BAND 18 Über das Narrative in der politischen Theorie 9783050084732, 9783050041452

Von Hannah Arendt stammt der Satz: "Wenn wir den Boden der Erfahrung verlieren, dann gelangen wir in alle möglichen

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German Pages 202 [204] Year 2005

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BAND 18 Über das Narrative in der politischen Theorie
 9783050084732, 9783050041452

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Grit Straßenberger Über das Narrative in der politischen Theorie

POLITISCHE IDEEN

Band 18

Herausgegeben von Herfried Münkler

Die politische Ideengeschichte hat seit dem Ende der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West, der Transformation der Gesellschaften Mittel- und Osteuropas, aber auch mit den seit dem Wegfall des klassischen Gegenbildes dringender gewordenen Fragen nach Werten und Zielen der westlichen Demokratien, nach der Möglichkeit von Gemeinwohlorientierungen usw. neue Bedeutung gewonnen. Gibt es in dem zunehmend differenzierten und segmentierten Fach Politikwissenschaft einen Bereich, in dem die verschiedenen Fragestellungen und Ansätze zusammengeführt werden, so ist dies die Geschichte der politischen Ideen sowie die politische Theorie. Insbesondere die politische Ideengeschichte erweist sich dabei als das Laboratorium, in dem gegenwärtige politische Konstellationen gleichsam experimentell an den Theoriegebäuden vergangener Zeiten überprüft, durchdacht und intellektuell bearbeitet werden können. Eine so verstandene politische Ideengeschichte ist gegenwartsbezogen, auch wenn sie sich den aktuellen politischen Problemen nur mittelbar zuzuwenden scheint. Diese Reihe ist ein Ort für die Publikation solcher Studien. Sie veröffentlicht herausragende Texte zur politischen Ideengeschichte und zur politischen Theorie.

Grit Straßenberger ••

Uber das Narrative in der politischen Theorie

Akademie Verlag

ISBN 3-05-004145-5

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2005 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden.

Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Einbandgestaltung: Petra Florath, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany

INHALTSVERZEICHNIS

Vorbemerkung

7

1 Public Philosophy

11

Politikbegriff

14

Verstehen

18

Erfahrung

27

Demokratiebegriff

31

2 Konturen einer guten politischen Ordnung

37

Neoaristotelismus: Skizze einer Debatte

37

Hannah Arendt: Eine genuin politische Handlungstheorie

40

Michael Walzer: Das Projekt der zivilen Gesellschaft

51

Martha Nussbaum: Tugendethischer Universalismus

62

Die Antike als Referenz

73

3 Der exemplarische Charakter antiker Narrationen

79

„Mut ist: wie Achilles sein"

81

„Das gelobte Land"

91

„Antigone" oder Die Tragik menschlichen Lebens

103

4 Theorie und Kritik

117

Eine Theorie der Enttäuschungsverarbeitung

119

Immanente Gesellschaftskritik: Moral und Interpretation

127

Kathartische Rationalität: Die kognitive Funktion von Gefühlen Gemeinsinn und erweiterte Denkungsart

. . . .

135 142

6

INHALTSVERZEICHNIS

5 Intellektuelle Tugenden

151

Das Dilemma der Intellektuellen

151

Paria-Existenz oder Hauptstromkritik

154

Intellektuelle im Porträt

157

Bindestrich-Identität und „Overstatement"

166

6 Narrativistische Wendungen

171

Leidenschaftliche Überzeugungen

171

Welche Öffentlichkeit?

180

Literaturverzeichnis

187

Siglen

187

Primärliteratur

188

Sekundärliteratur

192

Personenverzeichnis

201

Vorbemerkung

In der vorliegenden Arbeit sollen drei Konzeptionen normativer Theorie vorgestellt werden, die die Frage nach dem „Sinn" von Theorie für Politik erneut aufwerfen und dem Vorwurf der Wirklichkeitsfremdheit auf originäre Weise begegnen. Die zentrale These ist, daß Hannah Arendt, Michael Walzer und Martha Craven Nussbaum für einen Typus narrativ-hermeneutischer Theorie stehen, die mit starkem Rekurs auf die Antike eine kritische Auffassung der Moderne zu begründen sucht. Alle drei Autoren gehen davon aus, daß sich die Frage des Verhältnisses von guter politischer Ordnung und einem gelingenden menschlichen Leben keineswegs erledigt hat; vielmehr sei diese Frage gerade für moderne Politik relevant. Obgleich die Autoren unterschiedlichen zeitgeschichtlichen Diskursen angehören, ist ihnen gemeinsam, daß sie die moderne liberale Fokussierung auf die Rechte des Individuums, sein Leben frei entwerfen und gestalten zu können, für zu kurz gegriffen halten. Man müsse - nicht statt dessen, aber wohl darüber hinaus - die Bedingungen der Möglichkeit für ein wertvolles Leben eruieren, wofür man zumindest eine vage Vorstellung davon benötigt, was ein solches Leben ausmacht. In diesem Kontext fragt Arendt aus handlungstheoretischer Perspektive nach der Ermöglichung von positiver Freiheit; Walzers Intention ist eine politische Ethik, in der Gerechtigkeit und verschiedene Konzeptionen des guten Lebens auf spezifische Weise vermittelt sind. Nussbaum schließlich stellt in ihrer anthropologisch fundierten Theorie des Guten auf die politischen Rahmenbedingungen ab, die es Menschen ermöglichen, ihre grundsätzlichen Fähigkeiten auszuüben. Dabei ist den Autoren durchaus bewußt, daß sie sich mit ihren normativen Aspirationen auf schwierigem Terrain bewegen. Das schon von Aristoteles beschriebene Dilemma einer begrenzten Theoriefähigkeit der Praxis und einer ebenso begrenzten Praxisbedeutung der Theorie bildet den Ausgangspunkt, nach einem Bindeglied zu suchen, das die Kosten der Vermittlung von Theorie und Praxis minimieren könnte. Denn daß solche Transformationskosten entstehen, ist für Arendt, Walzer und Nussbaum gleichermaßen evident, und dennoch sind die Adressaten weder primär wissenschaftliche noch politische Eliten, sondern Bürgerinnen und Bürger, und der Ort, an dem Theorie praktisch werden soll, ist die Öffentlichkeit. Die Lösung für das Vermittlungsproblem sehen die Autoren in der Rückbindung von Theorie an Erfahrung. Diese Lösung aber scheint das Problem noch zu verkomplizieren. Zum einen ist der Erfahrungsbegriff selbst höchst unklar. Er ist mit verschiedenen

8

VORBEMERKUNG

Wahrnehmungen, Deutungsmustern sowie Begriffen verbunden. Zum anderen besitzen Erfahrungen ein irreduzibles subjektives Moment und sind mit nicht-rationalen Aspekten wie Gefühlen, Leidenschaften und Vorurteilen verbunden. Die Riickbindung von Theorien und Begriffen an Erfahrungen erscheint trotz der Schwierigkeiten als essentielle Aufgabe, da Erfahrungen eine erhebliche handlungsmotivierende und orientierende Macht entfalten können. Die Verkopplung von politischer Theorie und Erfahrung besitzt zudem eine große Attraktivität. In dem Maße wie den zugrundegelegten Erfahrungen Evidenz und Dignität zugeschrieben wird, beansprucht die theoretische Erkenntnis nicht nur Realitätsnähe, sondern zielt auf einen normativen Mehrwert ab, der oftmals nicht expliziert wird. Es gehört zu den Stärken von Arendt, Walzer und Nussbaum, daß sie ihre normativen Absichten offensiv betonen und ein spezifisches methodisches Konzept für die erfahrungsbezogene Begründung theoretischer Urteile entwickeln. Es gehört zu den Schwächen, daß der für ihre politische Theorie zentrale Begriff der Erfahrung nicht systematisch geklärt wird. Im ersten Kapitel der vorliegenden Studie wird daher der Versuch unternommen, den Erfahrungsbegriff und seine Verwendungsweisen in den politischen Theorien von Arendt, Walzer und Nussbaum herauszuarbeiten und dabei etwas klarer zu konturieren. Das entscheidende Ergebnis dieser methodischen Skizze ist zugleich die leitende These meiner vergleichende Studie: Die Autoren favorisieren keinen empirischen Erfahrungsbegriff, sondern rekurrieren auf in Literatur und Dichtung tradierte und normativ bereits reflektierte Erfahrungen. Sie stehen damit für einen Typus politischen Denkens, der auf eine narrativistische Vermittlung von Theorie und Erfahrung abhebt. Das erste Kapitel bietet damit eine vertiefende Diskussion der methodischen Grundlegung für die politischen Ordnungsentwürfe der Autoren, die im zweiten Kapitel skizziert werden. Im Zentrum steht hier der an Aristoteles orientierte Zusammenhang von politischer Ordnung und Konzeptionen des guten Lebens. Das dritte Kapitel übernimmt eine Scharnierfunktion, da innerhalb der methodischen Reflexionen über den exemplarischen Status der Homerischen Epen, der Exodus-Geschichte und Sophokles' Antigone ein zentrales Problem formuliert wird, auf das die narrativistischen Wendungen der Theorie reagieren: nämlich der Umgang mit Kontingenz. Die kompensatorische Leistung literarischer Imagination als spezifischer Typus politischen Denkens ist Gegenstand des vierten Kapitels. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf der Vermittlung von Kontingenzkompensation und Gesellschaftskritik, wie sie von Arendt und Walzer angestrebt wird, und auf der kognitiven Funktion von Gefühlen im Umgang mit Kontingenzerfahrungen bei Nussbaum. Die Diskussion der variierenden Konzeptionen von Gesellschaftskritik wird im fünften Kapitel mit Blick auf die zu den Theorien gehörenden IntellektuellenKonzepte weitergeführt, wobei die unterschiedlichen Akzentuierungen des Verhältnisses von Unparteilichkeit und Gemeinsinn als Grundproblematik intellektuellen Engagements im Mittelpunkt stehen. Den Abschluß der Arbeit bildet das sechste Kapitel. Hier werden zwei Akzente gesetzt: zum einen die Aufmerksamkeit narrativistischer Theorie für die Rolle von Gefühlen und Leidenschaften für politisches Handeln, zum

VORBEMERKUNG

9

anderen der Status von Public Philosophy innerhalb einer dramaturgischen Konzeption des öffentlich-politischen Raumes. Hinzugefügt werden muß abschließend, was die Arbeit nicht leisten kann. Der problembezogene Vergleich der drei durchaus divergierenden Varianten narrativhermeneutischer Theorie bietet keine allgemeine Einführung in die Werke der Autoren. Für die politischen Theorien von Arendt und Walzer ist dies eher unproblematisch. Hier gibt es neben Gesamtdarstellungen eine Fülle differenzierter und sensibler Interpretationen. Bei Nussbaum sieht das insofern anders aus, als sie, zumal in Deutschland, bislang eher zögerlich rezipiert wurde. Ein größeres Interesse an ihren Arbeiten läßt sich erst in letzter Zeit erkennen. So wird Nussbaum über den feministischen Diskurs hinaus mittlerweile im Kontext von gerechtigkeitstheoretischen Debatten und solchen um die Begründung universeller Menschenrechte rezipiert. Dennoch bleibt das Defizit einer grundlegenden Diskussion des umfangreichen Werkes dieser überaus produktiven Moraltheoretikerin. Die vorliegende Arbeit ist die überarbeitete und gekürzte Fassung meiner Dissertation, die im November 2002 von der Philosophischen Fakultät ΙΠ der HumboldtUniversität zu Berlin angenommen wurde. Das Promotionsprojekt wurde dankenswerterweise von der Heinrich-Böll-Stiftung und durch das Berliner Programm zur Förderung der Chancengleichheit für Frauen in Lehre und Forschung finanziell unterstützt. Am Ende bleibt mir die angenehme Pflicht, mich bei denen zu bedanken, ohne die dieses Projekt nicht zustande und nicht zum erfolgreichen Abschluß gekommen wäre. Zuvorderst gilt mein Dank Professor Herfried Münkler und Privatdozent Dr. Harald Bluhm, die die Arbeit von Beginn an unterstützten und nachdrücklich förderten. Zudem enthielten ihre Gutachten wichtige Anregungen für die Überarbeitung. Insbesondere Harald Bluhm verdanke ich die praktische Einsicht, daß Kritik der Weg ist, auf dem Erkenntnisse zu gewinnen sind. Profitiert habe ich ebenso von den freundschaftlichen Diskussionen am Lehrstuhl für politische Theorie und Ideengeschichte der HumboldtUniversität zu Berlin. Detlef Kannapin und Skadi Krause haben Teile der Arbeit gelesen und kritisch kommentiert. Nina Apelt und Christian Luther haben die ganze Arbeit Korrektur gelesen. Ihnen möchte ich ebenso danken wie Matthias Bohlender, der nicht nur die Druckformatvorlage erstellt hat, sondern mir in der Endphase der redaktionellen Überarbeitung ein verständnisvoller Kollege war. Susann Kästner und Frauke Pietsch trugen zum Gelingen des Projekts in einem Maße bei, wie es in einem Halbsatz nicht auszudrücken ist. Vor allem aber danke ich meiner Familie, meinen Eltern Peter und Renate Straßenberger, meiner Schwester Heike Fox und meinem Mann Peter Kaufmann. Ihnen möchte ich dieses Buch widmen. Berlin, August 2005

1 Public Philosophy

Auf die Frage von Günter Gaus, wie weit eine philosophische Erkenntnis auf persönliche Erfahrungen angewiesen ist, antwortete Hannah Arendt: „Ich glaube nicht, daß es irgendeinen Denkvorgang gibt, der ohne persönliche Erfahrung möglich ist. Alles Denken ist Nachdenken, der Sache nachdenken. Nicht? Ich lebe in der modernen Welt, und selbstverständlich habe ich in der modernen Welt meine Erfahrungen." (Arendt 1996: 67)

Arendt gehörte zu der Generation deutscher Juden, deren Leben sich durch den Holocaust grundsätzlich verändert hatte, auch wenn sie bereits 1933 Deutschland verließ und nach Frankreich und später Amerika emigrierte. Über Nacht war der in ihrer Jugend weder an Politik noch Geschichte interessierten Studentin der deutschen Existenzphilosophie eine politische Rolle zugewiesen worden, von der Arendt dreißig Jahre später sagte: Desinteresse war im Jahre 1933 nicht mehr möglich (Arendt 1996: 47). Bereits in ihren 1944 erschienenen Essays The Jew as Pariah: A Hidden Tradition stellte Arendt die Möglichkeit einer jüdischen „Paria-Existenz", die über zweihundert Jahre eine reale, wenn auch unpolitische Chance war, dem gesellschaftlichen Assimilationsdruck zu entgehen, radikal in Frage. Individuelle Auswege waren in der totalitären Welt nicht mehr möglich (VT: 79). Auch wenn Arendt später in ihren meta-theoretischen Überlegungen zur Rolle des Theoretikers wieder auf die Figur des Paria zurückkommt und den Standort am Rande der Gesellschaft als den einzig möglichen Ort kritisch-reflexiver Distanz bezeichnet, bildet das Ereignis der totalen Herrschaft den entscheidenden Hintergrund für ihren Entschluß, der Philosophie „endgültig Valet" zu sagen und sich fortan mit Nachdruck als politische Theoretikerin zu bezeichnen (Arendt 1996: 44f.). Wie Ernst Vollrath schreibt, ist Arendt das Politische aufgrund von Erfahrungen, die sie machen mußte, zum theoretischen Gegenstand geworden (Vollrath 1990: 14). Zwischen der Abkehr von der Philosophie und der professionellen Etablierung als Politikwissenschaftlerin lagen knapp zwanzig Jahre vor allem politischer Arbeit, von der Arendt im Rückblick schreibt, daß das Jahr 1933 die positive Erkenntnis bedeutete, daß in dunklen Zeiten diffamierender Verfolgung der „schwer verständliche Grundsatz" gilt, „daß man sich immer nur als das wehren kann, als was man angegriffen ist" (GL: 34). Positiv ist diese Erkenntnis, weil Arendt hier eine Erfahrung machte, die als Grundintention ihre Theorie politischen Handelns auszeichnet: Allein aus politischer

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PUBLIC PHILOSOPHY

Organisation erwächst die Chance, aus der passiven und ohnmächtigen Opferrolle verfolgter und ausgegrenzter Menschen herauszutreten und zum Handelnden zu werden.1 Eine generelle Skepsis gegenüber dem Versuch, philosophische Einsichten und eigene Erfahrungen zu entkoppeln, teilt auch Michael Walzer, wobei er generell das Unvermögen philosophischer Standardtheorien kritisiert, die Komplexität politischer Erfahrungswelten zu deuten. In seiner Skizze über Julien Bendas IntellektuellenKonzeption bemerkt er: ,3enda schreibt häufig über Wahrheit und Gerechtigkeit, als ob sie körperlose Begriffe wären. Doch sie sind bloß von der wirklichen Erfahrung abstrahiert. Es gehört nicht zu den Aufgaben des Intellektuellen, die Erfahrung in der Abstraktion zum Verschwinden zu bringen. Seine Aufgabe ist es, die Erfahrung dem kritischen Urteil zu unterziehen. Und das kann er tun, ja sogar nur dann tun, wenn er sie als seine eigene Erfahrung, das alltägliche Leben seiner Gemeinschaft wahrnimmt." (ZE: 64)

Walzer hat die Tatsache, daß seine Schriften aus einem unmittelbar politisch interessierten Engagement erwachsen und das Spezifische seines Werkes in einer sehr eigenen Mischung akademischer und politischer Erfahrungen liegt, offensiv betont: „Ich habe während dieser ganzen Zeit (der akademischen Ausbildung und wissenschaftlichen Arbeit, G. S.) auch für die linke Zeitschrift Dissent geschrieben. Dort kam ich mit einer ganz anderen Gruppe von Menschen zusammen; einige kamen aus marxistischen Bewegungen, einige waren eher freistehende Radikale. Sie alle haben meine politischen Ansichten geprägt. Mit ihnen nahm ich auch an zwei der politischen Bewegungen der sechziger Jahre teil: der Bürgerrechtsbewegung und der Anti-Vietnam-Bewegung." (EPPD: 140)

Walzer schreibt und urteilt über gesellschaftliche Konflikte aus der Perspektive eines politisch Beteiligten (vgl. Krause/Malowitz: 13f.). Das hat Konsequenzen sowohl für seinen Politikbegriff wie für den Status seiner politiktheoretischen Überlegungen, die er als politische Interventionen und damit zugleich als Teil gesellschaftlicher Praxis versteht. Einen intervenierenden Anspruch verfolgt auch Martha Nussbaum mit ihrer Verteidigung eines modernen Universalismus gegenüber der Beliebigkeit des postmodernen Relativismus. In Ansehung situationsspezifischer Lebensgeschichten armer, benachteiligter und unterdrückter Menschen und mit Rekurs auf als gemeinsam unterstellte menschliche Grunderfahrungen von Armut, Marginalisierung, Hunger, Schmerz entwirft sie eine normative Konzeption des guten Lebens, die als Basis nicht nur für eine lokale Ethik der Entwicklungspolitik verstanden wird, sondern auch als Grundlage einer globalen Ethik. Ihr Ziel ist es, einen moralphilosophischen Rahmens zu entwickeln, innerhalb dessen über die Möglichkeiten einer interkulturellen Politik der Gerechtigkeit nachgedacht werden kann. Wie man sich die konkrete Implementierung des allgemein moralphilosophischen Rahmen denken soll, beantwortet Nussbaum dezidiert nicht. Sie

1

Zu Arendts politischer Arbeit im französischen Exil und später in den Vereingten Staaten vgl. die Biographie Elisabeth Young-Bruehl Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit (1991).

