative Kehrseite des für ihn prinzipiell positiven Kriegserlebnisses an. Die Krise der Beziehungen zwischen Michels und Weber sowie vielen Kollegen aus der Soziologenzunft und des akademischen Betriebs überhaupt setzt erst mit dem Bekanntwerden von Michels' „dichiarazione dell'italianità" sowie dem Auffliegen seiner Autorenschaft von mehreren proitalienischen Artikeln ein, die nach dem 24. Mai 1915 zunächst anonym in Schweizer Tageszeitungen erscheinen. Daher ist an Michels' Erinnerungen richtig, daß es mit dem italienischen intervento' - und nicht vorher zum „Bruch des alten Freundschaftsverhältnisses" kommt: „einen Bruch, den aller menschlichen psychologischen Voraussicht nach ein Wiedersehen und eine Aussprache in der Nachkriegszeit wieder gut gemacht haben würde".130

124 Brief von Weber an Michels vom 4. Juni 1914, in: MWG II/8, S. 701-702. 125 Robert Michels, Max Weber, in: Bedeutende Männer. Charakterologische Studien, Leipzig 1927, S. 109-118, S. 112. [m. Hvhbg.] 126 Weber an Ferdinand Tönnies, 15. Oktober 1914, in: MWG II/8, S. 799. 127 So auch in Webers Brief an Karl Oldenberg vom 28.8.1914, in: MWG II/8, S. 782. 128 Brief von Weber an Michels vom 5.12.1914, in: MWG II/8, S. 802. 129 Brief von Weber an Michels vom 18.12.1914, in: MWG II/8, S. 804. 130 Michels, Weber, in: Bedeutende Männer, S. 114.

IX. 5. Die Erklärung der Italianität

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5. Die Erklärung der Italianität Wahrscheinlich hat Michels seinen Brief an Augustin Hamon vom 24. Mai 1915 in den Morgenstunden geschrieben. Er sieht zumindest keinerlei Anlaß, auf das hinzudeuten, was die italienische Regierung an diesem Tag verkünden wird. Stattdessen stellt er sich zum Krieg so, wie er das die ganzen letzten neuneinhalb Monate getan hat: „Ich verachte ihn". Noch prognostiziert er pessimistisch, daß dieser Krieg nach dem „Recht des Stärkeren" entschieden werde, „das vom Recht nur den Namen hat."131 Einige Stunden später geht die Nachricht vom endgültigen Bruch Italiens mit dem Dreibund um die Welt. Am selben Tag noch gibt Michels einer Baseler Druckerei den Auftrag, eine Erklärung zu drucken, die im Turiner Archiv unter dem Titel „dichiarazione dell'italianità" aufbewahrt wird. Es ist ein offenbar nicht für die Öffentlichkeit bestimmtes Rundschreiben an seine italienischen Freunde, an dessen oberen Rand der Vermerk „Personale" steht. Auf den persönlichen und nicht öffentlichen Charakter dieser Erklärung wird Michels schon bald immer wieder die Kritiker aus dem Ausland hinweisen müssen. Allerdings erscheint diese Schutzbehauptung nicht ganz überzeugend, weil der Adressatenkreis der Erklärung zwar ein ausgewählter ist, aber offensichtlich kein kleiner: Michels hat das Papier von der Druckerei vervielfältigen lassen, um nur noch die jeweilige Anrede einsetzen zu müssen.132 Im ersten Satz erklärt Michels seinen Freunden seine bedingungslose Solidarität: „In dieser für Italien ernsten Stunde, die voller Hoffnungen, aber auch voller Gefahren und Trauer ist, empfinde ich das Bedürfnis, Freunde und Freundinnen, Euch zu sagen, daß ich bedingungslos und unauflösbar mit Euch bin."133 Eine „Erklärung der Italianität" ist das Dokument insbesondere, weil Michels diesen ersten Satz mit einem autobiographischen Rückblick erläutert, der die Stationen seiner engen Beziehungen und seiner Liebe zu Italien seit 1896 rekapituliert. Im Hinblick auf die Zeit von 1907 bis 1914, als Michels mit seiner Familie in Turin gelebt hat, bekennt er, seine Kinder sprachlich wie auch gefühlsmäßig zu Italienern erzogen zu haben.134 Seine publizistische Tätigkeit habe stets das Ziel gehabt, das Ansehen Italiens im Ausland zu mehren. Im Sommer 1913 habe er einen Antrag auf die italienische Staatsbürgerschaft gestellt. Diese „Entscheidung bedeutete nichts anderes als die Bitte um

131 Malandrino, Lettere di Hamon e Michels, a.a.O. 132 Michels, [dichiarazione dell'italianità], ARMFE. Das Dokument ist unterschrieben mit „Robert Michels. Basilea (Svizzera) semestre d'estate il 24 Maggio 1915". Ich benutze den an „prof. L. Einaudi e Signora" adressierten Druck. 133 Michels, [dichiarazione dell'italianità], a.a.O.: „In quest'ora solenne, traboccante, per l'Italia, di speranze, ma anche gravida di pericoli e di lutti, sento il bisogno, o amici ed amiche, di dirvi che sono, incondizionatamente ed indissolubilmente, con voi." 134 Michels, [dichiarazione]: „Italianamente educai i miei figli, che infatti italiani hanno, sempre, lingua e sentimenti".

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IX. Der Fremde im Kriege

juristische Bestätigung einer moralisch schon seit langer Zeit vollzogenen Tatsache."135 Diese autobiographischen Nachweise seiner „Italianität" geben dem Schreiben keinen privaten, sondern einen hochoffiziellen Charakter und legen nahe, daß Michels mit dem Bekanntwerden des persönlichen Schreibens zumindest rechnen mußte bzw. darauf spekuliert hat. Seinen Freunden werden die biographischen Details bekannt gewesen sein. Die Verachtung des Krieges vom Vormittag ist immer noch da, aber sie hindert ihn am Abend des 24. Mai nicht, der Beteiligung Italiens an demselben einen Sinn zu geben: „Der entsetzliche Krieg, der in Europa ausgebrochen ist und auf schicksalhafte Weise auch Italien in seinen Sog gezogen hat, ist schon an sich furchtbar und er ist es doppelt fur jemanden wie mich, der eine derartige internationale Vielfalt des Blutes, der Kultur und der Freundschaften in sich vereinigt, der, wie ich, sein Ideal im brüderlichen Zusammenleben der Völker auf Basis der Anwendung des Nationalitätenprinzips erblickt." Die Ereignisse könnten aber nichts an seiner Grundhaltung ändern, die in seiner „heiligen Wahlverwandtschaft" mit Italien wurzele und in seiner „tiefen Überzeugung von der Güte der italienischen Sache".136 Wenn man so will, holt Michels hier sein ganz persönliches Augusterlebnis nach. In seine Solidaritätsadresse fließt eine für den Patriotismus gerade in Kriegszeiten typische religiöse Semantik ein: seine Beziehung zu Italien wird von ihm jetzt als „heilige" bezeichnet. Gleichzeitig wird die Entscheidung der italienischen Regierung der rationalen Diskussion entzogen, indem Michels behauptet, Italien sei „auf schicksalhafte Weise" in den Sog des Krieges gezogen worden. Dieses Schicksal berge „Gefahren und Trauer" - aber es gibt auch Anlaß zu großer Hoffnung: denn der „italienischen Sache" wird von Michels eine ihr inhärente, mit ihr per se identische Moralität - „Güte" - unterstellt, so als ob die militärpolitische Exekution nicht Sache des Staates, sondern eines verborgenen göttlichen Willens sei. Von dieser feierlichen „dichiarazione" an schließt sich die Kluft zwischen der nationalen Idee und der staatlichen Organisation Italiens. Von nun an werden Sätze wie dieser fallen: „Die Politik Salandras wird ihr natürliches Ende erst mit der Erreichung ihrer Ziele finden."137 Damit wird vor allen Dingen die zentrale These von Michels' politischer

135 Michels, [dichiarazione]: „chiamai, nell'estate del 1913, la cittadinanza italiana [...] La decisione non costituiva d'altronde che la richiesta di conferma giuridica ad un fatto moralmente già da parecchio tempo compiuto." 136 Michels, [dichiarazione]: „La guerra atroce, che è scoppiata in Europa e che ha travolta fatalmente anche l'Italia nel suo vortice, dolorosa in sè, lo è doppiamente per chi, come me, riunisce in sè tanta varietà internazionale di sangue, di cultura e di amicizie, e per chi, come me, scorge il suo ideale nella fraterna convivenza dei popoli sulla base dell'applicazione del principio di nazionalità. Senonchè gli avvenimenti nulla possono cambiare nel mio contegno e nei miei proponimenti, giacché essi scaturiscono dagli affetti che ho contratto in Italia, dai vincoli di gratitudine che all'Italia mi legano, e da quell'arcana affinità elettiva per cui mi sento a lei avvinto; essi derivano però anche dalla mia profonda persuasione della bontà della causa italiana." 137 [Michels; anonym erschienen], In Italien, in: Neue Züricher Zeitung, 19.2.1916.

IX.5. Die Erklärung der Italianität

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Soziologie, das Konfliktverhältnis von staatlichem Organisationshandeln und ethischen Maximen ihr Ende finden und vom Autor zumindest bezüglich Italien ad acta gelegt. Es bedarf angesichts der tiefen Skepsis und Verzweiflung über die moralische Anomie des Krieges, die wir bis zu diesem Tag von Michels vernommen haben, schon einer besonderen Befähigung zur kreativen Selbstauslegung, wenn der Autor behauptet, die „Ereignisse" könnten nichts an seiner „Haltung" ändern. Das Gegenteil ist der Fall. Die „Ereignisse" bewirken eine Entscheidung und heben die monatelange Spannung zwischen pessimistischer Resignation einerseits und gelegentlichen Ausblicken durch das Sinnfenster des Irredentismus andererseits auf. Die „Ereignisse" bewirken einen Kurzschluß von der Idealität auf die Realität der „italienischen Sache", der im Widerspruch zu der rigorosen Trennung zwischen Legitimität und Faktizität des Krieges in den Monaten vorher steht. Die kreative Selbstauslegung folgt dabei dem biographischen Erzählmuster der narrativen Einheit der Lebensgeschichte bzw. der „biographischen Illusion" (Bourdieu), das wir bereits am Beispiel von Michels autobiographischen Betrachtungen von 1932 eingehend analysiert haben.138 Die Darstellung der eigenen Position auf der Basis einer ethischen Kontinuitätshypothese muß für Michels eine hohe Bedeutung haben, wenn er gegenüber seinen Freunden schreibt, daß er ,jetzt, 1915" eben jener irredentistischen Position treu bleibt, die er bereits „seit 1901" vertreten hat: die Vereinigung der italienischen Territorien unter österreichischer Gebietshoheit mit dem Mutterland.139 Im Hinblick auf die Zielsetzung ist dies sogar richtig und hat Michels tatsächlich schon in seinen ersten politischen Artikeln die ,Erlösung' der Italiener im Trentino und Triest gefordert.140 Er unterschlägt in seiner „dichiarazione" allerdings, daß er noch wenige Tage vorher empfohlen hat, dieses Ziel nach Möglichkeit mit friedlichen Mitteln zu verfolgen, und daß er am Morgen desselben Tages noch der Meinung war, daß der Krieg zu anderen Ergebnissen fiihren werde, als jenen, die man idealiter sich von ihm erhofft. Diese Widersprüche treten freilich nicht erst am 24. Mai auf. Michels hat an diesem Tag mit seiner „dichiarazione" nur eine Option realisiert, mit der er sich schon vorher angefreundet haben muß und die wohl spätestens seit dem Londoner Geheimabkommen zwischen Italien und der Entente am 26. April 1915 und dem damit immer wahrscheinlicher werdenden Kriegseintritt für den Fall des Falles in seiner Schreibtischschublade lag. Damit beginnt für Michels eine neue Phase seiner Weltkriegspublizistik, in der er zum intellektuellen Botschafter der Legitimität der italienischen Kriegsinteressen wird. Max Weber wird Michels wenig später des „Opportunismus" zeihen.141 Und nicht nur auf den ersten Blick scheint einiges an Michels' Verhalten, der ja in den Monaten zuvor nie als Propagandist des intervento in Erscheinung getreten ist, tatsächlich darauf 138 Vgl. Das Kapitel IV. 1.1. Die Legende von Dresden. 139 Michels, [dichiarazione]: „Infatti fin dal 1901 [...] io ho sostenuto, senza tregua, su riviste italiane e, quel che più conta, tedesche, l'assoluta necessità, anche politica, per l'Italia di unirsi le terre sottomesse all'Austria e che le spettano per diritto umano e divino. Ora, nel 1915, non posso nè voglio negare alcunché di quanto propugnai, con arditezza giovanile, nel 1901." 140 Vgl. das Kapitel II.4. „Demokratischer Nationalismus". 141 Zu Webers Kritik an Michels' Kriegsposition unten mehr.

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IX. Der Fremde im Kriege

hinzudeuten, daß er seine Position zum Krieg von den jeweiligen Entscheidungen der italienischen Regierung abhängig macht und jene diesen programmatisch anpasst. Weber hat seinen Opportunismus-Vorwurf allerdings später wieder zurückgenommen und stattdessen angedeutet, daß eine angemessene Interpretation von Michels' Verhalten davon ausgehen muß, daß Michels im Krieg kein naturalisierter Italiener ist, sondern ein „Fremder" sei und dies auf lange Sicht auch bleiben werde. Beiden Hinweisen von Weber soll im folgenden, der Rekonstruktion von Michels' zweiter Phase im Ersten Weltkrieg, nachgegangen werden: den opportunistischen Verhaltensmerkmalen, die sich am deutlichsten über die Konfrontation des tatsächlichen Regierungshandelns, seiner Alternativen und Michels' publizistischen Legitimitätsspenden herausarbeiten lassen; sowie der dem opportunistisch anmutenden Verhalten zugrunde und viel tiefer liegenden Fremdheitserfahrung, über die Michels nach außen weitgehend geschwiegen hat und die sich nur anhand bislang unbekannter Archiv-Quellen nachweisen läßt. Die Vermutung erscheint mir zumindest plausibel, daß Michels diese Fremdheitserfahrung in seinem neuen nationalen Kontext durch sein patriotisches Engagement zu kompensieren versucht und daß ihn dies zu einer permanenten Anpassung an den jeweiligen Status quo drängt. Der Fremdheit des Wahlitalieners geht dabei der ungewollte Bruch mit der deutschen Geburtsheimat systematisch, logisch und zeitlich voraus. Robert Michels wird in den ersten Wochen nach dem italienischen intervento zum praktisch Staatenlosen. Dieses Risiko seiner Entscheidung vom 24. Mai 1915 - die in diesem Licht betrachtet alles andere als ,opportunistisch ' ist - dürfte Michels von Anfang an bewußt gewesen sein: entgegen seiner Überzeugung, daß nur namentlich unterzeichnete politische Aufsätze ethischen Anforderungen an die politische Debatte genügen können, 142 erscheinen alle seine Kriegsartikel in den ersten Wochen nach der italienischen Kriegsentscheidung anonym. Als seine Urheberschaft bekannt wird, gerät Michels in das Visier der deutschen Kriegsdebatte.

6. „Im feindlichen Lager": Michels' unfreiwilliger Bruch mit Deutschland Der Eintritt Italiens in den Krieg beendet Michels' Mitherausgeberschaft im „Archiv für Sozialwissenschaft". Michels selbst zieht diese Konsequenz, betont allerdings in seiner Erklärung an Jaffé, Weber, Sombart und Lederer, daß sein Vorschlag, ihn vom Titelblatt des Archivs zu streichen, „in keiner Weise einer unfreundschaftlichen Gesinnung gegen Sie" entspringe und er weiter zur „ununterbrochenen Mitarbeit" bereit sei - „nach Friedensschluß" auch zum Wiedereintritt in die redaktionelle Leitung. 143 Es ist plausibel, 142 Zum „Kritisieren mit offenem Visier" vgl. Kapitel II.3.5. 143 Eine Kopie der Erklärung findet sich im Nachlaß von Werner Sombart: Geheimes Staatsarchiv Preussischer Kulturbesitz (GstA PK), VI. HA Familienarchive und Nachlässe, N1 Sombart, Nr. 17, Bl. 291. Dort heißt es: „Verehrte Freunde! Der Eintritt Italiens in den Krieg legt mir bei meinen inneren und äusseren Beziehungen zu diesem Lande die Pflicht auf, an Sie die Anfrage zu

IX.6. „Im feindlichen Lager"

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daß Michels mit diesem Schritt die kollegialen und freundschaftlichen Bindungen an das Archiv nicht kappen, sondern langfristig erhalten will. Nach seiner „Erklärung der Italianität" ist eine redaktionelle Zusammenarbeit mit dem extrem nationalistischen Sombart, aber auch mit Weber objektiv unmöglich. Die kriegsbedingten Spannungen in der Redaktion waren schon im Dezember 1914 deutlich geworden, als es einen von Sombart forcierten Streit um den Abdruck eines Aufsatzes von Eduard Bernstein gab.144 In einem Brief an Max Weber hat Michels die Befürchtung geäußert, daß sich derartige Fälle wiederholen würden und daß insbesondere Sombart „weitere, von ihm (Mfichels]) nicht zu deckende, nationalistische Publikationen (à la .Händler und Helden') von sich geben" könnte. Außerdem habe er das „Bedürfnis, sich selbst nach Belieben auch anders als uns (S[ombart] und mir) vielleicht recht sei, zu äußern".145 Es erscheint nur vernünftig, daß sich der selbsterklärte .Italiener' Michels nach dem ,Treubruch' Italiens mit dem Dreibund eine Zeit zurückzieht und so der Redaktion weitere Spannungen erspart und ihr auch nicht seinen Rausschmiß aufnötigt. Dieser freiwillige Schritt wäre vielleicht über kurz oder lang auch als noble Geste verstanden worden, wenn Michels nicht zeitgleich zum italienischen .intervento' mit einem neuen Projekt in die publizistische Offensive gegangen wäre. Es nennt sich: „Articoli scritti da Roberto Michels su giornali svizzeri in favore dell'Italia, durante la guerra mondiale". In diesen Worten hat Michels später eine Liste von zwanzig Aufsätzen überschrieben, die er von 1915 bis 1919 vorrangig in den „Basler Nachrichten" veröffentlicht hat und in denen er die Ziele der italienischen Außenpolitik verteidigt.146 In den ersten sieben Wochen nach dem italienischen Kriegseintritt erscheinen gleich fünf entsprechende Artikel, von denen der letzte - in der „Neuen Züricher Zeitung" vom 13. Juli 1915 - hohe Wellen schlagen soll und eine regelrechte Michels-Debatte in Deutschland auslöst.147 Der Titel lautet nüchtern „Zum Thema Deutschland und Italien", aber schon die Autorenzeile dieses proitalienischen Textes muß in Kriegszeiten mit ihrer leicht reizbaren Sensibilität gegenüber verräterischen Bestrebungen' Empörung auslösen: da steht nicht „Robert Michels", sondern „Von einem Deutschen". In

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stellen, ob es nicht ratsam und angebracht ist, meinen Namen vom Titelblatt des Archiv zu streichen. Mit diesem Vorschlage, dessen Ausführung ganz unauffällig und ohne jede Erklärung Ihrerseits geschehen könnte, entspringt selbstverständlich in keiner Weise einer unfreundschaftlichen Gesinnung gegen Sie und tut weder meinen altfreundschaftlichen Gefühlen zu beiden [?], noch meiner Bereitwilligkeit zur weiteren ununterbrochenen Mitarbeit als Gast, sowie zu meinem evtl. Wiedereintritt nach Friedensschluss Abbruch." Als Datum des Poststempels ist in dieser Abschrift der 21. Mai 1915 angegeben - am 20. und 21. Mai hatten die beiden Kammern die Regierung zum Kriegseintritt ermächtigt. Vgl. MWG II/8, S. 803. Brief von Max Weber an Gustav von Schmoller, 10. Januar 1916, GstA Berlin, Rep. 92, Nl. Gustav von Schmoller, Nr. 208a. Ich zitiere aus der Transkription für die MWG Hierfür und für viele Hinweise zur Korrespondenz Weber-Michels sowie für die Zusendung weiterer Transkriptionen geht mein herzlicher Dank an Manfred Schön. Die Liste findet sich in: Documenti personali di Roberto Michels, ARMFE. Michels [anonym], Zum Thema Deutschland und Italien. Von einem Deutschen, in: Neue Züricher Zeitung, 13. Juli 1915.

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IX. Der Fremde im

Kriege

einer Gegendarstellung hat Michels die Verantwortung hierfür der Redaktion zugewiesen. 1 4 8 Wenn man sich Michels' bisherige publizistische Praxis und seine Verachtung anonymer Artikel vergegenwärtigt, 1 4 9 mag zunächst vieles dafür sprechen, daß die Redaktion die Autorenschaft anonymisiert hat, um mit dem Fettdruck „von einem Deutschen" auf der Titelseite den Absatz des Blattes zu steigern. D a s ist aber bestenfalls die halbe Wahrheit. Tatsächlich ist Michels in jedem seiner ersten fünf Rechtfertigungsartikel zum Kriegseintritt Italiens von seinem Grundsatz abgewichen, Debatten mit „offen e m Visier", d. h. mit namentlicher Kennzeichnung, zu führen. A u c h v o n den vier im Mai und Juni 1915 in den , 3 a s l e r Nachrichten" erschienen Artikel trägt keiner seinen Namen. Stattdessen ist da stets „von italienischer Seite" oder „von italienfreundlicher Seite", einmal sogar der eine Zugehörigkeit des Autors zur norditalienischen Poebene signalisierende N a m e „Padanus", zu lesen - diese Reihung v o n Anonymisierungen ist gewiß kein redaktionelles Versehen. Vielmehr dürfte Michels sie bewußt genutzt haben, um sich im eher deutschfreundlich gesinnten Basel zu schützen. 1 5 0 Tatsächlich hat das

148 Vgl die Notiz im Corriere della sera, 11. September 1915: „L'articolo fu attribuito a un tedesco, non da lui [Michels] stesso, ma dalla redazione." 149 Vgl. Michels, Die ethischen Pflichten des Bücher-Rezensenten, in: Ethische Kultur, 11. Jg., Nr. 12, 1903, S. 90-93. 150 Daß diese namentlich nicht unterzeichneten Artikel tatsächlich von Robert Michels stammen, leite ich aus dem Umstand ab, daß die Angaben in der von Gisela Michels-Lindner angefertigten Bibliographie von 1937 (Opere di Roberto Michels, a.a.O.) exakt Michels' auto-bibliographischer Aufstellung „Articoli scritti da Roberto Michels sui giornali svizzeri in favore d'Italia ..." (ARMFE) entsprechen. Die Identifikation wird allerdings dadurch erschwert, daß die betreffenden Artikel nicht nur ohne Namen, sondern zum Teil auch ohne Titel erschienen sind. Die von Michels und seiner Frau angeführten Titel stellen eigenmächtige Inhaltsangaben dar. Nach der Recherche, bei der mir Jutta Schöffel von der Staatsbibliothek Berlin behilflich war, lassen sich die bibliographischen Angaben zu den Nr. 287, 289, 290,291 in den „Opere di Roberto Michels" wie folgt präzisieren: Nr. 287: Der Eintritt Italiens in den Krieg, in: Basler Nachrichten, 20. Mai 1915. Hier handelt es sich tatsächlich um einen Text auf der ersten Seite, Spalte 2-4, der auf zwei vorhergehende Korrespondentenberichte unter der Überschrift „Tagesbericht" folgt und von den Worten „Von italienfreundlicher Seite wird uns geschrieben" eingeleitet wird. Unterschrieben ist er mit „Padanus". Nicht nur Michels' eigene bibliographische Zuordnung spricht für seine Autorenschaft, sondern auch Stil und Inhalt des Textes: er prognostiziert Italiens Eintritt in den Krieg an der Seite der Entente und nennt als wesentlichen Grund dafür den Irredentismus und das Nationalitätenprinzip. Als weitere Gründe nennt er einen weit verbreiteten „Haß" auf Österreich und unterscheidet davon eine gegenüber Deutschland prinzipiell freundliche Haltung, die nur durch die Art der deutschen Kriegsführung (Annektion Belgiens) vorübergehend beschädigt sei. Schließlich rechtfertigt der Artikel, daß Italien auf die territorialen Angebote, mit denen Österreich sich der italienischen Neutralität versichern wollte, nicht eingegangen ist. Neben der in den Geheimverhandlungen strittig gebliebenen Triest-Frage nennt Michels „ein tiefes Mißtrauen an der Vertragsaufnchtigkeit der Mittelmächte". Wer das Versprechen, die belgische Neutralität zu achten, breche, der fühle sich möglicherweise in Zukunft auch nicht an in einer Notlage gegebene Zusagen in der Trentino-Frage gebunden.

IX.6. „Im feindlichen Lager"

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Bekanntwerden seiner Autorenschaft für ihn zur Folge, daß er von seinen deutschen Kollegen in Basel „boykottiert" wird. 151 Glaubhaft erscheint mir an Michels' Erklärung zu dem umstrittenen Artikel allein, daß die nationale Zuordnung der Unterzeile „von einem Deutschen" nicht v o n ihm, sondern von der Redaktion stammt. Allerdings bleiben auch in diesem Punkt bei manchem Zeitgenossen Zweifel, die nicht ganz ausgeräumt werden können. 1 5 2 D i e Empörung über die Unterzeile wird um so begreiflicher, w e n n man sich den Inhalt des Aufsatzes anschaut. Der Leser wird mit einer kriegspolitischen Argumentation konfrontiert, die von den üblichen Diskursmustern der intellektuellen Kriegsfiihrung

Nr. 290: Zur Abreise der italienischen Militärpflichtigen, in: Basler Nachrichten, 9. Juni 1915. Dieser Text findet sich auf Seite 3, Spalte 1, eingeleitet durch „Basel, 8. Juni (Mitgeteilt von italienischer Seite.) Einige Zeitungen haben die Nachricht gebracht, daß die in Deutschland ansässigen Italiener ihren militärischen Pflichten nur ungern nachkommen und es vorzögen, dem Gestellungsbefehle ihrer Heimat nicht Folge zu leisten." Michels widerspricht diesen Meldungen unter Hinweis auf seit dem 26. Mai in Deutschland fur Italiener bestehende Ausreisehindemisse. Zum Nachweis des patriotischen „Pflichtgefühls" zieht er vergleichsweise die Schweiz heran, wo die Auslandsitaliener mit Leichtigkeit sich dem Waffengang verweigern könnten, dies aber nicht tun. Zu den Nr. 289 (Die Rede Salandras, Basier Nachrichten, 6.6.1915) und 291 (Und zum letzten Male die Rede Salandras, Basler Nachrichten, 16.6.1915) ist bibliographisch anzumerken, daß hier die Überschriften zwar stimmen, anstelle des Autorenamens jedoch in beiden Fällen der einleitende Satz „Von italienischer Seite wird uns geschrieben" steht. In beiden Artikeln verteidigt Michels Italien gegenüber den Vorwürfen der Heimtücke und Feigheit. Heimtückisch sei der italienische intervento deshalb nicht, weil in den monatelangen Geheimverhandlungen mit Österreich und Deutschland immer klar gewesen sei, daß Italien sich auf die Seite der Entente schlagen würde, wenn seinen territorialen Forderungen - Trentino und Triest - nicht entsprochen werden würde. Feige sei er deshalb nicht, weil Österreich sich im aktuellen Kriegszustand eher in einer Position der Stärke als der Schwäche befinde. Das Ziel der italienischen Kriegspolitik sei ein Frieden auf der Grundlage des nationalen Selbstbestimmungsrechts, d. h. auch, daß Deutschland in seiner „deutschnationalen Integrität" zu erhalten sei und allen Bestrebungen seitens der Entente, diese zu zerschlagen, seitens Italiens eine Absage erteilt werde. Einen interessanten Hinweis enthält der zweite Artikel zu Salandras Kriegserklärung. Ein deutscher Autor, auf den Michels hier antwortet, hatte geschrieben, daß der Kriegseintritt Italiens von vielen zweifelhaften Personen gefordert worden sei und exemplarisch Benito Mussolini, den Futuristen Marinetti und den Dichter Gabriel d'Annunzio genannt. Michels' Antwort: „Daß sich den hervorragenden, und über jeden Zweifel erhabenen Kreisen der in jedem Sinne besten italienischen Gesellschaft auch Männer anschlossen, deren Verhalten aus anderen Gründen vielleicht der Kritik ausgesetzt war [...] soll gern zugegeben werden. Indes teilt Italien hier nur das Schicksal Deutschlands, wo ebenfalls in den ersten Reihen kriegslustiger Patrioten" Männer von zweifelhaftem Charakter auftreten würden. Es handelt sich hier um die einzige mir bekannte Äußerung von Michels zu Mussolinis Interventionismus während des Krieges. 151 So berichtet Weber in seinem Brief an Schmoller vom 10. Januar 1916. 152 Weber schreibt in seinem Brief an Schmoller vom 10.1.1916, daß Michels' Behauptung, die Unterzeile sei Redaktionswerk, „sicher genau richtig ist". Er fugt dann allerdings hinzu: „Immerhin hatte er bei Erscheinen des Artikels und Zusendung an mich davon nichts erwähnt und nicht gegen den Zusatz remonstriert."

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IX. Der Fremde im Kriege

zwischen Entente und Mittelmächten abweicht: Michels argumentiert hier nämlich für die deutsch-italienische Freundschaft, die nur ein Hindernis - das des Irredentismus zu überwinden habe: „Was Deutschland und Italien zurzeit dauernd trennt, das ist Oesterreich". Er fordert die Revision der österreichischen Grenzen, die Verlagerung des geographischen Schwerpunktes „mehr nach Nordosten denn nach Südosten" - und, das ist dann wohl der ,Gipfel' seines Artikels, er begründet dies, indem er ausgerechnet Heinrich von Treitschke und Otto von Bismarck als Kronzeugen seiner historischen Argumentation aufruft. Diese beiden hätten zu ihrer Zeit nämlich die legitimen Aspirationen des italienischen Nationalstaates auf Trento und Trieste anerkannt. Konsequenz: „Ein Deutschland, das sich selbst treu bleibt, vermag deshalb den gegenwärtigen Italienern die Berechtigung des italienischen Strebens nach der Durchsetzung der nationalen Einheit über die zurzeitigen Grenzen Österreichs hinweg letztendlich nicht zu bestreiten". Der italienische Kriegseintritt auf der Seite der Entente ist Michels zufolge die „logische Fortsetzung jener Politik, die zur politischen Einheit des Landes gefuhrt hat." Es sei der „vierte Befreiungskrieg" nach 1849, 1859 und 1866. Damit macht sich Michels den Mythos von der „quarta guerra del Risorgimento" zu eigen, der im zeitgenössischen Kontext die Kontinuität und Verbindlichkeit der nationalliberalen Epoche gegenüber alternativen Auslegungen der nationalen Identität behauptet. 153 Michels erinnert daran, daß zur Zeit des Befreiungskrieges von 1866 die „Freundschaft und Bundesgenossenschaft zwischen Deutschland und Italien" dem „gemeinsamen Gegensatz zu Oesterreich" entsprungen sei. Beide hätten ihr Ziel der nationalen Einheit erreicht, aber aufgrund der Präsenz von Deutschen und Italienern in Österreich nur „unvollständig" erreicht. Der „Dreibund" zwischen diesen drei Staaten sei daher ein bündnispolitisches Kuriosum: er entspreche eigentlich einer „Vereinigung zweier Gläubiger mit einem Schuldner". Im Gegensatz zu Italien habe Deutschland „den Schuldner milde und liebevoll behandeln" können: „wie eine prächtige Erbtante, deren natürlichen Tod man abwarten kann, da man sicher ist, daß ihre Millionen gut angelegt sind und nicht fortlaufen können." Es ist höchst wahrscheinlich, daß Michels mit dieser Kritik am Dreibund und seiner Forderung nach einer Revision der deutschen Bündnispolitik zugunsten einer deutschitalienischen Allianz bereits vor dem italienischen Kriegseintritt die öffentliche Meinung beeinflussen wollte. Entsprechende Vermittlungsbemühungen Max Webers scheiterten im Februar 1915 an der Ablehnung durch die „Frankfurter Zeitung". 154

153 Zum Mythos des „vierten Krieges des Risorgimento" im nationalliberalen Denken vgl. Patrick Ostermann, Die internationale Debatte über das italienische Risorgimento im Umfeld des Ersten Weltkrieges, Vortrag auf einer Tagung des Archivs für Liberalismus in der Theodor-Heuss-Akademie in Gummersbach 17.-19. Oktober 2003. 154 Brief von Max Weber an Schmoller, 10.1.1916, a.a.O.: „ Vorher, Februar, hatte Mfichels] an mich mit der Bitte geschrieben, ihm zu vermitteln, daß er in der ,Frankfurter] Zeitung' sich äußere, er sehe, daß wir mit Riesenschritten in den Krieg mit Italien trieben. Das that ich, die ,Frankfurter] Z[eitung]' aber lehnte ab, da das nutzlos sei (die Zensur würde Derartiges ja sicher nicht geduldet haben, was aber die Zeitung nicht geltend machte)."

IX.6. „Im feindlichen Lager"

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Es ist leicht nachzuvollziehen, daß Michels nun, im Juli 1915, der Vorwurf ereilt, mit seinen Lehren aus der Geschichte Österreich und Deutschland gegeneinander aufhetzen zu wollen. Indes ist seine Argumentation nicht rein taktisch - als Versuch, Irritationen im deutsch-österreichischen Bündnis auszulösen - zu verstehen. Sie rekapituliert tatsächlich Michels' Präferenz für eine homogene, großdeutsche Lösung der nationalen Einheit aller Deutschen, die er schon in seinen Frühschriften ebenso verfochten hat wie die nationalstaatliche Einheit aller Italiener, einschließlich derjenigen auf österreichischem Gebiet. Die Donaumonarchie mit ihrer multiethnischen Zusammensetzung hat für ihn nie eine Existenzberechtigung gehabt. 155 Heute gehört dieses Leitmotiv des homogenen Nationalstaates zur Weltanschauung der ,Neuen Rechten'. Im zeitgenössischen Kontext dagegen nimmt Michels damit eher eine progressive' Position ein: während das Beharren auf der Selbständigkeit Österreichs als reaktionär gilt, wird bis in die späte Weimarer Republik die Vereinigung der deutschsprachigen Teile Österreichs mit dem Deutschen Reich gerade von der Linken vertreten, so etwa von Gustav Radbruch. 156 Michels' Argumentation in dem umstrittenen Artikel wendet sich somit in der Hauptsache gegen das „Völkergemisch" der Habsburgermonarchie, das es nach dem Nationalitätenprinzip neu zu ordnen gelte. Die deutsche Kriegspolitik erscheint demgegenüber wie eine Marginalie. Erst am Schluß setzt sich Michels mit ihr auseinander. Dabei kritisiert er die imperiale Kriegsführung gegen Belgien und Frankreich 157 aber nicht kategorisch, sondern unter dem Aspekt, daß sie das deutsch-italienische Verhältnis belaste (!): „Nur drei Dinge vermögen diese natürliche Freundschaft [zwischen Deutschland und Italien] zu zerstören: Ein Deutschland, das seine ihm ethnisch und linguistisch gezogenen Grenzen weit überschreitend nach der unbedingten Hegemonie über das kontinentale Europa strebt und dabei seine Macht auch auf die eigentliche Domäne des Italienertums, das Mittelmeer, auszudehnen versuchen würde. Ein Deutschland, das Frankreich und damit die romanische Nordmacht vernichten will, was nicht im Kulturinteresse Italiens liegt. Endlich ein Deutschland, das eine der wesentlichsten Aufgaben seiner Auslandspolitik in der Unterstützung Oesterreichs à tort et à travers erblickt." Nicht nur dieser Aufsatz, sondern auch der Inhalt seines privaten Rundbriefs erreicht im Sommer 1915 die deutsche Presse, wo Michels' Äußerungen heftige Polemiken gegen ihn auslösen. Schon am 12. Juni vermeldet das „Berliner Tageblatt": „Der bekannte deutsche Gelehrte Robert Michels [...] veröffentlicht in italienischen Blättern eine begei155 Vgl. II.4. „Demokratischer Nationalismus" 156 In einer Neujahrsanspache von 1928 fordert Radbruch: „Deutschland und Österreich ein Volk, ein Reich!", zit. n. Wolfgang Schuller, Rechtsformel, gewitterschwanger. Zum Abschluß der Gesamtausgabe Gustav Radbruchs, in: FAZ, 13. Oktober 2003, S. 38. 157 Vgl. John Home/Alan Kramer, Deutsche Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene Wahrheit, Hamburg 2004.

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sterte Erklärung zugunsten der Italiener und des italienischen Krieges." 158 Es handelt sich hier um das „circolare", dessen tatsächlich nationalpathetischen Stil wir oben analysiert haben, welches Michels gleichwohl nicht als Pressemitteilung, sondern als Erklärung an seine Freunde verschickt hat. Die Nachricht von seiner „begeisterten Erklärung" ruft den Verleger Julius Springer auf den Plan, mit dem Michels einen Vertrag über die Publikation seiner Imperialismus-Studie geschlossen hat. Springer will wissen, ob die Nachricht im Berliner Tageblatt wahr ist, „ob Sie einen derartigen Brief tatsächlich geschrieben haben, ob Sie insbesondere Italiener sind, ob Sie Ihre Kinder in der Sprache wie in der Empfindung rein italienisch erzogen haben und ob Sie auch heute nach Ausbruch des Krieges zwischen Oesterreich und Italien auf Seiten Italiens stehen". 159 In seiner Antwort betont Michels, daß die „in deutschen Zeitungen veröffentlichten Briefstellen [...] nicht für die Öffentlichkeit bestimmt gewesen" und als „aus dem Zusammenhang gerissene Pnvaimeinung zu betrachten" seien. Diese Behauptung ist aufgrund der Vervielfältigung der „dichiarazione" in einer Druckerei und wegen ihres hochoffiziellen Stils nicht sehr überzeugend. Nachvollziehbar dagegen ist Michels' dann folgende detaillierte Erklärung, in der er sein Eintreten für Italien biographisch und theoretisch begründet. Erstens bestätigt er, daß er aus dem deutschen Staatsverband ausgetreten ist, um in den italienischen einzutreten, dabei hinzufügend, daß 1913 ein Weltkrieg noch nicht zu vermuten und beide Länder verbündet waren. Seine Positionierung für Italien und gegen Österreich - aber nicht gegen Deutschland - sei die „logische Folge" dieses vorhergehenden Schrittes. „Es ist ferner menschlich. Es wäre unnatürlich, wenn dem nicht so wäre, wo alle meine Schüler und Freunde der letzten fast fünfzehn Jahre (ich habe seit 1900 teils ständig, teils halbjährig in Italien gelebt) in der ital. Armee im Felde stehen". Wenn man so will, wendet Michels hier seine These vom „ambientalen Charakter des Patriotismus" auf sich selber an. 160 Theoretisch rechtfertigt er seine Parteinahme für Italien mit dem Nationalitätenprinzip und fügt hinzu, er habe „auf Grund historisch-ethnograph. Studien und persönlicher Einsichtnahme die Anschauung gewonnen, daß das Trentino und Trieste und ein beträchtlicher Teil Istriens tatsächlich italienisch sind". Auch im Schreiben an Springer pflegt Michels gegenüber Deutschland versöhnliche Töne: es sei auch für ihn „höchst bedauerlich", „daß der Konflikt mit den Waffen ausgefochten werden muß und die gegenwärtige Lage Deutschland zwingt, für Ö. und gegen It. [...] Partei zu ergreifen". Doch hege er „weiterblickend die nicht unbegründete Hoffnung, dass durch die Wegräumung der irredentistischen Hindernisse die Freundschaft zwischen Italien und Deutschland für spätere Zeiten auf gesunden und festen [sie] Grundlagen gestellt werden kann." Man fragt sich, ob diese Beschwörung der deutsch-italienischen Freundschaft naiv ist oder es sich um einer trotzige Verkennung der Wirklichkeit handelt, zumal Michels dem Heidelberger Verleger ausgerechnet sein „italienfreundliches" Buch über die ita158 „Die Stimmung in Italien. Noch ein deutscher Italianissimo", in: Berliner Tageblatt, 12. Juni 1915. 159 Brief von Julius Springer an Michels, 24. August 1915, ARMFE, in: Timm Genett, Lettere di Roberto Michels e di Julius Springer (1913-1915), a.a.O., S. 549. 160 Vgl. Kapitel VII. Die unvollendete Soziologie des Patriotismus.

IX.6. „Im feindlichen Lager"

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lienische Expansion auch noch mit den Worten anpreist: „Ich habe das Vertrauen zu dem deutschen Volke, dass es nach dem Kriege ein solches Buch nicht nur vertragen kann [,] sondern geradezu benötigt und nach einem solchen verlangt." 161 Das Buch im Springer-Verlag fällt dem Krieg ebenso zum Opfer wie andere Projekte in diesem Zusammenhang. Schon am 26. Mai 1915 hat die Deutsche Verlags-Anstalt Michels' Beitrag „Die Probleme der italienischen Politik", 162 die in der Sammlung „Der Deutsche Krieg" erscheinen sollte, von der Liste gestrichen. Begründung: „Bei der Abfassung seiner Arbeit [...] konnte der Verfasser noch berechtigt sein, anzunehmen, daß die italienische Regierung die Forderungen des von Salandra angekündigten ,heiligen Egoismus' innerhalb der von allgemein menschlichem Anstandsgefühl und politischer Ehrlichkeit gezogenen Grenzen zu erfüllen strebe. Der Gang der Ereignisse zeigt, daß diese Voraussetzung irrig war und daß es dem über 30 Jahre mit Deutschland verbündetem Volk nicht auf den Bruch von Treu und Glauben ankommt, wenn seiner Habgier von seiten seiner Feinde Sättigung versprochen wird." 163 Michels muß spätestens von diesem Moment an klar sein, daß seine Italien-Schriften samt ihrer Intention, im Ausland das Verständnis für die italienische Politik zu befördern, in Deutschland unwillkommen sind. Und es müßte ihm auch klar sein, daß selbst eine noch so differenzierte Rechtfertigung der italienischen Interessen im geistigen Klima des Krieges als Verrat aufgefaßt werden würde. Ein prägnantes Beispiel für dieses geistige Klima ist eine Kampagne der „Deutschen Juristen-Zeitung" (DJZ), die seinerzeit regelmäßig unter dem Titel „Deutsche Juristen im feindlichen Lager" erscheint und „solche Juristen entlarvt", die, „obwohl sie als Deutsche von Geburt ihrem Mutterlande nicht nur ihre Erziehung, sondern alles verdanken, dem deutschen Volke in den Rücken fallen". Die „ständige Rubrik [...] für solche ehemaligen deutschen, jetzt im Solde unserer Feinde stehenden Männer" wird im September 1915 um die Vertreter der „Nationalökonomik und Sozialpolitik" erweitert. Als ersten trifft es Robert Michels. Der denunzierende Text speist Michels-Bilder in die Debatte ein, die zwar wenig mit der Wirklichkeit zu tun haben, dafür aber um so wirkungsvoller an seiner Person hängenbleiben und, frei nach Ferraris, zum Entstehen des zweiten stereotipo mistificato beigetragen haben. Die Kernbotschaft lautet: „Seine deutschfeindliche Gesinnung betätige er seit Kriegsbeginn in einer nahezu skrupellosen Weise."164 Da eine österreichfeindliche Haltung zwar durchaus zu beweisen gewesen wäre, eine deutschfeindliche

161 Brief von Michels an Springer, 2.9.1915, Archiv des Springer Verlages Heidelberg, Signatur B:M, 170, in: Genett, Lettere di Michels e Springer, a.a.O., S. 550-553. 162 Dürfte identisch sein mit Michels, I problemi attuali della politica italiana, a.a.O. 163 Börsenblatt Nr. 118 vom 26. Mai 1915. Für diese Quelle und alle übrigen aus dem Archiv des Springer-Verlages geht mein Dank an Frau Margit Unser. 164 „Deutsche Juristen im feindlichen Lager", in: Deutsche Juristen-Zeitung, XX. Jg., Nr. 17/18, 1915, Spalte 895-896 [kursiv von mir]. Der Konjunktiv wird hier verwendet, weil die DJZ einen Bericht „von eingeweihtester Seite" referiert.

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dagegen nicht, geht die DJZ auf den Inhalt der inkriminierten Artikel in den „Basler Nachrichten" nicht näher ein, sondern zieht zum vermeintlich schlagkräftigen Beweis der antideutschen Gesinnung ausgerechnet die Namen von Michels' Kindern heran: „Denn nicht nur, daß seine Frau, die ebenfalls gut deutscher Herkunft ist, sich in der Rolle einer Vizepräsidentin eines italienischen Vereins165 in Basel gefalle - seine Kinder heißen bezeichnenderweise: Mario, Manon, Daisy (!!): nach der Entente getauft!". Um seinen fragwürdigen Charakter zu unterstreichen, wird Michels zudem unterstellt, er nenne sich „neuerdings auch ,Roberto Micheli'". Michels' vergeblicher Versuch, in seinen ersten proitalienischen Aufsätzen zum intervento anonym zu bleiben, liefert der DJZ weitere Argumente: er bediene „die neutrale Presse mit irredentistischen Artikeln ,νοη italienischer Seite'". Und „geradezu schamlos" sei es, „daß derselbe Mann, der so ganz und gar undeutsch fühlt, neuerdings in die schweizerische Presse auch österreichfeindliche Artikel" unter der Überschrift ,νοη einem Deutschen' lanciere, „in der ganz durchsichtigen und leider in beschränktem Maße auch erreichten Absicht, Angehörige der beiden verbündeten Staaten gegeneinander politisch aufzuhetzen". In der Schweiz, so abschließend die DJZ, werde das „Treiben dieses ,sujet mixte'" inzwischen durchschaut. All seine Kollegen rückten von ihm ab. „Aber auch die Fachgenossen im Deutschen Reiche und in Oesterreich sollten über das Gebaren dieses Mannes aufgeklärt werden." Diesen Auftrag führt die Frankfurter Zeitung am 3. September 1915 aus und druckt den Artikel der DJZ wortgleich ab, verzichtet aber auf die absurde Beweisführung mit den Namen von Michels' Kindern. 166 Die Frankfurter Zeitung gibt Michels auch die Gelegenheit einer Gegendarstellung. Dieser kündigt an, seine Motive ausfuhrlich in der Nachkriegszeit darstellen zu wollen, und beschränkt sich auf die Korrektur der „wesentlichsten Unwahrheiten". Es sei ihm nie eingefallen, seinen Namen in ,Micheli' zu italianisieren. Was den Inhalt des irrtümlicherweise von der Redaktion der Neuen Züricher Zeitung mit „von einem Deutschen" untertitelten Artikels betrifft, bittet Michels um eine genaue Lektüre. Ziel sei es gewesen, Deutschland historische und politische Gründe zu Gemüte zu führen, auf daß es seine derzeitige Bündnispolitik überdenke und nicht alternative „fruchtbare politische Möglichkeiten" im Verhältnis zu Italien verspiele. Insgesamt urteilt er über die Vorwürfe in der deutschen Presse an seine Adresse: „Vieles muß der Aufregung der Zeit zugute gehalten werden." 167 Eine Ausnahme in dieser Pressedebatte über Michels macht die „Rheinische Zeitung". Sie bezieht sich auf die „Deutsche Juristen-Zeitung" sowie einen weiteren gegen Michels gerichteten Artikel in der „Deutschen Tageszeitung", wo Michels erneut der Autorenschaft des „J'accuse" verdächtigt worden ist. Der anonyme Autor behauptet, Michels zu kennen, ihn zuletzt 1913 in Turin besucht zu haben. Seine Einschätzung von Michels geht zwar auf dessen Italienertum ein, zieht aber in der Gesamtbetrachtung eine ganz andere Konsequenz: „Michels ist Kosmopolit [...]. Aber das ist an sich beileibe noch 165 Dieser ist mir nicht bekannt. Daß Michels Präsident der Società Nazionale Dante Alighieri in Basel ist, scheint der Zeitung unbekannt zu sein. 166 „Dr. Robert Michels", in: Frankfurter Zeitung, 3. September 1915. Auf italienisch abgedruckt in: Corriere della sera, 11.9.1915. 167 „Nochmals Dr. Michels", in: Erstes Morgenblatt der Frankfurter Zeitung, 10. September 1915.

IX.6. „Im feindlichen Lager"

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kein Verbrechen. [...] Für das aber, dessen man Michels anklagt: sein Vaterland in der Zeit größter Not hinterrücks angefallen zu haben, fehlt es vorläufig noch an jedem Beweis, der nicht etwa durch den Umstand ersetzt werden kann, daß jene Anschuldigungen zuerst in dem Organ der deutschen Juristenwelt auftauchten." 168 Gerade der Artikel in der Deutschen Juristen-Zeitung dürfte wohl Michels' Ruf in der deutschen Wissenschaftslandschaft am meisten geschadet haben. „Ein Buch aus Ihrer Feder", schreibt ihm Julius Springer, „wird in Deutschland umso weniger Verbreitung finden, als auch die ,Deutsche Juristen-Zeitung' sich mit Ihrer Person und Ihrem Verhalten beschäftigt hat und diese Notiz in die großen Tageszeitungen übergegangen ist."169 Michels' Aufsatz in der „Neuen Züricher Zeitung" vom 13. Juli 1915 schlägt noch bis in den Oktober 1916 (!) hohe Wellen. Für die Zeitschrift „Der Tag" ist Michels' Wirken Ausdruck einer „geistigen Bastardisierung", in der sich die „Tragik" der „modernen internationalen Freizügigkeit" spiegele: „nach Abertausenden zählen sie, die in einem Lande wurzeln, sich einem feindlichen Staat aber mit tausend Fäden von Freundschaften, Geschäftsinteressen usw. zu einem neuen Treueverhältnis verbunden fühlen". 170 Dem Autor des „Tag"-Artikels, einem Schweizer, mißfallt weniger Michels' Engagement für Italien an sich als vielmehr der Eindruck der Neutralität (!), den Michels' proitalienische Artikel dadurch vermitteln würden, daß der Autor der ethnischen Abstammung nach kein Italiener ist. Diesen potentiellen Objektivitätsnimbus des Kosmopoliten, der nicht aus ethnischer Verbundenheit, sondern aus moralischer Überzeugung die italienische Sache verteidigt, gilt es unmißverständlich in die Schranken zu weisen: „Wir [die Schweizer] verzichten auf solche Regenwurmneutralität, die sich in jeden beliebigen Wiesengrund hineinfrißt. Und wir können nur bedauern, daß ein Mann von solcher gewundenen Wandelbarkeit bei all seinen Kenntnissen und Talenten, durch ein Mißverständnis an eine unserer Hochschulen berufen ward. Denn wir wollen unsre Jugend zu aufrechten, geraden Männern erzogen wissen, nicht zu ... Regenwürmern!" Max Weber hat gegenüber Schmoller gemutmaßt, daß derartige Vergleiche und Polemiken Michels möglicherweise gar nicht besonders getroffen haben, sondern die ganze öffentliche Debatte um seine Person bei ihm vielmehr „Eitelkeitsfreude" ausgelöst habe. 171 Für Weber ist auch Michels' italienischer Patriotismus nicht das entscheidende Problem, sondern der Mangel an „politischem und persönlichem Taktgefühl" sowie an „menschlicher Reife", der darin zum Ausdruck komme, daß er überhaupt in die Kriegsdebatte eingestiegen ist. Gerade in Anbetracht „seiner inneren Lage hatte er zu schweigen, mochte es ihm auch noch so schwer fallen". 172 Drei Briefe von Weber an Michels, geschrieben im Juni, September und Oktober 1915 dokumentieren den kriegsbedingten Bruch zwischen den beiden Soziologen. Bei

168 169 170 171

„Robert Michels", in: Rheinische Zeitung, 14. September 1915. Brief von Springer an Michels, 7.9.1915, in: Genett, Lettere di Michels e Springer, S. 553-554. Dr. E. Jenny, Verstauchter Patriotismus (Herr Professor Rob. Michels), in: Der Tag, 4.10.1916. Vgl. Brief von Gustav von Schmoller an Max Weber, 31.10.1916, in: GstA, Rep. 92, Nl. von Schmoller, Bl. 28: „Daß Michels über solche Artikel wie den des Dr. Jenny eine Eitelkeitsfreude empfinden sollte, ist mir doch ein bißchen zweifelhaft." 172 Brief von Weber an Schmoller, 10.1.1916, a.a.O.

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IX. Der Fremde im Kriege

aller nationalistischen Erregung, die auch Weber in seinen Repliken und Kontrarepliken befállt, ist seine Kritik an Michels weitaus subtiler als die in der oben zitierten Pressekampagne. Implizit macht er Michels den Vorwurf - selbst wenn er noch so gute moralische Absichten verfolgt habe - verantwortungsethisch an der Herausforderung des Krieges gescheitert zu sein. Gleichzeitig hinterfragt er Michels' moralische Integrität bei der Verteidigung des Irredentismus und der Verurteilung des deutsch-österreichischen Bündnisses, indem er ihm unverhohlen zu verstehen gibt, daß er alles andere als frei von Opportunismus sei. Im Gegensatz zu vielen anderen, die sich in dieser Debatte äußern, verurteilt Weber nicht Michels' Wahlpatriotismus, sondern akzeptiert ihn: „Sie fühlen sich als Italiener, d. h.: Sie haben ein doppeltes Vaterland. Das ist Ihr Schicksal. Sie können nichts dafür und würden es gar nicht anders wollen. Diese Lage gibt Ihnen gewisse Rechte. Sie dürfen in manchem anders empfinden, als es uns anderen im Augenblick, wo unser Land von den Großmächten nur das unsrige - um seine ganze Existenz ficht, gestattet ist." 173 Dann aber erinnert Weber Michels daran, daß sich aus seiner nationalen Zwischenexistenz auch besondere Pflichten gegenüber seinem „Geburtsland" ergeben, „in welchem Sie noch vor kurzem gern eine akademische Stellung versehen hätten" - insbesondere die „Pflicht unter Umständen schweigen zu können". Bedauerlicherweise wissen wir nicht, ob und wie sich Michels gegenüber diesem peinlichen Vorwurf verteidigt hat: in Michels' proitalienischer Argumentation, die sich mit dem Nationalitätenprinzip moralischer Argumente bedient und diese gegen die Kriegspolitik des Deutschen Reiches wendet, ist das biographische Faktum, daß er noch bis vor kurzem mit allen Mitteln Professor in Deutschland werden wollte, eine offene Flanke, in die der Verdacht des Opportunismus eindringt. Nach diesem treffsicheren Hieb gegen Michels' garibaldinische Selbstgerechtigkeit steigert sich allerdings Webers nationale Erregung derart, daß er die Pflicht zu schweigen als einen generellen Maulkorb in allen Kriegsfragen, soweit sie Deutschland betreffen, verstanden wissen will: „Kein Deutscher wird Ihnen das Recht einräumen können, über die Gestaltung des Friedens mitzureden, vollends nicht in der Art, die des Beifalls unserer Feinde sicher ist." Er, Weber, wirke seit Kriegsbeginn gegen die Annektion belgischer Gebietsteile. „Aber nicht die Sache eines Schweizer Professors ist es, da mit zu sprechen." Michels' Leitmotiv, das Nationalitätenprinzip mit Plebisziten durchzusetzen, nennt Weber einen „Kitsch aus der politischen Kinderstube". „Ein unbeeinflusstes Plebiscit in Rom würde die päpstliche Herrschaft, ein unbeeinflusstes Plebiscit in Sizilien die Veijagung der Piemontesen ergeben. Jedenfalls mache ich mich anheischig, mit den nötigen Mitteln ein solches zu inszenieren." Wie auch immer Michels' Überlegungen zur Nachkriegsordnung aussehen: Jedenfalls sind nicht Sie deijenige, der den Beruf hätte [,] uns über die Friedensbedingungen zu belehren." „Dilettieren im Journalismus" - in diesen Vorwurf bezieht Weber auch Werner Sombart ein, der „nie schweigen kann und immer ,dernier cri' sein muss" - werde „unser schweres Schicksal nicht lösen."

173 Brief von Max Weber an Michels, 20.6.1915, Abschrift in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Rep. 92, NI. Max Weber, Nr. 30, Bd. 14, Blatt 13-14.

IX.6. „Im feindlichen Lager"

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Schließlich kann es sich Weber auch nicht mehr verkneifen, die „barbarischen Geschmacklosigkeiten der Italiener auf künstlerischem Gebiet", ihren „Treubruch" sowie ihre „hochmütige Deutschenverachtung" zu geißeln. Fazit: Schon der „gute Geschmack" gebiete Michels, „in Ihrer besonderen Lage zu schweigen. Mögen Sie dadurch auch Bauchschmerzen bekommen." Weber weiß aber auch: „Sie werden ja doch tun, was Sie nicht lassen können." Es genügt, an die heftige Auseinandersetzung zwischen Michels und Weber in der Siebeck-Aflare wenige Monate vorher zurückzudenken, als Michels offenbar bereit war, wegen einer Vertragsaufhebung durch den Heidelberger Verleger und ihrer Billigung durch Weber letzterem die Freundschaft aufzukündigen, um sich Michels' Replik auf Webers Schweigegebot vorzustellen. Unter den dramatischen Bedingungen des Sommers 1915 und im Klima nationalistischer Gereiztheit und Aggressivität konnte die Geschichte dieser Freundschaft vorerst kein gutes Ende nehmen. Am 9. September 1915 kommt es erneut zu einer scharfen Replik Webers.174 Das Skandalon ist wieder einmal Michels' Artikel „Von einem Deutschen". Weber, der „niemandem übel" nimmt, „wenn sich ihm dabei der Magen umkehrt", kritisiert, daß, selbst wenn es sich bei der Autorenzeile um ein Versehen handeln sollte, Michels dieses nicht von sich aus klargestellt habe. Der Artikel sei geeignet gewesen, „wenn wirklich von einem Deutschen stammend, böses Blut in Oesterreich gegen uns zu machen", und habe also, „ich nehme durchaus an: gegen Ihre Absicht - einer Intrige so ähnlich [...] wie ein Ei dem anderen" gesehen. Weber zweifelt also nicht an Michels' Erklärung, er habe nicht die Österreicher gegen Deutschland aufstacheln wollen. Er zweifelt grundsätzlich an Michels' Kompetenz, sich verantwortungsvoll zum Krieg zu äußern: „Entweder Sie bringen es einmal fertig zu schweigen [...] oder - zumal bei anonymer Pressetätigkeit Sie beschweren sich nicht über die Folgen Ihrer Desorientiertheit". In anderen Worten: was auch immer sein gesinnungsethisches Motiv gewesen ist, habe Michels jetzt die Verantwortung für die objektiven Folgen seines Artikels auf sich zu nehmen: „Sie aber sind Ihrem Heimatland in der Zeit schwerster Todesnot in den Rücken gefallen. Anders wird kein Deutscher ihr Verhalten auffassen." Michels ist damit für Weber endgültig eine persona non grata im Kriegsdiskurs. Er spricht Michels jegliches Recht ab, sich, und sei es auch in seiner privaten Korrespondenz, kritisch zur deutschen Kriegsführung zu äußern. Sowas wird von Weber jetzt im Namen des deutschen Volkes zurückgewiesen: „In meinem eigenen Namen und in dem meiner Landsleute weise ich den Satz Ihres Briefes: .Militärischen Mut - ja, zivilen Mut - nein' als eine dreiste, im Mund eines Presse-Anonymus sehr wenig angebrachte Beleidigung meines Landes durch einen Ausländer zurück". Der Schlußpunkt in diesem intellektuellen Beziehungsdrama ist der 21.10.1915. Was implizit schon in Webers Briefen zuvor anklang, wird jetzt explizit: der Vorwurf des Opportunismus. Weber weist dabei Michels' in einem vorhergehenden Brief geäußerte Kritik zurück, Weber fordere von ihm, aus „Opportunitätsgründen" zu schweigen.

174 Brief von Max Weber an Michels, Heidelberg, 9.9.1915, Abschrift in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Rep. 92, NI. Max Weber, Nr. 30, Bd. 14, Blatt 15-16.

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IX. Der Fremde im Kriege

Darauf Weber: „das liegt Ihnen mehr als mir: ich würde die Professuren meines Heimatlandes nicht nur als ,Durchgang' für die Karriere anderwärts schätzen wie Sie: das nenne ich Opportunität'." 175 Bezieht sich dies noch auf den von Michels nur aus karrierestrategischen Gründen angenommenen Ruf nach Basel sowie die vorausgegangene ebenfalls karrierestrategisch motivierte Suche nach einer Professur im Deutschen Reich, richtet Weber dann den Opportunismus-Verdacht auf Michels' italienischen Wahl-Patriotismus: „Im übrigen: Ich habe Ihnen vor dem Krieg nicht verhohlen, dass Sie sich in Deutschland durch die Art Ihres Publizierens so sehr geschadet haben, dass Sie durch noch so üble Zeitungsartikel nichts mehr zu verlieren hatten - vielleicht aber bei Ihren Adoptivlandsleuten zu gewinnen. Also die Opportunität liegt durchaus nicht in der Richtung, die ich von Ihnen erwarte." Weber hat diesen Vorwurf schon bald wieder zurückgenommen. Was er nur wenige Wochen später Gustav von Schmoller schreibt, belegt Michels' spätere Einschätzung, daß nach Kriegsende einer Versöhnung zwischen ihm und Weber nichts im Wege gestanden hätte. Weber urteilt am 10.1.1916 über Michels' Kriegsschriften: „Er hat (mündlich, zu Freunden) erklärt, er und nur er stelle eine Synthese von Deutschtum und Italienertum dar, manche Dinge könne nur er so sagen - worin er sich irrt: er hat zur Debatte gar nichts von Wert beizutragen gehabt. Aber Alles geschah optima fide, auf seinen Charakter wirft Alles was ich weiß, keinerlei ungünstiges Licht und wir Deutschen sollten uns auf den Standpunkt stellen, daß - bei entsprechenden wissenschaftlichen Leistungen - es ihn auch für deutsche Professuren nicht disqualifiziert." 176 Dieser Satz wirft in jedem Fall ein günstiges Licht auf den Charakter Max Webers: Michels' proitalienische Schriften, die ihm in Deutschland den Ruf eines Verräters eingehandelt haben und deren objektive Wirkung auch Weber in diesem Sinne interpretiert, seien kein Grund, ihm später eine Professur in Deutschland zu verweigern. Voraussetzung dafür dürfe allein die wissenschaftliche Leistung sein. Hätte Weber dies im kriegspsychotischen Klima der Zeit öffentlich geäußert, wäre er wohl selbst als Verräter an der nationalen Sache angegriffen worden. Daß Weber auch zu dem Zeitpunkt, als „eine Beziehung zwischen uns nicht mehr" besteht, ein Freund von Michels geblieben ist, die Freundschaft gewissermaßen für einige Zeit suspendiert, aber nicht gebrochen worden ist, wird nicht zuletzt in seiner trotz der heftigen Auseinandersetzung - fortbestehenden Bereitschaft deutlich, sich in die gar nicht so einfache Lage von Michels einzufühlen: „in Italien bleibt er ein Fremder. Dort nutzt ihm das Alles gar nichts und er sitzt zwischen zwei Stühlen". 177 Sowohl der von Weber wieder zurückgenommene Vorwurf des Opportunismus als auch die von ihm wiederholt diagnostizierte Fremdheit seines Freundes in Italien sind Anlass genug, die Ebene der Kriegspolemik an dieser Stelle wieder zu verlassen und Michels' italienischen Patriotismus genauer unter die Lupe zu nehmen.

175 Brief von Max Weber an Michels, Heidelberg, 21.10. 1915, Abschrift in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Rep. 92, NI. Max Weber, Nr. 30, Bd. 14, Blatt 24. 176 Brief von Max Weber an Schmoller, 10.1.1916, a.a.O. 177 Brief von Weber an Schmoller, 10.1.1916, a.a.O.

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7. Der Fremde im Kriege 7.1. Das Scheitern des kosmopolitischen Lebensentwurfs und der vergebliche Kampf um Anerkennung als Italiener Ein ,Fremder' ist Michels im Ersten Weltkrieg in zweifacher Hinsicht: erstens, darin dürfte eines der wichtigsten Ergebnisse dieser Studie bestehen, erlebt Michels im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen den August 1914 zunächst als eine Katastrophe. Der Krieg kommt für ihn persönlich, emotional, moralisch und politisch völlig ungelegen. Bis zum italienischen Kriegseintritt erleben wir Michels in einer Phase der resignativen Skepsis, der Unsicherheit und Desorientierung. Diese Phase vom August 1914 bis Mai 1915 ist einerseits einer normativen Krise des Autors geschuldet; andererseits aber auch der Tatsache, daß der Krieg seine persönliche Lebensplanung über den Haufen wirft: unsere Rekonstruktion von Michels' Wirken in der deutschen Sozialwissenschaft ist ja zu dem überraschenden Ergebnis gekommen, daß er bei aller Italophilie noch in der unmittelbaren Vorkriegszeit nach einer Fortsetzung seiner akademischen Karriere in Deutschland strebte. Basel sollte das Sprungbrett sein. Wie von Max Weber plausibel dargestellt, hatte diese Neuorientierung ihre Ursache in Karrierehindernissen in Italien, auf die Michels aufgrund seiner deutschen Abstammung gestoßen war - trotz seines Antrages auf die italienische Staatsbürgerschaft. Gewiß dürfte eine akademische Karriere in dem Land seines Wahlpatriotismus ein Herzenswunsch gewesen sein. Andererseits ist Michels vor dem Krieg vielzusehr Kosmopolit und Europäer, als daß er hierzu keine Alternative gesehen hätte. Die Quellenlage läßt keinen anderen Schluß zu, als daß für ihn sein italienischer Patriotismus zunächst einmal eine freie persönliche Entscheidung war, die nicht notwendigerweise auf einen Lebensweg in den Grenzen des italienischen Nationalstaates hinauslaufen mußte und schon gar nicht mit unmittelbaren Gegenleistungen der italienischen Regierung rechnete. Als gebürtiger Deutscher, ja als Ausländer sich mit der Befreiungsgeschichte Italiens zu identifizieren, italienische Interessen in der deutschen Öffentlichkeit zu vertreten und selbst umstrittene Vorgänge wie den imperialistischen Tripolis-Krieg einer einfühlsamen Darstellung zu unterziehen das dürfte für Michels selbst alles andere als .nationalistisch' gewesen sein, sondern ein kosmopolitischer Akt. Man darf sich vom Michelsschen Patriotismus der Vorkriegszeit nicht auf die falsche Fährte locken lassen und diesen unter das .Zeitalter des Imperialismus und Nationalismus' rubrizieren. Die biographischen Daten und übrigen Quellen zusammengenommen, erscheint es plausibel, daß Michels sich bis 1914 es offensichtlich gut vorstellen konnte, einst als Italiener einige Jahre in Deutschland zu lehren, so wie er als Deutscher ja auch schon in Frankreich und Belgien gelehrt hatte. Dieser Gedanke dürfte für ihn äußerst attraktiv gewesen sein und hätte seinem Selbstverständnis als Europäer sowie seiner Familiengeschichte mit ihren rheinischen, französischen und spanischen Wurzeln wundervoll entsprochen. Noch seine Verzweiflung der ersten Kriegsmonate und sein Selbstverständnis, eine „Synthese" aus Deutschem und Italiener darzustellen, bestätigen Michels' intellektuelle Beheimatung in diesem Vorkriegseuropäismus, dessen wesentliches Leitmotiv die Komplementarität verschiedener nationaler Identitäten ist und die Anerkennung der kulturellen Vielfalt Europas. Auch aus diesem

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Grund ist für Michels eine Beteiligung am ,Kulturkrieg' ausgeschlossen. Dieser intellektuelle Vorkriegseuropäismus indes ist, wie das Stefan Zweig eindrucksvoll geschildert hat, das erste Opfer des .großen Krieges' gewesen. 178 Zweitens ist Michels ein ,Fremder', weil seine Rechtfertigung der italienischen Kriegspolitik zu einem ungewollten Bruch seiner Beziehungen zu Deutschland führt ohne daß dieser mit einer erfolgreichen Italianisierung einhergeht. Webers Einschätzung, „in Italien bleibt er ein Fremder", ist korrekt. Die Forschung, die sich meist ganz dem überzeugten italienischen Nationalisten widmete und dabei eine gelungene Italianisierung voraussetzte, hat diesen Aspekt bislang völlig übersehen. Michels' Fremdheit ist freilich auch nicht ganz leicht zu belegen. Sie findet sich in vielen kleinen Puzzlestückchen, in einzelnen Briefen und Notizen seines Nachlasses. Öffentlich hat es der Autor vorgezogen, über seine Fremdheit zu schweigen. Die Erklärung seiner „Italianität" am 24. Mai 1915 hat zur Folge, daß Michels' jetzt definitiv staatenlos ist - weil seinem Austritt aus dem deutschen Staatsverband von 1913 immer noch keine Aufnahme in den italienischen gefolgt ist. Mag er somit zwar nicht im juridischen Sinne staatenlos sein, dürfte er es praktisch und existentiell um so mehr sein: In Deutschland gilt er, da kann er noch so oft behaupten, für die deutsch-italienische Freundschaft einzutreten, als Verräter. Im Juli 1915 wird seine Urheberschaft anonymer Artikel zugunsten des italienischen Kriegseintritts in Schweizer Zeitungen bekannt; wenige Wochen später kommt auch noch der Verdacht auf, er habe die antideutsche Broschüre „J'accuse" geschrieben. In Basel, einer im Ersten Weltkrieg durchweg deutschfreundlichen Stadt, ist Michels ein Außenseiter, steht er doch ausgerechnet der nationalen Interessenvertretung Italiens im Ausland vor: der Società Dante Alighieri. In Italien liegt sein Antrag auf die italienische Staatsbürgerschaft auch deshalb sieben Jahre auf Eis und wird erst am 3. März 1921 bewilligt werden, weil bei staatlichen Behörden oder universitären Gremien in Italien Hinweise eingehen, Michels' patriotisches italienisches Empfinden sei gar nicht echt. Mangels substantieller Beweise für diese These stützt sich ein Ankläger dabei auf Michels' kritische Äußerung zum LibyenKrieg, wonach dieser einen Bruch des Nationalitätenprinzips darstellt. In solchen Situationen erweisen sich insbesondere Gaetano Mosca und Luigi Einaudi als echte Freunde, die für Michels Zeugnis ablegen, ja bis zu Beginn der zwanziger Jahre immer wieder ablegen müssen, um Michels zur italienischen Staatsbürgerschaft zu verhelfen. 179

178 Vgl. Stefan Zweig, Die Welt von gestern, S. 274f.: „Die Friedlichsten, die Gutmütigsten waren von dem Blutdurst wie betrunken. Freunde [...] hatten sich über Nacht in fanatische Patrioten verwandelt und aus Patrioten in unersättliche Annexionisten. [...] Kameraden [...] beschuldigten mich ganz grob, ich sei kein Österreicher mehr; ich solle hinübergehen nach Frankreich oder Belgien. [...] Da blieb nur eins: sich in sich selbst zurückziehen und schweigen [...] Es war nicht leicht. Denn selbst im Exil [...] ist es nicht so schlimm zu leben wie allein im Vaterlande." 179 Corrado Malandrino, Pattriotismo, Nazione e Democrazia nel Carteggio Mosca-Michels, in: Annali della Fondazione Luigi Einaudi, Vol. XXXVIII-2004, S. 211-225, S. 215-217.

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Selbst im italienischen Innenministerium befindet sich eine Akte mit Robert Michels' Namen, die nicht nur Erkenntnisse über seine aktive sozialistische Phase enthält, als er noch „Antimilitarist" und „Syndikalist" war, „Artikel für revolutionäre Zeitungen" schrieb und engen Kontakt „mit bekannten und gefahrlichen Subversiven" hielt, kurz: als er für die staatlichen Beobachter noch ein tendenziell „gefahrlicher Mann" war. Die Akte befasst sich auch mit Michels' Entwicklung nach 1914, bemerkt einen politischen Wandel zum „Antisozialisten" und enthält die Notiz, dass Robert Michels im Verdacht stehe, ein „Spionageagent in deutschen Diensten" zu sein.180 In Basel, wo er lebt und lehrt, wird er somit von vielen Kollegen gemieden. In Italien, wo er eine Menge Freunde hat, bleibt er ein Deutscher. Das machen ihm auch Behördenschreiben deutlich: bei jedem Überschreiten der schweizerisch-italienischen Grenze, schreibt die italienische Gesandtschaft in Bern, laufen Michels und seine Frau Gefahr, nicht mehr in die Schweiz zurückkehren zu dürfen. Das sehe eine aktuelle Anordnung der Regierung zum Umgang mit „Feindstaaten angehörigen Ausländern" vor.181 Diese Mitteilung hat Michels „tief verletzt": „Sie qualifiziert uns tatsächlich als Ausländer, die den Feindstaaten angehören, und droht uns quasi an, wann immer wir nach Italien gehen wollten, in ein Konzentrationslager geschickt zu werden." Dabei habe er, Michels, doch „seit vielen, vielen Jahren, Tag für Tag, Stunde für Stunde [...], ohne persönliches Interesse, ohne von irgendjemandem etwas dafür zu verlangen, ohne Opfer und Gefahren jeglicher Gestalt dabei zu bedenken, nichts anderes getan, als fiir Italien zu arbeiten,"182 Die Verbitterung ist um so nachvollziehbarer, als Michels durch seine guten Kontakte zu hohen Staatsbeamten wie dem italienischen Botschafter in der Schweiz de facto längst ein informeller Mitarbeiter der italienischen Regierung geworden ist und Dienstleistungen in Form außenpolitischer Berichte erbringt, die zumindest in der Berner Gesandtschaft gelesen werden.183 Fremdheitserfahrungen macht Michels aber nicht nur im Hinblick auf seine nationale Zuordnung, sondern auch im Hinblick auf die sich verändernde politische Kultur 180 Francesco Tuccari, Una Città di idealisti e scienziati. Robert Michels a Torino. 1900 - 1914, in: Annali di Storia Moderna e Contemporanea, Università cattolica del Sacro Cuore di Milano, XII, 2007, S. 125-157. Möglicherweise ist dieser Verdacht von einem missgünstigen Kollegen lanciert worden, der vom im Kriegszeiten verstärkten Misstrauen gegen Ausländer profitieren wollte. 181 Vgl. den Brief von C. Spinazzola, einem Mitarbeiter des diplomatischen Dienstes der R. Legazione d'Italia Berna, an Gisela Michels vom 26. Juli 1916, ARMFE. Dort heißt es, der Leiter der italienischen Gesandtschaft in Bern, Marchese Paulucci, warne Frau Michels, „che recenti disposizioni emanate dal R. Governo circa gli stranieri appartenenti a Paesi nemici, la esporrano quasi certamente al pericolo di non poter più far ritorno in Isvizzera". 182 Brief von Michels an Raniero Paulucci di Calboli, 29. Juli 1916, ARMFE: „questa lettera mi ha profondamente ferito. Essa infatti ci qualifica quali stranieri appartenenti a paesi nemici e ci minaccia, o quasi, qualora volessimo andare in Italia, di essere mandati in un campo di concentramento". „[...] da molti e molti anni, non ho fatto altro, starei per dire giorno per giorno, ora per ora, [...] e disinteressatamente, senza chiedere mai niente a nissuno e tendendo in non cale sacrifizi e pericoli di ognia sorta, che lavorare per l'Italia." 183 Vgl. hierzu die Anmerkungen in Kapitel IX. 9.5. Von ,kriegsentscheidender' Bedeutung: Michels' Freundschaft zu seinem „Bruder" George Davis Herron.

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Italiens. Das Italien, dem er in seiner öffentlichen Publizistik attestiert, in diesem Krieg legitime irredentistische Interessen in vollkommenen Einklang mit seiner garibaldinischen Tradition zu verfolgen, scheint sich dieser normativen Deutung insofern zu entziehen, als der mit dieser Tradition verbundene universalistische Antrieb, sich für das Selbstbestimmungsrecht auch von Völkern einzusetzen, denen man nicht qua Geburt zugehört, auf Unverständnis stößt. Damit ist auch die Akzeptanz der spezifischen Motive für Michels' Wahlpatriotismus in Frage gestellt. So etwas vertraut er allerdings nur seinem Kriegstagebuch an: „Die Italiener haben den garibaldinischen Geist in einem Maß aufgegeben, daß sie nicht einmal mehr begreifen können, wie ein Ausländer von Blut [...] sich von der Gerechtigkeit ihrer Sache hinreißen lassen kann, für sie zu kämpfen. Sie verstehen nicht mehr den politisch-ethnischen Idealismus und haben davon weder einen historischen Begriff noch die Erinnerung daran." 184 Diese Eintragung bestätigt indirekt unsere Hypothese von der kosmopolitischen Motivation, die Michels' Wahlpatriotismus ursprünglich zugrundeliegt. Gleichzeitig verrät der darin angeschlagene Ton eine Verbitterung, die ihren Teil dazu beigetragen haben dürfte, daß die in Anspruch genommene garibaldinische Gerechtigkeit bei Michels in der Folge - immer dann, wenn er auf sein patriotisches Engagement zu sprechen kommt - in eine Selbstgerechtigkeit umschlägt, die sich gegenüber einer selbstkritischen Revision des eigenen Tuns nahezu vollständig immunisiert. Im Herbst 1916 muß Michels an dem Unverständnis seines Adoptiwolkes derart irre geworden sein, daß er einen Antrag auf Rekrutierung in die italienische Armee stellt. Der Antrag wird wegen geringer Erfolgsaussichten abgelehnt. In dem Antwortschreiben des italienischen Botschafters in Bern, Pauluccio di Calboli, bedauert dieser, daß Michels in diesem Krieg „Angriffen" von allen Seiten ausgesetzt sei.185 Ein Jahr später versucht Pauluccio di Calboli, der inzwischen mit Michels freundschaftlich verbunden ist, diesem auf dessen Wunsch eine Auszeichnung als , Ehrenritter des italienischen Königreiches' zu vermitteln. Aus Rom kommt allerdings die Antwort,

184 Michels, [Bric-à-Brac], ARMFE, S. 1, Stichwort „Guerra", unten: „Gli italiani hanno perduto la concezione garibaldiana a tal punto che non possono più immaginare come un straniero di sangue e di [Wort unleserlich] possa lasciarsi spingere dalla giustezza della loro causa a lottar e combattere per loro. Non capiscono più l'idealismo politico-etnico e ne han perso la nozione storica ed il ricordo." Das dunkel eingebundene Notizbuch trägt den Titel „Bric-à-Brac" (frz. für ,Trödel', ,Gerümpel') auf einer ihm aufgestickten hellen Etikette. Es ist nicht auszuschließen, dass es sich um das Notizbuch auf Michels' Schreibtisch handelt, das auf dem Foto in diesem Band zu sehen ist. 185 Brief von Pauluccio di Calboli, R. Legazione d'Italia a Berna, an Robert Michels, 3.11.1916, ARMFE: „Comprendo e apprezzo i motivi spirituali che [...] La indurrebbero a presentare una domanda per essere arruolato nel nostro Esercito ma temo, in seguito alle notizie datemi oggi stesso da persona competente, che tale domanda (da dirigersi al Ministero della Guerra) avrebbe pochissime probabilità di essere accolta." „Sono veramente dolente degli attacchi di cui Ella è stato fatto segno, ma voglio sperare che essi non varranno a turbare la Sua serenità e la pace della Sua buona coscienza. Quelli che vengono dall'altra parte non mi meravigliano, nè, probabilmente, La toccano."

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daß eine derartige Auszeichnung in der aktuellen politischen Situation nicht opportun sei.186 Diese Indizien zeugen von Michels' vergeblichen Kampf um Anerkennung als Italiener - ein Ziel, das erst infolge des Kriegsausbruches für den deutschen Soziologen eine existentielle Bedeutung bekommt, die es vorher nicht gehabt hat, als Michels noch die Kombination aus italienischem Staatsbürger und deutschem Professor anstrebte. Jetzt dagegen erhöht Michels in der Hoffnung auf entsprechende Kompensation durch die italienische Regierung seinen Einsatz und ist sogar, wenn es sein muß, zum Dienst in der Armee bereit. Trotz aller Bemühungen, sei es sein patriotischer Dienst in der Società Dante Alighieri, sei es die intensive Kontaktpflege mit hohen Staatsbeamten, bleibt ihm die Anerkennung versagt. Weder erhält er die italienische Staatsbürgerschaft noch den Orden eines Ehrenritters. Er bleibt für Italien ein Ausländer, den man nicht ohne weiteres integrieren kann. Außerhalb von Italien geht es ihm nicht viel besser. Die Neue Züricher Zeitung bringt einen Artikel von Michels mit dem Zusatz „gebürtig aus Köln, früher in Turin, jetzt in Basel, naturalisierter Italiener".187 Im Kontext der Affare um den in derselben Zeitung als „von einem Deutschen" unterzeichneten Michels-Artikel entbehrt diese Autorenzeile nicht der Komik und wird vom Feuilleton aufgespießt, das einmal mehr Anlaß hat, über Michels' „komplizierte Persönlichkeit" zu spotten.188 Michels sitzt - das hat Weber völlig richtig gesehen - während des Weltkrieges zwischen allen Stühlen. Zuweilen klingen seine privaten Äußerungen so, als sei er von potentiellen Feinden umzingelt: „Ich würde gerne ein Buch schreiben. Ich wage es nicht. Man würde mich lebendig verbrennen. Ja, die Deutschen, aber vielleicht auch die anderen."189 Vor diesem Hintergrund läßt sich eine spätere Reflektion in Michels' „Patriotismus"-Buch auch als autobiographisches Bekenntnis lesen. Es handelt es sich um ein Unterkapitel seiner „Soziologie des Fremden" - der „Fremde im Kriege": „[...] das allmähliche Einleben von einer Nation in die andere geht je nach der geistigen Aufnahmefähigkeit des einzelnen in sehr verschiedenen Zeitspannen vor sich. Normaliter ist es ein Vorgang von unendlich sanften Übergängen. Ein natürlicher Prozeß, der durch keine äußeren Einflüsse gestört und nach der einen oder anderen Richtung hin brüskiert werden darf. Darum ist für in der Schwebe zwischen zwei Nationen stehende Existenzen der Ausbruch eines Krieges eben zwischen den beiden Völkern, die den Anfang und das Ende des Prozesses, in dem

186 Brief der R. Legazione d'Italia in Berna an Robert Michels, 12.9.1917, ARMFE. 187 Michels, Randbemerkungen zur Frage Trentino und Irredentismus, in: Neue Züricher Zeitung, Nr. 1384, 2.9.1916. 188 Dr. E. Jenny, Verstauchter Patriotismus, a.a.O. 189 Brief von Michels an Augustin Hamon, 19. Januar 1915, in: Corrado Malandrino, Lettere di Roberto Michels e di Augustin Hamon, a.a.O., S. 550: „La guerre me désole tout à fait. Que faire? Que penser? Que désirer. Je voudrais écrire un livre. Je n'ose pas. On me brûlerait vif. Oui, c'est les allemandes, mais peut être aussi les autres."

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sie begriffen sind, darstellen und denen sie in irgendeinem Grade zugleich angehören, verhängnisvoll. Denn der Kriegsausbruch verlangt eine plötzliche Entscheidung zwischen den zwei Bestandteilen ihres geistigen Seins und drängt somit zu Akten voreiliger und folglich unnatürlicher Trennung natürlicher Elemente, die nicht ohne seelischen Schaden des Opfers ablaufen können. Der Prozeß der Nationsveränderung, der sich übrigens niemals völlig schlackenlos vollzieht, verträgt eben, seinem evolutiven Charakter entsprechend, keine revolutionäre Behandlung."190 Nachdem wir den Aspekt der Fremdheit bislang als Zuschreibung von außen (staatliche Behörden, keine Anerkennung des ,garibaldinischen' Patriotismus durch die neue politische Kultur Italiens) wahrgenommen haben, teilt sich in dieser Passage Michels' inneres Erleben dieser Fremdheit mit. Es spricht nämlich viel dafür, daß in diesem Textstück Michels' autobiographische Erfahrung die Feder führt. Zunächst fällt auf, daß sich sein „Fremder im Kriege" grundsätzlich von dem Menschenbild seiner Milieutheorie unterscheidet. Milieutheoretisch bringt der Ausbruch eines Krieges Michels zufolge für die ,Fremden' nämlich nicht die oben skizzierte existentielle und pathologische Entscheidungssituation mit sich: „Der Einfluß des Milieus in Kriegszeiten wird durch die ansteckende Aufregung der Massen, die beharrliche Energie der [zensierten] Presse über Gebühr gesteigert. Er erstreckt sich auf die Fremden, und sogar zum Teil auf die im Milieu lebenden Feinde". Zu diesem milieutheoretisch induzierten Nationalisierungsprozeß kommt noch die „Mimicry, die äußerste Form der Anpassung bei Voraussetzung eines Vorhandenseins äußerer Gefahr". Für diese These der spontanen Solidarität des Fremden mit dem ihn umgebenden nationalen Milieu, auch wenn dieses im Konflikt mit seinem Geburtsland liegt, führt Michels mehrere Beispiele aus dem Ersten Weltkrieg an.191 Der „Fremde im Kriege" dagegen unterliegt nicht massenpsychologischen Gesetzen. Er befindet sich zweifellos in einer Zwangslage - aber doch trifft er eine „Entscheidung". Er nimmt damit ein Verhängnis auf sich und reflektiert - im Gegensatz zum milieuhörigen Mimicry-Typus - die daraus resultierende Beschädigung seiner Seele. Keine Frage: der „Fremde im Kriege" ist, wenngleich kein heroischer Typus, so doch ein elitärer. Allein dies berechtigt zu der Hypothese, daß Michels in diesen Zeilen von sich selbst spricht. Das heißt allerdings auch, daß wir sein Bekenntnis nicht ohne weiteres akzeptieren dürfen: die exkulpierende Selbststilisierung zum „Opfer" mag etwas über die psychologischen Bedürfhisse des Autors in der Nachkriegszeit verraten, sein Tun im Krieg zu rechtfertigen. Mit der Wahrheit hat sie nichts zu tun. Denn Michels zählt zweifellos zu den Tätern mit der Feder in diesem Krieg, da er die expansive Politik des italienischen Königreiches mit der edlen Völkerrechtsmoral des Risorgimento verteidigt hat - und das ist eine Entscheidung gewesen, zu der ihn niemand gedrängt hat. Dies

190 Michels, Der Patriotismus, a.a.O., S. 169-170. 191 Michels, Einfluß des Milieus auf die Person, in: Die Biologie der Person, Bd. IV, Lieferung 10, 1928, S. 447-508, S. 462-465.