PUBLIC PHILOSOPHY

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hält dies für eine Leistung politischer Theorie im engeren Sinne bzw. für die Aufgabe praktischer Entwicklungspolitik vor Ort. Ihre Überlegungen sind dabei jedoch nicht rein akademischer Natur. Neben einer enormen öffentlichen Präsenz in Tageszeitungen, kulturpolitischen Zeitschriften und auf Kongressen, kritischen Essays über Feminismus und die Diskriminierung Homosexueller, über Bildungspolitik und Gentechnik, über Patriotismus nach dem 11. September usf. arbeitete Nussbaum zwischen 1986 und 1993 für das der UNO angeschlossene World Institute for Development Economics Research. Mit dem Nobelpreisträger für Ökonomie 1998 Amartya Sen verfaßte sie die Studie The Quality of Life (1993), die mittlerweile von UNO-Institutionen genutzt wird, um die Lebensqualität innerhalb und zwischen Nationen zu messen. Ein Verständnis von politischer Theorie bzw. Moralphilosophie als theoretisch geleitete Intervention in politische Praxis und die Kritik an spekulativen, von konkreten Erfahrungswelten abstrahierenden Denksystemen gehören zu den ersten offensichtlichen Gemeinsamkeiten von Arendt, Walzer und Nussbaum.2 Aufgrund ihrer rationalistischen und normativistischen Ausrichtung ist die zeitgenössische politische Philosophie, wie vor allem Walzer kritisiert, außer Stande, als Anleitung zur politischen Praxis zu dienen. Sofern abstrakte Theorien dennoch einen Einfluß auf gesellschaftliche Praxis ausüben, wie der subjektivistische Utilitarismus, der in den Augen von Arendt und Nussbaum zur vorherrschenden Alltagsideologie moderner Gesellschaften geworden ist, untergraben sie systematisch die Bedingungen der Möglichkeit guten politischen Handelns. Die Betonung intellektuellen politischen Engagements und ihre nicht nur meta-theoretische Kritik an einem rationalistisch verkürzten, individualistischen Verständnis gesellschaftlicher Praxis ist gemeinsamer Ausgangspunkt für das Anliegen einer grundsätzlichen Neujustierung des Verhältnisses von Theorie und Erfahrung. Das Interesse der Autoren gilt dabei der Rehabilitierung politischer Theorie als Public Philosophy, die den alten Konflikt zwischen Politik und Philosophie zu lösen beansprucht.

2

Theorie und Philosophie werden von den Autoren weitgehend synonym verwandt. In Abgrenzung zu „bloßer" Theorie oder „reiner" Philosophie bezeichnen sich Arendt und Walzer als politische Theoretiker und letzterer zudem als moralisch argumentierender Gesellschaftstheoretiker, wobei für ihn Moralphilosophie eine allgemeine, alltägliche gesellschaftliche Praxis der Auseinandersetzung meint. Demgegenüber sieht sich Nussbaum vorrangig als Moralphilosophin, bezeichnet sich aber auch gelegentlich als politische Theoretikerin im weiteren Sinne. Ein weites Verständnis von politischer Theorie als allgemeiner und normativer Theorie, die in systematischer Hinsicht die Potentiale politischen Handelns in spezifischen historisch-politischen Kontexten auslotet, dient im folgenden als allgemeine Klammer für die drei im Hinblick auf den konkreten Gegenstand und die intendierte Reichweite sehr unterschiedlichen Ansätze.

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POLITIKBEGRIFF

Politikbegriff Die Vorurteile der Politik gegenüber der Philosophie und umgekehrt sind mindestens so alt wie der Fall Sokrates. Sokrates, der durch beständiges Fragen die Autorität des Bestehenden, die Gewohnheiten und Verhaltensregeln und die in Gesetzesform und institutionelle Regeln gegossenen politischen und gesellschaftlichen Arrangements hinterfragte, stellte in den Augen der Herrschenden eine so große Gefahr für den Bestand, die Stabilität und die Moral Athens dar, daß die Athener Sokrates zum Tode verurteilten. Und er, der einzige Philosoph, der die mit seinen Mitbürgern geteilte, gemeinsame Öffentlichkeit als den ihm angestammten Ort betrachtete, nahm das Urteil an und erkannte damit eben auch jene institutionelle Verfaßtheit der Polis an, der er sein Todesurteil verdankte. Dieser scheinbaren Selbstlosigkeit konnte Piaton nicht folgen. Für ihn bewies der Fall Sokrates, daß Philosophie und Politik sich in einem immerwährenden Konflikt befinden und daß die Idee einer philosophischen Erziehung der Menschen an der durchweg schlechten Regierung der Gemeinwesen seiner Zeit scheitern mußte. Die Auszeichnung der wahren Philosophie gegenüber dem bloßen Meinungsstreit der Politik und der potentiell tyrannischen Unvernunft demokratischer Willensbildung mündete in Piatons Idee der Philosophenherrschaft, in die Idee, daß man einzig im Licht der wahren Philosophie erkennen könne, wo Gerechtigkeit im öffentlichen und privaten Leben herrscht (vgl. Bluhm/Gebhardt 2001: 10). Der antiken Aufwertung der Philosophie gegenüber dem bloßen Meinungsstreit des Politischen hat Arendt in ihrer Interpretation von Gotthold Ephraim Lessings Ringparabel Nathan der Weise die Weisheit des Nathan entgegengestellt, die gerade darin bestand, daß er bereit war, die Wahrheit der Freundschaft und Menschlichkeit zu opfern (GL: 48). Der Konflikt zwischen Politik und Philosophie besteht nach Arendt im wesentlichen darin, daß politische Freiheit und philosophische Wahrheit sich ausschließen und die Freiheit, die aus der Pluralität menschlicher Wirklichkeit erwächst, an einer absoluten Idee des Guten, wenn diese den Bereich des Politischen erobert, zugrunde geht. Daher zieht Arendt eine scharfe Trennungslinie zwischen dem reinen Denken und dem politischen Handeln. Diese Trennung wird nochmals unterstützt durch eine topographische Zuordnung dieser beiden konträren Formen menschlichen Tuns: Der öffentlich-politische Raum ist dem Handeln, der private und der akademische Raum dem Denken vorbehalten. Hinter dieser Unterscheidung steht keine Über- oder Unterordnung von vita activa und vita contemplativa, es kommt aber auch nicht zu einer Vermittlung von Theorie und Praxis (vgl. VA: 22ff.). Diese wird über einen dritten Begriff angestrebt: das Verstehen als eine spezifische Form politischen Denkens. Während Denken im allgemeinen weitgehend mit Philosophie identifiziert wird, heißt politisches Denken, wie Harald Bluhm ausführt, für Arendt primär, „die Politik an einem ihr eigenen Maßstab zu messen, und der Ausgangspunkt hierfür ist die Anerkennung der Plura-

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lität der Meinungen, der praktischen Urteilskraft als besonderem politischen Vermögen und der Offenheit der Geschichte" (Bluhm 2001: 5).3 Während Arendt den Konflikt zwischen Philosophie und Politik auflöst, indem sie ihre politische Theorie als einen Verstehensprozeß konzipiert, der dezidiert auf Politik als einen spezifischen Tätigkeitsbereich bezogen sein soll, unterläuft Walzer die klassische Unterscheidung zwischen Theorie und Politik, indem er seine Gesellschaftstheorie selbst als eine Form gesellschaftlicher Praxis entwirft. Die Pointe ist, daß Walzer die Demokratie gegenüber der Philosophie adelt, indem er die konfliktuelle und pluralistische Grundstruktur des Politischen mit dem aus seiner Sicht von der Philosophie zwar beanspruchten, jedoch nicht eingelösten Versprechen erhöhter Selbstreflexivität kreuzt. Zugespitzt gesagt, kommt dabei eine demokratische Praxis heraus, die in einem Maße kritisch-reflexiv ist, wie es die Philosophie nie gewesen ist. Die Anerkennung des Vorrangs der Praxis vor der Theorie oder genauer der Autonomie demokratischer Willensbildungsprozesse gegenüber dem Absolutheitsanspruch universalistischer Philosophie wird in einem anspruchsvollen Modell demokratischer Öffentlichkeit verankert, das im stark normativen Sinne auf eine selbstreflexive politische Kultur abzielt (vgl. Buchstein/Schmalz-Bruns 1992: 377). Politische Theorie als Praxis leistet einerseits einen „ganz normalen" Beitrag zur politischen Diskussion um das Selbstverständnis einer konkreten politischen Gemeinschaft, ergreift Partei für diesen oder jenen Standpunkt in der Debatte und argumentiert für anstehende politische Entscheidungen. Darüber hinaus aber beabsichtigt sie, einen demokratischen Lernprozeß zu initiieren, der es Bürgern und Bürgerinnen ermöglicht, eine pluralistische Streitkultur zu entwickeln, in der kontroverse Standpunkte demokratisch-dialogisch vermittelt werden können. Gesellschaftstheorie nimmt so die Gestalt einer vorbildlichen politischen Praxis an, die - und das ist die zweite Pointe - nicht deduktiv-rationalistisch begründet wird, sondern zum Erfahrungsbereich politischer Praxis gehört. Der Modus, über den dieser menschliche Erfahrungsbereich erschlossen wird, ist für Walzer der Weg der „interpretativen Moralphilosophie", der vorrangig auf eine „immanente Gesellschaftstheorie und -kritik" orientiert, aber für eine ganz bestimmte Art der Universalisierung, abhängig vom Kontext der Argumentation, explizit geöffnet wird.4

3

4

Im Gegensatz zu Bluhm, der kritisch einwendet, daß Arendt keine strikte Unterscheidung von politischem Denken und Denken im allgemeinen vornimmt, womit auf die fehlende methodische Reflexion der Begrifflichkeit abgehoben wird, stellt Dag Javier Opstaele (1999) Arendts philosophisches Konzept des reinen Denkens in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen. Für ihn bestand Arendts Anliegen gerade darin, nicht nur der Politik, sondern auch dem reinen Denken einen sicheren Ort zu schaffen. Ihr unvollendetes Werk Vom Leben des Geistes sei in dieser Absicht in Angriff genommen worden. Vgl. dazu die drei Aufsätze in Kritik und Gemeinsinn. Drei Wege der Gesellschaftskritik (1993) sowie seine Unterscheidung zwischen maximalistischer Moral und moralischem Minimalismus in Lokale Kritik - globale Standards (1996).

16

POLITIKBEGRIFF

Gegen diesen „schwachen" Begriff von Theorie, der die Verallgemeinerungsfähigkeit einer auf Praxis hin entworfenen politischen Theorie in Frage stellt, arbeitet Nussbaum mit einem „starken" Theoriekonzept, das ein höheres Maß an Abstraktheit einfordert, um als Leitfaden für die Zukunft dienen zu können. Theorie ist für sie nur dann Theorie, wenn sie eine Reihe expliziter Annahmen sowie Prinzipien für die Praxis enthält. Diese Praxisbedeutung von Theorie schließt einen kontextsensiblen Umgang mit partikularen Besonderheiten ausdrücklich ein. Es bedarf jedoch eines allgemeinen Maßstabes der Kritik, der sich von kulturellen Besonderheiten derart distanzieren kann, daß die Unzulänglichkeiten der Praxis überhaupt erst sichtbar werden. „Eine zutreffende Auffassung von Moraltheorie besagt, daß es sich um eine Reihe explizit und systematisch formulierter Gründe und miteinander zusammenhängender Argumente handelt, die ein gewisses Maß an Abstraktheit und Allgemeinheit aufweisen, so daß damit Hinweise für die ethische Praxis gegeben werden." (MT: 27)

Unter der Annahme des grundsätzlich defizitären Charakters von Praxis fungiert Moraltheorie als notwendiges allgemeines Korrektiv, das über das Theoriemittel der Verfremdung „unserem guten Urteilsvermögen" hilft, sich gegenüber „dem bösen Einfluß von seiten verdorbener Begierden, Urteile und Leidenschaften" zu erwehren (MT: 66). Im Gegensatz zu Regelsystemen sprechen Theorien ihre Hörer als denkende Wesen an; sie richten sich, wie Nussbaum schreibt, an ein vernünftiges Publikum, das argumentativen Begründungen gegenüber aufgeschlossen ist. Der Ort, an dem Moraltheorie praktisch wird, ist daher die Öffentlichkeit und ihr Adressat sind politisch Handelnde, die willens und imstande sind, ihre Handlungen und deren ethische Grundlagen zu reflektieren. Die Lösungsvorschläge, die Arendt, Walzer und Nussbaum für den Konflikt zwischen Philosophie und Politik anbieten, sind durchaus verschieden. Gemeinsam ist ihnen, daß sie ihre Theoriekonzeption in scharfer Abgrenzung zu Piaton entwerfen. Am deutlichsten wird dies bei Arendt und Walzer. Arendt kritisiert die mit Piaton anhebende abendländische Tradition politischer Philosophie, die im privilegierten Rückzug auf einen externen Standpunkt - außerhalb der Höhle - die Unzulänglichkeit menschlicher Praxis an allgemeinen Kriterien des Guten oder des Wahren bemißt. Die beschränkte Anerkennung, die der vita activa dabei zuteil wird, kommt einer Degradierung der von Menschen geschaffenen Welt gleich und versperrt den Blick auf die Entwicklungspotentiale und Gestaltungsmöglichkeiten, die handelnde Menschen in Hinblick auf Form und Inhalt ihres Zusammenlebens haben. Dem gegenüber will Arendt einen genuin politischen Begriff der vita activa wiedergewinnen, der die hierarchische Ordnung zwischen dem „trostlosen Ungefähr der menschlichen Angelegenheiten" (Kant) und der wahren Erkenntnis von Dingen, die sich so und nicht anders verhalten können, bezweifelt: „Wenn ich von der Vita activa rede, so setze ich voraus, daß die in ihr beschlossenen Tätigkeiten sich nicht auf ein immer gleichbleibendes Grundanliegen ,des Menschen überhaupt' zu-

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rückführen lassen, und daß sie ferner den Grundanliegen einer Vita contemplativa weder überlegen noch unterlegen sind." (VA: 22f.)

Der platonischen Herrschaft der Philosophie stellt Arendt nicht nur die strikte Trennung von reinem Denken und politischem Handeln gegenüber, sondern plädiert mit dem Verstehen als einer besonderen Form politischen Denkens für eine andere, neue Konzeption von politischer Theorie. Diese bleibt als Theorie von praktischer Politik unterschieden, nimmt aber für sich in Anspruch, einen qualifizierten Beitrag für das Selbstverständnis von Politik zu leisten. Wiewohl sich Arendt gegen eine Vorstellung von Theorie wendet, die einen der Politik fremden, äußerlichen Maßstab ansetzt, argumentiert sie gleichzeitig gegen ein unkritisches Verständnis von Politik, das allein in Faktizität aufgeht. Sie grenzt sich damit doppelt ab: zum einen gegenüber der traditionellen politischen Philosophie von Piaton bis Marx, der sie eine problematische Entkopplung von Begriffen und Erfahrungen attestiert, die es rückgängig zu machen gilt. Zum anderen wendet sie sich gegen die in den 1950er und 60er Jahren dominanten empirischpositivistischen Sozialwissenschaften, denen sie vorwirft, überwiegend etatistisch und herrschaftszentriert zu sein (vgl. Bluhm 2001a: 4). Walzer dagegen löst den Konflikt zwischen Philosophie und Politik zugunsten der letzteren auf. Ausgangspunkt und Bezugsrahmen politischer Theorie ist Praxis, nicht Praxis im allgemeinen, sondern diejenige politische Praxis, die jeweils Gegenstand der kritischen Reflexion ist. Nicht die „Höhle" schlechthin wird zum Bezugsrahmen der Betrachtung, sondern die konkrete Höhle mit ihrem spezifischen kulturellen und historischen Kontext. Immanente Gesellschaftstheorie meint daher mehr, als Politik mit politischen Maßstäben zu messen; Walzer will konkrete politische Praxis mit den dieser Praxis inhärenten Maßstäben messen. „Seit einer Reihe von Jahren schon verwahre ich mich [...] gegen die Behauptung, daß moralische Grundsätze der alltäglichen Erfahrungswelt notwendig fremd sein müßten und dort draußen darauf warteten, von einem distanzierten und leidenschaftlichen Philosophen entdeckt zu werden. Mir scheint vielmehr die Alltagswelt eine moralische Welt zu sein, und wir täten besser daran, die ihr immanenten Regeln, Maxime, Konventionen und Ideale zu analysieren, als sie uns, indem wir nach einem universalen und transzendenten Standpunkt suchen, vom Leibe zu halten." (ZE: 7)

In Walzers Perspektive ist es gerade die Nähe des Theoretikers zur beobachteten und analysierten Gesellschaft, die seine kritische Reflexion praktisch verständlich und politisch anschlußfahig macht. Die von Walzer explizit gegen Piatons politische Philosophie gerichtete Frage nach dem, was für Mitglieder eines konkreten und begrenzten politischen Gemeinwesens gut ist, zielt auf eine universalismuskritische Theorie moderner Gesellschaften. Eine solche relativistische Einstellung ist für Nussbaum sowohl theoretisch wie ethisch unhaltbar. Theorie ist ihrem Wesen nach antirelativistisch, d. h. sie muß auf allgemeiner Ebene eine Erklärung letzter Zwecke geben. Erst im zweiten Gang, bei Fragen konkreter Anwendung, wendet sich Theorie lokalen Besonderheiten zu. Überdies bedarf es aus

VERSTEHEN

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Nussbaums Sicht einer Moraltheorie gerade deshalb, weil der Austausch ethischer Kritik im Alltag nicht ausreichend ist, um Verzerrungen in unseren Praktiken aufzudecken (vgl. MT: 5 Iff.). Ausschlaggebend für ihre Ablehnung Piatons sind weder Abstraktionsgrad noch universalistische Reichweite, sondern seine Loslösung absoluter Wahrheit von menschlichen Erfahrungen sowie der elitistische Charakter seiner politischen Philosophie. Die Adressaten von Piatons Theorie sind Philosophen und Gesetzgeber, nicht aber die handelnden Menschen selbst. Die Anerkennung von Menschen als vernünftige Wesen ist eine notwendige Voraussetzung für die Vermittlung von Theorie und Praxis, die Nussbaum zufolge über eine Beteiligung der Philosophie am öffentlichen Diskurs zu geschehen hat. Daher geht sie zunächst hinter Piaton zurück, wenn sie schreibt: „Wer eine Moraltheorie vertritt, ist ein Nachfolger des Sokrates." (MT: 71) Mit Sokrates ist die Figur eines öffentlichen Philosophen verbunden, dessen häretischer Anspruch, das vermeintlich Selbstverständliche von Handlungsnormen und Wertüberzeugungen zu hinterfragen, für Arendt, Walzer und Nussbaum zum Vorbild für eine hermeneutische, an Erfahrungen gekoppelte Begründung normativer Urteile wird.5

Verstehen Für die politische Theorie von Arendt, Walzer und Nussbaum sind drei Begriffe zentral: Verstehen, Erfahrung und Demokratie. Zwar bieten die Autoren keine systematische Unterscheidung dieser Begriffe an - weder gibt es eine zusammenfassende Darstellung ihrer methodischen Überlegungen noch beziehen sie sich dort, wo sie vornehmlich in Abgrenzung zu deontologischen Begründungsverfahren innerhalb der politischen Philosophie methodische Fragen erörtern, explizit auf diese Begriffe - doch entlang ihrer differenzierenden Ausdeutung läßt sich das den drei Ansätzen inhärente Programm einer narrativistischen Wendung politischer Theorie explizieren. Arendt entwickelt ihr Verstehenskonzept in Abgrenzung zu geschichtsphilosophischen und positivistischen Erklärungsmodellen. Während im ersten Fall der Sinn konkreten menschlichen Handelns im Bedeutungshorizont der allgemeinen Menschheitsgeschichte transzendiert wird, ist für den „Sozialingenieur" die Frage nach dem Sinn menschlichen Lebens und Zusammenlebens obsolet geworden. Reduziert die Geschichtsphilosophie das einzelne, anschauliche Ereignis auf eine bloße Exponentenfunktion innerhalb eines gesetzmäßig verlaufenden Entwicklungsprozesses, so reißt

5

Wie Pierre Hadot akzentuiert, handelt es sich bei Sokrates' Infragestellung nicht um eine des scheinbaren Wissens, sondern vielmehr um eine Infragestellung der Werte, die das eigene Leben leiten. Am Ende steht die Distanz, die der Befragte zu sich selbst aufbaut, und eine Annäherung an den Fragenden im Sinne einer gegenseitigen Übereinstimmung (Hadot 1999: 45f.).

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Karl Poppers „Stückwerk-Technik"6 einzelne Momente gesellschaftlicher oder politischer Praxis aus ihrem Handlungszusammenhang und unterwirft sie einer den naturwissenschaftlichen Methoden entlehnten Fehler- und Korrekturanalyse. Verstehen wird dagegen von Arendt zunächst im Sinne Johann Droysens als interpretative Deutung begriffen: als „ein Lockermachen und Auseinanderlegen dieses unscheinbaren Materials nach der ganzen Fülle seiner Momente, der zahllosen Fäden, die sich zu einem Knoten verschürzt haben, das durch die Kunst der Interpretation gleichsam wieder rege wird und Sprache gewinnt" (Droysen 1977: 163). Auch wenn Arendt sich in keiner Weise auf Droysen bezieht, steht ihr Zugriff auf das „komplexe menschliche Handlungsgewebe", das man nicht erklären, sondern dessen Sinn nur auf dem Wege des Verstehens entschlüsselt werden kann, in der Tradition der seit Droysen geführten Methodendiskussion zwischen naturwissenschaftlichem Erklären und geisteswissenschaftlichem Verstehen. Im Gegensatz zur Historik Droysens und dem Wilhelm Diltheyschen Historismus geht es Arendt jedoch nicht um eine gelingende Reproduktion vorhandenen Sinns, sondern um die sinnstiftende, sinnproduzierende Funktion des Verstehens. Dazu wird der perspektivische Charakter, der dem Verstehen gegenüber dem Erklären immer schon inhärent ist, von Arendt gleich zweifach ausgedeutet: zum einen klassisch, daß historische Ereignisse nur durch perspektivische Darstellungen hindurch zugänglich sind, womit dem radikalen Objektivismus über die Multiperspektivität, in der die Welt betrachtet werden kann, eine Absage erteilt wird. Zum anderen werden Texte als Niederschlag von Lebenserfahrung gedeutet, die über das Verstehen gleichermaßen erinnert wie an gegenwärtige politische Praxis sinnvoll angebunden werden sollen, so daß darüber ein Horizont möglicher Handlungsoptionen erschlossen werden kann. Verstehen dessen, was war, was geschehen ist, bedeutet für Arendt immer eine interpretative Aneignung der Vergangenheit vom Standpunkt der Gegenwart aus. Verstehen ist daher nicht kognitiv-betrachtend, sondern beschreibt den interaktiven Prozeß zwischen Mensch und Welt.7 Indem Arendt den Zusammenhang von Verstehen und Handeln ins Zentrum rückt - sie spricht von Verstehen als der anderen Seite des Handelns - , vollzieht sie den Übergang vom Verstehen eines vorgegebenen Sinns zum Verstehen als praktischer Orientierungsleistung nach, der unter dem Begriff der pragmatischen Wende der Hermeneutik mit den Namen Dilthey und Martin Heidegger verknüpft ist (vgl. Jung 2001: 71). Ohne dies methodisch zu reflektieren, nimmt Arendt drei wesentliche Aspekte der klassischen Hermeneutik auf. Erstens ist Verstehen der Grundmodus des menschlichen 6 7

Mit diesem Begriff bezeichnet Popper im Vorwort zu The Open Society and its Enemies die einzige rationale Art der Steuerung gesellschaftlichen Handelns (eng. 1950; dt. 1957). „Welt" wird von Arendt metaphorisch als ,3ezugsgewebe der menschlichen Angelegenheiten" beschrieben, als das Zusammenspiel einer immer schon über Narrationen interpretierten Welt und der Möglichkeiten, diese Geschichten wieder und wieder nachzuerzählen, zu interpretieren und anders handelnd darzustellen (VA: 174).

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In-der-Welt-Seins.8 Verstehen, schreibt Arendt, wird der Mensch, solange er lebt. Es „ist eine nicht endende Tätigkeit, durch die wir die Wirklichkeit, in ständigem Abwandeln und Verändern, begreifen und uns mit ihr versöhnen, d. h. durch die wir versuchen, in der Welt zu Hause zu sein" (VP: 110). Zweitens hat Verstehen als Suche nach dem sozialen Sinn von Phänomenen immer den Charakter einer „intersubjektiven Objektivität", womit Diltheys antisubjektivistische wie antiobjektivistische Ausrichtung der Hermeneutik aufgenommen wird (vgl. Dilthey 1997). Antisubjektivistisch ist Arendts Konzept des Verstehens, weil es sich explizit gegen die Vorstellung richtet, es würde sich um eine Art Einfühlung in den Standpunkt eines anderen handeln. Verstehen bezieht sich auf etwas Objektives, in Arendts Konzept auf in Narrationen tradierte Lebenserfahrung. Insofern sich Lebenserfahrungen aber auf Wesen mit Innenperspektive beziehen, kann Verstehen nicht objektivistisch gedeutet werden. Die Teilnehmerperspektive kann daher nicht aufgehoben, sondern nur intersubjektiv objektiviert werden. Arendt verwendet dafür den Kant entlehnten Begriff der „repräsentativen Einbildungskraft" (U: 76).9 Damit verbunden ist drittens die Annahme der grundsätzlich zirkulären Struktur des Verstehens, wonach einerseits das Verstehen die „Teilhabe am gemeinsamen Sinn innerhalb eines öffentlichen Wir-Raumes" erfordert, wie andererseits ein Ausstieg aus dem gemeinsamen Verstehenshorizont für generell unmöglich gehalten wird (Tietz 1999: 50).10 Arendt beschreibt den Zirkel des Verstehens, indem sie unterscheidet zwischen „vorgängigem Verstehen", in dem sich eine ursprüngliche Erfahrung unreflektiert artikuliert, „Wissen", das auf dem vorausgehenden Verstehen gründet, ohne sich dieses Vorverständnis kritisch bewußt zu machen, und „wahrem Verstehen", welches dem Wissen, das den „ A r i a d n e f a d e n des gesunden Menschenverstandes" verloren hat, dadurch Sinn verleiht, daß es das Wissen transzendiert, indem es zum vorgängigen Verstehen zurückkehrt (VP: 113ff.). Interpretieren

Diese Grundannahmen der klassischen Hermeneutik nimmt auch Walzer in sein Projekt einer „interpretativen Moralphilosophie" auf, und ebenfalls ohne expliziten Verweis auf diese Tradition. Statt dessen entdeckt er in seiner Auseinandersetzung mit drei paradigmatischen Ansätzen in der Moralphilosophie und Gesellschaftskritik Diltheys Grundintention gewissermaßen aufs Neue: den Gedanken nämlich, „daß jede Erkenntnistheorie, die die Perspektive der dritten Person einnimmt, die Phänomene verfehlen muß, in denen sich sozialer Sinn konstituiert" (Jung 2001: 74). Der Hauptvorwurf, den 8

Martin Heidegger schreibt: „Auf dem Grunde dieses mithaften In-der-Welt-Seins ist die Welt je schon immer die, die ich mit den anderen teile. Die Welt des Daseins ist Mitwelt. Das In-Sein ist Mitsein mit Anderen." (Heidegger 1993:118). 9 Arendt bezieht sich hier auf Kants „Kritik der ästhetischen Urteilskraft", in der der Geschmack als eine Art sensus communis entworfen wird (vgl. Kant 1996: 224ff.). 10 Zur zirkulären Struktur des Verstehens vgl. Gadamer 1990: 297.

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Walzer in seinem Buch Kritik und Gemeinsinn gegen die „entdeckende" und die „erfindende" Moralphilosophie vorbringt, die er weitgehend mit universalistischer Theorie in ihren naturalistischen Rechtfertigungsmodellen einerseits und ihren deontologischkonstruktivistischen Begründungsweisen andererseits identifiziert, ist ihre unzulässige Abstraktion von menschlicher Erfahrungswelt bzw. deren Reduktion auf rein kognitive Prozesse. Die Teilnehmerperspektive, womit hier zunächst auf die Mitgliedschaft in einer konkreten „Erfahrungsgemeinschaft" abgehoben wird, ist für Walzer unumgänglich.11 Über die Ablehnung eines objektiven Standortes außerhalb konkreter Erfahrungswelten hinaus, bestreitet Walzer wie Arendt die Möglichkeit, sich überhaupt in ein „Nirgendwo" zurückziehen zu können: „Alle unsere moralischen Kategorien, Beziehungen, Verpflichtungen und Hoffnungen (auch die der entdeckenden und erfindenden Philosophie, G. S.) sind bereits von dieser existierenden Moral geformt und werden in ihrem Vokabular formuliert. Die Pfade der Entdeckung und Erfindung sind Fluchtversuche: Versuche, einen Ausweg zu irgendeinem äußeren und allgemeingültigen Standort zu finden, mittels dessen die moralische Existenz zu beurteilen wäre." (DWM: 31)

Der Modus der Interpretation oder, anders ausgedrückt, der grundsätzlich narrativistische Zugang zur Welt ist demnach für Walzer nicht nur der beste Weg für eine kritische Moralphilosophie, sondern letztlich der einzig mögliche - nur sind sich die Theoretiker, die andere Wege einschlagen, darüber nicht im klaren. Sie spielen sich, mit Arendt gesprochen, als Experten der Politik auf, weil sie das Vorverständnis vergessen haben, auf dem ihr Wissen gründet (VP: 114). Neben der Kritik an universalistischen Begründungsansprüchen normativer Theorie will Walzer aber noch auf etwas anderes hinaus. Der Modus der Interpretation beschreibt das praktisch-verstehende Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt. Gesellschaftliche Praxis läßt sich für Walzer am sinnvollsten als Interpretation begreifen. Jede politische Gemeinschaft konstituiert sich über die Interpretation ihrer Geschichte, Kultur und Tradition und der darin eingelagerten Werte und Normen selbst immer wieder neu, wobei Walzer davon ausgeht, daß es vor allem die politische Gemeinschaft ist, die den Sinnhorizont gegenseitigen Verstehens abgibt. Er spricht in diesem Zusammenhang von einer „Verstehensgemeinschaft", in der sich gemeinsame Sprache, Geschichte und Tradition zu einem kollektiven Bewußtsein, zu einer geteilten Auffassung über die moralische Kultur dieser Gemeinschaft verbinden (SG: 61) Mit dem Begriff der „Verstehensgemeinschaft" soll die lebensweltliche Verankerung politischer Theorie als immanenter Gesellschaftskritik begründet werden. Wenn sich der Theoretiker in den Maßstäben seiner Kritik auf die in einem konkreten Gemeinwesen geteilten Überzeugungen und Werte bezieht, kann er ein Verstehen voraussetzen,

11 In Kritik und Gemeinsinn schreibt Walzer: ,,[D]ie Interpretation einer moralischen Kultur zielt auf alle Männer und Frauen, die an dieser Kultur teilhaben - die Mitglieder einer .Erfahrungsgemeinschaft', wie wir sie nennen könnten" (Walzer 1993: 115, Fußnote 42).

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das im Falle von universalistischen Moralphilosophien erst geschaffen bzw. idealer Weise konstruiert werden muß. Dabei wird die klassische hermeneutische Position, daß ein Verstehen ohne Vorverständnis nicht möglich ist, spezifisch ausgedeutet. Obgleich auch Walzer davon ausgeht, daß es grundsätzliche Werte gibt, die Menschen über kulturelle Differenzen hinweg miteinander teilen - er spricht hier von einem „moralischen Minimalismus" - , sind diese immer in einen spezifischen Kontext des Verstehens eingebettet. Wir verstehen Ereignisse oder Phänomene und die sich in ihnen artikulierenden grundsätzlichen Überzeugungen oder Werte entsprechend unseren eigenen Erfahrungen und innerhalb eines konkreten kulturellen Erfahrungshorizontes. Die kontextuelle Verankerung des Verstehens bedeutet aber für Walzer nicht - ebensowenig wie für Arendt - , der Tradition einen Vorrang gegenüber dem reflexiven Verstehen einzuräumen. Interpretation wird vielmehr als kreativer Prozeß begriffen, in dem Traditionen aufgebrochen und gesellschaftlich dominante Deutungsmuster in Frage gestellt werden. Die retrospektive Dimension des Verstehens, also die Rückbezüglichkeit auf den Vergangenheitshorizont (Arendt) oder die Tradition (Walzer), die ein gemeinsames Verstehen erst ermöglicht, wird von beiden Autoren reflexiv gewendet zu einem produktiven Umgang mit der Überlieferung vom Standpunkt der Gegenwart aus. Heideggers pragmatische und existentialistische Neubestimmung der Hermeneutik, in der Verstehen nicht mehr die theoretische Erschließung von Texten meint, sondern die interpretative Auslegung von Welt durch Menschen, wird ohne systematischen Bezug auf Heidegger von Arendt und Walzer in zwei Richtungen weiterentwickelt: Zum einen sind gesellschaftlichen Deutungsmustern politische Erfahrungen inhärent. Sie lassen sich bergen, wenn man den Diskurs von Interpretationsgemeinschaften untersucht. Kritisches Verstehen oder Interpretieren geht jedoch darüber hinaus. Dominant gewordene Deutungsmuster werden in Hinblick darauf interpretiert, welche Erfahrungen in ihnen nicht mehr oder doch nur in rudimentärer Form enthalten sind. Am Ende dieser Art Meta-Reflexion wird eine andere, möglicherweise qualifiziertere Interpretationsvariante angeboten. Hier liegt die Vermutung nahe, daß es sich um eine Neuauflage von Heideggers und Gadamers Auslegung des hermeneutischen Zirkels handelt. Danach ist die Tatsache, daß man aus dem Zirkel des Verstehens nicht herauskommt, noch kein Zugeständnis an die Beliebigkeit des Erkennens. Vielmehr komme es darauf an, auf die rechte Weise in den Zirkel hineinzukommen. Für Heidegger und Gadamer verbirgt sich im Zirkel „eine positive Möglichkeit ursprünglichsten Erkennens, die freilich in echter Weise nur dann ergriffen ist, wenn die Auslegung verstanden hat, daß ihre erste, ständige und letzte Aufgabe bleibt, sich jeweils Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff nicht durch Einfälle und Volksbegriffe vorgeben zu lassen, sondern in deren Ausarbeitung aus den Sachen selbst her das wissenschaftliche Thema zu sichern" (Gadamer 1990: 270f.). Für das Verständnis des hermeneutischen Ansatzes von Arendt und Walzer ist hier zunächst relevant, daß beide die Vorstellung ablehnen, jemand hätte tatsächlich den Schlüssel zum Sinn des Ganzen in der Hand. Verstehen ist ein nicht-endender Prozeß, der nur Momen-

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te des historischen oder politischen Urteils kennt. Unterhalb dieser Gemeinsamkeit gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den Autoren. Im Gegensatz zu Walzer besteht Arendt auf dem Unterschied zwischen dem „wahren Verstehen" des Betrachters und dem ursprünglichen Verstehen handelnder Menschen. Sie begründet dies zunächst politisch mit der Unparteilichkeit des Betrachters, die es ihm ermöglicht, sich weitgehend vorurteilsfrei die unterschiedlichen Perspektiven innerhalb eines komplexen Handlungsgewebes zu vergegenwärtigen und darüber eine das Ganze erfassende Sinninterpretation anzubieten, wozu ein politisch Handelnder aufgrund seiner immer partikularen Position im politischen Raum nicht imstande ist.12 Darüber hinaus glaubt Arendt, mit Rekurs auf Walter Benjamins „punktuelles Bergen" von Traditionsgehalten, über eine „Tiefenhermeneutik" politischer Begriffe die in ihnen enthaltenen ursprünglichen Erfahrungen wiederentdecken zu können.13 Unter der Oberfläche historischer Interpretationen kann die in der Sprache selbst abgelagerte ursprüngliche Bedeutung von Phänomenen wieder ans Tageslicht geholt werden. In der Kopplung von Tiefenhermeneutik politischer Begriffe und Ursprungsphilosophie nimmt Arendt Heideggers Idee einer Destruktion der Tradition auf, die er in seiner Metaphysik-Kritik entfaltet hat (vgl. Bluhm 2003: 72). Tradition wird von Arendt gleichgesetzt mit politischen und/oder philosophisch hegemonialen Interpretationen von Erfahrungen, deren ursprünglicher Gehalt dadurch verlorengegangen ist. Wahres Verstehen - nunmehr ausdrücklich als Leistung von Theorie gefaßt, den ursprünglichen Sinn von Politik, Freiheit, Handeln oder Revolution wiederzugewinnen - wird so gleichermaßen in kritischer Abgrenzung zur philosophischen Tradition wie zu politisch-instrumentellen Interpretationsmustern entworfen. Wenngleich Walzer in Exodus und Revolution verschiedene politische und philosophische Rezeptionssmuster der Exodus-Geschichte wegen ihres elitären, antidemokratischen und instrumenteilen Politikverständnisses kritisiert und in Abgrenzung zu diesen eine eigene „sozialdemokratische" Interpretation anbietet, macht er keinen Unterschied zwischen „schlechter" Tradition und „wahrem Verstehen". Für ihn ist Tradition ein Bündel von Interpretationsvarianten, die sich in sehr unterschiedlicher und interessengeleiteter Weise auf gemeinsam geteilte Überzeugungen beziehen. Die Tatsache, daß Menschen sich in der öffentlichen Rechtfertigung dessen, was sie wollen und was sie tun, auf ein gemeinsames Verständnis von Werten beziehen müssen, um Zustimmung erlangen zu können, macht es überhaupt erst möglich, von einer politischen Kultur und geteilten Überzeugungen zu sprechen. In einem zweiten Schritt wird dieses Verständnis einer neuen oder anderen Interpretation unterworfen. Diese „Lesart ist nicht von anderer 12 Das „Ganze" ist bezogen auf die Vermittlung von vergangener Geschichte als abgeschlossene Ereignisse und der Gegenwart, die sich in spezifischer Weise ihrer eigenen Vergangenheit bemächtigt. Arendt läßt die Zukunft ausdrücklich offen, denn es ist keineswegs ausgemacht, was Menschen aus ihrer Geschichte lernen und was dies für zukünftiges Handeln bedeutet. 13 Zu Arendts Verständnis von Benjamins .echten Ursprungsphänomenen' vgl. ihren Aufsatz Walter Benjamin (1989a: 201ff.).