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vorausgeschickt, ist die Selbstbeschreibung der in ihrem evolutiven Prozess der „Nationsveränderung" gestörten binationalen Wanderexistenz als „Opfer" gleichwohl eine bedeutende Quelle. Es handelt sich hier nämlich um ein spätes, indirektes und seltenes Eingeständnis, daß Michels ab dem 24. Mai 1915 eben nicht mehr in normativer Kontinuität und Identität mit sich selbst geschrieben und gehandelt hat - seinen offiziellen Verlautbarungen zum Trotz. Die Passage über den „Fremden im Kriege" begründet diesen Bruch mit dem unvollendeten Prozeß der nationalen Identitätsbildung: der Fremde ist gezwungen, sich von seiner nationalen Herkunft - und damit auch von Merkmalen seiner Persönlichkeit, die sich diesem nationalen Kontext verdanken - loszusagen, ohne daß er in der Zielnation seiner Wahl bereits als vollwertiges Mitglied angekommen und integriert wäre. Dieses Problem hat Michels bereits in der Vorkriegszeit eingestanden, als er die „gefahrliche Selbstüberschätzung" der Italiener im Kontext des Tripoliskrieges bemerkt und nach einem Pädagogen Ausschau hält, der das Volk wieder zur Besinnung bringen könnte: „ein Fremder vermag diese Aufgabe in keinem Fall zu erfüllen".192 Im Krieg selbst wird er dann signifikanterweise unter dem Titel „État et Nationalité" einen Aufsatz über die Schwierigkeiten der nationalen Zuordnung von Einwanderern verfassen, der vor allem für das Leid der „ungerecht verdächtigten und verfolgten Ausländer" im Krieg sensibilisieren will. Es handelt sich um eine Apologie des juridisch Fremden, dessen Wahlpatriotismus den einheimischen Bürgern gegenübergestellt wird, die „sich nur die Mühe gegeben haben, geboren zu werden." Theoretisch folgt der Text Michels' voluntaristischem Vaterlandsbegriff. Indes lässt Michels hier alle Hoffnung auf eine aufklärerische Wirkung, auf ein besseres Verständnis der Einheimischen gegenüber den ,Fremden' fahren. Um deren Leid zu vermeiden, so Michels' zynisches Fazit, gebe es nur ein Mittel: den Austausch zwischen Völkern, der das 19. Jahrhundert charakterisiert hat, beenden und zwischen den Nationen „chinesische Mauern" errichten. „Eine schauerliche Vision, gewiß. Aber wozu eine Gefahr verschweigen, die jetzt schon fast Realität geworden ist?"193 Es ist diese Konstellation der persönlichen Fremdheitserfahrung, in der Michels im Mai 1915 seinen ersten Beitrag zum , Verrat der Intellektuellen' liefert.

192 Michels, Rezension zu Mosca, Italia e Libia, a.a.O. 193 Michels, État et Nationalité, in: Scientia, 9. Jg., September 1915, Sonderabdnick 12 Seiten, S. 12: „II découlera de ces craintes, non injustifiées, une série de souffrances atroces pour les étrangers injustement soupçonnés et persécutées. Or, pour éviter de telles souffrances, il n'y aura qu'un remède, qui clora une ère de rapprochemente continuel entre les peuples: faire cesser entre eux cet échange, vivifiant et fécond, d'éléments humains, qui a caractérisé le XIXe siècle. L'immigration sera réduite à ses moindres termes; on élèvera, entre les diverses nations, des murailles de Chine. Vision lugubre, certes; mais à quoi bon taire un péril qui est déjà devenu presque une réalité?"

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7.2. Abwarten, anpassen, verteidigen: Der Fremde als Regierungssprecher Aller Verzweiflung über den europäischen Krieg in den Monaten vorher zum Trotz hat sich Michels im Mai 1915 voll hinter den neuen Interventionskurs der italienischen Regierungspolitik gestellt und sich geradezu als ein Sprachrohr der Regierung Salandra im deutschsprachigen Ausland betätigt. Es sind zweifellos moderate Töne, die Michels dabei anschlägt: immer wieder verbindet er die Befriedigung der irredentistischen Interessen Italiens im Trentino und in Triest mit der Maxime, daß von Italien keinerlei Gefahr für die nationale Integrität der anderen europäischen Völker ausgehe, und beruft sich auf Salandras Kriegserklärung. 194 Diese Argumentation ist aber nur noch formal mit dem Selbstbild des unabhängigen Intellektuellen und dem Leitbild des universalistischen Menschenrechtsdiskurses kompatibel. In Michels' eigener Diktion sind dies nur noch die „Ornamente" eines vordergründigen Idealismus, der sich faktisch in den Dienst der Regierungspolitik stellt. Wäre er noch unabhängig, dann müßte Michels auch nach dem intervento die Alternativen zur Regierungspolitik so ernsthaft und objektiv darstellen, wie er das kurz zuvor noch getan hat, als er selbst sich für die Neutralität, das Vermeiden erheblicher Risiken und Menschenopfer und die Suche nach einer Verhandlungslösung im Nationalitätenkonflikt mit Österreich-Ungarn ausgesprochen hatte. 195 Michels hatte sich dabei zwar auf die vom amtierenden Ministerpräsidenten Salandra ausgerufene Losung vom „sacro egoismo" berufen, seine moderate, attentistische Deutung hingegen reformulierte - nur wenige Wochen vor dem Kriegseintritt - die Position von Salandras Gegenspieler Giolitti. Giolitti, Vorgänger im Amt des Ministerpräsidenten, hat bis zur Kriegsentscheidung im Mai 1915 immer wieder vor den unkalkulierbaren Risiken des Waffengangs gewarnt, die die Kräfte des Landes übersteigen könnten, und prophezeit, daß die Position Italiens in den Geheimverhandlungen mit der Entente sowie mit den Mittelmächten bei fortlaufendem Kriegsgeschehen immer günstiger werden würde, so daß Österreich-Ungarn auf Druck Deutschlands am Ende bereit sein würde, große Zugeständnisse zu machen. Die Verhandlungen waren immerhin so erfolgreich, daß das Deutsche Reich in Person von Reichskanzler von Bülow bereits am 9. Mai 1915 Italien das gesamte italienische Tirol zusagte und dafür die Garantie übernahm. Die Triest-Frage blieb zwar noch strittig, aber zumindest sollte die Stadt einen Autonomie-Status erhalten. Dieses Angebot war zuvor mit Giolitti und dem Vatikan abgestimmt worden. Es wäre vielleicht nicht das letzte geblieben. Und Italien hätte ohne ein Soldatenopfer einen großen Teilerfolg seiner irredentistischen Ziele allein auf dem Verhandlungsweg verzeichnen können. 196 Noch weitreichender waren allerdings die Zusagen der Entente: bei Friedensschluß sollte Italien das Trentino und Tirol bis zum Brenner, Triest, Görz und Gradisca, Istrien bis zum Quarerno, den größten Teil Dalmatiens - aber ohne Fiume - , Valona, das Protektorat über Albanien sowie die volle Souveränität über den Dodekanes erhalten. 194 Vgl. Michels, Die Rede Salandras, a.a.O.; ders., Und zum letztenmal die Rede Salandras, a.a.O. 195 Michels, I problemi attuali della politica italiana, a.a.O. 196 Die historischen Details über die Vorkriegsverhandlungen entnehme ich Rudolf Lili, Geschichte Italiens in der Neuzeit, 4. Aufl., Darmstadt 1988, S. 260ff..

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Darüberhinaus sollte Italiens koloniale Position in Afrika verbessert werden und im Falle einer Aufteilung der Türkei auch davon ein Häppchen abfallen. Der Preis: Kriegseintritt an der Seite der Entente binnen eines Monats. Die Regierung Salandra hatte diesen „Londoner Geheimvertrag" am 26. April unterschrieben. In seiner Anfang Mai erschienen Analyse der „problemi attuali della politica italiana" hat Michels noch diagnostiziert, daß die übergroße Mehrheit des Volkes nicht kriegsgeneigt sei und daß es, von der Minderheit der radikalen Pazifisten einerseits, der Gesinnungsbellizisten andererseits abgesehen, eine diplomatische Verfolgung der italienischen Interessen befürworte, so lange diese möglich sei. Normativ definierte er das nationale Interesse durch einen moderaten Irredentismus, der weitergehenden expansiven Zielen eine Absage erteilte. Zudem hat er in seiner Analyse vom Mai 1915 gefordert, daß das nationale Ideal nicht alleine entscheidungsrelevant sein könne, sondern mit einer kalkülrationalen Analyse der günstigen Gelegenheit und Risiken verbunden werden müsse.197 Dies in Erinnerung zu rufen, ist wichtig. Denn damit hat sich Michels vor dem intervento sehr deutlich von den beiden Minderheiten abgesetzt, die unablässig für einen baldigen Kriegseintritt getrommelt haben: vom Moralismus der demokratischen Linken (Radikale, Republikaner, Reformsozialisten), weil die ,guten Gründe' wie Demokratie, Irredentismus und Antiimperialismus für ihn eben nicht ausreichten, das Wagnis kriegerischer Verwicklungen einzugehen; von den neuen Nationalisten bzw. Imperialisten, weil deren Wunschbündnispartner ohnehin zunächst Österreich und Deutschland waren und deren Kurswechsel auf die Seite der Entente vorrangig von dem Leitmotiv eines ästhetischen Bellizismus, eines ,Kriegs um seiner selbst willen', bestimmt war sowie von der Erkenntnis, daß sich ihre expansiven Ziele an der Seite der Entente vielleicht doch besser realisieren ließen. Der Londoner Vertrag sollte ihnen Recht geben. Obwohl dieser bereits Ende April unterzeichnet worden ist, bleibt bis zum 20. Mai 1915 offen, wer sich im inneritalienischen Machtkampf und in der Frage von Krieg und Frieden durchsetzen wird. Im Vorfeld der parlamentarischen Beratungen am 20. Mai gibt es durchaus Anzeichen, daß dem vorsichtigen Giolitti dies gegen den zum intervento entschlossenen Salandra gelingen könnte. Giolitti warnt den König am 9. Mai erneut vor dem Krieg und erhält in den folgenden Tagen dafür die Zustimmung von etwa dreihundert Abgeordneten durch Besuche und Briefe. Damit erklärt sich in einem gewiss informellen Verfahren im Mai 1915 die Mehrzahl der erst eineinhalb Jahre zuvor gewählten Abgeordneten immer noch gegen den Krieg. Dies allerdings wird Giolitti nicht zum Triumph gereichen. Denn die Krise des liberal-demokratischen Systems ist in Italien schon so weit vorangeschritten, daß nicht ein ordentliches parlamentarisches Verfahren in den folgenden Tagen die Macht- und Kriegsfrage entscheidet, sondern ein Bündnis zwischen Monarchie und Mob.198 Salandra nämlich reagiert auf den sich anbahnenden Entzug des parlamentarischen Vertrauens mit dem Rücktritt, und wendet sich in einem geradezu plebiszitären Akt an die Straße, die unter dem Einfluß von Benito Mussolini und Gabriele D'Annunzio steht.

197 Vgl. unsere oben ausgeführte Analyse seiner Schrift „I problemi attuali della politica italiana". 198 Rudolf Lili, Geschichte Italiens, a.a.O. S. 273.

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Diese mobilisieren nun die Massen, ersterer droht mit der Revolution, der zweite ruft dazu auf, Giolitti zu erschlagen. „Im meisterhaft inszenierten Sturm patriotischer Begeisterung verbreitete sich eine Bürgerkriegsatmosphäre, die die Vertreter traditioneller Legalität einschüchterte. Das Ganze war ein erneuter Beweis für die Schwäche des bestehenden Systems, aber auch eine Vorwegnahme der dadurch erleichterten faschistischen Machtergreifung: die Agitatoren der Straße, darunter viele Intellektuelle, setzten sich über die gewählten Volksvertreter hinweg, begünstigt durch die abwartende Haltung der Staatsspitze."199 Giolitti reist daraufhin ab, Salandra übernimmt wieder das Ruder und läßt sich am 20. und 21. Mai von einer überwältigenden Mehrheit in Kammer und Senat mit umfassenden Vollmachten zum Kriegseintritt ausstatten.200 „Die italienische Entwicklung vom August 1914 bis zum Mai 1915 ist ein Lehrstück für die Zurückdrängung einer konservativeren, über die besseren Argumente verfügenden, aber zunehmend verzagenden Mehrheit durch eine sich für progressiv ausgebende, teils idealistische, meist skrupellose und stets aktive Minderheit. Ihr sind die Opportunisten aus dem anderen Lager zugelaufen [,..]."201 Die Krise des parlamentarischen Systems und der in dieser Krise mögliche Mobilisierungserfolg einer dynamischen Minderheit sind die historischen Merkmale, die den Mai 1915 mit dem Oktober 1922 verbinden. Auch in Robert Michels' politischer Biographie sind der Kriegseintritt Italiens und die spätere faschistische Machtergreifung durch ein gemeinsames Merkmal miteinander verbunden: nicht im Sinne einer präfaschistischen Präfiguration seines Denkens, wie das immer wieder behauptet worden ist und was diese Arbeit zu widerlegen sucht. Aber doch im Hinblick auf sein Verhalten, auf seine willfahrige Anpassung an neue politische Entwicklungen. Denjenigen, die sich im Mai 1915 durchsetzen, hat Michels in den Monaten vorher weder angehört noch angehangen. Als der Machtkampf um den Posten des Ministerpräsidenten aber einmal entschieden ist und das Staatsschiff Kurs auf Intervention nimmt, schmeißt Michels seine Bedenken über Bord. Plötzlich soll es zu Salandras Politik keine Alternative gegeben haben. Michels' Verhalten scheint, wenn man sich die Chronologie der Ereignisse und der Michelsschen Schriften anschaut, weniger durch eine konsequente politische Entscheidung fundiert zu sein. Vielmehr ist es geprägt durch monatelanges Schweigen, Ausweichen und Abwarten der lange Zeit unklaren regierungsoffiziellen Entscheidung und durch die erst dann folgende Anpassung der eigenen politischen Position an den

199 Lill, Geschichte Italiens, S. 274. Robert Michels wird diese Vorgänge publizistisch erst Jahre später in einem anderen Zusammenhang ansprechen: „Indes ging nun während des Krieges alsbald eine Hetze gegen Giolitti los, die alle Symptome der Demagogie an sich trug und die in ihrer Leidenschaft selbst das Leben des Staatsmannes in Gefahr brachte." (Michels, Über die Versuche einer Besetzung der Betriebe durch die Arbeiter in Italien (Sept. 1920), in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 48, Heft 2,1921, S. 469-503, S. 477. 200 Die ,3asler Nachrichten" berichten am 20. Mai 1915 von 407 Ja-Stimmen, 74 Nein-Stimmen und einer Enthaltung im Parlament sowie am 21. Mai von 262 Ja-Stimmen und zwei Gegenstimmen im Senat. 201 Lill, Geschichte Italiens, S. 267.

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Regierungskurs, der von Michels mit den alten Begriffen des Risorgimento-Nationalismus verteidigt wird, obwohl seine expansive Ausrichtung mit diesem nicht mehr viel zu tun hat. Daß die expansiven Ziele des Londoner Abkommens weit über den klassischen Irredentismus hinausgingen, müßte Michels aufgrund seiner politischen Kontakte bekannt gewesen sein. Gegen die hier u. a. vereinbarte Ausweitung des italienischen Staatsgebietes bis zum Brenner hat Michels übrigens nie protestiert, obwohl dies eine Verletzung des nationalen Selbstbestimmungsrechts bedeutete. Ebensowenig wird er in den zwanziger Jahren auf die aggressive Italianisierungspolitik Mussolinis in Tirol zu sprechen kommen. Michels' Kriegspublizistik muß sich so den Vorwurf gefallen lassen, daß sie - erstens - eine völkerrechtswidrige Kriegszielpolitik mit den noblen Werten des Risorgimento bemäntelt, d. h. Propaganda betrieben hat; und daß sie - zweitens - mit dieser Konstruktion einem Krieg Sinn zu geben versucht, dessen Irrsinn schon nach dem ersten Kriegshalbjahr unübersehbar ist und sich bis zum Ende immer weiter steigert: als die österreichische Armee am 3. November 1918 kapituliert, haben die italienischen Truppen nirgends die Grenzlinien erreicht, die ihnen Österreich im Fall der Neutralität bereits im Mai 1915 zugesagt hatte. Dafür haben 680.000 italienische Soldaten mit dem Leben bezahlen müssen.202 Michels hat zum Menschenhalma der italienischen Kriegspolitik ebenso geschwiegen wie zu dem fragwürdigen Zustandekommen der Kriegsentscheidung im Mai 1915. Stattdessen hat er es für die patriotische Pflicht gehalten, allen kritischen Diskussionen über den Sinn des Krieges eine Absage zu erteilen, und hat die Fortsetzung des Krieges und damit die Inkaufnahme immer weiterer Kriegsopfer im wesentlichen aus der Faktizität der beschlossenen Intervention begründet: „Auch der überzeugteste Gegner des Eintritts Italiens in den Völkerkrieg begreift vollkommen, dass es augenblicklich für das Land keine andere Losung gibt als: hindurch."203 Damit nicht genug, hat Michels es für seine vornehmste Aufgabe gehalten, in kritischen Momenten des Krieges nicht den eingeschlagenen Kurs zu überdenken, sondern pathetische Appelle an den Durchhaltewillen der Nation zu richten; so etwa nach der deprimierenden Niederlage der italienischen Armee bei Caporetto im Oktober 1917, als innerhalb weniger Tage deutsche und österreichische Truppen Jülisch-Venetien besetzen und Italien Zehntausende Gefallene und Zehntausende Vermißte und Gefangene zu beklagen hat. Daraufhin erscheint in den „Pagine Italiane" ein von ihm unterzeichneter Appell seiner Basler Sektion der „Società Dante Alighieri": „Italien kann Rückschläge erleiden, weil auch die gerechtesten Dinge nicht vor den plötzlichen Launen der Geschichte gefeit sind". Aber Italien „kann nicht vergehen, weil es seinem Wesen nach unvergänglich ist." Nach einer Aufzählung von historischen Niederlagen, aus denen Italien immer gestärkt hervorgegangen sei, schließt Michels: „Die ausländische Invasion hat die Einheit aller Italiener weiter gestärkt. Heute und auf ewig ist unser Traum der Ge-

202 Lill, Geschichte Italiens, S. 275. 203 Michels, In Italien, in: Neue Züricher Zeitung, 19.2.1916.

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rechtigkeit für uns die ,einzig wahre Wirklichkeit'". Da darf der der lateinischen Liturgie entnommene Zusatz „Sursum corda" („empor die Herzen!") nicht fehlen. 204 Mit seinem Caporetto-Appell ist Michels im dritten Kriegsjahr bei jenem apodiktisch selbstgerechten Nationalismus gelandet, der sich vollmundig religiöser und moralischer Vokabeln bedient und dessen Botschaft doch im Kern lautet: ,Unsere Sache ist gerecht, und weil unsere Sache gerecht ist, müssen wir diesen Krieg bis zu seinem Ende führen, koste es, was es wolle. ' Auffallig ist allerdings auch, daß Michels' Reaktion auf Caporetto sich fundamental von der Benito Mussolinis unterscheidet. Mussolini nämlich nutzt Caporetto zu Angriffen auf die italienische Regierung unter dem neuen Ministerpräsidenten Orlando, der er Unfähigkeit und Zögerlichkeit vorwirft. Mussolini zielt auf die Verschärfung der militärischen Krise zu einer Staats- und Regierungskrise, während Michels' pathetischer Aufruf regierungskonform ist. Diese keinesfalls nebensächliche Differenz zum revolutionären Nationalismus einmal beiseite gelassen, ist Michels' Caporetto-Appell Ausdruck einer unglaublichen Wandlung, wenn wir an seine resignative Skepsis in den ersten Kriegsmonaten denken. Gewiß gibt es für Michels' Entwicklung kriegsimmanente Gründe. Kriegerische Konflikte entfalten über das wechselseitige kollektive Erfahren und Zufügen von Leid eine gruppenbildende Dynamik und generieren auf allen Seiten eine Schicksalsgemeinschaft, der sich selbst distanzierte Charaktere nur schwer entziehen können. Niemand geht aus einem Konflikt so heraus, wie er in ihn eingetreten ist. Dies vorausgeschickt, ist Michels' Caporetto-Appell dennoch der vorläufige Abschluß einer unerhörten Wandlung, die mit seinem Tun und Denken in den ersten Kriegsmonaten schwer zu vermitteln ist. Für diese Wandlung gibt es keine einfache Erklärung, es gibt nur ein Bündel plausibler Faktoren, die diese Wandlung mehr oder weniger mit beeinflußt haben dürften. Dabei ist m. E. Michels' Befangenheit in seinem Verhältnis zu seiner Wahlheimat als Faktor stärker zu veranschlagen als der Wandel politischer und weltanschaulicher Überzeugungen.

7.3. Vom Fremden im Kriege zum Fremden im Frieden Versuchen wir zunächst eine weltanschauliche Rekonstruktion von Michels' Denkbewegungen zwischen dem August 1914 und dem Mai 1915. Es gibt für Michels bei Kriegsausbruch kein ideologisches oder geschichtsphilosophisches Koordinatensystem,

204 Roberto Michels, Appello della Dante Alighieri di Basilea: Il nostro Sogno di Giustizia, in: Pagine Italiane, 17.11.1917, S. 6: „Dall'Italia ci pervengono notizie che riempiono il nostro cuore di dolore. Non perciò ci diamo in preda alla disperazione, sempre cattiva consigliera, pessima poi quando si pon mente all'immuatabilità delle leggi storiche ed umane. L'Italia può subire dei rovesci, perchè anche le cause più giuste non sono al riparo di sorprese subitanee storiche. Ma non può perire, essendo di sua natura imperitura. [...] L'invasione straniera ha cimentato vieppiù l'unione di tutti gli italiani. Oggi e sempre il nostro sogno di giustizia è, per noi, ,la sola vera realtà'.,Sursum corda!'"

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in das sich der Krieg sinnvoll einordnen ließe. Er mißtraut den Begründungen der verschiedenen Seiten, die diesen Krieg als legitime Selbstverteidigung oder gar als Kampf für Freiheit und Demokratie ausweisen. In anderen Worten: die von uns im Zusammenhang mit seiner soziologischen Sozialisation diagnostizierte Synthese von Aufklärung und Pessimismus205 hat sein progressives Weltbild positivistischer Provenienz bis 1914 so weit erodieren lassen, daß das, was viele von ihm erwarten - die Parteinahme für die .westliche Demokratie' gegen die .preußische Autokratie' - , für ihn zunächst nicht möglich ist. Der einzige hin und wieder aufleuchtende Ansatz eines möglichen politischen Engagements resultiert für Michels in den ersten Monaten zwar aus dem Normenuniversalismus des Nationalitätenprinzips. Diese Option wird von ihm aber bis zum Mai 1915 stets wieder verworfen - im Einklang mit seiner pessimistischen Soziologie, deren zentrale Lehre darin besteht, daß ethische Prinzipien in der Sphäre des Politischen Instrumente der Machtentfaltung auf Kosten der jeweils anderen sind. Da er den moralischen Selbstbegründungen der deutsch-österreichischen Kriegsführung ohnehin fernsteht, er den politischen Formeln der Entente bei aller Sympathie dennoch mißtraut, scheint ursprünglich bei Michels alles auf Enthaltsamkeit im Krieg mit der Feder hinauszulaufen. Wenn er die autonome, keiner äußeren Sinngebung gehorchende Logik des Krieges anspricht, dann ähnelt er seinem desillusionierten deutschen Kollegen und Freund Emil Lederer.206 Michels normative Krise mit ihren wechselnden konträren Ausblicken auf das Kriegsgeschehen erweist sich allerdings wie alle Krisen als ambivalent. In seiner Distanz zur Kriegsrhetorik aller beteiligten Lager der ersten Monate kann man zweifellos einen positiven Effekt des Endes der großen sinnstiften geschichtsphilosophischen Metaerzählungen sehen, in Michels' Fall des evolutiven Fortschrittsvertrauens. Allerdings führt dessen Auflösung im Stadium des Ersten Weltkrieges bei Michels keineswegs zu einer vergleichbaren kognitiven Bereicherung wie in den Jahren zuvor etwa die Auseinandersetzung mit der Elitetheorie. In den Monaten bis zu Italiens Kriegseintritt - bis also die Würfel tatsächlich gefallen sind - ist vielmehr die Unsicherheit im Urteil typisch für seine Kriegsrezeption. Die widersprüchliche Gemengelage von idealistischen Motiven wie dem Irredentismus - und einem Politikbegriff pessimistischer bzw. realistischer' Provenienz erschweren Michels eine klare politische Positionsbestimmung.

205 Vgl. Kapitel VI.2. Die Vergeblichkeit der Demokratisierung. 206 Lederer teilt Michels' Unbehagen im Kontext des August 1914, er gehört aber zu den wenigen europäischen Sozialwissenschaftlern, die sich trotz des allgegenwärtigen „berauschenden, aber leicht verblödenden Nebels der Gefuhlspolitik" (Leopold von Wiese) auch über diesen Kontext hinaus ganz auf ihr Geschäft zu konzentrieren vermögen. Lederer hat kein Verständnis für die seiner Ansicht nach weltfremde und folgenlose „ideelle Beurteilung des Krieges". „Tatsächlich mißt sich in diesem Kriege nur die Organisationsstufe der einzelnen Staaten." Michels hätte diesen Satz zunächst wohl ohne Zögern unterschrieben. Privat äußert er ähnliche Gedanken noch bis Kriegsende. Vgl. Emil Lederer, Zur Soziologie des Weltkrieges (1915), in: ders., Kapitalismus, Klassenstruktur und Probleme der Demokratie in Deutschland 1 9 1 0 - 1 9 4 0 , Göttingen 1979, S. 119-144, S. 141; zit. n. Hans Joas, Die Sozialwissenschaften und der Erste Weltkrieg, a.a.O., S. 29.

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Erst im Kontext der italienischen Intervention transformiert sich die Ambivalenz- und Kontingenzerfahrung des Krieges und der Werte für Michels in ein sinnhaftes politisches Programm, das er in der Folge ohne Rücksicht auf innere und äußere Widersprüche verteidigen wird. Weltanschaulich sind die Faktoren, die nun erfolgreich', d. h. sinnhaft zur Rechtfertigung des Krieges miteinander kombiniert werden, dieselben, die in den Vormonaten der Unsicherheit noch disparat nebeneinander standen: Michels legt nämlich innerhalb eines Jahres zwei Varianten des Verhältnisses von Idealismus und Realismus vor, eine kontradiktorische und eine komplementäre. Und beide sind durchaus logisch plausibel. Zweifellos kann man, wie Michels das vor dem Mai 1915 tut, den Krieg als sinnlos erleben, weil die Schlagkraft der Armeen und vielerlei Umstände den Ausschlag für das Kampfergebnis geben, nicht aber die Legitimität der Kriegsziele. Eben dieser Blick des politischen Realismus auf die Gesetze der Macht und der Gewalt, auf das Recht des Stärkeren, das vom Recht nur den Namen hat, kann aber auch zu der Schlußfolgerung gelangen, daß nur militärische Siege die als legitim betrachteten Ziele wirklich erreichen und dauerhaft sichern können. Tatsächlich verteidigt Michels in der Öffentlichkeit207 ab dem Mai 1915 den Interventionismus aus irredentistisch-idealistischen und realpolitischen Motiven. Die Logik der ethischen Maxime und die Logik der Gewaltanwendung stehen bei ihm plötzlich nicht mehr in dem zuvor noch diagnostizierten Widerspruchsverhältnis, sondern der Krieg wird zum notwendigen Unterpfand der irredentistischen Freiheitsaspirationen. Die historische Erfahrung wird jetzt von ihm herangezogen, um zu belegen, wie unsicher territoriale Zugeständnisse sind, die ein Kontrahent in einer vorübergehenden Zwangslage gibt, und wieviel sicherer Zugewinne sind, die aus militärischen Entscheidungen resultieren.208 Die neue Überzeugung, daß nationale Ideale und nationalstaatliche Machtpolitik sich nicht prinzipiell ausschließen, sondern sich ergänzen müssen, wird von Michels allerdings in der Folge so weit gesteigert, daß - im italienischen Fall - Idealität und Realität 207 Privat, namentlich in seiner Korrespondenz mit Hamon, neigt er weiterhin zu einer pessimistischen Interpretation des Verhältnisses von Idealismus und Realismus. 208 Unverkennbar zur Rechtfertigung der Entscheidung der italienischen Regierung, die Verhandlungen mit Österreich 1915 scheitern zu lassen, suggeriert Michels seinen Lesern diese historische Lehre vor dem Hintergrund einer für ihn parallelen historischen Konstellation - des territorialen Zugewinns von Venedig im Befreiungskrieg von 1866: „Es ist bekannt, daß Preußen 1866 Italien als Sturmbock gegen Österreich benutzte. Es ergaben sich da der Gegenwart ganz parallele Situationen. Als Italien zögerte, Oesterreich den Krieg zu erklären" - weil es hoffte, Österreich könnte auch mit diplomatischen Mitteln dazu gebracht werden, Venedig an Italien kampflos abzutreten „da war es Preußen, das [...] die Italiener mit Nachdruck darauf aufmerksam zu müssen glaubte, ein wie unsicherer Besitz für Italien ein von Oesterreich in einer Zwangslage geschenktes Venetien sei, das von seinem Schenker jederzeit wieder zurückerobert werden könne." Und im Hinblick auf das Trentino habe Bismarck dem Ministerpräsidenten Graf La Marmora bedeutet, daß diese Frage zwar aufgrund der Zugehörigkeit des Trentino zum Deutschen Bund verwickelt sei, „indes fügte er hinzu, was man nicht vor dem Kriege stipulieren könne, das könne man sehr gut während des Krieges oder nach dem Kriege tun, eventuell mit Hilfe eines in Südtirol abgehaltenen Plebiszites." Vgl. Michels, Zum Thema Deutschland und Italien, in: Neue Züricher Zeitung, 13. Juli 1915.

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des Nationalstaates prinzipiell zusammenfallen. In seiner proitalienischen Publizistik schließt sich die Kluft zwischen der nationalen Idee und der staatlichen Organisation dieser - gemeinhin von den gesellschaftlichen Gruppen selbst schon heftig umstrittenen Idee. Greifbar wird dieser Wandel der politischen Apperzeption in Sätzen wie dem folgenden: „Die Politik Salandras wird ihr natürliches Ende erst mit der Erreichung ihrer Ziele finden."209 Damit findet auch die zentrale These von Michels' politischer Soziologie, das Konfliktverhältnis zwischen staatlichem Machtinteresse und ethischen Maximen, ihr Ende und wird vom Autor - zumindest in Bezug auf Italien - ad acta gelegt. Die Einsicht seiner Patriotismus-Studien, daß infolge des Gesetzes der Transgression historisch regelmäßig jeder erfolgreiche nationale Freiheitskampf über sein Ziel expansiv hinausschießt und eine neue Irredenta erzeugt, wird von Michels jetzt systematisch verdrängt. Diese Rekonstruktion von Michels' Entscheidung im Mai 1915 auf der Grundlage weltanschaulicher Dispositionen kann allerdings nur teilweise zufriedenstellen. Dafür ist die plötzliche Kompatibilität seines aufklärerischen Pessimismus mit der politischen Wirklichkeit viel zu situationsbezogen und politisch funktional. Auch wenn sich eine machiavellististische, ,realpolitische' Wende in seiner Weltanschauung durchaus diagnostizieren läßt, müssen andere Faktoren dazu gekommen sein. Das belegt schon die Tatsache, daß Michels sich so lange mit interventionsbefurwortenden Äußerungen zurückhält, wie ein Kriegseintritt Italiens auf der Seite Deutschlands und Österreichs für ihn nicht hundertprozentig auszuschließen ist. Und das ist er aufgrund der heftigen Debatten zwischen Neutralisten, Nationalisten und Imperialisten lange Zeit nicht. Im übrigen bleibt seine Kriegsverachtung, seine Befürchtung, daß alle Opfer vielleicht doch sinnlos sind, ein Teil der Wahrheit in Michels' Kriegserleben. Er bevorzugt aber, sie Freunden wie Hamon anzuvertrauen. Zählt Michels damit im Kontext der Ereignisse des Mai 1915 zu den „Opportunisten aus dem anderen Lager" (Lill), also zu denjenigen, die sich trotz massiver Bedenken und Vorbehalte gegenüber einer Intervention gleichwohl in dem Moment dem Interventionismus angeschlossen haben, als dieser als definitiver Sieger feststand? Angesichts der hier rekonstruierten Chronologie der Ereignisse liegt es nahe, daß Michels im Mai 1915 auf keinen Fall im Lager der Verlierer stehen will und Motive politischer Opportunität eine Rolle spielen. Allerdings sind sie dann Ausfluß einer Grundentscheidung, die alles andere als opportunistisch ist. Kein Mensch hat von Michels am 24. Mai 1915 eine patriotische Erklärung seiner „italianità" gefordert oder ihm dafür Kompensationen in Aussicht gestellt. Im Gegenteil: das Bekenntnis zu einer Nation, die erstens mit dem Herkunftsland des Bekenners im Krieg steht und zweitens keine Anstalten macht, diesen staatsrechtlich in ihre eigenen Reihen aufzunehmen, ist eine Form von patriotischer Solidarität, der man den Stempel des Reinen und Edlen kaum verweigern möchte. , Opportuner' wäre es für Michels vielmehr gewesen, dem Rat seines Freundes Max Weber zu folgen und zu „schweigen" und als neutraler Autor in der neutralen Schweiz

209 Michels, In Italien, Neue Züricher Zeitung, 19.2.1916. Der Artikel ist übrigens ebenfalls anonym erschienen.

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sich ungehindert seinem Lehrstuhl zu widmen. Nicht auszuschließen, daß dies im Hinblick auf die Nachkriegszeit die langfristig erfolgreichere Strategie zu Optimierung der Karriereperspektiven gewesen wäre. Michels' zuweilen unerträgliche moralische Selbststilisierung zum interesselosen italienischen Patrioten hat in seiner für ihn biographisch wie politisch riskanten Entscheidung von 1915 ihren nicht ganz unberechtigten Grund. Der Eindruck des opportunen Publizierens, sobald es um konkrete Fragen der Regierungspolitik geht, ist deshalb nicht weniger richtig. Aber zu einem angemessenen Verständnis gelangen wir nur, wenn wir Michels' eigentümliches Verhältnis zu Italien unter die Lupe nehmen und an dieser Stelle zeitlich hinter den „Fremden im Kriege" zurückgehen, um den Fremden im Frieden einzubeziehen. Hatte Michels überhaupt in der Vergangenheit die italienische Politik jemals kritisiert? Fehlanzeige: Michels hat sich schon zu Zeiten seines sozialistischen Engagements immer dazu berufen gefühlt, der Welt von den sozialen Fortschritten in Italien und den legitimen Interessen der italienischen Nation zu berichten. Über alles, was seine positiven Italienbilder hätte trüben können, hat er geschwiegen oder sich in Randnoten geäußert. Treffend schreibt Eisermann in diesem Zusammenhang: „Indes war es [...] um so erstaunlicher, daß der bittere Kritiker des Wilhelminischen Deutschland allgemein und seiner Unterdrückung der sozialistischen Bewegung speziell, die ihn zum definitiven Bruch mit seinem Ursprungsland führten, nichts auszusetzen fand an der blutigen Unterdrückung der sich spontan bildenden sozialistischen Fasci di lavoratori, deren Landnahme auf Sizilien blutig im Gewehrfeuer zusammenbrach, und des Fascio operaio im Zentrum der sozialistischen Bewegung, in Mailand, der 1898 gleichfalls in den Straßen zusammengeschossen wurde [...] - alles Ereignisse, [...] die nicht einmal in den schlimmsten Folgen von Bismarcks Sozialistengesetz eine auch nur annähernde Entsprechung fanden."210 Eisermanns Beobachtung, daß schon der Sozialkritiker Michels gegenüber Italien nicht dieselbe Feder benutzt, mit der er die deutschen Verhältnisse aufspießt, ist völlig richtig. Sie lässt sich anhand eines Kommentars von Michels aus dem Jahr 1903 exemplifizieren, in dem dieser sich tatsächlich einmal zur von Eisermann angesprochenen Niederschlagung der sizilianischen Fasci äußert: nur am Rande räumt Michels eine Mitverantwortlichkeit von Regierung und Polizei für die Eskalation ein, im Zentrum seiner Anklage steht dagegen die Schuld der aufständischen Arbeiter an ihr. Der Titel dieses Aufsatzes lautet signifikanterweise „Das ,böse Jahr' 1898" und ist typisch für Michels' Hang zur Tragik, sobald er von gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Regierung und sozialen Bewegungen innerhalb Italiens berichtet: die Erzählform der Tragik erlaubt es ihm, die jeweilige Schuld zu relativieren, sich selbst neutral zu verhalten und dabei sogar Verständnis für die Polizei aufzubringen, die „noch nicht recht daran ge-

210 Gottfried Eisermann, Robert Michels, in: Der Staat, Jg. 1987, S. 250-269, S. 267.

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wöhnt" gewesen sei, „mit Streikenden und Hungernden umzugehen".211 Diese Relativierung der Regierungsschuld ist um so erstaunlicher, als Michels 1903 sich gerade der „revolutionären Intransigenz" verschrieben hat. Hätte ein Deutscher einen derartigen relativistischen Kommentar zu ähnlichen Vorfallen in Deutschland geschrieben, Michels' Verachtung wäre ihm sicher gewesen. Das Verhalten des „Fremden im Frieden" ist ein Schlüssel für den „Fremden im Kriege". Offensichtlich war Michels so sehr Deutscher, daß er für sich nur im Hinblick auf Deutschland das Recht auf Kritik der politischen und sozialen Verhältnisse in Anspruch genommen hat. In Italien dagegen hat er sich wie ein höflicher Gast verhalten, der trotz seiner profunden Kenntnis von Land und Leuten davor zurückschreckt, durch Kritik in die Geschicke des Landes eingreifen zu wollen oder ihm ein schlechtes Zeugnis auszustellen. Hier ist er - abgesehen von seinem Engagement im PSI - zu keiner Zeit als intellektueller Vordenker oder Vorkämpfer einer politischen Alternative zum Status Quo in Erscheinung getreten. Stets versteht er sich als loyaler akademischer Botschafter Italiens im Ausland. Wie ein Diplomat im höheren Dienst, der für seine Äußerungen auf die Rückendeckung der Regierung achtet, versieht er seinen Dienst für Italien, getreu der Devise: der Adoptivsohn verteidigt sein Vaterland, verteidigt und vertritt seine Interessen im Ausland, aber er kritisiert es nicht. Dieses besondere Verhältnis zu Italien ist bereits in seiner sozialistischen Phase erkennbar: während er in Deutschland die herrschenden Eliten und Institutionen scharf angreift und die Legitimität der preußischen Monarchie immer wieder in Frage stellt, verschont er die italienische Monarchie mit seinem positivistischen Republikanismus. Gewalttätige Zusammenstöße zwischen Regierung und sozialistischen Arbeitern in Italien werden von ihm interessanterweise entweder verschwiegen oder aber er gibt den letzteren die Schuld für die Eskalation - so auch in den gewalttätigen Turiner Streiktagen im Herbst 1907,212 als Michels die Ursachen nicht bei den Ordnungskräften sucht, sondern in der Unreife des Proletariats vermutet und darüber die Notwendigkeit erzieherischer Maßnahmen begründet. Es liegt auf dieser Linie seines durch und durch befangenen Verhältnisses zu Italien, daß Michels in seiner umfangreichen Italien-Berichterstattung die gewalttätigen Aktionen des Provinzfaschismus Anfang der zwanziger Jahre sowie die innenpolitischen Turbulenzen im Kontext der Ermordung des sozialistischen Abgeordneten Matteotti 1924 nie oder nur andeutungsweise, im Tonfall der Tragik, erwähnen wird. Auch das innenpolitisch so bedeutsame Bündnis der Monarchie mit dem Mob im Mai 1915 kommt in Michels' Kriegspublizistik nicht vor, die sich bei der Darlegung der Interventionsgründe vielmehr auf die ideelle irredentistische Legitimation beschränkt und die gesellschaftlichen Ursachen und innenpolitischen Konflikte weitgehend ausblendet. Robert Michels läßt sich vor diesem Hintergrund nur angemessen interpretieren, wenn man bei der Analyse des Geschriebenen das Verschwiegene mitdenkt. Vergleicht man sein Wirken in den beiden zentralen nationalen Kontexten seines Lebens, kann man sich des

211 Michels, Das ,böse Jahr' 1898, in: Die Gleichheit, Nr. 17, 13. Jg., 12.8.1903, S. 131-133. 212 Vgl. das Kapitel V.

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Eindrucks einer binationalen Persönlichkeitsspaltung nicht erwehren. Die Identität des Intellektuellen scheint im Fall Michels vom nationalen Kontext abhängig zu sein. Der Unfreiheit des Geburtspatriotismus, in den der Mensch hineingeboren wird, scheint eine größere Freiheit im Umgang mit den herrschenden Sitten und Autoritäten zu entsprechen als dem zunächst freiheitlicher erscheinenden Elektivpatriotismus. Das muß nicht so sein. Bei Michels ist es so gewesen, weil der - nach eigener Aussage - notwendige evolutive und langjährige Prozeß einer durch äußere Konflikte ungestörten Naturalisierung durch den Krieg zwischen Herkunfts- und Zielnation nicht etwa beschleunigt, sondern abgebrochen worden ist. So zumindest hat Michels das in seiner Reflektion über den „Fremden im Kriege" selbst gedeutet. Und wir haben meines Erachtens allen Grund, die in dieser Reflektion konstatierte Beschädigung der Seele ernstzunehmen. Nicht als die Erklärung für alles weitere, aber gewiß doch als einen wesentlichen Faktor unter anderen. Insofern Michels selbst die Absicht verfolgt hat, sich mit dieser Selbststilisierung zum „Opfer" gegenüber dem Vorwurf der propagandistischen Unterstützung und intellektuellen Mitverantwortung am Krieg zu exkulpieren, muß ihm allerdings widersprochen werden. Er litt nicht an der von ihm diagnostizierten kollektiven „Psychose" der Kriegsenthusiasten und ging immer wieder auf Distanz zur „Kritiklosigkeit, mit welcher die einzelnen Völker auch in ihren erlesensten Schichten die Politik ihrer Regierung mitverfochten." Wer sich aber so über die allgemeine „Geisteskrankheit" der Kriegsbegeisterung und den „patriotischen Nebel"213 erhaben fühlt, muß sich gefallen lassen, am Maßstab deqenigen gemessen zu werden, die das Los der inneren Emigration bis zum Kriegsende durchhielten oder aber das eigene Regierungshandeln tatsächlich mit kritischer Aufmerksameit verfolgt haben. Wer aber vermutet, Michels wäre aufgrund dieser inneren Widersprüche in seiner Haltung zum Krieg und seiner Parteinahme für die italienische Regierung von allen Seiten die Etikette des Nationalisten verpaßt worden, irrt. Tatsächlich hat Michels seine politischen Kontakte zum linksliberalen Pazifismus weiter gepflegt und hat sich in diesem Spektrum keineswegs isoliert. Das mag damit zu tun haben, daß er in diesem Krieg weiterhin antimiliaristische und staatskritische Positionen vertreten hat, die unvermittelt neben seiner unkritischen Solidarisierung mit der italienischen Kriegspolitik stehen. Hinzu kommt, daß er auch noch einmal den Kampf gegen das Bündnis von deutscher Sozialdemokratie und preußischem Machtstaat aufnimmt. Seine Diagnose vom Tod des internationalen Sozialismus im Krieg und der Hauptverantwortung der SPD für das Scheitern der II. Internationale gerät dabei sogar in eine Luxemburgsche Tonlage. Der moralische Rigorismus, mit dem er das Freiheitspathos des Nationalitätenprinzips gegen die Sozialdemokratie ausspielt, wird jedoch nicht zuletzt dadurch unglaubwürdig, daß Michels selbst in seiner Verantwortung als akademischer Botschafter des italienischen Irredentismus den Gedanken der nationalen Autonomie so willkürlich interpretiert, daß man um die Freiheit der Völker ernsthaft fürchten muß. Mit der autoritären, ja elitistischen Verwandlung seines Irredentismus im Krieg korrespondiert eine auffällige translate libertatis von der politischen in die mythologische Sphäre.

213 Michels, Einfluß des Milieus auf die Person, a.a.O., S. 462-464.

IX. 8. Suizidaler Sozialismus, elitärer Nationalismus und libertäre Mythologie

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8. Suizidaler Sozialismus, elitärer Nationalismus und libertäre Mythologie Wenn es richtig ist, daß in Kriegszeiten selbst liberaldemokratische Staaten sich aus Staatsraison in jenen ,Leviathan' zurückverwandeln, der ihr ideengeschichtlicher Ausgangspunkt ist, und durch Zensur und Konzentration des politischen Entscheidungsprozesses auf wenige Verantwortliche den Pluralismus der Meinungen stark einzuschränken geneigt sind, dann sind manche Äußerungen von Michels in den Kriegsjahren von geradezu subversiver Qualität. So etwa, wenn er im Dezember 1916 postuliert, „daß der Staat von den Menschen geschaffen worden ist und nicht die Menschen vom Staat; daß der Staat entstanden ist, um den Menschen zu dienen, und nicht die Menschen, um Sklaven des Staates zu sein."214 Ein deutlicher liberaler Grundsatz, der allerdings nicht etwa kritisch auf die kriegsbedingten Veränderungen in der italienischen Verfassungswirklichkeit bezogen wird, sondern sich in diesem Fall gegen die Habsburger-Monarchie richtet. Diese objektabhängige Ausrichtung politischer Wertungen hat Methode. Während Michels immer dann, wenn es um seine ideale Heimat Italien geht, Kritik entweder ganz vermeidet oder in den Fußnoten verschwinden läßt, treibt er seine Kritik an den Vielvölkerreichen Österreich und Deutschland unter Rückgriff auf die aufklärerischen Leitmotive215 von Freiheit und Selbstbestimmung weiter. Und er schlüpft noch einmal in jene Rolle des ethischen Kritikers des Sozialismus, die er einst - in den Jahren 1905 bis 1907 - durchaus überzeugend gespielt hat. „Das Debakel der Arbeiterinternationale" lautet der Titel einer mit moralischer wie emotionaler Wucht daherkommenden Abrechnung mit der deutschen Sozialdemokratie, der Michels eine Mitverantwortlichkeit für den Krieg zuweist. Der im Mai 1916 in Frankreich und Italien erscheinende Text mündet in einen Nekrolog auf den Sozialismus schlechthin: „Der Sozialismus hatte versprochen, ein erhabener Boulevard gegen jede Unterdrückung zu sein; und er hat nicht verstanden, daß die Serben Österreichs wünschten, sich mit ihren Brüdern aus dem serbischen Königreich zu vereinen; auch hat er die Zerschlagung Belgiens zugelassen [...]. Die Sozialisten hatten versichert, alles zu tun, um einen Offensivkrieg zu verhindern; und haben ihn, im Gegenteil, mit arroganter Freude bejubelt. Die Sozialisten hatten behauptet, keinen Rassenhass zu kennen; und doch begannen sie mit Kriegsausbruch, von minder- und höherwertigen Rassen zu reden. Millionen Sozialisten beleidigen, ver-

214 Michels, Stato e Patria, in: Minerva, Jg. 26, Nr. 24, 16.12.1916, S. 1105-1107, S. 1105: „Essi non sono consci del fatto storico che lo Stato è creato dagli uomini e non gli uomini dallo Stato; che lo Stato è fatto per servire gli uomini e non gli uomini per essere schiavi dello Stato." 215 Infolge der normativen Krise sowie der zunehmenden Instrumentalisierung von Normen im italienischen Interesse muss hier eigentlich im Sinne Moscas von „politischen Formeln" die Rede sein.

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achten, hassen und massakrieren sich heute. Die sozialistische Jungfräulichkeit existiert nicht mehr. Und es gibt nichts, das sie wiederherstellen könnte."216 Antimilitarismus und Antirassismus, das Freiheitspathos des nationalen Selbstbestimmungsrechts, die Verurteilung der von der SPD billigend in Kauf genommenen deutschen Invasion in Belgien und eine spöttische Analyse der Parlamentsreden sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter217 erinnern in diesem Text an den libertären Sozialisten von einst, der sich hier offensichtlich zehn Jahre nach seinen Prognosen über das potentielle Kriegsverhalten der SPD von der Geschichte bestätigt fühlt. Der Niedergang der Internationale und die politische und moralische Ausrichtung des Handelns der europäischen Arbeiterorganisationen an ihren jeweiligen nationalen Kontexten war für Michels 1907 so etwas wie der objektive Trend der Zeit gewesen. Jetzt, im Mai 1916, konstatiert er den „definitiven Tod des internationalen Sozialismus". Nicht nur die Aussage, auch ihr Duktus weist eine interessante Parallele zur im selben zeitlichen Kontext erscheinenden „Junius"-Broschüre von Rosa Luxemburg auf, die vom „Selbstmord der europäischen Arbeiterklasse" spricht: „Es sind ja die Soldaten des Sozialismus, die Proletarier Englands, Frankreichs, Deutschlands, Rußlands, Belgiens selbst, die einander auf Geheiß des Kapitals seit Monaten abschlachten, einander das kalte Mordeisen ins Herz stoßen, einander mit tödlichen Armen umklammernd, zusammen ins Grab hinabtaumeln."218 Michels und Luxemburg haben zweifellos eine große Gemeinsamkeit: ihre Isolation im Kontext des Augusterlebnisses, ihre Kritik am Burgfrieden als einen Prinzipienverrat 216 Michels, La Débâcle de l'„Internationale Ouvrière" et l'Avenir, in: „Scientia", lO.Jg., Mai 1916, S. 183-190: „Hélas!! Le socialisme avait promis de devenir un noble boulevard contre toute espèce d'oppression; et il n'a pas compris que les Serbes d'Autriche frémissaient du désir de s'unir avec leurs frères du royaume serbe; et il a laissé écraser la Belgique [...]. Les socialistes avaient assuré qu'ils feraient tout pour empêcher une guerre offensive; et ils l'ont acclamée, au contraire, avec une joie arrogante. Les socialistes avaient soutenu qu'ils ignoraient les haines de race; et ils se sont mis, au contraire, aussitôt la guerre éclatée, à parler de races inférieurs et de races supérieurs. Des millions de socialistes, aujourd'hui, à qui mieux mieux s'insultent, se vilipendent, se haissent, se massacrent. La virginité socialiste n'existe plus; et ce n'est pas quelque chose qui puisse se refaire." 217 So soll der Königsberger SPD-Abgeordnete Haase am 4.8.1914 seine Stimmabgabe zugunsten der Kriegskredite damit begründet haben, daß er sich sicher sei, daß dieser Krieg in kürzester Zeit eine so furchtbare Entwicklung nehmen werden, daß in der Zukunft es unmöglich sein werde, überhaupt noch Krieg zu fuhren. Kommentar Michels: „Er sagt in der Konsequenz, daß er für den Krieg stimmte, um die Menschheit von den Übeln des Krieges zu heilen. Es ist dieser Scherz auf den Lippen, mit dem der Sozialismus seinen Selbstmord begeht." (Michels, Débâcle, S. 183; [m. Übs.]) 218 Vgl. R. Luxemburgs unter dem Pseudonym, Junius" erschienene Broschüre „Die Krise der Sozialdemokratie" (Zürich 1916), in: dies., Gesammelte Werke, Bd. 4, 6. Auflage, Berlin 2000, S. 51164; zit. nach der Online-Reproduktion auf www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg.de

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und ihre Ablehnung der sozialdemokratischen Rechtfertigungstheorie vom Verteidigungskrieg als Propagandalüge. Beide werfen der SPD als der größten sozialistischen Partei Europas vor, sich die Losung vom ,Durchhalten bis zum Sieg' zu eigen gemacht zu haben und durch den Verzicht auf Opposition in der historischen Mitverantwortung für die Verlängerung des Krieges und seiner Menschenschlächterei zu stehen. Luxemburg und Michels unterscheiden sich allerdings in ihrer Erklärung der Burgfriedenspolitik der SPD. Es fallt dabei auf, daß Michels seine Diagnose vom Tod des Sozialismus nicht mit dem organisationspsychologischen Modell seiner Elitenthorie begründet, während für Luxemburg gerade zentrale Thesen der parteienkritischen Elitentheorie - etwa die Anpassung einer abgehobenen Führungselite an die herrschenden Verhältnisse sowie das systematische ,disinvolvement' der Basis - für die Erklärung der Prinzipienerosion von zentraler Bedeutung sind und Luxemburg ja nicht zuletzt deshalb in der unmittelbaren Nachkriegszeit für die direkte Demokratie in Gestalt des Räteprinzips und gegen den Parlamentarismus optieren wird. Michels dagegen sieht von derartigen ihm alles andere als fremden organisationssoziologischen Überlegungen völlig ab und macht für das „Debakel der Arbeiterinternationale" im Krieg jetzt vor allem ideengeschichtliche Gründe verantwortlich: die Vernachlässigung des Faktors Nation und die Marginalisierung der nationalemanzipatorischen Theorieansätze von Mazzini, Garibaldi, Blanc und Malon zugunsten einer exklusiven Ökonomisierung des sozialistischen Weltbildes. So habe der Sozialismus „nicht nur den Kontakt mit den unterworfenen Völkern verloren [...], sondern er ist auch immer mehr dazu übergegangen, sich in Opposition zu ihnen zu setzen. Die Verfechter der Freiheit des Volkes sind zu Ignoranten der Freiheit der Völker geworden."219 Diese Kritik des Ökonomismus und die Erhebung des nationalen Selbstbestimmungsrechts zum zentralen Prinzip der sozialistischen Theorie markiert die analytische Trennlinie zwischen Michels' und Luxemburgs Diagnose des sozialistischen .Selbstmordes' im Krieg. Vor allem aber sind es die Erwartungen an die Nachkriegszeit, welche die tiefe Kluft zwischen beiden Autoren bei aller Koinzidenz in der temporären Diagnose aufzeigen. Luxemburg glaubt nämlich, daß die sozioökonomische Geschichtsmotorik des Klassenkampfes zu einer Renaissance der sozialistischen Internationale führen werde: „[...] trotz brudermörderischen Kriegs steigt aus dem ,Burgfrieden' mit Elementargewalt der Klassenkampf und aus den Blutdämpfen der Schlachtfelder die internationale Solidarität der Arbeiter empor. [...] jetzt im Kriege, aus dem Kriege

219 S. 184: „Le socialisme, en abandonnant la tradition qui lui avait été tracée par les Mazzini, les Garibaldi, par les Luois Blanc, et les Benoit Malon, et en devenant toujours plus esclusivement économique, n'a pas seulement perdu le contact avec les peuples soumis et qui aspirent à leur liberté ethnique et linguistique, mais il est peu à peu arrivé à se mettre en opposition avec eux. Les fauteurs de la liberté du peuple sont devenus dédaigneux et sottement ignorants de la liberté des peuples."

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ersteht mit ganz neuer Macht und Wucht die Tatsache, daß die Proletarier aller Länder ein und dieselben Interessen haben." 220 Der Gedanke, daß aus den „Blutdämpfen der Schlachtfelder die internationale Solidarität" entstehen könnte, dürfte für Robert Michels eine an Schwachsinn grenzende Aussage gewesen sein. Er hat schon in seiner Auseinandersetzung mit Kautsky zur Zeit der ersten Marokko-Krise dessen These, daß der Krieg den Weg zur sozialistischen Revolution nur beschleunigen würde, verworfen, weil er überzeugt war, daß der internationale Krieg in Europa eine derartig anti-internationalistisch wirkende Vergiftung der Seelen mit sich bringen würde, daß das Projekt des Sozialismus daran ein für allemal scheitern werde. Robert Michels hält daher auch 1916 erst recht eine Wiedergeburt des internationalen Sozialismus für ausgeschlossen. Andererseits hält er es aber für wahrscheinlich, daß nach dem Krieg ein exklusiv auf den Nationalstaat bezogener und gleichzeitig radikalisierter Sozialismus eine erhebliche Bedeutung erlangen wird. Dieser werde von „Egoismus erfüllt" sein, weil die Arbeiterklasse und ihre Wortführer die ökonomische Entschädigung für ihre Kollaboration einfordern und der herrschenden Klasse die Rechnung präsentieren werden; gleichzeitig werde dieser Klassenkampf eine „gewalttätige und revolutionäre Orientierung" annehmen, weil er die Logik und Methoden des Krieges in den Frieden transportieren werde. „Nach dem Krieg wird sich eine Arbeiterklasse erheben, die ganz sicher ihre alten Ziele von internationaler Gerechtigkeit vergessen haben wird, die aber mehr denn je von ihren egoistischen Rechten druchdrungen sein und entschlossen sein wird, diese ohne allzuviel Skrupel und Rücksicht geltend zu machen." Der Klassenkampf werde nicht aufhören, aber er werde jeglicher Idealität beraubt sein und sich in seiner Heimtücke und Hinterlist der Methodik des U-Bootkrieges bedienen. 221 Der Text vom Mai 1916 antizipiert damit bereits Michels' politische Haltung zum Sozialismus in der Nachkriegszeit: nicht nur der deutschen Sozialdemokratie wird aufgrund der ihr von ihm attestierten Kriegsschuld seine Verachtung gelten, auch die

220 R. Luxemburg (= Junius), Die Krise der Sozialdemokratie, a.a.O. 221 Michels, La Débâcle de Γ „Internationale Ouvrière", S. 189-190: „Mais, si le socialisme à coup sûr difficilement renaîtra sous son aspect idéaliste, nous ne pensons pas pas qu'il soit impossible qu'il revienne à la surface, une fois la guerre terminée, sous une forme mentale imbue d'un égoisme, qui pourra aisément prendre une orientation violente et révolutionnaire, même dans les faits, en appliquant à sa tactique les méthodes apprises dans la guerre mondiale à laquelle il a donné son adhésion. C'est que les ouvriers, et leurs porte-voix, les socialistes, ne manqueront pas de présenter, après la conclusion de la paix, leurs comptes à l'État et aux classes possédants, pour la collaboration [...]. Après la guerre surgira une classe ouvrière à coup sûr oublieuse de ses anciennes fins de justice internationale, mais plus que jamais pénétrée des ses droits égoistes et fermement décidée à les faire valoir sans trop de scrupules et de ménagements. La lutte de classe ne cessera di persister, mais elle sera dépourvue d'idéalité [...] elle sera menée selon une méthode pleine de ruses, de tromperies et de vilains guet-apens, comme cette guerre infâme dans laquelle excellent les sous-marins."

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revolutionären Aktionsformen der radikalen Linken - insbesondere die Fabrikbesetzungen von 1920 in Italien - wird er ohne Zögern von Beginn an ablehnen. Resümierend läßt sich feststellen, daß Michels' definitiver Bruch mit dem Sozialismus nicht im Kontext der Oligarchietheorie von 1911 erfolgt ist, sondern erst im Krieg, als das Prinzip des Internationalismus zu Grabe getragen wird. Im Michelsschen Verständnis war der Internationalismus schlechthin konstitutiv für die sozialistische Idee, dies aber nicht im abstrakten ,antinationalen' Sinn, sondern vielmehr im Sinne einer nationalen Befreiungs- und Selbstbestimmungslehre, deren Internationalität in der wechselseitigen Anerkennung und Unterstützung nationalen Autonomiestrebens bestand. Wann immer Michels dieses Leitmotiv des „konkreten Internationalismus" bzw. „demokratischen Nationalismus" 222 gegen die Politik des Deutschen Reiches oder gegen die SPD vorgebracht hat, besticht seine Argumentation durch ihre politische und moralische Stringenz. Das gilt auch noch für seinen Abgesang auf die Sozialdemokratie im Mai 1916. Indessen ist seine Position in anderen politischen Kontexten und gegenüber anderen politischen Adressaten weniger eindeutig und muß an dieser Stelle die Freiheitlichkeit seiner nationalen Selbstbestimmungsrhetorik in Frage gestellt werde. Spätestens im Krieg nämlich wird Michels' „demokratischer Nationalismus" auf die Probe der politischen Operationalisierbarkeit gestellt und verwandelt sich zumindest im Hinblick auf die italienische Kriegspolitik in eine elitäre und höchst willkürliche Ideologie: Erstens setzt sich im Krieg die von uns bereits beim jungen Michels wahrgenommene Tendenz vollends durch, nationale Autonomie alternativlos in den Grenzen ethnisch homogener Nationalstaaten zu denken. Voraussetzung für eine friedliche Nachkriegsordnung ist Michels zufolge die Herstellung nationaler Homogenität: nur „in einer zunächstigen reinlichen Scheidung der Völker voneinander" sieht er „die Möglichkeit einer späteren tatsächlichen Annäherung". 223 Es irritiert hier der Euphemismus der „reinlichen Scheidung", der nur schlecht die Grausamkeit verbirgt, die sich bei seiner Umsetzung in die Praxis unweigerlich einstellen muß. In Michels' politischer Sprache wird so die Sinnverkehrung greifbar, die das Ideal des Nationalitätenprinzips im zwanzigsten Jahrhundert in Europa durch Vertreibung und ethnische , Säuberungen' erfahren hat. Zweitens: man könnte zwar einwenden, daß Michels gegenüber dieser Sinnverkehrung in seinen Schriften eine Demokratieprophylaxe eingebaut hat, insofern nur das Plebiszit darüber entscheiden darf, zu welcher Nation die Einwohner einer Region sich zugehörig fühlen. Abgesehen von den Aporien der Mehrheitsentscheidung in ethnisch gemischten Gebieten, die Michels nie reflektiert, muß aber auch die demokratische Dignität dieses Konzeptes in Zweifel gezogen werden. Denn Michels' Irredentismus gerät jetzt zum unverhohlenen elitären Nationalismus. Er weiß, daß der italienische Anspruch auf das Trentino und Istrien dem empirischen Einwand begegnet, daß dort an vielen Orten eine Mehrzahl der Bürger sich eben nicht als Italiener fühlt. Auf diesen

222 Kapitel II.4. 223 Michels, Das österreichische Problem und die Irredenta, in: ders., Italien von heute, a.a.O., S. 106-122, S. 121.

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Einwand antwortet Michels mit der Erkenntnis seiner Nationalismus-Forschung, daß stets Minderheiten am Anfang einer Natio-Genese stehen, daß namentlich Intellektuelle als erste die Idee der Nation entwickeln, welche die eher passiven und traditionalistischen bäuerlichen Schichten erst später umsetzen. Daß die Intellektuellen im Trentino sich als Italiener fühlen, reicht für Michels aus, um den Anschluß dieses Gebietes an das italienische Königreich zu legitimieren.224 Dieses intellektuelle Deutungsprivileg bei der Auslegung der nationalen Grenzen steht im Hintergrund, wenn Michels dem Ersten Weltkrieg die Notwendigkeit zuschreibt, die „zwei Konzepte Staat und Patria" zu „synthetisieren", auf daß beide in Zukunft nicht mehr in Widerstreit geraten.225 Die Forderung nach einer Synthese von Staat und Nation ist in Michels' Denken zwar einerseits die logische Folge seines in jungen Jahren eher unbewussten, jetzt offensiv vertretenen Leitmotivs nationaler Homogenität. Sie ist aber gleichzeitig naiv und fällt völlig hinter das in seinem „Gesetz der nationalen Transgression" dokumentierte Problembewußtsein von dem expansiven Potential scheinbar defensiver nationaler Autonomiekämpfe zurück. Man muß davon ausgehen, daß wir es bei Michels' Option für den homogenen Nationalstaat nicht mit einem theoretischen Lapsus zu tun haben, sondern mit einer bewussten politischen Entscheidung gegen denkbare institutionelle Alternativen in multiethnischen Gebieten, die Michels durchaus bekannt waren. So hat er im Krieg - allerdings im Januar 1915 - einen bemerkenswerten Artikel über die Schweiz geschrieben, in dem er das Schweizer Modell der Kantonsverfassung ausdrücklich als Widerlegung von Moscas Behauptung von der Unmöglichkeit der Demokratie würdigt. In auffälliger Kongruenz mit seinen sozialpädagogischen Ausführungen am Ende seiner „Soziologie des Parteiwesens" schreibt er: „Die allgemeine Verbreitung der Bildung hat aus dem allgemeinen Wahlrecht eine Realität gemacht." Die weitgehende legislative und administrative Autonomie der Kantone stelle gleichzeitig sicher, daß die Autorität im Staate auf der Freiheit und Selbstbestimmung vieler „kleiner Republikchen" basiert und keine „Nationalität Sklavin einer anderen" sei.226 Diese insti224 Michels, Stato e Patria, a.a.O., S. 1105: „Può darsi benissimo che ci sieno ancora nel Trentino dei contandini viticoltori che adattano il loro pattriotismo a quello dei loro clienti di Graz o di Vienna [...] Anche nella storia del risorgimento nazionale di altri Stati [...] l'elemento contadinesco ha fatto una parte più passiva che attiva. Da un punto di vista storico più elevato, può dirsi che la misura per la volontà di un popolo vien data dallo stato d'animo delle sue classi intellettuali. Per chi adotta quest'angolo visuale è fuori di dubbio che il Trentino e la Venezia Giulia si sono già oggi disdetti dall'Austria e che si sono schierati, in modo palesissimo, con l'Italia." 225 Michels, Stato e Patria, a.a.O, S. 1106: „Occorre sintetizzare i due concetti Stato e Patria." 226 Michels, La Svizzera e la sua neutralità, in: Nuova Antologia, Januar 1915, Sonderabdruck, 15 Seiten, S. 12-13: „La Svizzera abbraccia popolazioni appartenenti a tre razze diverse. Queste frazioni di popoli coi loro numerosi cantoni si sono strette attorno ad'unica bandiera formando un unico Stato, spontaneamente, liberamente. Conservando intatte le proprie autonomie locali non può dirsi che una delle nazionalità sia schiava dell'altra. [...] Difatti la democrazia svizzera [...] è tale da giustificare il tentativo del Rensi che accennava ad essa, per confutare l'asserzione del Mosca sull'impossibilità del regime di democrazia. Infatti in Svizzera si è venuto sempre più realizzando uno stato di cose, per cui il popolo, sotto varie forme, dirette ed indirette, si governa

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tutionelle Alternative der Lösung der Nationalitätenkonflikte hat Michels spätestens infolge des italienischen Kriegseintritts völlig ausgeblendet. Die Option für einen Nationalismus homogener Zielsetzung und elitärer Deutungshoheit ist eine der Veränderungen in Michels' Denken im Kontext des Krieges. Eine andere, damit zeitlich parallele und sachlich korrespondierende wie kontrastierende Innovation besteht darin, daß er unter dem Titel „La sphère historique de Rome" 1917 das Projekt einer transnationalen Mythologie beginnt und ein identitätspolitisches Kontrastprogramm zum realen Nationalismus der Kriegszeit vorlegt, das ihn bis an sein Lebensende nicht mehr loslassen wird. Nicht zuletzt dem Mythos der „Latinité" hat es Michels zu verdanken, daß er nach dem Krieg weniger als italienischer Nationalist, sondern vielmehr als Europäer und Anwalt der Völkerverständigung gelten wird, dem u. a. auch die Carnegie-Stiftung einen Platz auf ihren Friedenskonferenzen reservieren wird.227 In den verschiedenen Aufsätzen zur transnationalen Identität der lateinischen Zivilisation konstruiert Michels eine Art westliches Kern-Europa, dem Italien, Frankreich, das Rheinland, aber auch England zugehören. Sein Fundament gießt Michels aus verschiedenen Quellen: allen voran das zivilisatorische Erbe des römischen Weltreichs, dessen Grenzen weitgehend identisch mit der Reichweite des Katholizismus nach dem Schisma der Reformation sei. Der Katholizismus und bestimmte kulturelle Institutionen wie der Karneval, aber auch gemeinsame etymologische Wurzeln der Sprache präsentiert Michels als identitätsstiftende Momente der Inklusion und der Abgrenzung: vor allem vom protestantischen Preußen. England findet seinen Platz in diesem Konzept, weil es sich selbst als legitimer Erbe des römischen Weltreiches versteht und somit ein Beleg für die mythische Kraft des alten Rom ist, vor allem aber weil es gemeinsam mit Frankreich den Kern der „Westmächte" bildet und - wie aktuell im Krieg gegen Deutschland - zum „Symbol eines Europas wurde, das die politische Freiheit und das Nationalitätenprinzip wahrt".228 Eine zentrale aus der Erinnerung an das römisch-lateinische Erbe resultierende normative Verbindlichkeit ist für Michels das dem Rassismus entgegengesetzte Selbstverda sè [...] e l'autorità sorge dalla libertà [...]. La diffusione universale dell'istruzione ha fatto del suffragio universale una realtà. I cantoni non sottostanno che per pochi riguardi all'autorità confederale [...]. In tutto il resto formano piccole repubblichette." 227 Michels, La sphère historique de Rome, in: Scientia, Bd. XXII, Nr. LXIII-7, Juli 1917, [auch auf italienisch in derselben Nummer], Sonderabdruck; ders., La Latinité, in: Revue d'Ethnographie, Nr. 27-28, 1926, Sonderabdruck 1927, S. 194-211; ders., Una figlia di Roma: Colonia, in: Nuova antologia; Jg. 67, Fase. 1450, Sonderabdruck 13 Seiten, 1932; ders., Cenni sull'atteggiamento dei Renani di fronte al Risorgimento Italiano, in: Nuova Rivista Storica, Jg. 18, Fase. 1, Sonderabdruck 8 Seiten, 1934; ders., Le bases historiques de la politique italienne, in: Centre européenne de la dotation Carnegie. Publications de la conciliation internationale, Bulletin Nr. 4, 1934, S. 317-339 [Pariser Vortrag vom 27.1.1934]; ders., Orme italiane nei paesi renani, in: Nuova Antologia, 16. Aprii 1936, S. 458-466. 228 Michels, La sphère historique de Rome, S. 59: „les puissances occidentales', dénomination complessive donnée à la France et à l'Angleterre, devinrent le symbole d'une Europe protectrice de la liberté politique et du principe des nationalités."

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ständnis der Nation als Willensgemeinschaft und die Bereitschaft zur Aufnahme des Fremden in die eigene Gemeinschaft. Das lateinische Europa, das Michels vorschwebt, schließt niemanden wegen seiner ethnischen Abstammung aus. Es steht vielmehr jedem offen, der sich zu seinen Werten und Traditionen bekennt.229 Zu den guten Werten und Dispositionen der „Lateiner" zählt Michels insbesondere den „Geist der moralischen Rebellion gegen jede Unterdrückung und jede Beleidigung der menschlichen Würde". Dieser „rebellische Geist ist an sich heilsam": „als Schutz und Kontrolle gegen den Despotismus, von wo er auch kommen mag."230 An dieser Wertüberzeugung hat Michels interessanterweise auch später festgehalten, in „La Latinité" von 1927 231 Er hat damit zu einer Zeit, als der faschistische Staat die italienische Nation inkorporiert', die Italiener unter die „Lateiner" subsumiert und sie damit als eigenständige und vom Staat unabhängige Träger der Moral gedacht. Die ,Latinité' dementiert, wenn man will, Gentiles stato etico. Mythen sind immer auch ein Optativ,232 eine Vorstellung, was und wie die Nation sein möge. Der Wunschcharakter wird im Fall der ,Latinité' schon unter Berücksichtigung der biographischen Ebene greifbar, da ja der Autor im Krieg seitens der italienischen Adoptivheimat exakt das Gegenteil von Integration und Anerkennung erfahrt. Der offene Willenspatriotismus der lateinischen Nationen existiert für den staatenlosen Fremden nur auf dem Papier. Auch in der Konstruktion der lateinischen Zivilisation als Erbengemeinschaft von Italienern, Franzosen und Rheinländern teilt sich unüberhörbar die Identitätssuche des „Fremden im Kriege" mit: des italophilen Rheinländers mit französischen Wurzeln. Es erscheint daher plausibel, daß Michels mit dem Mythos der „Latinität" auch ein persönliches Problem lösen und die verschiedenen - von vielen argwöhnisch betrachteten - Elemente seiner nationalen Identität zu einem Gesamtkonzept harmonisieren will. Die Arbeit am lateinischen Mythos hat aber über die persönliche Bedeutungsebene hinaus auch politische Implikationen. Michels' mythologische Schriften entfalten das moralische Panorama einer idealen und transnationalen, vor allem: transnationalistischen Gegenwelt. Der Mythos erlaubt es Michels, an politische Werte zu appellieren, die im Kontrast zur schlechten Wirklichkeit stehen, ohne aber dabei die Regierenden direkt in die Ver-

229 Michels, La sphère historique de Rome, S. 64: „En effet, rome assimilait de propos délibéré, accordant hospitalité et droit de cité à quiconque les demandait. Machiavel lui-même a remarqué ce fait historique dans ses discours sur la première decade de Tite Live: Rome est devenue une grande cité parce qu'elle a reçu volontiers les étrangers dans ses murs." 230 Michels, La sphère historique de Rome, S. 63: „[...] une autre qualité essentiellement latine, l'esprit de rébellion morale contre toute oppression et toute offense à la dignité humaine. Cet esprit peur se développer parfois au point de devenir excessif et turbulent [...]. Ce qui n'empêche pas que l'esprit rebelle est en soi salutaire, comme sauvegarde et contrôle contre le dispotisme, d'où qu'il vienne." 231 A.a.O. 232 Vgl. Aleida Assmann, Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee, Frankfurt a.M. 1993, S. 55.

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antwortung zu nehmen oder zur Rechenschaft zu ziehen. Der Adressat ist ein Abstraktum: die lateinischen Völker. Das macht diese Schriften hinsichtlich ihrer politischen Intention sehr ambivalent. Den antidespotischen und antielitären Appell an die demokratisch-freiheitlichen Volkstugenden der „Lateiner" muß man nicht unbedingt als Kritik an den amtierenden Regierungen verstehen. Denn gerade die mythische Verpackung der Aussagen über die freiheitsliebenden und fremdenfreundlichen .Lateiner' transloziert diese in eine impolitische Sphäre jenseits konkreter Orte und Zeitumstände. Damit ist der Mythos der Latinität aber in seinen innenpolitischen Aussagen viel zu vage, um der Freiheit und dem Despotismus ein konkretes Gesicht geben zu können, und verwandelt sich um so mehr in eine Apologie des Bestehenden, als der Autor selbst sich stets loyal zu seiner Regierung verhalten hat. Sowohl in seinen Kriegs-, Nachkriegs- als auch in seinen Faschismusschriften hat sich Michels als treuer Botschafter der italienischen Regierungen von Salandra über Orlando und Nitti bis Mussolini betätigt. Im Weltkrieg hat sich der Mythos der „Latinität" vor allem gegen den „Despotismus" der Zentralmächte, insbesondere des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn, gerichtet und somit im Hinblick auf die italienische Kriegspolitik eine legitimatorische Funktion gehabt. Und in den zwanziger Jahren verbietet sich die Interpretation des lateinischen Antidespotismus als leise Kritik an der faschistischen Diktatur schon mit Blick auf Michels' übrige Schriften. Auf dem Gebiet der Außenpolitik dagegen wird Michels den Mythos der Latinität tatsächlich in einer Weise explizieren, daß er in eine potentielle Konkurrenz zur herrschenden Politik gerät: 1934 wird er die Frage eines Bündnisses zwischen dem faschistischen Italien und dem nationalsozialistischen Deutschland diskutieren und trotz aller von ihm zugegebenen Ähnlichkeit der Systeme einem Bündnis zwischen Italien und Deutschland eine unmißverständliche Absage erteilen. Im Interesse der italienischen Regierung liege es, durch ein lateinisches Bündnis zwischen Italien und Frankreich den Frieden in Europa zu sichern.233 Michels hat allerdings nicht erst das nationalsozialistische Deutschland als fragwürdigen Partner in der Europapolitik gesehen. Er ist auch von Beginn an der Weimarer Demokratie mit Sorge, Skepsis, ja sogar Verachtung begegnet. Auslöser dafür ist der Umgang mit der deutschen Kriegsschuld. In dieser Frage kommt es zu einer bislang in der Michels-Forschung völlig unbekannten ideellen Allianz zwischen Michels, Wilhelm Muehlon, Eduard Bernstein und dem Ministerpräsidenten des Freistaats Bayern: Kurt Eisner. Michels' Selbstwidersprüche der Kriegsjahre sowie seine Propaganda für die italienische Kriegspolitik spielen in diesem Kreise keine Rolle. Hier wird er als moralische Autorität anerkannt, als im kriegskritischen Geiste Verbündeter und Europäer. Die Pressekampagne gegen Michels' italienfreundliche Position im Krieg dürfte hier zugunsten des Angeklagten ausgelegt worden sein, der ja auf der richtigen Seite gestanden hat. Die politischen Verbindungen dieses Intellektuellenkreises gehen, wie unveröffentlichtes Archivmaterial zeigt, bis in die französische und die U.S.-amerikanische Re-

233 Michels, Les bases historiques de la politique italienne, a.a.O. Vgl. Kapitel Χ. 7. Zugang zum Machthaber? - Michels' Scheitern als friedenspolitischer Berater.

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gierung hinein. Eine besondere Rolle spielt dabei ein gewisser George D. Herron, ein Geheimdiplomat und Berater von Präsident Wilson sowie Propagandist der amerikanischen Intervention, den Michels, wie wir jetzt erfahren werden, schon seit einigen Jahren seinen „Bruder" nennt. Alle Beteiligten eint ein tiefes Mißtrauen gegenüber der Mehrheits-SPD, der die moralische Kompetenz zur Führung eines neuen, republikanischen Deutschlands abgesprochen wird. Begründet wird dies historisch mit der Burgfriedenspolitik und gegenwartspolitisch mit ihrer Unfähigkeit, die deutsche Kriegsschuld zu akzeptieren. Ohne diese Akzeptanz aber, so die einhellige Meinung, werde das deutsche Volk nicht aus dem Schatten der Vergangenheit heraustreten können. Für Michels' Entwicklung ist der Kriegsschulddiskurs deshalb so bedeutend, weil er in diesem Kontext erstmals eine erkennbare Präferenz für die Diktatur entwickelt, diese Option aber aus dem Grund verwirft, daß das dafür erforderliche politische Personal in Deutschland nicht existiere.

9. Der Kriegschulddiskurs und die Suche nach einer Elite „neuer Menschen" „Es steht heute fest, daß dieser Krieg von einer kleinen Horde preußisch-wahnsinniger Militärs in Deutschland, die verbündet waren mit Schwerindustriellen und Weltpolitikern, Kapitalisten und Fürsten, gemacht worden ist, und zwar ohne jede politische Voraussicht und jede militärische Einsicht. Das Rätsel dieses Weltkrieges löst sich, wenn man die Seele und die Gehirne unserer leitenden deutschen Militärs kennt." (Kurt Eisner)234 „Sein Tod wird den Bürgerkrieg in Deutschland verbittern und bei den nichtdeutschen Völkern das Bewußtsein vertiefen, daß das neue Deutschland keine neuen Menschen vertragen kann und dort die Mächte der Dunkelheit fortfahren, das politische Leben zu beherrschen. Deutschland wird [...] die Ermordung Eisners bei den Friedensbedingungen zu begleichen haben." (Robert Michels)235

Robert Michels hat sich während des Krieges mit Schuldvorwürfen gegenüber Deutschland auffällig zurückgehalten. Vor allem in den ersten Kriegsmonaten hat er allenfalls in der privaten Korrespondenz angedeutet, die Sache der Entente für die gerechtere zu

234 Ansprache von Kurt Eisner auf der Internationalen Arbeiter- und Sozialistenkonferenz in Bern, Februar 1919, zit. n. L. Wieland, Kurt Eisner, in: Hermes Handlexikon: Die Friedensbewegung. Organisierter Pazifismus in Deutschland, Österreich und in der Schweiz, hg. v. Helmut Donat und Karl Holl, Düsseldorf 1983, S. 100-101. 235 Michels, Kurt Eisner, erstmals in: Basler Nachrichten, 1. Beilage zu Nr. 91 (1919); sowie in: Nuova Antologia, 16. September 1919; zit.η. der leicht überarbeiteten deutschen Fassung in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, Bd. XIV, Heft 3, 1929, S. 364-391.

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halten. Nach der italienischen Intervention ist er dann immerhin so weit gegangen, in einem Brief an Hamon zu bekennen, daß Richard Greilings Buch ,,J'accuse" auch von ihm stammen könne. Ansonsten hat er es aber an der publizistischen Front vermieden, das Deutsche Reich als Hauptverantwortlichen fiir den Krieg darzustellen oder gar den Krieg als einen Prinzipienkampf zwischen der ,westlichen Zivilisation' und den ,deutschen Militarismus' zu legitimieren, wie das gerade viele seiner Freunde getan haben. Auffallig ist auch, daß er sich gleich nach der italienischen Intervention zu erklären beeilt, daß der Irredentismus als Kriegsmotiv der Italiener sich eigentlich nur gegen die Habsburger-Monarchie richte, einem späteren Bündnis mit Deutschland aber nicht im Wege stehe. Michels' zunächst unverkennbares Bemühen um ein diplomatisches Vorgehen, höchstwahrscheinlich aus Rücksicht auf die Familienangehörigen in Deutschland, ist gleichwohl zwischen Mai und Juli 1915 infolge seiner Erklärung der ,Italianität' sowie seiner anonymen Rechtfertigung des italienischen Kriegseintritts in der Schweizer Presse gescheitert. Bei aller Differenzierung und Zurückhaltung auch im Ton, die seine Aufsätze von der Kulturkriegsrhetorik anderer Intellektueller unterscheiden, hat seine proitalienische und in erster Linie gegen Habsburg und eben nicht gegen Deutschland gerichtete Kriegspublizistik wohl nie eine realistische Chance gehabt, in Deutschland auf Verständnis zu stoßen. Wie sehr sich Michels aber tatsächlich in seinem öffentlichen Auftreten Zurückhaltung und Rücksichtnahme auferlegt haben muß, das bezeugt ein Eintrag in seinem Kriegstagebuch, der über seine offiziellen deutschkritischen Töne weit hinausgeht. Es handelt sich um eine Reflexion mit dem unmißverständlichen Titel: „Warum gegen Deutschland" - ohne Fragezeichen. Es folgen die Motive, mit denen Michels vor sich selbst den Krieg, und zwar nicht etwa gegen Österreich-Ungarn, sondern gegen Deutschland gerechtfertigt hat: „1) weil es schon seit 1870 (oder 1756?) seine Grenzen überschritten hat. 2) weil es nicht assimilieren kann, und folglich unfähig ist, ,der Welt das Licht ihrer Zivilität zu bringen'. 3) weil die Junker wirklich die rückständigste Kaste Europas sind. Die Prussifizierung Deutschlands 4) weil es vor allem eine Clique deutscher Intriganten ist, die den Krieg gewollt hat. 5) weil der Sieg Deutschlands gefährlicher für die Freiheit Europas ist als jener der weniger kompakten und uneinigeren Entente."236 236 Robert Michels, [Bric-à-Brac], ARMFE, S. 43: perché contro la Germania 1) perché ha già traverso I suoi confini fin dal 1870 (o 1756?) 2) perché non sa assimilare, e quindi incapace a ,portare al mondo il lume della sua civiltà' 3) perché I junker sono proprio la casta più retrograda dell'Europa. La prussificazione della Germania 4) perché è innanzitutto una cricca tedesca che ha voluto la guerra 5) perché la vittoria tedesca è più pericolosa per la libertà dell'Europa che quella dell'Intesa, meno compatta e più disunita."

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Diese allein dem Tagebuch anvertrauten intimen Gedanken verdeutlichen, daß Robert Michels seinem alten Deutschlandbild doch treuer geblieben ist, als das manche relativistisch-resignative öffentliche Äußerung unmittelbar nach Kriegsausbruch nahelegt. Es ist das Deutschlandbild vom linksliberalen Standpunkt früherer Tage: ein imperialer Staat mit soziomoralisch (Prussifizierung) wie soziostrukturell (Junker) verhängnisvoller Entwicklung, der die Zivilität und den Frieden in Europa gefährdet - und dessen Oligarchie die Hauptverantwortung für den Krieg hat. So wie hier der Krieg gegen gegen Deutschland als ein legitimer begründet wird, muß Michels zwangsläufig auch die Niederlage Deutschlands als ein Fortschritt, zumindest als der Wegfall eines gewaltigen Hemmschuhs in der europäischen Entwicklung erschienen sein. Tatsächlich hat Michels das Ende des Krieges in eben diesem Sinne gewürdigt: „Vorbei sind die Zeiten, in denen jedwede berechtigten Wünsche eines Volkes nach Anerkennung seines nationalen Bestandes mit Sicherheit darauf rechnen konnten, auf den entschlossenen machtpolitischen Widerstand des deutschen Kaiserreiches zu stoßen [...], vorbei die Zeiten, in denen Wilhelm II. erklärte, daß es in der ganzen Welt keine Frage geben dürfe, in die er nicht mithineinzureden das Recht habe. Deutschland hat sich den Ansprüchen des Wilsonschen Nationalitätenprinzips demokratischer Observanz fugen müssen [.. .]." 237 Nur „zwei Gefahren, die sich in die Entwicklung einzuschleichen vermöchten", dürften jetzt nicht übersehen werden: „die menschlich verständliche, aber politisch törichte und sittlich anfechtbare Hybris derer unter den Völkern, die die Ketten brachen, sowie, mehr noch, die des Überschlagens des gewaltigen nationalen Freiheitsrausches in sozialen Bolschewismus." 238 Diese Analyse des Gewinns wie auch der Gefahren, die das Kriegsende für Europa gebracht hat, lädt zu einer kurzen Skizze von Michels politischem Profil um 1919/20 ein. Diese Skizze wird um so interessanter, wenn wir für einen Moment annehmen, Michels wäre wie seinem Freund Max Weber in dieser Zeit etwas Menschliches passiert und seine unmittelbaren Nachkriegsschriften wären gewissermaßen sein Vermächtnis. Dann würde man Michels problemlos dem politischen Liberalismus mit sozialpolitischer Orientierung zuordnen können. Michels interpretiert das Kriegsende - sicherlich sehr vorschnell - nicht nur als Sieg Wilsonscher Prinzipien. Er macht sich auch dessen Forderung nach Einrichtung eines Völkerbundes 239 zu eigen und propagiert den Wegfall aller Zollschranken und die Etablierung des Freihandels aus friedens- wie wirtschaftspolitischen Erwägungen: der Freihandel, so Michels, werde gerade aufgrund der neuen Grenzziehungen nach dem Kriege unverzichtbar, um auch den grenzpolitischen Verlierern Zugänge zu den Verkehrsknotenpunkten und Märkten der Welt zu ermöglichen;

237 Michels, Die Pflicht des Umlernens, in: Neue Schweizer Zeitung, Nr. 14, 11.2.1919. 238 Michels, Pflicht des Umlernens, a.a.O. 239 Michels, Konklusionen zum Berner Völkerbundskongreß, in: Basler Nachrichten, 18.3.1919.

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dagegen würde die zollpolitische Abschließung das Entstehen von gewerblichen und agrarischen Zweigen über die „Staatshilfe" befördern und damit zu Industriesektoren führen, die „treibhauspflanzenartig von der Staatssonne aufgezogen worden sind, ohne je Aussicht auf wirtschaftliche Selbständigkeit beanspruchen zu können, und die deshalb ruhig und ohne Schaden für die Volkswirtschaft durch den Freihandel zugrunde gehen könnten."240 Diese wirtschaftsliberalen Töne ergänzen seine Gefahrenanalyse, wonach nicht nur die „Hybris" der befreiten Völker Frieden und Freiheit in Europa bedrohen, sondern auch der „Bolschewismus". Die dezidierte Absage an den Import der bolschewistischen Revolution durch die radikale Linke bedeutet aber nicht, daß für Michels die soziale Frage nicht mehr aktuell wäre. Im Gegenteil: Michels mag zwar für die sozialistischen Parteien nichts mehr über haben, aber er sympathisiert mit den neuen sozialen Bewegungen der Nachkriegszeit. So besucht er Foren wie die „Internationale Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz" und unterstützt deren Kampf um internationale Schutznormen;241 er wirbt für die Anliegen des „8. Internationalen Frauenstimmrechtskongresses" in Genf, der Michels zufolge auch nach dem Siegeszug des Frauenwahlrechtes infolge des Weltkrieges noch zahlreiche Aufgaben im Zivilrecht wie im Arbeitsrecht vor sich habe;242 und er besucht den Brüsseler Kongress der „Negerbewegung", deren Ziele er den Schweizer Lesern mit großer Sympathie darlegt: sie sei „unaufhaltsam wie alle großen Bewegungen Geschädigter und Gequälter". Wenn die Europäer das Selbstbestimmungsrecht wirklich ernst nehmen, werden sie es auch den Schwarzen nicht verwehren können.243 Michels bewegt sich damit sozialpolitisch auf den drei Feldern, die er lange vor dem Krieg bereits als die drei gleichberechtigten Kernproblemzonen der „sozialen Frage" definiert hatte: Arbeiterbewegung, Frauenrechtsbewegung und nationale Autonomiebewegung. Auffallig ist dabei sein pragmatischer Sozialreformismus, der die Interessen der sozialen Bewegungen mit den Erfordernissen der wirtschaftlichen Rentabilität und Produktivität zu vermitteln sucht. Aus diesem Grunde wird er ,klassenkämpferische' Maßnahmen wie die Betriebsbesetzungen durch die radikale italienische Arbeiterschaft im September 1920 ablehnen.244 Wäre Michels 1919 noch Deutscher und in Deutschland politisch ambitioniert gewesen, hätte er gleichwohl im sozialliberalen Spektrum der Weimarer Koalition keinen

240 Michels, Konklusionen zum Berner Völkerbundskongreß (Schluß), in: Basler Nachrichten, 21.3. 1919. 241 Vgl. seinen Bericht: Michels, Die internationale Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz, in: Nationalzeitung, Nr. 318, 9. Juli 1920; ders., L'associazione internationale per la tutela dei lavoratori e la Lega delle Nazioni, in: Supplemento Economico del Giornale II ,Tempo', Nr. 16, 20.8.1920. 242 Michels, Der Frauenstimmrechtskongress in Genf, in: Nationalzeitung, Nr. 253, 2. Juni 1920; ders., Zur Frauenfrage und zum Frauenwahlrecht in Italien, in: Basler Nachrichten, 5./16. Juni 1920. 243 Michels, Neger aller Länder, vereinigt Euch!, in: National-Zeitung, Nr. 440, 20.9.1921. 244 Dazu mehr in Kapitel X. Michels und der italienische Faschismus.