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Art als alle anderen Lesarten - sie ist nur von besserer Qualität: sie erhellt uns das Gedicht auf schlagende und überzeugende Weise" (DWM: 40). Die Qualität bemißt sich nicht an Kriterien wie richtig oder falsch, auch wird eine Interpretation nicht glaubhafter, weil der Interpret unparteilich ist oder weil er die richtige Distanz zu den Dingen hat, die er beurteilt. Allein in ihrer Anerkennung im öffentlichen Raum, in der breiten Zustimmung, die sie von den Menschen erfahrt, in der Tatsache, wie Walzer schreibt, daß sie zu Momenten des moralischen Urteils gerinnt, zeigt sich die Qualität einer Interpretation. Auch für Arendt ist das Urteil des Betrachters nicht über jeden Zweifel erhaben, aber die Öffentlichkeit bestimmt nicht allein die Qualität des Urteils. Walzers bisweilen radikale Privilegierung demokratischer Willensbildungsprozesse gegenüber theoretischer Reflexion ist zwar an ein anspruchvolles Modell pluralistischdialogischer Praxis gebunden, blendet aber realistische Fälle von Konformitätsdruck aus, die insbesondere in politischen und gesellschaftlichen Krisen gerade von der „öffentlichen Meinung" ausgehen können. Jenseits einer funktionierenden demokratischen Öffentlichkeit, die offen und pluralistisch ist, hat Walzer kein Notkonzept. Ein solches bietet Arendt. Ihr politisches Denken ist sogar in einem besonderen Maße an Ausnahme- oder „Grenz-Situationen" (Karl Jaspers) orientiert. In großer Skepsis gegenüber der sogenannten „öffentlichen Meinung", von der - wie Arendt im Rückblick auf eigene Erfahrungen im nationalsozialistischen Deutschland betont - ein Konformitätsdruck ausgehen kann, der dem praktischen Urteilsvermögen zuwiderläuft, plädiert sie für eine Distanzierung von in der Diskussion befindlichen Meinungen.14 Hier gibt es Parallelen zu Nussbaum, die es genereller als Arendt ablehnt, die Normen einer bestimmten Gesellschaft oder Gruppe als letzte Instanz in ethischen Angelegenheiten zu betrachten. Stattdessen plädiert sie für eine empirisch-essentialistische Begründung einer Theorie des guten Lebens und Handelns. Akzentverschiebungen

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Nussbaums Moraltheorie beruht vor allem auf zwei Annahmen: Zum einen hält sie den Begriff der menschlichen Natur für normativ gehaltvoll, zum anderen ist sie der Auffassung, daß eine universalistische Anthropologie über eine interne Rekonstruktion unseres Wissens um uns selbst begründet werden kann. Danach sind es die fundamentalsten und am häufigsten geteilten Erfahrungen von Menschen, die zusammen leben und nachdenken, über die Nussbaum zu einem Begriff der menschlichen Natur vordringen will. Eine solche Konzeption, schreibt sie, 14 Wie nachdrücklich die Erfahrung der Gleichschaltung für Arendt gewesen ist, beschreibt sie in ihrem Fernsehgespräch mit Günter Gaus im Oktober 1964: „Das Problem, das persönliche Problem war doch nicht etwa, was unsere Feinde taten, sondern was unsere Freunde taten. Was damals in der Welle von Gleichschaltung, die ja ziemlich freiwillig war, jedenfalls noch nicht unter dem Druck des Terrors vorging: das war, als ob sich ein leerer Raum um einen bildete." (Arendt 1996: 56).

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„fußt keineswegs auf einer .metaphysischen Biologie' [...], sondern auf gemeinsamen Mythen und Geschichten unterschiedlicher Zeiten und Orte, Geschichten, die sowohl den Freunden als auch den Fremden erklären, was es bedeutet, ein Mensch und nicht etwas anderes zu sein" (GGL: 46).

Den Ansatz, aus in Geschichten und Mythen unterschiedlicher Zeiten und Kulturen enthaltenen menschlichen Erfahrungen eine normative Konzeption der menschlichen Natur zu rekonstruieren, nennt Nussbaum empirischer Essentialismus oder interner Realismus. Er wird als Alternative zu einem kriterienlosen Relativismus wie zu einem metaphysischen oder externen Essentialismus entwickelt. Auch hier werden zwei klassische hermeneutische Positionen aufgegriffen: Erstens werden Texte als Niederschlag von Erfahrungen gedeutet, die einer spezifischen hermeneutischen Interpretation - hier im Interesse einer allgemeinen Theorie des guten Lebens - zugänglich sind. Zweitens sind es vor allem Erfahrungen, die den Hintergrund bilden, vor dem Menschen sich selbst verstehen und begreifen. Eine von diesen Erfahrungen unabhängige Theorie des Guten würde sich auf einen Standpunkt außerhalb menschlichen Daseins überhaupt stellen; eine solche radikale Sicht von „außen" hält Nussbaum - darin ist sie mit Walzer und Arendt einig - für einen Mythos. Gegen Nussbaums methodisches Konzept sind vor allem zwei Einwände vorgebracht worden. Der erste betrifft ihre Behauptung, daß der Begriff der menschlichen Natur nur einer normativen Auslegung zugängig sei, so daß aus der Perspektive eines internen Realismus die Grenzen zwischen der empirischen und der normativen Ebene fließend werden. Es sei nicht einsichtig, schreibt Herlinde Pauer-Studer in ihrer Einleitung zu Gerechtigkeit oder das gute Leben (1999), warum aus der internen Position notwendig eine Entdifferenzierang von Fakten und Normen folgen muß, zumal Nussbaum von einem solchen Unterschied ausgeht, wenn sie uns in Hinblick auf die Entwicklungspolitik daran erinnern will, „daß sich die Grundbedürfnisse von Menschen decken, daß sich das Ernährungssystem weit entfernt lebender Menschen nicht von dem unseren unterscheidet und etwa Menschen den Hunger in Indien nicht anders empfinden als in einem Industrieland" (Pauer-Studer in Nussbaum 1999: 12). Die ethische Berücksichtigung grundsätzlicher Dinge über Menschen, über ihre Grenzen, Fähigkeiten und Möglichkeiten würde weder verlangen, normative aus faktischen Aussagen abzuleiten, noch alle Tatsachen in Normen zu verwandeln.15 In Hinblick auf ihre Kritik am Relativismus wäre eine derartige Verknüpfung sogar kontraproduktiv. Wenn also Nussbaum von der menschlichen Natur als einem normativen Begriff spricht, so präzisiert Pauer-Studer,

15 Dagegen spricht Nussbaums zweistufige Konstruktion der Fähigkeiten-Liste, die zwischen der allgemeinen Struktur der menschlichen Lebensform, ihren Möglichkeiten und Grenzen, und der eigentlich normativen Ebene unterscheidet, die auf die Ausbildung eines Gesamtkatalogs menschlich wertvoller Fähigkeiten ausgerichtet ist und den Abbau von Begrenzungen fordert, die ihrer Ausübung entgegenstehen. So folgt aus dem Faktum der Sterblichkeit nicht zwangsläufig, daß es wertvoll ist, möglichst lange zu leben. Man könnte daraus auch die entgegengesetzte Schlußfolgerung ziehen und die medizinisch-technische Rettung oder Verlängerung des Lebens ablehnen.

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sind dabei nicht eigentlich natürliche Fakten gemeint, sondern menschliche Selbstbeschreibungen, die bereits normative Setzungen enthalten. Während Pauer-Studers Kritik sich im wesentlichen auf ein begriffliches Mißverständnis reduziert, lehnt Christiane Scherer den Ansatz, die empirische Dimension könne nur in Form normativer Setzungen in die Ethik eingehen, grundsätzlich ab. Scherer zufolge, stellt die Bevorzugung von Mythen, Epen und Sagen eine starke Vorentscheidung dar. „Ob dies wirklich geeignete Quellen sind, um zu erfahren, was Menschen empirischerweise als wichtig und bestimmend für ihr Leben empfanden, erscheint eher fraglich, wenn man davon ausgeht, daß sich diese Dokumente auf empirische, menschliche Selbstverständnisse in einer hochgradig vermittelten Weise beziehen, anstatt deren unmittelbarer Ausdruck zu sein." (Scherer 1993: 908) Treffend an diesem Einwand ist, daß es sich hier um eine weitreichende Vorentscheidung handelt, aber der Ansatz selbst wird dadurch nicht in Frage gestellt. Scherer vermag nicht zu sagen, was gegen die Auswahl ethisch reflektierter und über Narrationen tradierter Erfahrungen spricht. Für diesen narrativistischen Zugang zu menschlichen Erfahrungen spricht, daß das Erzählen eine grundlegende menschliche Tätigkeit und die Erzählung eine universale Form ist, in der menschliche Erfahrungen tradiert werden.16 Die außerordentliche Wertschätzung von Dichtung und Literatur teilen Arendt und Walzer mit Nussbaum. Sie messen poetischen Werken gar eine herausragende kognitive Rolle für die Ausbildung einer selbstreflexiven politischen Praxis bei. Gerade gegenüber den modernen Massenmedien plädieren sie für eine Wiederbelebung der Lesekultur und betonen die öffentliche Funktion von Dichtern und Erzählern. Diese Wertschätzung verbleibt dabei nicht auf einer der Theorie äußerlichen Ebene. Das grundsätzlich hermeneutische Verständnis von Praxis und Theorie wird mit einem hohen Stellenwert von Ideengeschichte für politisches Handeln, Urteilen und Meinungsbildung verbunden. Ideengeschichte - und als essentieller Teil davon Literatur und Dichtung - eröffnet aus Sicht der Autoren ein wertvolles Reservoir politischer Erfahrungen, aus dem, in einem spezifischen Horizont entwickelt, handlungsorientierende Vorbilder gewonnen werden können.17 In der Unterscheidung zwischen Erfahrungen, ihrer Narrativierung und deren ideeller Bedeutung für politisches Handeln wird gleichwohl der Akzent im Verstehen

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Für Eberhard Lämmert machen „Göttergeschichten, Heldengeschichten, die Schöpfungsgeschichte [...] darauf aufmerksam, daß Kulturen ihre ältesten Weisheiten nicht säuberlich geordnet, sondern als Erzählungen übermitteln. Seit alters her hören Menschengemeinschaften, die über den Kosmos oder über sich selbst und ihre Herkunft Bescheid wissen wollen, gerne auf Erzähler, denn Erzähler vermögen eher als alle, die in einer entfalteten Kultur ihren einzelnen Beschäftigungen nachgehen, kollektive Erfahrungen zu sammeln und zu einer Geschichte zu ordnen." (Lämmert 1982: VIII) Herfried Münkler hat die Marginalisierung der Ideengeschichte innerhalb der Politikwissenschaft auf die Vorstellung zurückgeführt, daß politische Ideen nicht mehr seien als ein kognitiver Nachvollzug sozio-ökonomischer Strukturen und praktischer Politik (Münkler 1999: 23).

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verschoben. Er rückt von politischen Handlungen auf das Verstehen von Erzählungen, die Handlungen begleiten, und die darin eingebetteten Erfahrungen. Diese narrativistische Wendung des Verstehens erfolgt in der Reflexion auf das bereits von Aristoteles beschriebene Dilemma einer begrenzten Praxisfähigkeit von Theorie und einer ebenso begrenzten Theoriefahigkeit von Praxis. In Reaktion auf dieses Dilemma fordern Arendt, Walzer und Nussbaum eine Rückbindung von Theorie an Erfahrung. Sie favorisieren aber keinen schlicht empirischen Erfahrungsbegriff, sondern rekurrieren auf in Narrationen tradierte und normativ bereits reflektierte Erfahrungen. Solchen ausgewählten Erfahrungen „zweiter Ordnung"18 wird in einer weiteren Differenzierung ein exemplarischer Status dahingehend zugeschrieben, daß sie in ihrer Besonderheit zugleich allgemeine Wert- und Urteilsmaßstäbe enthalten, die von politischen Akteuren innerhalb ihres Erfahrungshorizontes identifizierbar sind. Die Vermittlung von universellen und partikularen Orientierungen ist das zentrale Problem narrativistischer Theorie. Es wird bei den Autoren auf unterschiedliche Weise angegangen. Neben methodischen Überlegungen, wie eine Verallgemeinerung besonderer Erfahrungen gelingen kann, entwickeln Arendt, Walzer und Nussbaum divergierende Konzeptualisierungen von Erfahrungen im engeren Sinne.

Erfahrung Erfahrung kommt in den Werken von Arendt, Walzer und Nussbaum eine zentrale Rolle zu. Der eigentliche Gegenstand von Theorie - sofern es sich nicht um reines Denken handelt - ist Erfahrung. Aus Sicht der Autoren dienen Theorien primär dazu, Erfahrungen zu interpretieren und aus ihnen Erkenntnisse zu gewinnen, die für gegenwärtiges Handeln nutzbar gemacht werden können. Nun ist der Erfahrungsbegriff selbst aber eine schwierige, ungenaue Kategorie. Für Gadamer gehört er zu den unaufgeklärtesten Begriffen, die wir besitzen (Gadamer 1990: 352). Eine Schwierigkeit liegt in einer gewissen Inkompatibilität zwischen der Komplexität des Phänomens und seiner begrifflichen Vereindeutigung. Seit Aristoteles' Bestimmung von Erfahrung als ein Wissen besonderer Art, als Fähigkeit im Sinne eines Geübtseins in, eines Vertrautseins mit etwas, gibt es in der Philosophie und den Sozialwissenschaften zahlreiche Versuche, Erfahrung terminologisch präzise zu bestimmen.19 Wir sprechen von hermeneutischen Erfahrungen, wenn wir die Kontingenz des EineErfahrung-Machens betonen, und von praktischen Erfahrungen im Sinne von erworbenen, akkumulierten Fähigkeiten. Wir unterscheiden zwischen eigenen, Generations- und kollektiven Erfahrungen oder zwischen primären, unmittelbar erlebten, und sekundären, 18 19

Erfahrungen „zweiter Ordnung" sind kognitiv bewältigte, interpretierte bzw. normativ bereits reflektierte Erfahrungen. Zum Erfahrungsbegriff bei Aristoteles vgl. Kambartel (1972: Sp. 609-610).

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gewußten, Erfahrungen. Wir kennen im Anschluß an letzteres auch die Steigerungsform der tertiären Erfahrung oder Erfahrung „dritter Ordnung", womit eine Art Metareflexion von Erfahrung und Erfahrungsverarbeitung gemeint ist. Daneben verwenden wir häufig Termini wie „totalitäre Erfahrung", „genuin politische Erfahrung", „Grunderfahrung", „Grenzerfahrung", „Erfahrungen von Ungerechtigkeit", von „Ausgrenzung", von „Verletzlichkeit" usw. Schließlich ist nicht selten von Erfahrungen der Sache nach die Rede, ohne dass der Begriff selbst verwandt wird. Substitutsbegriffe sind dann „Wirklichkeit", phronesis, „geteilte Überzeugungen", „Tradition" oder „vergegenwärtigte Vergangenheit".20 Erfahrung ist aber auch deshalb ein Problem, weil ihr eine subjektive Dimension inne wohnt und sie mit nicht-rationalen Aspekten wie Leidenschaften, Emotionen und Vorurteilen verbunden ist. Aufgrund der subjektiven wie nicht-kognitivistischen Ausrichtung scheint sich Erfahrung der theoretischen Reflexion zu entziehen. Skepsis hinsichtlich einer Vermittlung von Theorie und Erfahrung äußert auch Arendt: „[W]enn wir den Boden der Erfahrung verlieren, dann gelangen wir in alle möglichen Arten von Theorie." (Arendt 1996: 79) Wenngleich damit keine generelle Absage an Theorie verbunden ist, verweist Arendt auf eine grundsätzliche Schwierigkeit. Erfahrungen sind nämlich immer besondere Erfahrungen und als solche an konkrete Handlungskontexte gebunden, aus denen heraus sie ihren Sinn gewinnen. Wie aber lassen sich besondere, an konkrete Lebensumstände gebundene Erfahrungen bergen und, damit verbunden, sich aus ihnen Erkenntnisse gewinnen, die über den konkreten Handlungshorizont hinausreichen? Arendt, Walzer und Nussbaum bieten zwar ein Lösung für dieses Problem, gleichwohl ist der von ihnen verwandte Erfahrungsbegriff systematisch unterbestimmt. So spricht Arendt vielfach von authentischen Erfahrungen handelnder Akteure, die es zu bergen gilt, gemeint sind aber bereits objektivierte, in politischen Institutionen und vor allem in Narrationen tradierte Erfahrungen. Sie unterscheidet darüber hinaus zwischen sozialen und politischen Erfahrungen. Zu ersteren gehören spezifisch moderne Erfahrungen wie Vereinzelung, Verlassenheit, Weltverlust. Als politisch werden dagegen Erfahrungen gemeinsamen Handelns bezeichnet, wozu in ausgezeichneter Weise das Beginnen von Neuem gehört oder, wie Arendt mit Blick auf die Amerikanische Revolution betont, die Gründung eines neuen politischen Gemeinwesens.21

20 In jüngster Zeit sind eine Reihe von Arbeiten zum Begriff der Erfahrung in politischer Theorie, Philosophie und Soziologie und deren Relevanz für politische Praxis erschienen. Zum Verhältnis von Erfahrung und Empirie vgl. Schneider/Inhetveen 1992, zum soziologischen Erfahrungsbegriff vgl. Hahn 1994, zum Begriff der Erfahrung in der modernen Philosophie vgl. Freudiger/Graeser/Petrus 1996, zum Stellenwert der Erfahrung für politische Praxis vgl. Hartmann 2002, 2003. 21 Wie Bluhm (2003: 79) betont, unterscheidet Arendt soziale und politische Erfahrungen im Sinne einer Ausschließlichkeit. Danach ist die soziale Erfahrung der Verlassenheit, des Weltverlustes geradezu eine Kennzeichen des Ausbleibens politischer Erfahrung.