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Anschluß gefunden. Höchstwahrscheinlich ist, daß er mit der USPD sympathisiert hätte; weniger aus Sozialrevolutionären Motiven, sondern aus dem vorrangigen Grund, daß sich dort die Gegner der Kriegskredite von einst versammelt hatten und die Anerkennung der deutschen Kriegsschuld keine Schande, sondern ein moralisches Postulat war, ja als Voraussetzung für die moralische Renaissance der deutschen Nation erschien. Michels' geistige Verwandtschaft mit dem linksliberalen, pazifistischen Kriegsschulddiskurs ist in seiner deutschlandpolitischen Berichterstattung in der Schweizer Presse mit Händen zu greifen, wenn er bedauernd feststellt, „daß es in Deutschland eine, nur leider zu kleine, Gruppe gegeben hat, die von der sie umgebenden Psychose unabhängig, mutig gegen ihre Umgebung zu Felde gezogen ist." Die erstrangige und, wie wir sehen werden, noch über der Frage nach der politischen Ordnung stehende Sorge ist für Michels vor diesem Hintergrund, ob im Sinne einer ,wahren' geistig-moralischen Revolution diese „Leute absoluter bona fides" das Sagen haben werden oder ob sich die „Besorgnisse des Weiterherrschens des alten Geistes" in Deutschland bestätigen werden. Exemplarisch für diesen „alten Geist" ist für Michels der sozialdemokratische Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Eduard David, exemplarisch vor allem für eine Verweigerungshaltung gegenüber dem moralischen Postulat, das Michels dem Nachkriegsdeutschland ins Stammbuch schreibt: „nur die Einsicht in das historische Geschehen und das Grauen vor der begangenen Schuld" vermögen die Bedingungen zu schaffen, „ohne die jede spätere Vereinigung der Völker und Vermeidung der Kriege aussichtslos erscheint: die sachliche Erkenntnis und die menschliche Reue".245 In anderen Worten: Deutschlands Mitgliedschaft im Völkerbund, die Michels grundsätzlich bejaht, ist praktisch von der Beantwortung der „Schuldfrage" abhängig. Und in diesem Punkt hat er offensichtlich Zweifel „bei einem immer noch, wie das nach so großer und böser Nervenerschütterung und bei so ausgezeichnet organisiert gewesener offizieller Lüge kaum anders erwartet werden konnte, gewaltig erregten Volke, in dem die Mächte, die den Krieg gewollt und geführt, noch keineswegs völlig vom politischen Schauplatz abgetreten sind, ja in dem jene Mächte vielleicht zur Bekämpfung des Bolschewismus manchem, selbst bei den Kurzsichtigen in der Entente, noch politisch nützlich erscheinen".246 Zu diesen „Mächten" zählt für Michels die SPD als Organisation der „deutschen Sozialpatrioten,247 welche unter Führung von Scheidemann und anderen in der offenkun-

245 Das von Michels' angemahnte moralische Schuldeingeständnis hätte der juristischen Aufarbeitung der deutschen Kriegsverbrechen vorausgehen müssen. Vgl. zur strafrechtlichen Seite: Gerd Hankel, Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2003, dessen Fazit zu den Möglichkeiten der strafrechtlichen Verfolgung von Kriegsverbrechen lautet: „Entweder gibt es in dem betreffenden Staat einen Regimewechsel, deutlich genug, damit sich die neue Regierung an die juristische Aufarbeitung der Verbrechen ihrer Vorgänger machen kann, oder eine internationale Strafgerichtsbarkeit wird aktiv [...]", was bislang aber nur von mäßigem Erfolg gewesen ist. 246 Michels, Konklusionen zum Berner Völkerbundskongreß, in: Basler Nachrichten, 18. Marz 1919. 247 Sozialpatriotismus ist bei Michels normalerweise positiv konnotiert, in diesem Fall steht der Begriff fur einen prinzipienlosen politischen Opportunismus, den Michels in derselben Begrifflich-

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digsten Weise die Kriegspolitik Wilhelms des zweiten und seiner Regierung mitgemacht haben und nun vor der Geschichte die ganze Last der Verantwortung mitzutragen haben." Michels' abgrundtiefes Mißtrauen gegenüber der SPD äußert sich in seiner Deutung der sozialdemokratischen Verzichtserklärung auf Elsaß-Lothringen auf dem Kongress der Zweiten Arbeiterinternationale von 1920: weniger aus aufrichtiger Überzeugung resultiere diese Entscheidung als vielmehr aus der taktischen Zielsetzung, „um die peinliche, von den Franzosen lebhaft gewünschte Schulderklärung am Kriege herum zu kommen, ohne doch gleichzeitig sich dem Geruch auszusetzen, auch in der Zukunft imperialistische Politik treiben zu wollen."248 Die Feindbilder - David, Scheidemann, SPD - sowie der propagierte moralische Hebel - Schuldeingeständnis und Reue - zu einer moralischen Wende in der deutschen Nationalgeschichte lassen sich nicht nur spezifisch aus Michels' politischer Biographie erklären, sie indizieren auch seine Teilhabe an jenem Kriegsschulddiskurs, den nach dem Kriege eine bunte Schar von USPD-Politikern und Schweizer Exilanten vorantreibt, unter den letzteren namentlich Friedrich Wilhelm Foerster und Wilhelm Muehlon. Dieser Kriegsschulddiskurs attestiert den Vertretern der Weimarer Koalition genau das Gegenteil dessen, was ihr von der politischen Rechten mit der Agitation gegen das Versailler „Schanddiktat" vorgeworfen wird: nicht etwa die deutsche Nation mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrages verraten zu haben, sondern sie in ihren Lebenslügen weiterhin zu bestärken, weil das klare Bekenntnis zur eigenen Verantwortung für den Weltkrieg ausgeblieben sei. Die Befürworter der Kriegsschuldthese fordern stattdessen eine reeducation des deutschen Volkes, in Michels' Worten: „die Deutschen nach 1919 [werden] ihre Geschichte völlig umzulernen haben. Wie einst der Sigambrer werden sie [...] zu verbrennen haben, was sie einst anbeteten, und anzubeten, was sie einst verbrannten."249 Wir werden noch sehen, daß der positive Kriegsschulddiskurs mit seinem Insistieren auf die deutsche Bringschuld der Verantwortungsübernahme und des selbstkritischen Umlernens keineswegs die Verhandlungsführung der Entente in Versailles gut geheißen hat. Das Versailler Vertragswerk wird auch in diesem Spektrum von vielen als ein gravierendes Hindernis der anvisierten Völkerversöhnung angesehen, gerade im Hinblick auf die Deutschland betreffenden Regelungen. Von Robert Michels dagegen ist eine kritische Stellungnahme zum Versailler Vertrag nicht bekannt. Weder problematisiert er - sei es aus Sicht des Nationalitätenprinzips oder der „Vierzehn Punkte" des amerikanischen Präsidenten Wilson - die Deutschland auferlegten Gebietsabtretungen von über 70.000 km2 mit einem Bevölkerungsverlust von über 7 Millionen Menschen noch irritieren ihn die kategorische Schuldzuweisung des Artikels 231 und die damit im Versailler Vertragswerk begründeten Reparationszahlungen im Hinblick auf das doch auch von ihm emphatisch beschworene europäische keit schon früher (1908) der SPD vorgeworfen hat. Vgl. Michels, Le patriotisme des socialistes allemands et le congrès d'Essen, a.a.O. 248 Michels, Der Verzicht der deutschen Sozialdemokraten auf Elsaß-Lothringen, in: National-Zeitung, Separatabdruck ohne Datum, 1920. 249 Michels, Die Pflicht des Umlernens, a.a.O.

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Versöhnungsprojekt. Stattdessen schreibt Michels im Anschluß an die Unterzeichung des Vertrages am 28. Juni 1919 historische Beiträge über die Schuld Deutschlands und Österreich-Ungarns am Krieg 2 5 0 und rechnet mit dem kaisertreuen Beamtentum und einem nach Kriegsprofiten gierenden Bürgertum in Deutschland ab. 251 D i e provozierende Besetzung des Rheinlandes wird v o n ihm allein als Ende der Prussifizierung erlebt und als Beginn einer historischen Mission der Rheinländer: als zukünftige Brücke zwischen Deutschland und Frankreich zu fungieren. 2 5 2 Es ist vor diesem Hintergrund sehr wahrscheinlich, daß Michels nicht nur die Präm i s s e n des positiven Kriegsschulddiskurses geteilt hat, sondern auch die sich im Versailler Vertrag niederschlagende extreme Konsequenz der Kriegsschuldprämisse als akzeptabel und angemessen empfunden hat. Michels' persönliche, sachliche w i e emotionale Teilhabe an diesem Diskurszusammenhang findet allerdings in den gedruckten Quellen ihren prägnantesten Ausdruck in seinem bitteren Nekrolog auf die Ermordung eines Mannes, dem er sich in jenen Tagen biographisch, politisch und moralisch offensichtlich sehr verwandt gefühlt hat: Kurt Eisner. 253

250 251 252 253

Michels, L'Alibi dell'Imperatore Guglielmo, in: L'Azione, 28.7.1919. Michels, Vecchia Germania. Il funzionarismo e la borghesia, in: L'Azione, 17.7.1919. Michels, La questione renana, in: L'Azione, 19.8.1919. Michels, Kurt Eisner, a.a.O. Tatsächlich erscheint in der Michelsschen Rekonstruktion Eisners Leben in mehr als einer Hinsicht wie ein geistig-moralisches Paralleluniversum zur Vita des deutsch-italienischen Soziologen: Studium in Marburg, Rezeption des Neukantianismus bei Hermann Cohen; dann im Kontext der sozialdemokratischen Ideologiedebatte der Mut zum Eklektizismus: die Rehabilitierung der Ethik als Faktor des sozialen Wandels und die Kritik am „unfruchtbaren Verbalrevolutionarismus" sowie an der „dogmatischen Erstarrung" der „marxistischen Epigonen"; in Bezug auf die wilhelminische Gesellschaft die Kritik des Junkertums und eine Grundhaltung, die Michels auf die Begriffe „antidynastisch", „antimilitärisch" und „anti-preußisch" bringt; dann die Marokko-Krise, infolge derer Eisner - wie Michels - den unvermeidlich kommenden Krieg zwischen Deutschland und Frankreich prognostiziert; schließlich der Krieg, in dem sich Eisner auf die Seite der Entente stellt. Im Unterschied zu Michels hat Eisner sein politisches Engagement allerdings mit dem Gefängnis bezahlt: vor dem Krieg wurde er zu einem neunmonatigen Freiheitsentzug wegen Majestätsbeleidigung verurteilt, während des Krieges saß er vom 31. Januar 1918 bis zum 14. Oktober in Untersuchungshaft, weil er einen Munitionsarbeiterstreik geplant hatte, um so das Reich zum Frieden zu zwingen. Dennoch kann für beide, wenn auch mit unterschiedlicher Konsequenz und Intensität, der Satz Geltung beanspruchen, mit dem Michels das einmal eingegangene Verhältnis mit der Politik als ein unentrinnbares Schicksal festhält, welches die Führung eines ruhigen, von Politik distanzierten Lebens unmöglich mache: „[...] die Politik ist eine Göttin (eine grausame), die jedwedem, der einmal an ihrem Altare geopfert, eine ewige Sehnsucht nach ihr einflößt, welche keine Trennung mehr kennt" (Michels, Eisner, a.a.O., S. 371). Der Unterschied besteht darin, daß Michels seine politischen Interessen und Ideale nach seinem Engagement in der SPD nur noch publizistisch verfolgt hat, Eisner dagegen in der Revolution zum bayrischen Ministerpräsidenten wird.

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9.1. Moralpädagogische Kompetenz ohne Gefolgschaft: Kurt Eisner Der Journalist und sozialistische Politiker Eisner avanciert in der Novemberrevolution von 1918 zum Mitbegründer der Münchner Räterepublik und zum bayrischen Ministerpräsidenten. In der Nacht zum 8. November 1918 organisiert Eisner „mit einer Handvoll Getreuer in München jene seltsame, abenteuerliche Revolution, von der man sagen kann, daß die historische Wahrheit oft viel an Wahrscheinlichkeit zu wünschen übrig läßt, die aber hinreichte, die alte und im Volke beliebte Wittelsbacher Monarchie über den Haufen zu werfen, in Bayern die Republik zu erklären und den Auftakt zum baldigen Ende der Hohenzollern in Preußen zu geben."254 Michels' Analyse zufolge ist die bayrische Räterepublik unter Eisners Führung von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen, weil ihr eine breite Machtbasis in der Gesellschaft fehlte und Eisner eigentlich nur bei den „Bolschewisten" in den Arbeiterund Soldatenräten Rückhalt fand. „Daß Eisner, der den Bolschewismus theoretisch und praktisch in seinem Wesen erkannt hatte, wie kaum einer, sich in gewisser Weise doch extremen Elementen anvertrauen mußte, war sein Verhängnis. Dieses Bündnis war in einem Staatswesen absolut bäuerlicher und kleinbäuerlicher Präponderanz natürlich politisch doppelt ungenügend und gefährlich. [...] Er stand nunmehr an der Spitze eines Volksstaates, dem nur noch eine Minderheit zugetan war; eine Minderheit überdies, welche in Wirtschaftsfragen andere Ansichten hegte als ihr Oberhaupt."255 Darüberhinaus unterstreicht Michels, daß Eisner von „mährischer Abstammung, von Berliner Geburt, von jüdischer Rasse, von norddeutscher Mundart" und damit in Bayern „ein Fremder" war.256 Die Vergeblichkeit des Unternehmens ist Michels somit klar gewesen und dennoch hat er in Eisner offensichtlich einen Heilsbringer gesehen, einen „wahren und echten Humanisten", einen „Wegweiser der Zukunft", ja, den Protagonisten einer „Revolution der Geister". Wenn man so will: einen politischen Führer mit charismatisch-volkspädagogischer Zielsetzung, aber ohne ausreichende Gefolgschaft. Das unter diesen Bedingungen zwangsläufige Scheitern der von Eisner verkörperten geistigen Revolution hat Michels zufolge Deutschland sehr geschadet: „Deutschland, das geschlagene, von der Welt getrennte und verfluchte Deutschland brauchte [...] einen Mann, der wie Eisner bereit war, die Verantwortung der Fürsten und der Massen seines Volkes am Kriege zuzugeben. [...] Eisner wußte, was der großen Mehrheit der Deutschen verschlossen war, daß der Friede der Welt mehr noch als eine rein äußerliche Applikation Wilsonscher Prinzipien eine innerliche Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich und eine Verständigung der Seelen zur Voraussetzung haben mußte. Und daraufhin war sein Streben gerichtet. Nicht neuer Firniß, sondern innere Erneuerung, Regeneration."257 254 255 256 257

Michels, Michels, Michels, Michels,

Eisner, Eisner, Eisner, Eisner,

S. S. S. S.

373. 388. 386. 382-383.

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Die in diesen Zeilen artikulierte Hoffnung auf einen Politiker neuen Typs und auf einen wirklichen Neuanfang ist ein Schlüssel zu den hohen moralischen Ansprüchen des positiven Kriegsschulddiskurses. 258 In dessen Perspektive hatte es nämlich einen Neuanfang weder personell noch moralisch gegeben. Dafür wurden weniger die offen reaktionären und republikfeindlichen Kräfte auf der alten und neuen Rechten verantwortlich gemacht. Stein des Anstoßes waren vielmehr die „Mehrheitssozialisten, die das alte Regime mitgetragen hatten". Diese müßten, referiert Michels Eisners Motive, „politisch gesprochen, über die Klinge springen [...], bevor das Neue sich in Deutschland Bahn brechen könne". Als Skandalon wurde namentlich das Wirken von Politikern wie Philipp Scheidemann und Eduard David gewertet, die sich seit der Revolution in Regierungsverantwortung befanden, „trotzdem sie doch die Kriegspolitik von Anfang bis Ende mitgemacht hatten". Beide seien dadurch „politisch zu unwiderruflich kompromittiert, um mit Würde und Erfolg die Friedensverhandlungen leiten zu können". 259 Offensichtlich erhofften sich die Befürworter der Kriegsschuldthese - zu denen wir jetzt schon Michels zählen können - nicht nur die moralische Regeneration der deutschen Nation aus dem Medium der Wahrheitssuche und Schuldakzeptanz. Sie waren auch der festen Überzeugung, daß den Interessen der Deutschen damit bei den Versailler Friedensverhandlungen größerer „Erfolg" beschieden gewesen wäre und die Friedensbedingungen weniger hart gewesen wären. Diese kontrafaktische Geschichtshypothese läßt sich freilich nicht überprüfen, da die deutsche Delegation eine Anerkennung der deutschen Kriegsschuld kategorisch abgelehnt hat und damit auch einer Empfehlung des sie begleitenden Sachverständigenrates gefolgt ist. Diese Strategie hat freilich nicht verhindern können, daß die deutsche Seite später mit dem Versailler Friedensvertrag widerwillig auch dessen Kriegsschuldparagraphen 231 unterzeichnen mußte. Wenn man so will, ist die Prognose des positiven Kriegsschulddiskurses damit zumindest indirekt bestätigt worden: die Leugnung der Verantwortung während der Verhandlungen hatte im Ergebnis den vielzitierten „Schmachfrieden" zur Folge. Ob ein alternatives Vorgehen bessere Ergebnisse gezeitigt hätte, kann man daraus indes nicht schließen. Zu den Mitgliedern des Sachverständigenrates der deutschen Delegation zählte auch Eduard Bernstein, der im Gegensatz zur Ratsmehrheit energisch für die alternative Verhandlungsführung auf der Basis der offensiven Anerkennung der eigenen Verantwortung geworben hatte, weil er „aus seiner Kenntnis der ,Mentalität der Völker' ein anderes taktisches Vorgehen für zweckmäßig halte": „Diese Tatsache", so Bernstein, „nehmen wir nicht einmal das Wort ,Schuld', sagen wir ,Verantwortung' - bestreiten kann sie niemand, und je mehr wir uns auf den Standpunkt dessen stellen und das anerkennen, was wir den Völkern und Staatsmännern drüben nicht ausreden werden, um so eher werden wir sie zu Konzessionen bereit finden, um so mehr zeigen wir, zeigt das neue 258 Mit positivem Kriegsschulddiskurs ist die Bejahung der deutschen Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges gemeint - in Abgrenzung vom negativen Kriegsschulddiskurs, der diese Schuld bestritten hat, etwa mit dem Argument, die deutsche Kriegsfiihrung sei legitime Selbstverteidigung gewesen. 259 Michels, Eisner, S. 384.

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Deutschland, daß man mit dem alten gebrochen hat."260 Bernstein hatte damit eine Taktik empfohlen, die auf der Linie von Michels' und Eisners Überlegungen lag. Durchsetzungsfähig war sie nicht und das lag unter anderem am massiven Widerstand von Max Weber.261 Weber war mit der deutschen Verhandlungsführung in Versailles nicht minder unzufrieden, aber aus entgegengesetzten Gründen. Für Weber war das Auftreten der deutschen Delegation bereits an Selbstdemütigung zu viel gewesen. Und die Verhandlungsergebnisse empfand Weber derart verletzend, daß er gegen die Abtretung deutscher Gebiete in Polen und Tschechien eine „deutsche Irredenta" mobilisieren wollte. Gegenüber Webers ,Irredentismus' ist übrigens der Michelssche nur humanistische Phrase gewesen, präzisiert Weber doch jetzt unmißverständlich: „Irredenta heißt: Nationalismus mit revolutionären Gewaltmitteln".262 Wolfgang J. Mommsen hat Webers heftige Reaktionen auf Versailles nicht nur als ein „ A u f f l a m m e n verzweifelten nationalen Heldenmutes" bewertet, er hat auch die politische Dysfunktionalität seiner vor allem vor Studenten vorgetragenen Forderungen bemerkt: die „gewaltsame Ausübung des Selbstbestimmungsrechts" hätte die Friedensbedingungen nicht gemildert, sondern hätte „nur zu noch stärkeren Repressalien gegenüber dem Reiche geführt". Webers Idee vom deutschen nationalen Partisanenkrieg wäre bloß auf eine „heroische, gesinnungspolitische Konfession nationalistischen Empfindens" hinausgelaufen, „welches rigoristisch vor dem Äußersten nicht zurückschreckt und das Standgericht nicht scheut", aber garantiert nicht die erhoffte politische Wirkung gehabt hätte - kurzum: „ein nationalistisches Pendant zum syndikalistischen Denken".263 Von der Aussichtslosigkeit eines irredentistischen Partisanenkrieges in der nach vier Jahren Krieg und dem Zusammenbruch müden und erschöpften deutschen Gesellschaft einmal abgesehen, konnte Webers leidenschaftliche Ablehnung des „Schmachfriedens" allerdings auf die große Zustimmung der „ganzen deutschen Öffentlichkeit" zählen.264 Die Versöhnungspolitik der USPD dagegen war sicherlich nicht mehrheitsfahig. Das hat Eduard Bernstein nicht nur im Sachverständigenrat erfahren, in dem er völlig isoliert war, sondern auch als außenpolitischer Referent auf dem MSPD-Parteitag im Juni 1919, wo er seine „moralische Hinrichtung" (H. A. Winkler)265 erleben mußte. Bernstein hatte dort erklärt, daß es ihm nicht um generelle Schuldzuweisungen gehe, sondern um den politischen und moralischen Neuanfang im Sinne einer klaren Distan-

260 Bernstein zit. n. Teresa Löwe, Der Politiker Eduard Bernstein. Eine Untersuchung zu seinem politischen Wirken in der Frühphase der Weimarer Republik ( 1 9 1 8 - 1 9 2 4 ) , (= Gesprächskreis Geschichte, Heft 40), Bonn 2000, S. 31-32. 261 Teresa Löwe, Der Politiker Eduard Bernstein, a.a.O., S. 33f. 262 Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890 - 1920, 2. Aufl., Tübingen 1974, S. 335. 263 W. J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, a.a.O., S. 338. 264 Mommsen, Weber und die deutsche Politik, S. 343. 265 Heinrich A. Winkler, Eduard Bernstein als Kritiker der Weimarer Sozialdemokratie, in: L'Internazionale Operaia e Socialistica tra le due guerre, a cura di Enzo Collotti, Annali 23 (1983/84); Mailand 1985, S. 1003-1027, S. 1021.

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zierung von denjenigen, „die das deutsche Volk damals belogen und betrogen haben". Eine sachliche Diskussion fand nicht statt. Bernstein sah sich persönlich diffamierenden und wütenden Angriffen ausgesetzt, von denen hier nur der eines Leipziger Delegierten zitiert sei, der Bernstein mit Kurt Eisner verglich, auf dessen Grab geschrieben werden müsse: „Er litt arg am Wahrheitsfimmel".266 Derartige Äußerungen haben Robert Michels in seiner Überzeugung von der moralischen Korruption der Mehrheits-SPD nicht nur weiter verhärtet, sie provozieren auch eine geradezu fundamentalistische Reaktion: im Kontext von 1919 agiert er nicht mehr als Kritiker, sondern als Gegner seiner ehemaligen Partei und geht auch zu der von ihr vertretenen Staatsform auf Distanz. Sein moralischer Rigorismus in der Kriegsschulddebatte wird dabei durch seine persönliche Betroffenheit im Fall Eisner noch erheblich gesteigert. Denn keine fünf Monate vor dem MSPD-Parteitag war Eisner noch Gast in Michels' Basler Haus gewesen - nur wenige Tage vor seiner Ermordung am 21.2.1919 durch den beurlaubten Leutnant und Jura-Studenten Anton Graf Arco auf Valley. Zu diesem Zeitpunkt war Eisner heftigen Polemiken ausgesetzt, u. a. weil er amtliche Dokumente aus dem Archiv des bayrischen Außenministeriums veröffentlicht hatte, um die deutsche Verantwortung für den Krieg zu dokumentieren. Dieser Mut zur schonungslosen Konfrontation mit der Vergangenheit, der innerhalb der MSPD als „Wahrheitsfimmel" verspottet wurde, hatte ihm insbesondere den Haß nationalkonservativer Kreise und kaum verhüllte Morddrohungen in antisemitischen Flugblättern eingebracht. Eine Solidarisierung seitens der MSPD angesichts der rechtsradikalen und nationalkonservativen Mobilmachung in diesem Zusammenhang war ausgeblieben, obwohl der bayrische SPD-Führer Erhard Auer immerhin an Eisners Kabinettstisch saß. Michels selbst ist mit der lebensbedrohlichen Lage Eisners unmittelbar konfrontiert worden, als ihn während Eisners Besuch in Basel ständig anonyme Anrufer nach dem genauen Terminplan von „seiner Exzellenz" fragten, die auch auf Michels' Nachfrage ihre Identität beharrlich verschwiegen hätten: „Daß man Eisner tatsächlich nach dem Leben trachtete", resümiert Michels, „war auch mir schon lange klar. Ich kannte den Berserkerhaß aller jener unter den Deutschen, die da meinten, ein offenes Zugeben des deutschen Unrechtes am Weltkrieg sei eine nationale Schmach, gegen einen Mann, der seine Politik der Versöhnung mit den Gegnern Deutschlands eben gerade auf dieser Grundlage aufzubauen gedachte."267 Michels' persönliche Betroffenheit, ja unverhohlene Verbitterung und Wut, drückt sich besonders deutlich wenige Tage später in seiner unmittelbaren Reaktion auf das Attentat des Grafen Arco aus, als er den Tod Eisners und seine geistig-politischen Umstände als eine unheilvolle Weichenstellung auf dem weiteren Weg der deutschen Nation deutet und prophezeit, daß Deutschland für diese Tat zahlen werde: „Kurt Eisner liegt heute, ein Opfer schrecklichen Parteihasses und einer falschen Auffassung vom nationalen Gedanken, am Boden. Die Geschichte dieses Welt-

266 Teresa Löwe, Der Politiker Bernstein, a.a.O., S. 50. 267 Michels, Eisner, S. 380.

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krieges, den mitzuerleben das Herz so manchen naiven Romantikers schwellen gemacht hat, ist um eine Untat reicher. Die Welt ist um einen Aufrechten, einen selbständig Denkenden, an denen in diesen Zeiten der Massenpsychose sicher kein Überfluß ist, ärmer geworden .... Sein Tod wird den Bürgerkrieg in Deutschland verbittern und bei den nichtdeutschen Völkern das Bewußtsein vertiefen, daß das neue Deutschland keine neuen Menschen vertragen kann und dort die Mächte der Dunkelheit fortfahren, das politische Leben zu beherrschen. Deutschland wird, darüber wird kein Zweifel herrschen, die Ermordung Eisners bei den Friedensbedingungen zu begleichen haben."268 Es kommen angesichts dieser Sätze Zweifel, ob eine Versöhnung zwischen Michels und Weber, wovon jener ja fest überzeugt war,269 nach dem Krieg wirklich möglich gewesen wäre, falls Weber nicht so früh verstorben wäre. Nicht nur Michels' Eintreten für das den Dreibund brechende Italien im Krieg hätte nun zwischen ihnen gestanden, sondern auch die Kriegsschuldfrage, die in der Person Eisners ihr politisch wie menschlichemotional polarisierendes Drama fand. Weber nämlich empfand das Attentat des Grafen Arco als „vorzüglich", gleichzeitig aber beurteilte er die nationalistische Solidarisierung mit dem verurteilten270 Attentäter eher kühl und reserviert. Der rechtsgerichteten Studentenschaft von München, die sowohl das Attentat bejubelte als auch den Freispruch des Grafen Arco forderte, rief er im Januar 1920 zu: „Zur Wiederaufrichtung Deutschlands in seiner alten Herrlichkeit würde ich mich gewiß mit jeder Macht der Erde und auch mit dem leibhaftigen Teufel verbinden, wenn ich noch Politik triebe. Nur nicht: mit der Macht der Dummheit." In einem Bericht an Mina Tobler hat Weber konkretisiert, was er unter Dummheit verstand: „Z. B. die Demonstrationen der Studentenschaft für die Begnadigung des Grafen Arco. Natürlich hätte ich trotz und wegen seines vorzüglichen Verhaltens ihn erschießen lassen - besser als ihn zu einer Kaffeehaus-Sehenswürdigkeit werden zu lassen [...] und: Eisner fordeben zu lassen. Denn der wäre nur mit ihm (ideell) erledigt gewesen. Jetzt lebt er weiter!"271 Exakt dieses Weiterleben ist fur Michels dagegen der einzige Trost: „Erst sein grausiger Tod vermochte es, ihm die Liebe und Anerkennung breiter Schichten des bayri-

268 So Michels in seinem Nekrolog in den Basler Nachrichten, 1. Beilage zu Nr. 91 (1919); später abgedruckt in der Nuova Antologia, 16.9.1919; zit. η. Michels, Eisner, a.a.O., S. 390. 269 Michels, Max Weber, in: Bedeutende Männer, S. 114. 270 Das ursprüngliche Todesurteil gegen Graf Arco wurde wenig später „in Anerkennung der ehrenhaften Motive und Haltung des Angeklagten" in lebenslängliche Festungshaft umgewandelt. Diese wurde bereits im April 1924 ohne Aussprache einer Bewährungsfrist unterbrochen. Arco arbeitete von da an als Redakteur und bei der Süddeutschen Lufthansa. Bei einer Amnestie anlässlich des achtzigsten Geburtstages des Reichspräsidenten von Hindenburg, also 1927, wurde er voll begnadigt. In der Folge betätigte sich Arco unter der Losung „Los von Preußen" als bayrischer Separatist. Als im März 1933 Attentatspläne auf Hitler bekannt wurden, wurde er verhaftet. Er starb am 29. Juni 1945 bei einem Autounfall. Quelle: Munzinger Online, Internationales Biographisches Archiv. 271 Zit. n. W. J. Mommsen, Weber und deutsche Politik, a.a.O., S. 345-346.

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sehen Volkes, das sich von ihm abgewandt hatte, wieder zu gewinnen, sei es auch nur für eine knapp bemessene Spanne Zeit. Gleich nach seiner Ermordung nahm die Verehrung fur das Opfer schier religiöse Form an. An der Stelle, wo der Mord geschehen, wagte tagelang niemand die Blutflecken zu beseitigen, die wie zum Andenken an das Martyrium intakt blieben. [...] Die Beerdigung glich einem Triumph."272 Moralisch, politisch und emotional liegen Welten zwischen Webers und Michels' Reaktion auf Eisners Schicksal, Reaktionen, die wie ein pars pro toto für die diametral entgegengesetzte Beurteilung von Krieg, Nachkriegszeit und Schulddebatte stehen. Weber lehnt diese Debatte ab, weil diejenigen, die sie fuhren, seiner Meinung nach die Ehre der Nation verletzen und anstatt der gebotenen rationalen Schadensabwicklung gemäß der sachlichen Interessen von Siegern und Besiegten den „Haß und Zorn wieder aufleben" lassen und so den friedlichen Neubeginn verhindern statt ihn zu befördern.273 Während Weber die nationale Selbstbehauptung und Verweigerung gegenüber dem Versailler Friedensdiktat propagiert, nimmt Michels spätestens nach Eisners Tod und dem offenkundigen Scheitern seiner Außenpolitik die Deutschen in Kollektivhaftung und sieht es als eine logische Konsequenz, daß Deutschland in Versailles „bezahlen" wird. Denn nach Michels' Überzeugung ist der Mord an Eisner nicht die Tat eines Einzelnen, sondern resultiert aus den sozialpsychologischen Umweltbedingungen, die auch die Debatte über die Kriegsschuld prägen. Die politische Kultur dieser Debatte hat für ihn von der MSPD bis zu den Nationalkonservativen ein und dieselbe Signatur: die Mächte der Dunkelheit fahren fort, das politische Leben zu beherrschen. Diese Diagnose wiederum führt zu Zweifeln an der Wünschbarkeit demokratischer Verhältnisse, wie sie Michels nie zuvor vorgebracht hat: „Der Haß, als dessen Zielscheibe Eisner diente und dem er nur wenige Tage nach seinem Aufenthalt in Basel zum Opfer fallen sollte, hat seine Wurzeln in dem tragischen Unvermögen des deutschen Volkes, zu erkennen, daß zur Umgestaltung seines Schicksals und zur Reinigung von der furchtbaren Schuld der Ver272 Michels, Eisner, S. 390. 273 Max Weber, Politik als Beruf, Stuttgart 1992, S. 66-67: „Statt nach alter Weiber Art nach einem Kriege nach dem ,Schuldigen' zu suchen, wo doch die Struktur der Gesellschaft den Krieg erzeugte - , wird jede männliche und herbe Haltung dem Feinde sagen: ,Wir verloren den Krieg ihr habt ihn gewonnen. Das ist nun erledigt: nun laßt uns darüber reden, welche Konsequenzen zu ziehen sind entsprechend den sachlichen Interessen, die im Spiel waren, und - die Hauptsache angesichts der Verantwortung vor der Zukunft, die vor allem den Sieger belastet.' Alles andere ist würdelos und rächt sich. Verletzung ihrer Interessen verzeiht eine Nation, nicht aber Verletzung ihrer Ehre, am wenigsten eine solche durch pfaffische Rechthaberei. Jedes neue Dokument, das nach Jahrzehnten ans Licht kommt, läßt das würdelose Gezeter, den Haß und Zorn wieder aufleben, statt daß der Krieg mit seinem Ende wenigstens sittlich begraben würde. Das ist nur durch Sachlichkeit und Ritterlichkeit, vor allem nur: durch Würde möglich. Nie aber durch eine .Ethik', die in Wahrheit eine Würdelosigkeit beider Seiten bedeutet. Anstatt sich um das zu kümmern, was den Politiker angeht: die Zukunft und die Verantwortung vor ihr, befaßt sie sich mit politisch sterilen, weil unaustragbaren Fragen der Schuld in der Vergangenheit. Dies zu tun, ist politische Schuld, wenn es irgendeine gibt."

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gangenheit mehr gehört als eine formale Verwandlungskunst in puncto Staatsverfassung und ein Déménagement von Potsdam nach Weimar".274 Diese Argumentationsfigur ist bei Michels gewiß nicht gänzlich neu. Sie erinnert an seinen Republikanismus der Vorkriegszeit, als er die Demokratisierung Deutschlands nicht auf die Frage nach der institutionellen Form reduziert sehen wollte, sondern die Veränderung der Institutionen mit einer fiir ihn notwendigen moralischen Gesellschaftstransformation in Beziehung setzte. Das Projekt seiner „sozialen Pädagogik" zielte auf die demokratische Aktivierung des Untertanen, seine Erhebung zum selbstbewußten und selbstbeherrschten kritischen Staatsbürger sowie seine moralische Läuterung von den fragwürdigen Traditionsbeständen der deutschen politischen Kultur: Militarismus, Nationalismus und Autoritarismus, kurz: ,Preußentum'. Ohne die Entwicklung einer neuen sozialkritischen und partizipatorischen Gesellschaftsmoral, darauf liefen ja alle Michelsschen Kommentare zu Parteitagen der SPD hinaus, drohte die Demokratie zu einer gefahrlichen Illusion zu werden, zu einer bloßen Legitimitätsfassade der oligarchischen Praxis sozialdemokratischer „Präsidenten-Diktatoren", die im übrigen infolge ihrer berufspolitischen „psychologischen Metamorphose" längst jedes Interesse verloren hatten, die herrschende Moral des Militarismus und Nationalismus ernsthaft herauszufordern, und sich und die Partei faktisch dem Wilhelminismus ausgeliefert hatten. Die Burgfriedenspolitik und nationalistischen Kriegsreden der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion waren für Michels die Konsequenz tiefgehender geistig-moralischer Anpassungsprozesse in den zwei Jahrzehnten davor.275 Diese soziomoralische Argumentationsfigur hat es 1919 allerdings mit einem völlig neuen Kontext zu tun. Bis 1918 herrschte in Deutschland eben noch die Monarchie und Michels hat sich in der Nachkriegszeit eingestanden, daß das demokratische Denken unter undemokratischen Bedingungen einen höheren Attraktionswert hat als unter demokratischen: „Denn allgemein gesprochen erscheint die Republik nirgendwo so schön als unter dem Kaiserreich".276 1919, und das ist die Veränderung in Michels' Argumentationsfigur, existiert die Option einer demokratischen Sozialpädagogik offenbar nicht mehr. Für Eisners Projekt einer „Revolution der Geister", insbesondere seine Vision einer deutsch-französischen Versöhnung über die Anerkennung der deutschen Schuld hat es Michels zufolge nur eine Alternative gegeben, zwei Wege, die allerdings das unlösbare Dilemma Kurt Eisners auf den Punkt bringen: „erstens eine nur auf dem Wege über eine Diktatur machbare Eisenkur gegen die Mächte der Reaktion und des unheilbaren Unverständnisses, die ihn bedrängten, oder aber zweitens die Einordnung in das gemachte Bett eines, wie die Dinge lagen, freilich praktisch unerfreulichen Parlamentarismus". Zur Diktatur habe es dem Humanisten Eisner an „Brutalität" gefehlt, während der Parlamentarismus auf seinen „politischen Selbstmord" hinausgelaufen wäre. Einen dritten Weg habe es nicht

274 Michels, Eisner, S. 381. 275 Vgl. Kapitel IV.5. 276 Michels, Soziologie des Parteiwesens, Vorwort zur 2. Auflage, zit. n. 4. Auflage, 1989, S. XLIX.

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gegeben. Anläßlich seines Basler Besuches habe Eisner in den Alben von Michels' Töchtern zwar „gegen den Vorwurf protestiert, ein Diktator zu sein, und sie dazu beglückwünscht, Bürgerinnen einer reineren Zeit zu werden. Der Parlamentarismus aber, auf den er sich hätte stützen müssen, schon um seine außergewöhnliche Stellung zu legalisieren, schreckte ihn; er wußte, daß er ihm alle seine Lieblingsgedanken durchkreuzt hätte."277 Aus diesem Dilemma hatte Eisner am Tage des Attentats die Konsequenz ziehen und seinen Rücktritt erklären wollen. An die Option einer nachhaltigen Demokratisierung durch die Forcierung des Räteprinzips scheint Eisner im übrigen, wenn wir Michels folgen, nicht mehr so recht geglaubt zu haben.278 Die Konsequenzen, die Michels aus der Kriegsschulddebatte in Deutschland und Eisners politischem Ende zieht, stehen für einen weiteren Wandel in seiner politischen Weltanschauung. Es ist daran zu erinnern, daß Michels nie zuvor die Option der Diktatur in Erwägung gezogen hat und der Demokratie - bei all ihren Mängeln und oligarchischen Schlacken - den Vorzug vor allen denkbaren Alternativen gegeben hat. Jetzt bestreitet er die Wünschbarkeit und Tauglichkeit der Diktatur nur deshalb, weil der Ethiker, Pazifist und Kaffehausliterat Eisner kein geeigneter Kandidat gewesen wäre. Eine prinzipielle Ablehnung der Diktatur indes ist nicht mehr zu erkennen. Sie erscheint als mögliche Option am politischen Horizont. Der Wendepunkt von 1919 läßt sich dahingehend zusammenfassen, daß sich ein moralischer Fundamentalismus bzw. eine fundamentale Kritik an der herrschenden kollektiven Moral in Deutschland mit einer unverhohlenen antiparlamentarischen Tendenz verbindet. Kurt Eisner ist für Michels der erste Modellversuch einer idealistischen Eliteherrschaft „neuer Menschen" gewesen. Weder verwirft er diesen Versuch pauschal aus Gründen der demokratischen Ethik noch stellt er ihn mit den psychologischen Defor-

277 Michels, Eisner, S. 389. 278 Vgl. Michels, Eisner, S. 389: ,Auch war Eisner, wie er nunmehr zugab, längst von seiner Vorliebe für geratende Massen' geheilt. Was die Räte anbelangt, so scheint er weniger am System selbst, als an den diese repräsentierenden, unheilbaren Gernegrößen Anstoß genommen zu haben." Diese Deutung von Eisners politischem Befinden ist möglicherweise durch Michels' eigene Überzeugungen eingefärbt. Es steht gleichwohl, da Michels zwischen „System" und Praxis („Gernegrößen") unterscheidet, nicht unbedingt im Gegensatz zu der Darstellung von Eisners Rätetheorie in der Biographie von Bernhard Grau, Kurt Eisner 1867-1919. Eine Biographie, München 2001, S. 42Iff. Grau würdigt hier Eisners Projekt einer rätefoderalistischen Erneuerung und nachhaltigen Demokratisierung Deutschlands. Dieses, so Grau, sei niemals antiparlamentarisch gewesen. In einer exklusiv parlamentaristischen Ausrichtung der Weimarer Republik allerdings habe Eisner eine Gefährdung der Revolution gesehen. Daher habe Eisner den Verfassungsgebungsprozeß der Nationalversammlung so lange aufhalten wollen, wie die revolutionäre Erneuerung noch fraglich gewesen sei. Graus Deutung ist im Grunde eine etwas freundlichere Umschreibung für das von Michels auf den Punkt gebrachte Dilemma Eisners, eine Demokratisierungspolitik ohne demokratische Legitimation auf den Weg bringen zu wollen und daher geordnete demokratische Wahlund Kontrollverfahren zumindest für eine Zeit außer Kraft setzen zu müssen. Trefflich hat der Simplicissimus dieses Paradoxon in der Karikatur „Kurt von Kurtens Gnaden" vom 28.1.1919 veranschaulicht. Vgl. Grau, Eisner, S. 375.

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mationsthesen zum politischen Führertum aus seiner eigenen Elitetheorie in Frage. Die auffällige Häufung von Attributen des ,Neuen', der ,neuen Menschen', des »wirklichen Neuanfangs' und der .geistigen Revolution', macht gleichzeitig deutlich, worin die post-monarchische und postdemokratische Legitimität einer Eisnerschen Erziehungsdiktatur bestanden hätte: in der charismatischen Kompetenz. Meine These, daß Michels die Option der Diktatur erstmals in der unmittelbaren Nachkriegszeit erwogen hat und daß diese Option ihren genetischen Kontext in der deutschen Kriegsschulddebatte hat, wäre allerdings nur schwach begründet, wenn sie sich allein auf den Eisner-Nekrolog stützen würde und nicht auch noch andere Quellen für sich sprechen ließe. Neben den oben bereits zitierten Artikeln in der Schweizer Presse gibt es weitere Indizien für Michels' Teilhabe am positiven Kriegsschulddiskurs, die allerdings nur archivalisch zugänglich sind. Michels hat dieses Material nicht veröffentlicht, nicht zuletzt wohl aus mit Rücksicht auf die handelnden Personen, die allesamt an prominenter Stelle in die Kriegsschulddebatte politisch verwickelt sind. Darunter befinden sich der Gesandte der Regierung Eisner in Bern, Friedrich Wilhelm Foerster; George D. Herron, der damals vielleicht engste informelle Berater des amerikanischen Präsidenten Wilson, und, wie sich im folgenden herausstellen wird, einer der intimsten politischen Freunde, die Michels je hatte: sein „Bruder"; Wilhelm Muehlon, der ehemalige Krupp-Manager, der noch zu Kriegszeiten vertrauliche Dokumente zur deutschen Kriegsschuld veröffentlicht hatte und den Kurt Eisner in sein „Reichspräsidium"279 entsenden wollte; Salomon Grumbach, der Herausgeber der „Republikanischen Bibliothek"; und Eduard Bernstein.

9.2. Die demokratische Variante des deutschen Kriegsschulddiskurses: Eduard Bernstein Eduard Bernstein steht für eine Variante im positiven Kriegsschulddiskurs, die seinerzeit strenge moralische Maßstäbe an die Mehrheits-SPD anlegt und mit ihr hart ins Gericht geht, ohne dabei aber aus moralischer Verbitterung über die herrschenden Verhältnisse die normative Verbindlichkeit der Demokratie in Zweifel zu ziehen. Trotz seiner fortbestehenden klaren Position in der Beurteilung der deutschen Kriegsverantwortung und sozialdemokratischen Mitverantwortung280 wird Bernstein aufgrund der Sozialrevolutionären Radikalisierung auf der Linken innerhalb und außerhalb der USPD

279 Dieses Gremium gab es nur auf dem Papier und war ein Projekt Eisners. Das „Reichspräsidium" hätte fortan an Stelle der Reichsregierung alle Verhandlungen mit der Entente führen sollen, scheiterte aber am Widerstand der SPD. Vgl. Grau, Eisner, S. 393-395. 280 Vgl. auch das Manifest „Das Gebot der Stunde" von Bernstein, Kautsky und Hugo Haase vom 19.6.1915, in dem die Autoren die SPD-Reichstagsfraktion zu einer Korrektur ihrer bisherigen Politik auffordern, weil der von ihr unterstützte Krieg sich längst als Eroberungskrieg entlarvt habe. Das Manifest gilt historisch als ein Gründungsdokument der späteren USPD; abgedruckt in: Wolfgang Benz, Pazifismus in Deutschland. Dokumente zur Friedensbewegung 1890-1939, Frankfurt a.M. 1988, S. 113-116.

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schon ab März 1919 den Weg in die SPD zurückfinden und dort sich auch für die Wiedervereinigung mit dem demokratischen Teil der USPD einsetzen. Dieser politische Weg ist die Resultante seiner demokratischen Grundposition, der er letztlich die Meinungsverschiedenheiten in der Kriegsschuldfrage unterordnen wird. Nur das Festhalten an der Demokratie, so Bernsteins Analyse, könne das Abdriften der Revolution in Gewalt und Terror verhindern. Den Garanten fur diese demokratische Grundentscheidung hat er in der SPD gesehen.281 Das hat Bernstein freilich nicht davon abgehalten, sich als Sozialdemokrat weiter für die Aufklärung der deutschen Öffentlichkeit in der Kriegsschuldfrage zu engagieren. Diese Aufklärung hat Bernstein als einen Beitrag zur Sicherung der republikanischen Ordnung verstanden. Die Leugnung der Kriegsverantwortung dagegen würde auf Dauer den Antirepublikanismus stärken. So rechtfertigt er 1924 gegenüber Kautsky seine Kriegsschuldpublizistik: „Es sind Versuche, der für die Partei und die Republik selbstmörderischen Behandlung der Kriegsschuldfrage entgegenzuwirken [...] Von der Tatsache aus, daß das Kaiserreich nicht allein schuld am Krieg sei, die sie dann mit bequemer Dialektik zu ,überhaupt nicht schuld' umdeuten, ist es leicht, den Massen plausibel zu machen, daß das Kaiserreich zu Unrecht gestürzt worden, die Judenrepublik' und ihre Erfüllungspolitik an allem Übel schuld seien, unter dem Deutschland heute leide."282 Im Hinblick auf die sozialdemokratische Mitverantwortung am Krieg sind sich Bernstein und Michels einig gewesen. Bernstein hatte im übrigen ja noch 1917 Michels' Vorkriegsschriften über die aus der Krise der Parteiorganisation resultierende Kriegsgefahr als „Vorhersehungen" gewertet, die „man lieber nicht in Erfüllung gehen sieht."283 Von daher nimmt es nicht wunder, daß Michels auch nach dem Krieg den Kontakt zu Bernstein aufrecht erhält und ihn für den 24. Februar 1919 zu einem Vortrag an seinem Staatswissenschaftlichen Seminar an der Baseler Universität einlädt. Das Thema ist allerdings zumindest offiziell nicht die Kriegsschuldfrage. Es behandelt vielmehr eine zentrale Frage der politischen Linken, nämlich die, wie sich im demokratischen Nachkriegsdeutschland nach der Revolution der politischen Ordnung die ökonomischen Machtverhältnisse entwickeln würden. Titel des Vortrags: „Die Sozialisierung der Betriebe".284 Bernstein plädiert hier dafür, Sozialisierungen prinzipiell nur auf gesetzlichem Wege vorzunehmen und erteilt dabei der „gewaltsamen Expropriation" ebenso eine Absage wie dem Gedanken, das schöpferische Unternehmertum gänzlich zu verbieten. Unter den gegebenen wirtschaftlichen Umständen können „wir froh sein", „wenn wir

281 282 283 284

Teresa Löwe, Der Politiker Bernstein, a.a.O., S. 69. Brief von Bernstein an Kautsky, 26.7.1924, zit. nach Teresa Löwe, Der Politiker Bernstein, S. 62. Brief von Bernstein an Michels, 19.6.1917, ARMFE. Eduard Bernstein, Die Sozialisierung der Betriebe. Leitgedanken für eine Theorie des Sozialisierens. Vortrag im Staatswissenschaftlichen Seminar der Universität Basel am 24.2.1919 sowie Vorwort und Ansprache von Robert Michels, Basel 1919.

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noch auf lange Zeit hinaus neben der gesellschaftlichen Wirtschaft die freiwillige Wirtschaft haben."285 Robert Michels hat in seiner Ansprache vor der Studentenschaft seine langjährigen Beziehungen zu Bernstein Revue passieren lassen und dabei - allen politischen Divergenzen, in der gemeinsamen aktiven Zeit innerhalb der SPD, etwa in der Reichstagspräsidentenfrage von 1903, zum Trotz - eine Lobrede auf Bernstein als „Mann der Wissenschaft" gehalten, wohl nicht ganz ohne dabei an sich selbst zu denken: „Sie gehören zu uns, und wenn Sie heute ohne Katheder sind, so ist das schlechterdings nur durch die Tatsache zu verstehen, daß Deutschland Männer Ihrer Geistesrichtung und Ihrem Kalibers nicht ihrem Werte entsprechend zu verwenden gewußt hat". Mehrmals bekundet Michels seine „Ehrfurcht" vor Bernsteins „Wahrheitsliebe". Allein diese nicht der „Hang zur Bilderstürmerei" - habe Bernstein „zum Vater des Revisionismus" werden lassen. Bernsteins Vortrag über die „Sozialisierung" erhebt Michels gar zum „Komplementärvortrag" zu Bernsteins viel berühmteren von 1901 mit dem Titel: „Wie ist wissenschaftlicher Sozialismus möglich?": „Heute, in dieser schweren Stunde, in der die alte Welt eine neue gebären soll, und die Gefahr entsteht, daß das Neue durch die böse Vaterschaft des Alten von vornherein im Blute verdorben wird, werden Sie uns den Parallelvortrag oder Komplementärvortrag zu jenem Thema halten, der sich wohl so nennen dürfte: ,Wie ist praktischer Sozialismus möglich?' " 286 Diese Frage dürfte Michels tatsächlich interessiert haben, wenn wir an sein oben skizziertes sozialpolitisches Nachkriegsprofil denken, in dem sich ein engagierter, aber pragmatischer Sozialreformismus mit der strikten Absage an den Bolschewismus verbindet. Bernsteins sozialliberale Behandlung der Sozialisierungsfrage, welche den sozialpolitischen Handlungsbedarf zur Verbesserung der Situation der Lohnabhängigen anerkennt, aber vor der „gewaltsamen Expropriation" der Unternehmer durch die Arbeitnehmer ebenso warnt wie vor der Strangulierung des dynamischen Unternehmertums durch gesetzliche Vergesellschaftungsmaßnahmen, dürfte wohl auf Michels' Zustimmung gestoßen sein, der schon lange nicht mehr in der privatökonomischen Rentabilität einen prinzipiellen Widerspruch zur kollektiven Wohlfahrt sieht, sondern allenfalls einen tendenziellen. Allerdings dürften Michels während Bernsteins Vortrag andere Dinge durch den Kopf gegangen sein. Indirekt weisen darauf die Worte in seiner Ansprache hin, die Sorge, „daß das Neue durch die böse Vaterschaft des Alten von vornherein im Blute verdorben wird." Damit ist gewiß nicht der Bolschewismus gemeint. Bernstein nämlich hält seinen Vortrag drei Tage nach der Ermordung Eisners. Und wenn wir einer handschriftlichen Notiz von Michels folgen, dann war das Hauptthema der Konferenz tatsächlich nicht die Frage der Sozialisierung, sondern das „zukünftige Deutschland".287 Bernstein habe dabei für die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund geworben: 285 Bernstein, Sozialisierung der Betriebe, S. 20. 286 Michels, in: Bernstein, Sozialisierung, a.a.O., S. 5-6. 287 Michels, [Eduard Bernstein occupa un posto eminente nella scienza e nel partito socialista tedesco], handschriftlicher Bericht über die Baseler Konferenz vom 24.2.1919 und andere Ereignisse, datiert auf,.Basilea, lì 5.III.1919"; Briefkopf der „Società Nazionale Dante Alighieri"; in: ARMFE.

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„Drei Viertel seiner Rede drehten sich um die drei großen Vorwürfe der Entente gegen Deutschland: jener, den Krieg gewollt und begonnen zu haben; jener, ihn mit barbarischen Mitteln geführt zu haben; jener, nach dem Sieg der Alliierten noch nicht die Mentalität geändert zu haben. B. gibt explizit und ausführlich in allen drei Fällen die Schuld Deutschlands zu, mit großer Emphase und Aufrichtigkeit. Er fügt aber hinzu, daß das deutsche Volk als solches seiner Meinung nach unschuldig gewesen ist, weil es kontinuierlich durch die organisierten Lügen' 288 seiner Herrscher und Herren getäuscht worden sei".289 Im privaten Gespräch habe Bernstein anschließend erklärt, daß er noch immer bereue, im August 1914 für den Krieg gestimmt zu haben. Außerdem schmerze es „ihn sehr, daß auch die deutsche Revolution sich noch nicht der ,göttlichen Lüge' entledigt habe. Er nennt Erzberger eine gewissenlose Person und einen feigen Lügner, David einen Fanatiker, der seinem Vaterland großen Schaden zufügen könne. Er hat aber eine viel günstigere Meinung über Scheidemann, den er als sehr intelligent und besonders anpassungsfähig [...] beurteilt."290 Unabhängig von Bernsteins differenzierender Bewertung Scheidemanns sind diese drei Personen offensichtlich das Skandalon des positiven Kriegsschulddiskurses gewesen. Sie tauchen in Aufsätzen, Gesprächen und Notizen immer wieder auf, meist als Personifizierung der These von der Kontinuität des ,alten Deutschland'. Das hängt vor allem mit ihrer Politik im Weltkrieg zusammen. Eduard David gehörte zu den SPD-Parteiführern, die die Burgfriedenspolitik der SPD und damit die Kriegspolitik der Reichsregierung maßgeblich unterstützt hatten. In der „Weimarer Koalition" unter Phillip Scheidemann hat er sich allerdings auch für die Annahme des Versailler Vertrages eingesetzt - mit allen Konsequenzen. Der Zentrumspolitiker Erzberger hatte im Krieg zunächst sogar im Lager der Annexionisten gestanden, vertrat dann aber moderatere Positionen und trat für den Verständigungsfrieden ein. Als Reichsminister in der Weimarer Koalition befürwortete auch er 288 Michels verwendet den Begriff in seinen „Konklusionen zum Berner Völkerbundskongreß" (a.a.O). 289 Michels, [Eduard Bernstein occupa un posto eminente], a.a.O.: „i tre quarti del suo discorso versarono sui tre grandi rimproveri che l'Intesa muove alla Germania: quello di avere voluto ed incominciato la guerra; quello di averla condotta con mezzi barbari; quello di non avere ancora, dopo la vittoria degli alleati, cambiato mentalità. Il B. ammette esplicitamente, e particoleggiatamente, in tutti e tre casi la colpa della Germania, con grande enfasi e molta lealtà. Aggiunge però che il popolo tedesco come tale, a suo avviso, è stato innocente, perché continuamente ingannato dalle .organizzate bugie' dei suoi dominatori e padroni." 290 Michels, [Eduard Bernstein occupa un posto eminente], a.a.O.: „Nelle conversazioni private il Bernstein dichiara d'avere commesso una cattiva azione (della quale assai si pente) avendo votato per la guerra nel principio dell'agosto 1914; che non si avrebbe mai perdonato una tale svista che però onore ha fatto alla sua chiaroveggenza politica. Si duole molto che anche la rivoluzione tedesca non abbia ancora licenziato la ,diva Bugia'. Chiama l'Erzberger una persona senza coscienza e un vile bugiardo, il David un fanatico capace di creare gran danno alla sua patria. Ha però un idea molto favorevole sullo Scheidemann, che giudica intelligentissimo e di grande duttilità ed [Wort leider unleserlich] politica."

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die Annahme des Versailler Vertrages. Im August 1921 ist er einem Attentat der politischen Rechten zum Opfer gefallen. Auch Scheidemann stand auf der Abschußliste der extremen Rechten und entging 1922 nur knapp einem Attentat. Dabei hatte er sich zu diesem Zeitpunkt bereits aus den Regierungsämtern zurückgezogen - unter anderem wegen seiner Ablehnung des Versailler Vertragswerkes. 1926 hat er im Reichstag die Zusammenarbeit der Reichswehr mit der Roten Armee und rechtsradikalen Wehrverbanden aufgedeckt und vor einer reaktionären Verformung der Republik gewarnt. Schon im Oktober 1919 hatte er sich von Noskes Politik der Kooperation mit den alten militärischen Eliten distanziert.291 Er hatte aber auch die Burgfriedenpolitik mitzuverantworten - und dies war der Grund, warum er von den Kriegsschuldannahmepropagandisten, die zum größten Teil den Krieg unter Inkaufnahme persönlicher Nachteile von Anfang an abgelehnt hatten, moralisch verachtet wurde. Es ist nicht zufällig, daß Bernstein und Michels in privater Runde auf diese drei Politiker zu sprechen kommen. Sie stehen für die aus heutiger Sicht borniert erscheinende moralistische Optik des positiven Kriegsschulddiskurses, der dazu tendierte, die Gefahren für die Republik in erster Linie in einer unzulänglichen moralischen und personellen Neugründung des Gemeinwesens zu sehen, und eher in Ableitung davon, also sekundär, den Feind von rechts wahrnahm. Diese Setzung der Prioritäten verblüfft nicht nur deshalb, weil die genannten Staatsmänner von der Gründung der Republik an politisch Verfolgte waren, sondern auch, weil einige Protagonisten des positiven Kriegsschulddiskurses selbst, die gerade erst das Exil der Kriegsjahre verlassen hatten, erneut ins Exil gehen mußten, weil eben die neue Rechte ihnen mit Mord drohte und sie offensichtlich nicht auf einen ausreichenden Schutz durch den neuen demokratischen Staat vertrauen konnten. Die Rede ist vom nach dem Mord an Eisner für einige Tage designierten bayrischen Ministerpräsidenten Wilhelm Muehlon und vom Sozialpädagogen Friedrich Wilhelm Foerster. Auch in einem Gespräch zwischen Muehlon und Michels werden wieder die drei Namen fallen: Scheidemann, David, Erzberger. Was Muehlon dazu sagt, steht für die radikal-gesinnungsethische und pessimistische Variante des positiven Kriegsschulddiskurses, die jeglichen Glauben an die deutsche Republik aufgegeben hat, theoretisch sich zwar zur liberalen Demokratie bekennt, in der von ihr diagnostizierten geistig-moralischen Verfassung der Weimarer Republik aber ihren Feind erblickt - aufgrund der persönlichen Verfolgungssituation vielleicht auch erblicken muß.

9.3. Die gesinnungsfundamentalistische und pseudoreligiöse Variante: Wilhelm Muehlon und Friedrich Wilhelm Foerster Robert Michels und Friedrich Wilhelm Foerster kannten sich seit der Jahrhundertwende seit jener Zeit, in der Michels sich als regelmäßiger Mitarbeiter der „Ethischen Kultur" betätigt hatte, der von Foerster herausgegebenen Zeitschrift der gleichnamigen Gesell291 Biographische Angaben aus: Wolfgang Benz/Hermann Grami, Biographisches Lexikon zur Wiemarer Republik, München 1988.

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schaft. Michels hatte sich dort auffallig intensiv mit Fragen der sozialen Genese von Weitüberzeugungen, der edukativen Wirkungen von Sozialisationsinstanzen wie Familie, Schule und Militär, der progressiven Sexualmoral sowie des nationalen Selbstbildes der Deutschen beschäftigt, das ihm zufolge seit der Reichseinigung und vor allem im Wilhelminismus eine pathologische Entwicklung genommen hatte. Gerade im sogenannten vorpolitischen Bereich spießte Michels mit Vorliebe die politisch ungemein folgenreichen Wertmuster des Chauvinismus und Militarismus auf. 292 Die Affinitäten dieser Beiträge zu den Überzeugungen des Mitherausgebers der „Ethischen Kultur" sind unübersehbar. Friedrich Wilhelm Foerster - der Sohn des Astronomen, Rektors der Berliner Universität und Mitbegründers der Deutschen Friedensgesellschaft Wilhelm Foerster - war bis 1914 zum weltweit wohl berühmtesten deutschen Pädagogen aufgestiegen. 293 Foerster agierte dabei als Sozialpädagoge nie allein im streng definierten Rahmen seiner Wissenschaft, sondern er betrieb auch Sozialpädagogik als politische Intervention, mit der unverkennbaren Absicht und Hoffnung, durch eine alternative Wertevermittlung Umlernprozesse in der deutschen Gesellschaft zu initiieren und die von ihm diagnostizierte Fehlentwicklung seit 1870 zu korrigieren. Dabei bewies er von Anfang an Zivilcourage, handelte sich etwa 1895 durch einen Protestaufsatz gegen die Sedanrede Wilhelms II. drei Monate Haft ein und verspielte dadurch die Möglichkeit einer Habilitation an einer deutschen Universität. Michels hatte als junger Sozialdemokrat schon Foersters Vater fur dessen Verdienste um die moralische Läuterung der politischen Kultur großen Respekt gezollt und ihm 1905 das intellektuelle Adelsprädikat des „gesund denkenden Arztes" verliehen. 294 Michels' Beiträge in der „Ethischen Kultur", die größtenteils der politischen Sozialpädagogik zuzurechnen sind, sind deutlich dem von Väter und Sohn Foerster vertretenen publizistischen Programm verpflichtet. Bei aller Gemeinsamkeit in ihrer Ablehnung von Preußentum, Wilhelm II., Nationalismus und Militarismus und in ihrer Begründung der Notwendigkeit eines moralischen Wandels mit den Mitteln der Sozialpädagogik trennte die beiden vor dem Ersten Weltkrieg allerdings eine weltanschauliche Prämisse: Foerster war gegenüber dem politischen Betrieb äußerst skeptisch, sah ethische Ideale durch die Politik immer eher in Gefahr als auf dem Wege ihrer Realisierung. Michels dagegen formulierte seine mit den Foersterschen kompatiblen ethischen Forderungen auf dem Boden des evolutionären Materialismus und hatte sich der Sozialdemokratie verschrieben. Das führte zu manchem Schlagabtausch zwischen Michels und der Redaktion der „Ethischen Kultur", der eine Partei, die den Klassenkampf propagierte, äußerst suspekt war. Foersters Lebensthema läßt sich besonders prägnant auf den Begriff eines seiner Buchtitel bringen: „Mein Kampf gegen das militaristische und nationalistische Deutsch-

292 Vgl. Kapitel II.3.4. Neue Nationalpädagogik. 293 Bruno Hipler, Einleitung zu: Hipler (Hg.), Friedrich Wilhelm Foerster: Manifest für den Frieden. Eine Auswahl aus seinen Schriften (1893-1933), Paderborn 1988, S. 13-35, S. 21. 294 Michels, Entwicklung und Rasse, a.a.O., S. 156, wobei in der dortigen Aufzählung mehrerer Namen auch nicht ausgeschlossen werden kann, daß mit .Wilhelm' .Friedrich Wilhelm' gemeint ist.

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land".295 Das bedarf fur die Zeit vor 1918 an dieser Stelle keiner weiteren Erörterung. Aber auch nach 1918 hat er sich radikal gegen die Politik der Weimarer Republik gewandt. Insbesondere der nun erstmals an die Macht gekommenen politischen Linken hat er den Vorwurf gemacht, daß „eine wirkliche deutsche Katharsis" nicht stattgefunden habe. Foerster, der sich selbst prinzipiell als liberalen Demokraten sah, hat die Weimarer Republik nicht aus dezidiert antidemokratischen Überzeugungen attackiert, sondern aus einem tiefen Mißtrauen gegenüber der moralischen Verfassung der ersten deutschen Demokratie und ihres politischen Führungspersonals. Aus diesem Mißtrauen heraus war er auch mit der Ruhrbesetzung durch Frankreich und Belgien 1923 einverstanden, weil die Deutschen ihre sittliche Verpflichtung zur Wiedergutmachung nicht begriffen hätten.296 Seine Kritiken der Weimarer Republik lesen sich wie Prophezeiungen: weil nach seiner Analyse die militaristischen Denkweisen des Vorkriegsdeutschlands auch nach dem Krieg fortbestanden und weil statt einer Anerkennung der eigenen Kriegsschuld allgemein die Vorliebe für Unschuldspropaganda dominierte, folgerte er, daß das deutsche Volk auch unter den neuen republikanischen Verhältnissen psychologisch und ideologisch auf den Zweiten Weltkrieg vorbereitet werde und die Weimarer Demokratie objektiv nur dem Ziel der Wiedergewinnung der Großmachtstellung Deutschlands diene.297 Den Nationalsozialismus interpretierte Foerster weniger aus sich selbst heraus, sondern sah in ihm in erster Linie die verhängnisvolle Folge früherer historischer Weichenstellungen. Diese Weichenstellungen im deutschen Nationalcharakter waren ihm zufolge so stark, daß er auch nach dem Zweiten Weltkrieg der bundesrepublikanischen Demokratie ebenfalls mit großer Skepsis begegnete: erneut beklagte er das Ausbleiben einer „nationalen Gewissenserforschung" und befürchtete, die - von ihm im übrigen favorisierte - Kanzlerschaft Konrad Adenauers könnte nur eine Zwischenphase vor dem Wiederaufleben der „deutschen Gefahr" sein.298 Ein Zeitgenosse hat über Foerster nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben: „er ist ein Idealist, ein konsequenter, ja fanatischer Moralist, ein in die Tiefe zielender und die Aktualität daher häufig verfehlender Politiker, ein Weltbürger edelster Humanität, - ein Deutscher."299 Diese Charakterisierung trifft insbesondere auf sein sozialpädagogisches Programm der Buße und Läuterung im Kontext der deutschen Kriegsschulddebatte nach 1918 zu: edel und gut gemeint ist dieses zweifellos, aber in der Verbindung eines rigorosen, gera-

295 Vgl. Friedrich W. Foerster, Mein Kampf gegen das militaristische und nationalistische Deutschland. Gesichtspunkte zur deutschen Selbsterkenntnis und zum Aufbau eines neuen Deutschland, Stuttgart 1920. 296 Belegstellen bei Herbert Burger, Politik und Politische Ethik bei F. W. Foerster, Bonn 1969, S. 89. 297 Helmut Donat, Friedrich Wilhelm Foerster, in: Benz/Graml, Biographisches Lexikon zur Weimarer Republik, München 1988, S. 89-90. 298 Vgl. F. W. Foerster, Erlebte Weltgeschichte 1869-1953, Nürnberg 1953, ibs. S. 659. 299 Erich Lampey, Friedrich Wilhelm Foerster, in: Frankfurter Hefte, 6. Jg., Heft 1, Januar 1951, S. 47-50, S. 50.

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dezu religiösen Idealismus mit einer zutiefst unpolitischen, wenn nicht sogar antipolitischen Intellektuellenpolitik erweist sich Foerster trotz seiner Fundamentalkritik am offiziellen Deutschland als Repräsentant jenes deutschen Bildungsbürgertums, dessen pathologischen Patriotismus er zeit seines Lebens bekämpft hat. Die Deutschen, so fordert Foerster nach dem Ersten Weltkrieg, müssten aus der „moralischen Isolierung" heraustreten. Der erste Schritt dazu sei die „volle Anerkennung der [...] gegen unsere Kriegsfiihrung erhobenen Anklagen. [...] Unsere Sünde war das Kriegslaster, der Schwertglaube, die Staatsanbetung, wir sind gefallen durch unsere Stärke; durch die Organisation und alle damit zusammenhängende [...] Art von moralischer Korruption." 300 Den ersten Teil der Ausführungen hätte auch ein Eduard Bernstein unterschreiben könnnen: ohne Anerkennung der eigenen Verantwortung keine Überwindung der internationalen Isolation. Aber schon die Folgesätze weisen in ein anderes weltanschauliches Universum: erstens das der Kulturkritik, insofern die „moralische Korruption" als endemische Folge der organisierten Welt begriffen wird. Schon von diesem Ausgangspunkt aus versperrt sich rein logisch jeder Weg in die Politik. Zweitens fällt die religiöse Terminologie des Sündenfalls auf, die bei Foerster nicht zufällig ist, allerdings nicht in einem genuin christlichen Weltbild wurzelt, sondern in Foersters selbstempfiindener Berufung zum säkularen Propheten der Deutschen. Foerster offenbart den Deutschen ihre Genesis und ruft sie zur Umkehr auf. Ein solcher Ansatz verbietet es, den Aufstieg des Nationalsozialismus aus den sozialen und politischen Ereignissen der Nachkriegszeit vom Versailler Vertrag bis zur Weltwirtschaftskrise zu erklären, und er verbietet es ebenso, die deutsche Verantwortung für den Ersten Weltkrieg in der ,profanen' Geschichte der Innen- und Außenpolitik zu suchen. Da muß es schon ein Stockwerk tiefer sein: die kollektive seelische Verfassung der Deutschen. Diese wiederum wird von Foerster nie anhand sozialpsychologischer Methoden mit Ereignissen der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung in Beziehung gesetzt, sondern gerät zu einem Verhängnis mit letztlich überhistorischen Dimensionen. Foersters Genesis des deutschen Sündenfalls setzt bei der Reichseinigung von 1871 ein. Mit dieser sei der „Bismarckismus" über Deutschland gekommen, eine tieferliegende geistige Pathologie und Weichenstellung der deutschen Geschichte, die ihren Namensgeber überlebt und im Prinzip für alle folgende Geschichte verantwortlich ist. Ob Nationalsozialismus oder Weltkrieg: all dies sind die Kulminationspunkte einer von 1871 an fehlentwickelten „Gesinnung, der 1918/19 von der Vorsehung noch eine letzte Frist zur Umkehr gegeben wurde". 301 Die Begriffe „Vorsehung" und „Frist zur Umkehr" kennzeichnen Foersters Programm: Nationalgeschichte ist hier nicht politische oder Gesellschaftsgeschichte, sondern Heils-, in diesem Fall Unheilsgeschichte. Ein besonderes Interesse an demokratischen Institutionen, insbesondere an ihrer praktischen Implementierung nach Kriegsende in Gestalt der Weimarer Republik läßt sich bei Foerster nicht feststellen. Vielmehr läßt er jegliche Einsicht in die Bedingungen 300 Friedrich Wilhelm Foerster, Zur Beurteilung der deutschen Kriegsführung, 2. erw. Aufl., Berlin 1919, S. 19. 301 Friedrich W. Foerster, Die tödliche Krankheit des deutschen Volkes, o. O., o. D. Für die Kopie der Broschüre danke ich Franz Pöggeler.

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staatlicher Gewalt, Verfassung und Institutionen vermissen. In seinen „36 Leitsätzen für die politische Erneuerung Deutschlands" von 1920 steht an erster Stelle die Forderung nach „nationaler Selbsterkenntnis" und folgen Appelle an die „reine Menschlichkeit". Treffend kennzeichnet Angermeier Foersters Ansatz als eine „politische Perspektive aus dem Geiste moralischer Pädagogik und einer christlichen Religiosität, die selbst als solche nur ideelles Konstrukt war und sogar die katholische Staatslehre unbeachtet ließ."302 Auch wenn Foerster im oben skizzierten Sinn ,unpolitisch' erscheint, ist er jedoch politisch keinesfalls wirkungslos gewesen; das gilt zum einen für seine Publizistik, die von der nationalen Rechten in Deutschland derart perhorresziert wurde, daß General Ludendorff etwa die Inhaftierung von Foerster forderte; das gilt aber auch für seine politische Tätigkeit im Krieg und in der Nachkriegszeit. Als eine besondere Anerkennung des Politikers Foerster dürfte dessen Einladung durch den österreichischen Kaiser Karl I. zu werten sein, der ausgerechnet mit Foerster die Möglichkeiten eines schnellen Verständigungsfriedens erörterte. Diese Konsultationen schlugen in Deutschland hohe Wellen, befürchtete man doch tatsächlich eine Beeinflussung des schwächeren und zunehmend wankelmütigen Verbündeten. Daß man in Deutschland Foerster für diese Irritationen zur Verantwortung ziehen würde, hat ihm deutlich ein deutscher Oberst zu verstehen gegeben: „Sie haben dem preußischen Militarismus den Fehdehandschuh hingeworfen. Das wird Ihnen nicht vergessen."303 Seine inoffizielle diplomatische Tätigkeit zu Kriegszeiten ist sicherlich ein Grund für die Regierung Eisner gewesen, ihn 1918 zum Unterhändler und Gesandten Bayerns in Bern zu berufen. Bei dieser neuen Aufgabe arbeitet Foerster mit einem Mann zusammen, der - wie er - längst auf der Hochverräterfahndungsliste der nationalistischen Rechten steht: Wilhelm Muehlon. Auch der ehemalige Krupp-Manager Wilhelm Muehlon avanciert in Deutschland während des Krieges in den Augen nicht nur der nationalen Rechten, sondern fast der gesamten politischen Klasse zum Vaterlandsverräter. Das Ausland sieht das freilich anders. Dort gilt er als der „erste Europäer in Deutschland".304 Diese divergierenden Einschätzungen haben ihre Wurzeln in Muehlons politischer Wende im Ersten Weltkrieg. Im Juli 1914 hatte Muehlon mit dem Direktor der Deutschen Bank, Karl Helfferich, in einer außenwirtschaftlichen Angelegenheit verhandelt und dabei erfahren, daß die Reichsregierung sich bereits festgelegt hatte, im Falle einer Einmischung oder Mobilmachung Russlands in Reaktion auf das österreichisch-ungarische Ultimatum an Serbien, ebenfalls die Truppen zu mobilisieren: „Bei ihm [Kaiser Wilhelm II.] aber bedeute Mobilmachung den sofortigen Krieg." Diese Vorfestlegung auf einen Automatismus zum Kriege bestätigte ihm kurz darauf sein Chef, Gustav Krupp von Bohlen und Halbach: „Die Lage sei in der Tat sehr ernst. Der Kaiser habe ihm persönlich gesagt, er 302 Heinz Angermeier, Deutschland als politisches Rätsel. Gegenwartsanalysen und Zukunftsperspektiven repräsentativer Zeitgenossen des 20. Jahrhunderts, Würzburg 2001, S. 69-63 [dort auch Zitate von Foerster], 303 Friedrich W. Foerster, Erlebte Weltgeschichte 1869 - 1953. Memoiren, Nürnberg 1953, S. 382. 304 Wolfgang Benz, Art. Johann Wilhelm Muehlon, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 18, Berlin 1997, S. 293-294.

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werde sofort den Krieg erklären, wenn Russland mobil mache. Diesmal werde man sehen, daß er nicht umfalle; die wiederholte kaiserliche Betonung, in diesem Fall werde ihm kein Mensch wieder Unschlüssigkeit vorwerfen können, habe sogar fast komisch gewirkt." 305 Muehlon hat von diesen Unterredungen ein Memorandum für die deutschen Reichstagsabgeordneten verfasst, das - ebenso wie sein Brief an den Reichskanzler Bethmann Hollweg vom Mai 1917 - zur Sensation wird. Bereits Ende 1914 ist der pazifistisch gesinnte, aber dem organisierten Pazifismus fernstehende Manager aus Protest gegen den Waffenhandel seiner Firma aus dem KruppDirektorium ausgetreten. Im Herbst 1916 siedelt er in die Schweiz über, wo er informell für die deutsche Gesandtschaft in Bern arbeitet. Seine Tätigkeit für das Auswärtige Amt gibt er allerdings nach der Verkündung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges auf. In der Schweiz unterhält er Kontakte zu oppositionellen deutschen Kreisen und zu Regierungsvertretern der Entente, darunter auch der Berater Woodrow Wilsons: George D. Herron. Dazu später mehr. Durch das Bekanntwerden seines Memorandums gelangt Muehlon im letzten Kriegsjahr in Deutschland zu prekärer Berühmtheit. Auf die gegen seine Person gerichtete Diffamierungskampagne reagiert er mit der Offenlegung seiner politischen Gesinnung von Kriegsbeginn an: im März 1918 veröffentlicht er seine Tagebuchaufzeichnungen aus den ersten Kriegsmonaten unter dem Titel „Die Verheerung Europas". Das Buch ist nicht nur eine Rechtfertigung der eigenen Haltung, sondern auch der sich abzeichnenden Niederlage des Deutschen Reiches, reflektiert Muehlon darin doch die Gefahren, die von der politischen Moral in Deutschland und vor allem von einer Vorherrschaft Deutschlands in Europa infolge der ersten militärischen Erfolge 1914 ausgehen würden. 306 Damit zieht er bereits die von vielen Deutschen als glorreich empfundenen Siege zu Kriegsbeginn moralisch in Zweifel - ein für die deutsche Politik unerhörter Vorgang. Hinzu kommt, daß er in der Schweiz im Mittelpunkt eines Beziehungsnetzwerkes von Friedensfreunden und Gegnern des Wilhelminismus steht, darunter Namen wie die von Friedrich Wilhelm Foerster, Ernst Bloch, 307 Hermann Hesse, Alfred Fried, Hugo Ball, Leonhard Frank und Prinz Alexander Hohenlohe. Seine - letztlich vergeblichen Bemühungen, die politisch heterogene Schar der Kriegsgegner in einem ,3und der In-

305 Dr. Wilhelm Muehlon über die Schuldfrage, I. Sein Memorandum, in: Die Schuldfrage (Dokumente), Republikanische Bibliothek. Politische Broschüren, hg. v. S. Grumbach, Lausanne 1919, S. 31-34. 306 Abgedruckt in: Wilhelm Muehlon, Ein Fremder im eigenen Land. Erinnerungen und Tagebuchaufzeichnungen eines Krupp-Direktors 1908-1914, hg. u. eingeleitet von Wolfgang Benz, Bremen 1989, S. 95-237. 307 Vgl. zu Bloch in diesem Zusammenhang, insbesondere was die Hoffnungen auf und Enttäuschung über die Politik Wilsons betrifft: Lorenz Jäger, Die Reue des Ephialtes. Kreuzzug und Polizeiaktion: Ernst Bloch in den Weltkriegen, in: FAZ, Nr. 137, 16.6.2004, Seite Ν 3.; sowie zu den Kontakten mit Muehlon: Arno Münster, Ernst Bloch. Eine politische Biographie, Berlin/Wien 2004, S. 101, 111-115.

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tellektuellen" zu versammeln, zementieren unter seinen politischen Gegnern in Deutschland das Muehlon-Bild vom „Führer der deutschen Emigranten".308 Netzwerke in Oppositions- oder gar Exilzeiten sind ein Unterpfand für die Erlangung politischen Einflusses in Wendezeiten. Am 12. November 1918 beruft Kurt Eisner den Pazifisten und publizistischen Kämpfer gegen das „militaristische und nationalistische Deutschland"309 Friedrich Wilhelm Foerster zum Bayrischen Gesandten in Bern.310 General Ludendorff soll diese Berufung mit Genugtuung vernommen haben, da dies die Rufmordkampagne erleichterte, Foerster als „Inspirator der Novemberverbrecher" zu verleumden.311 Und Ludendorff hat angesichts von Eisners Personalpolitik noch eine weitere Gelegenheit, Wasser auf die Mühlen seiner Agitation zu lenken: auch wenn unklar bleibt, in welcher offiziellen Funktion, so wird gleichzeitig mit Foerster auch Wilhelm Muehlon zum diplomatischen Vertreter und Unterhändler der Regierung Eisner312 und betätigt sich als „wichtiger Verbindungsmann zu alliierten Stellen in der Schweiz".313 Der Exkurs in Leben und Werk von Foerster und Muehlon ist deshalb so wichtig, weil Robert Michels zu diesen beiden Unterhändlern von Eisner 1918/19 in einer engen politischen Beziehung steht. Getragen wird diese von ideellen Gemeinsamkeiten wie der Gegnerschaft zum deutschen Militarismus und zur kompromittierten SPD als auch von einer gemeinsamen politischen Apperzeption der Ereignisse, die wiederum dieses Trio vom Kriegsschulddiskurs eines Eduard Bernstein unterscheidet. Zur gemeinsamen Apperzeption des Politischen zählt insbesondere die Marginalisierung institutioneller Fragen bei der Gestaltung der Nachkriegsordnung zugunsten einer einseitigen Verschiebung der Perspektive auf die geistig-moralische Erneuerung sowie die Suche nach dem tugendhaften Führer als Reformator des deutschen Volkes. Wenn Foerster und Muehlon in der Forschung durchgängig dem liberalen, demokratischen und antimilitaristischen Spektrum314 der Schweizer Exilanten zugerechnet werden, dann hat diese Zuordnung sicherlich ihren guten Grund in der unzweifelhaften Gegnerschaft zum Nationalismus, zur deutschen Kriegspolitik, später zum Nationalsozialismus. Positive Ansätze einer republikanisch-demokratischen Ordnungsvorstellung dagegen 308 Wolfgang Benz, Der „Fall Muehlon", a.a.O., S. 562. 309 Vgl. Friedrich W. Foerster, Mein Kampf gegen das militaristische und nationalistische Deutschland. Gesichtspunkte zur deutschen Selbsterkenntnis und zum Aufbau eines neuen Deutschland, Stuttgart 1920. 310 Boris Barth, Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914-1933, Düsseldorf 2003, S. 225. 311 Bruno Hipler, Einleitung zu: Hipler (Hg.), Friedrich Wilhelm Foerster: Manifest fiir den Frieden. Eine Auswahl aus seinen Schriften (1893-1933), S. 13-35, S. 16. 312 Vgl. Alexander Sedlmaier, Deutschlandbilder und Deutschlandpolitik. Studien zur Wilson-Administration (1913-1921), Stuttgart 2003; Klaus Schwabe, Deutsche Revolution und Wilson-Frieden. Die amerikanische und deutsche Friedensstrategie zwischen Ideologie und Machtpolitik 1918/19, Düsseldorf, 1971. Besonders in der Studie von Schwabe finden sich über das Personenregister zahlreiche Belegstellen für Muehlons diplomatischen Dienst. 313 Klaus Schwabe, Deutsche Revolution und Wilson-Frieden, a.a.O., S. 246. 314 Wolfgang Benz, Muehlon, a.a.O.

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lassen sich bei Muehlon und Foerster nicht erkennen. In diesem Desinteresse an der institutionellen Gestaltung einer neuen politischen Ordnung, unterscheidet sich der sozialpädagogische und idealistische Schulddiskurs, der an Gesinnung und Geist ansetzt, fundamental von seinem Antipoden Max Weber, den man im Hinblick auf das Programm einer moralischen Erneuerung der Deutschen wohl als nationalistischen' Gegner empfunden und dessen Beitrag zur Gründung der ersten Demokratie auf deutschem Boden man ziemlich sicher gar nicht erst zur Kenntnis genommen hat.315 Es soll die zahlreichen ehrenwerten Merkmale ihrer politischen Biographie nicht schmälern und dennoch muß in diesem Zusammenhang auch festgehalten werden, daß Muehlon und Foerster als Berater, Unterhändler und diplomatische Vertreter der Regierung Eisner dienten, die eines ganz sicher nicht war: demokratisch legitimiert. Der oft genannte .demokratische Liberalismus' von Muehlon und Foerster läßt sich allenfalls aus ihrer Negation der antidemokratischen Kräfte im Kaiserreich und von Weimar konstruieren. Von einem positiven Einverständnis mit den formalen Verfahren einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist er aber weit entfernt, weil beide die Wünschbarkeit einer demokratischen Ordnung letztlich der Frage nach der moralischen Verfassung des Volkes unterordnen - darin besteht der fundamentale Unterschied zu Eduard Bernstein. Diese gesinnungsethische Perspektive, die die Läuterung der Moral höher veranschlagt als das demokratische Verfahren, verbindet wiederum Michels mit Foerster und insbesondere mit Muehlon. Worauf eine Präsidentenschaft Muehlons hinausgelaufen wäre, zeigt eines der brisantesten Dokumente dieses Kapitels: eine vertrauliche Unterredung über das Nachkriegsdeutschland.

9.4. Michels, Muehlon und die „schreckliche Waffe der Verproviantierung" Kurz nach der Ermordung von Kurt Eisner wird Wilhelm Muehlon das Angebot erhalten, bayrischer Ministerpräsident zu werden. Er lehnt ab.316 Michels' Kontakte zu Wilhelm Muehlon in den Wirren der unmittelbaren Nachkriegszeit bezeugt eine handschriftliche Notiz,317 aus der sich ohne große Interpretationskunst eine bislang unbekannte politische wie menschliche Verbundenheit mit dem ehemaligen Krupp-Direktor ableiten läßt. Aus dieser Quelle wie auch aus den im Münchner Institut für Zeitgeschichte aufbewahrten Briefen von Michels an Muehlon geht

315 Vgl. Max Webers Aufsätze „Deutschlands künftige Staatsform" und „Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland", in: Gesammelte politische Schriften, 5. Aufl. Tübingen 1988, S. 448-483, S. 306-443. 316 Vgl. den biographischen Artikel von L. Wieland, Wilhelm Muehlon, in: Hermes Handlexikon: Die Friedensbewegung. Organisierter Pazifismus in Deutschland, Österreich und in der Schweiz, hg.v. Helmut Donat und Karl Holl, Düsseldorf 1983, S. 277. 317 Appunti autobiografici di Roberto Michels, busta 1, ARMFE. Die lose Blättersammlung beginnt mit dem Satz: „II 7 corr. m'incontai coli dott. Muehlon", im folgenden zitiert als Michels, [m'incontai coli dott. Muehlon].