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In der Auszeichnung von genuin politischen Erfahrungen als das Beginnen von Neuem unterscheidet Arendt implizit zwischen „Erfahrungen haben" und „Erfahrungen machen", wobei ersteres auf Kontinuität und gelungene Integration von Erlebnissen verweist, und mit zweitem das Erlebnis eines Bruches angesprochen ist. Etwas Neues, Unerwartetes ist geschehen, das nicht nahtlos in den bisher gültigen Erfahrungshorizont eingefügt werden kann. Gadamer hat dies als „Negativität der Erfahrung" bezeichnet. „Wenn wir an einem Gegenstand eine Erfahrung machen, so heißt das, daß wir die Dinge bisher nicht richtig gesehen haben und nun besser wissen, wie es damit steht." (Gadamer 1990: 359) Worauf Gadamer hier Bezug nimmt, ist die Kontingenz des „eine Erfahrung-macAerti". Die Kontingenz in der Erfahrung nimmt Arendt systematisch in ihr Konzept politischen Verstehens auf. Danach besteht die Aufgabe des Verstehens wesentlich darin, das Neue in der Erfahrung wahrzunehmen und den Bruch gegenüber dem Alten deutlich zu machen. Die Erfahrung des Bruchs reserviert Arendt jedoch nicht allein für das kreativistische Moment politischen Handelns. In der Moderne ist es aus ihrer Sicht gerade der Totalitarismus, der die Erfahrung eines grundsätzlichen Bruchs mit allen bisher gültigen Erwartungshaltungen und Weltbildern bezeichnet. Walzer nutzt den Erfahrungsbegriff eher selten. Substitutsbegriffe sind geteilte Überzeugungen, gemeinsame Werte oder kollektive Deutungsmuster, die Gebräuchen und rituellen Praktiken einer bestimmten Gesellschaft inhärent sind und geborgen werden können. Damit werden gegenüber Arendt zwei Differenzen deutlich. Entgegen einer engen Kopplung von Erfahrungen und Krisensituationen verknüpft Walzer Erfahrung mit Gewohnheit im Sinne eines Repertoires von eingeübten Fähigkeiten. Zudem betont Walzer stärker den Zusammenhang von Erfahrung und politischer Identität, wenn er von Tradition als gelungener Integration von Ereignissen und deren Verdichtung zu einem verbindlichen Kanon kollektiver Erfahrungen spricht.22 Neben Erfahrungen, die aus einem Fundus praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten gewonnen werden,23 und in historischen Narrationen tradierten kollektiven Erfahrungen nimmt Walzer implizit Grunderfahrungen an, wie von Unterdrückung, aber auch von Pluralität, die verallgemeinerbar sind. Solche Grunderfahrungen ermöglichen ein intuitives Verstehen, ein sehr allgemeines Wiedererkennen von eigenen Erfahrungen in denen anderer (vgl. DDS: 13ff.).24 Gleichwohl interessieren ihn mehr die konkreten und partikularen Deutungen von Erfahrungen, die sich in Variationen von Narrationen niederschlagen. Hier gibt es eine Parallele zu Arendt, die explizit verschiedene Grunderfahrungen unterscheidet: Leiblichkeit im Sinne der Reproduktion der Gattung, Weltlichkeit oder 22 23 24

Zu Erfahrung als „gegenwärtige Vergangenheit", deren Ereignisse einverleibt worden sind und erinnert werden können vgl. Reinhart Koselleck 1995: 354. Zum Begriff der praktischen Erfahrung in Abgrenzung zur hermeneutischen und phänomenologischen vgl. Hartmann 2003: 203ff. Zu Pluralität als Grunderfahrung vgl. auch Walzers Interpretation der Schöpfungsgeschichte „Zwei Arten von Universalismus" (NW: 139ff.). Verallgemeinerbare Erfahrungen wie Unterdrückung und Befreiung verhandelt Walzer insbesondere in Exodus und Revolution (ER: 157).

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Dinglichkeit als Angewiesenheit menschlicher Existenz auf Gegenständlichkeit und Objektivität und schließlich Pluralität als Grunderfahrung von Einzigartigkeit (VA: 14f.). Wenngleich Arendt hier von allgemeinen Bedingtheiten der menschlichen Existenz spricht, womit im Gegensatz zu Walzer die Vergleichbarkeit oder Verallgemeinerbarkeit dieser Grunderfahrungen formal-anthropologisch begründet wird, betreibt sie im weiteren deren Kontextualisierung. Dabei interessieren sie vor allem jene Ereignisse in der Geschichte, in denen diese Grunderfahrungen politisch relevant geworden sind. Für Arendt wie für Walzer besitzen politische Erfahrungen einen irreduziblen partikularen Charakter. Als immer besondere sind sie daher nur bedingt - nämlich vermittels eines spezifischen methodischen Programms - einer Dekontextualisierung zugänglich. Ihre theoretischen Annahmen entwickeln sie im wesentlichen aus der Analyse konkreter Ereignisse und mit Bezug auf partikulare politische Erfahrungen. Demgegenüber betreibt Nussbaum eine Strategie der Dekontextualisierung von Erfahrung. Zwar rekurriert auch sie auf grundlegende Erfahrungen, die ein gutes Leben ausmachen, transformiert das Problem aber in ein universalistisch-anthropologisches Konzept menschücher Fähigkeiten. In der Betonung der sozialen Funktion des Staates fragt sie kulturübergreifend danach, welche Fähigkeiten für die Führung eines gutes Lebens notwendig sind und wie man diese ausbilden und sichern kann. Von dort aus rücken mögliche Erfahrungen in den Blick. Danach korrespondieren grundlegende Fähigkeiten wie die zu voller Lebensdauer und guter Gesundheit, zu sozialen Beziehungen und praktischer Vernunft mit bestimmten Grunderfahrungen wie Sterblichkeit, menschliche Körper, der Angewiesenheit auf bestimmte kognitive Fähigkeiten sowie auf Gemeinschaft mit und Zugehörigkeit zu anderen Menschen (vgl. GGL: 49ff, 235ff.). So divergierend die Theoretiker Erfahrungen im engeren Sinne konzeptualisieren, weisen ihre Entwürfe einer hermeneutisch-narrativen Explikation von Erfahrung drei charakteristische Gemeinsamkeiten auf, die aus der bereits angesprochenen Akzentverschiebung im Verstehen resultieren. Danach rekurrieren sie erstens nicht auf primäre oder persönliche Lebenserfahrungen Einzelner im Umgang mit anderen, sondern auf sekundäre, in Erzählungen artikulierte und normativ bereits reflektierte Erfahrungen. Politische Theorie gewinnt so einen von empirischer Forschung deutlich unterschiedenen Gegenstand. Damit verbunden ist ein zweiter Punkt, der direkt auf den normativen Mehrwert von politischer Theorie abzielt. In ihrem Rekurs auf in Narrationen tradierte Erfahrungen unterscheiden die Autoren Grunderzählungen von solchen, die in der Darstellung und Bewertung eines konkreten Handlungskontextes ein Wissen des Besonderen artikulieren. Dagegen sind in Grunderzählungen Erfahrungen enthalten, die in ihrer Partikularität zugleich allgemeine Wert- und Urteilsmaßstäbe formulieren. Diese ausgewählten Erfahrungen besitzen einen exemplarischen Charakter, weil sie kommunikativ in politische Handlungskontexte übersetzt wurden, also in einem ideellen Sinne konstitutiv geworden sind, und/oder ideengeschichtlich rezipiert wurden. Solche exemplarischen Narrationen sind aus Sicht der Autoren die Homerischen Epen, die Exodus-

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Geschichte und die griechische Tragödiendichtung und hier insbesondere Sophokles' Antigone. Die Auswahl der exemplarischen Narrationen zeigt jedoch, daß bereits im Vorfeld anspruchsvolle Maßstäbe an das kulturelle Niveau der gesellschaftlichen Selbstverständigungsdiskurse gestellt werden. So kann heutzutage nicht davon ausgegangen werden, daß die Homerischen Epen, Sophokles' Antigone oder die Exodus-Geschichte einem großen Publikum bekannt sind oder gar von ihm umfassend rezipiert werden. Die praktische Vermittlungsleistung, die Dichtung und Literatur für die Erfahrungsbezogenheit und Anschaulichkeit von narrativistischer Theorie zugesprochen wird, muß von Theorie im Sinne einer materialen Erinnerungsleistung erst erbracht werden. Narrativistische Theorie besitzt daher - und das ist die dritte grundsätzliche Gemeinsamkeit - eine mnemotische Dimension. So gehen die Autoren zwar davon aus, daß die in den ausgewählten Grunderzählungen tradierten Erfahrungen wirkmächtig geworden sind, deren eigentlicher Gehalt aber durch politische Instrumentalisierungen verlorengegangen sei. Die Wiedererinnerung an ein genuines Verständnis politischer Freiheit, gerechter Politik und verantwortlichem Handeln oder einem guten Leben unter den immer prekären Bedingungen der conditio humana, wie es exemplarisch in den Epen, der ExodusGeschichte oder Antigone verhandelt wird, ist die von den Autoren favorisierte Form praxisbezogener Kritik. Deutlich wird dies in den gegenwartsbezogenen Analysen von Arendt, Walzer und Nussbaum, wenn sie gegenüber der in der Praxis so wirksam gewordenen amerikanischen Ideologie privaten Wohlstandsstrebens jene Erfahrungsgehalte aufbieten, die zum Gründungsmythos der Vereinigten Staaten gehören und wenngleich für Arendt und Nussbaum in sehr reduzierter Form - nach wie vor gelebte Praxis sind, wie Erfahrungen sozial und politisch integrativen Handelns in zivilgesellschaftlichen Assoziationen und politischen Vereinigungen, einschließlich Erfahrungen von Protest und kollektiver Gehorsamsverweigerung.

Demokratiebegriff Der Anspruch narrativistischer Theorie, eine erfahrungsbezogene Kritik der Praxis zu liefern, die in die öffentlichen Selbstverständigungsdiskurse der Bürger intervenierend eingreift, korrespondiert mit einer vehementen Kritik an kognitivistischen und normativistischen Varianten politisch-philosophischen Denkens. Illustrativ für diese enge Verkopplung von Praxis- mit Theoriekritik sind Nussbaums Verweise auf die Komplementarität von Individualismus und Utilitarismus. Sie kritisiert die Vereinigten Staaten als ein zunehmend von individuellen Einzelinteressen dominiertes und zersplittertes Gebilde, in dem ethische Tugenden wie Gerechtigkeit, Freigebigkeit oder Mitgefühl nicht besonders hoch im Kurs stehen. Die neoliberale Politik des Wirtschaftswachstums und die utilitaristische Theorie rational handelnder Nutzenmaximierer sind eine unheilvolle

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DEMOKRATTEBEGRIFF

Allianz eingegangen und haben aus dem amerikanischen Traum eine individuelle Erfolgsstory gemacht. Menschen, so Nussbaums Kritik gegenüber der aus ihrer Sicht dominierenden utilitaristisch-rationalistischen Geisteshaltung, werden nicht mehr als Mitmenschen wahrgenommen, denen gegenüber man verantwortlich und über vielfältige soziale Beziehungen verbunden ist, sondern als Koordinaten in einem System rationaler Lebensplanung. Nussbaums Bild der amerikanischen Gesellschaft scheint mitunter etwas überzeichnet. Darin ist sie Arendt nicht unähnlich, die dreißig Jahre zuvor der Moderne überhaupt und der amerikanischen Gesellschaft im Besonderen eine krisenhafte Grundstruktur attestiert hatte. Zwar würde Nussbaum nicht von einer der Moderne selbst inhärenten Krisenhaftigkeit sprechen, aber die gegenwartsbezogenen Analysen beider Theoretikerinnen decken sich in erstaunlich vielen Punkten. So in ihrer Einschätzung vom Verlust des Gemeinsinns und der Fähigkeit zu politischer respektive ethischer Urteilskraft, die einhergeht mit der zunehmenden Dominanz ökonomisch verkürzter Denk- und Verhaltensweisen. Ähnlich wie Arendt glaubt Nussbaum, daß diese Entwicklung von abstrakten Theorien, in ihrem Fall vom Utilitarismus, maßgeblich beeinflußt ist. „Der Utilitarismus bevorzugt ein distanziertes, nüchternes und abwägendes Denken, das sich um quantitative Größen dreht. Diese Präferenz erhebt er zu einer Norm, der entsprechend er Vernunft und Rationalität definiert, während er alles andere als bloße Irrationalität abstempelt. Ein solches Denken hatte und hat tiefgreifende Auswirkungen auf unser öffentliches Leben, und zwar nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch im Rechtswesen." (GGL: 132)

Der grundsätzliche Einwand, den Nussbaum neben dem Vorwurf der Herrschaftszentriertheit gegenüber dem Utilitarismus vorbringt,25 ist, daß aus der Komplexität menschlicher Erfahrungen ein Bereich, nämlich der ökonomische, herausgegriffen wird und dessen Handlungsprinzipien zu einem universal anwendbaren Modell guten Lebens und Handelns überhaupt verallgemeinert werden. Darin enthalten sind alle weiteren Kritikpunkte: die Loslösung des theoretischen Modells von der empirischen Ebene, die Trennung von Theorie und konkreter Erfahrung, der unzulässige Vorrang quantitativer Maßstäbe vor qualitativer Reflexion und nicht zuletzt die ideologischen Konnotationen des ökonomisch vereinfachten Modells, die in ein persönlich und gesellschaftlich verarmtes Selbstverständnis münden.26 Arendt und Nussbaum messen Philosophie generell einen beachtlichen Einfluß auf das Selbstverständnis von Gesellschaften bei.27 Das gilt in abgeschwächter Form auch 25 In der einseitigen Ausrichtung an Wünschen und subjektiven Präferenzen und unter Absehung konkreter Verhältnisse unterscheidet Nussbaum zufolge die utilitaristische Konzeption nicht zwischen den Wünschen von Privilegierten einerseits und Benachteiligten andererseits. Sie trägt folglich zur Erhaltung des Status quo traditioneller Ungleichheit bei. 26 Zu Nussbaums Kritik am Utilitarismus vgl. auch Sturma 2000a: 265. Zum Utilitarismus vgl. Kymlicka 1997: 27ff. 27 Arendt thematisiert den Einfluß rationalistischen Denkens an verschiedenen Stellen ihres Werkes. So kritisiert sie das individualistische Chancenmodell, das politische Erfahrungen gemeinsamen

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für Walzer, der zeitgenössischer politischer Philosophie aufgrund ihrer intellektuellen Abgehobenheit zwar eine praxisanleitende Rolle abgespricht, zugleich aber betont, daß theoretische Vereinseitigungen einem reduzierten politischen Selbstverständnis Vorschub leisten. Ihre Ablehnung rationalistischer und normativistischer Modelle ist daher neben einer auf die akademische Community bezogene Auseinandersetzung zugleich als Konkurrenzangebot zu jenen Konzeptionen zu verstehen, die im öffentlichen Diskurs eine gewisse Prominenz oder gar dominante Deutungsmacht erlangt haben. Der Vorwurf einer unzulässigen Abstraktion von Erfahrung hat daher zwei paradoxe Implikationen. Einerseits wird hoch formalisierten und abstrakten Theorien die praktische Wirkmächtigkeit aberkannt. Andererseits verweisen die Autoren auf die Gefahren, wenn solche Theorien wirkmächtig werden. Konzepte, wie der Utilitarismus, beziehen ihre praktische Attraktivität gerade daraus, daß sie eine rationalistische Komplexitätsreduktion leisten, die den alltäglichen Erfahrungen zwar nicht entspricht, aber subjektive Präferenzen bedient und individualistische Einstellungsmuster verstärkt. In ihren Plädoyers für eine narrativistische Neuausrichtung von politischer Theorie konturieren Arendt, Walzer und Nussbaum einen Demokratiebegriff, der angesichts soziokultureller Differenzierungs- und Individualisierungsprozesse in modernen Massengesellschaften liberale und republikanische Denktraditionen kombiniert. In Abgrenzung zur repräsentativen Demokratie favorisieren sie ein bürgerschaftlichpartizipatorisches Modell, das auf verschiedene Formen und Foren unmittelbarer politischer Teilhabe abstellt. An Alexis de Tocqueville anknüpfend verweisen vor allem Arendt und Walzer auf die amerikanische Tradition zivilgesellschaftlicher Assoziationen, die in der Ermöglichung breiter demokratischer Partizipation motivationale Dispositionen von Bürgern wie Gemeinsinn, leidenschaftliches Interesse für Politik, aber auch kommunikative Fähigkeiten und politisches Urteilsvermögen fördern und for28

men. Unterhalb dieser Gemeinsamkeit gibt es zuteilen erhebliche Unterschiede zwischen den Autoren. So vertritt Arendt ein engeres, an die politische Öffentlichkeit gekoppeltes Demokratiekonzept, das über die Ablehnung eines allein auf das Eigentum konzentrierten Wirtschaftsbürgers hinaus soziale und ökonomische Konflikte als politisch nicht vermittelbar exkludiert. Walzer und Nussbaum entwickeln demgegenüber einen Begriff sozialer Demokratie, wobei die Moralphilosophin für ein wohlfahrtsstaatliches Modell optiert, das auf die Gesamtheit politischer, sozialer, ökonomischer und kultureller BeHandelns ausblendet, vor allem in Über die Revolution. Zugespitzt diskutiert Arendt die Konsequenzen einer Abkopplung von Erfahrung am Beispiel totalitärer Ideologien im letzten Kapitel ihres Totalitarismusbuches „Ideologie und Terror: eine neue Staatsform" (ET: 703ff.). 28 Zur aktuellen Revitalisierung von Gemeinsinn und Gemeinwohl vgl. Miinkler/Bluhm 2001: lOff. Wie Münkler und Bluhm akzentuieren kann Gemeinsinn „als eine motivationale Handlungsdisposition von Bürgern und politisch-gesellschaftlichen Akteuren begriffen werden, die eine prinzipiell knappe sozio-moralische Ressourceeine darstellt. Sie bildet die .subjektive' Seite gemeinwohlrientierten Handelns, die nur partiell im Handeln selbst reproduziert werden kann." (ebd.: 13)

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DEMOKRATIEBEGRIFF

dingungen abstellt, die die politische Teilhabe aller Mitglieder ermöglichen und beförderen, während Walzer dem Staat eher eine regulative, die Austragungsformen gesellschaftlicher Konflikte steuernde Funktion zuschreibt.29 Unterhalb der Spezifik der jeweiligen politischen Ordnungsvorstellungen verbinden die Autoren mit dem partizipatorischen Demokratiebegriff eine grundsätzliche Kritik an der Trennung zwischen politischen Experten und Laien. Die Einwände richten sich dabei nicht nur gegen die zunehmende Professionalisierung politischer Entscheidungsprozesse und dadurch forcierte Schließungstendenzen, die in dem Maße die Wahrscheinlichkeit von Korruption und lobbyistische Einflußnahme erhöhen wie sie Eingriffsmöglichkeiten der Bürger beschränken. Die Kritik betrifft im weiteren auch die Rolle von Intellektuellen als Produzenten und Protagonisten politischer Ideen. Wenngleich Arendt, Walzer und Nussbaum als engagierte Intellektuelle agieren, plädieren sie angesichts des symbolischen Einflusses von theoretischen Deutungsmustern auf Wahrnehmungskategorien und Handlungsweisen für eine kritische Reflexion der Grenzen von Theorie. Der Anspruch, vermittels narrativer und nicht abstrakt theoretischer Präsentationsform eine allgemeinere Wirkung von Theorie zu erreichen, korrespondiert mit einer Selbstbeschränkung von Theorie. Über die begründungstheoretische Rückbindung normativer Urteile an Erfahrungen hinaus bedeutet dies für den Anwendungskontext, daß politische Theorie sich wiederum auf praktische Erfahrungen und damit verbunden auf intuitive Überzeugungen der angesprochenen Mitmenschen verwiesen sieht. Der Theoretiker wird zu einem ohne besondere Privilegien versehenen Teilnehmer am öffentlichen Diskurs. Will narrativistische Theorie einen handlungsorientierenden Einfluß auf Praxis ausüben, muß sie - da sie nicht mit der Autorität objektiven Wissens auftreten kann - durch werbende Argumentation zu überzeugen suchen. Herbert Schnädelbach hat dies in seinem Aufsatz Was ist Neoaristotelismus als Kehrseite der demokratischen Selbstbeschränkung von Theorie bezeichnet. Die Aufwertung des gesunden Menschenverstandes und des common sense gegenüber dem elitären Expertenwissen gehe mit einem weitgehenden Verzicht auf normative Ansprüche einher. „Sie wird empirisch in dem Sinne, daß selbst noch ihre Rezeption vorwissenschaftliche, ja praktisch gelebte Erfahrung ihres Gegenstandes voraussetzt." (Schnädelbach 1992: 219) Demgegenüber sind Arendt, Walzer und Nussbaum politische Theoretiker, die mit zum Teil sehr starken normativen Forderungen für eine Reintegration von Theorie in die gesellschaftlichen Selbstverständigungsdiskurse plädieren. Für die dafür notwendige narrativistische Neujustierung des Verhältnisses von Theorie und Erfahrung bietet aus Sicht der Autoren die zeitgenössische politische Theorie bzw. Philosophie keine oder kaum Anknüpfungspunkte. Daher wird für sie die Antike gleich in doppelter Weise zum entscheidenden Bezugspunkt. Zum einen wird antiken Narrationen für die Tradierung politischer Erfahrungen ein exemplarischer Status zugeschrieben. Aus ihnen lassen sich 29

Der Demokratiebegriff wird im 2. Kapitel der vorliegenden Arbeit ausführlich diskutiert.