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hervor, daß die beiden sich vor und nach Eisners Tod mehrmals getroffen haben. In den Gesprächen mit Muehlon erfahrt Michels eine geistige Verwandtschaft, die offensichtlich wohltuend die allgemeine Entfremdung von Deutschland für einige Stunden durchbricht. Das unterstreicht er in seinem Brief an Muehlon v o m 2 8 . 1 . 1 9 1 9 kurz nach einem Besuch: „Es war mir eine hohe Freude, mit Ihnen eine so weitgehende Resonanz der Ideen feststellen zu können, w i e es mir in den letzten Jahren mit Deutschen nie möglich g e w e s e n ist." 318 Welche „Ideen" hier gemeint sind, läßt sich aus der handschriftlichen Notiz von Michels erschließen, die ein Gespräch mit Muehlon in Bern kurz nach Eisners Tod resümiert. Muehlon legt in diesem seine Gründe dar, warum er trotz Unterstützungszusagen der französischen Regierung, insbesondere des französischen Außenministers Pichón, das Ministerpräsidentenamt nicht übernehmen werde. Michels' Aufzeichnungen zufolge hat Muehlon aus politischer, moralischer und auch persönlicher Resignation abgelehnt. „Wie könnte ich j e mit solchen Leuten regieren", habe er mehrfach die Lage in Deutschland beklagt und dabei insbesondere die Arbeiter- und Soldatenräte gemeint. 3 1 9

318 Brief von Michels an Muehlon vom 28.1.1919, Archiv des Institutes für Zeitgeschichte München. 319 Michels, [m'incontai col dott. Muehlon], a.a.O.: Muehlon sei „sehr besorgt und erregt" gewesen sei, da ihm am Vortag das Amt des bayrischen Ministerpräsidenten angetragen worden sei. Gleichzeitig habe Muehlon, der „beste Beziehungen" zur französischen Regierung habe, ein Telegramm vom Außenminister Pichón erhalten, in welchem ihm im Falle einer Regierungsübernahme eine beträchtliche Menge an Lebensmittellieferungen für die bayrische Bevölkerung zugesagt worden sei. [„Il M. era molto preoccupato ed agitato avendo egli ricevuto la domanda la vigilia, se egli volesse accettare il portafoglio degli esteri e la presidenza stessa della Repubblica Bavarese. Aveva anche ricevuto un telegramma dal Pichón (il M. sta in ottimi termini col Governo Francese) nel quale, per il caso che egli volesse accettare l'incarico, il Governo Francese s'impegnava di consegnare alla popolazione bavarese una quantità cospicua di viveri."] Dieser Zusage scheint Muehlon wenig getraut zu haben, denn als Grund seiner Ablehnung führt er gegenüber Michels unter anderem die schlechte Versorgungssituation mit Lebensmitteln an, für die er auch die Politik der Entente mitverantwortlich macht. [„Prima di tutto egli era molto in forse sulla possibilità di un azione rigeneratrice in una Germania sprovvista di viveri (e su questo punto il M. non era alieno di disapprovare la politica, che egli qualificava neghittosa, dell'Intesa) e di energie morali ed intellettuali."] Offensichtlich war Muehlon trotz seiner „besten Beziehungen" zu unsicher, hieran als Regierungschef etwas ändern zu können, und auch im übrigen sind seine Argumente von einer Resignation geprägt, die das deutsche Volk im Prinzip für unregierbar erklärt. Das Nachkriegsdeutschland sei ein „chaotischer Wespenhaufen, der a priori jede Mühe unnütz macht" [„un vespaio caotico tale da rendere inutile a priori ogni sforzo"]. Beklagt wird unter anderem der Mangel an „moralischen und intellektuellen Energien"[s.o.], die „vollständige Indifferenz" der „besitzenden Klassen" gegenüber dem „politischen Leben" [„Le classi abbienti sono in preda alla più completa indifferenza a tutto quanto sa di vita politica"] und die Arbeiter- und Soldatenräte, die „völlig veralteten Vorurteilen" anhängen und von „aufgeblasenen, aber ideenlosen Personen" angeführt würden [„Le masse operaie, per contro, costituite a .consigli di operai e soldati', padrone del paese, si, ma ligie ai più vieti pregiudizi e capitanate da persone ampollose, ma vuote d'idee"]. „Wie könnte ich je derartige Leute regieren?", habe Muehlon wiederholt ausgerufen. [.„Come mai potrei governare con della gente simile?' eclamava, a più riprese, il Muehlon"]. Wenn Michels' Gesprächsnotiz den Tatsachen entspricht, hatte der designierte bayrische Mini-

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Die Gemeinsamkeit der politischen Ideen und moralischen Haltung gründet in Muehlons und Michels' gemeinsamer Überzeugung von der „schweren Verantwortung" des „imperialistischen Deutschlands" für den Weltkrieg320 und den Konsequenzen, die daraus im Kontext der Nachkriegszeit zu ziehen seien. Diese verlaufen parallel zur Krisendiagnose im Fall Eisner: Muehlon sei „überzeugt, daß man heutzutage Deutschland nicht mit der Methode des Parlamentarismus regieren können wird (da das Bürgertum korrupt ist und heimlich dem Ancien Régime anhängt), sondern allein mit der auf den Sowjets gestützten Diktatur (dabei gleichzeitig vermeidend, daß diese eine russische Wendung nehmen). Schließlich sagte Muehlon mir, daß er, wenn er die undankbare Berufung angenommen hätte, der Entente seine Bedingungen derart gestellt hätte, daß er mit ihrer Unterstützung und der Hilfe Bayerns in Deutschland tabula rasa hätte machen können, um die unheilbar kompromittierten Elemente wie Scheidemann, David und Erzberger zu zwingen, das Feld definitiv weniger politisch unaufrichtigen und verlogenen Elementen zu überlassen als diesen Ex-Paladinen Wilhelms des Großen." Dazu sei allerdings eine „neue Revolution" nötig.321 Wie bereits im Zusammenhang mit Michels' Bernstein-Notizen erwähnt, haben wir hier es erneut mit der zeittypischen Feinderklärung des positiven Kriegsschulddiskurses zu tun, der neben den MSPD-Politikern Scheidemann und David auch dem Zentrumspolitiker Matthias Erzberger die moralische Legitimation fur Regierungsämter im Nachkriegsdeutschland abspricht. Die Namensreihe ist ein Indiz für die heillose Lage, in die sich der moralistische Kriegsschulddiskurs von Muehlon - in der Wiedergabe durch Michels! - hineinmanövriert hat. Man sieht in Erzberger offensichtlich allein den früheren Annexionisten der ersten Kriegsjahre. Daß dieser Erzberger aber bald schon für einen Verständigungsfrieden eingetreten ist und sich als scharfer Gegner des U-Boot-Krieges zu Wort gemeldet hat, daß Erzberger als Reichsminister ohne Geschäftsbereich die Ansterpräsident Muehlon mit dem von ihm diagnostizierten Mangel an moralischer und intellektueller Energie sowie der Politikferne des deutschen Bürgertums mehr gemeinsam als er sich eingestehen wollte. 320 Michels, [m'incontai col dott. Muehlon]: „già direttore della casa Krupp ad Essen, resosi noto per le numerose sue pubblicazioni sinceramente contrarie alla Germania imperialista ed ammettenti tutte le gravi responsabilità della Germania per la guerra mondiale". 321 Michels, [m'incontai col dott. Muehlon]: „II Muehlon è d'altronde convinto che, oggi come oggi, non si potrà governare la Germania col metodo del parlamentarismo (essendo la borghesia corrotta e clandestinamente partigiana dell' ancien regime) ma unicamente colla dittatura appoggiata sui Sowiets (impedendo nello stesso tempo che essi prendano una piega-russa). In ultimo il M. mi disse che, se avesse accettato l'ingrata chiamata, avrebbe posto le sue condizioni all'Intesa in modo che spalleggiato da questa, egli avrebbe potuto, coll'aiuto della Baviera, far tabula rasa in Germania, costringendo gli elementi irredemediabilmente compromessi quale I Scheidemann, David ed Erzberger, a lasciare definitivamente il campo libero ad elementi politicamenti meno disonesti e bugiardi di quegli ex-paladini di Guglielmone. Essere certo però che tale cambiamento non potrà farsi senza una nuova rivoluzione."

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nähme des Versailler Friedensvertrags befürworten wird, während der Außenminister Brockdorff-Rantzau sich zurückhält, um sich ja nicht die Hände schmutzig zu machen, und daß Erzberger deshalb den Generalangriffen der politischen Rechten ausgesetzt ist und Kurt Eisner als nächstes prominentes Opfer eines nationalistischen Attentats im August 1921 folgen wird - all das gerät der unpolitischen Gesinnungspolitik der Deutschlanderneuerer völlig aus dem Blick. Möglicherweise hat aber auch die persönliche Erfahrung, im demokratischen Nachkriegsdeutschland verfolgt zu werden und dort des eigenen Lebens nicht mehr sicher zu sein, den undifferenzierten Blick auf die politischen Verhältnisse befördert. Muehlon wird auch nach der Revolution in seinem Schweizer Exil bleiben, weil er in Deutschland mit dem Schlimmsten rechnen muß. 1922 flieht auch Friedrich Wilhelm Foerster vor den Morddrohungen in die Schweiz. Wie verständlich die Äußerungen auch immer vor dem Hintergrund der persönlichen Biographie erscheinen mögen, so ähnelt Muehlons Verhältnis zur Weimarer Republik strukturell auf auffällige Weise der bornierten Sicht der antirepublikanischen Totalverweigerer auf der Rechten und der Linken. Man wird hierbei neben der persönlichen Verfolgung auch in Rechnung stellen müssen, daß die Enttäuschung über den „unzulänglichen Systemwechsel in Deutschland" für Muehlon immens gewesen sein muß und ihm in Verbindung mit seiner „absoluten politischen Ethik" einen „gangbaren Weg in die praktische Politik" versperrt hat.322 Zudem ist zu berücksichtigen, daß Muehlons Gedanken von Michels aufgeschrieben, d. h. redaktionell' bearbeitet worden sind. Es ist nicht auszuschließen, daß die ideologische Disposition des Zuhörenden das Gesagte entsprechend einfärbt oder auch verfälscht. In jedem Fall scheint sich Michels, der seine Quelle geradezu überschwenglich als einen besseren, ja: neuen Deutschen hinstellt, mit dem Inhalt des Gesprächsprotokolls identifiziert zu haben. Dem Fazit seines MuehlonBerichtes schließt sich Michels dann auch an: „Insgesamt teilt Muehlon die Idee von vielen (und auch des Schreibenden), daß die Entente, indem sie sich der schrecklichen Waffe der Verproviantierung bedient, imstande ist, ein neues Deutschland zu schaffen, das von tüchtigen und ehrenwerten und wahrhaft menschlichen Personen geleitet wird. Gewiß fehlen nunmehr solche Menschen in Deutschland. Muehlon scheint auf Seiten der Minderheit zu stehen."323 Was ist mit der „schrecklichen Waffe der Verproviantierung" gemeint? Beim Begriff „Verproviantierung" mag man zunächst an Muehlons Bemühungen um eine ausreichende Lebensmittelversorgung der bayrischen Bevölkerung während Eisners Amtszeit 322 Wolfgang Benz, Der ,Fall Muehlon'. Bürgerliche Opposition im Obrigkeitsstaat während des Ersten Weltkrieges, in: Vierteljahreshefte fiir Zeitgeschichte, Bd. 18, 4. Heft, Oktober 1970, S. 343365, S. 364. 323 Michels, [m'incontai coli dott. Muehlon]: „Insomma il M. condivide l'idea di molti (ed anche di chi scrive) che valendosi dell'arma terribile del vettovagliamento l'Intesa è in grado di crear una nuova Germania diretta da persone probe ed oneste, e veramente umane. Certo quegli uomini scarseggiano ormai in Germania. Il Muehlon mi sembra essere del piccolo numero."

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denken, als er gemeinsam mit Friedrich Wilhelm Foerster in entsprechenden Verhandlungen mit alliierten Diplomaten in der Schweiz stand.324 Die Rede von der „schrecklichen Waffe" suggeriert dagegen eine Rationierung oder Einschränkung der Versorgung, möglicherweise um damit ein politisch erwünschtes Verhalten zu erzwingen. Derartige Optionen passen eigentlich nicht zu Muehlon, der ja nicht nur für die Anerkennung der deutschen Kriegsschuld eingetreten ist, sondern ebenso vehement die Zumutungen des Versailler Vertragswerkes abgelehnt hat, weil sie seiner Meinung nach den „Wiederaufbau des künftigen Europa" zunichte machen würden.325 Möglicherweise läßt sich der Sinn der „schrecklichen Waffe der Verproviantierung" durch die Quellen der Diplomatiegeschichte erschließen. Es handelt sich dabei um eine auf Seiten der Sieger diskutierte mögliche Strategie im Umgang mit dem Nachkriegsdeutschland. So wurde im Frühjahr 1919 im Viererrat der Alliierten der Plan erörtert, durch separate Lebensmittellieferungen Bayern vom Reich und damit von Preußen zu entfremden. Bei diesen Überlegungen, die wieder fallen gelassen wurden, nannte der amerikanische Präsident Woodrow Wilson auch den Namen Wilhelm Muehlons „als den zu unterstützenden bayerischen Politiker".326 Muehlon und Michels waren ebenso wie Foerster über derartige Diskussionen innerhalb der Alliierten bestens informiert - dank ihrer Kontakte zum Wilson-Vertrauten George Davis Herron. Dieser hatte im Februar 1919 mehrere Zusammenkünfte mit den deutschen Exilanten und Eisner-Unterstützern in Bern organisiert. Thema war dabei die Unzufriedenheit des amerikanischen Präsidenten mit dem „gegenwärtigen Regime" in Deutschland, in dem sich viele einstige Kriegsunterstützer befanden. „Einer neuen deutschen Regierung" gegenüber sei Wilson dagegegen bereit, „moralischen Kredit einzuräumen". Wie diese neue Regierung ausgesehen hätte, erschließt sich aus einer Kabinettsliste, die damals vorgelegt worden ist: Wilhelm Muehlon sollte Reichspräsident werden, Kurt Eisner Kanzler und F. W. Foerster wäre für den Bereich Kultur und Bildung zuständig gewesen.327 Die Notiz von einem Gespräch ist sicherlich, zumal in turbulenten Zeiten, eine Momentaufnahme. Aber auch wenn die Option der „schrecklichen Waffe der Verproviantierung", nicht zuletzt von den Alliierten selbst, schon bald wieder verworfen worden ist, zeigt doch das Spielen mit dieser Option die Resignation und Verbitterung der beiden Gesprächspartner an: über die in ihren Augen erfolgte Machtübernahme einstiger Kriegsbefürworter, über die Kontinuität wilhelminischer Eliten in administrativen und sozialen Schlüsselpositionen und über den Tod Eisners. „Verproviantierung" ist in diesem Kontext ein Euphemismus für eine Umerziehung durch alliierte Zwangsmaßnahmen. Der Begriff steht mit der Demokratie insofern auf dem Kriegsfuß, als er eine deutsche Exekutive in letzter Instanz vom Wohlwollen der alliierten Militäradministra324 Wolfgang Benz, Der ,Fall Muehlon', a.a.O., S. 363. 325 Benz, Der ,Fall Muehlon', a.a.O., S. 364. 326 Alexander Sedlmaier, Deutschlandbilder und Deutschlandpolitik. Studien zur Wilson-Administration (1913-1921), Wiesbaden/Stuttgart 2003, S. 126. 327 Klaus Schwabe, Deutsche Revolution und Wilson-Frieden. Die amerikanische und deutsche Friedensstrategie zwischen Ideologie und Machtpolitik 1918/19, Düssldorf 1971, S. 337.

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tion abhängig macht und demokratische Wahlen nur unter Vorbehalt akzeptieren kann. Eine deutsche Reichsregierung Muehlon-Eisner-Foerster wäre der verlängerte Arm der Alliierten gewesen. Gewiß läßt sich der vorübergehende Verzicht auf bzw. die Einschränkung der demokratischen Selbstbestimmung nach Kriegen durchaus mit dem Argument rechtfertigen, daß die Stabilität der Ordnung für eine Übergangszeit einer auswärtigen Garantiemacht bedarf und die noch zu gründende Demokratie vor ihrer Instrumentalisierung durch ihre Feinde, insbesondere den Anhängern des ,Ancien Regime", geschützt werden muß.328 Indes lassen sich die zweifellos vorhandenen Vernunftgründe für eine kurzfristige Suspendierung demokratischer Verfahren in der Nachkriegsordnung einstmals autokratischer Staaten im Fall von Michels und Muehlon nicht zur demokratischen Rehabilitation der beiden Gesprächspartner heranziehen. Die Notiz des Michels-MuehlonGespräches weist in eine andere Richtung und macht die oben bereits angesprochene politische Apperzeption der Kriegsschuldethiker kenntlicher denn je. Diese manifestiert sich in der Hoffnung auf eine personal-charismatische Erneuerung von Politik. Was auch immer „Verproviantierung" meint, das eigentliche Skandalon findet sich im folgenden Finalsatz: ein neues Deutschland zu schaffen, das von tüchtigen und ehrenwerten und wahrhaft menschlichen Personen geleitet wird. Dieser Satz Muehlons in der redaktionellen Bearbeitung und mit voller Zustimmung von Michels ist gleichsam der Beginn einer völlig neuen politischen Philosophie in Michels' Entwicklung: die der idealistischen Eliteherrschaft und charismatischen Neubegründung des Politischen. Der Satz fallt im Kontext der deutschen Kriegsschulddebatte. Und in diesem Kontext ist seine Semantik destabilisierend, entlegitimierend und subversiv: sie richtet sich gegen Geist und Form der neuen politischen Ordnung.329 Michels' Unterredung mit Muehlon offenbart erstmals jene Geisteshaltung, die ihm von dem Romancier Jules Romaines in den dreißiger Jahren retrospektiv für das Jahr 1907 in den Mund gelegt worden ist, um so seinen sich vermeintlich schon vor dem Kriege präfigurativ herauskristallisierenden faschistoiden revolutionären Idealismus zu fingieren.330 Während wir diese Legende bereits dekonstruiert haben, muß an dieser Stelle eingeräumt werden, daß Romaines Buchtitel „Les hommes de bonne volonté" mit seinem fürchterlichen Revers des Umschlagens guter Absichten in menschenverachtende, undemokratische und antiliberale Politik dem Michelsschen Kriegsschulddiskurs durchaus nahe kommt. Wer Ohren hat zu hören, kann sich ausmalen, worauf eine Ministerpräsidentenschaft Muehlons - im Michelsschen Verständnis - wohl hinausgelaufen wäre: auf die ethische Erziehungsdikatur eines erbarmungslosen, aber eben ,gut ge-

328 Beispiele sind Afghanistan oder der Irak. 329 Darin besteht zugleich der gravierende Unterschied zu Michels' späterem Philofaschismus. Im italienischen Kontext nach der Machtübernahme Mussolinis wird das Konzept vom ,capo carismatico' alles andere als subversiv sein: es ist vielmehr systemstabilisierend, apologetisch und höchst konservativ. Eine moralische Fundamentalkritik wie die am Nachkriegsdeutschland hat Michels gegenüber Italien nie geübt. Im italienischen Kontext verhält er sich auch nach dem Weltkrieg stets loyal zur Regierung - vor und nach dem Aufstieg des Faschismus. 330 Vgl. zu Romaines die FN 13 in Kapitel IV. 1.1. Die Legende von Dresden.

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meinten' Kriegsschuld-Jakobinismus, der sich möglicherweise auf ausländische Truppen gestützt hätte und der in seinem Generalverdacht gegenüber den Deutschen, unter denen die tüchtigen, ehrenwerten und wahrhaft menschlichen Charaktere „nunmehr" [!] rar sind, sicherlich kein demokratisches Verfahren mit gleichen Erfolgschancen fur alle Bürger und Gruppen erlaubt hätte. Da allerdings Muehlons elitäre Volkspädagogik in einem Idealismus wurzelt, der permanent in Resignation verfällt, ist zu bezweifeln, ob er wirklich in eine derartige Regierung eingetreten wäre, wenn sich ihm die Chance geboten hätte. Die Gesprächsnotiz mit Michels läßt das wenig wahrscheinlich erscheinen. Sicher ist dagegen, daß in Robert Michels 1919 die Hoffnung auf eine personalcharismatische Neubegründung der Politik in Deutschland aufkommt und er dabei die neue Elite „tüchtiger und ehrenwerter und wahrhaft menschlicher Personen" nicht an ihrer demokratischen Legitimität, sondern an ihrer idealistischen Kompetenz messen lassen will. Die dabei als Nachweis der Regierungsfähigkeit von Michels geforderte virtù hätte als Leitmotive sicherlich die folgenden zu allererst beinhaltet: Anerkennung der deutschen Kriegsschuld und Aussöhnung mit Frankreich, Entmachtung der sozialdemokratischen und preußischen Eliten in Deutschland. Damit soll nicht behauptet werden, daß von Michels' Reaktion auf die unmittelbare Nachkriegszeit in Deutschland eine zwingende Denkbewegung ausgeht, die seine Option für den italienischen Faschismus präfiguriert. Trotz einer bis in die politische Sprache vergleichbaren Argumentationsfigur bei der Legitimation der vorgestellten Führerschaft von 1919 und der realen von 1925ff. ist Michels' Philofaschismus, wie wir noch sehen werden, eine ganz andere Geschichte mit völlig unterschiedlichen kontextuellen Bedingungen. Gleichwohl ist Michels' Hoffnung auf eine Erneuerung durch die Herrschaft der Tüchtigen und Integren, gewissermaßen die charismatische Führerschaft avant la lettre, kein singulares Phänomen, sondern auch als Ausdruck eines repräsentativen geistesgeschichtlichen Trends zu verstehen: sie ist ein weit verbreitetes Kernelement in der „Geschichte der Auflösung und Zerstörung liberaler bürgerlicher Kultur" gewesen.331 Robert Michels, dessen Beeindruckbarkeit durch und eklektischer Umgang mit zeitgenössischen Trends ihn gewissermaßen zu einem Seismographen kultureller Umbrüche machen, ist hiervon - wie viele andere Intellektuelle auch - zweifellos beeinflußt worden. Für uns überraschend bleibt dabei, daß nicht Italien Michels' erstes Gedankenexperiment mit einer charismatisch-autoritären Herrschaftsform gewesen ist.332 Vielmehr ist der positive Kriegsschulddiskurs in Deutschland der politische Kontext, in dem erstmals bei Michels die Vision einer idealistischen Elitenherrschaft Konturen annimmt und als ethische Alternative einer durch die „Mächte der Dunkelheit", d. h. vor allem der Vergangenheit, korrumpierten deutschen Demokratie gegenübergestellt wird. Die Teil331 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Die Positivität des Geistigen, in: Hübinger/vom Bruch/Graf, Kultur und Kulturwissenschaften um 1900 II: Idealismus und Positivismus, a.a.O., S. 53-85, S. 84. Vgl. auch Hans Mommsen, Die Auflösung des Bürgertums seit dem späten 19. Jahrhundert, in: Jürgen Kocka (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 288-315. 332 Interessanterweise hat er Mussolinis Regime den Weberschen Begriff sogar erst in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre verpaßt.

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habe an diesem Diskurskontext läßt sich dabei fast ausschließlich durch archivalische Quellen belegen. Die leider in allen Fällen nicht vollständig erhaltene Korrespondenz enthält auch über den hier diskutierten Personenkreis der Eisner, Muehlon und Foerster333 Namen von seinerzeit keinesfalls marginalen Intellektuellen, so etwa den aus deutscher Sicht wohl ketzerischsten Publizisten der Kriegsjahre: den Elsässer Salomon Grumbach.334 Unsere Dokumentation des intellektuellen Umfelds von Michels' Äußerungen zur Kriegsschuldfrage wäre allerdings unvollständig, wenn wir nicht auf eine besonders enge politische wie freundschaftliche Beziehung in diesem Kontext eingehen würden, die der Forschung ebenfalls bislang unbekannt war: auf Michels' inniges Verhältnis zu George Davis Herron, seinerzeit Berater von U.S.-Präsident Wilson.

9.5. Von ,kriegsentscheidender' Bedeutung: Michels' Freundschaft zu seinem „Bruder" George Davis Herron „The month I passed in Turin was very delightful and I felt again, as ever, quite italian"335

National, da hat Max Weber völlig recht gehabt, saß Michels in diesem Krieg „zwischen allen Stühlen". Sein ostentativer italienischer Patriotismus ist auch ein Optativ, dem in vielerlei Hinsicht die Anerkennung - z. B. die italienische Staatsbürgerschaft versagt bleibt. Allen Erfahrungen von Fremdheit in diesem Krieg zum Trotz hat Michels aber gerade in der Schweiz ausreichend Gelegenheit zu Begegnungen mit Gleichgesinnten und Freunden. So etwa beim Marchese Raniero Paulucci di Calboli, dem italienischen Botschafter in Bern von 1912 bis 1919. Paulucci ist es übrigens, der im Auftrag der Regierung Salandra am 27.8.1916 die italienische Kriegserklärung an Deutschland übergibt. Zu dem Marchese hat Michels während der Kriegsjahre nicht nur als Freund 333 Vgl. Brief von Foerster an Michels, 9.3.1919, ARMFE: „Also Mittwoch den 19. Thema: Die moralischen Grundlagen des Völkerbundes. Vielen Dank für die sehr freundliche Einladung [...]". Erstaunlicherweise lebt die Beziehung zwischen Foerster und Michels - gemessen an der archivierten und heute noch zugänglichen Korrespondenz, die auch viele Lücken aufweist - erst wieder im Kontext des italienischen Faschismus auf. Foerster wird dabei Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre Michels in seine friedenspolitischen Initiativen einzubinden versuchen, weil er in einem starken Italien eine Garantiefunktion gegen den deutschen Imperialismus erblickt. Vgl. in Kapitel X die Unterkapitel 6 und 7. 334 Salomon Grumbach war der Herausgeber der „republikanischen Bibliothek", in deren Reihe unter anderem Muehlons Tagebuchnotizen zur deutschen Schuldfrage veröffentlicht worden sind (s. o.) Grumbach hatte außerdem eine umfangreiche Dokumentensammlung zum selben Thema herausgegeben (Salomon Grumbach, Das annexionistische Deutschland, Lausanne 1917). Vgl. den Brief von Grumbach an Michels vom 29.11.1918, ARMFE: „Ich hoffe Sie nächstens in Basel aufzusuchen [...]: dann wollen wir über das Erstaunliche, was sich vollzogen hat, in Ruhe sprechen." 335 Michels an Herron in einem undatierten Brief ca. 1914; archivalische und sachliche Hinweise im folgenden Unterkapitel.

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einen privilegierten Zugang. Paulucci erkennt Michels auch als Italiener an und integriert ihn informell in die Arbeit der Botschaft. Michels hat sich dafür später bei Paulucci bedankt, als er dessen an seinen Kriegsverletzungen verstorbenen Sohn in zwei Artikeln als einen „Idealtypus des Kriegers" würdigt - zu einem Zeitpunkt, als viele vom Krieg schon gar nicht mehr reden wollen.336 In der italienischen Gesandtschaft dürfte Michels darüberhinaus zahlreiche Repräsentanten der Entente, Politiker, Wissenschaftler, Künstler und Literaten, aber auch deutsche Exilanten getroffen haben337 falls er diese nicht ohnehin selber mit eingeführt hat, wie das folgende Beispiel zeigt. In seinen Paulucci-Erinnerungen berichtet Michels davon, daß er zu einem der Botschaftsempfange während der Kriegszeit einen alten Freund mitgebracht habe: George Davis Herron (1862-1925). Dies habe Paulucci di Calboli die Gelegenheit geboten, durch Überzeugungsarbeit Herrón endlich von dessen zögerlicher Haltung ab- und ihn dazu zu bringen, sich „resolut auf die Seite der Entente" zu schlagen. Michels hat in seinen Erinnerungen diese Begegnung zum definitiven Wendepunkt in Herrons Kriegshaltung erklärt.338 Wer Herron nicht kennt, wird sich fragen, warum Michels das Treffen zwischen ihm, Herron und Paulucci di Calboli - das aus sachlichen Gründen spätestens im Herbst 1916, vielleicht sogar Ende September/Anfang Oktober 19 1 6 339 stattgefunden haben muß - noch 1931 für berichtenswert hält. George D. Herrón hat bis zur Jahrhundertwende als sozialpolitisch engagierter Pfarrer und Theologe in Iowa gewirkt. Er gilt als ein nicht unbedeutender Popularisierer des „sozialen Gospels" in den USA der 1890er Jahre und agitiert in der sozialistischen Partei der USA für einen christlichen Sozialismus. 1901 kommt es zum sogenannten Herron-Rand-Skandal, da der Pfarrer seine erste Frau zugunsten der jüngeren Carrie Rand aus der millionenschweren Rand-Dynastie verläßt. Aus dem Erbe seiner verstorbenen Schwiegermutter gründet George Herrón mit Carrie Rand 1905 die Rand School of Social Science in New York, die ihr Lehrpersonal aus dem Umfeld der American Socialist Party rekrutiert. Da seine gesundheitlich angeschlagene Frau das Klima in Iowa 336 Michels, Ein Idealtypus des Krieges (Auf den Tod des jungen Fulcieri Paulucci di Calboli), in: Basler Nachrichten, Nr. 105, 4. März 1919; Michels, La Morte del Tenente Fulcieri Paulucci, in: Pagine Italiane, Nr. 13, 29. März 1919. 337 Michels, Raniero Paulucci di Calboli alla Legazione di Berna durante la guerra mondiale, in: Rassegna Italiana, Juni 1931, S. 517-522. 338 Michels, Raniero Paulucci di Calboli, a.a.O., S. 519: Paulucci di Calboli „seppe egregiamente profittare delle relazioni, procurategli da chi scrive queste righe, col prof. Georges D. Herron, allora residente a Ginevra ove fungeva da Eminenza Grigia della diplomazia americana in partibus inftdelium, e che egli andava spesso a vedere nella sua villa dello Chemin de Cottages." Vgl die Anm. auf Seite 522: „Chi scrive ha ottime ragioni per essere convinto che l'azione persuasiva ed abile del Paulucci sull 'Herron ha concorso molto ad indurre questi ad abandonnare il suo atteggiamento ondeggiante, incerto e cristiano-socialista, per schierarsi risolutamente coll'Intesa." 339 In ihrem Brief vom 5.10.1916 gratuliert Gisela Michels George Herron zu seinem „Kriegseintritt". Da es zum amerikanischen Kriegseintritt erst ein halbes Jahr später kommt, kann es sich nur um Herrons persönlichen handeln. Zu der Ausweitung und zum Ort dieses Briefes wie auch der übrigen Michels-Herron-Korrespondenz unten mehr.

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nicht verträgt, ziehen die Herrons schon bald nach Italien und leben dort in einer Villa über den Hügeln von Florenz mit dem Namen „La primola".340 1914 beginnt eine weitere Phase im Leben Herrons, persönlich, weil er nach dem Tod seiner zweiten Frau zum dritten Mal heiratet, politisch, weil er sein Domizil in die Schweiz verlegt und sich dort auf das Parkett der informellen Diplomatie begibt, was ihm den Ruf einer „Grauen Eminenz der amerikanischen Diplomatie"341 einbringt. Möglicherweise hat Robert Michels deshalb Herrons kriegspolitische Wende herausgestrichen. Denn Herron soll verschiedenen Quellen zufolge seinerzeit einen besonders privilegierten Zugang zum Machthaber gehabt haben. Er gilt „allgemein als einer der engsten Vertrauten des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson".342 Die Berichte Herrons über die politische Situation in Europa hatten demzufolge mehr Chancen, im Weißen Haus gelesen und gewürdigt zu werden, als die der regulären Diplomaten der US-Administration. Ein Grund dafür war, daß Wilson gegenüber den Karrierediplomaten äußerst mißtrauisch war und er sich für besonders delikate Aufgaben anstelle der regulären diplomatischen Stäbe lieber geheimer privater Agenten wie eben Herrón bediente,343 der obendrein aufgrund seines gleich zu Kriegsbeginn bezogenen Genfer Domizils vorzügliche Kontakte zur internationalen Politik und Diplomatie, aber auch zu deutschen Exilanten hatte. Ein zweiter Grund für Herrons privilegierte Position könnten politische Schriften gewesen sein, welche „die beiden Männer einander näher" brachten, wie der tschecheslowakische Staatspräsident Masaryk sich erinnert, „denn Wilson erkannte die Darstellung des amerikanischen Professors als richtig und zutreffend an."344 Was nicht weiter verwundert, denn Herrón interpretierte nicht nur, sondern identifizierte sich vorbehaltlos mit Wilsons Politik, ja er hob sie insbesondere nach der Kriegserklärung gegen Deutschland in den Rang einer weltgeschichtlichen Mission und popularisierte damit Wilsons Kurs: diesen Krieg zu führen, um alle Kriege zu beenden und die freiheitliche Demokratie in der Welt zu etablieren. In dem Band „Woodrow Wilson and the World's Peace" präsentiert Herron Wilson als Helden und Mann der Vorsehung, der die Welt vom Imperialismus erlösen wird. Spätestens jetzt gilt er als Wilsons Mann des Vertrauens. Die Schlachtordnung des Westens, der sich nach seinem Selbstverständnis in einem Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei, der Demokratie gegen die Autokratie und der Freiheit gegen die Unterdrückung befindet, wird von Herron in ihrer Dichotomie übernommen und religiös überhöht. Wilson bekommt messianische Züge,

340 Vgl. Susan Curtis, George Davis Herron, in: The United States in the First World War: an Encyclopedia; ed. Anne Cipriano Venzon, New York 1995, S. 275-276; Mitchell P. Briggs, George D. Herrón and the European settlement, Stanford University 1932. 341 Michels über Herron, in: Raniero Paulucci di Calboli, a.a.O.; italienisches Originalzitat FN oben. 342 Bernhard Grau, Kurt Eisner, a.a.O., S. 389 343 Klaus Schwabe, Deutsche Revolution und Wilson-Frieden. Die amerikanische und deutsche Friedensstrategie zwischen Ideologie und Machtpolitik 1918/19, Düsseldorf 1971, S. 22. 344 So die Erinnerung des tschechslowakischen Staatspräsidenten Thomas G Masaryk. Vgl. ders., Die Weltrevolution. Erinnerungen und Betrachtungen, Berlin 1925, S. 318.

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während die Deutschen in Herrons Weltsicht die Rolle des Satans spielen.345 Auch propagiert er die Gründung eines Völkerbundes, den er am liebsten schon zu Kriegszeiten realisieren würde, als Allianz der Sieger, die dann nach dem Krieg die Beitrittsverhandlungen mit den Verliererstaaten aufzunehmen hätte. Wenn Michels schreibt, daß der ursprünglich mit einem christlichen Sozialismus und Pazifismus sympathisierende Herron allerdings von der Notwendigkeit der amerikanischen Kriegsintervention beim Gespräch mit Paulucci di Calboli erst noch überzeugt werden mußte, dann liegt hier eine interessante Parallele zu Wilson vor, der noch bis kurz vor vor der amerikanischen Kriegserklärung an Deutschland (April 1917) die Unternehmung sehr skeptisch betrachtete und das Land aus dem Großen Krieg drei Jahre lang herauszuhalten versuchte - bis deutsche U-Boote am 18. März 1917 drei USSchiffe versenkten. 346 Bei dem nun erfolgenden abrupten Kurswechsel der amerikanischen Außenpolitik - Wilson muß innerhalb kürzester Zeit die amerikanische Nation auf den Kriegseintritt propagandistisch einstimmen und ihr erklären, daß der Kriegseintritt unverzichtbar ist und die USA bei den Friedensverhandlungen eine führende Rolle spielen müssen - wird er von George D. Herron publizistisch unterstützt. Herron gelingt in zwei Büchern das Kunststück, die zögerliche Haltung vor dem Kriegseintritt und die Kriegsmission danach in Einklang zu bringen. Robert Michels wird die politische Propagandaleistung 1918 Herrons dadurch würdigen, daß er dessen oben zitiertes WilsonBuch in den Rang einer Wahrsagung hebt 347 und es als einen der wesentlichen Faktoren wertet, die in kurzer Zeit die kriegsskeptische Atmosphäre in den USA zugunsten einer „nationalen Energie" verwandelt haben, die nötig war, um „gegen den Block der mitteleuropäischen Autokratien" in den Krieg einzutreten.348 Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch der Titel eines weiteren Kriegsbuches von Herron: „The Menace of Peace" 349 - die Bedrohung durch den Frieden! In diesem drückt sich Herrons völlige Abkehr vom Gesinnungspazifismus früherer Tage aus. Sein manichäisches Weltbild stilisiert in der Folge den Krieg zu einer Entscheidungsschlacht zwischen Gott und Satan, zu einem „amerikanischen Kreuzzug" gegen den „Germanismus". 350 Einen Kompromiß- bzw. Verständigungsfrieden, der vieles beim 345 Alexander Sedlmaier, Deutschlandbilder und Deutschlandpolitik. Studien zur Wilson-Administration (1913-1921), Stuttgart 2003, S. 97. 346 Vgl. Stephan Bierling, Geschichte der amerikanischen Außenpolitik. Von 1917 bis zur Gegenwart, München 2003, S. 74: „So sehr Wilson in den ersten drei Kriegsjahren versucht hatte, die Vereinigten Staaten aus dem europäischen Großmächtekonflikt herauszuhalten, so vehement stürzte er sich nun in ihn hinein." 347 Michels, Il presidente Wilson e la guerra mondiale, in: Sera, Nr. 82, 23. März 1918. Ich danke Federico Trocini für seine Recherche nach diesem schwer auffindbaren Artikel. Dort heißt es: „Herron ha dimostrato di aver di fronte alle vedute del grande uomo di Stato un dono che non esiteremo a chiamare divinatorio." 348 „[...] creare man mano negli Stati Uniti un'atmosfera politica la quale rendesse possibile il verificarsi di una energia nazionale bastevole a lanciare contro il blocco delle autocrazie medieeuropee le forze compatte della democrazia americana [...]. 349 o. O., 1917. 350 George D. Herron, Germanism and American Crusade, New York 1918.

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Alten lassen würde, konnte und durfte es vor diesem Hintergrund nicht geben.351 Das Ziel mußte vielmehr der „militärische Totalsieg" sein, weshalb Herron den Waffenstillstand im November 1918 als Kardinalfehler der Alliierten betrachten wird.352 Herron zählt dann auch nach dem Krieg zu denjenigen, die in Deutschland den heimlichen Sieger sehen: erstens werde sich das Land erholen und erneut die Dominanz in Europa anstreben; zweitens sei der Versailler Friede ein „preußischer Friede", weil die Alliierten bei den Verhandlungen sich „Preußens politische Philosophie" zu eigen gemacht haben. Dieser Friede trage den „Keim neuer Kriege in sich".353 Später wird er seine Enttäuschung auf den Begriff der „Niederlage im Sieg" bringen.354 Die Alliierten mochten kurzfristig den Sieg davon getragen haben, aber die amerikanische Mission war gescheitert - schließlich hatte Herron doch ebenso wie sein Präsident geglaubt, „daß Amerikas Teilnahme an dem Kriege dessen ganze innere Beweggründe verändern und ihn schließlich so abschließen würde, daß er der letzte der großen Menschheitszwiste sein würde."355 Wilson soll über sein Verhältnis zu Herron einmal gesagt haben: „Herron ist the only man who really understands me."356 Die überlieferten Quellen zeigen vor allem einen starken Glauben an seinen Präsidenten: Herron war von dem politischen und persönlichen Potential Wilsons derart überzeugt, daß seine internen politischen Lageeinschätzungen zuweilen an Realitätsverweigerung grenzten. Immerhin dürfte damit aber auch seine Stilisierung des US-Präsidenten zum Erlöser weniger instrumentell-propagandistisch motiviert gewesen, sondern offenbar ehrlichem Führerglauben entsprungen sein: ,J)as deutsche Volk", schreibt Herron in zwei Berichten vom 5. und 22. Januar 1919, „getäuscht, seiner eigenen Niederlage nicht bewußt, blicke dennoch unbeirrt zu Wilson auf. Es sei bereit, jede Strafe aus seinen Händen entgegenzunehmen, weil er allein sie in gutem Glauben verhängen würde. Was Europa brauche, sei eine Besetzung durch amerikanische oder alliierte Truppen und die Verteilung von Lebensmitteln durch die Okkupanten. Auch das deutsche Volk werde ein solches Vorgehen zu 90 Prozent begrüßen. Einen tieferen Sinn würden all diese Maßnahmen aber nur erhalten, wenn es Wilson gelänge, sein Friedensprogramm mit Hilfe der breiten Massen Europas, wenn nötig revolutionär, gegen die reaktionären Regierungen durchzusetzen und mit der Bildung eines Völkerbundes zu krönen. "357 Es mag unter anderem auch derartigen Dokumenten von Herrons Beratertätigkeit geschuldet sein, daß die ohnehin wenigen Passagen in der Forschungsliteratur über ihn nicht frei von Spott sind. Ein Autor nennt ihn sogar einen „feierlichen Esel".358 Unge-

351 Erik von Kuehnelt-Leddihn, George Davis Herron - ein idealistischer Unheilstifter, in: Europa, 38. Jg., Nr. 5, Mai 1987. 352 Schwabe, Deutsche Revolution ..., S. 297. 353 George D. Herrón, Der Pariser Frieden und die Jugend Europas, Berlin 1920, S. 19-20. 354 George D. Herron, The Defeat in the Victory, London 1921. 355 Herron, Der Pariser Frieden ..., a.a.O., S. 15. 356 Zit. n. Schwabe, a.a.O., S. 22. 357 Zit. n. Schwabe, S. 196-197; zur Betonung der indirekten Rede kursiv von mir. 358 Kuehnelt-Leddihn, Herron, a.a.O., S. 27.

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achtet der Frage, ob Herrón seinem Dienstherrn 1919 realistisch oder weltfremd berichtet hat, ist die politische Kultur, die sich in diesen Zeilen mitteilt, von Interesse: allem voran die Vorstellung, das deutsche Volk blicke unbeirrt zu Wilson auf und würde jede Strafe aus seinen Händen entgegennehmen, weil diesen das Alleinstellungsmerkmal seines „guten Glaubens" auszeichne, steht für einen charismatischen Begriff politischer Legitimität, den wir bereits im Kontext des positiven Kriegsschulddiskurses kennengelernt haben, namentlich bei Michels, der diese charismatische Kompetenz der massenhaften Überzeugungsfähigkeit zur kollektiven geistig-moralischen Wende vergeblich bei Kurt Eisner gesucht hatte. Herron teilt auch mit dem oben skizzierten Diskurs der Eisner, Foerster, Muehlon und Michels die Überzeugung von der Notwendigkeit einer ethischen, ja religiösen Umkehr des deutschen Volkes, weil dessen aktuelle kollektivpsychologische Verfassung noch zuviel mit der des alten Regimes zu tun habe: „Die gegenwärtige sozialdemokratische Republik", berichtet er am 10.1.1919, „ist nur eine Maske des alten politischen und industriellen Pan-Germanismus". Insbesondere die Regierung um Philipp Scheidemann, womit wir bei einem der Lieblingsfeindbilder des positiven Kriegsschulddiskurses sind, heißt es in Herrons Bericht vom 15. Januar, sei eine „kollektive Autokratie", die alles daran setze, die deutsche Niederlage schließlich in einen Sieg und eine deutsche Dominanz Europas zu verwandeln. 359 Damit ist auch klar: wenn Herrón in seinen oben zitierten Vermerken vom Januar 1919 dem amerikanischen Präsidenten eine revolutionäre Friedenspolitik gegen die „reaktionären Regierungen" empfiehlt, dann ist mit r e aktionär' der von der SPD gestellte Rat der Volksbeauftragten um Ebert, Scheidemann und Noske gemeint. Damit gibt sich Herron als Sympathisant jener intellektuell geprägten Minderheit zu erkennen, die im Sieg der Mehrheitssozialdemokratie ein fatales moralisches Übel fur das Nachkriegsdeutschland erblickt und ein Bündnis mit der nichtbolschewistischen Linken sucht. Und wie bei Eisner, Foerster und Muehlon ist Herrons Demokratiebegriff moralisch derart aufgeladen, daß man bezweifeln muß, ob er sich mit der realexistierenden Demokratie jemals hätte anfreunden können: „Herron ist einer jener amerikanischen Idealisten, denen die Demokratie ein lebendiges, nicht so sehr politisches, sondern auch moralisches Programm ist." (Masaryk). 360 Herron geht es tatsächlich weniger um Verfassungsfragen als um den überzeugenden moralischen und personellen Neubeginn in Deutschland. Dieses Programm verfolgt er nicht nur als geistiger Sympathisant, sondern als einer der wichtigsten Protagonisten im Umfeld der Regierung Eisner. Bereits zu Kriegszeiten fungierte seine am Genfer See gelegene Villa als Treffpunkt liberaler, sozialistischer und pazifistischer Europäer aus beiden Weltkriegslagern. Diese internationalen Beziehungen machten ihn für die USGesandtschaft in Bern besonders interessant. „Herron wurde so [...] zu einer der wichtigsten Kontaktpersonen zwischen den Vereinigten Staaten und intellektuellen Kreisen

359 Zitate bei Schwabe, S. 297 [meine Übs.]. 360 Masaryk, Weltrevolution, a.a.O., S. 318.

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der Mittelmächte, die, wie F. W. Foerster und Edgar Jaffé 361 [...] mehr oder weniger markant in Opposition zu den herrschenden Mächten standen."362 Nach der Münchner Novemberrevolution werden Herron und F. W. Foerster die für Kurt Eisner „unbestreitbar [...] wichtigsten Ratgeber in außenpolitischen Fragen" und sind die ersten, die Eisner zu einem tiefgehenden Bruch mit dem alten System, vertrauensbildenden Maßnahmen gegenüber den Alliierten und zu einem „vollen und offenen bekenntnis der schuld und untaten der deutschen regierung" (Herron) drängen.363 Nach Eisners Ermordung schlägt Herron Wilhelm Muehlon als neuen Präsidenten vor und hätte sich damit vielleicht sogar durchgesetzt, wenn Muehlon nicht eine Absage erteilt hätte, deren intimeren Gründe wir aus seiner Unterredung mit Robert Michels kennen. Die Unterstützung von Präsident Wilson für Muehlon hätte Herron wohl gehabt.364 Allerdings zeigte sich bei den Konsultationen im Viererrat, daß Wilson zwar einen Konsens mit der französischen Regierung leicht hätte erreichen können, die ebenfalls Muehlon favorisierte, er aber im Lager der amerikanischen Delegation selbst ziemlich isoliert war. Dies betraf insbesondere die im Kontext der Personalie Muehlon erwogene Unterstützung bayrischer Verselbständigungstendenzen durch einseitige Lebensmittellieferungen - also das, was Muehlon und Michels höchstwahrscheinlich mit dem „schrecklichen Mittel der Verproviantierung" gemeint hatten. Wilson neigte aufgrund seines tiefsitzenden moralischen Argwohns gegenüber den Regierungen Ebert und Scheidemann zu einer Schwächung der Berliner Regierung, was seine politische Verwandtschaft zu Herron unterstreicht; Wilsons Regierungskollegen dagegen sahen in der Ebert-Scheidemann-Regierung und in einer starken Berliner Zentrale den besten Garanten gegen eine bolschewistische Machtübernahme.365 Wie auch immer man die tatsächliche historische Bedeutung des informellen Regierungsberaters und Geheimdiplomaten Herron beurteilt,366 einem Zeitgenossen wie Robert Michels erschienen Herrons Kriegsaktivitäten so bedeutend, daß er noch Jahre später öffentlich darauf hinweist, einen umfangreichen Briefwechsel mit Herron genau zu diesem Thema aufzubewahren.367 Die mir bekannte Korrespondenz umfaßt Briefe zwischen 1906 und 1925 (Herrons Todesjahr), darunter auch Briefe von Gisela Michels und Herrons Söhnen, da auch zwischen den Familien enge freundschaftliche Bande über den gesamten Zeitraum bestehen, gemeinsame Urlaube eingeschlossen. Herron und Michels lernen sich 1906 im Zeichen des Sozialismus kennen, an den sie beide zunächst glauben und zunehmend zweifeln.

361 362 363 364 365 366

Nach der Novemberrevolution bayrischer Finanzminister in der Regierung Eisner. Schwabe, a.a.O., S. 23. Grau, Eisner, S. 389-90; Herron-Zitat dort. Schwabe, a.a.O., S. 341. Schwabe, a.a.O., S. 481. Kuehnelt-Leddihn geht bei aller Verachtung für den „idealistischen Unheilstifter" Herron am weitesten: „Es gibt Männer von weltgeschichtlicher Bedeutung, die auch Hochgebildeten nicht bekannt sind, aber dennoch im Dunkel oder Halbdunkel wirkend von ungeheurer Bedeutung waren." (a.a.O., S. 24). 367 Michels, Paulucci di Calboli, a.a.O., S. 522.

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Die chronologische und thematische Spannbreite des Briefwechsels sowie die darin enthaltenen Verweise auf andere Personen der Zeitgeschichte würden es an anderer Stelle erlauben, die Korrespondenz in einem eigenständigen kulturgeschichtlichen Aufsatz zu analysieren. Dabei wäre allerdings zunächst nach den fehlenden Teilen zu suchen. Denn das mir vorliegende Material ist nicht vollständig. Ausgerechnet in den Weltkriegsjahren tut sich eine bedauerliche Lücke auf: die Briefe Herrons an Michels, die den amerikanischen Kriegseintritt betreffen, fehlen im Turiner Archiv; d. h. ausgerechnet der Teil der Korrespondenz, dessen kriegsdokumentarischen Wert Michels 1931 in seinem Paulucci-Portrait hervorgehoben und den er wahrscheinlich von der übrigen Korrespondenz separat aufbewahrt hat. Die mir zugängliche Korrespondenz enthält dafür allerdings einige Kriegsbriefe der Michels' an Herron. Die Sammlung stammt aus drei Archiven: den Herron-Papers in den Hoover Institution Archives der Stanford University (HIAS), 368 dem Archivio Michels im Archivio della Fondazione Luigi Einaudi (ARMFE) 3 6 9 sowie dem Privatarchiv Gallino. 370 Dieses umfangreiche Material erlaubt einige Schlaglichter auf die wohl engste politische wie persönliche Freundschaft des „Fremden im Kriege". „Dear friend, [...] I read your letters with loude applause and intimate agreement for rather all your statements" schreibt Michels Herron im November 1916, „and it seems me our friendship became, if possible, still better and stronger now than before. Could you not come to see me here? I would be so glad." Neben der besonderen emotionalen Verbundenheit ist der Wunsch nach Nähe auch durch die gemeinsamen politischen Themen motiviert, die sich schwer im Briefverkehr beraten lassen: „What will the english socialists do in order to convert their italian comrades. You ought to meet M. Grumbach, alsacian socialist and

368 Zwanzig Briefe an G D. Herron (18 von Robert, 2 von Gisela Michels), davon viele undatiert; die datierten gehen von 1915 bis 1925. Dieses Material erhielt ich freundlicherweise aufgrund einer telefonischen Anfrage von den Hoover Archives. Mein Dank geht dafür an Carol A. Leadenham. Frau Leadenham hat allerdings signalisiert, mir nur das Material zusenden zu können, das sie gleich beim ersten Zugriff auf die Kisten und Bände der Herron Papers findet. So erhielt ich die unter den Merkmalen Collection title: George Herron; Box Nr. 11 sowie Box Nr. 10 (Folder ID: Corr. L-M) befindlichen Briefe. Für eine systematische und erschöpfende Recherche des HerronMichels-Komplexes in den Herron Papers ist eine Forschungsreise nach Stanford wohl unverzichtbar. Freilich ist ungewiß, ob sich dabei noch mehr Material von und zu Robert Michels finden würde. 369 Kein besonderer Rechercheaufwand: die Briefe G D. Herrons an Michels (dreizehn und ein Telegramm erhalten) aus den Jahren 1906 bis 1922, sowie Briefe von Herrons Söhnen G D. jr. und Rand an Michels finden sich in den nach den entsprechenden Korrespondentennamen geordneten „buste". 370 Maria Gallino besitzt einen schönen Brief Herrons an Michels vom 25. November 1908, in dem sich der amerikanische Sozialist Sorgen über die Gesundheitsbelastungen seines „liebsten Bruders" macht: „Dearest Brother Michels, [...] you are always working too hard and sleeping too little [...] there can be but one outcome to this constant dissipation of one's nervous force. It will mean a breakdown sooner or later, and I hope that you will soon begin to conserve your energies." Michels ist diesem Rat nicht gefolgt.

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correspondant of the [?] Humanité".371 Michels fragt Herron also nicht nur nach dem Stand der interventionistischen Bekehrungsversuche der britischen Genossen gegenüber den neutralistischen italienischen Mehrheitssozialisten, er empfiehlt Herron, auch wenn ihm selbst die Aktion nutzlos erscheint,372 Salomon Grumbach - den Dokumentaristen der deutschen Kriegsschuld373 - als Ansprechpartner. Das heißt auch, daß der für die antideutsche Kriegsschuldpropaganda spätestens seit 1917 eine publizistische Schlüsselfimktion ausübende Grumbach möglicherweise erst durch Michels in das Netzwerk des amerikanischen Geheimdiplomaten gelangt ist. Es ist zumindest plausibel, daß Michels aufgrund seiner vielfältigen Kontakte zur politischen Szene, aber auch aus seiner aktiven sozialistischen Zeit für den Wilson-Vertrauten eine nicht unbedeutende Vermittlerrolle gespielt hat. Dank Michels konnte Herron zudem auf jeden Fall sicher sein, daß seine Anliegen gegenüber dem italienischen Botschafter informell, schnell und direkt angesprochen wurden.374 Denn trotz seiner bislang - nicht zuletzt am Kriegsmißtrauen gegenüber dem Fremden deutscher Herkunft - gescheiterten Italianisierung vermag Michels die Rolle eines Türöffners in die italienische Regierung zu spielen, nicht nur weil er von Paulucci di Calboli protegiert wird, sondern auch weil er über diese Verbindung im Ersten Weltkrieg zum inoffiziellen Mitarbeiter der Berner Gesandtschaft und damit der italienischen Regierung avanciert. Zumindest hat er diese geradezu pflichtgemäß über seine internationalen Kontakte unterrichtet und Informationen über seine Gesprächspartner weitergegeben.375

371 Karte von Michels an Herron, Poststempel 3.11.1916, Hoover Institution Archives Stanford (HIAS). [?] = ein Wort vor dem Zeitschriftennamen „Humanité" ist unleserlich. 372 Das geht aus Michels' Brief an Herron vom 15.10.1916 (HIAS) hervor: Die italienische Regierung würde dies im Sinne der nationalen Einheit begrüßen, aber es sei sehr unwahrscheinlich, daß die italienischen Sozialisten sich von ihrer deutlichen Ablehnung der Kriegsteilnahme abbringen lassen würden. Es sei auch gar nicht nötig, weil sie in keiner Weise die italienischen Kriegsaktivitäten stören: als Soldaten tun sie ihre Pflicht und ihre Funktionäre planen keine Streiks. Die Opposition der italienischen Sozialisten gegen den Krieg sei daher allein theoetisch und nicht politisch. („Insomma la loro opposizione alla guerra è esclusivamente teorica, e non politica"). 373 Herausgeber der „Republikanischen Bibliothek", die u. a. auch die Muehlon-Berichte über die deutsche Kriegsschuld veröffentlichte. Siehe auch den oben zitierten Brief von Grumbach an Michels. 374 Brief von Michels an Herron, ohne Datum [inhaltlich Kriegszeit]; HLAS: „My dear Herron [...] I shall see the ambassador tomorrow and I shall talk with him about the matters contained in your letter." 375 Neben den bereits o. g. Länderberichten finden sich Indizien für diese These in der umfangreichen Korrespondenz mit der Berner Botschaft. Vgl. z. B. den Brief von Carlo Durazzo, Mitarbeiter der italienischen Gesandtschaft in Bern, an Michels vom 10. Juni 1917, ARMFE: Durazzo erinnert Michels an dessen Bericht über einen japanischen General vom Oktober 1916. Da es inzwischen neue, den Michelsschen widersprechende Informationen über diesen Mann gebe, bittet Durazzo Michels um eine Einschätzung - auch auf „Wunsch des Außenministeriums". Michels hat aber nicht nur die italienische Regierung über seine internationalen Kontakte unterrichtet. Er hat sich auch bemüht, seine internationalen Auftritte hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit dem „italienischen Interesse" absegnen zu lassen. Vgl. den Brief von Durazzo an Michels, 23.8. 1917 (ARMFE), wo der Mitarbeiter der Berner Botschaft Michels mitteilt, daß „il ministro" - womit

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Es ist in diesem Zusammenhang auch auffallig, daß George Herrón, der Vertraute Wilsons, der immerhin bereits zehn Jahre in Italien gelebt hat, sich nicht direkt an den Vertreter des italienischen Königreiches in der Schweiz wendet, sondern offensichtlich der Vermittlung durch Michels bzw. durch dessen Frau (!) bedarf bzw. diesen Weg vorzieht. So bietet sich Gisela Michels am 5.10.1916 an, Herrons aktuelle Informationen über ein „deutsches Komplott" an Paulucci di Calboli weiterzuleiten und eine Unterredung vorzuschlagen: „Of course this is a very important thing for marchese Paulucci to know as soon as possible."376 Und es ist wiederum Gisela Michels, die Herron die positive Antwort der Botschaft übermittelt.377 Wo Kontakte vermittelt und Netzwerke gespannt werden, ist auch immer zu entscheiden, wer dazu gehört und wer nicht. Die spätere Abgrenzung des moralistischen Weimarer Kriegsschulddiskurses378 von den Bolschewisten wird in den Kriegsjahren netzwerktechnisch dadurch vorweggenommen, daß die „Zimmerwald-Clique" bei Michels' und Herrons Beratungen als unwillkommen gilt. Und es ist Michels persönlich, der darauf insistiert - höchstwahrscheinlich, weil bei einem der vorhergehenden Herron-Treffen sehr zu seinem Verdruß auch ,Zimmerwaldisten'379 anwesend waren.380 Vor allem aber grenzt man sich von der deutschen Sozialdemokratie ab. Hier steigert sich die Abgrenzung zur offenen Feindschaft: „Ich schätze deine resolute, feste Haltung

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der Botschafter Paulucci gemeint sein dürfte - sich für die Übersendung von Michels' Rede auf einer Konferenz in Oslo bedankt, dieses aufmerksam gelesen und nichts gefunden habe, was dem italienischen Interesse widersprechen könne: „II ministro m'incarica di ringraziarla per l'invio della sua relazione al Convegno di Cristiania. Egli mi dice di averla letta attentamente e di non avervi trovato nulla che possa contrastare, a suo avviso personale, coll'interesse italiano." Michels habe sogar mit viel Geschick alle gefährlichen Klippen umschifft, fügt Durazzo hinzu: „Parmi anzi che Ella abbia navigato con molta perizia fra tutti gli scogli del periglioso percorso". Brief von Gisela Michels an Herron, 5.10.1916, HIAS. Brief von G Michels an Herrón, 11.10.1916; HIAS. Zumindest in seiner Verkörperung durch Eisner, Foerster, Muehlon, Michels und Herron sowie mit Abstrichen - Eduard Bernstein. Im Schweizer Dörfchen Zimmerwald bei Bern fand im September 1915 die geheime „1. Sozialistenkonferenz" statt. Der Mehrheit der knapp 40 Teilnehmer ging es um die Erneuerung des Pazifismus der II. Internationale. Die revolutionär gesinnte Minderheit wurde von Lenin angeführt und nannte sich fortan „Zimmerwalder Linke", eine Bezeichnung, die in der Folge zum Synonym der Bolschewisten wurde. Auch wenn er die Konferenz selbst nicht dominierte, erlangte Lenin, der bis dato vor allem politischer Sektierer bekannt war, mit der Zimmerswalder Konferenz bei den revolutionären Minderheitsparteien im europäischen Sozialismus internationales Ansehen. Gängig wurde es auch, von den „Zimmerwaldisten" zu sprechen. Vgl. Willi Gautschi, Lenin als Emigrant in der Schweiz, Zürich/Köln 1973. Brief von Michels an Herron, ohne Datum [„ambassador"], HIAS; „I am not able to read the name of your french friend who is coming to see you at Ginevra. But if he does not belong in no manner to the Zimmerwald-Clique, I should surely [be] very glad to know him, as he is your friend."

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unablässiger Feindschaft gegen die SPD sehr. Die SPD teilt mit dem Kaiser und den Kaiserlingen die Ehre, diesen furchtbaren Krieg entfesselt zu haben".381 Die persönliche, aber auch politische und moralische Wahlverwandtschaft zwischen Michels und Herron findet auch semantisch in der Korrespondenz einen besonderen Ausdruck: in der auffälligen und in der gesamten Michels-Korrespondenz einzigartigen gegenseitigen Anrede mit „brother", welche die beiden erstmals nach einem gemeinsamen Wochenende in Herrons Florenzer Villa im Oktober 1908 verwenden, „brother" ersetzt seitdem die sozialistische Anrede „comrade".382 Die familiäre, aber auch religiöse Semantik dieser Anrede korrespondiert mit einer manchmal militanten Sprache, die an die parteipolitisch aktive Zeit vor dem Krieg erinnert, sich jetzt aber auf ihre Kriegsaktivitäten bezieht: „I am very glad, I repeat it", schreibt Michels an Herron,383 „you put your knowledge and your force into the struggle." Ein echter Kämpfer hat keine Wahl: „If you have the conscience of the necessity of your fighting in your old country you have to follow that voice whatever may happen."384 Am 5. Oktober 1916 (!) schreibt Gisela Michels an Herron: „I congratulate you very heartily for your ,entering in war', which certainly will produce its beneficient fruits for the sake of the Allies". Gisela Michels' Freude über Herrons ,Kriegseintritt' - immerhin ein halbes Jahr, bevor die USA Deutschland den Krieg erklären - könnte sich auf dessen bereits 1916 auf französisch erschienene Warnung vor einem Kompromißfrieden mit den Zentralmächten beziehen.385 Wenn Frau Michels hinzufügt, auch ihr Mann werde ,„bombardated' with injurious letters on account of his article about Battisti",386 dann enthält das ,bombar-

381 Michels an Herron, 15.10.1916, HIAS: „Apprezzo assai il tuo atteggiamento risoluto, fermo di ostilità senza tregua contro il partito socialista tedesco, che condivide col Kaiser e coi Kaiserini l'onore d'avere scatenato cotesta guerra immane." 382 Wie die beiden dieses Anrederitual konkret verstanden haben, ist allerdings nicht so eindeutig: brother hat neben einer familialen auch eine religiöse Dimension, die im Verhältnis zwischen dem Ex-Pastor Herron und dem Atheisten Michels auch eine ironische Komponente gehabt haben kann. Hinzu kommt eine spezifisch amerikanische Wortbedeutung von brother, nämlich im Sinne von ,Kumpel'. Den Verdacht, brother fungiere möglicherweise als amerikanische Version von „Genösse", können wir ausschließen. In den ersten Briefen verwenden die beiden nämlich noch das amerikanische Wort für Genösse und reden sich mit .comrade' an; erst 1908 wechseln sie zur Anrede .brother' und behalten diese auch noch bei, als die sozialistische Phase bei beiden längst beendet ist. Diesen Wechsel der Anrede dokumentieren Herrons Briefe an Michels vom 21.10. 1908 einerseits und 26.10.1908 andererseits (beide ARMFE). Die Anrede „brother" setzt sich bis Anfang der zwanziger Jahre fort, wird zwischendurch allenfalls durch „dearest friend" unterbrochen. 383 Ohne Datum; HIAS; wegen der Inhalte eindeutig Kriegszeit. 384 Michels an Herron, o.D., zeitlich aber sicher nicht vor dem Krieg, da Briefkopf „Società Nazionale Dante Alighieri; Comitato di Basilea". 385 George Davis Herron, La menage de paix, Genève 1916. 386 Brief von Gisela Michels an Herron, 5.10.1916, HLAS. Der italienische Irredentist und österreichische Staatsbürger Cesare Battisti war ein tragischer Held des Ersten Weltkrieges: als Sozialist war er im Wiener Parlament schon seit Jahren für die Autonomie des Trentino eingetreten und schließlich zu dem Schluß gekommen, daß das Habsburgerreich nicht zu retten und durch

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dieren' ein über den geläufigen figurativen Sinn des Bildes hinausgehendes Selbstverständnis, tatsächlich in einer Art Schlacht zu stehen, und sei es auch nur an der intellektuellen, teils auch geheimdiplomatischen Frontlinie in der Schweiz mit ihren Empfängen beim Marchese oder auch in der Villa Wilhelm Muehlons bei Bern. Ein Schlaglicht wirft die archivalisch zugängliche Kriegskorrespondenz zwischen Herron und Michels auch auf die komplizierte Lage von dessen nationaler Identität. Als Michels wieder einmal erklären muß, nicht der Autor des ,J'accuse' zu sein, fügt er hinzu, daß er den Thesen des Buches größtenteils zustimme. Allerdings: „I am not German enough to write such a book." 387 Diese Distanzierung ist rein plakativ und vermag inhaltlich nicht zu überzeugen. Michels will damit offenbar demonstrieren, daß seine nationale Identität bereits so italienisch und er so wenig Deutscher sei, daß ihm einfach die existentielle Voraussetzung für eine derartige politisch-moralische Auseinandersetzung mit dem Land der Geburt fehle. Tatsächlich aber ist Michels, wie oben gesehen, sogar 1919 noch „german enough", um - vermittelt über den positiven Kriegsschulddiskurs - an der nationalen Identität der Deutschen zu leiden und von geistigmoralischen Umerziehungsprogrammen a la Eisner und Muehlon zu träumen. Auch spätere Verhaltensweisen von Michels deuten darauf hin, daß seine Reflexion über den „Fremden im Kriege" tatsächlich autobiographisch motiviert ist und der Krieg in seinem Fall einen notwendigerweise evolutiven Prozeß der Nationsveränderung vereitelt hat - und damit eben auch die allmähliche Herausbildung einer über die Jahre gewachsenen und neu equilibrierten nationalen Identität. Noch in den dreißiger Jahren wirken Michels' Distanzierungen von seiner deutschen Herkunft auf Zeitgenossen unsouverän und regelrecht krampfhaft. Michels, so erinnert sich Karl Löwith an Begegnungen zur Zeit seiner italienischen Emigration um 1934, „liebte es, in der Öffentlichkeit so zu tun, als verstünde er kaum noch seine Muttersprache." Und auch in diesem späteren Kontext, als Michels immerhin ordentlicher Professor der faschistischen Universität in Perugia ist, registriert der Beobachter Fremdheit im Zielmilieu: „Am Telefon meldete er sich als ,Roberto Mikels', aber die Italiener trauten Roberto nie recht."388

den Anschluß der einzelnen Volksgruppen an ihre Mutternationen aufzulösen sei. Battisti wurde es zum Verhängnis, daß er als Verbannter sich freiwillig bei den italienischen Gebirgsjägern meldete. Nach seiner Gefangenschaft durch die k.u.k.-Truppen ist er von einem Trientiner Gericht zum Tode verurteilt und im Juli 1916 im Schloß seiner Heimatstadt erhängt worden. Folge war in Italien quasi die Neubelebung des Risorgimento. Battistis Tod zu rächen und Österreich zu zerschlagen galt vielen nun als heilige patriotische Pflicht. Robert Michels nannte Battistis Tod den „Gipfel der menschlichen Tragik", zumal die Österreicher in den Geheimverhandlungen der Jahre 1914/15 ja noch auf das italienische Trentino unter bestimmten Bedingungen hatten verzichten wollen. Battisti wäre dann ein Italiener mit allen Rechten des regulären Kombattanten und kein Hochverräter' gewesen. Der von Gisela Michels erwähnte Aufsatz dürfte der folgende sein: R. Michels, Randbemerkungen zur Frage Trentino und Irredentismus, in: Neue Züricher Zeitung, 2.9.1916. Der Fall Battisti spielt auch eine Rolle in: Michels, Stato e Patria, Nr. 24, 16.12.1916. Vgl. auch Michels, Nochmals die Irredenta in Österreich, in: Neue Zürcher Zeitung, 1.11.1916. 387 Michels an Herron, 2.10.1915, HIAS. 388 Karl Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933, Frankfurt a.M. 1990, S. 93.

IX.9. Der Kriegsschulddiskurs und die Suche nach einer Elite „neuer Menschen"

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Umgekehrt finden sich in den Briefen an Herron aber auch Sentenzen, die Michels' nationale Option für Italien eben nicht in dieses pseudo-dezisionistische Licht einer rigorosen Abtrennung von den Herkunftselementen der persönlichen Identität - einschließlich des demonstrativen ,Verlustes der Muttersprache' - stellen, sondern den Wandel der nationalen Identität als das allmähliche Bewußtwerden eines längeren ganz im Sinne der Reflexion des „Fremden im Kriege" unter normalen Umständen sogar unendlichen - und 1914/15 auch nach dem Antrag auf Aufnahme in den italienischen Staatsverband noch längst nicht abgeschlossenen Prozesses deuten: „The month I passed in Turin was very delightful and I felt again, as ever, quite italian [;] the italian nation being for my opinion a most charming and morally high qualified one."389 Zurück zu Herron und Michels. Die „besonders innige Freundschaft" sowie die biographischen und ideologischen Parallelen zwischen dem Deutsch-Italiener und dem ,U.S.-Italiener' 390 sind bislang nur von einem Autor bemerkt worden. Erik von Kuehnelt-Leddihn hat dies allerdings nur als ein Ergebnis seiner Lektüre der Herron Papers in Stanford präsentiert, ohne die Wesensverwandtschaft zwischen beiden durch entsprechende Quellen zu untermauern und zu diskutieren.391 Immerhin macht er dabei eine Beobachtung, die am Ende dieses Kriegskapitels stehen soll, weil sie zum nächsten, abschließenden Thema dieser Arbeit überleitet. Kuehnelt-Leddihn nämlich dienen Herron und Michels in erster Linie als exemplarische Beweisstücke für seine These, daß Nazis und Faschisten fälschlicherweise dort zugeordnet werden, wo sie gar nicht hingehören: zur politischen Rechten - zum Schaden des Ansehens ,wahren' rechtskonser-

389 Brief von Michels an Herrón, o. D.; identisch mit o.g. Brief, der sich mit Herrons „necessity of fighting" beschäftigt; Briefkopf „Società Nazionale Dante Alighieri, Comitato di Basilea". Auch wenn eine exakte Datierung nicht möglich ist: dieser Brief muss nach 1913 (Briefkopf!) und dürfte vor dem italienischen Kriegseintritt 1915, vor Michels' Erklärung seiner italianità' geschrieben worden sein. 390 Herron hat zwar nie die italienische Staatsbürgerschaft erworben, er hat aber etwa ebenso so lange in Italien gelebt wie Michels. 391 A.a.O. Herron und Michels werden wie folgt charakterisiert: Herrons „Leben, Denken und Handeln" beleuchte „das Wesen der gemäßigten Linken nicht nur in ihrem Idealismus, sondern auch in ihrer gefährlichen Naivität." Ebenso wesensmäßig für die Geschichte der Linken erscheint Kuehnelt-Leddihn der Werdegang von Michels: „ein hochbegabter und sehr witziger deutscher Sozialdemokrat, der [...] in höchst natürlicher Weise zu den dem Sozialismus entsprossenen Faschisten hinüberwechselte." Damit wird aber auch deutlich, daß Kuehnelt-Leddihn nicht die in Anlehnung an die Totalitarismustheorie gebildete These vom „intrinsischen Links-Rechts-Zusammenhang" (Pfetsch) adaptiert. Erstens behauptet diese zwar eine verführende Wirkung der Totalitarismen von rechts und links auch auf die Angehörigen des jeweils anderen Lagers, hält dabei dabei aber bei aller Betonung der Vergleichbarkeit an der Unterscheidbarkeit von linkem und rechtem Extremismus fest. Zweitens behauptet sie die strukturelle Nähe der Extreme, während für Kuehnelt-Leddihn der Faschismus die „natürliche" Option eines „gemäßigten Linken" (Herron) bzw. eines „Sozialdemokraten" (Michels) ist.

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vativen Gedankenguts in der heutigen Gesellschaft. 392 Denn Herrón und Michels waren nicht nur, wie bereits erwähnt, beide ursprünglich Sozialisten. Kuehnelt-Leddihn will in den Herron-Papers auch Beweise gefunden haben, daß der Berater Wilsons ebenso wie Michels sich in den zwanziger Jahren „Feuer und Flamme für den Faschismus" eingesetzt habe. Wir haben hier nicht die Möglichkeit, die These von Herrons Sympathie für den Faschismus zu überprüfen. 393 Ein solcher Nachweis wäre aber auch in jedem Fall etwas anderes als die im Fall Michels unbestreitbare Apologie des italienischen Faschismus von 1922/23 bis 1936. Denn Herron ist 1925, als sich die faschistische Diktatur erst im verfassungspolitischen Sinne etabliert, gestorben. Das einzige mir vorliegende Indiz zeigt allerdings durchaus an, daß der ehemalige Berater Wilsons tatsächlich zeitweise Mussolini und der italienischen Nation, ähnlich wie in den Jahren zuvor noch Wilson und der amerikanischen Nation, die charismatische Welterlösungskompetenz zugesprochen hat: sein Brief an Mussolini vom 26. August 1922394 - fast zwei Monate vor dem .Marsch auf Rom' - ist der „Appell an Sie, an den Führer der Faschisten", eine Mission zu erfüllen. Welche Mission Herron konkret meint - er spricht unter Berufung auf das Werk Giuseppe Mazzinis von der nach dem Kriege nun notwendigen „Versöhnung" der Völker und von einer „neuen sozialen Ordnung", in der die Vereinigung der Völker und die Freiheit jedes Menschen harmonisiert werden müssen - bleibt nebulös. Klar ist nur, daß Italien von der Herronschen Vorsehung berufen ist, dieses anspruchsvoll klingende missionarische Programm zu verwirklichen. Denn mit Mazzini habe es den „wahren Propheten" und die „Losung, welche die Welt retten kann". Mussolini müsse davon nur Gebrauch machen: „So können Sie in naher Zukunft der geistige und schließlich politische Führer Europas werden." 395 Bekanntlich hat der italienische Faschismus in seiner philosophischen Selbstdarstellung ausgiebig von Mazzinis religiösem Risorgimento-Patriotismus und seinem nationalen Missionarismus Gebrauch und ihn damit der republikanischen Linken streitig gemacht, die sich ebenfalls in der Tradition Mazzinis sah. 396 Und es ist eben diese Ambivalenz der Mazzini-Rezeption, die auch Herrons Appell politisch so schwer faßbar erscheinen läßt. Zwar finden sich darin auch Ermahnungen, der Faschismus möge die

392 Vor allem auf Grund dieser These, daß der NS eine linke Ideologie sei, hat Kuehnelt-Leddihn einen Eintrag im „Lexikon des Rechtsextremismus" bekommen, zumindest in diesem: http:// lexikon.idgr.de 393 Das wäre nur über in Aktenstudium in Stanford möglich. 394 Abschrift unter der Rubrik „Supplementary: Italy. Document III. Hoover War Library"; Herron Papers, Hoover Institution Archives. 395 Herron an Mussolini, 26.8.1922: „La vostra Italia ha in Mazzini il vero profeta di una tale riconciliazione, risultante in un nuovo ordine sociale, nel quale l'associazione di tutti i popoli e la libertà di ogni uomo avranno la loro sintesi. L'Italia possiede la parola che potrà salvare il mondo: e deve dirla ed applicarla. Cosi facendo, potrà diventare, in un avvenire vicino, guida spirituale e perfino politica dell'Europa." 396 Giuseppe Bedeschi, La fabbrica delle ideologie. Il pensiero politico nell'Italia del Novecento, Roma-Bari 2002, S. 248-251.

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„vollständige politische und intellektuelle Freiheit jedes Italieners" gewähren, „was auch immer seine Meinung sei, solange er bereit ist, seine Überzeugungen mit politischen und pädagogischen Mitteln zu verfolgen. Es reicht nicht, die Gewalt mit neuer Gewalt zu beherrschen." Das klingt, als hätte Herron durchaus die illiberalen und gewalttätigen Züge des Faschismus erkannt und darin die Gefahr gesehen, daß Italien an seiner Mission im mazzinianischen Sinne scheitern könnte. Irritierend bleibt aber, daß er gerade der Bürgerkriegspartei, deren Gewalt und Unduldsamkeit gegenüber Andersdenkenden ihm offenbar eine gewisse Sorge bereitet, prinzipiell die Kompetenz zuspricht, in Mazzinis Sinne das „Dritte Rom" zu gründen.397 „So wird Italien wahrlich ein Staat und eine Nation. Die Faschisten mögen nicht nur eine militante Truppe sein, sondern auch eine apostolische Gruppe werden; ihr Ziel möge es sein, das Land vom Hass, vom Groll und den Schismen jeder Art zu reinigen. So werden sie aus Italien ein göttliches Beispiel fur die ganze Welt machen. Wenn sie das so machen, dann wird das Dritte Rom, von dem Mazzini sprach, Wirklichkeit werden."398 Wie auch immer sich Herrons Verhältnis zum Faschismus danach weiterentwickelt haben mag bzw. nach seinem Tod 1925 entwickelt hätte: dieser Brief ist eine vorzügliche Propaganda für die Faschisten gewesen, die sich die spirituelle Einigung der Nation auf die Fahnen geschrieben hatten und das bis dato von der Linken verwaltete Erbe Mazzinis für sich beanspruchten; zumal in diesem Fall das faschistische Selbstbild von einem neutralen Beobachter, einem international erfahrenen amerikanischen Diplomaten bestätigt wird, der obendrein mit seiner Forderung, der Faschismus möge ,.nicht nur" eine militante Truppe, sondern auch eine apostolische Gruppe sein, die militante Dimension des Faschismus nicht etwa in die Schranken weisen wollte, sondern gerechtfertigt hat: „Es ist unstrittig, daß die Jungen der Fasci Italien vor dem Chaos gerettet haben."399 Wie willkommen Herrons Appell gewesen sein muß, zeigt Mussolinis Reaktion, der postwendend aus Mailand an Herron nach Genf telegraphiert und um die Erlaubnis zur Veröffentlichung des Briefes bittet. Diese hat ihm Herron nicht verweigert.400 397 Mazzini hatte in seinem Werk „La Missione d'Italia" die Losung ausgegeben, daß Italien bereits zweimal - Imperium und Papsttum - das Zentrum der europäischen Kultur gewesen sei und als junger Nationalstaat nunmehr „la terza Roma" gründe. 398 Herron an Mussolini, 26.8.1922: „E cosi che l'Italia diventerà veramtente uno stato ed una nazione. Che i Fascisti non siano soltanto una truppa militante, ma che diventino un gruppo apostolico, che la loro meta sia di purgare il paese dall' odio, dai rancori, dai scismi di ogni sorte, e così faranno dell'Italia un esempio divino per il mondo intero. Se ciò fanno , allora la Terza Roma di che parlò il Mazzini potrà diventare realtà." 399 Herron an Mussolini, 26.8.1922: „È indiscutabile che i giovani dei Fasci hanno salvato l'Italia dal chaos." 400 Mussolini an Herron, Telegramm vom 29.8.1922: „CHIEDOLE AUORIZZAZIONE PUBBLICARE COMMENTARE FAVOREVOLMENTE SUA LETTERA STOP COMPIACCASI MANDARMI COPIA THE REVIVAL OF ITALY." Auf dem Dokument (unter der Rubrik Supplementary: Italy. Document IV; Hoover War Library; Hoover Institution Archives) ist notiert, daß dem Wunsch entsprochen worden ist: „Permission to publish Herron's letter given by telegram." Mussolini hat Herron auch um die Zusendung dessen aktuellen Buches gebeten, das 1922 unter

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A u c h wenn Herron an Mussolini appelliert, die Freiheit des Andersdenkenden zu respektieren, und vor einer Gewaltherrschaft warnt, gibt Herrons Brief gleichwohl Kuehnelt-Leddihns Ausführungen immerhin insoweit recht, als Herron im Sommer 1922 zweifellos die faschistische Machtübernahme in Italien favorisiert hat und die v o n ihm angedeuteten Bedenken für ihn offensichtlich kein Grund sind, Mussolini die Zustimmung zu verweigern. Das erlaubt wiederum eine Rückfrage an den positiven Kriegsschulddiskurs. Wie kann es sein, daß ein amerikanischer Diplomat, ein bis heute in den U . S . A . als ,liberal' geltender Mitgründer der philosozialistischen Rand School, der 1918/19 die Regierung von Kurt Eisner unterstützt, weil ihm schon die deutsche Sozialdemokratie aufgrund ihrer im Krieg gezeigten militaristischen' und nationalistischen' Neigungen als ein Instrument des Teufels erscheint, und der in seinen Nachkriegsschriften nicht gegen die Demokratie, sondern für sie agitiert - wie kann es sei, daß so jemand kurz darauf im italienischen Faschismus nicht nur etwas Gutes, sondern sogar etwas Heilbringendes erblickt? U m diese Frage zu beantworten, bedarf es nur eines Blicks in Herrons Propagandaschriften für die Demokratie, genaugenommen in eine, die er für das deutsche Volk

dem mit dem faschistischen Selbstgefühl scheinbar korrespondierenden Titel „The Revival of Italy" in London erschienen war. Die Lektüre dürfte den Duce eher enttäuscht haben. Robert Michels hat nämlich später in einem knappen Kommentar deutlich gemacht, daß dieses Buch mit der Entstehung des Faschismus im besonderen wenig zu tun hatte, sondern vielmehr die in Italien im Gegensatz zu anderen Völkern scheinbar gelungene Überwindung der Kriegsgegensätze zum Thema hatte. Während bei den anderen Völkern die Abneigung gegen die einstigen Feinde noch nachwirkte, so Michels, schien Italien den Ententemächten ein gutes Beispiel geben zu wollen. „Amerikanische Philanthropen schrieben bereits Bücher unter dem Titel: The Revival of Italy, in denen Italien als das Land echter Christenliebe dargestellt wird." (Robert Michels, Italien von heute, a.a.O., S. 210). Daß Herrons Name in diesem Zitat von 1930 nur in der Fußnote auftaucht und im Fließtext im spöttisch klingenden Oberbegriff der „amerikanischen Philanthropen" verschwindet, hat System. In Michels' Veröffentlichungen gibt es so gut wie keinen Hinweis auf seine persönlichen und politischen Beziehungen zu Herron - abgesehen von der Herron-Fußnote in dem in der Michels-Forschung gänzlich unbeachteten Aufsatz zu Paulucci di Calboli, wo Michels u. a. seine Kriegskorrespondenz mit Herron erwähnt, sowie in dem Artikel „II presidente Wilson e la guerra mondiale" (a.a.O.). Die enge Freundschaft der Herrons und der Michels' wird durch den archivalischen Bestand bis zum Tod des informellen Diplomaten und Publizisten dokumentiert. Ironischerweise wird Herron aber nicht in Italien, sondern in Deutschland sterben „in Folge der lang anhaltenden Krankheit [...] die während der Konferenz von Versailles ausgebrochen war [...]", wie Herrons Sohn George D. jr. Michels berichten wird: „Er starb in München und in Auslegung seines innersten Wunsches wurde er dort auf dem Waldfriedhof beigesetzt. Er hat tatsächlich - nachdem er viele seiner alten Bekanntschaften der Vorkriegszeit erneuert und neue Freundschaften geschlossen hatte - beobachtet, daß Deutschland seine militaristischen Tendenzen abhanden gekommen waren und ein neuer Geist anstelle jenes alten des Militarismus' und der Feindschaft getreten war, und da haben wir gedacht, daß ihm die Idee gefallen möge, in jenem Land zu ruhen, gegen welches er so sehr gekämpft hatte, als es noch vom Dämon des Krieges besessen war." (Brief von George D. Herron jr. an Michels, 1.11.1925, ARMFE; m. Übs.)

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verfaßt hat: „Die Zukunft der Demokratie".401 Einen Teil davon hat Herron im übrigen am 9. Mai 1919 vor der Studentenschaft der Universität Basel vorgetragen und es wäre verwunderlich, wenn nicht Michels selbst diesen Vortrag vermittelt haben sollte. Herron zufolge kann die Demokratie eine Zukunft offensichtlich nur ohne Sozialdemokraten haben. Diese nämlich bilden gemeinsam mit „Geldmagnaten" und „Junkern" ein „maskiertes militaristisches Regime". Die Republik von Weimar habe demnach keine Zukunft. Sie führe aufgrund ihrer personellen Besetzung nur eine Farce auf: „Als schlechte Komödiantin heuchelt diese deutsche Republik einen sozialistischen Staat, indem sie den Alldeutschen ein neues Gewand anzieht." Das Regime Ebert-Noske, verkündet Herrón den Studenten, sei der „Kern der wiederkehrenden Autokratie".402 Die Demokratie ist in dieser Weimarer Fassadenrepublik nach Herrons Meinung aufs höchste gefährdet. „Durch Unterzeichnung des Versailler Vertrages gewinnt Deutschland nur Zeit, während der die Regierung Ebert - Scheidemann wohl imstande sein wird, die Demokratie [...] zu vernichten." Welche Demokratie meint Herron? Die „Demokratie, wie sie von Dr. Muehlon und Prof. Foerster dargestellt wird."403 In Herrons Haß auf die SPD setzt sich die für den positiven Kriegsschulddiskurs typische Blindheit für die Gefahren der gewaltorientierten Bestrebungen auf der nationalistischen Rechten fort, d. h. jene Kräfte, die tatsächlich Leute wie Muehlon und Foerster „vernichten" wollen. Die SPD ist nicht Herrons einziger Feind. Ebenso verachtet er auch den „Bolschewismus", den „reaktionären Kapitalismus" und das „Alldeutschentum" - aber vor allem doch, und das ausgerechnet in seiner Propagandaschrift für die Demokratie, die von der SPD geführte Republik: „Ist die deutsche Revolution eine Fabel, so ist ihr Werk, die deutsche Republik, eine noch fabelhaftere Fabel; ja, sie ist durch und durch eine Lüge! Die Geschichte bietet keine zweite Betrügerei dar wie diese, keine zweite, die so boshaft und bedrohlich für die Menschheit ist."404 Wie hat sich nun Herrón die Demokratie eigentlich vorgestellt? Da ist erstens ein Maximalbegriff, der nicht nur den Staat, sondern jeden gesellschaftlichen Bereich dem Demokratieprinzip unterwerfen will: „Es kann keinen wahrhaften demokratischen Staat geben, es sei denn, daß die gesamte soziale Gewalt demokratisiert ist." Also auch das Bildungswesen, die Wirtschaft etc.405 Insbesondere die Wirtschaft brauche eine neue Verfassung. Herron tritt zwar für den Freihandel ein, aber der Kapitalismus ist ihm schon ein Dorn im Auge. Demokratisierung heißt für ihn, daß der ,»Arbeitgeber" durch den „Verwalter" ersetzt werden muß. Wenn wir annehmen, daß der Arbeitgeber der .Besitzer der Produktionsmittel' ist und seine Position gegenüber dem Arbeitnehmer aus dem Eigentumsrecht resultiert, woraus

401 George D. Herron, Die Zukunft der Demokratie, übs. u. eingel. von Elsbeth Friedrichs, Berlin 1920. 402 Herron, Zukunft der Demokratie, a.a.O., S. 18. Vgl. auch S. 25: „Es besteht [...] kein wesentlicher Unterschied zwischen der Denkungsweise der kaiserlichen und junkerlichen Regierung und deijenigen der sagenhaften deutschen Sozialdemokratie." 403 Herrón, Zukunft der Demokratie, S. 21. 404 Herron, Zukunft, S. 17. 405 Herron, Zukunft, S. 47.