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handlungsorientierende Maßstäbe für moderne Politik gewinnen. Der Rückgriff auf die Homerischen Epen, die Exodus-Geschichte und die griechische Tragödiendichtung wird zum anderen mit einem dominanten Rekurs auf Aristoteles verbunden. In seinem politischen Denken finden die Autoren all jene Elemente einer erfahrungsbezogenen Theorie wieder, die sie an der zeitgenössischen Philosophie vermissen: die Frage nach dem Verhältnis von guter politischer Ordnung und einem gelingenden Leben, die kritische Reflexion der Grenzen von Theorie, die allerdings nicht mit einem Verzicht auf normative Orientierungsleistungen verbunden ist sowie die Wahrnehmung und Anerkennung der komplexen Struktur menschlichen Zusammenlebens, das sich nicht auf die regulative Funktion rationaler Vernunft reduziert, sondern auch ethische und emotionale Handlungsdispositionen als soziale Kompetenzen einbezieht.

2 Konturen einer guten politischen Ordnung

Neoaristotelismus: Skizze einer Debatte Die positive Rückbesinnung auf politische Ideen und in ihnen aufgehobene Erfahrungen hat eine lange Tradition in der Philosophie und der politischen Theorie. Eindrucksvoll belegt dies die Rezeptionsgeschichte von Aristoteles' praktischer Philosophie. Wann immer auf Aristoteles zurückgegriffen wurde, ging es um die großen Kontroversen innerhalb der abendländischen Tradition politischen Denkens: das Verhältnis von Theorie und Praxis, von Ethik und Ethos, von Herrschaft und Politik, von instrumenteller und kommunikativer Vernunft. Hinzu kommt, daß mit dem Aristotelismus die grundsätzliche Frage nach dem normativen Geltungsanspruch von Ideengeschichte überhaupt gestellt wurde. Es war Jürgen Habermas, der Mitte der siebziger Jahre erneut die Diskussion über die Relevanz antiker Vorbilder eröffnete, indem er die Wiederentdeckung von Aristoteles als eine der Moderne nicht angemessene Horizontüberschreitung bezeichnete: „Die Moderne kann und will ihre orientierenden Maßstäbe nicht mehr Vorbildern einer anderen Epoche entlehnen, sie muß ihre Normativität aus sich selber schöpfen. Die Moderne sieht sich, ohne die Möglichkeit der Ausflucht, an sich selbst verwiesen." (Habermas 1985: 16) Er prägte mit Blick auf Hans-Georg Gadamer und Joachim Ritter auch den Begriff Neoaristotelismus und heftete ihm das bis heute nicht verblaßte Etikett des Neokonservativen an. Habermas spricht von einem „hermeneutisch gebrochenen Neoaristotelismus, der mit neohegelianischen Gedanken zusammenfließt" und darüber seine spezifisch neokonservative Ausrichtung erhält (1992: 270f.). Als neokonservativ gilt ihm jene „halbherzige Aussöhnung mit der Moderne", die den zivilisatorischen Fortschritt bejaht, die kulturelle Moderne jedoch verneint oder ihr den Part zuschreibt, Beschleuniger eines gefahrlichen Entzweiungsprozesses von Individuum und Gesellschaft zu sein, der seinerseits nur durch einen „aufgeklärten Traditionalismus" kompensiert werden könne.30 Die Identifikation von Neoaristotelismus mit Neokonservatismus und Ideologie bietet indes kaum Raum für Differenzierungen. So entgehen Habermas Unterschiede zwischen der „Ritter-Schule" und solchen Autoren, die selektiv auf Traditionsfragmente zurückgreifen, weil sie das Projekt einer Selbstbegründung der Moderne für nicht adäquat bzw. für vermessen halten.

30 So Habermas über Joachim Ritters Plädoyer für eine Wiedergewinnung der entwerteten Mächte der Tradition gegenüber der Gefahr einer totalen Vergesellschaftung (Habermas 1985: 41).

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NEOARISTOTELISMUS: SKIZZE EINER DEBATTE

Während Habermas den Neoaristotelismus generell als politisch motivierten Rückgriff begreift und offen unter Ideologieverdacht stellt, will Herbert Schnädelbach den Neoaristotelismus als ein spezifisches methodologisches Programm verstanden wissen. Er folgt aber Habermas insofern, als er ein „idealtypisches Verfahren" wählt, um den Neoaristotelismus als spezifisch konservativ vorstellen zu können. In Anknüpfung an die Kontroverse zwischen Piaton und Aristoteles bieten sich dafür aus Schnädelbachs Sicht drei Begriffspaare besonderes an: Theorie und Praxis, Praxis und Poiesis sowie Ethik und Ethos. Seine These lautet: Für den Neoaristotelismus im engen Sinne, also als konservatives Denken, ist das dritte Begriffspaar, die systematische Rückbindung der Ethik an ein jeweils schon gelebtes Ethos, entscheidend (Schnädelbach 1992: 220). Schnädelbachs Rekonstruktion der Aristotelischen Theorietradition ist in analytischer Perspektive auf die mit Piaton geführte Kontroverse instruktiv. Die idealtypische Verengung aber macht es unmöglich, von genanntem Schema abweichende Rezeptionen ebenfalls als neoaristotelisch zu erfassen. Dies räumt Schnädelbach insbesondere mit Verweis auf Hannah Arendt auch ein. In Abgrenzung zu einem methodologisch verengten Verständnis des Neoraristotelismus und in kritischer Opposition zu einen politisch „diffamierenden Gebrauch" plädieren eine Reihe von Autoren für einen weiteren, bewußt unscharfen Umgang mit diesem Begriff. So auch René Weiland, wenn er als neoaristotelisch jeden Denkansatz begreift, „der sich in irgendeiner Weise bindend auf Aristotelische Topoi beruft, ohne deswegen dogmatisch-methodologisch auf Aristoteles - etwa in polemischer Opposition gegen genuin moderne Positionen - zurückzugreifen" (Weiland 1989: 358). Innerhalb seines weiten Verständnisses von Neoaristotelismus unterscheidet Weiland zwischen „affirmativen Neoaristotelikern" wie Robert Spaemann und Dolf Sternberger und Aristotelisch inspirierten Denkern wie Hannah Arendt und Ernst Vollrath. Während erstere von dem uneingelösten Wunsch beseelt seien, ein Band zwischen den Zeiten zu knüpfen, und die Moderne mit ihrem zeitlich vorausliegenden Anderen versöhnen möchten, indem ihr dies Andere eigens als Vor-Bild imputiert wird, stehe vor allem Arendts Konzept der (politischen) Urteilskraft für den aussichtsreicheren Versuch, eine kreative, von der Moderne aus gedachte Neuaneignung der Vergangenheit zu leisten, ohne einem ohnmächtigen Traditionalismus zu verfallen (vgl. ebd.: 359). Joachim Klowski verfolgt eine ähnliche Argumentation, öffnet aber darüber hinaus den Blick auf die angloamerikanische Debatte. Martha Nussbaum und vor allem Alasdair Maclntyre werden hier zu Neoaristotelikern par excellence (vgl. Klowski 1994: 185ff.). Dieter Sturma sieht dagegen in der partikularistischen Aristoteles-Interpretation Maclntyres bestenfalls einen „rezeptionsgeschichtlichen Sonderfall". Der „richtige" Neoaristotelismus, den er exemplarisch in den Arbeiten des Harvard-Ökonomen Armartya Sen und der Moralphilosophin Martha Nussbaum ausgedrückt findet, sei universalistisch und ziele auf die Umsetzung einer umfassenden Konzeption von Lebensstandard und Lebensqualität in eine Politik der sozialen Gerechtigkeit. Er stünde daher Rawls politischem Liberalismus durchaus nahe (vgl. Sturma 2000a: 261).

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Das Etikett Neoaristotelismus bietet offensichtlich ein allgemeines Label, unter dem sehr unterschiedliche, zum Teil divergierende Rezeptionsmuster und -inhalte rubriziert werden. Als Rückgriff auf Aristoteles in einem weiteren Sinne verstanden, kann der Neoaristotelismus inhaltlicher und/oder methodologischer Art sein, er kann als umfassende Vollrezeption ausgeübt werden oder als nur selektiver Rekurs auf bestimmte Elemente Aristotelischen Denkens. Er tritt als konservative Moderne-Kritik auf oder als kreative Wiedererinnerung politischer Urteilsmaßstäbe nach dem Totalitarismus, umfaßt sowohl traditionalistische Rückkehrbewegungen als auch moderne Transformationen und bietet gleichermaßen partikularistische wie universalistische Lesarten. Daher spricht Thomas Gutschker in seiner breit angelegten Untersuchung auch von Aristotelischen „Denkfiguren", die zwar bestimmten zeitgeschichtlichen Diskursen zugeordnet werden können, inhaltlich, methodologisch und politisch aber zum Teil sehr kontroverse Positionen enthalten (Gutschker 2002: 8).31 - Bei aller Vielfalt und Divergenz und selbst in seinen radikalsten Transformationen aber ist der Rückgriff auf Aristoteles' politisches Denken gleichwohl eine besondere Form, in der Ideengeschichte betrieben wird, weil damit der grundlegende Zweifel verbunden ist, daß die Moderne nur aus sich heraus imstande sei, handlungsorientierende Maßstäbe zu gewinnen. Die Skepsis gegenüber einer Selbstbegründung der Moderne teilen Arendt, Walzer und Nussbaum. Sie begreifen die Moderne als grundsätzlich ambivalentes Phänomen, das nicht nur den aufgeklärten und selbstbestimmten Menschen kennt, sondern auch dessen unheimliches Zerrbild: das von allen traditionellen Bindungen losgelöste und sich von sozialen und politischen Verpflichtungen distanzierende, einsame Individuum einer Massengesellschaft. Diese Einschätzung, die die Autoren mit durchaus unterschiedlicher Vehemenz und Dramatik formulieren, korrespondiert mit der Annahme, daß über den Rekurs auf antikes politisches Denken die krisenhafte Struktur der Moderne sichtbar gemacht und Handlungsmaßstäbe gewonnen werden können. Durch den Abstand sei es möglich, eine kritische Perspektive auf die Defizite und Risiken eines zu sehr an Rationalitätsund Effizienzkriterien orientierten technisch-instrumentellen Verständnisses menschlichen Zusammenlebens zu eröffnen. Wenngleich Aristoteles zum wichtigen Bezugspunkt von Arendt, Walzer und Nussbaum wird, ist ihr Rekurs auf den antiken Denker verschiedener Art. Während Nussbaum in einem umfassenden Sinne auf eine moderne Rekonstruktion von Aristoteles zielt, greifen Arendt und Walzer nur selektiv bestimmte Aspekte Aristotelischen Denkens auf. Diese bestimmen aber gleichsam in entscheidender Weise die Kernaussagen ihrer politischen Theorie. Für Arendt wird die Unterscheidung zwischen praxis und poiesis zur Voraussetzung für die Wiedergewinnung eines genuin politischen Begriffs

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„Wenn ein bekennender Sozialdemokrat wie Walzer mit Aristoteles von der Gemeinschaft als dem wichtigsten Gut sprach und den attischen Gemeinsinn lobte, wenn sich sowohl Maclntyre als auch Nussbaum gleichzeitig auf Aristoteles und Marx beriefen, sprengte dies den vorgegebenen Horizont." (Gutschker 2002: 354)

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H . ARENDT: EINE GENUIN POLITISCHE HANDLUNGSTHEORIE

von Handeln als selbstzweckhaftem Tuns und für die Auszeichnung der narrativistischen Struktur politischen Handelns. Die Flüchtigkeit des Handelns, seine Gebundenheit an den immer einmaligen Akt des Sprechens und die unmittelbare Interaktion machen eine narrative Tradierung notwendig, ohne die sowohl die handelnden Personen selbst wie der Sinn eines Handlungsgeschehens dem Vergessen anheimfallen würden. Walzers Aristotelismus ist nicht weniger unkonventionell als der Arendts. Er begründet sein immanentes Modell interpretativer Moralphilosophie mit einem eher impliziten Verweis auf die partikuläre Gerechtigkeitstheorie von Aristoteles, nimmt aber dessen normative Idee proportionaler Gerechtigkeit explizit in sein Ideal komplexer Gleichheit auf. Die plural ausdifferenzierte moderne Gesellschaft wird gleichermaßen zum Ausgangspunkt wie zum normativen Maßstab für eine Distributionsordnung, in der das demokratische Ideal der Gleichheit nicht mit dem Verlust von Einzigartigkeit und kultureller Pluralität bezahlt wird. Die politischen Ordnungsentwürfe von Arendt, Walzer und Nussbaum in ihrem eigenständigen und bisweilen recht unkonventionellen Rekurs auf Aristoteles werden im Folgenden zunächst separat vorgestellt und abschließend im Hinblick auf die Differenz zwischen einem handlungstheoretischen (Arendt), einem gerechtigkeitstheoretischen (Walzer) und einem tugendethischen Aristotelismus (Nussbaum) diskutiert.

Hannah Arendt: Eine genuin politische Handlungstheorie „Aus der Sicht des Menschen, der immer in dem Zwischenbereich zwischen Vergangenheit und Zukunft lebt, ist die Zeit nicht ein {Continuum, nicht ein Fluß von ununterbrochen Aufeinanderfolgendem; sie ist in der Mitte, dort, wo »Er« steht, aufgebrochen; und sein Standort ist nicht die Gegenwart, wie wir sie gewöhnlich verstehen, sondern vielmehr eine Lücke in den Zeit [...]." (Arendt 1994b: 14)

Dieses Bild, das Arendt der Novelle Er von Franz Kafka entlehnt, verwendet sie, um den Bruch zu beschreiben, den die totalitäre Herrschaft in die Kontinuität abendländischer Tradition gerissen hatte, einen Bruch, der für alle sichtbar wurde, „als keine Weisheit der Staatsmänner mehr imstande war, die politischen Probleme des Zeitalters zu lösen, und keine geistige Autorität mehr da war, um das Meinungs- und Weltanschauungschaos des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu schlichten", und als die totalitäre Herrschaft auf die Bühne getreten war, „als ein Ereignis, das in seiner Beispiellosigkeit mit den überkommenden Kategorien politischen Denkens nicht begriffen, dessen , Verbrechen' mit den traditionellen Maßstäben nicht beurteilt werden" konnte (Arendt 1994b: 35). Übrig geblieben war ein Trümmerfeld, auf dem alle vertrauten Strukturen des öffentlichen wie privaten Lebens ihre Gültigkeit verloren, herkömmliche Zuordnungen von Schuld und Unschuld, Recht und Unrecht ihre lebensweltliche Bedeutung eingebüßt

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hatten, und die Erfahrung dem eigenen Tun kein Wegweiser mehr sein konnte. Der Totalitarismus ist für Arendt die politische Schlüsselerfahrung des 20. Jahrhunderts. In Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft unternimmt sie den Versuch, diese Erfahrung zu explizieren. Arendt ist dabei der Auffassung, daß ein politischer Neuanfang nur möglich ist, wenn die Vergangenheit Gegenstand einer spezifischen Art von politischer Historiographie ist, die uns mit den Ereignissen versöhnt, ohne ihre Existenz zu leugnen. Das Geschichtenerzählen wird für sie zum einzigen Modus, über den beides geleistet werden kann: sich der Wirklichkeit, was immer sie ist oder war, zu stellen und entgegenzustellen (ET: 22).33 Damit begibt sich Arendt aber in ein Dilemma. Wenn die Historiographie entstanden ist aus dem Verlangen des Menschen, das Flüchtigste - nämlich die Taten und Worte dem Vergessen zu entreißen, und das Geschichtenerzählen eine sinnvolle Verknüpfung von Gegenwart und Vergangengheit dergestalt intendiert, daß eine Versöhnung mit dem Unabänderlichen der Geschichte möglich wird, müßte es auch eine Versöhnung mit dem Totalitarismus geben. Es müßte möglich sein, das, was dort geschehen ist, zu verzeihen. Genau diese Möglichkeit aber schließt Arendt aus. In den „furchtbaren Abgrund", den die totale Herrschaft in die abendländische Kontinuität gerissen hat, kann auch die Erzählerin nicht hinabsteigen. Es gibt keine sinnvolle Geschichte der totalen Herrschaft und keine Versöhnung mit der Wirklichkeit der Konzentrationslager. So bestand Arendts erstes Problem darin, „wie ich als Historikerin über etwas - den Totalitarismus - schreiben sollte, was ich nicht erhalten wollte, sondern wo ich mich im Gegenteil zur Zerstörung animiert fühlte" (zit. n. Benhabib 1998: 148). Angesichts dieses Dilemmas entwickelt Arendt in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft ein der traditionellen Erzählung entgegengesetztes Modell der Narration. Mit Rekurs auf Walter Benjamins fragmentarische Historiographie betont sie die Brüche, Risse und Sackgassen der Geschichte, ohne politische Ereignisse, Entwicklungen und mit ihnen verknüpfte Ideologien, die die Entstehung des Totalitarismus begünstigt haben, auszublenden. Auf diese doppelte Absicht, nämlich eine Verbindung zwischen 32 33

Vgl. auch Ingeborg Nordmanns Aufsatz Traditionsbruch und Montage (Nordmann 1997: 81ff.). Obgleich Arendts Konzept einer narrativistischen Vermittlung von Theorie und Erfahrun bislang keiner systematischen Analyse unterzogen wurde, läßt sich seit einiger Zeit eine „narrative Wende" in der Arendt-Rezeption beobachten. So konstatiert Benhabib (1998) über die Verbindung von Totalitarismuserfahrung und fragmentarische Historiographie in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft hinaus eine narrative Dimension in Arendts Handlungsbegriff. Lisa Dish (1993) analysiert Arendts Selbstbeschreibung als „Geschichtenerzählerin" als Konsequenz der Unmöglichkeit, die Existenz der Konzentrationslager zu begreifen und zu beschreiben. Claudia Lenz (2001) schließlich entwickelt ausgehend von Arendts „storytelling" und ihrer damit verbundenen nicht-metaphysischen Konzeption der Historizität menschlicher Existenz eine grundsätzliche Kritik an hegemonialen Erzählungen und plädiert für einen pluralisierten, selbstreflexiven Umgang mit den Repräsentationsweisen und Erzählungen der Vergangenheit. Es war allerdings Ernst Vollrath (1979a), der bereits Ende der 1970er Jahre daraufhinwies, daß Arendts „phänomenologische Einstellung" überhaupt ein verstehendes Erzählen provoziert.