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IX. Der Fremde im Kriege

resultiert dann die Position der obersten Leitungsebene in Herrons verwalteter sozialer Welt? Werden die Verwalter von den Angestellten gewählt? Offensichtlich nicht: „Soziale Verwaltung wird an Stelle des fluchwürdigen Profitmachertums und des Staates in veraltet politischem Sinne treten. Die Organisation und die Führung in jeder Sphäre des Lebens und des kollektiven Handelns wird in den Händen von Sachverständigen liegen, von Männern, die dazu geboren sind, die wahren geistigen Führer der Menschheit zu sein." Damit dürfte klar sein: Herrons ,Demokratie' wäre eine undemokratische Elitenherrschaft, die alle gesellschaftlichen Bereiche zu regeln beansprucht. Die Legitimation der leitenden Beamten zur Herrschaftsausübung bestünde in ihrer Sachkompetenz und in ihrer charismatischen Kompetenz: der Staat würde das „Instrument [!] von Menschen mit bedeutenden geistigen Fähigkeiten; Menschen, die wie Moses sogleich Seher und geschickte Führer wären." Von einer Legitimation durch Wahl ist an keiner Stelle die Rede. Herrons schwer kontrollierbare Elitenherrschaft hätte auch antiliberale und antipluralistische Züge, lautet eine Aufgabe der neuen allzuständigen Verwaltungselite doch: „Man müßte [...] die Interessen aller Gruppen einander gleichstellen." 406 Herrons „Zukunft der Demokratie" unterscheidet sich strukturell betrachtet kaum von der De-facto-Diktatur der „tüchtigen und ehrenwerten und wahrhaft menschlichen Personen", die Wilhelm Muehlon und Robert Michels als das letzte Heilmittel gegen die in ihren Augen moralische Legitimationskrise der sozialdemokratischen Republik von Weimer ansahen. Halten wir fest: im Kontext des positiven Kriegsschulddiskurses gibt es eine Tendenz, die formale Demokratie durch eine Elite von - im Sinne der Diskursverwalter moralisch integren Personen zu ersetzen, deren demokratische' Würde und Bürde darin besteht, mittels einer charismatischen Volkspädagogik den Deutschen die Augen zu öffnen und ihnen zu lehren, „zu verbrennen [...], was sie einst anbeteten, und anzubeten, was sie einst verbrannten" (Michels im Februar 1919).407 Der positive Kriegsschulddiskurs von Herrón, Michels u. a. sagt dem demokratischen Verfahren so lange den Kampf an, wie dieses Personen an die Macht bringt, die den ethischen Kriterien der antipreußischen und antisozialdemokratischen Mission nicht genügen. Unser Ausflug in die bislang unbekannte Intellektuellenfreundschaft zwischen Herron und Michels läßt aber auch gravierende Unterschiede zwischen beiden hervortreten. Herron hat, wie wir gesehen haben, noch vor Mussolinis Ernennung zum Ministerpräsidenten diesen zum künftigen politischen Führer Europas und zum Gründer des „Dritten Roms" ausgerufen - für den Brief an den ,Duce' hat er sich nicht geschämt, sondern ihn zur Veröffentlichtung freigegeben. Ähnlich hätte Herrón wohl auch eine Diktatur von „Dr. Muehlon und Prof. Foerster" gutgeheißen. Sie wäre für ihn als ,wahre Demokratie' an die Stelle der republikanischen „Fabel" von Weimar getreten.

406 Herron, Zukunft, S. 53. 407 Michels, Die Pflicht des Umlernens, a.a.O.

IX.9. Der Kriegsschulddiskurs und die Suche nach einer Elite „neuer Menschen"

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Bei Michels ist die Sache etwas anders. Der positive Kriegsschulddiskurs ist für ihn eine an den deutschen Kontext gebundene Episode. Eine Episode, welche im übrigen die moralische und emotionale Bindung des „Fremden im Kriege" an das oft verleugnete Land seiner Geburt aufzeigt. Die in diesem deutschen Kontext mal latent, mal offen artikulierten politischen Ordnungsvorstellungen sind keine Modelle, die nach ihrem Scheitern an dem einen Ort so schnell wie möglich an einem anderen Ort zu realisieren wären. Sie sind kontextabhängig. Die Novemberrevolution in Deutschland ist zwar für Michels eine Gedankenübung in der charismatischen Begründung von Politik gewesen. Aber das Gedankenexperiment scheint sich damit auch erledigt zu haben. Auf den piazze Italiens denkt Michels in der frühen Nachkriegszeit an andere Dinge oder stellt sich vorbehaltlos hinter das liberaldemokratische Regime. In Italien gelten ohnehin andere Maßstäbe für Michels. Niemals hätte er an das Land seines optionalen Patriotismus jene rigorose moralische Meßlatte gelegt, an der gemessen das Land seiner Geburt zwangsläufig moralisch minderwertig erscheinen mußte. Und niemals hätte Michels in Italien öffentlich einen Appell an Mussolini gerichtet, wie das Herrón getan hat - nämlich Monate vor einer ungewissen Machtergreifung. Selbst nach dem Marsch auf Rom wird Michels Mussolini nicht zum zukünftigen politischen Führer Europas stilisieren oder zum Gründer des „Dritten Roms" in Mazzinis Sinne. Michels ist da viel zurückhaltender als George Davis Herron. Vor dem Hintergrund dieses Kriegskapitels, insbesondere unserer Rekonstruktion der Michelsschen Wende von 1915, ist die einzig plausible Prognose, daß Michels auf den Oktober 1922 ähnlich reagieren wird wie auf den Machtkampf Giolitti-Salandra und die italienische Intervention im Mai 1915: abwarten, anpassen, verteidigen.

X. Robert Michels und der italienische Faschismus (1919-1936)

„Ich kann und will mich nicht an irgendeiner Fakultät als Politiker und Treuhänder der Regierung einsetzen lassen. Sie müssen mich mit allen Freiheiten haben wollen"1 (Robert Michels an seine Frau 1927) „Die Anerkennung des Prinzips der Elite wurde dem Fascismus durch den Glücksumstand erleichtert, dass er einen wahren Elite-Menschen zum Duce hatte."2 (Michels 1930 in „Italien von heute" über Mussolini) „es vermittelt auch die Vorstellung von der tragischen Natur des Autors, der sich von seinem Vaterland fortgekehrt hat, um anderswo zwar zu leben, zwar zu erkennen, zwar mitzufühlen, aber doch eigentlich unbehaust zu sein."3 (Adolf Grabowsky 1932 über „Italien von heute")

1. Die Legende vom frühen Parteieintritt und die „biographische Illusion" der Michels-Rezeption Es mag paradox klingen: so unterschiedlich die Ansätze im einzelnen auch sein mögen, haben alle bisherigen Gesamtinterpretationen von Robert Michels' Leben und Werk die früheren Schaffensperioden unter die spätere philofaschistische Phase funktionalistisch zu subsumieren gesucht. Und alle gelangen sie so zu einer Erklärung v o n Michels' philofaschistischem Engagement aus den politischen und theoretischen Optionen früherer Lebensabschnitte heraus, obwohl das zu Erklärende - der ,Nachkriegs-Michels' -

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Brief von Robert Michels an Gisella Michels, 25.3.1927, ARMFE; Zitat des italienischen Originals weiter unten. Robert Michels über Benito Mussolini, Italien von heute. Politische und wirtschaftliche Kulturgeschichte von 1860 bis 1930, Zürich/Leipzig 1930, S. 266. Adolf Grabowsky, Nachwort zu einer Besprechung von Richard Wichterich, in: Zeitschrift für Politik, Bd. 21, 1932, S. 356-360, S. 360.

Χ. 1. Die Legende v o m frühen Parteieintritt

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selbst eine noch weitgehend unklare Größe ist. Michels' Wege und Arbeiten nach 1920 sind nämlich, w i e dies Jean-Luc Pouthier einmal lapidar bemerkt hat, fast unbekannt. 4 Das hat zum einen wissenschaftshistorische Gründe: tatsächlich haben die sozialund wirtschaftswissenschaftlichen Beiträge Robert Michels' aus den 20er und 30er Jahren ihre Epoche kaum überlebt und zählen ganz sicher nicht zum klassischen Kanon heutiger Soziologieseminare. Selbst heuristisch wertvolle Anregungen für die Patriotismus- und Migrationsforschung sind der Nachwelt weitgehend unbekannt geblieben, weil sie schlicht in der Quantität - bei oft zweifelhafter Qualität - seiner Publikationen untergegangen sind. Unter dieser publizistischen Masse befinden sich insbesondere zahlreiche Beiträge zur ökonomischen Dogmengeschichte, einer Disziplin, die Michels vor allem u m ihrer selbst willen betrieben hat, d. h. ohne ihren B e z u g zu den wirtschaftspolitischen Fragen seiner Gegenwart zu explizieren. 5 Ein anderes hervorstechendes

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Jean-Luc Pouthier, Robert Michels et les syndicalistes révolutionnaires français, in: Cahiers Georges Sorel 4/1986, S. 39-57. Vgl. ζ. Β. Michels, Introduzione alla storia delle dottrine economiche e politiche, Bologna 1932; ders., Note sull'influenza dell'economia classica inglese sull'economia italiana del tempo (17751848), in: Giornale degli economisti, 1935, S. 21-37. Selbst italienische Wirtschaftshistoriker bemerken heute eine „übertriebene Sympathie, die Michels den italienischen Ökonomen des 18. und 19. Jahrhunderts entgegengebracht" habe. Und gemessen an dem von Michels angekündigten ehrgeizigen Programm einer interdisziplinären Neukonzeption der Wirtschaftsgeschichte, könnte das Urteil kaum vernichtender sein: Michels gelinge es nicht einmal, eine Rahmenidee der anvisierten soziologischen Rekonstruktion des von ihm gesammelten reichhaltigen dogmengeschichtlichen Materials zu vermitteln. So das Urteil von Riccardo Faucci, Intorno alla ,giusta' collocazione intellettuale di Roberto Michels, in: ders., Faucci (Hg.), Roberto Michels, a.a.O., S. 23-44, S. 42-43. Dies bestreiten auch nicht die Analysen von Michels' wirtschaftswissenschaftlichen Beiträgen im selben Band, die auf seine Einwände gegen die „puristische" Analyse des Wirtschaftshandelns nach Maßgabe des Homo Oeconomicus eingehen: Vitantonio Gioia, Roberto Michels e la scienza economica: dall'economia pura alla Grenzwissenschaft, in: Faucci, S. 45-67; sowie Antonio M. Fusco, Sui criteri „ispiratori" o „direttivi" del Michels per la storia delle dottrine economiche, in: Faucci, S. 69-81. Wer erfahren will, wer wann und wo zum Teil ganz ähnliche verelendungstheoretische Aussagen getätigt hat wie Karl Marx, der greife zu: Michels, Die Verelendungstheorie. Studien und Untersuchungen zu internationalen Dogmengeschichte der Volkswirtschaft, Leipzig 1928; zuvor auf italienisch unter: La teoria di Carlo Marx sulla miseria crescente e le sue origini, Torino 1922. Ebenfalls ohne Explikation eines gegenwartspolitischen Bezugs oder Nutzens ist die Einführung in „Rodbertus und sein Kreis" in der von Michels herausgegebenen Sammlung unveröffentlichter Briefe des Staatssozialisten: Carl Rodbertus-Jagetzow, Neue Briefe über Grundrente, Rentenprinzip und soziale Frage an Schumacher (= 1. Band der „Bibliothek der Soziologie und Politik"; hg. von G Salomon), Karlsruhe 1926. In einer durchaus positiven Rezension hat Ludwig Mises denn auch den antiquarischen Wert der bislang unveröffentlichten Briefe hervorgehoben sowie Michels eine „ausgezeichnete Einführung in die Lehren dieses eigenartigen und für die deutsche Geistesgeschichte wichtigen Mannes" attestiert (L. Mises, Rez, zu Rodbertus-Jagetzow, Neue Briefe ..., in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 82:3 (1927), S. 628-29; PDF-Version: www.mises.de). In jüngster Zeit sind jedoch Michels' intellektuelle Beziehungen zur „Ökonomischen Schule von Turin" näher untersucht worden Vgl. C. Malandrino: Michels e la scuola di economia di Torino,

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X. Robert Michels und der italienische Faschismus

Merkmal seiner sozialwissenschaftlichen Veröffentlichungen ist der Mangel an greifbaren Thesen. Oft präsentiert der Autor stattdessen eine Fülle von Gesichtspunkten, die wie zum Beispiel in „Sittlichkeit in Ziffern?" 6 - den Eindruck eines vielbelesenen Literaturberichts entstehen lassen. So mancher Kritiker vergleicht Michels' Bücher der 20er und 30er Jahre mit einem „,Warenhaus', auf einem glänzend organisierten Zettelkasten fußend". 7 Kurzum: ein großer Teil der Michelsschen Textproduktion ist aufgrund immanenter Rezeptionsbarrieren in Vergessenheit geraten. Davon zu unterscheiden sind einige meist anregend und kenntnisreich zugleich geschriebene Beiträge zur Sozial- und Ideengeschichte, insbesondere zur italienischen. Das Manko dabei: je näher Michels der politischen - letztendlich faschistischen - Gegenwart kommt, desto mehr übernimmt er dabei die offizielle Regierungspropaganda. Unter diesen Umständen erschienen Werke wie „Sozialismus und Faschismus" oder „Italien von heute" nicht gerade zur Weiterempfehlung geeignet. Während sozialwissenschaftlich aus der letzten Schaffensperiode wohl allein die zweite und nur geringfügig überarbeitete Auflage der „Soziologie des Parteiwesens" von 1925 ihren Autor überlebt hat, hat sich dagegen im historischen Gedächtnis der Soziologie Michels' Engagement für den italienischen Faschismus derart mit seinem Leben und Werk verbunden, daß von dieser späteren Phase ein Schatten auf das Gesamtwerk fällt und auch seine Vorkriegsschriften bzw. -aktivitäten unter den Verdacht des Präfaschismus gefallen sind. Es ist zumindest ein gemeinsames Merkmal aller bisherigen Gesamtinterpretationen, daß diese die faschistische Option der zwanziger Jahre als mehr oder weniger direkte Konsequenz politischer bzw. wissenschaftlicher Prädispositionen des jungen Michels deuten. Bei Wilfried Röhrich entwickelt sich Michels' spätere faschistische Option konsequent aus den Anlagen seines angeblichen revolutionär-sorelianischen, d. h. auch: gewaltbereiten Syndikalismus. Einer ähnlichen Kontinuitätsvermutung wie Röhrich folgen auch die Arbeiten von Pfetsch und Tuccari, die Michels' spätes Eintreten für den charismatischen Führer Mussolini als Kompensation einer enttäuschten rousseauistischidentitären Demokratievision erklären: der direkte Appell des Führers an die Massen als Ersatz für die untergegangene Hoffnung auf die unmittelbare Volksherrschaft.

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in: http://www.scuolaeconomiatorino.unito.it/paperl4-10-05/paperMalandrino 14-10-05.pdf, Oktober 2005; sowie C. Malandrino: La discussione tra Einaudi e Michels sull'economia pura e sul metodo della storia delle dottrine economiche, in: Working paper η. 65, Dipartimento di Politiche Pubbliche e Scelte Collettive - POLIS, Università del Piemonte Orientale „amedeo Avogadro" Alessandria, Januar 2006, 21 Seiten, (http://polis.unipmn.it/pubbl/index.php7papeFl247). Michels, Sittlichkeit in Ziffern? Kritik der Moralstatistik, München 1928. Der Name ist Programm: an einer Fülle von Beispielen aus der Literatur wird gezeigt, daß die Quantität von sozialen Lagen und Prozessen noch nichts eindeutiges über ihre Qualität, d. h. die zugrundeliegende moralische Disposition der handelnden Menschen aussagt. Vgl. Michels' Vorwort in „Der Patriotismus" (a.a.O., 1929), S. VII, wo er sich gegen diese Kritik verteidigt.

Χ. 1. Die Legende vom frühen Parteieintritt

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Auch David Beetham integriert Michels' faschistische Phase und seine Vorkriegstheorien in eine lineare und scheinbar ,schlüssige' Gesamtperspektive auf Leben und Werk. Beetham markiert zwar einen Bruch in der Zeit um 1907, also beim Wechsel von der sozialdemokratischen Parteipolitik an die Universität und in das neue Gewand des Elitetheoretikers. Er sieht dann aber eben in der Elitentheorie der Parteiensoziologie von 1911 die Voraussetzung für die spätere faschistische Option. In dieser Arbeit habe ich ausgehend von Pierre Bourdieus Warnung vor der „biographischen Illusion" schon im Ansatz einen anderen Weg beschritten und das Diskontinuierliche von Michels' Entwicklung betont, die im übrigen nicht nur nach den jeweiligen zeitlichen, sondern auch den nationalen Kontexten seines Lebens differiert.8 Dabei war freilich nachzuweisen, daß die bisherigen Versuche, Michels' Option für den italienischen Faschismus als systematischen Zielpunkt einer kohärenten biographischen Entwicklung zu deuten, nicht nur allgemeinen biographietheoretischen Bedenken begegnen, sondern auch einer empirischen Beweisaufnahme in diesem Einzelfall gar nicht standhalten: angefangen bei Michels selbst, dem in späten Jahren sogar so manche Fälschimg recht war, um die Brüche seiner Entwicklung wegzuerzählen,9 hat diese Arbeit die erstmals von Ferraris formulierte Kritik am Röhrichschen Michels-Bild vom „sindacalista rivoluzionario soreliano" bestätigen und vertiefen können.10 Nach den Recherchen im positivistischen Hinterland des Michelsschen Sozialismus, insbesondere der italienischen Kriminalistik der Lombroso-Schule, einerseits und seiner Kontakte zu den Syndikalisten in Italien und Frankreich andererseits stellt der revolutionäre Syndikalismus nur einen Einfluß unter anderen auf den jungen Michels dar - in den Worten Ferraris': nur einen der „poli di influenza", nicht den „polo di confluenza".11 Und insbesondere mit der für Röhrichs Beweisführung bedeutsamen sorelianischen Spielart die Krise des Sozialismus durch die Gewaltaktion einer energischen Minderheit zu lösen - hatte der junge Michels nur soviel zu tun, als daß er diese Option 1906 gegenüber dem Sorelianer Enrico Leone unmißverständlich abgelehnt hat. Röhrich, Linz und viele andere haben allgemein sicher recht: es gibt einen sorelianischen Weg vom revolutionären Syndikalismus zum Faschismus. Aber dieser ist nicht zwangsläufig, sondern höchst kontingent. Denn nicht einmal seine ,reinsten' Repräsentanten wie eben Enrico Leone oder auch Arturo Labriola sind ihn gegangen.12

8 Zum bisherigen Forschungsstand sowie zur grundsätzlichen Kritik der „biographischen Illusion" vgl. Kapitel I. 9 Vgl. exemplarisch das Kapitel „Die Legende von Dresden", wo insbesondere der autobiographische Bericht „Eine syndikalistisch gerichtete Unterströmung im deutschen Sozialismus" von 1932 in zentralen Punkten widerlegt werden konnte. 10 Kapitel III; IV.3. 11 Ferraris, Saggi, a.a.O., S. 60. 12 Vgl. Stefan Breuer, Nationalismus und Faschismus. Frankreich, Italien und Deutschland im Vergleich, Darmstadt 2005, S. 110: „Es sei daran erinnert, daß die Repräsentanten des .reinen Syndikalismus' wie Labriola, Leone oder Longobardi schon die Wende zum Linksnationalismus nicht mitmachten und erst recht dem rechtsnationalistisch gewordenen Faschismus die Gefolgschaft ver-

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X. Robert Michels und der italienische Faschismus

Auch die sich in der Michels-Forschung hartnäckig haltende These vom enttäuschten Rousseauisten besticht nur aufgrund der formalen Logik des Arguments - in den Quellen findet sie keinerlei Bestätigung. So war in Michels' sozialdemokratischer Phase ein Eintreten für direkte Demokratie an keiner Stelle nachweisbar - stattdessen aber ein Eintreten für die repräsentativ verfasste Republik mit Ministerverantwortlichkeit vor dem Parlament.13 In der Entstehungsphase der Parteiensoziologie taucht Rousseaus Definition dann erstmals als eine von anderen auf, was dem damaligen wissenschaftlichen Standard der Demokratiedebatte entspricht.14 David Beethams These, wonach die Geschichte von Michels' Entwicklung zur Geschichte der damaligen akademischen Sozialwissenschaft gehöre und für eine Ordnung des Gesellschaftswissens stehe, die gleichermaßen zur Demoralisierung des Sozialismus und zur Legitimierung des Faschismus ihren Beitrag geleistet habe, erscheint dagegen zumindest teilweise anschlußfahig. Zum einen widerlegt die hier vorgelegte ,ambivalente' Deutung der Soziologie des Parteiwesens Beethams Ansatz insofern, als Michels' damaliges Projekt einer desillusionierenden Sozialpädagogik mit den herrschaftskritischen Impulsen der Elitentheorie gerade auf eine Stärkung der Demokratie zielt.15 Zum anderen aber habe ich unter dem Stichwort der „Vergeblichkeit der Demokratisierung" auch jene Bedeutungsschichten von Michels' Hauptwerk analysiert, deren pessimistische sozialpsychologische und gruppensoziologische Grundannahmen das Projekt der Aufklärung, Emanzipation und Selbstbestimmung theoretisch für erledigt erklären.16 Daraus allerdings eine präfaschistische Disposition des Weltbildes abzuleiten, ist ideengeschichtlich nicht überzeugend, da erstens der italienische Faschismus sich einer historisch späteren exzeptionellen innen- und außenpolitischen Konstellation verdankt, ohne die es ihn gar nicht gegeben hätte, und da es zweitens auch Elitentheoretiker wie Mosca gegeben hat, die sich epistemologisch auf demselben ,gumplowiczianischen' Terrain17 wie Michels bewegt haben, politisch aber für den liberalen Rechtsstaat optieren und in

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weigerten [...] Eine wie immer geartete Prädisposition, vom Linksnationalismus zum Rechtsnationalismus zu gelangen, gab es nicht, man konnte ebenso Faschist wie Antifaschist werden." Vgl. zum „Wert der Republik" in Michels' Denkens Kapitel II.3.; IV.2.6. Vgl. Kapitel VI. 1.6. zu den Demokratiebegriffen und VI.2. zum epistemologischen Hintergrund der Soziologie des Parteiwesens. Vgl. auch Norberto Bobbio, der feststellt, daß die Tendenz der Demokratie zur Oligarchie für Michels eine soziale Tatsache war, der Autor aber, einmal vor die Frage gestellt, in seinem Hauptwerk der oligarchischen Demokratie eindeutig den Vorzug gegenüber der Oligarchie schlechthin gegeben habe. N. Bobbio, Saggi sulla scienza politica in Italia, Bari-Roma, Neuausgabe 1996, S. 270-71: „Che la democrazia tendesse inevitabilmente alla oligarchia era anche per il Michels un fatto, su cui non c'era né da piangere né da ridere. Ma non appena era costretto a prender posizione su questo fatto, stimava la democrazia oligarchica pur sempre migliore della oligarchia tout court." Vgl. Kapitel VI.2. Zur bis in die Wortwahl gehenden Affinität von Michels zur Konfliktsoziologie des Erzpositivisten Ludwig Gumplowicz vgl. Kapitel VI.2.4. Gruppistische Begriffe, Positionen und Theorien in Michels' Soziologie.

Χ. 1. Die Legende vom frühen Parteieintritt

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den zwanziger Jahren den Faschismus ablehnen.18 Allenfalls negativ läßt sich ein Zusammenhang zwischen der Michelsschen Parteiensoziologie und seinen späteren Optionen herstellen: die Krise des progressiven Positivismus ist bei Michels 1911 so weit fortgeschritten, daß er in der Folge die Ereignisse in Europa nicht mehr anhand eines geschichtsphilosophisch verbürgten Orientierungswissens um die scheinbar notwendigen Stufen der menschlichen Entwicklung von der Monarchie zur Republik, vom Kapitalismus zum Sozialismus, von der Fremd- zur Selbstbestimmung und dergleichen mehr beurteilen kann. Dieses Wissen hat als weltanschaulicher Lotse höchstwahrscheinlich mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges endgültig ausgedient.19 Wer wissen will, wie immunisierend der geistige Fahrplan des historischen Optimismus gegenüber abweichenden und irritierenden Entwicklungen funktioniert, solange an diesen Fahrplan geglaubt wird, muß sich nur die Faschismus-Rezeption der meisten marxistischen Autoren anschauen. Noch weniger überzeugend werden all die hier genannten Ansätze aber, wenn wir uns eben der weitgehend unbekannten Größe des späten Michels zuwenden, insbesondere seiner Beziehung zum italienischen Faschismus, die ja durch den Rückgriff auf die hier erwähnten angeblichen biographischen Weichenstellungen in ihrer Ursächlichkeit erklärt werden sollte. So besteht der größte Mangel von Beethams elitetheoretischem Ansatz darin, zu unterschlagen, daß Michels in seiner faschistischen Elitentheorie einen Methodenwechsel gegenüber der demokratischen Elitentheorie seiner Parteiensoziologie von 1911 vollzogen hat und wohl auch vollziehen mußte, weil deren herrschaftskritisches Potential einer legitimierenden Indienstnahme zugunsten des Mussolini-Regimes schlicht im Wege stand.20 Das Lob der faschistischen Elite als Elite - anstelle des Begriffs der Oligarchie - beruht, wie wir sehen werden, in einem erheblichen Maße

18 Einen dem Beethamschen vergleichbaren Erklärungsansatz liefert Giordano Sivini, der die Hypothese aufgestellt hat, daß Michels nach seinem Abschied vom Sozialismus sich strikt an der Werturteilsfreiheit im Sinne Max Webers orientiert habe und sich daher die Legitimation des Faschismus direkt aus der wissenschaftlichen Elitetheorie ableite. Michels habe dabei sogar seine „völlige intellektuelle Autonomie" bewahrt. (Sivini, Introduzione a R. Michels, Antologia di scritti sociologici, Bologna 1980, S. 41: „Dopo il distacco dal socialismo rivoluzionario Michels in realtà non dimentica più l'insegnamento di Weber e di Mosca sulla necessità di una separatezza tra attività scientifica e coinvolgimento politico; ma proprio per questo gli riesce di far discendere la legittimazione del fascismo - mantenendo una totale autonomia intellettuale - direttamente dalla propria teorizzazione élitistica.") Das Gegenteil ist richtig: Die oligarchischen Degenerationsgesetze von 1911 finden bei Michels auf die faschistische Elite gerade keine Anwendung und Michels' Befangenheit, sein Schweigen in peinlichen Fragen sowie seine unkritische, oft regierungsoffiziöse Wiedergabe der politischen Verhältnisse in Italien verbieten es, von intellektueller Autonomie zu sprechen. 19 Vgl. Michels' Brief an seine Frau am 2.8.1914 im Anschluß an den Kriegsausbruch im Kapitel IX.3. 20 Vgl. das Unterkapitel X.5. Der Bildhauer der Massen: die charismatische Wende' in Michels' Elitentheorie. Vgl. auch R.J. Bennett, The Elite Theory as fascist ideology - a reply to Beetham's critique of Robert Michels, in: Political Studies 26 (1978), S. 474-490, S. 486: „there is no inconsistency in accepting the framework of Michels' theory and seeking the greatest possible democratization and equality in society."

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X. Robert Michels und der italienische Faschismus

darauf, daß Michels seine machtsoziologischen Seziermesser der Vorkriegszeit aus der Hand gegeben hat. Auch werden wir sehen, daß Michels die in den zwanziger Jahren bei Carl Schmitt und Erwin von Beckerath beliebte Deutung des Faschismus als Demokratie ablehnen wird. Was für ihn die faschistische Diktatur u. a. attraktiv macht, ist ihre schnelle Handlungsfähigkeit und Entscheidungsklarheit im Gegensatz zur Demokratie, deren Entscheidungen meist zu spät und dann im Parteienkompromiss stark verwässert fallen. Damit sind es für Michels' vor allem Motive der zeitgenössischen Demokratiekritik, mit denen er in den 20er Jahren das faschistische Experiment verteidigt, und nicht etwa notwendige Konsequenzen aus seiner Parteiensoziologie von 1911; kurz: es ist Nachkriegszeitgeist - nicht logisch zwingende Fortentwicklung eines demokratietheoretischen Systems. Außerdem wird dieses Kapitel zeigen, daß Michels in der Bewertung von Gewalt und Krieg mit den Sorelianern und Nationalisten im Faschismus nichts, aber auch gar nichts gemein hat. Warum aber hat die bisherige Michels-Forschung immer wieder nach der einen Wurzel gesucht, die die Entwicklung vom Sozialdemokraten zum Faschisten auf den Begriff bringt? Ein Grund hierfür mag sein, daß der Forschung bislang entgangen ist, daß Michels sich keineswegs mit der faschistischen Bewegung von Anfang identifiziert, sondern sich erst vom distanzierten Beobachter, der er 1921 zweifellos noch ist, zum akademischen Botschafter des neuen Regimes entwickelt hat. Die Forschungsliteratur über Michels ist dagegen implizit immer davon ausgegangen, es habe sich bei dem Soziologen um einen Frühfaschisten gehandelt. Ein Eckstein dieses Michels-Bildes war - zumindest in nahezu jeder deutschsprachigen Publikation - die offensichtlich nie geprüfte Behauptung, er sei schon im Jahr des Marsches auf Rom oder kurz darauf Mitglied des Partito Nazionale Fascista (PNF) geworden. 21 Italienische Archivfunde haben dagegen

21 Dies gilt auch für lexikalische bzw. einführende Darstellungen, die für die meisten Studenten und Gelehrten den ersten Zugriff auf Michels überhaupt darstellen dürften. Vgl. Erhard Stölting, Robert Michels, in: Dirk Kaesler (Hg.), Klassiker der Soziologie 1, München 1999, S. 230-251, S. 232: „1922"; sowie die Einleitungen von Frank R. Pfetsch zur „Soziologie des Parteiwesens" von 1989, S. XX: „1923"; sowie von Joachim Milles, Brüche und Kontinuitäten ..., a.a.O., S. 15: „Noch in seiner Baseler Zeit trat Michels, wie viele andere italienische Nationalisten auch, kurz nach dem ,Marsch auf Rom' im Oktober des Jahres 1922 dem ,Partito Nazionale Fascista' (PNF) Benito Mussolnis bei". Das Online-Lexikon „50 Klassiker der Soziologie" von der Universität Graz datiert Michels' Eintritt in den Partito Fascista Nazionale auf das Jahr 1923: http://agso.unigraz.at/lexikon/klassiker/michels/34bio.htm (Stand: 9.2.2008). Ebenso Gangolf Hübinger: Politische Herrschaft und Politische Wissenschaft. Die Briefe Max Webers an Robert Michels vor dem Ersten Weltkrieg. In: Themenportal Europäische Geschichte (2007), URL: http://www.europa.clioonline.de/2007/Article=278. Von derartigen michelsspezifischen Beiträgen geht dieses in der deutschen Forschung offensichtlich nie geprüfte biographische Datum wieder in allgemeinere Darstellungen ein, zuletzt bei Stefan Breuer (Nationalismus und Faschismus, a.a.O., S. 55), der aber eine gewisse Verwunderung kaum unterdrücken kann: „Kurz zuvor hatte Robert Michels, seit dem Jahr des Marsches auf Rom selbst Mitglied des PNF, seine Partei als eine ,zusammengewürfelte Massenpartei' bezeichnet, deren synthetische oder, wenn man will, eklektische Note' in die Augen springe."

Χ. 1. Die Legende vom frühen Parteieintritt

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Anfang der neunziger Jahre belegt, daß Michels erst am 6. Juni 1928 Mitglied des PNF wurde, als er nach 14jähriger Lehrtätigkeit in Basel nach Italien zurückkehrte und eine Professur an der faschistischen Parteihochschule in Perugia annahm,22 an der ohne Parteiausweis weder studiert noch gelehrt werden durfte. Alle archivalischen Quellen aus dem Kontext seines Parteieintritts sprechen dafür, daß Michels in diesem Fall einen Kompromiß mit dem Regime geschlossen hat, um endlich den „definitiven Schritt meines Lebens" 23 tun zu können: die Rückkehr nach Italien, die ihm fast vierzehn Jahre lang nicht möglich gewesen war, zumindest nicht in Verbindung mit einer Professur. Dieser Lebenswunsch sollte sich erst jetzt, 1928, verwirklichen. Die faschistische Regierung hat sicherlich ein großes Interesse an dem international renommierten Gelehrten gehabt. Allerdings ging dieses Interesse nicht so weit, daß man Michels jeden Wunsch erfüllt hätte. Die Traumprofessur für Michels wäre eine an der Turiner Universität gewesen. Angesichts Michels' rundum positiver Berichterstattung über den Faschismus besteht sicherlich kein Zweifel, daß er von der faschistischen Politik aufrichtig überzeugt war und auch seine Mussolinibewunderung keinerlei ,Konzession' an das Regime darstellt, sondern durchaus einen persönlichen Glauben an die außergewöhnlichen Fähigkeiten des Duce. Damit stand er in jener auch als „anni del consenso" bezeichneten Zeit im übrigen nicht allein.24 Auf der anderen Seite können wir aber definitiv ausschließen, daß die faschistische Parteihochschule aus ideologischen Gründen für Michels ein erstrangiges Ziel gewesen wäre. Perugia dürfte ihm vielmehr immer nur als ein mögliches Sprungbrett erschienen sein. Bereits beim Antritt der neuen Professur spekuliert er auf einen Wechsel nach Turin und es wird kein Jahr vergehen, in dem er sich nicht nach Lehrstühlen an anderen Universitäten erkundigt.25 Aber alle Versuche, von Perugia zu wechseln, bleiben vergeblich. Neben der biographisch bedingten Vorliebe für Turin dürften bei Michels mit Blick auf die Parteihochschule auch im akademisch-disziplinären Sinn kaum Heimatgefühle aufgekommen sein. Er sollte dort korporative Ökonomie, also die neue faschistische Wissenschaft lehren, sein soziologischer Ansatz traf aber bei faschistischen Intellektuellen eher auf Un-

22 Loreto di Nucci, Roberto Michels ,ambasciatore' fascista, in: Storia contemporanea, anno XXIII, N.l, febbraio 1992, S. 91-103. 23 Brief von R. Michels an Luigi Einaudi, 13.5.1915, ARMFE. 24 In den Jahren 1925 bis 1935 hat der italienische Faschismus ein „Maximum an Stabilität und internationaler Reputation" erreicht. Die Zeit sei „von breiter Zustimmung bzw. um sich greifender Passivität getragen", schreibt Traute Rafalski (dies., Italienischer Faschismus in der Weltwirtschaftskrise (1925-1936), Opladen 1984, S. 438), dabei hinzufügend: „Für die Opfer der faschistischen Politik, für die reale antifaschistische Opposition waren es dagegen die dunkelsten Jahre". Der aufgrund der mangelnden Überprüfbarkeit von Konsens in einer Diktatur umstrittene Begriff der „anni del consenso" stammt von Renzo di Felice, Mussolini il duce, Bd. 1 : Gli anni del consenso 1929-1936, Turin 1974. 25 Nachzulesen in der Korrespondenz mit Luigi Einaudi, ARMFE. Schon am 8.10.1928 schreibt Gisella Michels an ihre Tochter Daisy, daß es mit dem Posten in Turin nicht geklappt habe, aber im folgenden Jahr möglicherweise die Rückkehr nach Turin anstehe und Michels geraten worden sei, bis dahin in Perugia zu bleiben (Privatarchiv Gallino).

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X. Robert Michels und der italienische Faschismus

Verständnis bzw. auf die „idealistische Verdammung v o n Soziologie und Politikwissenschaft" (Portinaro). 26 A u f Michels' uneingeschränktes Einverständnis ist die faschistische Regierung bei den Verhandlungen über den Lehrstuhl in Italien auf jeden Fall nicht gestoßen. Was Michels im März 1927 an seine Frau berichtet, zeugt v o m Bewußtsein eines Opfergangs einerseits, v o m demonstrativen Festhalten an der wissenschaftlichen Unabhängigkeit andererseits und einem daraus resultierenden Dissens mit dem Regime: „Liebe Gisella, das Opfer ist vollbracht: als Mussolini, gutaussehend, kultiviert und freundlich w i e immer, mich fragt: Was kann ich für Sie tun? Habe ich ihm geantwortet: Bewahren Sie mir Ihre Freundschaft, und ich habe Palazzo Chigi erhobenen Hauptes verlassen: Ich kann und will mich nicht an irgendeiner Fakultät als Politiker und Treuhänder der Regierung einsetzen lassen. Sie müssen mich mit allen Freiheiten haben wollen." 2 7

26 Marta Losito/Sandro Segre, Ambiguous Influences: Italian Sociology and the Fascist Regime, in: Stephen P. Turner/Dirk Käsler (Hg.), Sociology responds to Fascism, London/New York 1992, S. 42-87, S. 74-75; Vgl. Pier Paolo Portinaro, Roberto Michels e Vilfredo Pareto. La formazione e la crisi della sociologia politica, in: Annali della Fondazione Luigi Einaudi XI (1977), S. 99-141, S. 136: „In questo contesto culturale, Velitismo carismatico era però destinato ad avere scarsissima fortuna e ad essere sacrificato dalla condanna idealistica della sociologia e della scienza politica." Aldo G Ricci geht sogar noch einen Schritt weiter und stellt mit Norberto Bobbio fest, daß Michels' „soziologischer Positivismus" und seine Theorie der politischen Klasse eher etwas für die antifaschistische Opposition war. Vgl. Aldo G. Ricci, Michels e Mussolini, in: Furiozzi (Hg.), Michels tra sociologia e politica, a.a.O., S. 253-263, S. 253/4: „Nella conclusione dei suoi Saggi sulla scienza politica in Italia, Bobbio afferma che l'ideologia ufficiale del regime preferì l'idealismo gentiliano al positivismo sociologico di Michels, mentre la teoria della classe politica (dell'oligarchia o delle élites) circolò invece abbondantemente [...] in settori democratici e antifascisti." Die entsprechenden Ausführungen von Bobbio finden sich in dessen „Saggi sulla scienza politica in Italia" (Neuausgabe 1996), S. 271-272. Über Michels' Lehrpläne und Aktivitäten in Perugia informiert Maria Cristina Giuntella, Autonomia e Nazionalizzazione dell'Università. Il fascismo e l'inquadramento degli Atenei, Roma 1993, S. 109-121: „Michels professore a Perugia". Giuntella interpretiert Michels' Berufung als „funzionale" im Sinne des Regimezieles, „un progetto di formazione di classe dirigente più organico" auf den Weg zu bringen (S. 111). Das klingt eher nach politischer Rhetorik als nach einem realistischen Projekt der Regimeoptimierung: die ,organische' und ,kompakte' Führerschaft war nämlich ein Wunschbild des Faschismus, der damit seine eigenen Flügelkämpfe verdeckte und sich gleichzeitig vorteilhaft von den diskontinuierlichen und zerstrittenen Demokratien abzuheben versuchte. Michels hat sich an dieser Propaganda beteiligt und dadurch seiner eigenen Elitetheorie ihren epistemologischen Lebensnerv geraubt. Dazu mehr im Unterkapitel „Der Bildhauer der Massen." 27 Brief an Gisella Michels, 25.3.1927, ARMFE: „Cara Gisella, Il sacrificio è fatto: quando Mussolini, bello, colto e gentile come sempre, mi chiede: Cosa posso fare per Lei? Gli ho risposto: Conservarmi la Sua amicizia, ed ho lasciato Palazzo Chigi a testa alta: non posso ne voglio farmi imporre ad una Facoltà qualsiasi come uomo politico e fiduciario del Governo. Devono volermi avere liberamente."

Χ. 1. Die Legende vom frühen Parteieintritt

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Vor diesem Hintergrund ist Michels' Parteieintritt 1928 - bei aller in seinen Veröffentlichungen geäußerten Faschismussympathie - offensichtlich nicht politischer, sondern instrumenteller Natur gewesen: gewissermaßen die Rückfahrkarte von Basel nach Italien und in das dortige akademische Leben - mit der Hoffnung auf Anschlußzüge ins Piemontesische. Der privat geäußerte Wunsch, sich nicht als Politiker und Treuhänder der Regierung instrumentalisieren zu lassen, zeigt, daß Michels sich auch in jenen Jahren seiner philofaschistischen Publizistik in seinem Selbstverständnis offensichtlich immer noch politisch relativ unabhängig fühlt - so wie im Dezember 1922, als er den Lesern seiner ersten Abhandlung über den Faschismus im Vorwort erklärt, daß er „den Faschisten nicht angehört".28 Diese Äußerung wie auch die politische Unabhängigkeitserklärung an seine Frau von 1928 weisen in eine ganz andere Richtung als die autobiographischen Suggestionen des späten Michels, der Ende der zwanziger Jahre damit beginnt, sich nachträglich gewissermaßen an die Spitze der Bewegung zu setzen, indem er die präfaschistischen Duftnoten seines intellektuellen Vorlebens dokumentiert:29 anstatt nach präfaschistischen Dispositionen und Affinitäten in seinem früheren Leben zu fahnden, scheint es sehr viel wahrscheinlicher, daß sich Michels erst unter dem Eindruck des an die Macht kommenden Faschismus mit diesem angefreundet hat. Als Hypothese leitet mich im folgenden, daß Michels in der Krise der Nachkriegszeit mit ihrer bürgerkriegsartigen Zuspitzung der politischen Auseinandersetzung eine Verhaltensweise an den Tag gelegt haben dürfte, die wir als das für ihn typische Krisenreaktionsmuster in Italien bereits kennengelernt haben. Abwarten, anpassen, verteidigen - so lautete pointiert unser Resümee von Michels' Verhalten in der Maikrise von 1915, als die moderaten Attentisten und Diplomaten den Befürwortern einer italienischen Kriegsintervention unterlagen. Im Kapitel „Der Fremde im Kriege" ist diese Entscheidungssituation von 1915 detailliert analysiert und ist unter den Begriffen „Fremdheit" und „Adoptivpatriotismus" Michels' prekäre Italianität gewürdigt worden, die sich darin äußert, in fundamentalen Konflikten und die Gesellschaft Italiens polarisierenden Fragen das Ergebnis der Auseinandersetzung erst einmal abzuwarten, es anschließend aber offensiv in der ausländischen Presse zu vertreten. Michels ist aber, wie gesehen, vor dem Mai 1915 nie ein Vordenker oder gar Propagandist der italienischen Kriegsintervention gewesen. Und er hat sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit - vor dem „Marsch auf Rom" - zu keinem Zeitpunkt mit der faschistischen Bewegung politisch identifiziert. Aber ebenso, wie er es nach dem Mai 1915 offenbar für seine patriotische Pflicht' hielt, die Kriegsziele wie die Kriegsführung Italiens nach außen zu verteidigen, wird er nach Mussolinis Machtübernahme den

28 Michels, Der Aufstieg des Faschismus in Italien, Separatabdruck aus der Neuen Züricher Zeitung, Dezember 1922, 31 Seiten, S. 2. 29 Vgl. die entsprechenden Nachweise in Kapitel I.

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Faschismus zunächst als wohlwollender, teils noch distanzierter Kommentator begleiten, um sich schließlich ab 1924/25 vollends mit dem Regime zu identifizieren und als sein akademischer Botschafter in der Welt aufzutreten. Mit seinen - Kritik und Zweifel zunächst weitgehend, später fast gänzlich ausblendenden - Büchern und Aufsätzen über den italienischen Faschismus hat Robert Michels dazu beigetragen, daß dieser gerade in der bürgerlichen Intelligenz Europas als ein exportfähiges politisches Ordnungsmodell rezipiert worden ist. Damit strebe ich keine monokausale psychologische Erklärung von Michels' Philofaschismus aus einer Pathologie seines Adoptivpatriotismus an. Im Gegenteil: wenn das Verhaltensschema „abwarten - anpassen - verteidigen" sich hier erneut empirisch nachweisen läßt, würde dies zeigen, daß Michels erstens politisch nicht den frühfaschistischen Strömungen zuzurechnen ist, sondern in den ersten Jahren außenstehender Beobachter ist, und daß er zweitens die Freiheit gehabt hätte, nach einer gesellschaftspolitischen Kosten-Nutzen-Analyse des faschistischen Experiments sich dagegen auszusprechen und in der Schweiz zu bleiben. Michels hat tatsächlich eine derartige Analyse betrieben und ist zu dem Schluß gekommen, daß der Verzicht auf Demokratie und Meinungsfreiheit ein angesichts der sozial- und wirtschaftspolitischen Erfolge des Regimes nicht zu hoher Preis gewesen sei. Insofern steht Michels exemplarisch für die Faszinationskraft des Faschismus angesichts der Krise der parlamentarischen Institutionen sowie für die Erosion des Liberalismus in der europäischen Intelligenz der zwanziger Jahre. Um die Hypothese vom Krisenreaktionsmuster des „Fremden im Kriege" sowie die von der Erosion des Liberalismus zu verifizieren, empfiehlt es sich, als Probe aufs Exempel Michels' politische Publizistik in der unmittelbaren Nachkriegszeit vor dem „Marsch auf Rom" und insbesondere sein Verhältnis zu den amtierenden liberaldemokratischen Regierungen unter die Lupe zu nehmen.

2. 1919-1922: Regierungsloyalität und das Lob der „goldenen Mitte" Wäre Robert Michels im Sommer 1922 plötzlich verstorben, wäre er sicherlich nicht als faschistischer Intellektueller in die Annalen der Soziologiegeschichte eingegangen. Vielmehr hat Michels in der Nachkriegskrise des liberal-parlamentarischen Systems gerade nicht auf der Seite seiner subversiven Gegner gestanden, sondern er hat sich loyal, ja geradezu affirmativ zur jeweils amtierenden Regierung verhalten. Weit davon entfernt, der alten politischen Klasse die Führungsqualitäten abzusprechen, hat Michels ihren Führungsanspruch sogar geradezu propagandistisch untermauert: „Ein Mann von festem Willen, von großer Tatkraft und ein Freund der Arbeit und der Reform. Ein Praktiker, geleitet von Ideen, dazu für einen leitenden Staatsmann noch in jungen Jahren stehend [...] Die Vergangenheit des Mannes zeichnet ihm hier [auf dem Feld der Innenpolitik, T. G] eindeutig die Marschroute vor: weitgehende Bewegungsfreiheit, Gegnerschaft gegen alle erschlaffende Routine (folg-

X.2. Regierungsloyalität

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lieh auch gegen den Bureaukratismus), Bereitwilligkeit zur sozialen Reform, Hebung der Produktion im Land. Unbestreitbar ein Mann des Fortschritts!"30 Der „Mann des Fortschritts", als den Michels Italiens neuen Ministerpräsidenten im Juli 1919 in der Schweizer Presse vorstellt, heißt Francesco Saverio Nitti. Der liberale Nationalökonom wird nur ein Jahr, von Juni 1919 bis Juni 1920, regieren. Auch wenn Nitti somit schon nach relativ kurzer Zeit scheitert und sein Amt an Giolitti abgeben muß, ist es doch interessant, was Michels in seinem erwartungsfrohen Kommentar über den neuen italienischen Ministerpräsidenten vom Juli 1919 politisch mit diesem verbunden hat. Die politische Agenda Nittis, mit der sich Michels hier identifiziert, bestätigt einmal mehr unsere Skizze von Robert Michels' ,sozialliberalem' Profil in der unmittelbaren Nachkriegszeit, in dem sich Leitmotive des Wirtschaftsliberalismus mit solchen der Sozialreform mischen.31 Vom besonderen Fall Deutschland abgesehen, wo Michels wie wir an seinem Gespräch mit Wilhelm Muehlon sehen konnten - zumindest im Kontext der deutschen Kriegsschulddebatte einem moralischen Fundamentalismus mit illiberalen Zügen zuneigt, schlägt er zeitgleich in Bezug auf Italien und Europa wirtschaftsliberale und freihandelsoptimistische Töne an, die er soweit mit sozialpolitischen Forderungen kombiniert, als diese nicht die unternehmerische Freiheit und das ökonomische Wachstum behindern. Diese nach dem Krieg in zahlreichen Aufsätzen klar formulierte Vorstellung einer möglichst freiheitlichen Grundordnung der Wirtschaft mit sozialstaatlicher Ergänzung hat offensichtlich für Michels im neuen Ministerpräsidenten Nitti ihre personelle Verkörperung erfahren: „Wir wüßten kaum einen anderen Nationalökonom zu nennen, der die Liebe zur Freiheit des Einzelindividuums mit so lebhafter Betonung der Rechte der Gesamtheit auf Produktion verbunden hätte. In unzähligen Artikeln hat er es ausgeprochen: Der Sozialismus darf nicht den Ertrag der Arbeit beeinträchtigen, die moderne Arbeiterbewegung darf nicht der Produktion schaden, bei Strafe der Befehdung." 32 Michels stellt sich nicht zuletzt deshalb hinter den wirtschaftsliberalen Kurs der Regierung, weil ihm dies als die einzig richtige Konsequenz aus der ökonomischen Krise der Nachkriegszeit erscheint. Er weist damit den Sozialismus in seine Schranken - wie z. B. die damals vieldiskutierte Option einer Sozialisierung der Industrie. Er bestreitet allerdings in keiner Weise die Berechtigung der sozialen Fragen im einzelnen, für deren Lösungs- und Linderungsmöglichkeiten er sich weiterhin auch

30 Michels, [Francesco Saverio Nitti], Tagesbericht, in: Basler Nachrichten, 2.7.1919. 31 Vgl. die entsprechenden Ausführungen zu Beginn des Unterkapitels IX.9. Der Kriegsschulddiskurs und die Suche nach einer Elite .neuer Menschen'. Michels' Konsequenzen aus der deutschen Kriegsschuld und vor allem aus der Ermordung Kurt Eisners haben mit Liberalismus freilich nichts zu tun, sondern sind der Ausdruck seines in Bezug auf Deutschland inzwischen pathologischen moralischen Fundamentalismus. 32 Michels, [Francesco Saverio Nitti], Tagesbericht, in: Basler Nachrichten, 2.7.1919.

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publizistisch interessiert, ohne freilich dabei eine grundlegende ,Systemalternative' wie entfernt auch immer im Blick zu haben.33 Wenn sich Michels 1919 vorbehaltlos hinter den gerade ins Amt berufenen neuen Ministerpräsidenten Nitti stellt, dann ist dies nicht einer Laune geschuldet, sondern hat Programm: er setzt seine proitalienische Publizistik der Kriegszeit nach dem Kriege nahtlos fort und fungiert auch jetzt wieder als eine Art informeller Regierungssprecher Italiens in der Schweizer Presse. Dazu gehört es, nicht nur den Amtsantritt des neuen Ministerpräsidenten mit einem optimistischen Ausblick auf die kommende Regierungszeit zu verknüpfen, sondern selbstverständlich auch, die Vorgängerregierung unter Orlando und Sonnino angemessen zu würdigen und gegen ihre Kritiker zu verteidigen: „es wäre Undankbarkeit", so Michels, dem alten Kabinett die Anerkennung fur seine „stetige, dem Abenteurertum abholde und rechtlinige Außenpolitik" zu verweigern. Diese Danksagung ist in weiten Teilen so freundlich und unkonkret wie es feierliche Verabschiedungen nun einmal sind. Interessanter - zumindest im Hinblick auf Michels' politische Selbstverortung - ist es, wenn er dann präziser wird und es zu den Verdiensten der Regierung Orlando zählt, daß die mentale Demobilisierung auf einem guten Weg sei und „Italien vom Militarismus frei geblieben ist". „Der Krieg hat die Seele des Volkes nicht vergiftet, keine Lüsternheit nach Trophäen, kein nationales Protzentum in ihm erzeugt" - und dies, obwohl ein „Triumphieren" des Militarismus infolge der Kriegsbeteiligung zwar „unsympathisch", aber doch „verständlich" gewesen wäre.34 Besonderes Lob zollt Michels in diesem Zusammenhang dem Militär selbst: „Man kann wohl mit gutem Gewissen sagen, daß das Verhalten des italienischen Militärs zwischen dem Militarismus und dem Bolschewismus die Mitte hält: die goldene Mitte."35 Die „goldene Mitte" als politischer Tugendpfad der Äquidistanz gegenüber den Extremen von links und rechts. Das scheint Michels 1919 - es gibt nicht ein einziges Gegenindiz - der richtige Weg zu sein. Daraus läßt sich freilich nicht schließen, daß Michels zu diesem Zeitpunkt ein prinzipienfester liberaler Demokrat gewesen ist. Sein Bekenntnis zur „goldenen Mitte" ist im gegebenen Kontext zwar auch ein klares Bekenntnis zur amtierenden politischen Klasse im liberal-parlamentarischen Institutionengefüge des italienischen Königreiches; es gilt indes in Bezug auf Italien. Dort, wo Michels sich generell äußert, ist dagegen eher die Fortsetzung des verfassungspolitischen Relativismus aus der Kriegszeit zu beobachten. Das zeigt insbesondere sein zeitgenössischer Artikel über „Die Republiken". Erstmals in der Nachkriegszeit widerruft er hier - in einer generalisierenden Abhandlung des Themas - die prinzipielle Präferenzentscheidung seiner Parteiensoziologie (1911) zugunsten der Demokratie und knüpft die Frage der innenpolitischen Ordnung nunmehr an national-kontextuelle Bedingungen. Er macht

33 Michels, Das soziale Problem in der italienischen Landarbeiterschaft, in: National-Zeitung, Nr. 571 und 591, 5./16. Dezember 1921; Michels, Zur Frauenfrage und Frauenwahlrecht in Italien, in: Basler Nachrichten, Nr. 235 und 236 am 5. und 6. Juni 1920, sowie Nr. 251/252 am 16. Juni 1920. 34 Michels, Aus dem neuen Italien, in: Neue Schweizer Zeitung, Nr. 56, 8. Juli 1919. Vgl. auch Michels, Die italienische Bevölkerung nach dem Kriege, in: Neue Schweizer Zeitung, Nr. 46, 3. Juni 1919. 35 Michels, Aus dem neuen Italien, in: Neue Schweizer Zeitung, Nr. 56, 8. Juli 1919.

X.2. Regierungsloyalität

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sich dabei die relativistischen Thesen des Historikers Guglielmo Ferrerò zu eigen, wonach der mit dem Sturz der Monarchien siegreiche republikanische Gedanke nicht nur einen „großen Gewinn" mit der „theoretischen Herrschaft des Volkes" mit sich bringe, sondern auch eine „große Gefahr": die Demokratie sei nämlich „ein geistiger Zustand, der sich nicht improvisieren läßt, sondern eine lange und bange Lehrzeit erfordert. Ein unvorbereitetes Volk wird mit der Demokratie furchtbaren Unfug anstiften." 36 Diese Warnung vor den „furchtbaren" Auswirkungen der demokratischen Ordnung suggeriert, daß undemokratische Verfahren in der geistig-moralischen Krise der Nachkriegszeit möglicherweise segensreicher sein könnten als ein starres Festhalten am demokratischen Prinzip. In diese allgemein gehaltene Konstruktion fließt möglicherweise Michels' spezifische Rezeption der deutschen Revolution ein: die breite Aversion in der Gesellschaft gegenüber der Kriegsschuldfrage, die demokratisch legitimierte Besetzung von Regierungsposten durch Politiker, die in Michels' Sicht mitverantwortlich für den Krieg gewesen waren, sowie die politische Isolierung und Hetze gegen die ,neuen Menschen' wie Eisner, Muehlon und Foerster - all dies hat Michels wahrscheinlich an der moralischen Dignität von Mehrheitsentscheidungen zweifeln lassen. Denn die in seiner Sicht moralisch Aufrichtigen und Tugendhaften wie Kurt Eisner hatten ja - Michels' eigener Analyse zufolge 37 - nur die Wahl zwischen der politischen Gestaltung mit den Mitteln der Diktatur oder der politischen Ohnmacht unter parlamentarischen Bedingungen. Angesichts des gesinnungsethischen Radikalismus, den Michels gerade im Kontext der Ermordung Kurt Eisners an den Tag legt, müssen wir davon ausgehen, daß eine Diktatur Eisners in Deutschland eher auf den Beifall, nicht aber auf den Widerstand Robert Michels' gestoßen wäre. Das zumindest entspricht dem Geist der im vorigen Kapitel analysierten Muehlon-Notiz. Aber ebenso wie Michels' Bewertungen der Nachkriegspolitik in Italien lassen sich auch seine Äußerungen im deutschen Kontext nicht verallgemeinern. Eine prinzipielle Präferenz diktatorialer gegenüber demokratischen Lösungen läßt sich bei Michels vor der faschistischen Machtübernahme gerade in Bezug auf Italien überhaupt nicht feststellen. Nach 1922 wird der Philofaschist Michels zwar für das neue italienische Regime werben - er wird den Faschismus allerdings auch nicht als universales Exportmodell auf dem Markt der politischen Ideen anbieten, sondern ein roter Faden seiner Faschismus-Studien besteht gerade darin, diesem seine Exportfahigkeit zu bestreiten. 38 Genauso wird er allerdings auch der Demokratie bestreiten, ein objektives Ziel der politischen Evolution zu sein. Sie wird, etwa auf dem Soziologentag von 1926, für ihn nur noch ein ,Akzidens" der Geschichte sein - nicht länger ihre „, Vollendung' ", wie es einst noch der Entwicklungsplan des historischen Optimismus versprochen hatte. 39 In-

36 Michels, Die Republiken, in: National-Zeitung, 3.4.1921. 37 Vgl. unsere Ausführungen zum positiven Kriegsschulddiskurs in Kapitel IX.9. 38 Michels, Der Aufstieg des Faschismus in Italien (1922), a.a.O., S. 31; ders., Italien von heute (1930), S. 371. 39 In diesem Sinne setzt Michels auch den Begriff „Vollendung" in Anführung, da ihm die dahinterstehende Geschichtsphilosophie inzwischen - spätestens seit dem Ersten Weltkrieg - völlig suspekt

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sofern nimmt der verfassungspolitische Relativismus in „Die Republiken" Michels' Demokratiebegriff der 20er und 30er Jahre vorweg. Seine gemäßigte politische und regierungsloyale Position in der unmittelbaren Nachkriegszeit wird von dieser zumal sehr theoretischen Relativierung der Demokratie aber in keiner Weise berührt. Als Michels in der Nachkriegszeit für Italien die „goldene Mitte" als den politischen Vernunftweg preist, ist ihm freilich auch bewußt, daß das politische System seitens der „Sozialisten" einerseits und der „Nationalisten" und „Militaristen" andererseits erheblich unter Druck geraten könnte: „die Wellen von rechts oder die Wellen von links allein" hätten der Regierung Orlando-Sonnino nichts anzuhaben vermocht. Erst als „die Wellen von rechts und die von links zugleich" zusammenschlugen, war es um die Regierung geschehen. Seiner Diagnose einer alles in allem equilibrierten und entmilitarisierten' italienischen Volksseele vom Sommer 1919 zum Trotz wird Michels in der Folgezeit die zunehmende Radikalisierung und Polarisierung der italienischen Gesellschaft konstatieren müssen. Da sind zunächst die Turiner Fabrikbesetzungen von 1920, die Michels im Namen der volkswirtschaftlichen Prosperität und eines durchaus liberal zu nennenden wirtschaftspolitischen Ordnungsdenkens verurteilt. Für Michels nämlich ist die unternehmerische Entschlußfreiheit eine ökonomische Notwendigkeit und stellt dagegen der von den Arbeitern angestrebte „Fabrikkonstitutionalismus" ein „System der verpassten Gelegenheiten" dar.40 Unmittelbar nach dem Ende der dreiwöchigen Turiner Fabrikbesetzungen bei FIAT im Herbst 1920 resümiert er im Hinblick auf die mit dem Aufruhr im Nu zusammengebrochenen Beziehungen des Konzerns zu Zulieferern und Banken zwar trocken: „Der Versuch der Fabrikbesetzung der Arbeiter scheiterte an der mangelhaften Rentabilität." Auch sei der „Bürgerkrieg, der in bedenkliche Nähe gerückt war [...] durch einen zum mindesten für den Augenblick geschickten und vermittelnden Schachzug Giolittis vermieden worden." Aber: der „Giolittische Ausgleich" hat offensichtlich nur zu einer temporären Beruhigung der Lage beitragen können: denn die Arbeiterschaft betrachte das Erreichte nur als Abschlagszahlung und „steht Gewehr bei Fuß, innerlich unruhig und erwartungsvoll". Demgegenüber sei „im Lager der Bürgerlichen [...] eine gewaltige Reaktion erwachsen, getragen von der Empörung über die wirtschaftliche Ruhestörung und die aus ihr erwachsenen finanziellen Folgen."41

ist. Nunmehr gilt für Michels: „Die Geschichte ist keine gerade Linie, sie vollzieht sich, ganz besonders in den Staatsformen und Massengefühlen, in wahrnehmbarem Gewoge des Hin und Her". Vgl. „Diskussion über Demokratie", in: Verhandlungen des Fünften Deutschen Soziologentages vom 26. bis 29. September 1926 in Wien, Tübingen 1927, S. 69. 40 Michels, Über die Versuche einer Besetzung der Betriebe durch die Arbeiter in Italien (September 1920), in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 48, Heft 2, S. 469-503, S. 501. 41 Michels, Zeitgemäße Betrachtungen zum italienischen Fabrikaufruhr, in: National-Zeitung, Nr. 575, 7.12.1920. Der Radikalisierung in der italienischen Arbeiterschaft ist ein alter Freund von Michels politisch zum Opfer gefallen: die „rechtsstehenden Elemente, wie den tüchtigen, auch in Basel (durch den Eisnerabend im Kasino) bekannten Giulio Casalini" haben die Sozialisten aus

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Der im Hinblick auf Italien harmoniesüchtige Robert Michels nimmt also, während er das Ideal der „goldenen Mitte" propagiert, durchaus die Polarisierung der italienischen Gesellschaft wahr. Daß das Land am Rande des „Bürgerkrieges" stehe, ist eine Ahnung, die er in seiner im Herbst 1920 verfassten Analyse der Turiner Fabrikbesetzungen des öfteren äußert.42 Es ist für ihn dabei von besonderem Nachrichtenwert, daß der politische Geist der traditionell links stehenden Studentenschaft sich deutlich gegen die Arbeiterbewegung zu wenden beginnt.43 Und Michels stimmt in die neue Kritik am Sozialismus insofern ein, als er in seiner Analyse der Fabrikbesetzungen das Kontraproduktive, Maßlose und Realitätsfremde von Arbeitskämpfen und Arbeitermitbestimmung in der kritischen Phase des Übergangs von Kriegs- in die Nachkriegsökonomie unterstreicht. Auf den Punkt bringt er dies in Abwandlung eines berühmten Slogans der Arbeiterbewegung, den er in einen Reim auf die unverzichtbare akademisch ausgebildete Leitungsebene im Betrieb umdichtet: „Alle Räder stehen still, wenn der starke Kopf es will."44 Der Frühfaschismus ist für Michels allerdings in dieser Phase kein antisozialistischer Rettungsanker, sondern ein Störfaktor, der die unübersehbare Krise noch weiter verschärft und von Michels als eine Bedrohung für Staat und Gesellschaft dargestellt wird. „Es ist leicht einzusehen, daß die Fascisten für Staat und Gesellschaft keineswegs gefahrlos sind", folgert er im April 1921. Denn die Faschisten „agitieren völlig illoyal und außerhalb der Cadres der Autorität. Sie sind mithin ein Element der Unordnung und der Indisziplin. Dazu kommt, daß sowohl von Mussolini als auch von d'Annunzio her die Fascisten stark mit revolutionären und unruhigen Elementen durchsetzt sind, die sehr geringe Achtung vor dem Staat und der Demokratie besitzen, und von denen durchaus vorauszusetzen ist, daß sie gegebenenfalls nicht vor antimonarchischen Umtrieben [...] zurückschrecken würden."45 Negativ fallt auch Michels' Einschätzung der Ideologie wie der Soziologie des Faschismus aus. Die Faschisten seien „zur ausschließlichen Bekämpfung der Sozialisten entstanden. Ihr Programm ist mithin einseitig, theoretisch völlig unausgebildet, praktisch auf einen einzigen Punkt zugespitzt." Der programmatischen Armut entspricht in Michels' Analyse die komplexe soziale Zusammensetzung der Fasci: diese bestehen erstens - aus Teilen der „akademischen Jugend, welche während des Krieges bekanntlich mit ihrem Blute nicht gekargt hat und nun die Sozialisten für die [...] bösartigsten

42 43 44 45

ihren Kandidatenlisten ausgeschlossen - und prompt ausgerechnet im „roten Turin" die Stadtwahlen verloren. Michels, Über die Versuche einer Besetzung der Betriebe durch die Arbeiter in Italien (September 1920), S. 494. Michels, Über die Versuche einer Besetzung der Betriebe durch die Arbeiter in Italien, S. 498. Michels, Über die Versuche einer Besetzung, S. 493. Michels, Zu den italienischen Neuwahlen. Kommunisten und Faschisten, in: Nationalzeitung, Nr. 159, 7.4.1921.

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und gefahrlichsten Feinde des eben erst geretteten Vaterlandes" halten. Dieser sozialen Gruppe gesellen sich zwei weitere hinzu: „Abenteurer aller Art, die im Krieg Freude am Kriegen gefunden haben und nun ihre Gewohnheiten in den Frieden hineintragen möchten" sowie „allerhand dunkle Gesellen" im Solde der Unternehmerverbände. Wenn wir daran denken, daß Michels zur selben Zeit unter dem Begriff der „goldenen Mitte" gerade die mentalen Entmilitarisierungserfolge in der italienischen Gesellschaft zum Tugendpfad des Nachkriegsitaliens erklärt hat, könnte man die Qualifizierung des Frühfaschismus als eine Bewegung, die ihre Freude am Kriegen in den Frieden hineintragen wolle, ja, die dem Prinzip „la guerre pour la guerre" fröhne, nicht nur als Distanzierung, sondern durchaus auch als eine Definition des politischen Gegners verstehen. Der in der Michels-Forschung gänzlich unbeachtet gebliebene Text von 1921 stellt allerdings auch lapidar fest, daß diese einseitige, gewaltverherrlichende, gesellschaftsbedrohende und an politischer Programmatik arme Bewegung „auf dem Höhepunkt ihrer Macht" steht. Die Taktik der „spedizioni punitive", der Strafexpeditionen, scheint aufzugehen: „Da wurden Redaktionen sozialist. Blätter, Gewerkschaftshäuser eingeäschert oder kurz und klein geschlagen, sozialistische Abgeordnete verhauen, wobei gelegentlich Blut flöß. Sie haben dadurch in manche Dörfer der Emilia eine solche Panik hineingetragen, daß sich die dort ansässigen sozialistischen Arbeiter, um ihres Lebens sicher zu sein, keinen andern Rat wußten, als sich den Fascisten anzuschließen." 46 Dies dürfte sich auf die terroristische Offensive gegen die Gewerkschaften im Herbst 1920 beziehen, die die Geburtsstunde des Faschismus als Massenbewegung darstellt. Zu den politischen Konflikten, aus denen der Frühfaschismus seinen massenmobilisierenden Nektar saugen sollte, zählten in der Nachkriegszeit die Fiume-Frage sowie die Klage über den „verlorenen Sieg". Michels' Engagement in dieser Debatte markiert ebenfalls eine Trennlinie zu der neuen sozialen Bewegung von rechts.

Fiume Die von Michels erwähnte bürgerliche Reaktion nach 1919 wird zusätzlich angeheizt durch die Klage über den „verlorenen Sieg", wonach Italien in Versailles nicht all das erhalten habe, was ihm zustände. Eine dieser nach Friedensschluß hitzig diskutierten Territorialfragen betrifft die jugoslawische Hafenstadt Fiume, deren Besetzung durch den nationalistischen Dichter Gabriele D'Annunzio mit einer Gruppe von Freikorpssoldaten im September 1919 zum Sinnbild eines neuen, subversiven Konservatismus werden sollte.47 Robert Michels hat sich zum Handstreich D'Annunzios im zeitlichen 46 Michels, Zu den italienischen Neuwahlen. Kommunisten und Faschisten, in: Nationalzeitung, Nr. 159, 7.4.1921. 47 Vgl. Hans-Ulrich Gumbrecht (Hg.), Der Dichter als Kommandant: D'Annunzio erobert Fiume, München 1996; Bettina Vogel-Walter; D'Annunzio-Abenteurer und charismatischer Führer: Propaganda und religiöser Nationalismus in Italien von 1914 bis 1921; Frankfurt a.M. 2004; Kathrin Mayer, Die Lust am Untergang. Zur Ästhetik des italienischen Dekadentismus, in: Karsten Fischer

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Kontext des Ereignisses nie geäußert. Erst zehn Jahre später attestiert er der Besetzung Fiumes, der anschließend auf Druck der Alliierten durch Giolitti veranlaßten Räumung der Hafenstadt und der darauf folgenden nationalistischen Empörung im ganzen Land eine Weichenstellung für die spätere faschistische Machtergreifung: „Die Tage bis zum Marsch auf Rom waren gezählt."48 Dieser spätere Beitrag zur faschistischen Mythologie kontrastiert mit Michels' Schweigen über D'Annunzios Fiume-Abenteuer zum Zeitpunkt des Geschehens selbst. Dies ist um so verwunderlicher, als Michels sich in der Zeit davor, vom Spätfrühling bis Spätsommer 1919, in der Fiume-Frage durchaus engagiert. Schon über vier Monate vor der Besetzung durch D'Annunzio hat Michels die Legitimität der italienischen Aspirationen auf Fiume im Sinne des Nationalitätenprinzips verteidigt: „Denn an der Italianität Fiumes ist wirklich nicht zu zweifeln: Sie wird selbst von den zahlreichen Gegnern der Einverleibung Fiumes in das politische Gebiet Italiens unumwunden zugegeben."49 Michels' Engagement in der Fiume-Frage,50 ohne D'Annunzio auch nur einmal zu erwähnen, läßt sich als Indiz dafür werten, daß er mit der frühfaschistischen Instrumentalisierung dieses nationalen Ärgernisses offensichtlich gar nichts im Sinn hatte. Hätte er mit D'Annunzios Aktion sympathisiert, hätte er die Ereignisse von Fiume in der Schweizer Presse entsprechend kommentieren und durch Rückgriff auf die Begründungsmuster seines eigenen Fiume-Engagements verteidigen können. Oder aber er hätte doch zumindest D'Annunzios politisches Ziel rechtfertigen, die für die außenpolitischen Beziehungen schädliche Aktion dagegen kritisieren können. Aber er äußert sich im Kontext des zehn Jahre später angeblich so bedeutenden Ereignisses weder in der einen noch in der anderen Weise. Zwei Dinge dürften ihn daran gehindert haben: Erstens wäre er damit auf Distanz, ja auf Konfrontationskurs zur Regierung Giolitti gegangen, gegen deren vermeintliche außenpolitische Schwäche sich D'Annunzios Aktion ja auch richtete. Michels dagegen hat den italienischen Anspruch auf Fiume verteidigt, als dieser in Versailles verhandelt worden ist - und ihn anschließend nach dem für Italien negativen Ergebnis zumindest publizistisch ad acta gelegt, wohl wissend, daß keine italienische Regierung mit friedlichen diplomatischen Mitteln diese Frage noch zugunsten Italiens würde lösen können. Zweitens läßt sich an Michels' sachpolitischer Argumentation in der Fiume-Frage zeigen, wie weit er vom imperialen „Arditismus" der nationalen Rechten tatsächlich

(Hg.), Neustart des Weltlaufs?, a.a.O., S. 97-112; Helene Harth/Erhard Stölting, Ästhetische Faszination und Demagogie. Zur Entstehung des faschistischen Stils in Italien, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, Nr. 11, 1987, S. 119-145; Georg L. Mosse, The Poet and the Exercise of Political Power: Gabriele D'Annunzio, in: Yearbook of Comparative and General Literature, Nr. 2, 1973, S. 32-41; Renzo de Felice, D'Annunzio politico. 1918-1938, Bari 1978; E. Ledda/G Salotti (ed.), D'annunzio e il suo tempo, Genova 1992. 48 Michels, Italien von heute. Politische und wirtschaftliche Kulturgeschichte von 1860 bis 1930 (= Der Aufbau moderner Staaten; Bd. V); Zürich/Leipzig 1930, S. 214. 49 Michels, [Fiume-Konflikt], in: Basler Nachrichten, 1. Mai 1919. 50 Vgl. auch Michels, Aus dem neuen Italien, a.a.O.; sowie Michels, Per Fiume, in: Pagine Italiane, Nr. 22, 7. Mai 1919.

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X. Robert Michels und der italienische Faschismus

entfernt ist. Ihm kommt es nämlich nicht darauf an, für Italien das Recht auf eine imperiale Rolle im Konzert der Weltmächte zu reklamieren, sondern im Gegenteil darauf, Italien gegenüber dem Verdacht imperialer Absichten zu verteidigen. Diesen Vorwurf nämlich hatte kein geringerer als der amerikanische Präsident Wilson in Versailles erhoben. In seiner Replik hat Michels dagegen zu zeigen versucht, daß der italienische Anspruch auf Fiume nicht auf einer imperialen Strategie, sondern auf dem von Wilson selbst zum internationalen Leitmotiv ausgegebenen Nationalitätenprinzip basiere. Im gleichen Atemzug macht sich Michels aber auch Wilsons Sorge zu eigen, daß die Eingliederung Fiumes in den italienischen Nationalstaat das gesamte ethnisch heterogene Hinterland in der wirtschaftlichen Entwicklung hemmen könnte. In einer stabilen Nachkriegsordnung, so zuvor Wilson, dürfe Fiume keine nationale Festung, sondern müsse vielmehr ein Tor der Ein- und Ausfuhr fur die Gebiete nördlich und nordöstlich dieses Hafens sein: also für Ungarn, Böhmen, Rumänien und die Staaten der neuen jugoslawischen Gruppierung. Michels ist sich in diesem Punkt mit Wilson völlig einig, daß insbesondere die „serbo-kroatische Lunge genug Kraft zum Atmen freier Meeresluft erhalten" müsse und daß ohne den freien Zugang zu Fiume handelspolitisch den Jugoslawen ein schwerer Schaden entstehen würde. Michels plädiert daher dafür, die Durchsetzung des Nationalitätenprinzips mit dem Freihandelsprinzip zu kombinieren, um so der Gefahr einer nationalstaatlichen Abschottung Fiumes gegenüber seinem Hinterland entgegenzuwirken: „Der Weg zur Lösung mancher schwierigen territorialen Streitfrage liegt in dem mutigen Betreten des Dominiums des Freihandels." Der Anschluß eines Hafengebietes an den Staat seiner ethnischen Zugehörigkeit erscheint Michels „somit dann als berechtigt, wenn den Hinterländern die freie Ein- und Durchfuhr ihrer Waren und überhaupt der allgemeine Verkehr auf der Basis der Gleichberechtigung international zugesichert wird."51 Der Verweis auf eine allgemein in Italien vorherrschende Überzeugung von der Italianität Fiumes, die zeitgleiche (1919) Distanzierung von der extremen Linken und Rechten in seinem Nitti-Artikel sowie das Lob auf die antimilitaristische Mentalität der Italiener lassen keinen anderen Schluß zu, als daß Michels 1919 im Sinne des patriotischen Mainstreams in der Fiume-Frage Position bezieht und nicht etwa als publizistischer Vorkämpfer von D'Annunzios „arditismo". Sein freihandelspolitisches Argument, das konsequent zu Ende gedacht aus Fiume den Hauptumschlagplatz einer transnationalen Handelsregion gemacht hätte, ist ebenfalls in seiner besonderen Sensibilität für die wirtschaftlichen Nöte des ethnisch heterogenen Hinterlands wenig dazu angetan, Michels' Engagement in dieser Frage des extremen Nationalismus zu verdächtigen. Im Gegenteil: für Zeitgenossen wie Leopold von Wiese zum Beispiel ist Michels gerade ein Verbündeter im nicht-nationalistischen, europäischen Geist, der eher Gefahr läuft, die Gefahren des Nationalismus zu unterschätzen. Michels, schreibt von Wiese 1921, sei „zu sehr gewohnt, die Dinge mit den glücklichen Augen des Europäers" anzusehen. In Deutschland dagegen, klagt von Wiese, sei „infolge der Isolierung heute überhaupt nichts möglich, was vom großen Hauch des europäischen Lebens berührt ist [...] Die

51 Michels, [Fiume-Konflikt], in: Basler Nachrichten, 1. Mai 1919 [kursiv von mir].

X.2. Regierungsloyalität

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Lage ist für diejenigen Deutschen, die in der Zerreißung kosmopolitischer Bande ein tragisches Verhängnis sehen, viel schwerer als Sie vermuten."52

Das Dementi des Mythos' vom „verlorenen Sieg" Was Michels obendrein vom extremen Nationalismus und damit auch vom Frühfaschismus trennt, ist seine generelle Absage an die These vom „verlorenen Sieg". Auf dieses Thema kommt er bis Mitte der 20er Jahre immer wieder zurück, seine italienischen Landsleute - mit denen er nämlich seit 1921 endlich die Staatsbürgerschaft teilt - stetig daran erinnernd, welch unermeßlichen Vorteil die Italiener errungen hätten: „Italien hat [...] seinen Gegner erschlagen, Frankreich den seinen hingegen höchstens betäubt. Gewiß, Deutschland liegt am Boden, aber Oesterreich ist tot".53 Besonders prägnant kommt Michels' dem faschistischen Diskurs völlig zuwiderlaufende Bewertung des Krieges in einem Aufsatz wenige Monate nach Mussolinis Amtsantritt als Ministerpräsident zum Ausdruck. Michels spielt dabei leicht erkennbar mit der faschistischen Rhetorik, indem er den Aufsatz mit dem Satz einleitet: „Der Faschismus - mir scheint, das müssen auch seine Gegner eingestehen - hat einen großen Verdienst: jenen, die enorme und ungerechte Entwertung des Krieges durchbrochen zu haben."54 Das wirkt wie eine Anspielung auf den bellizistischen Vitalismus, auf die hymnische Kriegsbegeisterung der faschistischen Bewegung. Dann aber folgt in Michels' Text eben das Dementi der faschistischen Kriegsmystifizierung: „Der Krieg in sich ist grauenhaft gewesen; das weiß man, und wir sind die letzten, die dies leugnen wollen. Er hat Verderben jeglicher Art mit sich gebracht - physisch, moralisch, psychisch, materiell. Er hat viele Menschen verarmen lassen, er hat die einen der Verzweiflung, die anderen dem Fanatismus an den Hals geworfen; er hat die Seele der Völker vergiftet, indem er ihnen den klaren Blick auf die Dinge genommen und sie stattdessen mit grausamen und barbarischen Haßgefühlen erfüllt hat."55 Vor diesem Hintergrund dürfe man aber nicht die „vielen guten Konsequenzen" des Krieges vergessen. „Die natürliche Unersättlichkeit der Menschen, deren Bedürfnisse proportional zu den Fortschritten und erlangten Befriedigungen steigen, führt dazu, daß wir gewöhnlich das erreichte Gute nicht zu schätzen wissen". Was ist nun der bleibende

52 Brief von Leopold von Wiese an R. Michels, 30.4.1921, ARMFE. 53 Michels, Italienisch-französische Gegensätze, in: Basler Nachrichten, Nr. 244 und 246, 12. und 14. Juni 1921. 54 Michels, Ancora e sempre la valutazione della guerra, in: Corriere della sera, Nr. 6, 10. Februar 1923: „II fascismo - mi pare che anche i suoi nemici debbono convenirne - ha un grande merito: quello, cioè, di far argine all'enorme ed ingiusta svalutazione della guerra." 55 Michels, Ancora e sempre la valutazione della guerra, a.a.O.: „La guerra è stata in sè orrenda; lo si sa, e siamo gli ultimi a negarlo. Ha portato seco rovine di ogni genere, fìsiche, morali, psichiche, materiali. Ha impoverito molta gente, ha gettato altri in braccio alls disperazione, al fanatismo; ha avvelenato l'anima dei popoli, sradicandone ogni visione esatta delle cose e riempendola invece di reciproci odi feroci e barbari."

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X. Robert Michels und der italienische Faschismus

Wert des Weltkrieges für Michels? Sein Maximalziel habe er zwar nicht erreicht: leider sei es nicht gelungen, „mit allen Keimen zukünftiger Kriege tabula rasa zu machen" das erinnert im Duktus an den liberaldemokratischen Missionskrieg à la Wilson, hat dagegen mit dem durch einen ästhetischen Bellizismus geprägten faschistischen Kriegsbegriff überhaupt nichts zu tun. Mag also das Maximalziel des Krieges um der Beendigung aller zukünftigen Kriege willen gescheitert sein, so besteht indes der historisch wertvolle Beitrag des Ersten Weltkriegs für Michels in der Niederlage der drei Reiche Österreich-Ungarn, Deutschland und Russland, insbesondere in der für Italien geostrategisch vorteilhaften Auflösung der k. u .k. Monarchie. 56 An dieser Bewertung wird Michels auch in seinem 1925 erschienenen Band „Sozialismus und Faszismus" festhalten. Obwohl gerade dieses Buch wegen des positiven Mussolini-Bildes in der Rezeption den Wendepunkt zum neuen faschistischen Credo markiert, sind zumindest die Ausführungen zum Ersten Weltkrieg eher ein Indiz für Michels' intellektuelle Autonomie gegenüber dem Faschismus. Jens Petersen hat Michels sogar attestiert, in diesem Punkt gegenüber der neuen Staatsführung „geradezu ketzerische, an Salvemini erinnernde Töne" anzuschlagen. 57 Tatsächlich erklärt Michels noch 1925, daß Italien durch den Weltkrieg „territorial saturiert" sei, und räumt sogar freimütig ein, daß man im Zuge der Befreiung der eigenen Irredenta Gebiete „mitgenommen" habe, die ethnisch kaum zu Italien gehören.58 Damit nicht genug, sei Italien aus einem anderen Grund sogar „viel eher Kriegsgewinner als Frankreich, dem es nicht gelang [...], sich der Gefahr eines national kompakten Deutschlands zu entledigen." Für Italien dagegen bedeutet das Kriegsende die „unwiderrufliche Zerstörung der seinem Bestand und zumal seiner südöstlichen Expansion stets gefährlichen österreichisch-ungarischen Monarchie." 59 Dieser geopolitischen Beurteilung des Krieges stellt Michels aber noch eine demokratische' Interpretation des

56 Michels, Ancora e sempre ..., a.a.O.: „La naturale insaziabilità degli uomini, i cui bisogni crescono in proporzione dei progressi e delle soddisfazioni godute, fa sì che sogliamo tenere in non cale il bene avuto. Ma non è perciò men vero che la guerra mondiale, pur non facendo, purtroppo, tabula rasa, di tutti i germi suscettibili di provocare altre guerre future, ha eliminati alcuni obbrobri che funestavano la terra. Ha distrutto, innanzitutto, quei tre tremendi sistemi di oppressione sociale e nazionale che erano gli imperi Austriaco, Russo, Germanico." 57 Jens Petersen, Der italienische Faschismus aus der Sicht der Weimarer Republik. Einige deutsche Interpretationen, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken, Bd. 55/56, 1976, S. 315-360, S. 343. 58 Vgl. Robert Michels, Sozialismus und Faszismus, München 1925 [in der Folge = „Faszismus 1925"], S. 194. Ebd. erläutert Michels die These der territorialen Saturiertheit mit den Worten: „Der Friede hat Italien einen gewaltigen, schier unerwarteten Zuwachs an Land und Leuten gebracht. Mit Ausnahme einiger umstrittener dalmatischer Zonen, in denen die Italiener eine kulturkräftige und als solche von starkem Herrscherwillen durchdrungene Minderheit bilden, die herrisch ihre Vereinigung mit der Metropolis verlangt, ist die italienische Irredenta an der Adria zu Italien gelangt und sind darüber hinaus noch etliche von Jugoslaven und Deutschen bewohnte Gebiete, auf die man aus historischen oder aus strategischen Ursachen nicht Verzicht leisten zu können glaubte, mitgenommen worden." 59 Michels, Faszismus 1925, a.a.O., S. 194.

X.2. Regierungsloyalität

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Krieges selbst voran, die auch in diesem Punkt dem nationalistischen und faschistischen Kriegsdiskurs zuwiderläuft. Die Teilnahme Italiens auf der Seite der Entente nämlich sei ein „Sieg" des gegen Deutschland und Österreich andrängenden, „garibaldinischen" Irredentismus über den italienischen Imperialismus gewesen, der sich gegen die Westmächte gerichtet habe: „insofern", folgert Michels, „war es ein Krieg der Demokratie gegen die Aristokratie, den Italien führte."60 Im Kapitel „Der Fremde im Kriege" haben wir Michels' Inanspruchnahme der Leitmotive ,Garibaldi', ,Irredentismus' und ,Selbstbestimmungsrecht der Völker' in ihrer Ambivalenz gewürdigt: einerseits stehen sie in Kontinuität mit Positionen aus seiner sozialistischen Frühphase und reklamieren - zumindest formal betrachtet - eine Teilhabe am ,westlichen', d. h. demokratischen und antiimperialen Kriegsdiskurs. Andererseits sind diese Begriffe von Michels aber auch im Dienst der italienischen Kriegspropaganda mißbraucht worden. Und: die demokratisch-irredentistische Sinnaufladung ist ja nicht die einzige intellektuelle Bearbeitung des Kriegsgeschehens gewesen. Sie konkurrierte bei Michels vielmehr mit einer nicht minder starken Haltung des Pessimismus, der immer wieder dem Krieg jeglichen moralischen oder demokratischen Sinn abgesprochen hat. Um so auffälliger also, daß Michels Mitte der zwanziger Jahre diese Zerrissenheit offensichtlich abgelegt hat, die für Italien positiven, d. h. , sinnvollen' Kriegsergebnisse unterstreicht und dabei exakt die Argumentationsfigur vom antiimperialen, demokratischen Krieg wieder hervorzaubert. Er steht damit nämlich im krassen Widerspruch zur nationalistisch-faschistischen Selbstdeutung, welche die Jahre von 1915 bis 1918 zum Stahlbad und großen Volkskrieg stilisierte. Michels dagegen hat ironischerweise mit seiner „demokratischen" Deutung des Krieges - zu einem Zeitpunkt, als an seiner Mussolini-Faszination kein Zweifel sein kann61 - eine Position bezogen, die insbesondere in den dreißiger Jahren von der liberalen, antifaschistischen Opposition behauptet und von der italienischen Geschichtsschreibung nach 1945 regelrecht kanonisiert werden sollte.62 Auf dem Themenfeld Krieg wird somit eine äußerst große Distanz Michels' zum Faschismus erkennbar. Das trifft nicht nur auf die völlig diskrepante Bewertung des Krieges zu, die ja auch einen Widerstreit um die nationale Erinnerungskultur darstellt und in einem Fall der Nation die Pflicht zur expansiven Revision des Versailler Vertrages auferlegt, im anderen, von Michels vorgetragenen Fall dagegen die Anerkennung der Nachkriegsordnung und friedliche Kooperation - am besten in einer europäischen Zollunion.63 Es ist auch die völlig gegensätzliche Bewertung bellizistischer Einstellungen. Michels hat an den Italienern der Nachkriegszeit - wohl mehr im Sinne eines

60 Michels, Faszismus 1925, a.a.O., S. 191. 61 Vgl. exemplarisch Michels, Mussolini und das gefahrvolle Leben', in: Basler Nachrichten, Nr. 323, 23. November 1925. 62 Jens Petersen, Wählerverhalten und soziale Basis des Faschismus in Italien zwischen 1919 und 1928, in: Wolfgang Schieder (Hg.), Faschismus als soziale Bewegung. Deutschland und Italien im Vergleich, Hamburg 1976, S. 119-156, S. 123. 63 Michels, Difficoltà e speranze europee, Estratto dagli atti del II convegno della „Fondazione Alessandro Volta", Tema: Europa, Rom 14-20. November 1932; Rom 1933.