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H . ARENDT: EINE GENUIN P O L m s c H E HANDLUNGSTHEORIE

rassistischem Antisemitismus, imperialistischer Weltpolitik und bürokratischer Herrschaftspraxis einerseits und der aus diesen Elementen bestehenden totalen Herrschaft andererseits herzustellen, zugleich aber eine kausale oder entstehungsgeschichtliche Erklärung für den Aufstieg des europäischen Totalitarismus zu vermeiden, verweisen die Begriffe Ursprung, Elemente und Kristallisation. Während die Rede von den Ursprüngen einen konsekutiven Erklärungsansatz nahelegt, stehen Kristallisation und Elemente für die entgegengesetzte Strategie einer Zerstörung historischer Kontinuitäten. Das Motiv der Zerstörung, das Arendts Geschichte des Totalitarismus leitete, wird zum bestimmenden Strukturmerkmal dieses in drei distinkte selbständige Bücher und eine Fülle von Einzelepisoden und historischen Details aufgesplitteten Geschichtspanoramas. So finden sich in Arendts Analyse der totalen Herrschaft zwar alle Elemente wieder, die in anderen historischen Kontexten und unabhängig voneinander in den beiden ersten Büchern dargestellt werden: die antisemitische Propaganda; eine auf Weltherrschaft orientierte rassistische Ideologie; eine als Internationale betriebene und an den Protokollen der Weisen von Zion geschulte totalitäre Bewegung, deren Anhänger sich durch eine Mentalität der Selbstlosigkeit und Desinteressiertheit am eigenen Wohlergehen „auszeichnen"; ein entwickeltes bürokratisches System, das an die Stelle öffentlich-rechtlicher Entscheidungen die Anonymität der Verwaltung setzt, und schließlich den Terror - das neben der totalitären Ideologie wesentlichste Element des Totalitarismus - , der sich jenseits aller Schuld seine Opfer auswählt. Ein kausaler Zusammenhang zwischen der Dreyfus-Affäre und dem Imperialismus von Cecil Rhodes oder Lord Cromer, zwischen der imperialistischen Politik Großbritanniens und dem gesellschaftlichen Antisemitismus in Frankreich einerseits und dem deutschen Nazismus andererseits oder zwischen dem rassistischen Panslawismus und Stalins Ideologie absterbender Klassen aber wird in Arendts bruchstückhaften Aufriß nicht hergestellt. Fragmentarische Historiographie ist der Versuch, den Fallstricken der Geschichtsschreibung zu entkommen: der Gefahr nämlich, im Wissen um den Gang der Ereignisse und ihrem vorläufigen Ende eine Kontinuität zu konstruieren, die es in der Geschichte zu keinem Zeitpunkt gegeben hat. Wie Paul Ricoeur betont, liegt das Beunruhigende dieses Buches darin, „daß es zwar in aller Ausführlichkeit Zeugnisse zu den bekannten Fakten anhäuft, die die Entstehung des Totalitarismus begünstigt haben, und ebenso Details über den gewaltigen Apparat von Herrschaft und Massenverführung", daß das Buch aber keine Antwort auf die von Arendt gestellte Frage findet, wie das, was geschehen ist, überhaupt geschehen konnte (Ricoeur 1989: 107f.).34 Der Unmöglichkeit jedoch, eine totalitäre Welt zu verstehen, entspricht positiv die Möglichkeit, eine nicht-totalitäre Welt zu denken. So sieht Ricoeur in der Vita Activa neben der über das „oberirdische" Fortschreiten der Begriffe von Handeln über Herstellen zu Arbeiten entworfenen Genealogie der Krise der Moderne,

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Arendt hatte sich in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft drei Fragen gestellt: „Was war geschehen? Warum war es geschehen? Wie konnte es geschehen?" (ET: 474).

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als deren Kern Arendt den Verfall des öffentlich-politischen Raumes diagnostiziert, zugleich einen parallelen Fortgang des Themas der Dauerhaftigkeit und des Beständigen. Jenseits der Perversion im Totalitarismus werde hier ein Bild des Politischen entworfen, das den Begriff der Freiheit als der freiwilligen Zustimmung zu einem institutionellen politischen Körper mit der jüdischen und christlichen Tradition des menschlichen Anfangen-Könnens verbindet. Der öffentlich-politische Raum wird bei Arendt zum Raum, der sterblichen Menschen Dauerhaftigkeit und Stabilität und darüber etwas wie Unsterblichkeit verbürgt. Er wird zur Aristotelischen Bühne der an Differenzerfahrung geschulten Selbstverwirklichung der politisch Freien und Gleichen, und Politik selbst wird zum Inbegriff der Freiheit, gemeinsam handelnd einen neuen Anfang zu machen. Das an der sinnvollen Versöhnung der Menschen mit der von ihnen gehandelten Geschichte gescheiterte Verstehen des Totalitarismus erweist sich für die von Arendt in Vita Actica verfolgte Wiedergewinnung ursprünglicher Erfahrungen politischen Handelns als hilfreich. Der Traditionsbruch erfordert nicht nur eine kritische Revision traditioneller Kategorien politischen Denkens, durch ihn sind bislang verschüttete Fragmente politischer Ideengeschichte auch wieder sichtbar geworden, an die im Interesse einer Wieder- und Neubegründung des Politischen konstruktiv angeschlossen werden kann. Man kann den Verlust der Tradition beklagen, schreibt sie, aber es liegt auch eine große Chance darin: „auf die Vergangenheit mit einem von keiner Überlieferung getrübten Blick zu schauen, mit einer Direktheit, wie sie die Augen des Abendlandes nicht mehr gekannt haben, seit die Römer sich der Autorität griechischen Geistes unterwarfen" (Arendt 1994b: 28). - Wurde die fragmentarische Historiographie im Umgang mit dem Totalitarismus zur entscheidenden Methode, scheinbar zwangsläufige historische Kontinuitäten zu durchbrechen und die generelle Offenheit der Geschichte auch in der retrospektiven Betrachtung zu akzentuieren, so ist der Traditionsbruch nun konstitutive Voraussetzung für Arendts selektiven Rekurs auf politische Ideengeschichte. Die Ideengeschichte birgt aus Arendts Sicht authentische Erfahrungen, die unter der Bedingung historischer Kontingenz Orientierungshilfen bieten. Solche Orientierungshilfen sind insbesondere dann nötig, wenn traditionelle Wert- und Normensysteme nicht mehr zur Verfügung stehen, weil sie - wie im Totalitarismus, aber auch in Zeiten revolutionärer Umbrüche - zerstört wurden. Die Bedeutung von Ideengeschichte für politisches Handeln wird von Arendt aber über Ausnahmesituationen hinaus generell bestimmt. Politische Ideen sind die Bezugsgrößen, auf die sich Akteure stützen können, wenn sie angesichts sich verändernder Situationen, politische Entscheidungen und Urteile treffen müssen, für die es keine Handlungsanleitung gibt. Diese Ansicht über die Bedeutung von Ideengeschichte für politisches Handeln stellt jedoch bereits einen politischen Urteilsakt dar. Politik wird als ein acting in concert verstanden, das auf die Generierung von Neuem abzielt. Arendts handlungstheoretische Grundlegung des Politischen beginnt dort, wo ihre Destruktion der Überlieferung endet. Die griechische Polis, schreibt sie in ihrem Auf-

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satz über Benjamin, „wird so lange am Grunde unserer politischen Existenz, auf dem Meeresgrunde also, weiter da sein, als wir das Wort .Politik' im Munde führen" (WB: 241). Das Verdienst von Aristoteles sieht Arendt vor allem darin, daß er die Erfahrungen der Polis begrifflich tradiert und normativ ausgezeichnet hat. Dies sei die Voraussetzung dafür, unterhalb der dominanten Deformierungen, die der Begriff der Politik in der politischen Geschichte und Ideengeschichte erfahren hat, ein genuines Verständnis von politischem Handeln als einem pluralistischen und kommunikativen Prozeß der Entscheidungsfindung wieder zu entdecken. Daß Politik eben nicht ursprünglich als Herrschaft von Menschen über Menschen oder als souveräne Umsetzung von bestimmten Zwecken mit entsprechenden Mitteln in Geschichte verstanden wurde, rekonstruiert Arendt aus Aristoteles' Unterscheidung von praxis und poiesis.35 Der Begriff der vita activa Unter dem Begriff der vita activa faßt Arendt drei menschliche Tätigkeiten, die sie zunächst anhand ihrer Dauer und ihres Zwecks unterscheidet. Arbeit wird als eine Tätigkeit definiert, die der biologische Prozeß des menschlichen Lebens selbst erzwingt. Unabhängig von sozialen oder politischen Bedingungen sichert sie das Weiterleben des Individuums wie der Gattung. Aus dieser Sicht ist Arbeit nicht eigentlich „weltbildend", weil die Dinge, die durch sie hervorgebracht werden, wie Nahrung oder andere Konsumgüter, sofort wieder in die Lebenserhaltung einfließen. Demgegenüber entstehen durch das Herstellen Produkte, die über das bloß Lebensdienliche hinausgehen. Im ewig währenden Kreislauf der Natur, die entsteht, vergeht und wiederkehrt, verleiht der homo faber der Welt dauerhafte Dinglichkeit. Er errichtet durch die Gegenstände, die er herstellt, eine zweite Welt neben der natürlichen: Häuser, Gärten, Städte, Eisenbahnen, Wohnungseinrichtungen. Der Zweck dieser Tätigkeit liegt in der produzierten Sache, die für etwas Konkretes gebraucht wird und daher auch dem Verschleiß ausgesetzt ist. Insofern sind die Produkte des Herstellens nur von einer begrenzten Dauerhaftigkeit, wogegen die dem Herstellungsprozeß zugrunde liegende Idee eine gewisse Unsterblichkeit besitzt. Der wiederholbare Vollzug des Entwurfs überdauert in seiner Unabhängigkeit sowohl den herstellenden Menschen als auch das einzelne Produkt.36 35

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Wie Schnädelbach herausstellt, läßt sich Arendts Unterscheidung nicht nur zwischen Handeln und Herstellen, sondern weiter von Arbeiten als eine systematische Fortentwicklung des handlungstheoretischen Aristotelismus verstehen (Schnädelbach 1992: 215). Eine Ausnahme bildet, wie Arendt in ihrem Aufsatz Kultur und Politik schreibt, das Kunstwerk. Es ist weder problemlos reproduzierbar, noch hat es einen konkreten Zweck: Als dem Gebrauchsprozeß partiell enthobenes Unikat ist es daher dauerhafter als andere hergestellte Produkte. Die Zwitterstellung des Kunstwerks drückt sich für Arendt aber auch darin aus, daß es zwar an die originäre Idee des Künstlers gebunden bleibt und dennoch von ihm als entäußertes, hergestelltes Produkt unterschieden ist. Der Künstler hat nach Fertigstellung kein Verfügungsrecht über die Art und Weise, wie sein Produkt betrachtet, interpretiert und gebraucht wird. Dieser Aspekt wird später relevant, wenn Arendt über die „Produkte" ihrer politischen Theorie sagt, daß sie in dem Mo-

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Das Besondere des Handelns ist, daß es sich direkt zwischen Menschen abspielt und keine konkreten, gegenständlichen Ergebnisse hat. Ist der immer flüchtige Moment der Interaktion vorüber, bleibt nichts als die Erinnerung daran, die schnell verblaßt, wenn sie nicht tradiert wird. Die dem Handeln inhärente Vergänglichkeit hängt für Arendt aufs engste damit zusammen, daß es keinen Zweck verfolgt, oder mit Aristoteles gesprochen daß der Zweck dieser Tätigkeit das Tun selbst ist. In der Nikomachischen Ethik heißt es:„Denn jeder Hervorbringende tut dies zu einem bestimmten Zwecke, und sein Werk ist nicht Zweck an sich, sondern für etwas und von etwas. Das Handeln dagegen ist Zweck an sich. Denn das rechte Verhalten ist ein Ziel, und das Streben geht darauf." (NikoEth: VI.2, I139a28) Im Anschluß an Aristoteles' Unterscheidung zwischen poiesis und praxis, zwischen Hervorbringen und Tun zeichnet Arendt Sprechen und Handeln als jene Tätigkeiten aus, in deren Vollzug Menschen jenseits zwingender Lebensnotwendigkeit und jedweder Zweck-Mittel-Dimension ihr Lebendigsein erfahren. Neben Dauer und Zweck unterscheidet Arendt die drei menschliche Tätigkeitsformen über die mit ihnen korrespondierenden Grunderfahrungen. Der Arbeit entsprechen natürliche Erfahrungen von Leiblichkeit, dem Herstellen werden instrumenteile Erfahrungen der Weltlichkeit oder Dinglichkeit zugeordnet und mit dem Handeln schließlich korrespondieren Erfahrungen der Pluralität (vgl. VA: 14ff.). Die Besonderheit des Handelns liegt in seiner Fragilität. Es ist weder notwendig wie das Arbeiten noch in seinen Resultaten berechenbar wie das Herstellen und bedarf überdies eines geschützten Bereiches, der überhaupt erst die Möglichkeit von Erfahrungen der Pluralität eröffnet. Dieser geschützte Raum, der durch das Handeln erst konstituiert wird wie zugleich Bedingung des Handelns ist, wird in Relation zur conditio humana zum ausgezeichneten Ort für das, was Arendt genuin politische Erfahrung nennt: das Beginnen von Neuem als kreatives acting in concert. Mit der normativen Betonung des acting in concert als ausgezeichnete menschliche Erfahrung verknüpft Arendt anthropologisch-existentialphilosophische Motive mit einer dramaturgischen Konzeption des öffentlichen Raumes (vgl. Bluhm2003: 70ff.). Danach ist der Mensch ein einzigartiges, qua Geburt zur Spontaneität befähigtes Wesen, das seine kreativen Potentiale aber erst in kommunikativer Unterscheidung von anderen erfährt, ja erst in öffentlicher Inszenierung vor und in Interaktion mit dem Publikum entwickelt. Emphatisch akzentuiert Arendt die expressive oder heroische Seite politischen Handelns, wenn sie mit Aristoteles schreibt, daß der Zweck des Handelns die Enthüllung dessen ist, wer man ist. Ein Leben außerhalb dieser öffentlichen „Bühne" ist zwar möglich und darüber hinaus die gängige Praxis, wie Arendt zugibt. Diesem Leben aber fehlt das Wirklichkeitsgefühl,

ment, wo sie als vorläufig fertige Resultate dem öffentlichen Interpretationsprozeß übergeben sind, eine vom Theoretiker unabhängige Bedeutungstransformation erfahren (vgl. KP).

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„das dem Menschen nur dort entsteht, wo die Wirklichkeit durch die Gegenwart einer Mitwelt garantiert ist, in der eine und dieselbe Welt in den verschiedensten Perspektiven erscheint. Denn nur ,was allen glaub- und meinungswürdig erscheint, nennen wir sein' [...] und was immer sein mag, ohne sich in solch Erscheinen für alle zur Geltung zu bringen, kommt und geht wie ein Traum [...]." (VA: 192f.)

Der politische Vorgang, der der menschlichen Grandfähigkeit des Anfangen-Könnens entspricht, ist das initiative Anstoßen von etwas Neuem. Man kann dies auch die subjektive Seite des Beginnens nennen, die aber direkt an ihre kommunikative Verarbeitung gekoppelt ist.37 In Arendts dramaturgischem Handlungsmodell ist das Publikum kein passiver Background für eine mit sich selbst beschäftigte republikanische Elite, vielmehr entscheidet es, ob, wie und unter welchen Bedingungen der Vorschlag realisiert wird. Kreativität als produktives Vermögen, etwas Neues zu denken, bleibt nicht auf Einzelne oder eine kleine Gruppe herausragender Personen beschränkt. Auch dem Publikum wird die Fähigkeit zu einem kreativen Urteil zugesprochen, wobei der Unterschied zwischen der Kreativität als subjektivem Vermögen Einzelner und der des Publikums vor allem darin liegt, daß erstere in weitaus stärkerem Maße die möglichen Perspektiven auf ihren Vorschlag antizipieren und in die Art und Weise, wie sie diesen präsentieren, einfließen lassen, während sich die Kreativität des Publikums im kommunikativen Prozeß der Diskussion und Reinterpretation der politischen Entwürfe selbst entfaltet. Nur wenn man neben der politischen Elite auch den für deren Initiativen zu interessierenden Bürgern die Kompetenz zuspricht, mögliche Handlungsoptionen kritisch zu reflektieren und auf eine kreative Weise zu interpretieren, macht es Sinn, Politik als virtuoses Handeln unterschiedlicher Akteure zu verstehen, was der souveränen Realisierung einer Idee oder einer politischen Initiative gerade entgegengesetzt ist. Institutionen der Freiheit Indem Arendt Handeln grundsätzlich als ein acting in concert faßt, das die Initiative an einen diskursiven Prozeß der Entscheidungsfindung bindet, kann weder der einzelne Akteur sicher damit rechnen, daß sein Vorschlag ohne Veränderungen realisiert wird, noch können die weiteren an der Entscheidungsfindung beteiligten Akteure wissen, welche Folgen ihr Tun haben wird. Damit sind individuelle wie kollektive Enttäuschungserfahrungen gewissermaßen vorprogrammiert. Arendt nennt diesen Effekt die 37

Aus Sicht von Maurizio Passerin d'Entrèves favorisiert Arendt ein heroisches Modell von Politik, das den politischen Raum für den Auftritt einer republikanischen Elite vor einem passiven Publikum reservieren würde. Zwar entwickelt Arendt auch ein demokratisch anschlußfahiges kommunikatives Handlungsmodell, ihr Schwanken zwischen expressiven und kommunikativen Handlungskonzepten aber verhindert eine eindeutige Aussage für ein demokratisches Modell von Politik (Passerin d'Entrèves 1994: 84ff.). Gegen diese Trennung der zwei Handlungsmodelle betont Bluhm die Fruchtbarkeit von Arendts unkonventionellem Ansatz, die gerade darin besteht, daß sie die subjektive Seite des Beginnens von Neuem und seine Verarbeitung gleichzeitig zu thematisieren versucht (vgl. Bluhm 2001b: 80).

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„Aporien des Handelns". Wollte man die „Schwäche" der menschlichen Natur überwinden, schreibt sie, die im Grunde nichts anderes ist als die Pluralität selbst, müßte man im Vorhinein alle Risiken und Unsicherheitsfaktoren ausschließen, die sich aus der menschlichen Pluralität ergeben. Souveränität ist nur um den Preis der Freiheit des Handelns selbst zu gewinnen. Die dem Handeln inhärente Enttäuschungsstruktur kann nicht aufgehoben werden, zumindest nicht, wenn der vita activa ein Vorrang vor der vita contemplativa zugesprochen wird. Für Arendt lassen sich jedoch innerhalb der vita activa selbst zwei „Heilmittel" finden, über die Unsicherheiten und Risiken kompensiert werden können. Das Heilmittel gegen die Unabsehbarkeit der Handlungsfolgen liegt in dem Vermögen, Versprechen zu geben und zu halten. Das Heilmittel gegen die Unwiderruflichkeit des getanen Handelns gründet in der menschlichen Fähigkeit des Verzeihens. Bluhm beschreibt Arendts Kompensationsangebot als zweiten Modus der menschlichen Kommunikation: „Versprechen als Mobilisierungsressource für das Beginnen von Neuem und Verzeihen als Möglichkeit, die Kosten, und zwar vor allem die Kosten fehlgeschlagenen Tuns zu verteilen und zu reduzieren." (Bluhm 2001b: 79) Das Verzeihen ist eine Qualität des öffentlich-politischen Raumes, denn wiewohl die Verantwortung für fehlgeschlagenes Tun den Politikern angerechnet werden kann, wird deren Kompensation allein durch ein Verzeihen seitens der politischen Gemeinschaft erreicht. Politische Erfahrungen sind damit Gegenstand gesellschaftlicher Selbstverständigungsdiskurse. Innerhalb dieses hermeneutischen Verständnisses von Praxis wird die rein retrospektive Dimension des Verzeihens aufgebrochen; die Reinterpretation vergangener Erfahrungen erhält für die weitere Ausgestaltung des politischen Gemeinwesens eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Demgegenüber hat die Fähigkeit des Versprechens von vornherein eine prospektive Orientierung. Ohne die bindenden Versprechen, schreibt Arendt, „welche wie Inseln der Sicherheit von den Menschen in das drohenden Meer des Ungewissen geworfen werden", wäre keine Kontinuität menschlicher Beziehungen möglich, von Beständigkeit und Treue ganz zu schweigen (VA: 231 f.). Die Übersetzung der menschlichen Fähigkeit des Versprechens in den politischen Raum besteht in einer Institutionalisierungsleistung. Versprechen manifestieren sich in gegenseitigen Verpflichtungen und Abkommen innerhalb von und zwischen Gemeinwesen, in politischen Institutionen und Organisationen. Ein ausgezeichnetes Dokument des Versprechens ist für Arendt die amerikanische Unabhängigkeitserklärung. Sie enthält in „neuer Form sowohl das altrepublikanische Prinzip der potestas in populo und daher implizit die Negation des Herrschaftsprinzips [...] als auch das föderative Prinzip ,eines auf Wachstum angelegten Commonwealth' (wie Harrington seine utopische Oceana nannte), in der konstituierte politische Gemeinschaften sich miteinander verbinden und dauerhafte Bündnisse abschließen, ohne ihre Identität aufzugeben" (ÜR: 222).