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X. Robert Michels und der italienische Faschismus

politischen Optativs - die mentale Abrüstung gelobt. Ganz anders die Faschisten: folgt man der neueren Faschismusforschung, dann läßt sich der Faschismus nicht auf den Begriff einer intellektuellen Doktrin bringen, sondern in erster Linie auf den Begriff seiner sozialen Praxis - und die wird im Kern durch den „militaristischen Aktionsstil" gekennzeichnet.64 Es wird ein Rätsel bleiben, warum diese - auch in Michels' niemals aggressiver, sondern eher pazifistischer Tonlage greifbaren - mentalen Widersprüche seine wachsende Begeisterung für das faschistische Experiment kaum getrübt haben. Michels hätte freilich den Faschismus nie auf einen militaristischen oder gewaltverherrlichenden Nenner gebracht. Im Kern war für ihn Faschismus gleichbedeutend mit Einigung der Nation und Stärkung ihrer ökonomischen Wachstumskräfte durch Betonung der Staatsautorität.

3. Soziologie, Genese und Programmatik des Faschismus Die Michels-Rezeption hat sich vorrangig mit den Gründen für Robert Michels' faschistische Option beschäftigt. Deshalb wohl ist in den Hintergrund getreten, daß Michels selbst in den zwanziger und dreißiger Jahren ein international anerkannter Sozialwissenschaftler gewesen ist, der selbstverständlich nicht wegen seiner politischen Neigungen, sondern wegen seiner ihm attestierten wissenschaftlichen Autorität in seriösen Organen wie dem „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik", der „Encyclopaedia of the Social Sciences",65 dem „Handwörterbuch für Theologie" (!)66 und dem „Handwörterbuch des Gewerkschaftswesens"67 sowie zahlreichen, meist nicht faschistischen Presseorganen veröffentlichte. Insbesondere in den deutschen Sozialwissenschaften gelingt es Michels, sein im Krieg weitgehend abgebrochenes Engagement fortzusetzen. Von 1924 bis zur Auflösung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) im Jahre 1933 hat Michels an jedem ihrer Kongresse teilgenommen. Intensiv und kontinuierlich ist zudem Michels' Mitarbeit an so gut wie allen deutschen Zeitschriften mit soziologischer Ausrichtung.68 1926 erscheint von ihm sogar eine Einführung in die „So-

64 Armin Heinen, Erscheinungsformen des europäischen Faschismus, in: Christof Dipper, Lutz Klinkhammer und Alexander Nützenadel (Hg.), Europäische Sozialgeschichte. Festschrift für Wolfgang Schieder, Berlin 2000, S. 3-20, S. 7. 65 Art.,Authority", in: Vol. II, Art. ,3issolati Leonida" und „Colajanni Napoleone", in: Vol. III; „Conservatism", in: Vol. IV; „Intellectuals", in: Vol. VIII; New York 1931. 66 Und zwar ausgerechnet den Art. „Fascismus". In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, 2. Aufl., Bd. 2, S. 524-529, Tübingen 1928. 67 Art. „Anarchismus", in: Handwörterbuch des Gewerkschaftswesens, Berlin 1930, S. 47-49. 68 In der Zeit von 1918 bis 1933 hat Michels in folgenden Zeitschriften veröffentlicht: Kölner Vierteljahreshefte (Herausgeber: Leopold von Wiese): 3 Aufsätze, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik (Lederer/Schumpeter/A. Weber): 5 Aufsätze, Jahrbuch für Soziologie (Gottfried Salomon; ZS existiert nur von 1925-27): 2, Ethos (David Koigen; ex. 1925-27): 1,

X.3. Soziologie, Genese und Programmatik des Faschismus

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ziologie als Gesellschaftswissenschaft". 6 9 Die zügige Wiederannäherung an die deutsche Soziologenzunft nach dem Krieg verdankt Michels seinen guten Kontakten zu Emil Lederer 70 und Leopold v o n Wiese. 7 1 A u c h muß man sich vor A u g e n fuhren, daß Michels in der ganzen, vor allem der demokratischen Welt ein gern gesehener Gast auf wissenschaftlichen Symposien ist und dabei insbesondere als Faschismus-Experte eingeladen wird. Er wird auch Mitglied der nationalen soziologischen Gesellschaften in Paris, Brüssel, Genf, Prag und Tokio; in Italien nimmt ihn die damals noch königliche und 1939 von den Faschisten w e g e n liberaler Tendenzen geschlossene „Accademia Nazionale dei Lincei" in R o m auf. Sein R e n o m m e e führt ihn 1927 in die U S A , w o er als Gastprofessor an die Universitäten von Chicago und Williamstown berufen wird und u. a. die Gelegenheit erhält, den Studenten v o m „Vierten Italien Mussolinis" zu berichten. 72 Der Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer soll intern bei der Vorbereitung einer Konferenz zum Thema „Italien" in Köln 1931 daraufhingewirkt haben, gerade M i c h e l s , /eichlich zu Worte kommen zu lassen". 73

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Zeitschrift für Völkerpsychologie und Soziologie (Richard Thurnwald; gegr. 1925): 1. Außer dem .Archiv" waren diese Zeitschriften alle nach dem Ersten Weltkrieg gegründet worden und verfolgten eine Strategie der Institutionalisierung von Soziologie als ordentliches Universitätsfach. Vor dem Krieg hatte Michels bereits bei der kurzlebigen „Monatsschrift für Soziologie" (Eleutheropolus) mitgearbeitet, die nur ein Jahr (1909) existierte. Neben zwei Aufsätzen war Michels wie in allen anderen Zeitschriften auch hier mit zahlreichen, von mir ungezählten Rezensionen vertreten. Ein Tendenzwert ließe sich über zwei während meiner Recherchen erstellte Listen ermitteln, die über 280 Rezensionen von Robert Michels mit Ortsangaben enthalten. Die obige AufsatzZählung habe ich von Erhard Stölting, Akademische Soziologie in der Weimarer Republik, Berlin 1986. Als Band IV der Reihe „Lebendige Wissenschaft. Strömungen und Probleme der Gegenwart", Berlin 1926. Vgl. Korrespondenz im ARMFE. Lederer ist es, der Michels in den zwanziger Jahren ausgerechnet die Seiten des .Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" für dessen ersten großen Beitrag zum italienischen Faschismus geöffnet hat. Leopold von Wiese, Herausgeber der „Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie", ist Verfechter eines sehr theoretischen Konzeptes von Soziologie namens ,3eziehungslehre", das Michels übrigens positiv bewertet hat. Vgl. dessen Rezension zu: Leopold von Wiese, Allgemeine Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen, Teil I, München/Leipzig 1924, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Soziologie, Heft 2, 2. Jg. 1926. Wiese gewinnt Michels 1921 gleich für zwei Beiträge zu seinem Projekt einer internationalen Bildungssoziologie mit dem Titel „Soziologie des Volksbildungswesens". Vgl. Michels, Die Volkshochschulbewegung in Frankreich, sowie ders., Die Volkshochschulbewegung in Italien, in: Leopold von Wiese, Soziologie des Volksbildungswesens, München 1921, S. 486-511 sowie S. 512-536. Im Archiv findet sich nur ein englischsprachiges Manuskript, das thematisch in die Zeit fällt und daher möglicherweise eine Unterrichtseinheit gebildet hat: „New political outlines. The Fourth Italy of Mussolini" (ARMFE). Das berichtet Erwin Beckerath in seinem Brief an Michels vom 17.2.1931 (ARMFE): „Ich habe übrigens aus den Akten festgestellt, daß der Oberbürgermeister persönlich den Wunsch ausgesprochen hat, Sie reichlich zu Worte kommen zu lassen, sobald die Absicht verwirklicht wird, Italien

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X. Robert Michels und der italienische Faschismus

Es mag eine banale Feststellung sein, aber oft steckt eben im Banalen der Schlüssel zum Verständnis eines historischen Phänomens: der politische und wissenschaftliche Zeitgeist hat seinerzeit Michels' Darstellung der neuen italienischen Verhältnisse keineswegs als tendenziös aufgefasst, sondern eher den hohen Informationsgehalt gelobt.74 Umgekehrt haben die akademischen Faschismusexperten seinerzeit gerade jene Schriften als tendenziös und vorurteilsbeladen gewertet, die nach dem Zweiten Weltkrieg ob ihrer luziden Analyse gerühmt worden sind. Exemplarisch werden wir auf diese Eigentümlichkeit des zeitgenössischen Faschismusdiskurses anhand der Beispiele Erwin von Beckeraths, Ludwig Mises' und Hermann Hellers zurückkommen.75 Was Michels' Italien-Berichterstattung der zwanziger und dreißiger Jahre zu bieten hat, soll im folgenden mit Blick auf Genese, Soziologie und Programm des Faschismus skizziert werden. Dabei kann selbstverständlich nicht außer Acht gelassen werden, daß mit dem Aufstieg des Faschismus in Italien beim Berichterstatter selbst eine neue politische Entwicklung einsetzt, die bis zur letztlich kritiklosen Identifikation mit dem Regime Mussolinis führen wird. Auch ist zu berücksichtigen, daß Michels, wenn es um Italien geht, generell ein ganz persönliches Erkenntnisinteresse hat, das er auch offen ausspricht: „für das Verständnis der neuen italienischen Politik in aller Objektivität und Sympathie ein Zeugnis abzulegen."76 Bevor ich nun auf Michels' in vielen Punkten tatsächlich differenzierte und informative Analyse des Faschismus - dieses Lob gilt vor allem in Hinblick auf vergleichbare zeitgenössische Studien - eingehe, soll, ja muß daher ihr gravierendes Manko skizziert werden: das selektive Ausblenden der Schattenseiten und peinliche Verschweigen zentraler Ereignisse der italienischen Geschichte in der faschistischen Epoche.

Die Lücken der Michelsschen Faschismusstudien am Beispiel Matteotti Als Michels in seinem 1924 schlußredigierten und 1925 veröffentlichten „Sozialismus und Faszismus" die oben skizzierte, dem faschistischen Kriegsdiskurs zuwiderlaufende demokratische' - wenn man so will: linksliberale Deutung des Weltkrieges präsentiert, erfährt die italienische Öffentlichkeit gerade an einem prominenten Beispiel schonungslos, wie die faschistische Diktatur mit ihren politischen Gegnern umgeht, die es noch wagen, von ihrem demokratischen Teilhabe- und Mitspracherecht Gebrauch zu machen. Am 30.5.1924 nämlich hält der sozialistische Abgeordnete Giacomo Matteotti in der neu gewählten italienischen Abgeordnetenkammer eine aufsehenerregende Rede und

zum Thema eines Kursus zu machen. Dies vertraulich!" Die Vorbereitung der Veranstaltung dokumentieren auch die Briefe Adenauers an Michels (4 Briefe 1930-1932; ARMFE). 74 Ausnahmen bestätigen die Regel: vgl. Röhrich, Robert Michels 1972, S. 155, wo u. a. die Frankfurter Zeitung vom 25.6.1926 zitiert wird, die Michels es zum Vorwurf macht, daß er einer „Zeiterscheinung" diene, „welche das Bedürfiiis fühlt, ihrer brutalen Machtentfaltung das Mäntelchen neuartiger Ideen und Gesetze umzuhängen." 75 In dem Unterkapitel X.6. über die Repräsentativität von Michels' Faschismusbild. 76 Michels, Italien von heute, a.a.O., S. 180.

X.3. Soziologie, Genese und Programmatik des Faschismus

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wirft Benito Mussolini und den Faschisten vor, die Wahlen gefälscht zu haben.77 Der Partito Nazionale Fascista hatte bei den Wahlen 65 Prozent der Stimmen gewonnen durch Manipulation und im übrigen auch dank eines die Partei ohnehin begünstigenden Wahlgesetzes. Wenige Tage nach seiner Rede, am 10. Juni 1924, wird Matteotti entführt und ermordet. Der Mord an Matteotti hat das damalige Italien erschüttert. Das Ereignis und die ihm folgenden Irritationen und Spannungen - die antifaschistischen Abgeordneten, die „Aventinianer", ziehen daraufhin aus der Kammer aus - prägen das nationale Gedächtnis der Italiener bis heute. Matteotti ist ein Mythos der italienischen Nationalgeschichte.78 Matteottis Tod ist zugleich eine Weggabelung der italienischen Geschichte: „An diesem 10. Juni 1924 teilte sich Italien endgültig und auf lange Zeit und vielfach bis heute in Faschisten und Antifaschisten."79 Auffallig und rätselhaft zugleich ist, daß dieses wahrhaft ,nationale' Ereignis bei Michels nicht stattfindet, weder im 1925er Buch noch in irgendeiner seiner zahlreichen späteren Publikationen über das ,moderne', faschistische Italien der Gegenwart. Michels äußert sich ja über so gut wie alles, was in Italien in jenen Jahren von vermeintlich welthistorischer bis nationalgeschichtlicher Bedeutung sein könnte: sei es „Der Einfluss der faschistischen Arbeitsverfassung auf die Weltwirtschaft"80 oder „Der Stand des italienischen Eisenbahnwesens".81 Nur der Mord an Matteotti findet - selbst in Michels' als große Nationalgeschichte angelegtem Buch „Italien von heute" (1930) - niemals Erwähnung. Dennoch muß irgendetwas passiert sein, schreibt Michels doch recht verklausuliert in seinem im „Sommer 1924" verfassten Vorwort von „Sozialismus und Faszismus", er wolle „mit voller politischer Unabhängigkeit, ohne jede Parteinahme und mit dem einzigen Reservat der Zuneigung, die der Adoptivsohn seinem Vaterland entgegenbringt", an sein Thema herangehen. Mit der „Zuneigung" zum Väterland scheint der „Adoptivsohn" aber mal wieder ein Problem zu haben, erläutert Michels doch diese mit den folgenden Worten: „Aus letzterer [Zuneigung] heraus [...] muß Schreiber dieses es sich versagen, im Augenblick [...] noch ungeklärte Ereignisse und aus diesen sich ergebende Probleme in den Bereich der hier behandelten Fragen zu ziehen. Nur das eine mag gesagt werden, Italien macht eine schwere Zeit durch. Aber seine Gegner haben keinen Grund sich zu freuen. Die Gegensätze zwischen den hier geschil-

77 Giacomo Matteotti, Rede vor der Abgeordnetenkammer am 30. Juni 1924 (= EVA Reden Band 24), Hamburg 1996. 78 Stefano Caretti (Hg.), Matteotti. Il mito, Pisa 1994. Der Band enthält hunderte von spontanen Zeugnissen der damaligen Trauer und des Zornes über die Ermordung, die schon von den Zeitgenossen als Märtyrertod wahrgenommen wird. 79 Jens Petersen, Der Ort Mussolinis in der Geschichte Italiens nach 1945, in: Dipper/Klinkhammer/ Nützenadel (Hg.), Europäische Sozialgeschichte, a.a.O., S. 505-524, S. 520. 80 In: Weltwirtschaftliche Vorträge und Abhandlungen, Heft 6, Leipzig 1929. 81 In: Die Volkswirte, 29. Jg., Nr. 7, S. 130-132.

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X. Robert Michels und der italienische Faschismus

derten Parteien vermögen, so heftig sie sind, an der Festigkeit des Volksbewußtseins und des Nationalgedankens nicht zu rütteln." 82 Mit dem gequält wirkenden abstrakten Verweis auf „noch ungeklärte Ereignisse" muß der Mord an Matteotti gemeint sein. Denn dies ist ein Ereignis im Sommer 1924, an dem man nicht vorbeikommt, wenn man über Italien schreibt. Michels' persönliche Empörung darüber dokumentieren seine privaten Briefe an Gaetano Mosca. 83 In der politischen Öffentlichkeit dagegen steckt Michels offensichtlich in dem Dilemma, daß er den Fall Matteotti nicht bewerten oder kommentieren will, ja, er noch nicht einmal die „Ereignisse" beim Namen nennen kann. Das wirkt gleichermaßen hilflos wie peinlich berührt. In den wenigen Sätzen seines Vorwortes zeigt sich nicht zum ersten Mal, daß Michels seinem italienischen Adoptivpatriotismus ganz offensichtlich in puncto Wahrhaftigkeit Zugeständnisse macht. Normalerweise hat er bekanntlich überhaupt kein Problem, zeitnah von den Schauplätzen der Welt zu berichten und ihre Ereignisse tagesaktuell zu kommentieren. Jetzt aber geht es um einen Skandal, der die italienische Nation erschüttert. Der Skandal wirft die Frage auf, wohin das Land steuert. Wird die sich im Fall Matteotti dramatisch exemplifizierende Herrschaftsmethode der unmittelbaren Gewaltanwendung gegenüber Regierungskritikern von nun an System in Italien sein oder behält die Nation ihre demokratischen Freiheiten und Möglichkeiten? Dies ist die Kernfrage in den turbulenten Tagen nach dem gewaltsamen Tod Matteottis gewesen. Robert Michels muß sich ihrer Dimension bewußt gewesen sein, qualifiziert er doch zeitgleich Gaetano Moscas Ablehnung des Faschismus als Ausdruck seines „fein equilibrierten Geistes": was Mosca vor dem Krieg zu einer scharfen Polemik gegen die Demokratie bewogen habe, veranlasse ihn nun aber dazu, „auf der demokratischen Vergangenheit aufzubauen" und - nota bene - „vor allen Sprüngen ins Dunkle" abzuraten. 84 Michels hat mit dem Sprung ins Dunkle aber nur metaphorisch vage angedeutet, was auf dem Spiel steht, ohne diese Frage noch der Öffentlichkeit in aller Klarheit vorlegen zu wollen. Er selbst ist bereits gesprungen: sein Schweigen im Fall Matteotti ist nicht anders als eine Konzession an die machtpolitische Konstellation und als Michels' zweiter Beitrag zur „trahison des clercs" 85 zu werten. Von Basel aus hätte er zweifellos die Freiheit gehabt, die Dinge beim Namen zu nennen - aber längst hat er in derart heiklen Fragen ein gedankliches Stillhalteabkommen mit dem italienischen Staat geschlossen. Ein von politischen Motiven abgesehen rein menschlicher Grund dafür ist leicht nachvollziehbar: Michels' Bemühungen um eine Rückkehr an eine italienische Universität nehmen nach dem Kriege nicht ab, sondern immer stärker zu - und da ist er

82 Michels, Faszismus 1925, a.a.O., S. V. 83 Vgl. Corrado Malandrino, Patriottismo, Nazione e Democrazia nel Carteggio Mosca-Michels, in: Annali della Fondazione Luigi Einaudi, Vol. XXXVIII-2004, S. 211-225, S. 219-220. 84 Michels, Faszismus 1925, S. 306-7. 85 Der erste Beitrag zum Verrat der Intellektuellen sind Michels' Rechtfertigungen der expansiven Interventionspolitik Italiens im Ersten Weltkrieg mit dem Argument des Nationalitätenprinzips.

X.3. Soziologie, Genese und Programmatik des Faschismus

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auf staatliche Hilfe angewiesen. 86 Unter diesen Umständen bleibt nur die plakative Botschaft an das Ausland, daß die aufgrund „ungeklärter Ereignisse" zu Tage getretenen „Gegensätze zwischen den hier geschilderten Parteien" die „Festigkeit des Volksbewußtseins und des Nationalgedankens" nicht erschüttern würden. Sechs Jahre nach Kriegsende und vier Jahre nach Erlangung der italienischen Staatsbürgerschaft teilt sich in diesen Worten immer noch die strukturelle Desintegration des „Fremden" mit, der die reale Spaltung der Nation zur Kenntnis nehmen muß, aber sich ihr nicht stellen will und kann, um dann in seiner Rolle als informeller Botschafter mit der Monotonie eines Regierungssprechers ein harmonisch geschlossenes Gesamtbild von ihr zu zeichnen. Ein persönliches Engagement in den inneren existentiellen Fragen der Nation - und zwar zu einem Zeitpunkt, wo diese Fragen noch nicht entschieden sind ist ihm prinzipiell verwehrt. Die attentistische Haltung in Krisenzeiten bei gleichzeitiger Bereitschaft, die Krisenlösung, wenn sie denn nun endlich eingetreten ist, propagandistisch nach außen zu vertreten, ist ein Charakteristikum der italienisch-michelsianischen Beziehungen, das wir bereit aus dem Krieg und sogar aus der sozialistischen Phase davor gut kennen. 87 Neben dem Verschweigen, Abwarten, Anpassen und Verteidigen tritt in Michels' Italien-Berichterstattung der 20er und 30er Jahre noch ein weiteres Charakeristikum hinzu, das den Eindruck der Befangenheit und auch einer tiefen Unsicherheit hinsichtlich der persönlichen Urteilskraft verstärkt: nämlich seltsame entschuldigende Gesten gegenüber der Leserschaft, meist mit dem Tenor, daß es ihm, Michels, schwer falle, objektiv von den Ereignissen zu berichten. „An dieser Stelle angelangt", lautet der erste Satz des großen Faschismus-Kapitels in seiner Nationalgeschichte von 1930, „sollten wir abbrechen". So schreibt jemand, der sich seines inneren Kompasses bei der Darstellung und Bewertung des Beobachteten nicht sicher ist und offenbar fürchtet, seine Ausführungen könnten sich später einmal als völlig falsch erweisen. Derartige fallibilistische Warnblinkanlagen aufzustellen ist eigentlich überflüssig, weil die Revision ein völlig normales geschichtswissenschaftliches Geschäft ist und jeder Historiker damit rechnen muß, daß seine Thesen eines Tages .widerlegt' werden. Demselben Buch hat Michels außerdem ein lateinisches Zitat vorangestellt, das ebenfalls die Möglichkeit des Irrtums reflektiert und dem Leser auf den Weg gibt, daß auch der gebildete und der integre Mensch sich irren kann - dann aber sei dies ein gebildeter Irrtum bzw. Ausfluß einer prinzipiell integren Absicht. 88 Diese Kautelen sind allerdings nicht dazu angetan, den Eindruck der Wahrhaftigkeit bzw. einer interesselosen Suche nach Wahrheit zu erzeugen. Sie bewirken das Gegenteil, da Michels gerade in dem 1930er Buch die Erfolge des Faschismus alles andere als vorsichtig und zurückhaltend behauptet. Klauseln des Irrtumvorbehalts variieren im 86 Das Dauerthema der angestrebten Professur in Italien steht auch am Anfang seiner ersten persönlichen Kontaktaufnahme mit Benito Mussolini 1923. Dazu mehr im Unterkapitel X.7. Zugang zum Machthaber? 87 Vgl. Kapitel IX.7 Der Fremde im Kriege. 88 Michels, Italien von heute, a.a.O.. Das dem Inhaltsverzeichnis vorangestellte Motto lautet: „Cum errat eruditus, errat errore erudito; cum errat homo integer, errat integritate."

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X. Robert Michels und der italienische Faschismus

übrigen mit der ebenfalls in Michels' Italienberichten häufig anzutreffenden moralischen Nichtbewertungsklausel, mit der Michels dem Leser signalisiert, als Historiker nur für die Fakten, nicht für ethische Kritik der Fakten zuständig zu sein.89 Diese Arbeitsteiligkeit zwischen moralischer Kritik, sozialer Pädagogik und wissenschaftlicher Analyse entspricht zwar dem damaligen standesgemäßen Selbstbild einer wertfreien bzw. werturteilsenthaltsamen Wissenschaft, ist aber im Fall Michels etwas besonderes, weil er sich derart demonstrativer Aussagebeschränkungen mit Vorliebe im italienischen Kontext bedient. Sie sind möglicherweise der abstrakte Ausdruck einer Befangenheit in Bezug auf sein Adoptiwaterland, die Michels sich selbst gar nicht offen eingestanden, sondern nur in indirekten Reflexionen thematisiert hat.90 Der chronologische Vorgriff auf den Fall Matteotti hat uns einen Vorgeschmack gegeben: was nicht in Michels' harmonische Gesamtdarstellung des faschistischen Rinascimento paßt, wird so weit wie möglich verschwiegen. Und wenn es sich schon nicht verschweigen läßt - wie ζ. B. die gewalttätigen, bürgerkriegsähnlichen Umstände beim Aufstieg des Faschismus - , dann verfällt die Darstellung in den Ton der Tragik. Bei seiner im folgenden zu skizzierenden zeitnahen Geschichte des italienischen Faschismus hat Michels sich implizit einer methodischen Herangehensweise bedient, die dem Postulat des Historikers Angelo Tasca nahekommt, wonach der Faschismus nicht ein Gegenstand sei, bei dem es ausreiche, seine Eigenschaften aufzuzählen, sondern der vielmehr Ergebnis einer Gesamtsituation sei, aus der er nicht herausgelöst werden könne.91

89 Vgl. Michels, Italien von heute, a.a.O., S. 177, wo der italienische Imperialismus als objektive und notwendige Konsequenz des „Gesetzes der nationalen Transgression" dargestellt wird: „Der Ethiker hat das Recht, über das Dasein dieses Gesetzes bittere Tränen zu vergiessen, der Völkerpädagoge die Aufgabe, Mittel und Wege zur womöglichen sittlichen Belehrung der nationalen Massen und ihrer staatlichen Vertretungen ausfindig zu machen. Der Historiker aber hat die Pflicht, der Wirksamkeit des Gesetzes jederzeit eingedenk zu sein." Mit der nomothetischen Sicht entbindet sich Michels von der Pflicht zur ethischen Bewertung - und damit auch von der intellektuellen Pflicht zur Kritik. Derartige moralische Nichtbewertungsklauseln finden sich spätestens seit 1911 regelmäßig in Michels' Aufsätzen über Italien. Vgl. Michels, Elemente zur Entstehungsgeschichte des Imperialismus in Italien, a.a.O., S. 92: „Streitfragen des Gut und Böse" seien „grundsätzlich aus den Betrachtungen" ausgeschlossen. Eine ähnliche Erklärung findet sich in Michels, Rußland als Vormacht des Slawentums und das moderne Italien, in: Zeitschrift für Politik, Bd. 4, Heft 4, 1911, S. 554. Wenige Jahre zuvor - in Michels, Pazifismus und Nationalitätenprinzip in der Geschichte (1909), a.a.O. - hatte Michels die imperialistischen Mutationen des italienischen Patriotismus mitten im Fließtext noch als „bedauerlich" bezeichnet. Gemessen an dem, was er gegenüber einem deutschen Angriff auf Libyen zu Papier gebracht hätte, ist dies freilich ein Euphemismus und steht exemplarisch für seinen durchgängig versöhnlichen und milden Ton, mit dem er die italienische Geschichte von Krieg und Gewalt bis zu seinem Tod 1936 kommentieren wird. 90 Ζ. B. in „Der Fremde im Kriege", in seinem „Patriotismus" (a.a.O.). 91 Angelo Tasca, Nasciti e avvento del fascismo, Bari 1965, 2 Bände, Bd. 2, S. 554.

Χ. 3. Soziologie, Genese und Programmatik des Faschismus

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Die sozialen Wurzeln des italienischen Faschismus Zu der dem Faschismus unmittelbar vorausgehenden und ihn gewissermaßen erzeugenden Gesamtsituation zählt Michels die „vielgestaltige Unzufriedenheit" der Nachkriegszeit: „Wie einst die römische Wölfin Romulus und Remus gesäugt hatte, so war es diese vielgestaltige Unzufriedenheit, welche das Zwillingspaar Bolschewismus und Fascismus säugte. Denn die Tatsache des diese beiden Richtungen trennenden grimmigen Hasses vermag an der Gleichheit ihrer Geburt in Zeit und Raum nicht zu rütteln."92 Zu den Faktoren des Unmuts gehören neben der politischen Unzufriedenheit der Patrioten über den vermeintlich ,verlorenen Sieg' und der wirtschaftlichen Unzufriedenheit in der Nachkriegsökonomie auch die Machtkrise der alten liberalen Führungsschicht, die sich zu einer Krise des Parlamentarismus und der ihn stützenden Weltanschauungen verschärft.93 „Nach dem Weltkrieg wurde es in Italien zur allgemeinen Annahme, dass der Liberalismus und die Demokratie im Lande abgewirtschaftet hätten, zumal auf parlamentarischem Gebiet", beschreibt Michels 1930 die Stimmung von 1919ff., dabei immerhin großzügig hinzufügend, daß die Demokratie aufgrund ihrer Meriten die damalige „abgrundtiefe Verachtung" gar nicht verdient gehabt habe.94 Der Frühfaschismus, der Fascio di Combattimento, sammelt in dieser Situation seine Anhänger aus vorrangig drei gruppenspezifischen Motivlagen: 1. erstens sei da die Besorgnis der „Patrioten", das Land könne der „bolschewistischen Anarchie" anheimfallen; 2. die zweite Quelle des Frühfaschismus ist der „Klassenkampf à rebours": „Die (relativ) arm gewordenen Intellektuellen lehnten sich gegen die (relativ) reich gewordenen Arbeiter auf'. Der durch die Akademikerarbeitslosigkeit einerseits, die „politischen, nicht rein wirtschaftlich gerechtfertigten" Lohnerhöhungen in der Industriearbeiterschaft andererseits begründete sozioökonomische Konflikt erhält zusätzlichen sozialpsychologischen Sprengstoff, da im Gegensatz zur vom Kriegsdienst weitgehend befreiten Fabrikarbeiterschaft die intellektuellen, d. h. akademisch ausgebildeten Schichten eine besonders hohe Kriegsopferquote95 zu verzeichnen haben und sich als die wahren Patrioten sehen, nun aber als Kriegsverlierer fühlen.96 Die relative Akademikerarmut ist im übrigen für Michels ein gesamteuropäisches Nachkriegsphänomen.97

92 Michels, Faszismus 1925, S. 199. 93 Michels, Faszismus 1925, S. 298. 94 Italien von heute, S. 207: „Wir sahen bereits: der Liberalismus hatte Italien geschaffen, der Parlamentarismus hatte ihm einen ersten Hauch von Arbeiterschutzgesetzgebung gegeben, die Demokratie hatte die Entstehung einer immer kräftiger werdenden Kolonialpolitik nicht gehindert, sie hatte den Eintritt Italiens in den Krieg sogar gewollt und durchgesetzt. Das waren alles Meriten [...]" Auf das „Aber" kommen wir im Unterkapitel „Der Bildhauer der Massen" zurück. 95 „Von dem Kreis junger Juristen, der meine nationalökonomischen Übungen an der Universität Turin besuchte, fiel über die Hälfte." (Michels, Faszismus 1925, S. 253). 96 Michels, Faszismus 1925, S. 257 und 260. 97 Michels, Cenni sulle strettezze economiche dei ceti intellettuali, in: L'Economista, Nr. 2442, Februar 1921, Sonderabdruck 12 Seiten.

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X. Robert Michels und der italienische Faschismus

3. Als dritte Wurzel der faschistischen Bewegung nennt Michels Industrie- und Agrarunternehmer sowie Vermögende, die nach einer Interessenvertretung und einem Bollwerk gegen den Sozialismus suchten. „Die Sozialisten", so Michels, „haben Unrecht, wenn sie in ihrer Kritik des Fascismus diese dritte Wurzel als die eigentliche Grundwurzel der Bewegung bezeichnen [...] Die Fascisten selbst haben Unrecht, wenn sie diese Wurzel ihrerseits gelegentlich überhaupt leugnen."98 Zu diesen als soziale Wurzel präsentierten Gruppen kommen aber noch weitere hinzu, die den klassenübergreifenden Erfolg bei der Rekrutierung von Anhängern mitbegründen werden: so sind die Studenten nicht die einzigen Repräsentanten der gut vier Millionen Kriegsteilnehmer, sondern der kleinste Teil: die übergroße Zahl der Kriegsteilnehmer stamme aus der Landbevölkerung. Das erkläre die „enge Beziehung des Fascismus zum Lande".99 Aber auch in den Städten dürfte der Faschismus gerade in seiner Frühzeit bei den kleinen Leuten Mobilisierungserfolge erzielt haben, weist doch Michels auf die hier durchaus populäre „Preispolitik" hin, also das direkte Eingreifen der „Schwarzhemden" gegen Händler mit überhöhten Preisen im Sinne der „sittlichen Beschränkung der Profite (Wucherprofite)".100 Für Michels ist der Faschismus weder sozial noch ideologisch eine .bourgeoise' Interessenvertretung. Das Großkapital hätte ihm zufolge zwar „auf den Kopf gefallen sein müssen", wenn es sich der neuen antisozialistischen Bewegung nicht bedient hätte. Die moralische und finanzielle Unterstützung sei dabei aber seitens der Agrarier größer als seitens der Industrie. Ursache: Der Faschismus sei zwar unternehmerfreundlich, aber nicht bourgeoisiefreundlich, und versuche mittels eines neuen Klassenbegriffs die alten herrschenden Klassen zu spalten. „Der Fascismus verabscheut den ,faulen Wanst', das geldheckende Kapital, er unterscheidet zwischen den Produzenten und den Nur-Konsumenten." Für Michels ist diese Unterscheidung allerdings offensichtlich nicht Ausdruck von Wirtschaftskompetenz, sondern von faschistischer Folklore: „angesichts des unentwirrbaren Knäuels von ausbeuterischen und arbeitswertlichen Funktionen" klassifiziert Michels sie nämlich als eine „etwas simplizistische Formel", welche kaum imstande ist, der Unternehmerschaft einen verläßlichen Handlungsrahmen zu geben. Belastend für das Verhältnis zur Industrie sei auch, daß die Fascisten „teil Idealisten, teils Ideologen" seien. Auch vertrage sich das bisherige „wilde, tumultuarische, brauseköpfige" Auftreten des Fascismus schlecht mit der „ruhigen und besonnenen Geschäftsführung, wie sie die Industrie, ganz besonders noch in so kritischen Zeiten wie den gegenwärtigen, so nötig braucht."101 Nicht weniger problematisch für das Verhältnis zur Industrie ist der neue Anspruch des faschistischen Staates, sich in Arbeitsstreitigkeiten als inappellabler Richter einzumischen. Trotzdem konstatiert Michels als Resümee der ersten zwei Jahre eine faschistenfreundliche Gesinnung von Handel und Industrie. Die Ursache dafür läge zum 98 Michels, Faszismus 1925, S. 260. 99 Faszismus 1925, S. 261. Vgl. hierzu Roger Engelmann, Provinzfaschismus in Italien. Politische Gewalt und Herrschaftsbildung in der Marmorregion Carrara 1921 - 1 9 2 4 , München 1992. 100 Faszismus 1925, S. 265. 101 Michels, Faszismus 1925, S. 263-264.

Χ. 3. Soziologie, Genese und Programmatik des Faschismus

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einen im „Indifferentismus, der politischen Gleichgültigkeit der entsprechenden Kreise, welche nur als Beiwerk zum Kaffee oder Abendessen die Zeitung lesen, im übrigen aber den Geschäften und allenfalls den Vergnügungen nachgehen, zwei Beschäftigungsarten, die ihnen der Fascismus ja gelassen hat", zum anderen in Dankbarkeit gegenüber dem „Fascismus als ihren Rettungsengel aus der dräuenden Umklammerung des bolschewistischen Drachens", schließlich aber in sehr praktischen Vorteilen, die ihnen die neue Regierung biete: sie garantiere einen ,ruhigen Gang der Fabriken und die Niederhaltung der Streikversuche" und damit die „Ordnung". 102 Die Ambivalenzen im Verhältnis zwischen Unternehmertum und Faschismus resultieren nicht zuletzt aus dem Charakter des Partito Nazionale Fascista als einer „zusammengewürfelten Massenpartei" mit in programmatischer Hinsicht „eklektischer Note". 103 Diese Zusammensetzung hat zur Folge, daß elitensoziologisch in Italien im Laufe der 20er Jahre tatsächlich eine rivoluzione fascista stattfinden wird: „Der Fascismus hat eine neue, sozial äusserst gemischte Schicht der Bevölkerung an das Ruder gebracht und dabei die bisher herrschende Klasse der bürgerlichen Intellektuellen, welcher der Erfolg des Risorgimento zu verdanken gewesen war [...] sehr unsanft beiseite geschoben". 104 Politisch wie wirtschaftlich, resümiert Michels 1934, habe der Faschismus insbesondere „als Hebel des Emporkommens eines großen Teiles der Kleinbourgeoisie gedient". Dadurch haben sich Beamtenapparat und politische Elite ,glicht nur veijüngt", sondern erscheinen „an Herkunft und teils an Bildung sozial bescheidener". 105 Alles in allem, bestätigen Michels' Beobachtungen auch die Erträge der Faschismusforschung, wonach der PNF - wie auch die NSDAP - keine Standes- oder Klassenpartei gewesen ist.106 Bei der Analyse der Wurzeln dominieren bei Michels zwar eher die ceti medi (Studenten, Kleinbauern, Kleinbourgeoisie), 107 die der antisozialistische Affekt mit Agrar- und Industrieunternehmern zusammenfuhrt; in der Wirkung hat der Sieg über die Arbeiterbewegung aber auch rasch Rückwirkungen auf die soziologische Komposition der faschistischen Partei gezeitigt: „Die Suggestion des Siegers, des Wagemutigen und Überzeugten, hat ihm [dem Faschismus], mehr noch als bloße Angst vor rohem Terror, die Massen der Besiegten selbst zugeführt. Scharenweise haben die Sozialisten die roten Schlipse abgesteckt und sich die schwarzen Hemden angezogen." Im Sommer 1922 soll der PNF 72.000 Mitglieder aus der Industriearbeiter-

102 103 104 105 106 107

Faszismus 1925, S. 275-276. Faszismus 1925, S. 277. Italien von heute, S. 219. Michels, Umschichtungen in den herrschenden Klassen nach dem Kriege, Stuttgart 1934, S. 119. Vgl. Stefan Breuer, Nationalismus und Faschismus, a.a.O., S. 51-55. Die Mittelschichten-These wird prononciert von Salvatorelli, De Feiice oder auch Emilio Gentile vertreten. Ein Befund, der Stefan Breuer zufolge „bei näherem Zusehen rasch" zerfalle (s. o., S. 51). Dies bestätigt auch der einschlägige Aufsatz von Jens Petersen, Wählerverhalten und soziale Basis des Faschismus in Italien, in: Wolfgang Schieder (Hg.), Faschismus als soziale Bewegung, 2. Aufl. Göttingen 1983, S. 119-156.

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X. Robert Michels und der italienische Faschismus

schaft (bei 470.000 Mitgliedern) insgesamt gehabt haben. Bereits im Frühjahr 1924 „waren in der fascistischen Organisation an die 2 Millionen Arbeiter vertreten."108

Herrschaftskompromiss und Elitenftision Die soziologische Komplexität der sich zwischen 1922 und 1925 herausbildenden faschistischen Diktatur wird überdies dadurch gesteigert, daß im elitensoziologischen Sinne die neue politische Klasse nicht nur aus den ohnehin in sich heterogenen Faschisten besteht, sondern auf einem Bündnis mit den alten Eliten aus Monarchie, Kirche, Heer und Industrie beruht. Aus den Umständen der Einwilligung König Vittorio Emanueles III., der 1922 „zum Mitschuldigen des Diktators" geworden sei, schließt Michels sogar den interessanten Schluß, daß die „Stellung Vittorio Emanueles im fascistischen Staat keineswegs so submiss" sei, „wie sie im Auslande erscheint."109 Michels' zuweilen elitenmonolithisches Wunschbild des Faschismus wird wiederum durch ihn selbst dementiert, wenn man sich die komplexe ideologische Zusammensetzung der faschistischen Bewegung anschaut: ebenso wie mit der Monarchie ist Mussolini auch einen Pakt mit der Kirche eingegangen. Beides seien Kernelemente der „Italianità", die auch die faschistische Revolution habe respektieren müssen. Den entscheidenden Anstoß dazu hat Michels zufolge das Bündnis mit den „Nationalisten" gegeben. Im Gegensatz zum ursprünglich antimonarchistischen Faschismus seien diese Royalisten gewesen. Die Fusion von 1923 habe für den Faschismus einen „reichen Gewinn" bedeutet: „Anhängerschaft in den besser situierten bürgerlichen Klassen, im Adel, im Literatentum [...] sowie an Bildung, an der der Durchschnitt der Nationalisten dem der einigermassen zusammengewürfelten Fascisten zweifellos überlegen war."110 Zu dieser weltanschaulichen Mischung kommen noch die „Sorelianer" mit ihrer „Liebe zum Proletariat und zur ,Revolution' " sowie die „Gentilianer", von denen Michels offensichtlich keinen Begriff hat, außer daß sie „philosophischen Schwung" mitbringen und für die Faschisten als ein Verbindungsposten zur allgemein faschismusskeptisch eingestellten Universität fungieren. Außerdem seien der Bewegung auch „Gelegenheitsprofitierer, politische Spekulanten und gewohnheitsmässige Staatsanbeter aus allen Lagern" zugelaufen. Letzteres ist für Michels freilich ein Nebenaspekt. Tatsächlich aber haben die hier angedeuteten opportunistischen und karrieristischen Motive für den Charakter der faschistischen Gefolgschaft immer mehr Bedeutung gewonnen. Infolge der Etablierung

108 Faszismus 1925, S. 266-267. Die Anziehungskraft der faschistischen Syndikate auf die Arbeiterschaft bestätigt Engelmann, Provinzfaschismus in Italien, a.a.O., S. 281, der dafür erstens die normative Kraft der faktischen Zerschlagung der organisierten Arbeiterbewegung anführt, zweitens aber auch die nach der brutalen Härte gegen die Arbeiterorganisationen einsetzende arbeitnehmerfreundliche Tarifpolitik: „Diese Doppelstrategie bot den Geschlagenen die Möglichkeit einer psychologisch ohnehin angelegten .Identifikation mit dem Aggressor' ". 109 Italien von heute, S. 217. 110 Italien von heute, S. 217.

X.3. Soziologie, Genese und Programmatik des Faschismus

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der Diktatur und begleitender Parteireformen verwandelt sich der PNF zwischen 1925 und 1927 „in eine bürokratische Massenorganisation von Karrieristen und angepaßten Mitläufern, die nicht vorrangig politisch motiviert waren." 111

Neuer politischer Stil als Programm Programmatisch ist die ganze Sache zunächst sehr unausgegoren und hat der Faschismus Michels zufolge erst im Jahr der Regierungsübernahme ernsthaft mit der Programmarbeit begonnen, also begonnen, darüber nachzudenken, was er eigentlich will. Viele kritisieren daher die Programmlosigkeit des Faschismus; anstelle des „cogito ergo sum", heißt es, vertrete die Mussolini-Bewegung eine Philosophie des „faccio rumore quindi sono". Die Programmatik des Faschismus ist bis heute eine wissenschaftlich vieldiskutierte Frage geblieben. Die These, es handele sich beim Faschismus um eine konsistente und kohärente Weltanschauung, 112 trifft auf die Gegenthese, daß die einzelnen Ideen der Faschisten einer Systematik oder Kohärenz gerade entbehrten und sie daher in einem flexiblen patchwork mit Rücksicht auf machtpolitische Opportunitäten aktualisiert, verändert und fallengelassen werden konnten. Es sei daher sinnvoller, den sich eher ästhetisch als theoretisch ausdrückenden Faschismus nicht als Ideologie, sondern als „neuen politischen Stil" und eine „politische Religion" mit Mythen, Symbolen und Riten zu begreifen. 113 Auch Renzo de Feiice hat die weltanschauliche Seite des Faschismus als „gestaltloses Gemisch unterschiedlichster Kräfte, Interessen und Stimmungen" bezeichnet und Jens Petersen zieht im Anschluß an ihn und andere das „Fazit, daß der Faschismus nicht als eine ideologisch-programmatische, sondern als eine charismatische Bewegung zu charakterisieren ist."114 Zuletzt hat Stefan Breuer diese programmatische Uneindeutigkeit auf den Begriff eines ideologischen „Polyzentrismus" gebracht und

111 Wolfgang Schieder, Der Strukturwandel der faschistischen Partei Italiens in der Phase der Herrschaftsstabilisierung, in: ders. (Hg.), Faschismus als soziale Bewegimg. Deutschland und Italien im Vergleich, Hamburg 1976, S. 69-96, S. 87. 112 Zeev Sternhell, Mario Sznaijder, Maia Asheri, Die Entstehung der faschistischen Ideologie. Von Sorel zu Mussolini, Hamburg 1999 [original: Naissance de l'idéologie fasciste (1989)]. 113 Emilio Gentile, Fascismo. Storia e interpretazione, Rom/Bari 1992. Gentile findet diesen Aspekt aufschlußreicher als den ideologischen, er will den Faschismus aber keinesfalls auf seine Ästhetik reduzieren, sondern hält diese für ein Element in einer Gesamtdefinition, die auch die klassenübergreifende soziale Zusammensetzung und den milizionären Lebensstil, den Polizeiapparat, den charismatischen Führer, die korporative Wirtschaftsstruktur, die Einheitspartei und die gesellschaftlichen Massenorganisationen als „Organe der kontinuierlichen Revolution" in den Blick nehmen müsse, also die realen organisatorischen und institutionellen Gestaltungen mit einer eher ästhetisch-expressiven als einer ideologischen Bedeutungsebene verknüpft. Vgl. auch Sven Reichardt, Was mit dem Faschismus passiert ist. Ein Literaturbericht zur internationalen Faschismusforschung seit 1990, Teil 1, in: neue politische literato Jg. 49 (2004), S. 385-406, S. 390. 114 Jens Petersen, Referat, in: Kolloquien des Instituts für Zeitgeschichte, Der italienische Faschismus. Probleme und Forschungstendenzen, München/Wien 1983, S. 13-42, S. 25.

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X. Robert Michels und der italienische Faschismus

dies an einem Zitat von Mussolinis Justizminister Alfredo Rocco exemplifiziert, der den Eklektizismus des Faschismus nicht etwa schamhaft zur Seite schiebt, sondern offen die innere Heterogenität zugibt: „das Prinzip der Autorität neben den populären Tendenzen; der Schutz des Eigentums und der Produktion neben dem Syndikalismus; die Tendenz zur Wiederherstellung der Freiheit der Privatinitiative im ökonomischen Feld neben der Bekräftigung des rigidesten Staatsinterventionismus."115 Michels' weitgehend phänomenologische, verstehenssoziologische und historiographisch-dokumentarische116 ,Methode' ist insofern ein Beitrag zu dem zweiten Ansatz, als diese jeden ,enthüllungswissenschaftlichen' Blick hinter die Kulissen scheut und stattdessen das politisch-religiöse, palingenetische oder charismatische Selbstverständnis der Akteure und ihre Mythen (neuer Staat, Duce, nationale Wiedergeburt) privilegiert, ohne dabei ein ideologisches Zentrum identifizieren zu können. Während die institutionelle Ausgestaltung und elitensoziologische Formation des Führerstaates bei Michels auffallend blaß bleibt, gelingt es ihm gerade auf der ästhetisch-expressiven Ebene, dem Neuartigen der faschistischen Bewegung am nächsten zu kommen, beispielsweise dem elitären Selbstanspruch auch auf der unteren Mitgliederebene. Es sind Leitmotive aus den „Orientamenti teorici" der Faschisten wie: „Es ist verhältnismäßig leicht, Fascist zu werden. Es ist aber schwer, es zu bleiben",117 in denen Michels das genuin Neue dieser politischen Bewegung zu erkennen glaubt. Dieser neue elitäre Selbstanspruch ist aber inhaltlich kaum zu fassen. Die hohe Anforderung an Moral und Disziplin, die in derartigen Weisheiten zur faschistischen Lebensführung anklingt, bleibt völlig unbestimmt. Michels fällt in diesem Zusammenhang allein die neue Hygienebestimmung der Faschisten ein, wonach Eheschließende beim Standesamt ein ärztliches Gesundheitszeugnis vorlegen sollen. Insofern sind die zentralen Merkmale des Neuen in Michels' Faschismusdarstellung ästhetisch-expressive Aspekte: allen voran „die Erneuerung des italienischen Empfindens". 118 Neuer Schwung, Optimismus und kollektives Ärmelhochkrempeln - in derartigen Begriffen eines Aufschwungs der nationalen Gefühlslage hat Robert Michels die Hauptinnovationsleistung des Faschismus bis 1925 beschrieben. Inhaltlichen Ansprüchen an Politik mag das nicht genügen. Und auch Michels muß zunächst noch in programmatischer Hinsicht einräumen, daß die Kritik, der Faschismus lasse sich allenfalls rein negativ identifizieren, etwa durch seine Bekämpfung des Sozialismus und des Parlamentarismus, einen „wahren Kern" hat. Interessanterweise hat Michels in seiner „Faszismus"-Studie von 1924/25 dann aber doch immerhin das wirtschaftspolitische Profil des Faschismus herauszuarbeiten versucht und es auf den Begriff „Liberismus" gebracht. Gemeint ist das weitgehend von dem Ökonomen Maffeo Pantaleoni beeinflusste wirtschaftsliberale Programm, das im Widerspruch zur faktischen Entwicklung zum korporatistischen Interventionsstaat gerade im Rückzug des 115 Stefan Breuer, Nationalismus und Faschismus, S. 55. 116 Auffällig und neu sind Michels' zum Teil über Seiten gehende Zitate bzw. Paraphrasen von offiziellen Quellen (Regierungserklärungen; Gesetze etc.). 117 Faszismus 1925, S. 317. 118 Michels, Faszismus 1925, S. 319.

X.3. Soziologie, Genese und Programmatik des Faschismus

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Staates eine Chance zur Stärkung der wirtschaftlichen Kräfte und zur Mehrung des Volksvermögens erblickt.

Vom Pantaleoni-Liberalismus zum korporatistischen Interventionsstaat Entgegen der in der früheren Forschung verbreiteten Annahme, eine syndikalistische Prädisposition habe Michels letztlich den Weg in den faschistischen Korporationsstaat gewiesen, hat der Autor selbst die neue Bewegung zunächst wirtschaftspolitisch nicht nur als liberal verstanden, er hat auch gerade in den wirtschaftsliberalen Elementen des Faschismus dessen Potenzial zu einem Befreiungsschlag für die Nachkriegsökonomie gesehen. So sei die faschistische Bekämpfung der Produktiv-, Konsum- und Arbeitsgenossenschaften nicht nur parteipolitisch im Sinne der Schwächung des Gegners motiviert gewesen, sondern resultiere auch aus der Überzeugung „von der technischen Unfähigkeit und sozialen Schädlichkeit von Einrichtungen, die nur durch direkte oder indirekte Unterstützung aus öffentlichen Geldern zu funktionieren vermöchten." „Der Fascismus", so Michels weiter, „ist tief durchdrungen von der Meinung, die Wirtschaft habe ganz wesentlich aus der privaten Initiative hervorzugehen; er teilt hinsichtlich der Eignung des Staates zum wirtschaftlichen Unternehmer und Prämienausteiler die skeptischen Anschauungen der Klassiker unter den englischen Nationalökonomen."119 Ob die Faschisten diesen Liberalismus auch auf dem Gebiet des Außenhandels aufrecht erhalten oder dort eher - auch durch den Einfluß der den Freihandel ablehnenden „Nationalisten" in der faschistischen Bewegung - nationalprotektionistisch agieren würden, sei zwar ungewiß. Innerhalb Italiens dagegen sind Michels zufolge mit der faschistischen Machtübernahme die Uhren ordnungspolitisch auf Privatisierung gestellt. Ob Telefonwesen [!], Post oder Eisenbahn - die Faschisten gingen „wesentlich von dem empirischen Gesichtspunkte aus, daß der Staat ein schlechter Sparer ist. Italiens Finanzlage aber erfordert dringend die Einführung eines unentwegten Sparprinzips im Staatshaushalt".120 Finanzpolitisch zählt Michels zu den faschistischen Errungenschaften, daß man „im Sommer 1923 auch der Erbschaftssteuer, einem der Lieblingsprojekte der demokratischen Steuerreformler, den Lebensfaden abgeschnitten" hat. Das Motiv der faschistischen Steuerpolitik sei die Förderung der privaten „Bildung von Sparkapitalien" und die „Mehrung des Volksvermögens" sowie seine Pflege und Weitergabe an künftige Generationen: „Der Fascismus", zitiert Michels eine Regierungserklärung, „will [...] ein finanzielles System vermeiden, das den Staatsbürger dazu veranlaßt, nur an sein eigenes individuelles Leben zu denken und nur für dieses selbst zu sparen, der

119 Michels, Faszismus 1925, S. 279. 120 Michels, Faszismus 1925, S. 281.

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X. Robert Michels und der italienische Faschismus

Leibrente den Vorzug zu geben vor der Versicherung zugunsten der Kinder, sich mehr dem Konsumieren als dem Sparen zuzuwenden und dadurch die Kapitalbildung und mit ihr die Produktivkraft der Nation selbst zu schädigen." 121 Es ist in Michels' Darstellung somit keineswegs nur das Eliteprinzip, mit dem der Faschismus seinen politischen Herrschaftsanspruch begründet und sich gegen die parlamentarische Demokratie wendet. Er hat auch inhaltlich etwas zu bieten, das sein politisches Mandat rechtfertigen könnte. Zumindest in seiner Wirtschafts- und Finanzpolitik steht er für ein neues, in Michels' Präsentation verheißungsvolles „politisches und zugleich ethisches System", das sich von dem der oben genannten demokratischen Steuerreformler diametral unterscheidet: der Faschismus wende sich gegen den „Prozeß der Kapitalverbrennung und der Verwandlung der Kapitalien in dem Konsum dienende Renten", den das „sozialistisch-demokratische System" zu verantworten habe. Freilich stellt sich Michels 1924/25 auch die parteiensoziologische „Frage, ob der Fascismus als den Sozialismus ablösende Partei bei seinem weiteren Wachstum nicht fataliter [...] dazu übergehen müsse [...] selbst sozialistisch zu werden", wenn er die „vom Sozialismus nicht umsonst ein halbes Jahrhundert gedrillten Massen der städtischen und ländlichen Arbeiterschaft", die er temporär für sich gewonnen hat, nicht wieder verlieren will.122 Der Faschismus wird nicht halten, was er in seinem ,liberistischen' Programm zunächst versprochen hatte. Der spätere Interventionsstaat wird dem anders gerichteten Impuls in der faschistischen Bewegung folgen, durch Maßnahmen wie „eigenmächtige Preisfixierung" zum vermeintlichen Schutz der kleinen Leute „illiberale Eingriffe in die Gesetze von Angebot und Nachfrage" vorzunehmen und damit „im Grunde genommen sozialpolitische Politik zu treiben, die sich früher oder später rächen werde", wie Michels noch 1922 aus dem Wirtschaftsprogramm Pantaleonis zitiert.123 Michels wird auch diese Wende vom Manchesterliberalismus zum Korporativsystem in der zweiten Hälfte der 20er Jahre in seiner Auslandspropopaganda enthusiastisch begleiten. Das bezieht sich insbesondere auf die neue Rolle des Staates, der in Arbeitsstreitigkeiten als direkter und inappellabler Richter fungiert. An die Stelle der einstigen liberalen Neutralität wird der wirtschafts- und sozialpolitische Interventionsstaat treten und es ist gerade der von ihm erzwungene Rückgang der Streiks und die tarifpolitische Streitbeilegung von oben, die für einen Zeitgenossen wie Michels zu den größten Erfolgen des Mussolini-Regimes zählen. Die neue faschistische Arbeitsverfassung, die „Carta del Lavoro", wird Michels auf eine Stufe mit dem Augsburger Religionsfrieden und der Déclaration des Droits de l'Homme stellen.124 Das im allgemeinen erneuerte

121 122 123 124

Michels, Faszismus 1925, S. 282-285. Michels, Faszismus 1925, S. 271. Michels, Faszismus 1922 (Broschüre), S. 15-16. Michels, Der Einfluß der faschistischen Arbeitsverfassung auf die Weltwirtschaft, Leipzig 1929 (= Weltwirtschaftliche Vorträge und Abhandlungen Heft 6); vgl. auch Michels, Fascistische Arbeitsprobleme. Das Verhältnis von Kapital und Arbeit in Italien, in: Kölnische Zeitung 3./10. Fe-

X.3. Soziologie, Genese und Programmatik des Faschismus

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Vertrauen in die Staatstätigkeit verdankt sich Michels zufolge vor allem diesem autoritären Schritt in die „verfasste", den Eingriffsbefugnissen des Staates unterworfene Wirtschaftspolitik. Der Korporationsstaat erscheint ihm als ein probates Mittel, den Kapitalismus zu „objektivieren",125 ja sogar als „Rückkehr zum Merkantilismus", die nicht die Lösung der sozialen Frage, wohl aber die technische Modernisierung und Steigerung der Produktivität zur Folge gehabt habe.126 Daß der Pantaleoni-Faschismus ursprünglich auch in Michels' eigener Einschätzung ordnungspolitisch liberale Akzente setzen wollte, wird komplett vom Erfolg des Korporativsystems an den Rand gedrängt. Dieser Erfolg ist freilich vor allem ein propagandististischer in der Wahrnehmung des faschistischen Experiments durch die europäische Öffentlichkeit. In anderen Worten: Michels' Trommeln für den stato corporativo ab 1927 liegt voll im Trend. Daraufkommen wir unten zurück, wenn wir uns der Repräsentativität und Attraktivität von Michels' Philofaschismus widmen. Vorher aber ist unsere Untersuchung der Soziologie, Genese und Programmatik des Faschismus auf der Basis der Michelsschen Studien durch einen wesentlichen Punkt abzuschließen, den viele Kommentatoren ohnehin als den einzigen Programmpunkt faschistischer Bewegungen ansehen: die Gewalt. Mussolini verdankt ja sein Ministerpräsidentenamt auch dem gewalttätigen Druck seiner Bewegung, die erst den Bürgerkrieg forciert, den anschließend der Duce beenden soll. Robert Michels hat in der autoritären Pazifizierung der Gesellschaft die bedeutendste Leistung Mussolinis bis 1925 gesehen. Man könnte auch zusammenfassend sagen: bis 1925 besteht die größte Leistung des Faschismus für Michels in einer Hebung der nationalen Stimmung einerseits, in der Etablierung von Ordnung und Regierungsstabilität andererseits. Die Gewalt selbst hat Michels aber nie als etwas Wesentliches der neuen sozialen Bewegung gesehen, sondern vielmehr als tragische Begleiterscheinung ihres Aufstiegs an die Macht.

„Bruderkämpfe" und autoritäre Pazifizierung Die italienische Gewaltbilanz der unmittelbaren Nachkriegszeit läßt das nationale Trauma nur erahnen: die amtliche Gewaltstatistik weist 1920 und im ersten Halbjahr 1921 nahezu 500 Tote und über 2.000 Verletzte auf. Diese Eskalation hat ihren vorrangigen Grund nicht in einer Offensive des Bolschewismus, auf welche die Faschisten angeblich in Notwehr reagiert hätten. Der Grund liegt vielmehr einerseits in der Schwäche des italienischen Staates, der sich in den nach dem Kriege aufbrechenden Sozialkonflikten kaum behaupten kann und als Monopolist der legitimen physischen Gewaltsamkeit ausfällt; und andererseits liegt er bei den Milizionären der faschistischen squadre d'azione, die in das Machtvakuum vorstoßen und mit der Systemkrise auch den Bürgerkrieg forbruar 1927; ders., Zur weiteren Ausbildung des Korporativsystems in Italien, in: Soziale Praxis, 43. Jg., 10. Mai 1934. 125 Michels, Corso di sociologia politica, a.a.O., S. 90: „Sarebbe quello di oggettivare il capitalismo." 126 Michels, Italien von heute, S. 227.

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X. Robert Michels und der italienische Faschismus

eieren. Anfang 1922 umfassen die squadre zahlenmäßig gut die Hälfte (!) der 222.000 PNF-Mitglieder und unterstreichen damit dessen Charakter einer „Gewaltsamkeitsorganisation". Es war zwar, resümiert Stefan Breuer, „nicht erst und nicht nur der Faschismus, der die Gewalt zu einer Erscheinung des politischen Alltags machte. Wohl aber war er es, der sie zu einem typischen Mittel der Parteipolitik erhob, mit dem das staatliche Gewaltmonopol aktiv bestritten wurde."127 Robert Michels hat die brutale Genesis des Faschismus auf dem Weg zur Macht weder geleugnet noch verteidigt, ja er distanziert sich vom Bürgerkrieg, den er als „grausam und absolut schonungslos" bezeichnet. Er kann auch Gründe wie Taktik und Jugendlichkeit der Bewegung nennen,128 die den Ausschlag für den Sieg der faschistischen Schlägertrupps geben. Er vermeidet es aber, einer Gruppe die Hauptverantwortung für die Grausamkeiten zuzuweisen. Er fragt nicht einmal danach: „Es folgte [nach den Turiner Fabrikbesetzungen] ein Bürgerkrieg mit all seinem Grauen und allen seinen Gräueln. Jede italienische Stadt schien in die Zustände des Mittelalters zurückfallen zu sollen. Mit Feuer und Schwert und einem bisher nahezu unbekannten Fanatismus führten die ,Faktionen' der Nationalgesinnten und der Sozialisten und Kommunisten miteinander Krieg, grausam und absolut schonungslos. Wobei die ersteren, weil besser geschult und praktisch besser geführt (vielleicht auch noch mehr Gewaltmenschen in ihren Reihen zählend), Sieger blieben."129 Michels' 1924 aufgeschriebene Darstellung unterscheidet sich deutlich von seinen Äußerungen vor 1922, als er noch im Geist der „goldenen Mitte" gegen die Extremisten von links und rechts argumentierte. Jetzt aber erinnert der Modus der tragischen Erzählform wieder an unsere These von Michels' Fremdheit im italienischen Kontext. Sie entbindet ihn von jeglicher moralischer Bewertung der Ereignisse. Und sie immunisiert gleichzeitig den Faschismus von vornherein gegen die Kritik an seiner gewaltsam-illegitimen Machtergreifung. Nicht die Faschisten führten demnach die Kämpfe, sondern: ,yDie Kämpfe,

welche die Fascisten

zur Macht föhrten, w a r e n hart, unerbittlich,

grausam, sehr weit von allem Wünschenswerten entfernt. Es tobte in ihnen der Geist der Schützengräben und des Arditismus, wie er mit all seiner Erbarmungslosigkeit aus dem Kriege in den Frieden übergegangen war. Dieser Geist wurde

127 Die Kommunisten hätten zwar zu diesem Zeitpunkt in ähnlicher Weise Politik als „Bürgerkriegspolitik" betrieben, die strukturelle Affinität des Faschismus hierzu sei aber wesentlich ausgeprägter. Vgl. Breuer, Nationalismus und Faschismus, a.a.O., S. 45. Vgl. auch Sven Reichardt, Faschistische Kampfbünde: Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln u. a. 2002. 128 „Der Sieg des Fascismus über den (italienischen) Bolschewismus war ein Sieg jugendfrischen Ungestüms." Michels, Faszismus 1925, S. 313. 129 Michels, Faszismus 1925, S. 258f.

X.4. Gouvernementales Leitmotiv: ,fascismo governo'

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noch bösartiger durch die Menschenüberfulhing [...] So ergab sich aus der Enge der Futterplätze und dem Kampf um das Leben eine den Massen selbst unbewusste Erbitterung."130 Es ist dieser Perspektive zufolge letztlich ein aus den Schützengräben kommender „Geist", ein übermenschliches und nicht persönlich rechenschaftspflichtiges Verhängnis und Erbe des Krieges, das eine nationale Tragödie zu verantworten hat. Denn die Umstände des Aufstieges der Faschisten sind für Michels zweifellos eine Tragödie: „Das Traurigste an den Bruderkämpfen war [...], dass häufig die Besten gegen die Besten standen."131 In einer derart ,tragischen' Situation kann es nur ein Gutes geben: einen Sieger und damit ein Ende des Bürgerkrieges. Die Machtübernahme Mussolinis ist von Michels zunächst exakt in dieser Funktionalität interpretiert worden: „Italien lechzte politisch nach einer starken Hand. Nun da die Fascisten mit Mussolini in die Höhe gekommen waren, hieß es vorläufig in weiten Kreisen mit tiefem Aufatmen: ,Endlich eine Regierung!'."132

4. Gouvernementales Leitmotiv: , fascismo governo' versus »fascismo movimento' Wenn es um Mussolini geht, tritt bei Michels schon bald an die Stelle der zunächst noch weitgehend phänomenlogisch-distanzierten Darstellung von 1922 die offene Eloge auf die „Führernatur großen Stils".133 „Glückliches Temperament", „scharfe Intuition für das Mögliche und Erreichbare", „heiliger Glaube an sich selbst", „außergewöhnliche Suggestionskraft auf die Massen", „wirklich seltene Kühnheit" - lauten die Attribute seines „carlylischen" Duce-Bildes, für die er erst ein wenig später, essayistisch im November 1925,134 dann mit ,sozialwissenschaftlichem' Anspruch im Mai 1926,135 den 130 Italien von heute, S. 220; kursiv von mir. 131 Italien von heute, S. 221 [m. Hvhbg.]. Jens Petersen hat als erster daraufhingewiesen, daß Michels die Nachkriegszeit insgesamt mit den „Zügen einer antiken Tragödie" schilderte, „in der Rechtsprinzip gegen Rechtsprinzip stand." Vgl. Jens Petersen, Der italienische Faschismus aus der Sicht der Weimarer Republik. Einige deutsche Interpretationen, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken, Bd. 55/56, 1976, S. 315-360, S. 339. 132 Michels, Faszismus 1925, S. 321. 133 Michels, Faszismus 1925, S. 320. 134 Michels, Mussolini und das .gefahrvolle Leben', in: Basler Nachrichten, 23. November 1925. Charismatische Führerschaft ist hier nicht mehr als eine populärwissenschaftliche Etikette, deren Sinngehalt für Michels in Mut, Entschlossenheit und Heldenhaftigkeit besteht. Max Weber wird zwar als Vater des Begriffs genannt, die Analysepotentiale von Webers Charismabegriff für die politische Soziologie werden von Michels dagegen noch nicht einmal ansatzweise angedeutet. Auch später wird er den Begriff nicht im Sinne des Erkenntnisgewinns, sondern als pseudowissenschaftliches politisches Schlagwort im legitimierenden Sinne gebrauchen. 135 Michels, Corso di sociologia politica [= Vorlesung an der Universität Rom im Mai 1926], Milano 1927.

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der Soziologie seines einstigen Freundes Max Weber entlehnten Oberbegriff des Charismas verwenden wird. Mit der Ministerpräsidentenschaft des D u c e hat sich Michels' Mussolini-Bild gegenüber 1921 u m 180 Grad gewendet. 1 3 6 Der Mussolinismus ist für Michels das Einfallstor seines zunehmenden Philofaschismus. Mit Mussolini verbindet sich von Oktober 1922 eine Sehnsucht nach dem großen Staatsmann, der eine in Turbulenzen geratene Gesellschaft von oben pazifizieren soll. Der „Capitano nuovo" übernimmt das Ruder v o m sinkenden „Schiff des Risorgimento", w i e es propagandistisch 1930 heißt. 1 3 7 Bei allem revolutionären Pathos, das in der Semantik des heroisierenden, charismatischen Führerkults um Mussolini immer mitschwingt, ist der politische Kurs eher v o n konservativer Substanz. D e n n Michels versteht Mussolinis Regierungsantritt nicht als eine weitere Etappe der v o n den Extremisten erhofften faschistischen Revolution', sondern als Normalisierung der italienischen Verhältnisse: „Die Regierung eines großen Staates übt einen seltsam assimilierenden Einfluß aus auf die Gesinnungen und, mehr noch, auf die Handlungen der zur Macht Gekommenen." 1 3 8 D i e s e Prognose ist im übrigen nicht

136 1921 heißt es in Michels, Zu den italienischen Neuwahlen. Kommunisten und Faschisten, a.a.O.: „Es ist leicht einzusehen, daß die Fascisten für Staat und Gesellschaft keineswegs gefahrlos sind. Sie [...] agitieren völlig illoyal und [...] sind mithin ein Element der Unordnung und der Indisziplin. Dazu kommt, daß sowohl von Mussolini als auch von d'Annunzio her die Fascisten stark mit revolutionären und unruhigen Elementen durchsetzt, die sehr geringe Achtung vor dem Staate und der Demokratie besitzen [...]." Einen neuen von der 1921er Darstellung abweichenden Zungenschlag bekommt Michels' Berichterstattung ein Jahr später im Zuge der Etablierung der Faschisten als stärkste politische Kraft. Im Juni 1922 nämlich können die Faschisten Michels zufolge bereits auf eine „kurze, aber erfolgreiche Vergangenheit zurückblicken" (Michels, Der Fascismus und Genua, in: Neue Schweizer Zeitung, Nr. 64, 3. Juni 1922). Der Bürgerkrieg scheint entschieden zu sein: „Die Faszisten sind sich ihres Sieges bewußt." Michels' auf rein negative Charakteristika der faschistischen Bewegung reduzierte Darstellung von 1921 weicht hier einer positiveren Darstellung, welche gegenüber dem Leser der Schweizer Presse die Massenakzeptanz des Faschismus aufgrund von populären Ideen und Aktionen zu erklären versucht, wie etwa die „energische Preispolitik" gegenüber den Händlern, die gezwungen worden seien, ihre Preise auf ein moderates Niveau zu senken. Auffallig ist auch ein nunmehr euphemistischer Tonfall bei der Darstellung der gewaltsamen Strafexpeditionenen: es sei dem Faschismus „völlig gelungen, die sozialistischen Massen einzuschüchtern, ja häufig sie zu sprengen". Die sozialistische Presse sei „höflich und sachlich geworden, wohl wissend, daß jedes andere Verhalten die Faszisten zu einer Haltung bringen würde, bei welcher es nicht nur eingeäscherte Zeitungsredaktionsräume, sondern auch blutige Köpfe gibt." Das Euphemisieren hat bei Michels gerade in der Gewaltfrage aber nicht die Funktion des Sympathisierens, sondern des Verdeckens, wie unsere Ausführungen zur faschistischen Gewalt und zum Fall Matteotti verdeutlichen. 137 Michels, Italien von heute, a.a.O., S. 208. Vgl. zu dieser Metaphorik auch Herfried Münkler, Arzt und Steuermann: Metaphern des Politikers, in: ders., Politische Bilder. Politik der Metaphern, Frankfurt a.M. 1994, S. 125-140. 138 Michels, Faszismus 1925, S. 316.

X.4. Gouvernementales Leitmotiv: ,fascismo governo'

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beschwichtigende Propaganda, es ist vielmehr die originalgetreue Abbildung des common sense, der allgemeinen Erwartungshaltung jener Zeit. 139 Die Hoffnung, das faschistische Temperament möge sich unter den Sachzwängen und der Saturierungstendenz der täglichen Regierungsgeschäfte zügeln, bezieht sich insbesondere auf ein weiteres soziologisches Element des Faschismus: die Giovinezza. Daß die Faschisten das gesamte Wortfeld der „Jugend" für sich besetzt haben, ist nicht bloß politische Phraseologie, sondern entspringt der demographischen Verknüpfung des Faschismus mit der Jugend. Die Faschisten sind „wirklich eine Partei der Jugend" . 140 Das hat mitunter auch ästhetische Vorzüge - zumindest Michels zufolge, der gesehen haben will, daß sich die .„schöneren Männer' [...] zweifellos auf fascistischer Seite" befinden. Es birgt aber auch „Fehlerquellen und Gefahren, wie Brausemut, Überhebung, Nichtachtung des Gewordenen, Unduldsamkeit gegen Andersdenkende (man wäre fast versucht zu sagen Andersgläubige)" sowie eine „retrospektive Hybris" gegenüber der vorfaschistischen Geschichte Italiens.141 Diese Nichtachtung der Tradition verbindet sich mit dem von der Jugend und den Frontkämpfern verherrlichten Gewaltprinzip, das Michels als „absolut materialistisch" und „unethisch" bezeichnet. Michels weist in diesem Zusammenhang auf eine besonders problematische Gruppe hin: die „violenti senza scopo, die nutzlos Gewalttätigen". Dies seien „Parteischädlinge", derer sich die Partei genauso entledigen müsse wie der „fascistischen Revolutionsgewinner, Stellenjäger und Geschäftemacher". 142 Den sich im Kult der giovinezza, des Duce sowie des Arditismus artikulierenden revolutionären Anspruch des Faschismus nimmt Michels aber in erster Linie als ein folkloristisches Element der Bewegung wahr. Eine tatsächliche „Politik der Handstreiche" erwartet er explizit nicht und begründet diese Erwartung mit den Assimilationsmechanismen der täglichen politischen Arbeit: „Das Beharrungsprinzip mit seinen abkühlenden Tendenzen", das Michels teils in der Individualpsychologie des Arrivierten, teils in der „Stetigkeit und Verantwortlichkeit" erfordernden „Staatskunst" erblickt, sei doch eine „Beruhigung für die Freunde des organischen und evolutiven Werdegangs in der Geschichte". 143 Was einst für Michels ein betrübliches Hindernis der demokratischen Innovation des Politischen darstellte, das Beharrungsprinzip bzw. die Metamorphose der Revolutionäre

139 Vgl. Jens Petersen, Der italienische Faschismus aus Sicht der Weimarer Republik, in: ders., Italien-Bilder - Deutschland-Bilder. Gesammelte Aufsätze, Köln 1999, S. 212-248, S. 214: „In Italien selbst und im Ausland betrachtete man die faschistische Bewegung, als sie im Oktober 1922 mit dem Marsch auf Rom und der Bildung einer überwiegend nichtfaschistischen Koalitionsregierung an die Macht kam, überwiegend als eine vorübergehende Erscheinung, die ,konstitutionalisiert' und formalisiert' und damit als eigenständige politische Kraft aufgesaugt werden würde." 140 Michels, Faszismus 1925, S. 309. 141 Michels, Faszismus 1925, S. 313-314. 142 Michels, Faszismus 1925, S. 319. 143 Michels, Faszismus 1925, S. 316-317. Die Rede von den Freunden des evolutiven Werdegangs ist durchaus selbstbezüglich zu verstehen. Vgl. Kapitel III.

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im politischen Organisationswesen, wird gut zwanzig Jahre später im Kontext der ,Rivoluzione fascista' zum stabilitätsverbürgenden Element. Eine terroristische Eskalation diktatorialer Macht liegt jenseits von Michels' Vorstellungskraft und darin bleibt er insbesondere auch nach der verfassungspolitischen Zäsur vom 3. Januar 1925 wie viele seiner Zeitgenossen, die ebenfalls die totalitären Gefahren der neuen Massenbewegungen völlig verkennen, ganz ein Kind des 19. Jahrhunderts. Nun ist einer Unterscheidung Hannah Arendts zufolge ja ausgerechnet der selbsternannte „stato totalitario" weitgehend auf dem Stand einer autoritären Entwicklungsdiktatur stehengeblieben und ist der Weg in den Totalitarismus am konsequentesten im Nationalsozialismus und im Stalinismus vollzogen worden.144 Renzo de Feiice hat dies damit begründet, daß Mussolini tatsächlich mit einem relativ hohen Maß an Konsens rechnen und daher auf Gewalt oder Terror weitgehend verzichten konnte. Auch diejenigen, die darin eine Verharmlosung sehen und die Unterschiede zwischen dem deutschen Nationalsozialismus und dem italienischen Faschismus nicht als prinzipielle auffassen, sondern nur als graduelle, kommen letztlich zu dem Befund, daß die Mussolini-Diktatur ein Regime war, „dem es nicht gelang, ein totalitäres zu werden" (Aquarone). Man könne daher auch sagen, der Faschismus war ein „unvollendetes totalitäres Regime" (Schieder).145 Es muß daher auch nicht wunder nehmen, wenn ein Zeitgenosse wie Robert Michels keinesfalls das Gefühl hat, im perpetuierten Ausnahmezustand zu leben, sondern Mussolinis Machtantritt als Reetablierung eines funktionierenden Staatswesens versteht: „Es herrschte wieder Ordnung im Lande", schreibt er erfreut mit Blick auf die Disziplinierung und Motivierung von Post-, Eisenbahn- und sonstigen Beamten.146 Was für Michels den Faschismus attraktiv macht, ist die infolge der Machtübernahme Mussolinis aufkommende Hoffnung auf den ordnungsstiftenden „Leviathan",147 nicht aber das revolutionär-gewalttätige Draufgängertum der Schwarzhemden, ist kurzum: die Beendigimg des Bürgerkrieges. Eine „Fortsetzung der bisherigen Fascistenpolitik dem Sozia-

144 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, S. 527: „Das Ziel des Faschismus war wirklich nichts als die Machtergreifung und die Etablierung der faschistischen ,Elite' im Staatasapparat des Landes. Die totale Herrschaft gibt sich niemals damit zufrieden, von außen, durch den Staat und einen Gewaltapparat zu herrschen." Totaler Herrschaft gehe es vielmehr darum, „Menschen von innen her zu beherrschen und zu terrorisieren." 145 Wolfgang Schieder, Referat, in: Kolloquien des Instituts für Zeitgeschichte: Der italienische Faschismus. Probleme und Forschungskontroversen, München/Wien 1983 [in der Folge: Faschismus-Kolloquium 1983], S. 60-68, S. 65. Vgl. auch die modernisierungstheoretische Erklärung bei Stefan Breuer, Faschismus in Italien und Deutschland: Gesichtspunkte zum Vergleich, in: ders.: Aspekte totaler Vergesellschaftung, Freiburg 1985, S. 199-225, demzufolge der Faschismus in Italien nur deshalb nicht seine ihm innewohnenden Potentiale voll ausschöpfen konnte, weil der kapitalistische Modernisierungsprozeß in Italien erst am Anfang stand. 146 Faszismus 1925, S. 322. 147 Richard Saage hat den italienischen Faschismus als „Leviathan" kategorial vom „Behemoth" des Nationalsozialismus unterschieden. Vgl. ders., Der italienische und der deutsche Faschismus, in: ders., Arbeiterbewegung, Faschismus, Neokonservatismus, Frankfurt 1987, S. 121-159.

X.4. Gouvernementales Leitmotiv:,fascismo governo'

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lismus gegenüber", meint er, sei „im Regierungsgewand in hohem Grade unwahrscheinlich". 148 Aus Michels' Darstellung der ersten Jahre des Faschismus läßt sich somit auch mühelos der Charakter seines Philofaschismus ableiten: er hat mit dem „fascismo movimento", also dem Faschismus der Bewegungsphase, nichts zu tun, ja steht ihm ablehnend gegenüber. Es ist vielmehr der „fascismo governo", also der Regierungsfaschismus, für den Michels von Beginn an Sympathien hat. 149 Michels' Wende, die sich anhand dreier Schriften zum Thema aus den Jahren 1921 und 1922 nachzeichnen läßt,150 korrespondiert mit dem sozialgeschichtlichen Befund, daß die Bewegungsphase des Faschismus im Herbst 1921 ihr Ende findet und aus der „Antipartei" eine Regierungspartei wird. 151 De Felices Typologie von fascismo governo („revolutionäres Pathos mit konservativer Substanz") und fascismo movimento behauptet freilich nicht, daß mit Regierungskurs und Regierungsantritt der Bewegungstypus zu existieren aufhört. Im Gegenteil: der Bewegungsfaschismus bleibt in seinen verschiedenen links- bis rechtsextremen Facetten aktiv.152 In ihm kursieren nach wie vor revolutionäre Ideen aus den bewegten Anfangen: sei es die Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft, die nach Mussolinis Herrschafitskompromiß mit den alten Eliten und dem Festhalten an den überkommenen Besitzverhältnissen immer noch auf der Tagesordnung stehe, oder die Verklärung der direkten Gewaltaktion, der der Etatismus des fascismo governo ebenfalls einen Riegel vorgeschoben hat. Diese Typologie erlaubt uns, Robert Michels' Philofaschismus nicht nur zeitlich, sondern auch politisch eindeutig dem .fascismo governo' zuzuordnen. Denn die im Bewegungstypus verankerten Strömungen kommen in Michels' Berichterstattung noch nicht einmal vor. Weder ein Roberto Farinacci, der als Generalsekretär des PNF infolge der Matteottikrise zwar den endgültigen Bruch mit dem alten politischen System und die Etablierung der Diktatur Mussolinis mitgestaltet, als „Intransigenter" aber der Partei ausdrücklich das Recht auf eine „zweite Welle" der faschistischen Revolution einräumt und aufgrund dieses Antietatismus seinen Hut nehmen muß. 153 Noch der revolutionäre Syndikalismus, der zwar als historische Wurzel von Michels immer erwähnt wird, aber eben nicht als erster Verlierer der Machtüber148 Michels, Der Aufstieg des Faschismus in Italien, Separatabdruck aus der Neuen Züricher Zeitung, S. 30. 149 Vgl. zu dieser Differenzierung: Renzo de Felice, Intervista sul fascismo, a cura di Michael A. Leeden, Roma-Bari 1975, S. 28f., sowie die Introduzione di Francesco Perfetti, in: De Felice, Fascismo, Milano 1998, S. 24. 150 Nämlich der hier bereits diskutierten „Zu den italienischen Neuwahlen" (April 1921), „Der Fascismus und Genua" (Juni 1922) sowie „Der Aufstieg des Fascismus in Italien" (Dez. 1922). 151 Emilio Gentile, Storia del partito fascista 1919-1922. Movimento e Milizia, Roma-Bari 1989. 152 Zur faschistischen Linken vgl. Giuseppe Parlato, La Sinistra fascista. Storia di un progetto mancato, Bologna 2000. 153 J. Tusell Gómez, Franchismo e fascismo, S. 57-92, S. 77-79, sowie Ν. Tranfaglia, La modernizzazione contradditoria negli anni della stabilizzazione del regime (1926-1936), S. 127-138, S. 130-133, in: Angelo di Boca/Massimo Legnani/Mario G Rossi (Hg.), Il regime fascista. Storia e storiografia, Roma-Bari 1995. Wolfgang Schieder nennt Farinacci den „nie unbestrittenen, aber einflußreichsten Wortführer" der „radikalen Extremisten" (Faschismus-Kolloquium 1983, S. 63).

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nähme Mussolinis. Mit dieser nämlich reißt eine Kluft zwischen den „intransigenti", die auf eine zweite Welle der Revolution drängen, und den „fiancheggiatori" auf, die über ein Bündnis mit den alten Eliten aus Monarchie, Heer, Wirtschaft und katholischer Kirche die Normalisierung anstreben. 154 „Fascismo governo" heißt in diesem Kontext auch: in der Form Faschisierung der alten Eliten - in der Substanz dagegen gelingt es diesen, den Faschismus zu „,entrevolutionieren' und ihn zu guten Teilen in das Bett der konservativen Traditionen zurückkehren zu lassen". 155 Der prominenteste Verfechter des „fiancheggiamento" ist Benito Mussolini. Er scheint auch der Garant für Michels' Zuversicht zu sein, daß der „Sprung ins Dunkle" nicht mit einer lebensgefahrlichen Bruchlandung endet. Schaut man genau hin, dann kann man das Nachkriegsideal der „goldenen Mitte" 156 wiedererkennen, das Michels nunmehr auf den Duce projiziert: „Das Größte an Mussolini ist wohl, daß er trotz kräftigster und selbstherrlichster Sprachführung weder ein politischer Spekulant, noch ein Freund großer radikaler Sprünge ist, noch der entgegengesetzten Tendenz der Erschlaffung verfällt [...] Er ist sich seiner Aufgabe bewußt, daß er nun ans Ruder der Regierung gelangt, tempo secondo einhalten muß. [...] Sein politisches Prinzip lautet: nulla dies sine linea. Langsam und stetig vorwärts, ohne das Ziel aus den Augen zu verlieren."157 Diese Charakterisierung des Staatsmannes Mussolini bestätigt unsere These, daß Michels' Sympathien dem Regierungs-, nicht aber dem Bewegungsfaschismus gelten. Nehmen wir an, es handelt sich bei diesen in der deutschen Presse veröffentlichten Sätzen nicht um reine Auslandspropaganda, sondern um die ehrliche Überzeugung des Autors, der den Duce zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ja bereits dank der Vermittlung seines Freundes und hohen Staatsbeamten Paulucci di Calboli persönlich kennenlernen konnte158 dann ist gleichzeitig der Möglichkeitshorizont des zeitgenössischen Beobachters und involvierten Kenners der Materie doch erschreckend eng und kurzsichtig. Für die Zeit zwischen Oktober 1922 und Sommer 1924 mag ein ,harmloser' Faschismusbegriff ja durchaus den sich gerade wieder stabilisierenden politischen Verhältnissen entsprechen. Nach der Matteotti-Krise und nach der verfassungspolitischen Zäsur vom 3. Januar

154 Renzo de Felice, Fascismo, a.a.O., S. 57. Den Begriff „fiancheggiatori" würde ich in diesem Zusammenhang mit,Anhänger der Flankenlösung' übersetzen. Genaugenommen meint der Begriff aber die alten Eliten, die in dem sich zwischen Oktober 1922 und Januar 1925 herausbildenden Herrschaftskompromiss den Duce .flankierten': Monarchie, Heer, Marine, Großindustrie, Bürokratie, Justiz und katholische Kirche. Vgl. Petersen, Faschismus-Kolloquium 1983, S. 25. 155 Renzo de Feiice, Mussolini il fascista, Bd. II: L'organizzazione dello Stato fascista 1925-1929, Torino 1995, S. 9: „Nella forma - insomma - il fascismo fascistizzò i .fiancheggiatori', nella sostanza questi riuscirono a derivoluzionarizzare il fascismo, a renderlo in buona parte un loro strumento e a farlo rientrare in larga misura nell'alveo della tradizione conservatrice". 156 Vgl. Kapitel X.2. 1919 - 1 9 2 2 : Regierungsloyalität und das Lob der „goldenen Mitte". 157 Faszismus 1925, S. 321. 158 Vgl. Kapitel X.7. Zugang zum Machthaber?

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1925 würde man von einem politischen Sozialwissenschaftler hingegen eine etwas größere Sensibilität gegenüber den fatalen Entwicklungsmöglichkeiten der faschistischen Diktatur erwarten, zumal die Matteottikrise ja Michels selbst die Sprache verschlagen hat und sein Schweigen über den ermordeten Politiker bereits ein Symptom für die Gefahrdung von Freiheit und Moralität in einer Diktatur ist. Indes hat Michels auch in seiner privaten Korrespondenz mit Mosca die Matteotti-Krise offenbar nicht zum Anlass einer kritischen Selbstrevision genommen, sondern vielmehr auf ein Machtwort des Diktators gesetzt, der gegen die Verantwortlichen für den Matteotti-Mord „ohne Mitleid" in Form einer „Säuberung" vorgehen möge. Dieser Wunsch bestätigt einmal mehr das Bild von Mussolini als Garanten der Ordnung - auch gegen die radikalen Tendenzen im Faschismus selbst.159 Wenn Michels die ordnungsstiftende, stabilitätsorientierte, ja geradezu konservative Politik Mussolinis unterstreicht, dann hat dies zweifellos eine die neuen politischen Bedingungen verharmlosende Wirkung, zumal seine Sprache dem historisch Neuen noch hinterherhinkt. Noch fehlt Michels der Begriff, der er es ihm erlauben sollte, das Neue des faschistischen Führertypus zu benennen. Erst nach seinem Faschismus-Buch von 1925 wird er ihn in der Soziologie Max Webers finden: charismatische Herrschaft. Das klingt so, als wäre Michels eine Art Pionier neuerer Forschungstendenzen gewesen: Denn in der Geschichtswissenschaft wie in der Soziologie ist dieser Interpretationsansatz interessanterweise heute weitgehend akzeptiert. Die charismatischen Züge der faschistischen Organisation, vor allem in ihrer Spitze, sind unstrittig. Und viele derjenigen Historiker und Sozialwissenschaftler, die ohnehin skeptisch sind, ob man den Faschismus als ideologisches oder programmatisches Projekt erklären und deuten könne, bevorzugen sogar den Ansatz, Genese und Entwicklung des Faschismus in erster Linie aus den charismatischen Aspekten seiner Organisationsstruktur abzuleiten.160 Insgesamt hat sich dabei der Webersche Begriff charismatischer Herrschaft als ein heuristisch wertvolles Instrument zur Analyse der faschistischen Diktatur erwiesen.161 Das liegt vor allem an den Ambivalenzen des Begriffs. Zu den Entwicklungsmöglichkeiten charismatischer Herrschaft gehört nämlich die Veralltäglichung des Charismas: entweder es wird durch Traditionalisierung bzw. Rationalisierung ersetzt bzw. zerstört oder es bleibt in einem entpersönlichten und versachlichten Zustand erhalten: im Amts- oder Erbcharisma.162 Andererseits ist aber auch der Versuch einer permanenten Bewährung

159 Brief von Michels an Mosca, 20.6.1924, zit. n. Malandrino, Corrado: Patriottismo, Nazione e Democrazia nel Carteggio Mosca-Michels, in: Annali della Fondazione Luigi Einaudi, Voi. XXXVIII-2004, S. 211-225, S. 219-220. 160 Petersen, Faschismus-Kolloquium, S. 25 161 Maurizio Bach, Die charismatischen Führerdiktaturen. Drittes Reich und italienischer Faschismus im Vergleich ihrer Herrschaftsstrukturen, Baden-Baden 1990. Vgl. Breuer, Nationalismus und Faschismus, S. 46. 162 Vgl. Winfried Gebhardt/Arnold Zingerle/Michael N. Ebertz (Hg.), Charisma. Theorie - Religion Politik. Berlin/New York 1993; sowie Stefan Breuer. Bürokratie und Charisma. Zur politischen Soziologie Max Webers, Darmstadt 1994. Eine weitere Option der Veralltäglichung - nämlich Institutionalisierungsformen des reinen Charisma - analysiert am Beispiel des Festes sowie alter-

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X. Robert Michels und der italienische Faschismus

und Revitalisierung des Charismas durch immer neue Herausforderungen denkbar - am besten durch den permanenten innen- und außenpolitischen Kriegszustand. 163 Max Weber selbst hat einer unhistorischen Gleichsetzung des Charismas in frühchristlichen Gruppen mit dem in politischen Formationen der Moderne einen Riegel vorgeschoben und den Begriff auf die politische Herrschaft im 20. Jahrhundert adaptionsfahig gemacht, indem er darauf hinweist, daß unter den Bedingungen „aktiver Massendemokratisierung" nicht von Charisma schlechthin, sondern von seiner antiautoritären Umdeutung gesprochen werden sollte. D. h. die Anerkennung durch die Beherrschten ist nicht länger „pflichtmäßig" - wie beim genuinen Charisma - , sondern wird selbst zum Legitimitätsgrund. 164 Zudem umfaßt Webers Charisma-Begriff auch die Facette seiner künstlichen Erzeugung - eine Dimension, die man gerade bei den faschistischen Diktaturen und ihrer Nutzung moderner Propaganda- und Reklametechniken studieren kann. 165 Bei Michels finden wir von alledem nichts. Es zählt vielmehr zu den auffalligsten Charakterzügen des späten Michels, daß der sensible Herrschaftskritiker von einst ausgerechnet der Indienstnahme der modernen Medien durch das Regime - also dem ,künstlichen Charisma' - voll auf den Leim geht. 166 Auch hätte die Charisma-Theorie Michels Anlaß genug geben müssen, sich die von ihm ja durchaus mit Sorge betrachtete Neigung der faschistischen giovinezza zum Bildersturm noch einmal vorzulegen. Denn der charismatische Herrschaftsanspruch legitimiert sich nicht aus den Quellen der Tradition, nicht aus Gründen der Legalität, sondern in einem radikalen Sinn über die Kreation von Neuem und aus der „außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit [...] einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnungen". 167 Diese Außeralltäglichkeit begründet eine intrinsische Verknüpfung charismatischer Herrschaft mit dem Ausnahmezustand - es sei denn, die Institutionalisierung des Charismas gelingt. Derartige Fragen hat sich Robert Michels allerdings gar nicht gestellt. Seine Anwendung des Charisma-Begriffs auf das Regime Mussolinis ist eher oberflächlich und propagandistisch, so daß man Robert Michels wohl als einen Popularisierer, nicht aber als Theoretiker charismatischer Herrschaft verstehen kann. Von den politischen Abgründen des Charismas erfahren wir bei Michels nichts. Sie liegen ihm fern, wohl auch, weil Italien unter der autoritären und nicht totalitären Diktatur des „stato totalitario"

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nativer Lebensformen Winfried Gebhardt, Charisma als Lebensform. Zur Soziologie des alternativen Lebens, Berlin 1994. Adrian Lyttelton, Faschismus-Kolloquium 1983, S. 59 Vgl. Breuer, Nationalismus und Faschismus, S. 46. Breuer, Nationalismus ..., S. 47. Vgl. Michels, Spigolature cinematografiche educative, in: Rivista internazionale del Cinema educatore, 2. Jg., Nr. 4, 1930, S. 450-452. Michels berichtet hier davon, in Basel „einen wunderschönen Film" gesehen zu haben, in dem nicht Schauspieler, sondern die Männer die Darstellung übernommen hätten, die Italien regieren. Bei dem Film handelt es sich um ein Werk aus dem „Istituto Luce" mit dem Titel „Duce" (zit. n. Tuccari, I Dilemmi..., S. 339). Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., Tübingen 1972, S. 124.

X.4. Gouvernementales Leitmotiv: ,fascismo governo'

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über Jahre eine Phase der Stabilität und relativen Prosperität erlebt. Man könnte auch ironisch sagen: Michels entdeckt die charismatische Herrschaft zu einem Zeitpunkt (1925), als diese allenfalls noch in der Figur des Duce eine Rolle spielt. Denn die Etablierung der Diktatur im Januar 1925 bringt einen Institutionalisierungsschub im Geiste des Etatismus mit der Folge der Entcharismatisierung: „Aus einer charismatischen Patronagepartei, die die Institutionen aufzulösen drohte, wurde auf diese Weise eine bürokratische Diktatur, die lediglich an der Spitze, in der Person Mussolinis, noch etwas vom ursprünglichen Charismatismus erkennen ließ, in allem übrigen aber von einem obrigkeitsstaatlichen Verwaltungsautoritarismus geprägt war".168 Man mag zwar Michels zugute halten, daß er vorrangig vom charismatischen Führer oder capo carismatico spricht und damit ohnehin nicht den Frühfaschismus, sondern nur das postrevolutionäre Restcharisma in der Gestalt Mussolinis im Blick hat. Die ambivalente Dynamik des Begriffs ist ihm bei dieser sehr statischen, plakativen und in erster Linie pseudolegitimatorischen Zwecken dienenden Operation aber eben gänzlich entgangen. Er mag dabei die Zeitumstände der sogenannten Konsensjahre auf seiner Seite haben, wenn er die vermeintliche charismatische Führung Italiens in eher konservativen, friedlichen und attraktiven Tönen schildert. Immerhin: in einem lichten Moment hat auch Michels die neuen Möglichkeiten der charismatischen Herrschaftsform angedeutet, wenn auch nicht in ihrer visionären Schrecklichkeit begreifen können - in dem Moment nämlich, als er von der „skulpturalen Funktion" des charismatischen Massenführers gesprochen hat, der nicht länger Repräsentant der Sorgen, Wünsche und Interessen der Nation sei, sondern ihr Schöpfer. Damit kommen wir zu dem radikalen Bruch, den Michels normativ wie analytisch in den zwanziger Jahren in seiner Oligarchietheorie vollzieht. Das Verhältnis von Elite, Führer und Massen wird von ihm nämlich neu konzipiert. Darauf ist die Forschung aus den oben skizzierten Gründen einer impliziten politischen, theoretischen wie biographischen Kontinuitätsvermutung nie eingegangen. Dieser Bruch ist Gegenstand des folgenden Unterkapitels.

168 Breuer, Nationalismus und Faschismus, S. 141. Vgl. Petersen, Faschismus-Kolloquium 1983, S. 25-26, der von einer „Entrevolutionierung" des Faschismus spricht und dies dem Einfluß der Nationalisten, insbesondere dem Justizminister Rocco sowie Federami zuschreibt: „Der von ihnen durchgesetzte Etatismus führte zu einer eindeutigen Unterordnung der Partei unter den Staat."

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5. Der Bildhauer der Massen: die „charismatische Wende" in Michels' Elitentheorie Als 1925 die zweite Auflage der Parteiensoziologie erscheint, hat Robert Michels am Resümee im Vergleich zu 1911 eine kleine, aber entscheidende Veränderung vorgenommen: „Je klarer die Menschheit sich [...] der Vorteile bewußt ist, die [...] selbst eine unvollkommene Demokratie über ein relativ gut funktionierendes aristokratisches System besitzt, desto weniger wird die Einsicht in die Gebrechen der Demokratie zu einer Rückkehr in die Aristokratie Anlaß werden können, um so weniger, als die Gebrechen der Demokratie außer in der sogenannten Massenherrschaft ja gerade in ihren unveräußerlichen aristokratischen Schlacken bestehen." 169 Das Novum steckt im nun massendemokratischen Gebrechen der Demokratie. 170 Einerseits wird somit die Entmachtung der Massen durch die Eliten resp. Oligarchen beklagt, andererseits aber ebenso die Durchschlagskraft der Massen auf den Gang der Politik als Übel dargestellt. Es steht im Kontext der übrigen Schriften aus den 20er Jahren außer Zweifel, daß es Michels gerade auf das zweite Übel ankommt, während der elitäre bzw. oligarchische Makel der organisierten Demokratie nur noch deshalb auftaucht, weil ein Verzicht darauf ja gewissermaßen eine vollständige Neubearbeitung des Buches nötig gemacht hätte. Michels' Demokratiekritik der 20er Jahre wendet sich vor allem gegen das „Gesetz der Zahl": 171 „Die Tendenz der politischen Parteien in der Demokratie über ihr historisch gegebenes Menschenmaterial hinauszugehen, um zum Staatsall zu werden, wäre man bisweilen versucht, ein Versteckenspielen zu nennen". In der Konkurrenz um die Gunst der Mehrheit werden die Parteiprogramme ununterscheidbar und eine „öde und monotone Lektüre", weil sie „es allen recht" machen müssen und „die agitationsstörenden Parteicharakteristiken auf ihr Altenteil" setzen. Michels zufolge schließt das Repräsentativitätsstreben der politischen Parteien in der Massendemokratie, ihre programmatische Anpassung sowohl an den statistischen Medianbürger als auch an eine möglichst große Zahl heterogener Interessengruppen, Innovationen systematisch aus. Offensichtlich hat Michels im italienischen Faschismus einen Ausweg aus diesem Dilemma gesehen, der Innovation mit Konsens zu kombinieren schien, ohne dem „Gesetz der Zahl" die Effektivität politischer Ziele zu opfern. Dazu ist allerdings ein Umbau in der Michelsschen Massenpsychologie nötig gewesen, die in den 20er Jahren ein völlig neues, der Massenpsychologie der Parteiensoziologie zuwiderlaufendes theoretisches Gerüst erhält. Die Massenpsychologie der Parteiensoziologie kannte nur eine

169 Michels, Parteiensoziologie 1925 (1989), S. 377. 170 Vgl. dagegen Parteiensoziologie 1911, S. 391. 171 Michels, Über die Kriterien der Bildung und Entwicklung politischer Parteien, in: Schmollers Jahrbuch, 51. Jg., 2. Halbband, 1927, S. 509-531, S. 518.

Χ. 5. Der Bildhauer der Massen

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wechselseitige Genese von Herrschaftsbeziehungen aus der Interaktion von Masse und Führer, in welcher der Führer zuweilen wie ein Konstrukt der postreligiösen Bedürfnisse der Masse erscheint. Der Faschismus erforderte dagegen „eine andere Methode" und war daher von der Parteiensoziologie ausdrücklich ausgenommen.172 Michels zufolge hat sich nämlich im italienischen Faschismus das Masse-FührerVerhältnis umgekehrt. Der Führer wird zum Bildhauer der Massen.173 Es ist nun der von Michels gefeierte italienische Duce, dem „skulpturale Funktionen" zugeschrieben werden, im Gegensatz zum demokratischen Führertypus, der nur ein „Exponent" der Massen sei: „Wortführer, nicht Bestimmender".174 Mussolini dagegen, von dem Michels annimmt, daß er genau das sei, was Max Weber mit seinem Typus des charismatischen Herrschers gemeint hat,175 habe die Massen erst für große nationale Ideale und Ziele begeistert und ihre Hingabe- und Opferbereitschaft für die Erneuerung des Gemeinwesens zu wecken vermocht, die ohne die charismatische Induktion durch den Duce nicht realisierbar gewesen wäre. Wenn wir der neuen Masse-Tugend der Opferbereitschaft noch die des Führers hinzufügen: ein gefährliches Leben im Sinne Nietzsches zu führen, mit „unermüdlicher Arbeitskraft" 176 unablässig für das Wohl des Volkes zu arbeiten und auf keinen Fall „auf Kosten der Nation fett" zu werden, auf Vergnügungen aller Art zu verzichten, Mut und Entschlossenheit u. v. m.,177 dann haben wir ein Ensemble von heroischen und aristokratischen, ja zuweilen jesuitisch anmutenden Tugend-Idealen, die auf eine ritterliche Zivilisation vor dem Beginn von Aufklärung, Kapitalismus und Demokratie verweisen. Eine Konstellation, die auch bereits für die Massenpolitik Le Bons charakteristisch ist178 und von der von wir annehmen müssen - gerade weil sich Michels auf ihr semantisches Feld begibt - , daß sie gerade in den Krisenjahren der klassischen Moderne unter Intellektuellen ,dernier cri' gewesen ist.179 Das neoidealistische Wortfeld ist aber nicht nur Zeitgeist, sondern reflektiert einen systematischen Bruch in Michels' Elitentheorie. Während Eduard Bernstein am Bei-

172 Vgl. Michels, Parteiensoziologie 1925 (1989), S. LV. 173 Vgl. dagegen das Massen-Führer-Verhältnis in der Soziologie des Parteiwesens: „Die Massen verhalten sich zu ihren Führern häufig wie jener Bildhauer im griechischen Altertum, welcher, nachdem er einen Jupiter Donnergott modelliert hatte, vor seinem eigenen Machwerk auf die Knie fiel, um es anzubeten." (Parteiensoziologie 1989, S. 64; 1911, S. 68). Vgl. auch unsere Analyse von Michels' Sonderrolle als Massenpsychologe in Kapitel VI. 1.7.3. 174 Michels, Literatur zum Problem der Führer und Massen, in: Zeitschrift für Politik, XXII. Band, Heft 7, S. 482-484, S. 482. 175 Michels, Italien von heute, S. 267. 176 Michels, Italien von heute, S. 231. 177 Michels, Italien von heute, S. 266ff. 178 Vgl. Helmut König, Zivilisation und Leidenschaften. Die Masse im bürgerlichen Zeitalter, Hamburg 1992, S. 175. 179 Max Weber hat in diesen Worten Michels gegenüber Werner Sombarts Hang bezeichnet, immer den intellektuellen Moden des ,letzten Schreis* folgen zu müssen (vgl. „Der Fremde im Kriege"). Geistesgeschichtliches Modebewußtsein ist aber auch Michels nicht abzusprechen.

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spiel der Arbeiterbewegung den notwendigen Übergang „von der Sekte zur Partei"180 analysiert hatte, geht Michels Jahre später in die entgegengesetzte Richtung und präsentiert die faschistische Elite als eine sektenähnliche Gruppierung von höchster idealistischer „Kohärenz" und „Reinheit".181 Aus dieser Illusion einer kompakten, einheitlichen Elitenherrschaft entwickelt Michels „einen der Hauptunterschiede zwischen der westeuropäischen Demokratie und dem italienischen Faschismus" - und die größere Handlungsfähigkeit und Entscheidungsklarheit des faschistischen Typus: „Jene [die westliche Demokratie] beruht in einem Kampf mehrerer zu Parteien zusammengeschlossener ,Eliten' um die Macht, die von ihnen abwechselnd ausgeübt wird; dieser [Faschismus] hingegen ist stabil, seinem Personenkreis nach einheitlich festgelegt und langdauernd."182 Die Herrschaft der faschistischen Elite sei „offen, klar, konkret, direkt", sie unterscheide sich damit von der Herrschaftspraxis in Demokratien mit ihren „gewundenen Intrigen und ,Korridoren' ", ihrem „Mangel an Klarheit" und „Wankelmut" sowie ihrer „Unentschlossenheit" und ihren „dummen und faden Kompromissen".183 Diese Unterscheidung mag der propagandistischen Pseudorechtfertigung nützlich sein, elitensoziologisch ist sie unterkomplex und steht zudem in Widerspruch zu Michels' eigener Darstellung der durchaus komplexen sozialen wie ideologischen Zusammensetzung der neuen politischen Klasse. Denn Michels weiß, daß die Diktatur Mussolinis nun einmal auf der Basis eines Herrschaftskompromisses mit der Monarchie und anderen Gruppen der alten Elite zustande gekommen ist, wie wir bereits gesehen haben.184 Nehmen wir das Tableau verschiedener, zum Teil erheblich konfligierender Gruppen ernst, ist vom Elitehandeln nicht die klare Dezision eines homogenen Zirkels von politischen Entscheidern zu erwarten, sondern werden auch hier Interessen und Wertvorstellungen aufeinandertreffen, die mit entsprechenden Reibungsverlusten in Kompromißrunden verhandelt werden müssen. Dies sieht übrigens bereits 1926 Antonio Gramsci, als er mit Blick auf die unterschiedlichen Gruppen der faschistischen Diktatur prognostiziert, daß in ihrem Schöße die Konflikte wieder auftauchen würden, sobald sie sich auf anderen Wegen nicht mehr entfalten könnten.185 180 Eduard Bernstein, Von der Sekte zur Partei. Die deutsche Sozialdemokratie einst und jetzt, Jena 1911. 181 Michels, Corso di sociologia politica, S. 93f, wo Michels die „nocività del numero per la purezza delle idee politiche" erörtert. Vgl. dagegen Kapitel VI. 1.8. zur pluralen Machtstruktur von Michels' »politischer Klasse' vor dem Krieg. 182 Italien von heute, S. 220. 183 Michels, Corso di sociologia politica, S. 93: „Di sua natura, il dominio dell 'élite sarà franco, chiaro, concreto, diretto. Vélite non esercita la sua funzione per il tramite di tortuosi intrighi e di ,corridoi', cari ai regime maggioritari e democratici, fatalmente ligi a mancanza di chiarezza, a tentennementi, ad indecisioni ed a compromessi sciocchi ed insulsi, ma si afferma invece colla presa in possesso monopolistica del potere centrale." 184 Vgl. die entsprechenden Ausführungen zu Soziologie, Genese und Programmatik des Faschismus. 185 „dato il sistema totalitario che il fascismo tende ad instaurare, sarà nel seno stesso del fascismo che tenderanno a risorgere i conflitti che non si possono manifestare per altre vie."; zit. n. Renzo de Felice, Mussolini il fascista. La conquista del potere 1921-1925, S. 113.

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Außerdem läßt sich ebenfalls aus Michels' eigener Darstellung deutlich ableiten, daß auch der Faschismus seine massendemokratischen Schlacken hat und sich sein elitärer Anspruch nur schwer den Tendenzen des demokratischen Zeitalters entziehen kann: das „Gesetz der grossen Zahl" - also das eigentlich nur für demokratische Partien charakteristische Streben nach Massenzuspruch - ergibt sich bereits aus der diplomatischen „Zweckmäßigkeit, den demokratischen Regierungen Europas gegenüber auf den Konsens der Massen hinweisen zu können."186 Michels verdrängt derartige Einsichten in den massendemokratischen Gehalt auch der modernen Diktatur sowie ihrer intransparenten, dadurch aber nicht weniger heftigen Gruppenkämpfe, sobald er gewissermaßen ,das ganz Andere' des Faschismus zu zeigen sucht und ihm eine elitentheoretische Begründung gibt, die von allen elitesoziologischen Realitäten abstrahiert. Dazu zählt seine These, durch periodische Säuberungen der Parteiorganisation würde der ursprüngliche Elitecharakter regelmäßig wiederhergestellt werden. Ein Leitbegriff des späten Michels in diesem Zusammenhang ist „Entmassung": er vergleicht die faschistische Elite mit einer Zieharmonika, die sich zusammenzieht, um im numerus clausus ihre Reinheit zu bewahren, und sich hin und wieder öffnet, um sich den „Konsensus" der Massen zu sichern. Der Konsensus wird dadurch hergestellt, daß der Regierungschef sich öffentlich exponiert, während die Masse „frenetisch Beifall klatscht und so der tiefen Stimme des eigenen [...] Unterbewußtseins antwortet."187 „Die Vereinigung der Meinungen", kommentiert treffend Frank R. Pfetsch, „erfolgt im unnachprüfbaren Unterbewußtsein, die Kongruenz von Führer und Masse wird aus dem Bereich des Rationalen ins Irrationale verlagert."188 Michels glaubt freilich, hiermit nicht nur normativ, sondern auch empirisch im Trend zu liegen: „Die Herrschfreudigkeit der Jugend und der Wunsch nach, freilich in charismatischem Sinne verstandener, Kompetenz verbindet sich bei vielen Nachkriegsvölkern mit der Sehnsucht nach dem - möglichst nicht silberlockigen - Führer mit junger, begeisterter, durch die Atmosphäre ihres bloßen Daseins mehr als durch offenbarte Willensäußerungen, also mehr durch Stimmung als durch Stimme mitentscheidender Gefolgschaft." 189 Implizit das Verhältnis der Massen zum Führer als libidinös begreifend, vergleicht Michels das Führerverhalten mit weiblicher Koketterie. Er dürfe sich der Masse niemals

186 Italien von heute, S. 218-219. 187 Michels, Corso di sociologia, S. 99: „il Capo del Governo parla e traduce in forma nuda, lineare e lampante cotesta sua nuova consapevolezza, contenente i propositi della moltitudine, mentre questa stessa freneticamente acclama, rispondendo alla voce profonda della propria coscienza, o perlomeno, diremo noi, di quella, anche più profonda, della propria subcoscienza." 188 Frank R. Pfetsch, Politisches Handeln und Reflexion Bd. 2: Theoretische Dimension des Politischen, Dannstadt 1995, S. 53. 189 Michels, Umschichtungen in den herrschenden Klassen nach dem Kriege, Stuttgart 1934, S. 102.

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hingeben, sondern müsse ihr im Sinne der politischen Hygiene nur die Illusion geben, daß er ihr gehört. So mache er sich wertvoll und unverzichtbar.190 Führerkult und Heldenverehrung sind in Michels' Darstellung geradezu eine Tugend der faschistischen Gefolgschaft. Irritierend ist dabei, daß doch ausgerechnet der Führerkult wiederum zu Michels' wesentlichen Kritikpunkten an der Demokratie zählt. Das gilt für die Parteiensoziologie, aber erstaunlicherweise auch für sein Spätwerk. Als er nämlich 1930 die Verdienste der liberalen Demokratie um den italienischen Nationalstaat bilanziert und, wie bereits oben erwähnt, der pauschalen Demokratieverachtung der Faschisten deutlich widerspricht, zählt er zu den letztlich gegen die Demokratie sprechenden Defiziten ausgerechnet den „Führerkult". Mit Blick auf das ohnehin erst 1913 eingeführte allgemeine und gleiche Wahlrecht für Männer resümiert Michels: „Der Führerkult wucherte weiter und heftete sich nicht nur an die Würdigen, sondern an zu viele, unter denen manche Nieten waren."191 Nach der Kritik der mangelnden Dezisionsfahigkeit der Demokratie und ihrer massendemokratischen Dimension ist dies das dritte Argument gegen die demokratische und für die charismatische' Ordnung: die Qualität der Führerauslese. Daß in der Demokratie „Nieten" zumindest theoretisch in regelmäßigen Abständen abgewählt werden können, unterschlägt Michels dabei ebenso wie die Frage, wie sich das italienische Volk vor der Regierung durch eine faschistische Niete schützen könnte. Das Zitat ist symptomatisch für Michels' Absage an ein Wesensmerkmal politischer Liberalität: den Elitenpluralismus. Dieser, also das Ringen der Gruppen und Oligarchen um die Macht, war und ist für den Soziologen des Parteiwesens ein Kennzeichen demokratischer Ordnungen, durch die Erfahrungen der Nachkriegszeit aber offensichtlich auch ihr größter Makel. Denn gerade die Ausschaltung der ständigen Konkurrenz von „zu vielen" Führeraspiranten unterschiedlicher Parteien ist Michels zufolge die unabdingbare Voraussetzung dafür gewesen, daß in Italien die faschistische Stabilisierung und Erneuerung nach dem Krieg überhaupt gelingen konnte. Die nationale Palingenese wäre dem Faschismus unter den Bedingungen der pluralistischen Demokratie offensichtlich nicht möglich gewesen, wie Michels gegenüber dem U.S.-amerikanischen Publikum erklärt: „Democracy seemed to fascism dangerous to this effort, because it was unstable, discontinuous, quarrelsome and sapping the possibility of arriving promptly at decisive judgements (conclusions)."192 Damit wird auch deutlich, daß die Präferenz für die Diktatur bei Michels aus einer zeittypischen Demokratieskepsis herrührt: ihrem vermeintlichen Mangel an Stabilität und ihrer Neigung zum Parteienstreit ohne greifbare Ergebnisse. Demgegenüber steht der Faschismus für das Idealbild einer „straffen und zielfahigen Diktatur".193 Umgekehrt heißt das, Michels' Option für den Faschismus resultiert nicht aus einer tieferliegenden Leitidee von der identitären und damit in der Konsequenz totalitären 190 Michels, Corso di sociologia politica, S. 99-100. 191 Michels, Italien von heute, S. 208. 192 Michels, The fourth Italy of Mussolini, Manuskript, ARMFE. Im Original ist „conclusions" als handschriftliche Korrektur über Judgements" eingetragen. 193 Michels, Italien von heute, S. 352.

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Demokratie. 1 9 4 Die in den 20er Jahren aufkommende geistesgeschichtliche Mode einer .demokratischen' Interpretation des Faschismus im Sinne Carl Schmitts, 1 9 5 der in der Akklamation ein Sinnbild der Identität von Regierenden und Regierten erblickt, lehnt Michels unmißverständlich ab: „Wenn dann Beckerath, unter Rückgriff auf Schmitt und andere, sich nicht scheut, das faschistische System für die Demokratie in Anspruch zu nehmen, scheint er mir jedoch dem Begriff Demokratie Gewalt anzutun, dem eine jahrhundertealte Geschichte eine eindeutig andere Bedeutung gegeben hat." 196 Darin drückt sich immerhin noch ein Respekt aus ehemaliger Verbundenheit vor der demokratischen Idee aus. Gleichzeitig aber auch eine dezidierte Abgrenzung, da die vermeintlichen Vorteile des Neuen auf keinen Fall durch die Verquickungen mit dem Alten kompromittiert werden sollen. Denn im Vergleich mit dem Führerkult in Demokratien sieht Michels die Voraussetzung für den Erfolg des faschistischen Führerkults gerade in der antidemokratischen Verknappung des Angebots auf eine Person. Der „fascistische Plan der Umgestaltung Italiens als Staatsorganismus sowie als Volksseele schien gebieterisch Alleinsein und Ungestörtheit zu erheischen. Wie sollte ein so

194 Der Begriff geht zurück auf Jakob L. Talmon, The Origins of Totalitarian Democracy, London 1952. 195 Vgl. aber die wissenschaftliche Anerkennung des Michelsschen Hauptwerkes durch Carl Schmitt, der Michels attestiert, mit seiner Soziologie des Parteiwesens für die deutsche Wissenschaft ein „Dezennium des Rückstandes zu kompensieren" (C. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 7. Aufl. Berlin 1991 (=2 .Aufl. 1926), S. 11). Inzwischen ist auch die archivalisch verfügbare Korrespondenz zwischen Schmitt und Michels publiziert und kommentiert worden. Vgl. Piet Tommissen, Robert(o) Michels, Briefpartner von Carl Schmitt, in: ders., In Sachen Carl Schmitt, Wien und Leipzig 1997, S. 83-112. Diese Edition veröffentlicht damit erstmals die beiden Briefe Schmitts von 1923 und 1925 (ARMFE), ergänzt um die zuvor nur in der italienischen Zeitschrift „Behemoth" (2. Jg. Nr.3 1987, S. 45-49) ebenfalls von Tommissen veröffentlichten vier Briefe von Michels. Andreas Dömer sieht die Gemeinsamkeit zwischen beiden Autoren in der philofaschistischen und antiparlamentarischen Adaption der Lehre vom politischen Mythos (Dörner, Politischer Mythos und symbolische Politik, Opladen 1995, S. 41.) Das ist zweifellos richtig. Die Mythen von Führer und Nation sind auch für Michels Instrumente zur Erzeugung von Gefolgschaft, Integration, Begeisterung und darüber vermittelt Innovation. Vgl. Kap. X.5 (Der Bildhauer der Massen). Allerdings zeigen Kap. X.4. (Leitmotiv des fascismo governo) sowie X.6. (Der schöne Schein ...) auch, daß es Michels wohl kaum darum ging, „zivilisatorisch gebundene vitale Energien" (Dörner) freizusetzen, sondern daß sein grundsätzlich an stabiler Ordnung, wirtschaftlicher Prosperität und technischer Modernisierung orientierter Regierungsfaschismus sich der Mythenlehre eher als ein zeitgeistkonformes Ornament der neuen politischen Ordnung unter anderen bediente. 196 Michels, Rezension zu Erwin von Beckeraths „Faszismus"-Artikel im Handwörterbuch für Soziologie, in: Economia, anno IX, Vol. VII, Nr. 6, Juni 1931, Sonderabdruck: „Se poi il Beckerath, sulla scorta dello Schmitt e d'altri, non si perita di vindicare il sistema fascista per la democrazia, esso mi sembra far tuttavia violenza al termine democrazia, alquale una storia più volte secolare ha dato un significato preciso e diverso."

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immenser Plan gelingen können beim Weiterbestand der Nörgelei, bei den Intrigen in Presse und Parlament, dem ewigen Hin und Her der Volksgunst, der öffentlichen Meinung und ihrer ephemeren Meinungsbildungen?"197 Offensichtlich erst unter diesen Bedingungen der Nörgeleireduktion hat Benito Mussolini seine virtuosen Fähigkeiten als Massenführer voll ausspielen können - Michels zufolge mit beachtlichem Erfolg, habe Mussolinis Massenpolitik doch die „Ordnung der Masse"198 hergestellt sowie zu einer Renaissance des italienischen Nationalgefühls geführt. Die Instrumente dafür sind nach dieser Lesart nicht Gewalt und Terror - die Aspekte Einschüchterung und Verfolgung spielen bei Michels nur bis 1922 eine Rolle, nie aber in der Regimephase des Faschismus - sondern eine Mythomotorik bewußt inszenierter, aber um so wirkungsmächtiger Fiktionen gewesen: ähnlich wie bereits vorher der historische Materialismus keiner empirischen Analyse standgehalten, aber dennoch Millionen von Menschen in Bewegung gesetzt habe, habe auch der Mythos von Duce, Staat und Nation gesellschaftliche Gestaltungsmacht erlangt. „Der Mythos", so Michels im Anschluß an Vilfredo Pareto und George Sorel, „wird zur Aktion [.·.] Der Führer ist der Träger des Mythus. Er stellt die Ziele auf und umgibt sie mit dem nötigen theoretischen dekorativen Material."199 Zur Unterkomplexität der ,charismatisch' gewendeten Elitentheorie des späten Michels zählt auch der Totalverzicht auf den Analysebaukasten seiner Parteiensoziologie. Denkt man an die interessanten Einsichten seiner Oligarchietheorie, scheint es, daß Benito Mussolini das „Gesetz der psychologischen Metamorphose" arrivierter Politiker außer Kraft gesetzt habe. In der Syntonie von Masse und Führer verschwinden der intermediäre Parteiapparat, Webers bürokratisches Dispositiv und die daraus resultierenden oligarchischen Gesetze.200 Eine konsequente Weiterentwicklung früherer Überlegungen liegt damit ebenso wenig vor wie ein origineller Neuanfang. Denn ein Vordenker der Massenpolitik wie Le Bon war Michels ja gerade nicht. Vielmehr hat er seine massentheoretischen Überlegungen erst nachträglich unter dem Eindruck des bereits an die Macht gekommenen Faschismus auf ein diskurstypisches Format gebracht, das andere vor ihm entwickelt hatten. Seine 1926 erschienene „Psychologie der antikapitalistischen Massenbewegungen"201 hat über weite Strecken nur enzyklopädischen Wert und zeichnet sich gerade durch die Abwesenheit eines systematischen Theorieanspruchs in puncto Massen- und Führersoziologie aus. Sie unterstreicht allerdings Michels' definitiven Abschied von seiner einstigen „sozialen Pädagogik" zugunsten einer „psychoanalysis in reverse" (Leo Löwenthal), einer umgekehrten Psychoanalyse, die nicht an der Aufklärung massenpsychologischer Pa-

197 Michels, Italien von heute, S. 224. 198 Michels, Rezension zu Theodor Geiger, Die Masse und ihre Aktion, in: Archiv für Rechtsphilosophie, Bd. XXI, S. 492-93. 199 Michels, Literatur zum Problem der Führer und Massen, in: Zeitschrift für Politik, XXII. Band, Heft 7, S. 482-484, S. 484. 200 Vgl. Giuseppe Panella, Origini e caratteri del fascismo italiano nell'analisi di Roberto Michels, in: Faucci (Hg.), Michels: Economia - Sociologia - Politica, a.a.O., S. 135-162. 201 Im Grundriss der Sozialökonomik, Abt. IX, Teil 1, S. 241-359, Tübingen 1926.

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thologien interessiert ist, sondern diese als Ressource der Lenk- und Mobilisierbarkeit affirmiert und herrschaftstechnisch funktionalisiert. Michels' Massenpsychologie folgt dabei weitgehend der Unterscheidung Vilfredo Paretos von „Residuen" und „pseudologischen Derivationen".202 Als Residuen werden die Gefühle, Begierden, Instinkte und Leidenschaften bezeichnet, die gegenüber allen denkbaren Motiven kollektiven Handelns priorisiert werden. Die Derivationen sind dagegen nachträgliche Rationalisierungen des Triebgesteuerten: Argumente, Gedanken, Ideen. In diesem Sinne wird auch die Solidarität antikapitalistischer Massenbewegungen über die Wirkungsmechanismen emotionaler Ansteckung erklärt - und nicht mehr, wie beim frühen Michels etwa zwanzig Jahre zuvor, als Ausdruck soziomoralischer Orientierungen und relativen Wohlstandes.203 Weitere Charakteristiken der Massenpsychologie, aus denen eine massenpolitische Konsequenz im Sinne der oben skizzierten Mythenpolitik gezogen wird, sind: die Vereinfachung von Ideen und Bildungsgütern bis zur Unkenntlichkeit und ihre Überführung in einfachste Bilder aufgrund der Massenneigung zu unkomplizierten Sinnbildern, zu Fahnen und Farben, „dekorativem Material" wie Uniformen, Anzüge, Embleme, und sinnlichen Reizen wie musikalischen Rhythmen. Michels' philofaschistische Auslassungen zur Massenpolitik bleiben herrschaftstechnisch auf der Ebene der Suggestionierung stehen, mit der sich der Führer Zugang zum Unterbewußtsein verschafft. Die neomachiavellistische Massenpolitik eines Enrico Leone, wonach den Massen von Zeit zu Zeit das Dasein der Staatsführung durch die staatliche Gewaltanwendung ins Bewußtsein gebracht werden muß, hat Michels abgelehnt und als „bodenlose Verteidigung polizeilicher Massenmorde" bezeichnet.204 Das mag hinsichtlich der moralischen Position des Autors interessant sein. Theoretisch indes sind Michels' späte Schriften gegen eine staatsterroristische Eskalation nicht immun. Einhergehend mit einer für einen Organisationssoziologen erschreckenden institutionstheoretischen Indifferenz ist auch die Frage nach minimalen rechtsstaatlichen Garantien fur den einzelnen gänzlich suspendiert. Die Kategorie des „Vertrauens" in die Kompetenz des Führers hat den Gedanken der Kontrolle verdrängt. Robert Michels' ganz persönlicher charismatischer Führerglaube steht so auch exemplarisch fur die Auflösung liberaler bürgerlicher Kultur in den zwanziger Jahren.

202 Michels, Psychologie der antikapitalistischen Massenbewegungen, in: Grundriss der Sozialökonomik, Abt. IX/ Teil 1, S. 241-359; S. 331. 203 III.2.1. Neue soziale Bewegungen: das zivilgesellschaftliche und das sentimentale Paradigma. 204 Michels, Literatur zum Problem der Führer und Massen, a.a.O., S. 483.

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X. Robert Michels und der italienische Faschismus

6. Der schöne Schein der zwanglosen Konsensdiktatur: zur zeitgenössischen Attraktivität und Repräsentativität von Michels' Faschismusbild „In den Republiken liegt die Korruption am offensten zu Tage, am widerwärtigsten wohl in den United States. Aber bitte: es ist zu betonen zu Tage. Es ist nicht gesagt, das in den Monarchien weniger Korruption herrscht. Nur nimmt sie dort andere, verstecktere Formen an [...]" (Robert Michels, um 1906) 205

Der zeitgenössische Abgesang auf den politischen Liberalismus im politischen Denken der 20er Jahre exemplifiziert sich in Michels' Reflexionen dort, wo er glaubt, die negativen Schutz-, wie auch die positiven Teilhabefreiheiten als Verhandlungsmasse in einem Tausch mit den Prosperitäts- und Stabilisierungsversprechen der Diktatur einsetzen zu können. Der Verlust der freiheitlichen Grundrechte bei diesem Geschäft ist auch für Michels zweifellos ein Verlust: „Für die Errungenschaften des Fascismus", resümiert er 1930, „musste somit ein teurer Preis bezahlt werden: das Recht des einzelnen auf freie Meinungsäusserung in Staat und Gesellschaft, Presse und Parlament". Gleichzeitig wird dem Leser aber suggeriert, daß dieser Preis keineswegs zu hoch gewesen sei angesichts eines „nun bereits im neunten Jahre stehenden kollektiven Enthusiasmus" und „Optimismus" sowie eines nunmehr „in weiten Massen" verankerten Maßes an „Staatsgläubigkeit, Staatsvertrauen und Staatstreue". Dem Faschismus sei die „freiwillige Unterordnung der Persönlichkeit unter das Interesse des Staatsganzen" gelungen - und dies sei nicht zuletzt ein Verdienst seiner Führung, da „Mussolini und viele aus seiner Umgebung mit ihrer treuen Arbeitsamkeit, die sich beim Duce selbst bis in Unglaubliche steigert", hier als Vorbilder gewirkt hätten. Es ist nicht nur Propaganda, mit der hier die Beerdigung des Liberalismus gerechtfertigt wird; es ist auch Naivität, wenn Michels gleichzeitig in Bezug auf die gleichgeschaltete öffentliche Meinung in Italien die Hoffnung äußert, der Faschismus könne ruhig ein wenig liberaler werden: „zu hoffen steht, dass die Monotonie und Unvollständigkeit der heutigen Presse bald einer größeren Beweglichkeit Platz macht, zumal die Staatsautorität kräftig genug sein dürfte, den dadurch entstehenden Problemen die Stirn zu bieten." 206 Mit einer angesichts der realen Verhältnisse in Russland noch erschreckenderen Gutgläubigkeit hat Michels übrigens auch die Propaganda des politischen Gegners für die Realität genommen: „Man wird übrigens zugeben müssen", schreibt Michels 1930, „dass

205 Loseblattfimd in den Appunti di Roberto Michels, ARMFE. 206 Michels, Italien von heute, S. 224-225 [kursiv von mir].

X.6. Der schöne Schein der zwanglosen Konsensdiktatur

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ein ebenso langanhaltender Enthusiasmus auch im bolschewistischen Russland das Volk beseelt [...]·" 207 Daß Michels das Gefahrenpotential der neuen antidemokratischen Massenbewegungen völlig übersieht, mag daran liegen, daß sein Fokus in erster Linie auf Italien gerichtet ist208 und er zuweilen die deutsche Variante in offiziellen Schriften herrschaflstypologisch als eine Kopie des italienischen Originals präsentiert.209 Allerdings kommt Michels in seinen Reiseberichten an den Duce bereits im Februar 1933 auf den Antisemitismus der Nationalsozialisten und auf eine drohende Entrechtung der deutschen Juden zu sprechen. Fazit: „Der Hitlersche Antisemitismus ist nicht eines Volkes würdig, das auf einer zivilisatorischen Höhe steht wie das deutsche."210 Die Täuschung über den wahren Charakter bzw. die potentiellen Abgründe der charismatischen Führerdikaturen faschistischer Provenienz hat bei Michels einen tieferen Grund in der Annahme, es sei im 20. Jahrhundert auch außerhalb demokratischer Verfahren ein Herrschaftskonsens möglich, der auf die permanente Androhung von Gewalt verzichten könnte. Einen derartig zwanglosen Herrschaftskonsens suggeriert Michels ja mit seiner oben skizzierten Konsensustheorie. Diese tut im übrigen nichts anderes, als die in der „Soziologie des Parteiwesens" bemängelten massenpsychologischen Herrschaftsmittel ins Positive zu wenden. Was in der Demokratie ein Skandal war - die frenetisch applaudierende hochemotionalisierte Masse im heroworship-Fieber - das ist nunmehr die Lösung des Problems der Herrschaftslegitimation im Faschismus. Mit seiner völlig umgekrempelten Elitentheorie fallt Michels aber auch hinter die ,machiavellistischen' Einsichten in das grundsätzliche Machtstreben aller sozialen und

207 Michels, Italien von heute, S. 225, Anmerkung 4. Freilich ist eine derartige Beschönigung Ende der 20er Jahre gerade im antikommunistischen Bürgertum nichts außergewöhnliches. Von Konrad Adenauer gibt es ähnliche Äußerungen. Vgl. Heinz Brahm/Valerij Ljubin, Ein unbekannter Adenauer, FAZ Nr. 213, 13.9.2005, S. 10. 208 Zu ganz großer Beunruhigung mag der italienische Faschismus in seiner Regimephase ab 1925 bis zumindest 1935 freilich auch allenfalls theoretisch, aber kaum praktisch Anlaß gegeben haben. So ist in der Forschung zum italienischen Faschismus die gängige Identifizierung von Faschismus und Terror erheblich relativiert worden. „Zwischen 1926 und 1943 trug die faschistische Gewalt [...] keine brutalen Züge, sie war geschmeidig, väterlich fürsorglich oder ermahnend und arbeitete mit korrumpierenden Mitteln", so das Urteil von P. Melograni, das laut Jens Petersen auch in Eingang in ,linke' Interpretationen gefunden hat. Vgl. das Referat von J. Petersen, in: Kolloquien des Instituts für Zeitgeschichte, Der italienische Faschismus. Probleme und Forschungskontroversen, München 1983, S. 32. Petersen stellt zudem fest, daß der italienische Faschismus vielfach allzu mechanisch und oberflächlich über den nationalsozialistischen Leisten geschlagen werde (S. 33). 209 1934 wird er Deutschland und Italien lapidar als „faschistische Staaten" von den „noch [!] von der Demokratie regierten Ländern" unterscheiden und als das Wesensmerkmal der neuen faschistischen Staaten hervorheben: die „Hebung der Staatsmacht". Michels, Umschichtungen in den herrschenden Klassen, a.a.O., S. 120. 210 Roberto Michels, Relazione fatta al Duce, dopo un viaggio in Germania, dall'I 1 al 28 febbraio [geschrieben um den 10. März 1933], in: ARMFE: „l'antisemitismo hitleriano non è degno di un popolo così altamente civile come il popolo tedesco".

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X. Robert Michels und der italienische Faschismus

politischen Gruppierungen zurück, die ihm einst seine soziologische Sozialisation im Kontext der klassischen Elitentheorie gewiesen hatte. Über die Aponen seiner philofaschistischen Elitetheorie hätte Michels seinerzeit bei dem mit ihm bekannten211 Liberalen Ludwig Mises Auskunft erhalten können. Mises hätte zwar Michels' Rede von den vielen „Nieten" unter den demokratischen Nachkriegspolitikern zugestimmt,212 er hätte wohl sogar die Sympathie für den Faschismus in engen Grenzen geteilt, da dessen Eintreten gegen den Kommunismus „für den Augenblick die europäische Gesittung gerettet" habe. Mehr als ein „Notbehelf des Augenblicks" sei der Faschismus aber nicht: „ihn als mehr anzusehen, wäre ein verhängnisvoller Irrtum". Für Mises nämlich ist der Faschismus nicht die Beendigung des Bürgerkrieges, wie Michels glaubt, sondern seine permanente Fortsetzung, weil es für die elitäre Legitimation seiner Herrschaft keine überzeugende Begründung gibt: „Was heißt denn: der Beste oder die Besten? [...] Wer soll darüber entscheiden, wenn nicht die Mehrheit?" „Alle antidemokratischen Lehren" gelangen Mises zufolge aufgrund dieser Aporie notwendigerweise „zur Lehre von der Gewalt": „Die antidemokratische Lehre verficht das Recht einer Minderheit, sich mit Gewalt zu Beherrschern des Staates und der Mehrheit zu machen." Für dieses Minderheitenrecht würden pseudomoralische Argumente bemüht: „Die sittliche Rechtfertigung dieses Vorganges liege, meint man, in der Kraft, die Herrschaft wirklich zu ergreifen." Oder man berufe sich auf weltanschauliche und religiöse „Argumente, über die eine Einigung kaum erzielt werden kann." Die Pseudolegitimität der faschistischen Diktatur reduziert sich damit auf die nackte Tatsache der erfolgreichen Gewaltanwendung. Mit diesem Prinzip ist aber Mises zufolge gerade kein Staat zu machen: „Wenn jede Gruppe, die glaubt, mit Gewalt sich zum Herrn der übrigen aufschwingen zu können, berechtigt sein sollte, den Versuch zu unternehmen, dann muß man sich auf eine ununterbrochene Reihe von Bürgerkriegen gefaßt machen."213 Aus Mises' Überlegungen folgt logischerweise, daß es ein vorrangiges Ziel von Diktaturen sein muß, diese Reihung aufzuhalten und mit allen möglichen polizeilichen Mitteln das Entstehen von alternativen politischen Gruppen außerhalb der Organisationen der Staatspartei im Keim zu ersticken. Diktaturen sind quasi Bürgerkriegsverhinderungs-

211 Vgl. Mises' Notiz auf einem Papier des Hotel Plaza Roma vom 21.9.33: „Herr Prof. Michels empfahl mir bei meinem jüngsten Aufenthalt in Wien, ich möge meine Adresse und die Dauer meines Besuchs in Rom ihm melden. Kann nur bis 25.9. bleiben. Prof. Ludwig Mises" (ARMFE) 212 Vgl. Ludwig Mises, Liberalismus, Jena 1927, S. 38: „Da die Menschheit mit so hochgespannten Erwartungen in das Zeitalter der Demokratie eintrat, war es nicht erstaunlich, daß sich bald eine Enttäuschung bemerkbar machte. Man fand unschwer heraus, daß die Demokratie zumindest ebensoviele Fehler begehe als die Monarchen und Aristokraten begangen hatten. Die Vergleiche, die man zwischen den Männern zog, die die Demokratie an die Spitze der Regierung stellte, und jenen, die die Kaiser und Könige aus eigener Machtvollkommenheit an die Spitze gestellt hatten, fielen durchaus nicht zugunsten der neuen Machthaber aus. Der Franzose pflegt zu sagen, die Lächerlichkeit töte. Nun, die Demokratie war durch ihre Staatsmänner überall bald lächerlich." 213 Mises, Liberalismus, a.a.O., S. 38-39.

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agenturen, die immer dem Ausnahmezustand ihrer illegitimen Entstehung verhaftet bleiben. Michels' Erwartung, der Faschismus könne ohne große Probleme die Pressefreiheit zulassen, zeigt, wie beziehungslos seine neue philofaschistische Elitentheorie zur konfliktsoziologischen Theorie und Realität steht. So gibt es in Michels' Faschismusbild auch keinen Zwang. Im Anschluß an Webers Begriff der charismatischen Legitimität spricht Michels vielmehr von der „Legitimität, die auf der freiwilligen und spontanen Unterwerfung der Massen unter eine Regierung von Personen basiert, die mit außergewöhnlichen, angeborenen Fähigkeiten begabt, bisweilen geradezu als übernatürlich betrachtet werden."214 Die Frage nach den Interessenkämpfen innerhalb wie außerhalb der faschistischen Partei ist in diesem weltfremden Modell einer prästabilierten Harmonie des Herrschaftskonsenses suspendiert. Michels' pseudosoziologische Elitentheorie sowie seine pseudoökonomische Darstellung des Korporatismus, die den schönen Schein der politischen Konsensherrschaft auf die Wirtschaftsverfassung überträgt, hat neben ihrer propagandistischen Dimension aber auch eine weitere politisch-mentale Bedeutungsebene, die sich an repräsentative zeitgenössische Trends der politischen Kultur in den .bildungsnahen Schichten' anschließt. Es gibt nämlich genügend Indizien, daß Michels' attraktive Darstellung des Faschismus auf eine weit verbreitete Erwartungshaltung und Sympathiedisposition gestoßen ist, daß sie gerade aus der Bestätigung dieser Dispositionen Glaubwürdigkeit erlangt hat und daß Michels somit zu einer Popularisierung des Faschismus auch in jenen Kreisen der deutschen Intelligenz beigetragen hat, die in den Krisenjahren der Weimarer Demokratie dem Nationalsozialismus zwar ablehnend gegenübersteht, gleichzeitig aber am italienischen Original Gefallen findet und so die Option der Diktatur in Erwägung zieht. Dazu mögen vor allem zwei Dinge beigetragen haben: erstens seine „faktisch gemäßigte Einstellung". Michels ist eben „kein Apologet nackter Gewaltanwendung".215 Was er vom Faschismus erwartet, steht unter dem Primat der Normalisierung und Stabilisierung. Zweitens ist es Michels' sukzessive Annäherung an die neuen faschistischen Realitäten in Italien, die seinen Schriften - vor allem den deutschsprachigen mit eher gegenwartsgeschichtlichem als theoretischem Anspruch - den Schein der Objektivität verleiht. Michels ist ja, wie wir heute wissen, kein ,Faschist der ersten Stunde' gewesen, sondern seine Faschistophilie hat sich erst langsam von einer kritischen Distanz zur offenen Apologie des Regierungfaschismus herausgebildet, den Michels als Beendiger des gewalttätigen Bewegungsfaschismus präsentiert. 1919 fühlt er sich, wie oben gesehen, noch zum informellen Sprecher des liberalen Ministerpräsidenten Nitti berufen und bezieht noch 1921 den Faschismus wie auch Mussolini selbst in seine Abwehr214 Michels, Corso di Sociologia politica, a.a.O., S. 96: „[...] legittimità di carattere detto carismatico, vale a dire dalla legittimità basata sulla sottomissione spontanea e volontaria delle masse al governo di persone dotate di qualità congenite straordinarie, ritenute talora addiritura soprannaturali [...]." 215 Jens Petersen, Der italienische Faschismus, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 55/56 (1976), S. 315-360, S. 339.

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X. Robert Michels und der italienische Faschismus

haltung gegenüber den Extremen von links und rechts ein. Im Dezember 1922 erscheint die Broschüre über den „Aufstieg des Faschismus" mit ihrer positiven Zwischenbilanz zum Regierungswechsel, aber auch der deutlichen Distanzierung, selbst den Fascisten nicht anzugehören. Gut ein Jahr später wird Michels die ersten finanz- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen der neuen Regierung in sein positives Resümee einfließen lassen und dennoch einschränkend formulieren: „[...] so wird der Fascismus, obgleich er sich auf verschiedenen Gebieten bereits über alles Erwarten gut bewährt (auf anderen wiederum durch fremde und eigene Schuld bisher versagt) hat, sich über seine staatspolitische Qualifikation erst noch ausweisen müssen." 216 Als Michels schließlich 1930 dem Leser eine regelrechte Erfolgsgeschichte des Faschismus präsentiert, wird er gleichwohl dessen „Übertragung auf einen modernen Großstaat" für „nicht wünschbar" erklären.217 Mit derartigen Vorbehalten hat sich Michels immer wieder neben das Phänomen gestellt und seiner Darstellung einen neutralen und wissenschaftlichen Anstrich gegeben. Michels schreibt nicht wie ein Parteipropagandist. Seine Propaganda steht in der Kontinuität seiner Italienberichterstattung in der Schweizer Presse und ist subtil. Sie äußert sich, einmal abgesehen von seiner anwachsenden Mussolini-Verherrlichung, eher im Verschweigen und Auslassen von Störendem, im euphemisierenden Zudecken sowie im gelegentlichen Üben einer kritiklosen Pseudo-Rritik, die in ihrer allgemeinen, unkonkreten und ungenauen Formulierung dem neuen italienischen Regime gewiß nicht wehtut, dafür aber den Eindruck der Ausgewogenheit zu erzeugen vermag. Propaganda liest sich anders. Aber möglicherweise hat der besondere propagandistische Effekt von Michels' Faschismusschriften seinerzeit gerade in dieser pseudoneutralen, rein wissenschaftliches Interesse suggerierenden und oft distanzierten Perspektive bestanden, zumal Michels' Arbeiten auch noch höchst informativ gewesen sind, wie wir zweifellos auch sehen konnten, und differenzierte Einblicke in eine neue soziale Bewegung und die dazugehörige politische Folklore vermitteln, welche sich den gängigen, etwa an der Arbeiterbewegung angewandten Analysemustern entzieht. Juan J. Linz hat diese Ambivalenz der Michelsschen Faschismusarbeiten als eine „Mischung aus Objektivität und Oberflächlichkeit, aus Sympathie und Widersprüchen" charakterisiert. 218 Auch Giuseppe Panella muß bei aller Kritik konstatieren: „Die Bücher und Aufsätze, die Michels zwischen 1925 und 1934 geschrieben hat, [...] demonstrieren von seiner Seite den deutlichen Willen zur Analyse der konkreten Situation und den

216 Michels, Elemente zur Entstehungsgeschichte des italienischen Fascismus, in: ders., Sozialismus und Fascismus in Italien, München 1925, S. 251-323, S. 323. Entgegen der Angabe im Inhaltsverzeichnis („1922") stellt dieser Text die 1924 erschienene Überarbeitung und Ergänzung der Frühversion von 1922 dar: Michels, Der Aufstieg des Fascismus in Italien, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 52, Heft 1, S. 61-93. 217 Michels, Italien von heute, a.a.O., S. 371. 218 Juan J. Linz, Michels e il suo contributo alla sociologia politica, a.a.O., S. XXXII: „un misto di obiettività e superficialità, di simpatia e contraddizioni".

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aufrichtigen Wunsch, der Welt das ,wahre' Gesicht des Faschismus an der Macht zu zeigen."219 Ähnlich kritisiert Jens Petersen zwar die Selektivität, die falschen Voraussetzungen und die darauf basierenden verfehlten Prognosen von Michels' Faschismusbild, konstatiert aber gleichwohl, daß seine Untersuchungen „mit ersichtlichem Bemühen um Objektivität" geschrieben worden seien. Diese Orientierung an Maßstäben der Objektivität, ob bloß rhetorisch und plakativ sei dahingestellt, sowie das aus allen MichelsSchriften hervorgehende „konservativ-normalisierende Bild" vom Faschismus haben Petersen zufolge eine enorme publizistische Wirkung gehabt: sie „haben indes nicht unbeträchtlich dazu beigetragen, liberal-konservativen Teilen der deutschen Öffentlichkeit in den Endjahren der Weimarer Republik den Übergang zu philofaschistischen Positionen zu erleichtern."220 Dies bestätigen auch Dirk Käsler und Thomas Steiner in einer Studie über soziologische Analysen des Faschismus vor 1933: Michels' Arbeiten seien in Deutschland „very seriously" genommen und Michels selbst „as an expert in this area" betrachtet worden. Den beiden entgeht auch nicht Michels' bewußte Popularisierungsstrategie, die sie etwa an „Italien von heute" festmachen, das sich, erschienen als 5. Band in einer Reihe über den Aufbau moderner Staaten, an eine breitere politisch interessierte Leserschaft richtete: „Michels tried to reach a broader audience and succeeded."221 Der publizistische Einfluß von Michels auf die Faschismusrezeption der Weimarer Republik wäre eine eigene Untersuchung wert. Denn Michels hat nicht nur die von uns zitierten Hauptwerke in Deutschland publiziert, er hat auch darüberhinaus in deutschen Wochen- und Tageszeitungen das neue Italien populärwissenschaftlich aufbereitet. Er hat, wie schon oben erwähnt, auf besonderem Wunsch von Politikern wie Adenauer Vorträge in Deutschland gehalten und - ein weiterer Beleg für Michels' Interesse, seine Botschaften in populären Medien zu piazieren - allein 1928 sieben Auftritte im Radio Köln gehabt.222 Seine Studien sind in Besprechungen und Zitaten weiter verbreitet worden223 - überwiegend mit anerkennenden Worten, wobei Journalisten weitaus kritischer 219 Panella, Origini e caratteri del fascismo italiano ..., a.a.O., S. 136: ,,i volumi ed I saggi che Michels scrisse tra il 1925 ed il 1934 [...] dimostrano da parte sua una lucida volontà di analisi della situazione concreta ed un sincero desiderio di mostrare al mondo il ,vero' volto del fascismo al potere." 220 Petersen, der italienische Faschismus aus der Sicht der Weimarer Republik, a.a.O., S. 343. 221 Dirk Käsler/Thomas Steiner, Academic Discussion or Political Guidance? Social-scientific analyses of fascism and National Socialism in Germany before 1933, in: Stephen P. Turner/Dirk Käsler (Hg.), Sociology responds to Fascism, a.a.O., S. 89-126, S. 95. 222 Hinweise auf Michels' Radiokonferenzen im ARMFE. Leider war meine Suche nach eventuell erhaltenenen Aufnahmen vergeblich. 223 „Italien von heute" wurde zum Beispiel rezensiert von Georges Bourgin, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 92, 1932, S. 300-302; von Christian Eckert, in: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie, Bd. 10, 1931, S. 240-248; Friedrich Vöchting, in: Schmollers Jahrbuch, Bd. 55, 1931, S. 109-120; R. Wichterich, in: Zeitschrift fur Politik, Bd. 21, 1932, S. 353-356. „Sozialismus und Faszismus" wurde u. a. rezensiert von Rudolf Heberle, in: Archiv für Rechtsund Wirtschaftsphilosophie, Bd. 19, 1925/26, S. 332-333; E. Tatarin-Tarnheyden, in: Archiv für

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mit Michels umgingen als seine Kollegen aus der wissenschaftlichen Intelligenz. Exemplarisch für Michels' Rezeption in der politikwissenschaftlichen Szene der Weimarer Republik seien hier die Worte des Herausgebers der „Zeitschrift für Politik", Adolf Grabowsky, über das Buch „Italien von heute" zitiert: „Es ist [...] wahrhaft erlebt, es ist seinem Gegenstand nahe, es gibt auch eindrucksvoll die Entwicklung bis hin zum Faschismus, die der Verfasser seit 1900 beobachtet hat."224 Für Petersens Hinweis, daß Michels' Darstellung des Faschismus gerade auf Leser attraktiv gewirkt hat, die mit dem Nationalsozialismus nichts anfangen konnten, spricht Michels' Trennung zwischen dem italienischen Faschismus einerseits und dessen „reaktionären Freunden" in Europa andererseits sowie seine Überzeugung von einer Wahlverwandtschaft zwischen Faschisten und Antinationalsozialisten: „wie viel deutsche Demokraten und Sozialdemokraten verabscheuen den italienischen Diktator nicht nur aus Abscheu gegen eine eventuelle Diktatur Hitlers, Ludendorffs oder Hugenbergs!" Der Faschismus habe „im Auslande das Unglück, viele reaktionäre Freunde zu haben. Denn die Reaktionäre sind unbekehrbar. Sie vermögen nicht zu sehen, dass der Fascismus nicht schlechterdings reaktionär ist. [...] Es ist wahrscheinlich, dass wenn [...] Mussolini in Paris oder Berlin herrschen sollte, viele seiner gegenwärtigen dortigen Bewunderer von ihm abfallen, dafür aber vielleicht viele seiner jetzigen Feinde zu ihm übergehen würden."225 Michels bedient damit ein Bild, das insbesondere in der katholischen Kirche und im politischen Katholizismus weit verbreitet ist und auch von demokratischen Zentrumspolitikern wie Brüning gepflegt wird: „Gerade weil man Hitler ablehnte, konnte man sich für Mussolini begeistern."226 Dieser Befund gilt aber nicht nur für das katholische Lager: „Bis weit in das gebildete Bürgertum hinein", so Wolfgang Schieder, „läßt sich für die zwanziger Jahre eine deutlich politisch akzentuierte Parteinahme für den italienischen Faschismus nachweisen".

Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 55, 1926, S. 822-826; Z. Anton, in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, Bd. 12, 1926, S. 465-468; Oda Olberg, in: Die Gesellschaft Bd. 2, 1925, S. 588-589. 224 Nachwort zur o. g. Besprechung von Richard Wichterich, a.a.O., S. 356-360, S. 360. Der sachlichen folgt noch eine persönliche Einschätzung: „aber es [das Buch] vermittelt auch die Vorstellung von der tragischen Natur des Autors, der sich von seinem Vaterland fortgekehrt hat, um anderswo zwar zu leben, zwar zu erkennen, zwar mitzufühlen, aber doch eigentlich unbehaust zu sein, und das versöhnt am Ende wieder ehrlich und aufrichtig mit Roberto Michels." 225 Italien von heute, S. 371. 226 Wolfgang Schieder, Das italienische Experiment, a.a.O., S. 96

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Für diese These sprechen Zeitschriften wie die von Werner von der Schulenburg herausgegebene „Italien", eine Kulturzeitschrift, die faschismusfreundliche Aufsätze abdruckt und in die er auch Robert Michels veröffentlicht.227 Ein anderes Beispiel von vielen ist die vom Sozialpädagogen und Pazifisten Friedrich Wilhelm Foerster herausgegebene „Zeit", die ihre Spalten fur Michels' Propaganda der faschistischen Arbeitsverfassung öffnet. 228 Foerster ist ein schillerndes Beispiel für die ambivalente Wahrnehmung von NS und Faschismus in bildungsbürgerlichen Schichten: Denn Foerster ist seit seinen antimilitaristischen bzw. antideutschen Aktivitäten im Ersten Weltkrieg für die neue deutsche Rechte praktisch vogelfrei und lebt aus existentiellen Gründen nicht in Deutschland, sondern in Paris.229 Und Foerster ahnt vielleicht als einer der ersten in der ausgehenden Schönwetterphase der Weimarer Demokratie den Aufstieg des Rechtsextremismus. Über die „Proportion der politischen Kräfte in Deutschland" schreibt er am 26.9.1929 an Michels: „wir haben eine numerische und eine dynamische Majorität das Ausland lässt sich immer durch die erstere düpieren und baut darauf eine ganz falsche und optimistische Politik auf."230 Sensibel für die seismographischen Veränderungen im deutschen Elektorat einerseits, hat Foerster andererseits aber Michels den oben zitierten Artikel in durchaus philofaschistischer Absicht angeboten, nämlich eine „Betrachtung - aus dem Ganzen Ihres Buches231 heraus - über die europäische Bedeutung des fascistischen Experimentes in der Arbeiterfrage" zu schreiben: „ich meine eine Verteidigung gegen die auf Unkenntnis beruhende Anklage der europäischen Linkskreise". Foerster wirbt dabei mit der „grossen Auflage" seiner Zeitschrift.232 Noch am Ende der Ära Brüning berichtet Foerster Michels von einer nahenden Kanzlerschaft von Schleichers sowie von den konservativen Einbindungsstrategien gegenüber Hitler („die Militärs werden ihn unter dem Daumen halten und die eigentlichen Regenten bleiben"), begründet gleichzeitig aber - seltsam losgelöst von seiner Warnung vor der drohenden nationalsozialistischen Machtbeteiligung - die positive Bedeutung einer mitgesandten Projektskizze mit ihrer faschismusfreundlichen Ausrichtung: „Ich habe das Gefühl, als läge das Ganze gerade dem faschistischen Gedankenkreise sehr nahe."233

227 Michels, Zur Psychologie der italienischen Auswanderung, in: Italien. Monatsschrift für Kultur, Kunst und Literatur, 1. Jg., Heft 2, S. 76-81. 228 Michels, Die italienische Arbeitsverfassung (Carta del Lavoro), in: Die Zeit. Organ für grundsätzliche Orientierung, hg. v. Fr. W. Foerster, Erstes Januarheft 1930. 229 Vgl. zu Foerster sowie zur intellektuellen Beziehung zwischen Michels und Foerster seit der Jahrhundertwende auch unser Portrait in Kapitel IX.9.3. über die pseudoreligiöse Variante des positiven Kriegsschulddiskurses. 230 Brief von Friedrich Wilhelm Foerster an Michels, 26.9.1929, in: ARMFE. 231 Gemeint ist Michels, Sozialismus und Faschismus, a.a.O. oder das im Entstehen befindliche ,Italien von heute'. 232 Brief von F. W. Foerster an Michels, 21.12.1929, in: ARMFE. 233 Postkarte von F. W. Foerster an Michels ohne Datum; Privatarchiv Maria Gallino. Die erwähnte Projektskizze ist dort nicht enthalten.

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X. Robert Michels und der italienische Faschismus

Das von mir gesetzte ,aber' ist unhistorisch. Gegen Hitler zu sein und gleichzeitig von Mussolini und dem faschistischen Experiment angezogen zu werden, ist der Weimarer Intelligenz nicht unbedingt ein Gegensatz und alles andere als fremd. In Wolfgang Schieders bahnbrechender Studie trifft das selbst auf Gegner der Diktatur wie Emil Ludwig und Theodor Wolff zu; beide damals zwei der prominentesten liberaldemokratischen Publizisten der Weimarer Republik, die im Anschluß an ihre Interviews mit Mussolini den italienischen Diktator als „großen Staatsmann", „Mann von der feinsten Höflichkeit" und als „natürlichsten Menschen der Welt" (Ludwig) präsentieren. Das Motiv für den politischen Gesinnungswandel dieser beiden Demokraten ist die Krise der Republik und die dadurch evozierte Suche nach einem vorübergehenden politischen Ausweg in Gestalt eines autoritären Regimes.234 Die deutsche Variante des Faschismus unter Adolf Hitler kommt für die ersehnte autoritäre Lösung freilich nicht in Frage und bei diesem philofaschistischen und antinationalsozialistischen Rezeptionsmuster schließt sich der Bogen von den beiden Linksliberalen zu einem Liberalkonservativen wie dem freundlichen Michels-Rezensenten Adolf Grabowsky: „entgegen dem landläufigen Demokratismus" erkennt er, Grabowsky, „sehr wohl die starken Seiten des Faschismus und seines Führers". Dieser positiven Würdigung des caso italiano folgt dann aber das große Bedauern der deutschen Verhältnisse: „Ja, wäre nur der Nationalsozialismus solche Bewegung! Er ist es schon deshalb nicht, weil Adolf Hitler [...] keine Spur hat von einem Mussolini". Hitler sei nur „der kleine Mann mit pompösem Faltenwurf'. 235 Typisch ist fur diese Rezeption die Präsentation Mussolinis als kraftvollen und heroischen Politikertypus - in der Summe aber vor allem umsichtigen und moderaten Realpolitiker. Das entspricht dem Bild, das Michels seit 1924 vom neuen italienischen Ministerpräsidenten zeichnet. Diese Koinzidenz ist nicht zufällig, sondern steht für einen Trend: das „internationale Prestige des Faschismus in den zwanziger Jahren bis hin zu seinem Sündenfall in Äthiopien 1935".236 Gründe für dieses Prestige sind vor allem die stupende internationale Popularität des Duce selbst237 sowie der Umstand, daß Mussolinis Regime in den Augen des Westens glaubhaft und erfolgreich eine Bastion gegen den Bolschewismus bildet, während die deutschen Nationalsozialisten eher des Protobolschewismus verdächtigt werden. Ein weiterer Grund liegt in dem Nimbus des Korporatismus, als Wirtschaftssystem die Weltwirtschaftsskrise am besten überstanden zu haben. In den USA unter Roosevelt etwa versteht man die eigene staatsdirigistische Politik des New Deal keineswegs - wie dies heute verstanden wird - als sozialdemokratisch', sondern als Adaption des ita-

234 Schieder, Das italienische Experiment, S. 85. 235 Adolf Grabowsky, Nachwort zu: Walter Hagemann, Faschismus als europäisches Problem, in: Zeitschrift für Politik, Bd. 21, 1932, S. 306-318, S. 317. 236 Wolfgang Schivelbusch, Entfernte Verwandtschaft. Faschisten, Nationalsozialismus, New Deal 1933-1939, München/Wien 2005, S. 26. 237 Zum ,Mussolinismus' im demokratischen Ausland vgl. Jens Petersen, Mussolini - der Mythos des allgegenwärtigen Diktators, in: Wilfried Nippel, Virtuosen der Macht. Herrschaft und Charisma von Perikles bis Mao, München 2000, S. 155-170, S. 166f.

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lienischen Modells: der New Deal wird in den 30er Jahren von seinen Urhebern häufig als „economic fascism" bezeichnet.238 Ein wesentlicher Hintergrund dieser positiven Konnotationen des Begriffs im amerikanischen Diskurs ist, daß der Straßenterror des Frühfaschismus zehn Jahre zurückliegt, die liberale Empörung weitgehend verflogen und an ihre Stelle „die Bewunderung für die neue Präzision der Eisenbahnfahrpläne getreten war".239 Dieses geistige Klima findet sich auch bei Robert Michels wieder, der ja ebenfalls in der Modernisierung des Eisenbahnwesens eine der bedeutendsten Leistungen des Regimes sieht.240 Die gewalttätige illegitime Entstehung der faschistischen Diktatur erscheint dagegen ebensowenig wesentlich wie die Frage nach der verdeckten Korruption in der Diktatur. Stattdessen wird von Anfang an - gewissermaßen mit Verkündigung der Carta del lavoro - der Korporatismus zum Verkaufsschlager des neuen Regimes: als ein Modell, das die staatsautoritäre, dafür aber friedliche Entschärfung der sozialen Frage mit enormen Produktivitätsgewinnen zu kombinieren scheint. Dieser für einige Zeit relativ erfolgreiche staatliche Dirigismus stößt gerade in den liberalen Demokratien auf eine in der Krise weit verbreitete Sehnsucht nach Lenkung: „Die individuelle politische Freiheit wollte zwar niemand abschaffen. Wohl aber bestand die Bereitschaft zu umfassender Kontrolle, Planung und Lenkung der Wirtschaft und der Gesellschaft durch den Staat".241 In diesem Sinne wird ein Erwin von Beckerath 1933 vom „Amerikanischen Faschismus" sprechen. Beckerath ist sogar der Meinung, daß Roosevelt eine größere staatliche Kontrolle der Wirtschaft realisiert habe, als dies in Italien und Deutschland der Fall sei.242

Deutungsallianzen: Erwin von Beckerath vs. Hermann Heller Der Kölner Wirtschaftswissenschaftler Erwin von Beckerath ist in der Nachkriegszeit geehrt worden, da er gegen Ende der nationalsozialistischen Diktatur die mit Carl Goerdeler verbündete ,»Arbeitsgemeinschaft" gegründet hat. Gelegentlich auch „Freiburger

238 W. Schivelbusch, Entfernte Verwandtschaft, a.a.O., S. 39. 239 Schivelbusch, Verwandtschaft, S. 37. 240 Vgl. Michels, Der Stand des italienischen Eisenbahnwesens, in: Die Volkswirte, 29. Jg., Nr. 7, 1. Aprilheft 1930, S. 130-132: „Der Fascismus hat seit der Eroberung der Staatsmacht dem Eisenbahnwesen seine besondere Beachtung zugewandt und es unter der ausgezeichneten, energischen und umsichtigen Leitung des Ministers Ciano, eines alten Militärs, auf eine bisher unerhörte Höhe der Pünktlichkeit, Materialaufbesserung und Pflichterfüllung gebracht." Ein unhistorischer, aber in einer Fußnote vielleicht vertretbarer Kommentar: in der DDR geschriebene Berichte über Planerfüllung klingen nicht viel anders. 241 Schivelbusch, Verwandtschaft, S. 38. 242 Erwin von Beckerath, Amerikanischer Faschismus?, in: Ruhr und Rhein, Jg. 14, Nr. 51, 1933, S. 862-865.

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X. Robert Michels und der italienische Faschismus

Kreis" genannt, bildete diese 1943/44 ein geistiges Widerstandszentrum.243 Derselbe Beckerath steht gleichzeitig aber auch für die „Selbstaufgabe des deutschen Liberalismus am Ausgang der Weimarer Republik".244 Beckerath gehört zu den einflußreichsten Faschismusinterpreten seiner Zeit. Unter dem Titel „Wesen und Werden des fascistischen Staates"245 hat er Ende der zwanziger Jahre einen akademischen Verkaufsschlager auf dem Buchmarkt. Wie er Robert Michels mitteilt, liegt das auch daran, daß sein Thema ,en vogue' sei: „Mein Buch über Wesen und Werden dürfte übrigens in absehbarer Zeit ausverkauft sein [...] Dies hängt natürlich damit zusammen, daß das Interesse an den politischen Dingen in Italien zunimmt."246 Beckerath rechnet die vermeintlich objektiven Trends seiner Zeit hoch - wie die Krisenerscheinungen in den parlamentarisch regierten Ländern, den Sieg der bolschewistischen Revolution und die faschistische Machtübernahme in Italien - um zu der Folgerung zu gelangen, daß die Konturen der politischen Ordnung zwangsläufig auf einen „modernen Absolutismus" hinauslaufen und es über die Entscheidung zwischen Faschismus und Bolschewismus hinaus keine dritte Option mehr gäbe.247 Schon 1927 prognostiziert er, daß infolge wachsender wirtschaftlicher und sozialer Spannungen der „autoritäre Staat innerhalb der abendländischen Kulturgemeinschaft Terrain zurückgewinnt".248 „Vom Kapitalismus zum Korporativen Staat"249 lautet für ihn gewissermaßen die Marschroute der Zeit, die zurück zum Primat des Politischen fuhren soll, zu einer „verfaßten Wirtschaft" bzw. zu einer Art Neomerkantilismus: die neue Beziehung zwi-

243 Fritz Hauenstein, Die Arbeitsgemeinschaft E. von Beckerath, in: N. Kloten, W. Krelle, H. Müller, F. Neumark (Hg.), Systeme und Methoden in den Wirtschaftswissenschaften. Erwin von Beckerath zum 75. Geburtstag, Tübingen 1964. S. 55-60. Der Decktitel „Arbeitsgemeinschaft" war ursprünglich die Bezeichnung für die Fraktionsgemeinschaft von Deutschnationalen und Volkspartei im Preußischen Staatsrat bis 1933. Vgl. Joachim Lilla, Der preußische Staatsrat 1921 1933. Ein biographisches Handbuch (= Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien Bd. 13), Düsseldorf 2005. Vgl. dagegen die sehr kritische Bilanz von Wolfgang Schieder, Faschismus für Deutschland. Erwin von Beckerath und das Italien Mussolinis, in: Jansen/Niethammer/Weisbrod, Von der Aufgabe der Freiheit. Politische Verantwortung und bürgerliche Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Hans Mommsen zum 5.11. 1995, Berlin 1995, S. 267-283, S. 282. 244 Jens Petersen, Der italienische Faschismus aus der Sicht der Weimarer Republik, a.a.O., S. 333. 245 Berlin 1927. 246 Brief von Beckerath an Michels vom 5.1.1929, ARMFE. 247 Erwin von Beckerath, Fascismus und Bolschewismus, in: Bernhard Harms (Hg.), Volk und Reich der Deutschen, Bd. 3, Berlin 1929, S. 134-153; ders., Moderner Absolutismus, In: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 25, 1927, S. 245-259. 248 Beckerath, Wesen und Werden des faschistischen Staates, a.a.O., S. 155. 249 So der Titel einer Sammlung von Reden Benito Mussolinis, die Beckerath in seiner Funktion als Leiter des Kölner Petrarca-Hauses (1933-1944) 1936 herausgegeben hat.

X.6. Der schöne Schein der zwanglosen Konsensdiktatur

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sehen Staat und Wirtschaft wird von Beckerath, aber auch von anderen einschlägigen Autoren nämlich als „Merkantilismus" beschrieben.250 Beckerath geht es darum, möglichst,unvoreingenommen' die wirtschaftspolitischen Innovationen des italienischen Modells herauszuarbeiten: „Ich denke, es wäre wichtig, ein Buch über die Realität des Stato corporativo zu schreiben, wovon wir schon in Köln sprachen."251 Seine ,Unvoreingenommenheit' geht indes so weit, daß er auf mögliche Defizite des Faschismus so gut wie gar nicht zu sprechen kommt. Wie auch Robert Michels spielt Beckerath etwa das Moment des politischen und ökonomischen Zwangs beim Aufbau des Korporatismus herunter, macht die Kluft zwischen der Arbeitsverfassung „Carta del lavoro" auf dem Papier und in der Praxis kaum zum Thema und übernimmt bei der Frage der faschistischen Herrschaftslegitimation die Phraseologie von der „staatsbewußten Minderheit" als qualifizierendes Merkmal.252 Erstaunlicher noch als diese Ausblendung von negativen Teilwirklichkeiten ist Jens Petersen zufolge die „Kühle", mit der die Beseitigung von Kemelementen des liberalen Rechtsstaates wie Gewaltenteilung, individuelle Freiheiten und gesellschaftlicher Pluralismus mehr oder weniger ,zur Kenntnis' genommen werde.253 Es spricht für die Offenheit politischer Biographien, daß Beckerath unter dem Eindruck des Weltkrieges und des NS-Terrors bereits vor Kriegsende seine Option für den autoritären Neo-Merkantilismus, oder was immer er dafür gehalten hat, revidieren wird. Nach dem Krieg wird er dann zum Schrittmacher eines ganz anderen politischen Projektes: als Vorsitzender des „Wissenschaftlichen Beirates des Bundesministeriums für Wirtschaft" wird er ab 1950 seinem Biographen Eisermann zufolge die soziale Marktwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland wesentlich mitbestimmen.254 Gut zwanzig Jahre vorher dagegen beteiligt sich Beckerath insofern am Abbau von Demokratie und Marktwirtschaft, als er einem philofaschistischen Klima in der deutschen Sozialwissenschaft Vorschub leistet. Die politisch-ökonomischen Faschismusstudien des Kölner Professors sind nicht nur überaus erfolgreich, sondern geben auch ein Signal der „Entwarnung". Beckeraths „selbstmörderische Scheinneutralität" verhüllt nicht ihre „geheimen Sympathien mit dem Arbeitsgegenstand" - und eben dieser Sympathievorschuß gegenüber dem faschistischen Experiment ist im politischen und

250 Beckerath, Wesen und Werden ..., S. 138; ders., Fascismus, in: Vierkandt (Hg.), Handwörterbuch der Soziologie Stuttgart 1931, S. 135; Michels, Italien von heute, S. 227; Christian Eckert, Planwirtschaft. Rathenaus Forderungen. Mussolinis Formungen, in: Schmollers Jahrbuch Jg. 56, Heft 2, 1932, S. 330-346, S. 344; Maria Luise Gräfin von Strachwitz, Fascistische Sozialpolitik, Diss. Freiburg 1932, S. 28. 251 Brief von Beckerath an Michels vom 5.1.1929. 252 Aus diesem Grund hat Wolfgang Schieder die Zuordnung Beckeraths zum liberalen Spektrum der Weimarer Republik verneint. Vgl. Schieder, Faschismus fiir Deutschland, a.a.O., S. 271. 253 Petersen, Italienischer Faschismus..., a.a.O., S. 331. 254 Gottfried Eisermann, Erwin von Beckerath, in: ders., Bedeutende Soziologen, Stuttgart 1968; Vgl. auch Norbert Klothen, In memoriam Erwin von Beckerath, Bonn 1966.

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X. Robert Michels und der italienische Faschismus

wirtschaftlichen Diskurs eher nicht als störend empfunden worden, sondern hat die zweifellos reale „Anziehungskraft dieser Sozialbewegung" noch weiter verstärkt.255 Wenn hier von Repräsentativität einer philofaschistischen Grundmelodie die Rede ist, dann ist freilich nicht Exklusivität gemeint. Es gibt im wissenschaftlichen Faschismus-Diskurs der Weimarer Republik auch für jedermann hörbare qualifizierte Gegenstimmen, die die Darstellungen der Michels' und Beckeraths in Zweifel ziehen. Ein hervorragendes Beispiel ist Hermann Hellers entlarvendes Buch „Europa und der Fascismus",256 dessen Thema unter anderem auch die tiefe Kluft zwischen elitärem Anspruch und korrupter Wirklichkeit im Faschismus ist. Aufgrund von Feldforschungen in Italien kommt Heller zu dem Ergebnis, daß die Korruption im Faschismus hinter der politisch-ökonomischen Korruption in anderen, demokratischen Ländern keineswegs zurücksteht, daß die ursprünglich anvisierten Effizienzgewinne in der staatlichen Verwaltung nicht erreicht oder längst wieder verspielt worden sind und daß nicht die von Michels und anderen beschworene moralische Erneuerung der Nation gelungen sei, sondern exakt das Gegenteil: der Sieg der Doppelmoral und die Trennung von öffentlichen und privaten Äußerungen präge das Leben in der Diktatur. „Das vorsichtige Kopfwenden nach allen Seiten, bevor man das gleichgültigste politische Wort äußert, ist bereits zur italienischen Nationaleigenart geworden."257 „Es dürfte kaum ein Land der Erde geben, in dem man von so viel Menschen, auch unaufgefordert, hören kann, sie glaubten das Gegenteil von dem, was sie öffentlich über den Faschismus reden und schreiben [.. ,]."258 Heller hinterfragt aber nicht nur die faschistische Realität, sondern auch die Begriffe seiner philofaschistischen Kollegen. Der beliebte pseudolegitimatorische Titel von der „staatsbewußten Minderheit" (Beckerath) zeuge, so Heller, „von der Bescheidenheit der Ansprüche, die man an eine Elite stellt."259 Die philofaschistische Deutungsallianz immunisiert sich gegen derartige Irritationen des schönen Scheins, indem sie für sich selbst Objektivität und Ausgewogenheit in Anspruch nimmt, den störenden Kritiker dagegen als vorurteilsbeladen abkanzelt. Die kognitive Selbstbornierung geht dabei so weit, daß Beckerath die Thesen des Kritikers zurückweist, indem er sich offiziöser Rezensionen aus gleichgeschalteten italienischen wissenschaftlichen Zeitschriften bedient: „Das Buch Hellers über Europa und Fascismus wird gleichfalls [...] stark beachtet, obwohl es kaum mehr als eine politische Tendenzschrift ist, dazu noch eine schlechte. Haben Sie die Kritik in der Bibliographia fascista gelesen mit dem witzigen Schlußsatz?"260

255 Zitierte Urteile über Beckerath stammen von Sven Papcke, Weltferne Wissenschaft, in: ders. (Hg.), Ordnung und Theorie. Beiträge zur Geschichte der Soziologie in Deutschland, Darmstadt 1986, S. 168-222, S. 209-211. 256 Berlin/Leipzig 1929. 257 Heller, Europa und der Fascismus, S. 91. 258 Heller, Europa und der Fascismus, S. 132. 259 Heller, Europa und der Fascismus, S. 116. 260 Brief von Beckerath an Michels vom 5.1.1929; ARMFE.

X.6. Der schöne Schein der zwanglosen Konsensdiktatur

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Nun mag man es sich hier vielleicht auch deshalb so leicht machen können, weil Hermann Heller Sozialdemokrat ist. Schwieriger wird es, wenn ein ehemaliger im Geiste Verbündeter plötzlich vom Philo- zum Antifaschismus umschwenkt. Dann müssen stärkere Geschütze ran. Da reicht nicht der pauschale Vorwurf der Unsachlichkeit, sondern wird die jüdische Herkunft des Autors dafür verantwortlich gemacht, unzulässigerweise den Faschismus über den antisemitischen nationalsozialistischen Leisten zu spannen, sowie seine Kapitalinteressen angeführt, um seine schier unglaubliche „Schwenkung" zu erklären: „Haben Sie die neue Schrift von Ludwig Bernhard261 über den Staatsgedanken des Fascismus gelesen? Sie ist negativ gehalten und bedeutet gegenüber seinem ersten Buche eine vollständige Schwenkung. Übrigens scheint er seit 1924 keine Studien mehr gemacht zu haben; die neue Schrift steht sachlich weit unter der ersten. Die Schwenkung selbst erkläre ich mir auf folgende Weise: einmal ist sehr viel, was heute in Deutschland über Italien erscheint, indirekte Polemik gegen den Nationalsozialismus. Die beiden Bewegungen werden nun einmal - mit Recht oder Unrecht - miteinander in enge Verbindung gebracht. Bernhard selber ist der Herkunft nach Jude, und das allein würde seine Haltung erklären. Aber es kommt noch etwas Zweites hinzu. Bernhard gilt als Sprachrohr des HugenbergKreises. Dieser war, wie ich annehme, mit dem Fascismus ganz einverstanden, solange er den liberalparlamentarischen Staat destruierte. Seitdem er aber dazu übergegangen ist, den liberalindividualistischen Kapitalismus zu modifizieren, dürfte die Sympathie geringer geworden sein."262 Zwischen Beckerath und Michels dagegen besteht eine weitgehend ungestörte Deutungsallianz. Für Michels ist Beckerath eine Ausnahmeerscheinung, insofern die „Mehrzahl der über den Faszismus geschriebenen Werke im Auslande [...] an der Schwierigkeit historischen Begreifens ihrer Autoren" kranken würden. Beispielsweise hegten viele eine politische Abneigung, da der Faschismus mit den „Grundprinzipien der Demokratie" gebrochen hat. Beckerath dagegen „ist von diesen Vorurteilen frei. Zustatten kommt ihm auch, daß er seine Augen nicht vor der Tatsache verschließt, daß in Europa die antidemokratischen Kräfte eher im Wachsen begriffen sind. So ist es ihm denn möglich, an die Analyse des Faszismus mit echter Wissenschaftlichkeit heranzugehen [,..]." 263

261 Professor der Staatswissenschaften an der Universität Berlin. Das zitierte faschismusfreundliche Werk lautet „Das System Mussolinis" (Berlin 1925), das zitierte faschismuskritische dürfte „Der Staatsgedanke des Faschismus" (Berlin 1931) sein. 262 Brief von Beckerath an Michels vom 4.2.1931, ARMFE. 263 Michels, Rez. zu Beckerath, Wesen und Werden des fascistischen Staates, Berlin 1927, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. XXVII, Heft 1, S. 130; Vgl. auch Michels. Il libro di un tedesco, in: Bibliographie fascista, September 1927, S. 2.

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X. Robert Michels und der italienische Faschismus

Und auch umgekehrt wird Beckerath über seinen Korrespondenten noch 1940 ein positives Urteil fällen: „ich benutze u. lese [...] jetzt wieder viel M.'s grosses Italienbuch, welches so viele überraschende Einsichten enthält u. so durchaus erlebt ist."264 Sollten irgendwann einmal vielleicht doch die entsprechenden Briefe Michels' gefunden werden, wäre die Korrespondenz zwischen Beckerath und Michels sicherlich eine gründlichere Untersuchung wert, da sie einen Spot auf die Mentalität der bildungsbürgerlichen Intelligenz in den Krisenjahren der Weimarer Demokratie wirft, etwa wenn der Rücktritt des preußischen Kultusministers auf Druck der SPD als „reine Parteiintrigue" dargestellt wird - was historisch zutreffend ist265 - um dann dem selbstsuggerierten Erwartungshorizont weitere Nahrung zu geben: „Die Details sind derart peinlich und unsachlich, dass sie bestimmt erneut das System kompromittieren."266 Der Niedergang des Liberalismus im Denken dieser beiden Professoren geht immerhin konsequenterweise so weit, daß sie den Antiliberalismus der neuen Zeit auch dort akzeptieren, wo sie selbst betroffen sind. Als Michels kurz nach der nationalsozialistischen Regierungsbeteiligung 1933 an einer akademischen Veranstaltung in Deutschland teilnehmen will, rät ihm Beckerath mit den Worten ab: „Unsere Studentenschaft steht selbstverständlich sehr nachhaltig unter dem Eindruck der nationalen Revolution, und man könnte gegen Sie eingenommen sein, weil Sie seinerzeit die deutsche Staatsangehörigkeit gegen die italienische eingetauscht haben."267

7. Zugang zum Machthaber? - Michels' Scheitern als friedenspolitischer Berater „Aus Rom immer noch nichts. Es ist zum Verzweifeln. Ich denke, morgen nach Rom zu gehen, für einige Tage, um zu antichambrieren. Was für eine unsympathische Sache für einen aufrechten Mann, der niemandem irgendetwas gestohlen hat." (Robert Michels)268

Bei allen hier diskutierten Brüchen in der Elitentheorie wie auch in der Wirtschaftspolitik gibt es in Robert Michels' Schrifttum der 20er und 30er Jahre einen roten Faden in der Außenpolitik, einen klaren geostrategischen Kurs, mit dem Michels sich dem

264 Brief von Erwin von Beckerath an Gisela Michels vom 6. Mai 1940 (ARMFE). 265 Vgl. Hellmuth Auerbach, Art. Carl Heinrich Becker, in: Benz/Graml, Biographisches Lexikon zur Weimarer Republik, München 1988, S. 19-20. 266 Brief von Beckerath an Michels vom 3.2.1930, ARMFE. 267 Brief von Beckerath an Michels vom 3.6.1933, ARMFE. 268 Michels, Fragment ohne Datum in der Busta Roberto Michels, ARMFE: „Da Roma sempre niente. È una disperazione. Io penso di andare domani a Roma, per alcuni giorni, a antichambrer. Che cosa antipatica per un uomo retto che non ha rubato niente a nissuno."

X.7. Zugang zum Machthaber?

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neuen Regime als eine Art außenpolitischer Berater empfiehlt: „ein Deutschland von dem Machtwillen und der Mentalität von 1914", so Michels 1924/25, würde „Italien sicher nicht an seiner Seite finden".269 Eben diesen Kurs formuliert er 1930 als Warnung an die deutsche Rechte: „Es wird gut sein, dass der alldeutsche Politiker, auch wenn er unter demokratischer Maske agiert, es sich gesagt sein lässt, damit er in Zukunft Europa vor neuen Schrecknissen und sein eigenes Land vor neuen Enttäuschungen bewahrt: Eine deutsche ,Revanche', der Versuch der Deutschen, den vergangenen Weltkrieg durch einen neuen Weltkrieg ungeschehen zu machen, wird Frankreich und Italien Seite an Seite finden."270 Michels will aber noch mehr. Nach wie vor ist der festen Überzeugung, daß der Frieden in Europa am besten über die wirtschaftliche Kooperation innerhalb einer Zollunion herzustellen sei. Dieses Thema ist seit Aristide Briands Plädoyer im Völkerbund vom 5. September 1929 für eine engere Zusammenarbeit der europäischen Staaten Gegenstand einer lebhaften Diskussion. Michels wird dazu im November 1932 auf Einladung der Königlichen Italienischen Akademie auf der berühmten Volta-Tagung sprechen vor einem sehr heterogenen Kreis von Politikern, Wissenschaftlern und Intellektuellen: neben dem Völkerrechtler Albrecht Mendelsson Bartholdy und dem überzeugten Europäer Stefan Zweig nehmen auch die Nationalökonomen Beckerath und Sombart, der Staatsrechtler Carl Schmitt sowie die Nationalsozialisten Göring und Alfred Rosenberg teil. Entsprechend kontrovers verläuft die Diskussion gerade unter den Deutschen, in der das christlich-aufgeklärte Humanitätsideal eines Willy Hellpach auf den Rassismus Rosenbergs prallt. Michels bekennt sich auf dieser Tagung zur „großen europäischen Union", die sich aber auf die Herbeiführung eines gemeinsamen Marktes konzentrieren und nicht zu einer politischen „Fusion" führen sollte. Da alle Nationalstaaten in Europa ihre Unabhängigkeit liebten, würde ein Bundesstaat zu „permanentem Streit" führen.271 Im Sinne dieses handelspolitisch zu erreichenden europäischen Integrationsziels hat Michels auch Italien davon abgeraten, innerhalb Europas von den Konflikten anderer zu profitieren zu suchen, wie das die klassische Realpoltik jahrhundertelang getan habe. Für eine lange europäische Friedensperiode sei die Verständigung zwischen Deutsch-

269 Michels, Faszismus 1925, S. 195. 270 Michels, Italien von heute, S. 366. 271 Michels, Difficoltà e speranze europee, in: Atti del II Convegno della „Fondazione Alessandro Volta", Tema: L'Europa, 14-20 Novembre 1932, Sonderausdruck Rom 1933, 9 Seiten, S. 8-9: „La grande unione europea [...] va fatta a tappe progressive. L'idea di una intesa doganale continentale, allo scopo di ottenere dei più vasti mercati e degli sbocchi più potenti per i nostri prodotti non può essere a priori ripudiata. La più grande difficoltà [...] sta nel mettere argine al pericolo che l'unione economica non porti ad una fusione dei popoli e degli Stati, di cui ognuno è custode di tesori propri e di diritti all'indipendenza [...], perchè tali fusioni [...] spingerebbero l'Europa in uno stato di discordia perpetuo."

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X. Robert Michels und der italienische Faschismus

land und Frankreich die Hauptvoraussetzung. Diese zu fordern sei Italiens Aufgabe und nicht etwa „die gefährlichen Konflikte zwischen anderen auszunutzen."272 Dank dieser europapolitischen Friedensperspektive dürfte Michels auch die Ehre zuteil geworden sein, am 26.1.1934 auf einem der damals anerkanntesten Foren für Völkerverständigung vorzutragen: in der Pariser Zentrale der Carnegie-Stiftung. Hier wirbt er in einem „Epos des Friedens"273 für ein gemeinsames Europa, in dem „alle mit allen in guten Beziehungen" stehen und gleichzeitig den Block der Zivilität gegen Gefahren von außen bilden. Schrittmacher auf diesem Weg sollten die romanischen Länder sein, deren Befähigung zur Herausbildung einer transnationalen Identität Michels mit seinem Konzept der „Latinität"274 begründet. Politische Systemunterschiede zwischen Italien und Frankreich seien da kein Hinderungsgrund, sondern sollten im „brüderlichen Wettstreit" zum Ausdruck kommen.275 Der Text weist einerseits Affinitäten zur liberalen antifaschistischen Opposition auf,276 liegt andererseits aber auch auf einer Linie mit zwei Eckpfeilern der Europapolitik Mussolinis: erstens die Gefahr einer deutschen Revanchepolitik für Versailles zu verhindern und zweitens koloniale Expansionsziele Italiens so zu vertreten, daß in Reaktion darauf kein antiitalienischer Block entstünde.277 Michels' prinzipielle Präferenz für Frankreich als Bündnispartner Italiens, seine Ablehnung des deutschen Antisemitismus sowie seine Klarstellung, daß ein revanchistisches Deutschland niemals auf Italien als Verbündeten zählen könnte, haben auf jeden Fall in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre Michels' Nimbus als Anwalt eines friedlichen Europas gestärkt. Noch 1936 wird er als Experte für Völkerverständigung Interviews in französischen Zeitungen geben.278 Und der Pazifist Friedrich Wilhelm Foerster gibt Michels gegenüber eine Wendung vom Gesinnungs- zum Verantwortungspazifisten zu erkennen, die im faschistischen Regime kein Hindernis, sondern die machtpolitische Voraussetzung für den Frieden erblickt: „das wirklich machthabende Deutschland muß, wie Nietzsche in Basel sehr richtig sagte: ,vom Ausland in ein eisernes Hemd geschnürt werden'. Das klingt nicht sehr pazifistisch. Ist es aber Pazifismus, wenn man die Wölfe frei herumlaufen läßt und die Polizei abrüstet, damit die Einbrecher überall hemmungslos einsteigen können?" Diese in eine Suggestivfrage gekleidete Überzeugung vom friedenspolitischen Segen einer Kontrolle und Einhegung Deutschlands von außen bezieht Foerster ganz konkret auf „Mussolinis Widerstand gegen den Anschluß Oesterreichs,

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Michels, Francia contemporanea, Mailand 1926, S. 70. So das Urteil von Giuseppe Panella, Origini e caratteri del fascismo italiano, a.a.O., S. 161 Vgl. das Kapitel IX.8. Suizidaler Sozialismus, elitärer Nationalismus und libertäre Mythologie. Michels, Les bases historiques de la Politique Italienne, in: Centre Européen de la Dotation Carnegie (Hg.), Bulletin No. 4, Paris 1934, S. 317-337: „fraterna emulazione". 276 So Jens Petersen, Der italienische Faschismus ..., a.a.O., S. 341. 277 So Giuseppe Panella, Origini e caratteri del fascismo italiano, S. 160. 278 Un entretien avec le Professeur Roberto Michels, in: Sept, 10. Januar 1936. Michels setzt sich hier als Vermittler zwischen den guten Willensabsichten und dem politischen Realismus in Szene. Beide Seiten seien aufeinander angewiesen.

X.7. Zugang zum Machthaber?

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welcher ein Großdeutschland schaffen würde, das in kürzester Zeit durch die Aufpeitschung aller Irredentismen im Osten einen neuen Krieg hervorrufen würde."279 Diese Friedensstrategie hat Foerster nicht erst 1933, sondern bereits 1930 Michels unterbreitet und er bittet wie selbstverständlich Michels darum, einen direkten Kontakt zwischen Mussolini und ihm, Foerster, herzustellen. Das ist kein Zufall. Erwin von Beckerath ist sich noch 1960 sicher, daß Michels „in den letzten Lebensjahren zu den außenpolitischen Beratern der italienischen Regierung gehörte". Dabei habe er „einer Verbindung mit dem Nationalsozialismus [...] stets widerraten".280 Ganz ähnlich sieht das auch Edgar Salin: „Michels hat als Ratgeber des Duce ihn einige Zeit davon abhalten können, den nordischen Landsknechten zu folgen."281 Robert Michels hat möglicherweise Gründe gehabt, zu glauben, er habe gewissermaßen einen privilegierten „Zugang zum Machthaber" (Carl Schmitt). Den persönlichen Kontakt zu Mussolini hat Michels erstmals zum gerade frisch gekürten Ministerpräsidenten im Januar 1923 gesucht: er habe, schreibt Michels dem neuen Ministerpräsidenten als Anlage zu seiner aktuellen Artikelserie „im italienischen Sinne gute Arbeit bei den Schweizern" leisten wollen.282 Michels stellt seine Publikation damit in die Kontinuität seiner proitalienischen Publizistik in der Schweiz und bietet dem neuen Machthaber seine Dienste als akademischer Botschafter an.283 Abgesehen von der patriotischen Pflicht dürften Michels aber auch handfeste private Motive geleitet haben. Nach dem Ersten Weltkrieg wird der italienische Adoptivpatriot in seinem zunehmend als Exil empfundenen Baseler Domizil284 immer unruhiger, wann den nun endlich die Phase der faktischen Staatenlosigkeit beendet sein würde und er volle Anerkennung als Italiener erführe, d. h. eine Professur in Italien bekäme. In seinen Briefen an Luigi Einaudi Anfang der 20er Jahre wird eine Mischung aus Verzweiflung und Verbitterung darüber deutlich, daß trotz aller Propaganda im Weltkrieg sich hier nichts - vor allem seitens des italienischen Staates nichts - bewegt. Vom „Albtraum

279 Brief von F. W. Foerster an Michels, 3. Januar 1930, ARMFE. Vgl. die autobiographischen Betrachtungen von F. W. Foerster, Erlebte Weltgeschichte 1 8 6 9 - 1953. Memoiren, Nürnberg 1953, S. 232/245. 280 Erwin von Beckerath, Robert Michels, in: ders., Lynkeus. Gestalten und Probleme aus Wirtschaft und Politik, Tübingen 1962, S. 65-67, S. 67. 281 Edgar Salin, Erwin von Beckerath 1889-1964, in: Kyklos, Bd. 18, 1965, S. 1-8, S. 6. 282 „far opera italianamente buona presso le svizzere genti". Michels' Brief an Mussolini vom 23. Januar 1923 wird zitiert bei Loreto di Nucci, Roberto Michels ,ambasciatore' fascista, a.a.O. Bei der Artikelserie handelt es sich um die Broschüre „Der Aufstieg des Fascismus in Italien" (a.a.O.). 283 Loreto di Nucci, Michels ambasciatore fascista, a.a.O. 284 Vgl. Brief von Michels an Luigi Einaudi vom 2.4.1922, ARMFE, wo Michels seine Situation in Basel aus emotionalen, gesundheitlichen, familiären und akademischen Gründen als unerträglich darstellt: „Ti ripeto i motivi gravissimi che ci muovono di lasciare Basilea [...]. Sono, oltre le ragioni sentimentali, fortissime, ragioni d'ordine sanitario, il clima di Basilea non essendo per nulla confacente colla salute della mia Gisella. Aggiungo a ciò l'estrema difficoltà per i miei figli di crearsi una posizione (professionale o matriomoniale) in un paese di cui ignorano I costumi e fino ad un certo punto la lingua, e nel quale nè sono nè vogliono diventare cittadini." Außerdem erwähnt Michels „l'ostilità, mal celata, du una gran parte di miei colleghi".

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X. Robert Michels und der italienische Faschismus

meines Lebens" klagt Michels seinem Freund und fragt diesen, ob er nicht „irgendeinen Staatssekretär oder Unterstaatssekretär" kenne, dem er ihn empfehlen könne.285 Im Januar 1921 schreibt Michels an Einaudi: „Ich verheimliche Dir im übrigen nicht meine tiefe Verbitterung, die ich verspüre, wenn ich sehe, wie wenig meine Arbeit geschätzt wird, und ich frage mich, was ich denn noch tun muß, um mein festes Ziel zu erreichen, dauerhaft nach Italien zurückzukehren. Könntest Du mir nicht eine Stelle als .Bahnwärter' besorgen?"286 Einaudi ist zu diesem Zeitpunkt nicht nur Finanz- und Wirtschaftsprofessor in Turin und Mailand, sondern seit 1919 auch Senator in Rom. Sein Einsatz für Michels' Staatsbürgerschaft hat im März 1921 Erfolg, als das Innenministerium Einaudi persönlich über den Erfolg seiner Bemühungen unterrichtet.287 Das ändert aber noch nichts an Michels' Exil, der im Januar 1922 „immer mehr die Notwendigkeit einer baldigen Lösung des Problems meines Lebens" verspürt: „im Sinne einer baldigen und definitiven Rückkehr nach Italien".288 In dieser ohnehin angespannten Lage muß Einaudi wenig später - kurz nach Mussolinis Ernennung zum Ministerpräsidenten - Michels eine schlechte, ja niederschmetternde Nachricht überbringen: „Du wirst mein langes Schweigen entschuldigen, aber ich hatte Dir nicht eine einzige gute Neuigkeit mitzuteilen und nicht einmal jetzt habe ich das. [...] Das neue Gesetz für die Universitätsprofessoren hat eine Art allgemeine Aussperrung geschaffen." 289 Es ist dieser persönliche Hintergrund, vor dem Michels meines Wissens zum ersten Mal überhaupt das persönliche Gespräch mit einem amtierenden Ministerpräsidenten sucht. Die Gunst des Zufalls will es dabei, daß Michels' alter Freund, der Marchese Paulucci di Calboli,290 in der neuen Regierung im Range eines „capo di gabinetto" des Außenministeriums Karriere macht und für Michels ein Nachmittagstreffen mit Mussolini in der Osterzeit 1924 arrangieren kann. Paulucci di Calboli weiß, daß Michels eine Professur in Italien anstrebt und daß Mussolini sich für die Arbeiten des Baseler Pro-

285 Michels an Luigi Einaudi, 7.9.1920, ARMFE: „Le mie pratiche per la cittadinanza [...] costituiscono da tanti anni, l'incubo della mia vita." „Conosci qualcheduno tra I consiglieri di Stato o i sottosegretarii di Stato? E potresti eventualmente raccomandarmi?" 286 Michels an Luigi Einaudi, 13.1.1921, ARMFE. „Non ti nego, per altro, l'estreme mia amarezza nel vedere così scarsamente apprezzata la mia opera e mi chiedo cosa mai devo fare per attuare il mio fermo proposito di tornare stabilmente in Italia. Non potresti procurarmi un posto da c a sellante'?" 287 Brief des Ministero dell'Interno an Einaudi, 4.3.1921, ARMFE 288 Brief von Michels an Einaudi, 23.1.1922; ARMFE: „la separazione della mia figlia Manon [...] mi fa sempre più sentire la necessità di una pronta soluzione del problema della mia vita nel senso di un pronto e definitivo ritorno in Italia." 289 Brief von Luigi Einaudi an Michels, 4.2.1923, ARMFE. 290 Chef der italienischen Gesandtschaft in Bern während des Krieges. Vgl. das Kapitel IX. Der Fremde im Kriege.

X.7. Zugang zum Machthaber?

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fessors interessiert.291 Auch bei anderen Gelegenheiten fungiert Calboli zunächst als „interprete" zwischen Michels und Mussolini. 292 Dieser Vermittlung wird es aber nicht lange bedürfen, denn Mussolini wird in der Folge Michels bei seiner Suche nach einem Lehrstuhl in Italien voll unterstützen, wobei die zahlreichen Bemühungen, Michels irgendwo unterzubringen, doch erst 1928 Erfolg haben werden. Bei der Besetzung von Lehrstühlen im faschistischen Italien sind offensichtlich selbst dem charismatischen Führer Grenzen gesetzt. Unstrittig dürfte sein, daß Mussolinis Interventionen zugunsten des deutsch-italienischen Soziologen primär seinem politischen Interesse folgten, dem faschistischen Regime durch die Verpflichtung eines weltweit anerkannten Wissenschaftlers einen enormen Prestigegewinn zu verschaffen. 293 Robert Michels seinerseits hat sich ob seiner persönlichen Kontakte zum Duce sichtlich geschmeichelt gefühlt und hat seine Leser geradezu ostentativ darauf hingewiesen, daß seine Gespräche mit Mussolini nicht nur „ausserordentlich interessant", sondern auch „lang" seien: „In einem ausserordentlich interessanten, langen Gespräch, das ich zu Ostern 1924 mit Benito Mussolini, der sich damals mit dem Gedanken einer Doktorarbeit in Bologna trug, im grossen Empfangssaal des Palazzo Chigi in Rom hatte, äusserte Mussolini mir gegenüber, der ihm darin beipflichten musste, drastisch seine Überzeugung von der geringen Tauglichkeit des professoralen Typus zum Lenker der Massengeschicke. Der Professor zaudert und ist ängstlich, sagte er mir. Er dreht die Nuss und weiss sie nicht zu knacken. Der echte Massenführer aber muss schnellen Entschlusses sein und selbst seinen Entschluss in die Hand nehmen." 294 Allerdings scheint es, daß Robert Michels nicht „Berater" gewesen ist, wie Beckerath und Salin annahmen, sondern sich in die Rolle eines informellen Gesandten des Regimes begeben hat, der in akademischen und bildungsbürgerlichen Kreisen aller Länder dem Faschismus Akzeptanz zu verschaffen suchte. Robert Michels war sich auch nicht zu schade, die italienische Regierung vor seinen Vortragsreisen um Erlaubnis zu bitten und sie über den Charakter der von ihm besuchten Konferenzen sowie seiner Beiträge vorab zu informieren. Dies auch einige Male gegenüber Mussolini persönlich. 295 Wie weit entfernt Michels hingegen davon war, als Berater des Führers zu fungieren, zeigt ein mehrmonatiger im Mai 1934 beginnender Briefwechsel mit Mussolinis Unterstaatssekretär Rossoni, in dem Michels erstens - das Thema ist wirklich der Dauerbrenner seines Lebens - den Wunsch äußert, von Perugia an die Universität Turin

291 Aldo G Ricci, Michels e Mussolini, in: Furiozzi 1984, a.a.O., S. 257. 292 Brief von Paulucci di Calboli an Michels, 20.11.1925, ARMFE: „Ho ricevuta la Sua gradita lettera e non ho mancato di rendermi interprete delle Sue felicitazioni presso S.E. Mussolini il quale mi ha incaricato di porgerLe i suoi ringraziamenti." 293 Loreto di Nucci, Roberto Michels ,ambasciatore' fascista, a.a.O., S. 91. 294 Michels, Italien von heute, a.a.O., S. 269-270. 295 Nucci, Michels ambasciatore, S. 98f.

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X. Robert Michels und der italienische Faschismus

wechseln zu können, und zweitens um eine Audienz beim Duce bittet.296 Erst im Dezember wird Michels' Bitte entsprochen und eine Audienz auf den 14.12.1934 terminiert. Michels hat von dem Gespräch ein Protokoll angefertigt.297 Nicht seine Professur ist an diesem Tag das Thema, sondern die italienische Außenpolitik. Michels legt gleich zu Beginn des Geprächs das gedruckte Bulletin von der Friedenskonferenz der Carnegie-Stiftung in Paris vor. Seine dort gehaltene Rede über das Prinzip der Latinität und die prinzipiell philofranzösische Bündnispolitik Italiens kommt inzwischen einer politischen Intervention gleich, wenn man bedenkt, daß Mussolini vor der Unterzeichnung des „Achsen"-Abkommens mit Deutschland im Oktober 1936 (fünf Monate nach Michels' Tod) zunächst eine Zeit lang zwischen den Optionen einer Annäherung an den eine antifranzösische Revisionspolitik vertretenden Hitler einerseits und eines antideutschen Bündnisses mit Frankreich andererseits abwägt.298 Und tatsächlich legt Michels' Protokoll Zeugnis ab von einem Mussolini, der längst einen Konflikt mit Frankreich eingeplant hat, die Stärke des italienischen Heeres preist und die einzige Gefahr für ein militärisches Unternehmen in der „Panik der Leute" sieht.299 Als Robert Michels am 2. Mai 1936 stirbt, hinterläßt er kein öffentliches Zeugnis einer zumindest partiellen Opposition. Ob er selbst seine Intellektuellenrolle in den dreißiger Jahren als prekär empfunden hat, läßt sich allenfalls vermuten. Er hat seinen Dialog mit Mussolini über die außenpolitische Ausrichtung Italiens und die Kriegsgefahr immerhin anonymisiert und Einaudi dazu ins Vertrauen gezogen. Als aber postum von ihm im Mai 1936 ein Abriß zur italienischen Kolonialpolitik erscheint, findet sich darin nicht ein kritisches Wort zum Abessinienkrieg, sondern ist von den durch ihn ausgelösten Sanktionen gegen Italien die Rede.300 Allenfalls zwischen den Zeilen finden

296 Kopien des Briefwechsels finden sich unter dem Stichwort „Presidenza del Consiglio dei Ministeri" im ARMFE. 297 Udienza dal Duce, 14.12.1934, ARMFE 298 Vgl. Ennio di Nolfo, Der zweideutige italienische Revisionismus, in: Klaus Hildebrand/Jürgen Schmädeke/Klaus Zernack, 1939. An der Schwelle zum Weltkrieg. Die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges und das internationale System, Berlin/New York 1990, S. 85-114. 299 Laut Protokoll (meine Übersetzung) hält Mussolini Italien für „unangreifbar" und befürwortet, die italienische Flottenpolitik ohne vertragliche Vereinbarungen und damit ohne Rücksicht auf die Interessen Frankreichs zu gestalten: „Wir werden unsere Schiffe so bauen, wie es uns gefällt." Auf Michels' Einwurf, daß es auch Luftflotten gebe, reagiert Mussolini „lebhaft" mit der Behauptung: „Die unsere ist sehr stark". Auf Michels' erneute Replik:, Außer im Fall eines Krieges mit Frankreich und England!" verzeichnet das Protokoll Schweigen. Michels' Hinweis auf das im Falle eines Krieges möglicherweise zum Einsatz kommende Giftgas aus Deutschland dagegen provoziert Mussolini zu längeren Ausführungen darüber, daß diese Gefahr übertrieben werde, daß die eigentliche Gefahr darin bestehe, daß die Leute den Kopf verlieren, und daß Soldaten ohnehin abergläubisch seien. Vgl. Udienza dal Duce, 14.12.1934, ARMFE. Im Manuskript selbst sind die Sprechparte Mussolinis und Michels' verschlüsselt. Am 25.1.1935 schreibt Luigi Einaudi an Michels, er verstehe Michels' Besorgtsein wegen Jenes Dialogs" nicht. „Niemand könnte dich mit einem der Gesprächspartner identifizieren." (Original ARMFE). 300 Michels, Zur Geschichte der italienischen Kolonialpolitik, in: Zeitschrift für Politik, 26. Jg., Heft 4/5, 1936, S. 229-241.

X.7. Zugang zum Machthaber?

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sich leise Töne der Kritik: „In einigen Ländern weht heute der Wind auch staatlich antiintellektuell [...] Im faschistischen Italien sind der Stellung des geisteswissenschaftlichen Intellektualismus durch den zentralisierten starken Staatsbegriff sowie die Herkunft der Bewegung aus den Schützengräben [...] Grenzen gezogen."301 So bleibt als Resümee dieses Kapitels, daß Michels' Apologie zwar grundsätzlich auf den italienischen Kontext bezogen war und einem Export des Faschismus fernstand. Aber es war wohl gerade sein idealisiertes und moderat-konservatives, zumal im Dienste der auswärtigen Kulturpolitik' in zahlreichen Ländern durch Vortragsreisen artikuliertes Faschismusbild, mit dessen Verbreitung Michels seinen Beitrag dazu geleistet hat, daß in weiten Teilen der europäischen akademischen Öffentlichkeit eine philofaschistische Akzeptanz entstanden ist, die den Faschismus aus seinem italienischen Kontext gelöst und ihn als ein adaptionsfähiges Modell politischer Ordnung rezipiert hat.

301 Michels, Historisch-kritische Untersuchungen zum politischen Verhalten der Intellektuellen, in: Schmollers Jahrbuch, Jg. LVII, Heft 6, 1933, S. 29-56, S. 55.

XI. Schlußwort

Es gibt Intellektuelle, deren politisches Denken sich auf den Begriff einer zentralen Fragestellung bringen läßt. Robert Michels fallt wohl kaum darunter. Zunächst fallt der eklektische, fragmentarische und diskontinuierliche Zug seines Œuvres auf, so als wäre dieses der theoretische Reflex der nationalen und politischen Umbrüche seiner Biographie, nicht zuletzt seiner unruhigen Wanderexistenz, die ja auch nach dem Erreichen der ersehnten Professur in Italien 1928 ständig neue Wechselabsichten äußert. Verbunden ist diese Unruhe auch bis zum Schluß mit einem Hang zur Selbstüberforderung, den wir bereits anläßlich seines Aufstiegs in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie vor dem Krieg beobachten konnten. Die quantitative Selbstüberforderung mit akademischen Projekten und Unternehmungen geht aber nicht nur auf Kosten der Qualität, wie das insbesondere der Verleger Paul Siebeck feststellen muß, sondern auch auf Kosten der Gesundheit. Michels' Lebensführung dürfte auch für seinen relativ frühen Tod am 2. Mai 1936 verantwortlich gewesen sein. Seine Frau hat 1936 eine Krankenakte1 der letzten Wochen und Monate seines Lebens angefertigt. Aus dieser geht hervor, daß Michels am 13. Februar 1936 während eines Vortrags in Bordeaux über das „Konzept des Vaterlandes in der italienischen Geschichte vom antiken Rom bis zum faschistischen Italien"2 ein derart starkes Nasenbluten bekommt, daß er seinen Vortrag unterbrechen muß. Obwohl das Bluten nicht aufhört, lehnt er es ab, in eine Klinik gefahren zu werden, und setzt die Veranstaltung fort. Um Mitternacht läßt er sich dann doch zu einem Spezialisten bringen und wird dort vier Stunden behandelt. Nach zwei Tagen Bettruhe eilt er zu weiteren Konferenzen nach Toulouse und Montpellier. „Nach Hause zurückgekehrt, bereitete er sofort den Bericht für den Duce vor", vermerkt Gisela Michels, die auch weitere Attacken von Nasenbluten in der Folgezeit und außerdem Diabetes, Poliatritis und Erschöpfungszustände vermerkt. All dies habe ihren Mann aber nicht davon abhalten können, an Sitzungen von Universitätsgremien teilzunehmen, Druckfahnen seiner neuesten Werke zu korrigieren etc. Die Rastlosigkeit, die in dieser Krankenakte zum Ausdruck kommt, erinnert auch an den dominierenden Stil seiner Arbeiten nach dem Ersten Weltkrieg. Es ist zweifellos 1 2

„Malattie" [1936], in: Documenti personali di Roberto Michels, ARMFE. Den Titel entnehme ich der Kopie eines Briefes des italienischen Konsulats in Bordeaux an das italienische Ausßenministerium vom 23.6.1936, der den Vorfall von Bordeaux ausführlich referiert (ARMFE).

XI. Schlußwort

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sehr viel, was Michels der Nachwelt hinterlassen hat. Aber der größte Teil seiner umfangreichen Publikationen zur ökonomischen Dogmengeschichte, zum Verhältnis von ,Wirtschaft und Rasse', zum Welthandel und zum Boykott, zum Vaterlandsgefühl in allen Facetten bis zum Nationallied, ganz zu schweigen von seinen politisch kompromittierten Darstellungen des faschistischen Korporatismus, dürfte in absehbarer Zeit kaum vor einer Neuentdeckung stehen. Auch wenn diese Studien wahre Fundgruben oft vergessener Quellen der europäischen Ideengeschichte und reich an interessanten Beobachtungen im einzelnen sind, so mangelt es dem Nachkriegswerk an einer eigenständigen Theoriebildung über den Tag hinaus mit entsprechender Begriffsprägung. Es ist bezeichnend, daß wir auf der Suche nach durchgängigen Fragestellungen, mit denen man das politische Denken Michels' rekapitulieren könnte, nicht auf der Ebene der expliziten, sondern vielmehr der impliziten Leitmotive fündig werden. Eine Frage, die sich Michels immer wieder gestellt hat, ist die nach dem politischen Innovationspotential von Gesellschaften, die von der ,,Macht der Gewohnheit", der Blockade und dem „Misoneismo" der sozialen Gruppen sowie den konservativen Tendenzen der Organisation geprägt werden. Auf dieses Grundproblem hat Michels' Weg vom Charisma der Demokratie - Demokratie hier als „Anti-Struktur"3 verstanden, die die soziale Hierarchie für einen Moment aufbricht, Spielraum für das Neue eröffnet, um dann wieder vom Außergewöhnlichen zur Regelmäßigkeit des bürokratisch-oligarchischen Betriebs überzugehen - zum Charisma des Führers verschiedene Antworten gegeben. Insofern ist die Innovationsproblematik auch als ein durchgängiges Motiv zu verzeichnen. Eine andere wiederkehrende Fragestellung betrifft das Dilemma der sozialen Integration in Gesellschaften, die von gesellschaftlichen Antagonismen und daraus resultierenden Konflikten geprägt sind, mit der Konsequenz, daß sich Solidarität entlang partikularer Gruppengrenzen bildet - zum Schaden des nationalen Gemeinsinns. Michels zumindest hat, wie wir gesehen haben, dieses Problem in der drastischen, eigentlich immer am Rande des Bürgerkrieges stehenden gruppensoziologischen Sprache Gumplowicz' formuliert.4 Die Brüche und Wendungen im Werk von Michels drücken sich in den verschiedenen Lösungen aus, die dem Autor in dieser Frage plausibel erscheinen. Seine Argumentation beginnt beim Aufklärungsoptimismus seiner frühen sozialdemokratischen Phase, als Michels sowohl auf die „Sozialpädagogik" als auch auf die teleologischen Versprechen des evolutionistischen Marxismus setzt. Dann folgt die frühe soziologische Phase, die, wenn auch dem Pessimismus zuneigend, sich einer definitiven Antwort enthält. Nach dem Krieg entdeckt Michels dann einen völlig neuen Typus der sozialen Integration, der sich auf die Ressourcen politischer Mythen und des kollektiven Glaubens stützt und so imstande zu sein scheint, die egoistischen Orientierungen der sozialen Gruppen zugunsten der nationalen zu überwinden, auch wenn Michels selbst einräumt, daß die mythomotorische Integrationsleistung die soziale Frage nur mildern und nicht lösen kann.

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Victor Turner. Das Ritual. Struktur und Antistruktur, Frankfurt a.M./New York 1989. Kapitel VI.2.4.,Gruppistische' Begriffe, Positionen und Theorien in Michels' Soziologie.

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XI. Schlußwort

Neben Innovation und Integration gibt es noch ein Motiv des Michelsschen Denkens, das zwischen 1900 und 1936 einige Bearbeitungen erfährt, zwischendurch verschwindet, um dann in völlig neuer Gestalt aufzutauchen: das Ideal von Selbstbewußtsein und Selbstbehauptung. In dieser Kategorie stellt Michels zunächst dem Wilhelminischen Bürgertum, also seiner eigenen sozialen Schicht, ein schlechtes Zeugnis aus5 und zeigt anhand der neuen sozialen Bewegungen - Arbeiter, Frauen, nationale Irredenta - wie sehr ihr Erfolg und Mißerfolg von ihrer mutigen Selbstbehauptung und vom aufgeklärten Selbstbewußtsein über ihre unveräußerlichen Rechte abhängig ist.6 Das Selbstbewußtsein ist freilich nicht nur eine empirische Kategorie der Michelsschen Bewegungsforschung. Der Begriif ist auch normativ sehr anspruchsvoll, insofern Michels damit das Leitbild der bürgerlichen idealistischen Philosophie vom selbstbestimmten und selbstbeherrschten Bürger, dem Herrn seiner selbst, zum Maßstab der modernen Massendemokratie erhebt. Wie sehr Michels diesem elitären Leitbild einer demokratischen Bürgergesellschaft verhaftet ist, zeigt seine Intervention anläßlich der Eskalation des Turiner Generalstreiks von 1907, wo er die Erziehung des Proletariers zum Herrn seiner selbst zur unverzichtbaren Voraussetzung dafür erhebt, daß erstens die Oligarchisierung aufgehalten und zweitens die emotionale Verführbarkeit zur Gewalt abgebaut wird.7 Die heroischen Konnotationen dieses „Selbstbewußtseins" hat Michels besonders prägnant an seinem Idealbild einer emanzipierten Frau ausgeführt.8 Es ist das Schicksal - zumindest in Michels' theoretischer Entwicklung - dieses spätaufklärerischen bürgerlichen Selbstbildes mit seinen Wurzeln in der bildungsbürgerlichen Romanfigur vom , innengeleiteten Menschen' (Riesman), daß es nach seinem Auszug aus der ,prussifizierten' bürgerlichen Welt an der Realität der organisierten Arbeiterbewegung scheitern wird, um irgendwann in Gestalt des vor Selbstbewußtsein nur so strotzenden, charismatischen wie heldenhaften Diktators noch einmal zum Leben erweckt zu werden. Damit liegt in Michels' Œuvre freilich eine Entwicklung vor, die für die Mentalität und das politische Denken des Bildungsbürgertums jener Zeit durchaus repräsentativ ist, ja, es scheint, daß Robert Michels in seiner politischen Biographie wesentliche seismographische Veränderungen der europäischen politischen Kultur in personell kondensierter Form reproduziert. So etwa das Integrations- wie Innovationsmodell der charismatischen Vergemeinschaftung, mit dem in der deutschen Intelligenz bereits ex-

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Kapitel II.3. „Ein Land aus Stuck". Die politisch unvollendete Modernisierung des Deutschen Reiches. Kapitel III.2.1. Neue soziale Bewegungen: das zivilgesellschaftliche und das sentimentale Paradigma; II.4.5. Rassenanthropologische Einflüsse und die Dialektik des Selbstbewußtseins; III.2.4. Positivistische Moral. V.2. Gewalt, Mitläufertum, Demagogie: der Turiner Generalstreik und das Projekt einer demokratischen Erziehung. II.2.7. Die psychologische Innenseite der Emanzipation: Selbstbehauptung.

XI. Schlußwort

803

perimentiert wird, bevor das Wort dank Max Weber einen Eintrag ins politische Wörterbuch bekommt.9 Während Michels mit dem heuristischen Potential seiner „Soziologie des Parteiwesens" von 1911 über seine Zeit hinaus und bis in die unsere hineinragt,10 ist der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Michels aus den zwanziger und dreißiger Jahren wohl eher für die Weimarer Mentalitätsforschung von Interesse. Dafür spricht die erstaunliche Akzeptanz, die Michels gerade als akademischer Botschafter des italienischen Faschismus seitens deutscher Kollegen erfahrt. Die sich dabei bildenden Deutungsallianzen mit Intellektuellen wie Erwin von Beckerath zum Beispiel sind dabei auch symptomatisch für ein politisch-ideologisches Konvergieren von Intellektuellen unter den Bedingungen und Erfahrungen der Nachkriegszeit, die vor dem Krieg politische Gegner gewesen sein dürften. Es sind zweifellos die politischen, ideologischen und biographischen Umbrüche im Kontext des Ersten Weltkrieges, die den Spielraum für diese neuen politischen Affinitäten, und das heißt immer auch: für neue Problemwahrnehmungen und Möglichkeitshorizonte eröffnet haben. Im Fall Robert Michels ist dies neben seiner problematischen italienischen Nationalisierung im Krieg nicht zuletzt der Zusammenbruch der großen geschichtsphilosophischen Metaerzählungen progressiver Provenienz gewesen. Die Suche nach der Demokratie, wie sie in der Schatzgräber-Metapher der Parteiensoziologie zum Ausdruck kommt, ist nur zeitlich begrenzt eine Fragestellung von Robert Michels' Biographie gewesen. Irgendwann - spätestens im Ersten Weltkrieg - hat Michels die zuvor unbestrittene geschichtsphilosophische Teleologie und gesellschaftspolitische Normativität der Demokratie aufgegeben zugunsten eines verfassungspolitischen Relativismus, der selbst der Monarchie demokratische Qualitäten attestiert, wenn diese beispielsweise durch soziale Sicherungssysteme eine Politik für die Massen betreibt. Das Projekt der Parteiensoziologie einer Aufklärung über die oligarchischen Mechanismen demokratischer Gesellschaften scheint er bereits ad acta gelegt zu haben, bevor infolge des Zusammenbruchs der großen Reiche nach dem Ersten Weltkrieg die demokratische Republik erstmals die politische Ordnung nahezu des gesamten Kontinents prägt. Michels' verfassungspolitische Perspektive reduziert sich jetzt auf den historischen Relativismus eines Giambattista Vico und seiner „corsi e ricorsi". Dies ist ohne Zweifel auch die Konsequenz aus der Krise des Positivismus, also dem endgültigen Obsoletwerden eines geschichtsphilosphischen Rahmenprogramms, das wenige Jahre zuvor noch evolutive, naturgesetzlich zwingende Stufen einer verbindlichen Entwicklung zur Demokratie definiert hatte. Es ist bezeichnend, daß Michels in seiner Demokratiekritik in den zwanziger Jahren seinen originellen organisationssoziologischen Ansatz - der ja auch auf nichtdemokratische Organisationen anwendbar gewesen wäre! - faktisch aufgibt. Michels hat sich auch 9 Friedrich Wilhelm Graf, Die Positivität des Geistigen. Rudolf Euckens Programm neoidealistischer Universalintegration, in: Hübinger/vom Bruch/Graf, Kultur und Kulturwissenschaften um 1900 II, a.a.O., S. 53-85. 10 Vgl. Kapitel VI. Zwischen Revitalisierung und Vergeblichkeit: Zur „Vivisektion" der Demokratie in der „Soziologie des Parteiwesens".

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XI. Schlußwort

nicht den demokratischen' Deutungen des Faschismus von Zeitgenossen wie Carl Schmitt und Erwin von Beckerath angeschlossen, weil für ihn eine demokratische Legitimation des Faschismus infolge des Verlustes der normativen Verbindlichkeit des demokratischen Projektes nicht länger zwingend gewesen ist. Der Faschismus hat bei ihm eine ,charismatische Legitimation', d. h. bei Michels, der von Weber nur den Begriff übernimmt: sie speist sich aus der .gefühlten' Akzeptanz und Massenresponsivität der Führerschaft. Zudem erwächst dem System eine Legitimation aus der in Michels' Sicht erfolgreichen Neuordnung und Modernisierung des Landes. Wie Michels in den zwanziger Jahren über die Demokratie denkt, geht aus seinem Beitrag auf dem Soziologentag 1926 hervor, wo er die Demokratie keinesfalls prinzipiell ablehnt, sondern ein in der Intelligenz zeitgeisttypisches Sammelsurium von Defiziten der Demokratie benennt, die nichts weiter dementieren sollen als den Anspruch der Demokratie auf exklusive Legitimität. 11 Wie originell Michels' Argumente auf dem Soziologentag sind, zeigt ein Blick in andere Bücher aus und vor der Zeit.12 Michels' seinerzeit innovativer und heute klassischer Beitrag zur Soziologie der Politik und zur Theorie der Demokratie fällt dagegen noch in die Vorkriegszeit. Wenn meine Überlegungen zur biographischen Illusion, zum „Fremden im Kriege" 13 und zur Krise des Positivismus richtig sind, dann lautet die Konsequenz für eine angemessene ideengeschichtliche Beschäftigung mit der „Soziologie des Parteiwesens", daß sowohl das republikanische und parteipolitische Engagement des jungen Michels wie auch die geistesgeschichtliche Dimension des soziologischen Pessimismus für ihre Interpretation wesentlich sind. Von der späteren faschistischen Wende seines Autors dagegen kann das Buch zumindest in seiner Fassung von 1911 emanzipiert werden. 14

11 Verhandlungen des fünften deutschen Soziologentages vom 26. bis 29.9.1926 in Wien, Frankfurt a.M. 1969, S. 69f. 12 Ζ. B. Ludwig Gumplowicz, Allgemeines Staatsrecht, 1907, S. 327f. 13 Neben dem gleichnamigen Kapitel verweise ich auf den Nachruf von Michels' akademischen Schüler Friedrich Vöchting, Erinnerung an Robert Michels, in: Neue Zürcher Zeitung, 7. Juli 1936, wo es m. E. sehr treffend heißt: „wenn die Wahl, die er traf, vielen unverständlich erscheinen mußte: die getroffene hielt er fest mit ganzem Einsatz: er verbrannte hinter sich die Schiffe." Und über das Verhältnis zu Italien: „dieses Land [...] bot ihm viel, bot ihm alles, was mit Fug er erwarten konnte - bis auf eine letzte Gegenliebe." 14 Vgl. insbesondere Kapitel X.l. Die Legende vom frühen Parteieintritt und die „biographische Illusion" der Michels-Rezeption.

Archive

1) Archivio Roberto Michels (ARMFE)/Archivio Fondazione Luigi Einaudi (AFLE), Turin1 a) Briefe/Karten: (finden sich in den nach den entsprechenden Korrespondentennamen geordneten „buste") Konrad Adenauer, 4 Briefe an RM 1930-1932. Erwin von Beckerath an RM, 5.1.1929; 3.2.1930. 4.2. 1931 ; 17.2.1931 ; 3.6.1933. Erwin von Beckerath an Gisela Michels vom 6. Mai 1940. Eduard Bernstein an RM 19.6.1917. RM an Joseph Bloch, 7. Februar 1902, Kopie ARMFE, Original im Bundesarchiv Koblenz. R. Consolato Generale d'Italia in Basilea, [Ehrenerklärung zugunsten RM] 21.6.1920. Carlo Durazzo an RM, 10. Juni 1917. Carlo Durazzo an RM, 23.8.1917. RM an Luigi Einaudi, 14.12.1905; 13.5.1915; 7.9.1920; 13.1.1921; 23.1.1922; 2.4.1922. [Die Originale befinden sich im Archivio Luigi Einaudi, am selben Ort in der Fondazione Einaudi]. Luigi Einaudi an RM, 25.1.1935. Ministero dell'Interno an Einaudi, 4.3.1921. [Original Archivio Einaudi]. Friedrich Wilhelm Foerster an RM, 9.3.1919; 21.12.1929; 26.9.1929; 3. Januar 1930. Salomon Grumbach anRM,29.11.1918. Ludwig Gumplowicz an RM, 28. Januar 1909; [Datum unleserlich] 1909; 23.5.1909. Ladislaus Gumplowicz an RM, 16. Juni 1910. Briefe G D. Herrons an RM (dreizehn und ein Telegramm) aus den Jahren 1906 bis 1922 sowie Briefe von Herrons Söhnen GD. jr. ( 1.11.1925) und Rand an Michels. Jan Karol Kochanowski an RM, 5.10.1909. Kopie eines Briefes des italienischen Konsulats in Bordeaux an das italienische Außenministerium vom 23.6.1936.

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Einen nützlichen Einblick in den Bestand des Michels-Archivs gibt: L'Archivio Roberto Michels. Inventario, a cura di Stefania Martinotti Dorigo e Paola Giordana; Premessa di Corrado Malandrino; Estratto dagli Annali della Fondazione Luigi Einaudi, Vol. XXIX Torino 1995, S. 585-663. Frau Dorigo und Frau Giordana gilt auch mein Dank für Rat und Hilfe bei unzähligen Recherchen sowie bei der Veröffentlichung der Korrespondenzen zwischen Michels und Ladislaus Gumplowicz sowie Michels und Julius Springer (vgl. Bibliographie).

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Archive

Emil Lederer an RM, 10.11.1910. Emil Lederer mit Postscriptum von Emy Lederer-Seidel an RM, 6. August 1913. R. Legazione d'Italia in Berna an RM, 12.9.1917. Theodor Lindner an RM, 16.9.1900. Briefe Cesare Lombrosos an Michels von 1901 bis 1909. RM an Gisela Michels, 2.8.1914. RM an Gisella Michels, 25.3.1927. RM an Anne Michels-Schnitzler, 31.12.02. Notiz von Ludwig Mises auf einem Papier des Hotel Plaza Roma vom 21.9.33. Oddino Morgan an RM, 16. und 25. Juli sowie 1. August 1907. RM an Raniero Paulucci di Calboli, 29. Juli 1916. Pauluccio di Calboli anRM,3.11.1916;20.11.1925. Briefwechsel mit der „Presidenza del Consiglio dei Ministeri" (Kopien im ARMFE). Romain Rolland an RM, 19. März 1915. C. Spinazzola an Gisela Michels, 26. Juli 1916. Ferdinand Tönnies an RM, 5.1. und 3.3. 1914. RM an Tönnies, 28.9.1913 und 7.1.1914 (Original im Nachlaß Tönnies der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek in Kiel). Alfred Vierkandt an RM, 19.8.1914; 7.11.1913. Leopold von Wiese anRM,14.12.1913;30.4.1921.

b) Briefe Max Webers: Die Briefe Max Webers an Michels (Originale ARMFE) und an andere Zeitgenossen habe ich aus der transkribierten und edierten Fassung in den jeweiligen Briefbänden der Max-Weber-Gesamtausgabe (MWG), Abt. II, hg. von Rainer Lepsius und Wolfgang J. Mommsen, zitiert.2 Briefe Briefe Briefe Briefe

1906-1908, 1909-1910, 1911-1912, 1913-1914,

Tübingen Tübingen Tübingen Tübingen

1990; 1994; 1998; 2003.

c) Dokumente: Gedruckter Lebenslauf „Professore Roberto Michels Torino". „Vorläufiges Sach- und Namen-Register des Handwörterbuches für Soziologie", in: busta Tönnies. Gegendarstellung zu einem mir nicht bekannten Zeitschriftenartikel mit dem Titel „Wortlaut der gewünschten Notiz", Original in der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek in Kiel. „Max Adler, Der Sozialismus und die Intellektuellen"; Autoren-Druckfahne, Ort der Veröffentlichung unbekannt.

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Für einige Vorabsendungen danke ich Manfred Schön von der MWG. Herrn Schön verdanke ich auch den Hinweis auf die Abschriften der Briefe von Weber an Michels sowie weiteres Material aus der Kriegszeit im Geheimen Staatsarchiv Berlin. Für die gute Zusammenarbeit mit der MWG danke ich auch Wolfgang J. Mommsen f.

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d) Unveröffentlichte Manuskripte/Notizen/Notizbücher von RM Kirchhoff. Darwinismus, in: Appunti di Roberto Michels. [Das Seminar von Johannes Conrad], in: Appunti di Roberto Michels. Notizheft [manche Leute sehen nur das Gänseblümchen, aber nicht die Blutlache drumherum], Appunti di Roberto Michels. [In den Republiken liegt die Korruption am offensten zu Tage], Loseblattftind in den Appunti di Roberto Michels. [Liebe und Aristokratie], Loseblatt in: Appunti di Roberto Michels. [An eine stolze Mutter], Loseblatt in: Appunti di Roberto Michels. [Die Gunst der Menge], Loseblatt in: Appunti di Roberto Michels. [Mio bisnonno era stato francófilo], in: Appunti di Roberto Michels. [Wenn der Deutsche im Theater sitzt], in: Appunti di Roberto Michels. [Eduard Bernstein occupa un posto eminente nella scienza e nel partito socialista tedesco], handschriftlicher Bericht über die Baseler Konferenz vom 24.2.1919 und andere Ereignisse, datiert auf „Basilea, lì 5.III.1919"; Briefkopf der „Società Nazionale Dante Alighieri". [dichiarazione dell'italianità]. Das Dokument ist unterschrieben mit „Robert Michels. Basilea (Svizzera) semestre d'estate il 24 Maggio 1915". ,Articoli scritti da Roberto Michels su giornali svizzeri in favore dell'Italia, durante la guerra mondiale"; Die Liste findet sich in: Documenti personali di Roberto Michels. [m'incontai coli dott. Muehlon]. Appunti autobiografici di Roberto Michels. Die lose Blättersammlung beginnt mit dem Satz: „II 7 corr. m'incontai coli dott. Muehlon". [Bric-à-Brac]; Notizbuch im zeitlichen Kontext des Ersten Weltkrieges. [La mia posizione nelle file del Partito Socialista tedesco era molto particolare], in: Appunti autobiografici di Roberto Michels. „Relazione fatta da Roberto Michels al R. Console Generale d'Italia a Basilea, comm. Tito Chiovenda, nell'aprile 1917". „Relazione fatta da Roberto Michels al R. Console Generale d'Italia a Basilea sopra un viaggio in Cecoslovacchia, nel 1923". Relazione fatta al Duce, dopo un viaggio in Germania, dall'11 al 28 febbraio [geschrieben um den 10. März 1933], Udienza dal Duce, 14.12.1934. „New political outlines. The Fourth Italy of Mussolini", Schreibmaschine. [Da Roma sempre niente], Fragment ohne Datum, Appunti di RM. „Malattie" [1936], in: Documenti personali di Roberto Michels.

2) Geheimes Staatsarchiv Berlin Preußischer Kulturbesitz (GStA PK) Kopie von Michels' Erklärung, aus dem Herausgeberkreis des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik auszuscheiden, in: Nachlaß von Werner Sombart: GStA PK, VI. HA Familienarchive und Nachlässe, N1 Sombart, Nr. 17, Bl. 291. Brief von Max Weber an Michels, 20.6.1915, Abschrift in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Rep. 92, NI. Max Weber, Nr. 30, Bd. 14, Blatt 13-14. Brief von Max Weber an Michels, Heidelberg, 9.9.1915, Abschrift in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Rep. 92, NI. Max Weber, Nr. 30, Bd. 14, Blatt 15-16. Brief von Max Weber an Michels, Heidelberg, 21.10. 1915, Abschrift in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Rep. 92, NI. Max Weber, Nr. 30, Bd. 14, Blatt 24.

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Archive

Brief von Max Weber an Gustav von Schmoller, 10. Januar 1916, GStA Berlin, Rep.92, Nl. Gustav von Schmoller, Nr. 208a. zit. aus der Transkription für die MWG Brief von Gustav von Schmoller an Max Weber, 31.10.1916, in: GStA, Rep. 92, Nl. von Schmoller, Bl. 28.

3) Hoover Institution Archives Stanford (HIAS), U.S.A. 3 Zwanzig Briefe an George Davis Herron (18 von Robert Michels, 2 von Gisela Michels), davon viele undatiert; die datierten gehen von 1915 bis 1925; Collection title: George Herron; Box Nr. 11 sowie Box Nr. 10 (Folder ID: Corr. L-M). (Datiert sind: Michels an Herron, 2.10.1915; Brief von Gisela Michels an Herrón, 5.10.1916; Karte von Michels an Herron, Poststempel 3.11.1916; Michels' Brief an Herron vom 15.10.1916; Brief von Gisela Michels an Herron, 5.10.1916; Brief von G Michels an Herron, 11.10.1916.) Herrons Brief an Mussolini vom 26. August 1922; Abschrift unter der Rubrik „Supplementary: Italy. Document III. Hoover War Library"; Herrón Papers, HIAS. Mussolini an Herron, Telegramm vom 29.8.1922 (unter der Rubrik Supplementary: Italy. Document IV; Hoover War Library; HIAS).

4) Archiv des Institutes für Zeitgeschichte München RM an Wilhelm Muehlon vom 28.1.1919. RM an Muehlon, 9.2.1918, Signatur ED 142/18; Nr. 3159.

5) Archiv der Universität Jena Michels' Brief an Julius Pierstorff vom 28.4.1906 im Universitätsarchiv Jena, M 650, Bl. 172-173

6) Handschriftensammlung der Biblioteka Jagiellonska, Krakau Brief von Michels an Ludwig Gumplowicz, 23. Mai 1909, Uniwersytet Jagiellonski, Krakow, Sygnatura 6444 III, k. 189.

7) Verlagsarchive4 Archiv des Springer Verlages Heidelberg: Briefe von RM an Julius Springer, Signatur B:M, 170; Korrespondenz abgedruckt in: Genett, Lettere di Michels e Springer, a.a.O. Verlag Walter de Gruyter: Brief von Michels an den Veit-Verlag vom 2.2.1914 und Antwortschreiben vom 10.2.1914.

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Mein Dank geht dafür an Carol A. Leadenham. Beiden Häusern gilt mein herzlicher Dank. Ganz besonders möchte ich Frau Margit Unser vom Springer-Verlag für die kompetente Unterstützung bei der o. g. Briefedition danken.

Archive

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8) Landesarchiv Berlin „Akten der Abt. VII (= 4) des königl. Polizei-Präsidiums zu Berlin betreffend den Schriftsteller Professor Dr. Robert Michels 1903-1917"; A. Pr. Br. Rep. 030 Tit. 95 Nr. 16386.

9) Privatarchive a) Maria Gallino, Turin Brief von Gisella Michels an Daisy Michels-Gallino, 8.10.1928. Brief George D. Herrons an Michels vom 25. November 1908. Postkarte von F.W. Foerster an Michels ohne Datum. Wahlkampfbroschüre („An die Wähler des Wahlkreises Alsfeld-Lauterbach-Schotten!"). Abschrift der Widmung von Jules Romaines an Michels in „Les hommes de bonne volonté" von 1934. Michels: unveröffentlichtes Manuskript „Pagine autobiografiche. Titolo molto provvisorio". Blatt „Pro Memoria" (frz. Notizen).

b) Wilfried Röhrich, Kiel5 undatierter Brief Anton Pannekoeks an Michels.

c) Timm Genett, Berlin6 „Geschlecht und Gesellschaft", Heft 1,1. Jg., 15. Okt. 1905, hg. v. Karl Vanselow, Berlin/Leipzig/Wien 1905, mit Anstreichungen von Robert Michels; Michels: Rezension zu Karl Vorländer, Kant und Marx. Ein Beitrag zur Philosophie des Sozialismus, Tübingen 1911; Autorensonderdruck ohne Angabe des Publikationsorgans. Michels, Rez. zu Olindo Malagodi, Imperialismo, la civiltà industriale e le sue conquiste. Studi inglesi, Milano 1901. [Autorensonderdruck]. Michels' handsigniertes „Vorlesungs- und Personalverzeichnis der Universität Halle-Wittenberg Wintersemester 1898".

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Ich danke Wilfried Röhrich für die Übersendung auch weiterer Kopien von Briefen aus seinem Michels-Archiv. In Turin habe ich vor Jahren einen Teil des Nachlasses von Robert Michels erworben - wenige Bücher, dafür aber Rezensionen, Autorensonderdrucke und Broschüren; insgesamt ca. 450 Titel. Davon habe ich einen Katalog angefertigt. Außerdem habe ich einen Katalog aller im ARMFE befindlichen Autorensonderdrucke von Rezensionen (über 60 Titel) angefertigt. Beide Kataloge haben mir bei dieser Arbeit geholfen. Bei Interesse stelle ich sie gerne zur Verfügung.

Bibliographie

1. Bibliographie von Michels' Schriften Opere di Roberto Michels, Estratto da: Studi in memoria di Roberto Michels; Vol. XLIX degli Annali della Facoltà di Giurisprudenza della R. Università di Perugia, Padova 1937, 42 Seiten [wenn auch nicht vollständig, so doch unverzichtbar].

2. Zitierte Aufsätze und Bücher von Robert Michels 1900 Zur Vorgeschichte von Ludwigs XIV. Einfall in Holland, Diss. Halle 1900.

1901 Attorno ad una questione sociale in Germania, in: Riforma Sociale, Jg. 8, fase. 4, Bd.6, Sonderabdruck, 1901,19 Seiten. Der Sozialismus in Italien, in: Das Freie Wort, 1. Jg., Nr. 16,20. November 1901, S. 492-498. Il dramma moderno tedesco, in: La Commedia, Nr. 9, 7.4.1901. La ,Pochade' in Germania, in: La Commedia, Nr. 7, 24.3.1901. Rez. zu Olindo Malagodi, Imperialismo, la civiltà industriale e le sue conquiste. Studi inglesi, Milano 1901. [Autorensonderdruck Privatarchiv Genett]

1902 Die Arbeiterinnenbewegung in Italien, in: Die Frau, Jg. 9, Nr. 6, 1902, S. 328-336. 7. Kongreß der italienischen sozialistischen Partei zu Imola, in: Schwäbische Tagwacht, 15. September 1902, S. 1. Begriff und Aufgabe der ,Masse', in: Das freie Wort, II. Jg., Nr. 13, 1902, Separatabdruck, 8 Seiten. Das unerlöste Italien in Österreich, in: Politisch-Anthropologische Revue, 1. Jg., Nr. 9, Dezember 1902, S. 716-724. Das Weib und der Intellectualismus, in: Dokumente der Frauen, Bd. VII, Nr. 4,15. Mai 1902, S. 106-114. Der italienische Sozialismus auf dem Lande, in: Das Freie Wort, Nr. 2, II. Jg., 1902, Separatabdruck, 14 Seiten. Der Kampf um eine Arbeiterinnenschutzgesetzgebung in Italien, in: Die Frau, Jg. IX, Nr. 9, Juni 1902, S. 513-518, Nr. 10, Juli 1902, S. 612-618.

Bibliographie

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Die Voraussetzungslosigkeit der Geschichtswissenschaft auf den deutschen Hochschulen, in: Das freie Wort. Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens, I. Jg. Nr. 22, 20.2. 1902, S. 673-676. Ein italienisches Landarbeiterinnen-Programm, in: Dokumente der Frauen, Bd. VII, Nr. 6, 15. Juni 1902, S. 159-166. Ein Kinderstreik, in: Die Frau, Heft 1,10. Jg., 1902, S. 16-19. Frauenstimmrecht - schon heute eine Notwendigkeit, in: Die Frauenbewegung, 8. Jg., Nr. 23, 1.12.1902, S. 1-2. La questione della zitella e della donna professionista (sotto l'aspetto ch'essa ha in Germania), in: Unione femminile, Jg. 2, Nr. 19-20, Oktober 1902, S. 144-146. Nationalismus, Nationalgefühl, Internationalismus, in: Das freie Wort, 2. Jg., Nr. 4, 1902, S. 107-111.

1903 [Redeausschnitt Dresdner Parteitag], in: Volksstimme, 17.9.1903. .Endziel', Intransigenz, Ethik. Ein sozialdemokratisches Thema, in: Ethische Kultur, XI. Jg., Nr. 50, 12.12.1903, S. 393-395, Nr. 51, 19.12.03, S. 403-404. Augusto Bebel. Cenno biografico, in: Il Grido del Popolo, anno XII, Num. 18, 1. Mai 1903, S. 1-2. Beitrag zum Problem der Moral, in: Neue Zeit, Jg. 21, Bd.l, Nr. 15, 1903, S. 470-475. Bestrafung geschlechtlichen Verkehrs Geschlechtskranker, in: Ethische Kultur, 12. Jg. 1903, S. 223. Das ,böse Jahr' 1898, aus der Artikelserie: Rückblick auf die Geschichte der proletarischen Frauenbewegung in Italien, in: Die Gleichheit, Nr. 17, 13. Jg., 12.8.1903, S. 131-133. Democrazia e socialismo in Germania (Dopo le elezioni), in: Avanti! Giornale Socialista, anno VII, Nr. 2375, 18. Juli 1903, S. 1. Der innere Zusammenhang von „Schlachten" und „Morden", in: Ethische Kultur, 11. Jg., 1903, S. 198. Der Kaisergang und die Sozialdemokratie, in: Rheinische Zeitung, 12. Jg., Nr. 184, 13.8.1903. Die Analyse einer Verlobungskarte (Soziales und Ethisches), in: Ethische Kultur, 11. Jg., 1903, Nr. 27, S. 210-211. Die Erziehung des Proletariats zur Selbstbeherrschung, in: Ethische Kultur, 11. Jg., 1903, S. 229. Die ethischen Pflichten des Bücher-Rezensenten, in: Ethische Kultur, 11. Jg., Nr. 12, 1903, S. 90-93. Die Frau und der Militarismus, in: Die Gleichheit, Nr. 9, 13. Jg., 22.4.1903. Die öffentliche Sicherheit der Frauen auf der Straße, in: Ethische Kultur, 11. Jg., 1903, S. 310-311. Die Verrohung eine Begleiterscheinung des Krieges, in: Ethische Kultur, 11. Jg., 1903, S. 286. Ein Kapitel aus den Kämpfen der Florentiner Cigarrenarbeiterinnen, in: Neues Frauenleben, XV. Jahrgang, Nr. 3, 1903, S. 14-17. Entstehung der Frauenfrage als soziale Frage, in: Die Frauenbewegung, IX. Jg., 1903, Nr. 3, S. 17-18. Fortschritte, Rückschritte und Aussichten der Frauenbewegung im Jahre 1893 (aus der Aufsatzreihe: „Rückblick auf die Geschichte der proletarischen Frauenbewegung in Italien"), in: Gleichheit, Nr. 8, 13. Jg., 8.4.1903, S. 58-60 Geflügelverkäuferin und Geschichtsunterricht. Eine Parabel, in: Ethische Kultur, 11. Jg., 1903, S. 189. I progressi del Repubblicanesimo in Germania, in: Rivista popolare di politica, lettere e scienze sociali, anno IX, Nr. 15, 1903, S. 400-402. I risultati del Congresso di Dresda, in: Avanguardia Socialista, Jg. II, Nr. 41, 4. Oktober 1903, S. 3. Judentum und öffentliche Achtung, in: Jüdische Rundschau. Organ der zionistischen Vereinigung für Deutschland, Jg. 8, Nr. 17, 1903, S. 151-153. Kapitalismus in der Wissenschaft, in: Ethische Kultur, 11 .Jg., Nr. 24, 1903, S. 186-188. L'affare Krupp e l'idea repubblicana, in: La Strada, Jg. 2, Nr. 2, 1903, S. 37-38.

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Acham, Karl 479f„ 520 Acton, (Lord) John Emerich 134 Adenauer, Konrad 691, 745f., 779, 783 Adler, Max 509f. Adler, Victor 232,345 Albertoni, Ettore A. 147 Alembert, Jean-Baptiste le Rond d' 409 Ambrosoli, Francesco 169 Annunzio, Gabriel d' 633, 651, 737-740, 762 Aquarone, Alberto 764 Arcari, Paolo 603f. Arco auf Valley, Heinrich Graf 680f. Arendt, Hannah 532,764 Arons, Leo 113 Auer, Eduard 680 Auer, Ignaz 208f., 218, 225, 319 Bacon, Francis 157 Bader, Paul 206f. Baecker, Dirk 427 Bakunin, Michael 166, 173f. Ball, Hugo 694 Barnes, Harry Elmer 488 Barth, Paul 619 Barth, Theodor 88,235 Battisti, Cesare 713f. Bauer, Otto 129 Bäumer, Gertrud 46, 48 Bebel, August 34,61,66,120f., 153-157,178, 200, 203, 205, 208f., 214f., 217-223, 225, 230-234, 240, 243-245, 270f„ 275, 318, 320, 330-336, 348-350, 352, 357, 361-366, 370, 376, 378f., 445, 452, 518, 528, 531 Beccaris, Fiorenzo Bava 256 Beckerath, Erwin v. 728, 745f„ 775, 787-793, 795, 797, 803f.

Beetham, David 21f„ 24,272, 380f„ 480, 725f., 727 Beifort Bax, Ernest 375f., 600 Benda, Julien 597 Benes, Eduard 313 Bentley, Arthur 524 Bergson, Henri 409 Berlin, Isaiah 288,312 Bernhard, Georg 216,219 Bernhard, Ludwig 791 Bernheim, Ernst 190 Bernstein, Eduard 147,158,161f., 202f„ 210, 218, 225f„ 231-242, 244-246, 250, 257, 261, 266, 268, 279, 281, 309, 316, 324, 350, 364, 369, 382f„ 387, 464, 500, 5111, 598, 600, 631, 669, 678-680, 685-689, 692, 695f„ 698, 712, 771 Berth, Edouard 204,289, 292, 301, 304-306, 308, 361 Bethmann-Hollweg, Theobald v. 456, 694 Beyme, Klaus v. 419, 451 f. Biedenkopf, Kurt 460 Bismarck, Otto v. 80, 82, 87, 134, 634, 656, 658 Bissolati, Leonida 613 Bistolfi, Leonardo 179 Blanc, Louis 189,409,663 Blanqui, Adolphe Jerome 189 Bloch, Ernst 694 Bloch, Iwan 51 Bloch, Joseph 191 Bluhm, Harald 524 Bobbio, Norberto 726,730 Bömelburg, Theodor 329, 331 Bonaparte, Roland 622 Bortkiewicz, Ladislaus v. 616

Personenverzeichnis

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Bourdieu, Pierre 15, 629, 725 Blüher, Hans 52 Braudel, Fernand 444 Braun, Heinrich 217 Brentano, Lujo 34,113 Breuer, Stefan 539, 728, 753, 755, 760 Briand, Aristide 739 Brockdorff-Rantzau, Ulrich Graf v. 699 Brofferio, Angelo 441 Brüning, Heinrich 784f. Büchner, Georg 477, 520 Büchner, Ludwig 148 Buek, Otto 112,206 Bülow, Bernhard v. 232, 370, 374, 650 Burnham, James 415,471

Ebert, Friedrich 708f.,719 Eggert, Heinz 428 Einaudi, Luigi 603, 616, 644, 724, 729, 795f., 798 Eisermann, Gottfried 658, 689 Eisner, Kurt 112, 206, 222, 251, 260, 350, 378, 606, 669f„ 676-685, 687, 689, 693, 695-701, 703, 708f„ 712, 714, 718, 733, 735 Eldersveld, Samuel J. 451 f., 457 Elm, Adolph v. 331 Engels, Friedrich 120,154, 158f. Erzberger, Matthias 688f. Eucken, Rudolf 150,518,803 Eulenburg, Franz 616

Cañero, Carlo 173 Calwer, Richard 351 Casalini, Giulio 395, 397-399, 402f., 441, 568, 736 Chamberlain, Houston 556 Churchill, Winston 609f. Ciano, Galeazzo 787 Ciccotti, Ettore 255, 290, 401 Cohen, Hermann 111-113, 131, 405, 676 Colajanni, Napoleone 83, 192f., 401, 480 Comte, Auguste 28, 37, 151, 284,489, 496, 518f. Conrad, Johannes 34f., 148 Corradini, Enrico 19, 31,134, 562, 569, 573f., 579-582, 585, 587, 596f. Crispi, Francesco 571 Croce, Benedetto 401

Farinacci, Roberto 461,765 Farneti, Paolo 171, 422f„ 499 Faucci, Riccardo 199 Felice, Renzo de 25, 729, 753, 755, 764f. Ferraris, Pino 22-24, 28, 38, 62, 83, 146f., 152f„ 161, 163, 171, 177f., 193,203,230, 234, 248, 250, 272, 284, 291f., 308, 315, 317, 327, 338, 381,403,409,422,479, 596, 637, 725 Ferrerò, Guglielmo 141 Ferri, Enrico 144, 163, 167,173, 177-179, 182-184,189, 200, 252-258, 261, 263, 277, 282, 312, 357,f., 360, 362, 464, 531, 604, 621 Fischer, Edmund 276f., 448 Fischer, Josef 453 Foà, Pio 179 Foerster, Friedrich Wilhelm 105, 593, 675, 689-696, 699-701, 703, 708f„ 712, 719f., 735, 785, 794f. Foerster, Wilhelm Julius 105, 144, 200, 248, 593, 690 Forti, Ugo 480 Fourier, Charles 507 Frank, Leonhard 694 Friedeberg, Raphael 318 Friedrich Wilhelm III. 555 Friedrich Wilhelm IV. 440 Freud, Sigmund 51 Freyer, Hans 112,488 Fried, Alfred 694 Furiozzi, Gian Bagio 23,292

Darwin, Charles 63, 148, 151, 153-155, 157, 180, 253f. David, Eduard 246, 248, 351, 674f„ 678, 688f., 698 Descartes, René 188 Diderot, Denis 409 Dietzgen, Joseph 154 Dodel-Port, Arnold 148 Donsbach, Wolfgang 459 Dörner, Andreas 775 Droysen, Gustav 34, 148 Dufour, Pierre 45 Dumas, Alexandre 288

Personenverzeichnis

848 Gallino, Maria 201, 388, 625, 710 Garibaldi, Giuseppe 663, 743 Garofalo, Raffaele 184, 621 Geibel, Emanuel 556 Gellner, Ernest 549 Gerlach, Hellmut v. 88, 206-208, 223, 225-228, 232 Gide, Charles 603 f. Gilcher-Holtey, Ingrid 269 Giolitti, Giovanni 254, 257f„ 574, 582f„ 650-652, 721, 733, 736, 739 Giuntella, Maria Christina 730 Gizycki, Georg v. 105 Goerdeler, Carl 787 Goethe, Johann Wolfgang v. 103, 187f„ 382 Goldscheid, Rudolf 619f. Göring, Hermann 793 Grabowsky, Adolf 722, 784, 786 Gradnauer, Georg 221 Gramsci, Antonio 16, 772 Greiling, Richard 598,606,671 Griffuelhes, Victor 288, 315, 352-356, 361 Grau, Bernhard 684 Groh, Dieter 158, 233,265, 328, 354, 359, 366, 387, 465 Gross, Otto 45 Grumbach, Salomon 685, 703, 710f. Guesde, Jules 2 5 9 , 3 1 2 , 3 4 7 Gumplowicz, Helene 129 Gumplowicz, Ladislaus 66,123-133,136,144, 168, 200, 319, 367f., 389,482f„ 485, 522 Gumplowicz, Ludwig 28, 109, 152, 155, 191f., 435, 446, 468, 477, 479-530, 536, 550f. Haase, Hugo 662, 685 Häckel, Ernst 148, 154f., 157 Haenisch, Konrad 203, 221, 279 Hamon, Augustin 162, 292, 299, 596, 601f„ 606f., 609, 627, 656f., 671 Hansemann, Ferdinand v. 121,271 Harden, Maximilian 216,218 Hauptmann, Karl 43 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 400 Heine, Heinrich 409, 558 Heine, Wolfgang 203, 205-209, 213-215, 219, 222-230, 232, 333, 348, 350, 352 Heller, Hermann 499, 746, 787, 790f. Helfferich, Karl 693

Hellpach, Willy 112,793 Herder, Johann Gottfried v. 133,535 Herrón, George D. 645, 670, 685, 694, 700, 703-721 Herron, George D. jr. 718 Hervé, Gustave 336, 347, 351, 354, 376, 380 Herzog, Dietrich 452,456 Hesse, Hermann 694 Hetscher, Joachim 21, 228, 301 Hilferding, Rudolf 316, 575 Hindenburg, Paul 681 Hirschman, Albert O. 27, 277, 406, 411 Hitler, Adolf 681, 779, 784-786, 798 Hobsbawm, Eric J. 547 Hobson, John A. 575 Hohenlohe, Alexander Prinz 654 Holbach, Paul Henri Thiry, Baron d' 409 Honigsheim, Paul 595 Hugenberg, Alfred 784, 791 Husserl, Edmund 148 Huysmans, Camille 354 Hyndman, Henry M. 353, 375f. Ibn Chaldun 536 Jaffé, Edgar 591, 618, 630, 709 Jaurès, Jean 268-272, 276, 311, 313-315, 345, 347, 350f., 375f. Joas, Hans 600 Jouvenal, Bertrand 456 Kant, Immanuel 514, 516 Karl I. 693 Käsler, Dirk 41,488 Katzenstein, Simon 221 Kautsky, Karl 120, 126, 147, 153, 156-163, 168f., 178, 198-200, 203, 215-217, 220f., 225f„ 230-232, 239, 242-248, 250f„ 259262, 264-270, 272, 292-294, 297, 301, 303, 308, 316, 319, 321, 350, 357, 360-364, 375, 378f„ 382-384, 387, 400, 423, 497, 518, 522, 531,664, 685f. Kelsen, Hans 471 Kennan, George F. 589 Kennemann-Klenka, Hermann 121,271 Key, Ellen 46, 179 Kirchhoff, Arthur 148f. Kochanowski, Jan Karol 484

Personenverzeichnis Kohl, Helmut 436 Kolping, Adolf 17 Koselleck, Reinhart 38, 519f„ 553 König, Helmut 396 Köster, Adolf 112 Krupp v. Bohlen und Halbach, Gustav 693 Kuehnelt-Leddihn, Erik v. 707f„ 715f„ 718 Küenzlen, Gottfried 39 Kulischoff, Anna 173 Labriola, Arturo 204, 256-261, 263f., 266, 281, 287, 289-292, 304, 307-309, 312, 362, 401,725 Lafargue, Paul 259, 312, 347 Lafont, Ernest 289, 292, 297f., 300 Lafontaine, Oskar 428 Lagardelle, Hubert 204, 259, 271, 281, 290, 308,312-314, 320, 361 La Marmora (Graf), Alfonso 656 Lamprecht, Karl 34, 112f„ 190 Lange, Helene 70, 74, 76 Lassalle, Ferdinand 176, 324, 332, 386, 444 Leadenham, Carol Α. 710 Le Bon, Gustave 183-186, 393, 441, 446-450, 771,776 Ledebour, George 209, 229, 278, 364 Lederer, Emil 510, 615, 618, 623, 630, 655, 744f. Lederer-Seidler, Emy 615f. Ledru-Rollin, Alexandre 189 Legien, Cari 331, 334, 362Í, 378 Lenin, Wladimir Ilj itsch 291,712 Leone, Enrico 204, 287, 289-292, 296f„ 300, 308, 394, 401,406, 725, 777 Lewis, Wyndham 309 Lichtblau, Klaus 45 Lichtheim, George 311 Liebknecht, Karl 279, 316, 324, 348, 359 Liebknecht, Wilhelm 347 Liefmann, Robert 616 Lili, Rudolf 630,657 Lindner, Theodor 34,112,148,165 Linz, Juan J. 147, 284, 381, 562, 725, 782 Lipset, Seymour Martin 467 Liszt, Franz v. 621 Lombroso, Cesare 29, 109, 142, 144,152, 163, 177-184, 195, 198,252,313, 396,401,436, 441, 518, 528f„ 531, 569, 621 f., 725

849 Lombroso, Gina 179, 622 Lombroso Carrara, Paola 179, 622 Loopuit, Josef 318 Loria, Achille 179, 362, 377f., 390, 399, 401 Löwenthal, Leo 776 Löwith, Karl 714 Ludendorff, Erich 693, 695, 784 Ludwig XIV. 97,111 Ludwig, Emil 786 Lukacs, Georg 488 Luxemburg, Rosa 129, 160, 203, 209, 225, 229f„ 245, 316, 318f„ 331, 364, 387, 426, 482, 575, 578, 660, 662-664 Lloyd George, David 610 Malagodi, Olindo 138 Malandrino, Corrado 284,292, 299, 318, 585 Malon, Benoit 663 Man, Hendrik de 112 Mancini, Stanislao 109, 111, 119, 121f„ 125, 619f. Mantegazza, Laura Solera 162 Marazio, Annibale 395 Marinetti, Filippo Tomaso 633 Martindale, Don 488 Marx, Karl 19, 29, 120, 153f„ 157-161, 167, 173, 204, 239, 244, 246, 249, 253f„ 264, 277, 285f„ 293, 303, 310, 317f„ 324, 381, 383, 400, 408f., 485, 488, 507, 522-524, 529f., 723 Masaryk, Tomás Garrigue 705, 708 Matteotti, Giacomo 659, 746-748, 750, 762, 765-767 Maus, Heinz 488 Mazzini, Giuseppe 134, 136, 663, 716f., 721 Mehring, Franz 217, 220, 319, 364 Meisel-Hess, Grete 67 Melograni, Piero 779 Mendelssohn Bartholdy, Albrecht 793 Merkel, Angela 438 Merz, Friedrich 438 Michelet, Jules 556 Michels, Daisy 361, 385, 388, 625, 638, 729 Michels, Italia 165 Michels, Julius 81 Michels, Peter 17,41,81 Michels, Manon 638 Michels, Mario 638

850 Michels, Richard 33 Michels-Lindner, Gisela 165, 614f., 632 Milbradt, Georg 460 Mill, John Stuart 134 Millerand, Alexandre 232 Milles, Joachim 471 Mises, Ludwig 723, 746, 780 Mitzmann, Arthur 20-22,41,147,193,198, 230, 248, 250, 272, 394 Mocchi, Walter 259-261 Molkenbuhr, Hermann 232, 344 Moltke, Helmuth v. 590 Mombert, Paul 616 Mommsen, Theodor 113 Mommsen, Wolfgang J. 679 Montesquieu, Michel de 188 Morgan, Oddino 377,401 Mosca, Gaetano 21, 27, 179, 390f., 395, 403, 406f„ 411, 422f., 435, 450, 468f„ 475, 479, 492, 498f„ 502, 513, 579f„ 621, 644, 661, 666, 726f., 748, 767 Moses 720 Mosse, Weiner E. 38, 62, 95, 531 Muehlon, Wilhelm 600, 669, 675, 685, 689, 693-703, 708f., 711f., 714, 719f., 733, 767 Münkler, Herfried 317, 536, 540 Münster, Graf v. 341 Mussolini, Benito 16, 19, 119, 204, 284, 461, 582, 596, 598, 633, 651, 653f., 669, 701f„ 716-718, 720-722, 724, 727, 729-731, 737, 741-743, 745-747, 749, 754-756, 758f„ 761 f., 764-769, 771 f., 774, 776, 781 f., 784, 786, 788f„ 794-798 Natorp, Paul 111 f., 121, 131, 400, 469 Napoleon 554 Napoleon III. 125,474 Nasi, Nunsio 176 Naumann, Friedrich 88, 206, 235,431 f., 566 Niceforo, Alfredo 163, 173, 177f., 313, 393, 416, 529-531,621 Nietzsche, Friedrich 180, 409, 771, 794 Nieuwenhuis, Ferdinand Dómela 179, 295f., 317 Nipperdey, Thomas 39, 45, 142 Nitti, Francesco Saverio 119, 669, 733f., 740, 781 Nolte, Ernst 19

Personenverzeichnis Nordau, Max 140f, 144, 179 Noske, Gustav 349f„ 370, 378f„ 389, 708, 719 Nyström, Anton 45 Offe, Claus 418 Olberg, Oda 61,317 Oppenheimer, Franz 488 Orlando, Vittorio Emanuele 654, 669, 734, 736 Ostrogorski, Moissei 621 Ostwald, Wilhelm 148 Pannekoek, Anton 160, 272, 3 83 Pantaleoni, Maffeo 756-759 Pareto, Vilfredo 24, 204,406f., 422, 458, 468, 479,498, 513, 62If., 776f. Paris, Rainer 424,429, 443,448, 458, 473 Parvus-Helphand, Alexander 316 Paulucci di Calboli, Raniero 179, 646, 703f. 71 lf., 716, 766, 796f. Péguy, Charles 311 Pelloutier, Fernand 288 Penzig, Rudolf 105f„ 248f. Petersen, Jens 742, 753, 755, 761, 763, 779, 783f„ 789 Pfannkuch, Wilhelm 222f. Pfetsch, Frank R. 742, 753, 755, 761, 763, 779, 783f„ 789 Pichón, Stépen 697 Pierstorff, Julius 116,361 Plenge, Johann 11, 594 Plessner, Helmuth 109 Podrecca, Guido 67 Pöggeler, Franz 692 Pohl, Otto 355 Pouthier, Jean-Luc 284, 377, 723 Prodi, Romano 440 Proudhon, Pierre Joseph 189, 204 Quarck, Max 217 Radbruch, Gustav 635 Rafalski, Traute 729 Rand, Carrie 704 Ratzel, Friedrich 480 Ratzenhofer, Gustav 480, 488, 622 Rembrandt van Rijn 558f.

Personenverzeichnis Reuter, Ernst 112 Ricci, Aldo G 730 Richter, Eugen 235 Rickert, Heinrich 167 Riesman, David 802 Ripepe, Eugenio 252 Rocco, Alfredo 756,769 Röhrich, Wilfried 19,21 -24, 147, 272, 284, 318,432, 562, 596, 724f. Roland-Holst, Henriette 318 Rolland, Romain 606 Romaines, Jules 204f., 701 Roosevelt, Franklin D. 786f. Rosenberg, Alfred 793 Rothacker, Erich 112 Rousseau, Jean-Jacques 19,23Í, 188, 409, 430, 433-435,472, 726 Saage, Richard 764 Salandra, Antonio 119, 583, 585, 588, 597, 612, 628, 633, 637, 650-652, 657, 669, 703, 721 Salin, Edgar 795,797 Salvatorelli, Luigi 753 Salvemini, Gaetano 605, 613, 742 Salz, Arthur 613 Santiano, Cesar 431 Savorgnan, Franco 480 Savonarola, Girolamo 189 Schäffle, Albert 488 Scharping, Rudolf 428 Schäuble, Wolfgang 441 Scheidemann, Philipp 112, 456, 674f., 678, 688f„ 698, 708f„ 719 Schieder, Theodor 546 Schieder, Wolfgang 764f„ 784, 786, 788 Schleyer, Johan Martin 128 Schlieffen, Alfred v. 339 Schmitt, Cari 728, 755, 793, 795, 804 Schmoller, Gustav 564, 622, 631, 633, 639, 642 Schöffel, Jutta 632 Schön, Manfred 631 Schopenhauer, Arthur 309,411,485,499, 522 Schröder, Gerhard 439f. Schulenburg, Werner v. 785 Schulz, Felix 483 Schümer, Dirk 427

851 Schumpeter, Joseph A. 26, 333,435,469, 472, 474f., 575 Shaw, Bernard 445 Siebeck, Paul 623-625, 641, 800 Sieyès, Abbé 552 Sighele, Scipio 163, 178, 182-184, 188, 397, 446f., 569, 574, 579 Simmel, Georg 20, 70, 74, 76, 179, 284, 486f„ 489Í, 504f., 524, 541, 591 Singer, Paul 215, 229, 353 Singer, Wolf 212 Sivini, Giordano 147, 284, 727 Smith, Adam 180 Sofsky, Wolfgang 424,429,443,448,458, 473 Sombart, Werner 20, 39,46, 92,103,179, 285, 301, 311, 391,488f„ 533, 593, 617f„ 630f., 640, 771,793 Sonnino, Sidney 734 Sorel, Georges 16, 147, 204, 211, 254, 272, 281 f., 284, 288, 291, 293, 301, 303f„ 308-315, 381, 395, 405, 408f„ 479, 555, 582,621,776 Spann, Othmar 488,616 Spahn, Martin 113 Spellanzon, Cesare 579 Spencer, Herbert 28, 108, 151, 153f., 193, 253,489, 496, 518f. Spriano, Paolo 166 Springer, Julius 596, 636f., 639 Stadthagen, Arthur 209,229 Stein, Lorenz v. 488,503 Steinberg, Hans-Josef 158, 228, 265, 347 Steiner, Thomas 783 Sternberger, Dolf 552 Sternhell, Zeev 281 f., 284 Stöcker, Helene 44, 49f. Stoiber, Edmund 438 Stölting, Erhard 284,481,527 Streitberg, Gisela v. (Gertrud Bülow von Dennewitz) 46 Szacki, Jerzy 488,490 Talmon, Jakob Tarde, Gabriel Tasca, Angelo Thesing, Curt Thesing, Emst

432 446f. 750 112 112

852 Thesing, Otto 206 Tiedemann, Heinrich v. 121, 271 Tiefenbach, Paul 338,348,428,461 Tobler, Mina 681 Tocqueville, Alexis de 621 Tolstoi, Leo N. 169, 206, 294 Tönnies, Ferdinand 621 f. Tosi, Luciano 596 Treitschke, Heinrich v. 18, 22, 113, 140, 142, 499, 594, 634 Tuccari, Francesco 23f., 165,430,432, 562,724 Turati, Filippo 173,257f„ 261f„ 266,464, 500 Ulrich, Carl 217 Unser, Margit 637 Vaillant, Edouard 259, 347, 353f., 375f. Vehlen, Thorstein 81,600 Vierkandt, Alfred 112,179,488,617f„ 620-622 Virchow, Rudolf 154, 157 Vittorio Emanuelle III. 754 Vöchting, Friedrich 804 Vollmar, Georg v. 208f., 225,232,240,242,270 Voltaire 188,409 Vorländer, Karl 111, 131, 298, 400, 408 Waldeck-Rousseau, René 232 Ward, Lester F. 488 Weber, Alfred 367,488 Weber, Marianne 623 Weber, Max 20f„ 23, 40f., 46-48, 69, 113, 116, 179, 202, 301, 361, 388, 390, 405,

Personenverzeichnis 415,425,465f., 480,483,486,489f., 499, 503, 538-540, 550f„ 556, 598, 614-620, 623-626, 630f., 633f., 639-644, 647, 657, 672, 679, 681 f., 696, 703, 727, 761f., 767f., 771,776, 781, 803f. Weber, Sven 209 Wehler, Hans-Ulrich 99f. Weininger, Otto 622 Welcker, Carl Theodor 503 Welskopp, Thomas 508 Wiese, Leopold v. 488,618, 621, 655, 740, 745 Wiesenthal, Helmuth 418,426 Wilhelm II. 96-98, 216, 257,263, 339, 341, 462, 555, 672, 690, 693 Wilbrandt, Robert 198 Wilson, Woodrow 670, 672, 675, 677, 685, 694, 700, 703, 705-709, 711f„ 716, 718, 740, 742 Winkler, Heinrich A. 388, 679 Wittich, Werner 616 Wolff, Theodor 786 Woltmann, Ludwig 135 Wolzogen, Ernst von 63 Wright Mills, C. 471 Wundt, Wilhelm 480 Wurm, Emanuel 225 Zetkin, Clara 44, 364, 379 Ziegler, Theobald 105 Znaniecki, Florian 488 Zweig, Stefan 592, 644, 793