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Dieses Bündnis ist ein wechselseitiges Versprechen. Es ist freiwillig und prinzipiell offen für Veränderungen. Diese Offenheit hat die amerikanische Verfassung schon nicht mehr. Sie etablierte jenen „Unsterblichen Gesetzgeber", der dem politischen Gemeinwesen in seinen andauernden inneren Konflikten Dauer und Stabilität verleiht. Als verbindliche, von wechselnden politischen Majoritäten relativ unabhängige Autorität steckt sie den Rahmen für die immer möglichen Veränderungen des politischen Lebens ab. Mit dem großen Gewicht jener Institutionen aber, die die Stabilität der Republik sichern, wie Senat und Verfassungsgericht, ist der Spielraum für Veränderungen sehr eng geworden. Trotz ihrer großen Wertschätzung der amerikanischen Verfassung kritisiert Arendt, daß man für alles Institutionen gefunden hatte, nur nicht für den Geist der Erneuerung. Sie hält es jedoch für möglich, diesen Geist der Revolution zu reaktivieren. In ihrem Vortrag auf einem Symposium zum Thema „Ist das Gesetz tot?" im Jahr 1970 plädierte Arendt dafür, den „zivilen Ungehorsam" als eine Form von freiwilliger Vereinigung mit einem neuen Verfassungszusatz als Recht institutionell zu verankern. Sie begründete ihren Vorschlag, sich nicht nur zu einem konkreten politischen Anliegen zu versammeln, sondern sich auch notfalls gegen die Regierung stellen zu können, mit der Stabilität des Gemeinwesens selbst. Werden freiwillige Vereinigungen in ihren Zielen dauerhaft nicht ernst genommen oder wegen ihres gesetzwidrigen Charakters verboten, kommt es entweder zu einer Abspaltung dieser Gruppe von der politischen Gemeinschaft - sie bilden, wie Arendt mit Alexis de Tocqueville sagt, innerhalb eines Volkes ein Volk für sich, eine Regierung innerhalb einer Regierung - , oder aber die Bürger ziehen sich resigniert mehr und mehr aus dem öffentlich-politischen Leben zurück. Ob durch aktive politische Spaltung oder durch stillschweigenden Austritt, in beiden Fällen wird die Grundlage des Gemeinwesens brüchig. Denn die Grundlage ist gerade kein Vertrag mit für alle Zukunft festgeschriebenen Regeln, sondern die Verpflichtung der Bürger, den Konsens, auf dem das politische Gemeinwesen beruht und der den einzelnen die Mitgliedschaft und darüber eben auch die Teilhabe garantiert, einzuhalten. Diese Verpflichtung hat „nur" den Charakters eines Versprechens und nicht eines Vertrages, weil die Zukunft von Politik nicht berechenbar ist, wie es eine vertragliche Übereinkunft nahelegen würde. An Versprechen ist man nach Arendt gebunden, solange keine unerwarteten Umstände eintreten und unter der Voraussetzung, daß die Gegenseitigkeit, die allen Versprechen zugrunde liegt, aufrechterhalten wird (ZU: 150ff.). Neben antiken Erfahrungen freien politischen Handelns, wie sie von Aristoteles tradiert wurden, wird für Arendt die Amerikanische Revolution zur modernen exemplarischen Referenz ihres handlungstheoretischen Verständnisses des Politischen. Nicht nur hat die Fähigkeit zu versprechen in der Unabhängigkeitserklärung und der Verfassung institutionelle, also politische Qualität erreicht, es ist der Verfassungsgebungsprozeß selbst, der Arendt derart beeindruckt, daß sie der Amerikanischen und eben nicht der Französischen Revolution den Status einer erfolgreichen politischen Neugründung atte-

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stiert. Denn während beide Revolutionen sich zunächst erfolgreich von Fremdherrschaft befreiten, gelang es nur der Amerikanischen gewaltfrei und innerhalb eines umfassenden, kommunikativen Diskussionsprozesses ein Verfassungsdokument zu beschließen, das nunmehr über 200 Jahre Bestand hat. Arendt sieht im Wesentlichen zwei Gründe für den unterschiedlichen Verlauf beider Revolutionen. Zum einen verweist sie auf die bereits seit den Anfängen der Kolonisierung vorhandenen und gelebten Erfahrungen politischer Selbstorganisation in Amerika. In den Einrichtungen lokaler Selbstverwaltung und vermittelnden Institutionen entwikkelte sich ein Verantwortungsgefühl für das Gemeinwesen und eine Praxis der Partizipation, welche die neue Erfahrung einer zehn Jahre andauernden und alle Teile des Landes umgreifende Verfassungsdebatte stützten. Zum anderen spielte die „soziale Frage" in der Amerikanischen Revolution keine Rolle. Während nämlich die französischen Revolutionäre von George Dantons „Tempel der Freiheit" zu Maximilien de Robespierres sozialer Gleichheit umschwenkten und das Mitleid mit den Armen und Ausgebeuteten zur politischen Tugend erhoben, verfolgten ihre amerikanischen Kollegen unbeirrt und im Vergleich zu Frankreich relativ unbelastet von großen sozialen Interessenkonflikten das politische Ziel, ein neues Gemeinwesen zu gründen. Der radikale Brennstoff, der die Französische Revolution von einer Verfassung in die nächste trieb und immer wieder neue Gegner schuf, die sich gewaltvoll bekämpften und vernichteten, war von vornherein auf ein politisch nicht relevantes Minimum begrenzt. Für ihre Deutung, nur die Amerikanische Revolution ist eine wirklich politische und erfolgreiche gewesen, wohingegen die Französische vor allem an dem Versuch scheiterte, die großen sozialen Probleme des Landes politisch zu lösen, ist Arendt vielfach kriti38

siert worden. Entscheidend an ihrer Revolutionsdeutung ist, daß sie über die konkrete Analyse der Ereignisse hinaus zu einem allgemeineren Urteil gelangt. Danach ist soziale Gerechtigkeit kein genuin politisches Thema; der Versuch, es zu einem zu machen, stellt bereits eine illegitime Bemächtigung des Politischen dar. Begrenzungen des Politischen

Der handlungstheoretisch und politisch attraktive Ansatz, Modellen einfacher Handlungssouveränität durch Akzentuierung der Unvorhersehbarkeit von Folgen eine Absage zu erteilen und auf schöpferische Potentiale politischen Handelns zu insistieren, erhält eine spezifisch anti-modernistische Stoßrichtung. Der öffentliche Raum freien politischen Handelns mit seinen Implikationen von agonalem Wettbewerb und gemeinschaftlicher Unternehmung wird von Arendt im Anschluß an Aristoteles' Phänomenologie der Tätigkeitsformen dem privaten und dem sozialen oder gesellschaftlichen Raum radikal gegenübergestellt. Die Freiheit von materiellen oder sozialen (Überle-

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Vgl. dazu den Aufsatz von Teresa Orozco Zur Renaissance des Unpolitischen. wiedergelesen (Orozco 1999: 106ff.).

Arendt-Lektüren

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bens-) Kämpfen wird zur Bedingung der originär politischen Freiheit zu kreativem Handeln. Die unpolitische Deutung des antiken Befreitseins, als die bereits gesicherte Abwesenheit von Zwang oder Notwendigkeit, zeigt sich in Arendts Beurteilung moderner Emanzipationsbestrebungen, wie zum Beispiel der Arbeiter- und später der Frauenbewegung, in denen sie bestenfalls notwendige Akte der Befreiung sieht oder, drastischer, eine illegitime Bemächtigung des politischen Raumes durch die soziale Frage (vgl. ÜR: 73ff.). Indem Arendt die sozialen und ökonomischen Voraussetzungen für politische Freiheit konsequent ausblendet und Handeln im antiken Sinne auf den genuin politischen Raum beschränkt, wirkt ihr Maßstab nicht nur antiquiert, sondern in einem spezifisch modernen Sinne undemokratisch. Aus der Perspektive der sozio-ökonomisch Unterprivilegierten und an dem Eintritt in den politischen Raum Gehinderten, eine Perspektive, die Arendt nicht einnimmt, bedeutet ein solches Politikverständnis die Besiegelung des Status quo. Es ist jedoch nicht nur die dominante antike Orientierung, die Arendt in Konflikt mit Modellen sozialer Demokratie bringt. Für ihre offensive Kritik am Wohlfahrts- oder Sozialstaat als einer im Kern unpolitischen Ordnung verweist sie zunächst auf die Erfahrung des Totalitarismus. Danach hat die seit der Neuzeit ständig voranschreitende Vergesellschaftung des Politischen in der totalitären Herrschaft ihren Höhepunkt erreicht. Die Zerstörung des öffentlich-politischen Raumes ging mit einer totalen Vergesellschaftung der Privatsphäre einher und untergrub die Voraussetzungen politischer Freiheit und die Entfaltung von Individualität gleichermaßen (VA: 45ff.). Aufgrund dieser massiven sozialen Erfahrungen von Weltverlust und Konformismus plädiert Arendt sowohl für den Schutz des öffentlich-politischen Raumes vor sozialer und ökonomischer Instrumentalisierung als auch für eine Begrenzung des Politischen. Ihre Kritik an staatlich-politischen Übergriffen spitzt sie in ihrem Artikel Little Rock zu: „Was Gleichheit für das politische Gemeinwesen ist - nämlich dessen innerstes Prinzip - ist Diskriminierung für die Gesellschaft." (LR: 104)39 Die gesetzliche Erzwingung der Gleichheit im gesellschaftlichen Raum beraubt die Bürger ihres gesellschaftlichen Rechts auf Unterscheidung und ihres persönlichen Rechts auf die freie Entfaltung ihrer Individualität und zerstört letztlich die präpolitischen Bedingungen des Politischen. Arendts republikanische Konzeption des guten Lebens, nach der politisches Handeln innerhalb einer dramaturgisch verfaßten Öffentlichkeit als ausgezeichnete Lebensform

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Hintergrund des Artikels ist der „Fall Little Rock". 1954 hatte der Oberste Gerichtshof in einigen Fällen entschieden, daß die Rassentrennung in öffentlichen Schulen verfassungswidrig sei, doch viele Südstaaten boykottierten die Entscheidungen. Little Rock war ein Zentrum der Auseinandersetzungen (vgl. LR, Anmerkungen zu „Little Rock": 191ff.). Arendt diskutiert in Little Rock drei Aspekte: das in der Geschichte der Vereinigten Staaten begründete Problem der Rassentrennung zwischen gesetzlich erzwungener einerseits und gesellschaftlicher Diskriminierung andererseits, die Verletzung des republikanischen Prinzips der Gewaltenteilung durch überschrittene Machtkompetenzen des Bundes gegenüber den achtundvierzig Einzelstaaten und der staatliche Eingriff auf die persönlichen und gesellschaftlichen Rechte der Menschen.

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entworfen wird, enthält, so läßt sich zusammenfassen, dezidiert keine konkreten praktischen Handlungsanweisungen, sondern wird als Kritik einer Praxis entworfen, der der Sinn des guten Lebens verlorengegangen ist. Ihre Diagnose lautet, „daß in verhältnismäßig kurzer Zeit alle modernen Gemeinwesen, in denen das Soziale auf diese oder jene Weise zur Herrschaft gelangt ist, sich in Gesellschaften von Arbeitern und Jobholders verwandelt haben, was ja nur heißt, daß ihr Organisationsprinzip sich aus der einzigen Tätigkeit herleitet, die dem Leben unmittelbar dient und von dem Lebensprozeß unmittelbar diktiert ist" (VA: 46f.).

Ihre Kritik an modernen Arbeits- und Konsumgesellschaften kulminiert in der hellsichtigen Frage, welche Aussichten eine Arbeitsgesellschaft noch hat, der durch den technischen Fortschritt „die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht", und „die kaum noch vom Hörensagen die höheren und sinnvolleren Tätigkeiten, um deretwegen die Befreiung sich lohnen würde", kennt (VA: 1 lf.).

Michael Walzer: Das Projekt der zivilen Gesellschaft Zu den offensichtlichen Gemeinsamkeiten von Walzer und Arendt gehört zunächst ein pluralistisch-republikanisches Demokratieverständnis; Pluralismus ist nicht nur ein Faktum moderner Gesellschaften, sondern konstitutiv für vitale politische Gemeinwesen. Sie eint darüber hinaus ein emphatischer Politik- und Bürgerbegriff, der in der Auszeichnung der grundsätzlich konfliktuellen Struktur des Politischen die kreativen Potentiale verantwortlich handelnder Akteure akzentuiert. Schließlich ist aus Sicht beider Autoren die pluralistisch verfaßte Öffentlichkeit jener Ort, an dem in kommunikativer Auseinandersetzung differenter Meinungen die das Gemeinwesen tragenden gemeinsamen Überzeugungen generiert und bestätigt werden. Bei aller Kritik an Individualisierungs- und gesellschaftlichen Fragmentierungsprozessen spricht Walzer jedoch nicht von einer grundsätzliche Krise der Moderne. Arendts dekadenztheoretische Perspektive, wonach seit der Antike ein zunehmender Verfall des öffentlich-politischen Raumes zu beobachten ist, der zwar bisweilen - wie durch die amerikanische Gründungserfahrung - aufgebrochen, aber eben nicht gestoppt wurde, ist ihm fremd. Mit Distanz betrachtet Walzer daher auch kommunitaristische Diagnosen einer entsolidarisierten, egoistischen und jeglicher Gemeinwohlorientierung abholden Ellenbogengesellschaft. In Was heißt zivile Gesellschaft? schreibt er: „In den fortgeschrittenen .kapitalistischen' und sozialdemokratischen Ländern scheint das Bestehen freiwilliger Vereinigungen zunehmend gefährdet zu sein. Publizisten und Prediger warnen uns vor der stetigen Abnahme von Nachbarschaftshilfe und Bürgerfreundschaft in den Städten. Es ist gut möglich, daß sie diesmal nicht, wie gewöhnlich, überstürzt, die Sturmglokken läuten. Unsere Städte sind wirklich geräuschvoller und abstoßender als früher. Solidarität in den Familien, gegenseitige Hilfe, politische Gleichgesinntheit - dies alles ist weniger sicher

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und weniger gehaltvoll als früher. Andere Menschen, Fremde auf der Straße, scheinen weniger vertrauenswürdig als früher zu sein." (ZG: 66)

Innerhalb seiner hermeneutischen Theorie-Praxis-Vermittlung, wonach interpretative Theorie Teil gesellschaftlicher Selbstverständigungsprozesse ist, erklärt Walzer dieses beunruhigende Bild zum Teil aus der Tatsache, daß zu wenig über Vertrauen und Solidarität nachgedacht wurde und in Überkonzentration auf die großen sozialen Strukturen die kleinen Netzwerke der zivilen Gesellschaft vernachlässigt wurden, in denen solidarische Bindungen und tolerante Umgangsformen entstehen und sich reproduzieren. Wenngleich Walzer in Abgrenzung zu einem liberalen ein kommunitaristischrepublikanisches Demokratieverständnis favorisiert, kritisiert er Kommunitaristen wie Benjamin R. Barber oder Robert N. Bellah, die in zu starker republikanischer Vereinfachung nach einer Erneuerung bürgerlicher Tugenden rufen. Neben der prinzipiellen Geringschätzung der mikrogesellschaftlichen Quellen für soziale und politische Bindungskräfte stellen solchen Vereinfachungen einen Angriff auf die Heterogenität und Pluralität der Gesellschaft dar (vgl. ZG: 68).40 Ein republikanisch verengtes, wenn auch kein antipluralistisches, Politikverständnis attestiert Walzer auch Arendt. Gegenüber der Beschränkung politischen Handelns auf den im engen Sinne staatlich-politischen Raum (vgl. ZG: 69) plädiert Walzer für ein weiteres Verständnis politischer Partizipation. Er verbindet ein im Kern republikanisches Politikverständnis, wonach Bürgerinnen und Bürgern über die rechtlichen Möglichkeiten politischer Partizipation auch in die Gestaltungspflicht genommen werden, mit der Anerkennung ausdifferenzierter und autonomer Handlungsbereiche in pluralistischen Gesellschaften. Die positive Freiheit zur aktiven Gestaltung des Gemeinwesens bleibt so nicht auf staatlich-politisches Handeln beschränkt, sondern gewinnt die ihr eigene Praktikabilität und Attraktivität aus den verschiedenen Formen bürgerschaftlichen Engagements in den Netzwerken und freiwilligen Assoziationen der zivilen Gesellschaft. Diese dezidiert moderne Perspektive führt zu erheblichen Transformationen jener Elemente Aristotelischen Denkens, die Walzer aufgreift - zuvorderst der Unterscheidung zwischen oikos und polis. Sein liberales Bestehen auf der Autonomie gesellschaftlicher Handlungsbereiche jenseits staatlicher Verfügungsgewalt ist mit der normativen Auszeichnung der politisch-staatlichen Sphäre als einem Raum verbunden, in dem sich Bürgerinnen und Bürger über ihre ökonomischen, sozialen und kulturellen Differenzen hinweg im gleichen Rechtsstatus begegnen. Bei der Zuweisung und Legitimation von politischer Macht sollen extrinsische Gründe, insbesondere Geld, aber auch Wissen und Prestige, ausgeschlossen werden. Während aber Aristoteles Gleichheit und Freiheit auf

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Robert D. Putnam schließt in seiner großen empirischen Studie zum „Sozialkapital" in Bowling Alone (2000) an Walzer an. Seine Diagnose, daß seit den 1960er Jahren das soziale Kapital in einem dramatischen Niedergang begriffen ist, korrespondiert mit dem Anliegen, die Frage zu beantworten, wie dieses Kapital wieder vermehrt werden könnte.

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den politischen Raum beschränkt und dem oikos als Ort von Ungleichheit und Herrschaft des Hausherren über Sklaven, Frauen und Kinder gegenüberstellt, fordert Walzer eine komplexe Demokratisierung der Gesellschaft, die auch jene Bereiche einschließt, die im engen Sinne gerade nicht politisch sind. Mit der Forderung nach einer umfassenden Demokratisierung der Gesellschaft ist aber kein sozialer oder ökonomischer Gleichheitsanspruch verbunden. Es handelt sich vielmehr um eine politische Theorie distributiver Gerechtigkeit, die Möglichkeiten für demokratische Partizipation ebenso gesichert sehen will, wie sie umgekehrt die Gestaltung der Verteilungsordnung an bürgerschaftliches Engagement bindet. In systematischer Perspektive bietet Walzers Modell der zivilen Gesellschaft als ein Handlungsraum von Handlungsräumen, in denen Menschen ihre durchaus differenten Vorstellungen von einem guten Leben realisieren, den theoretischen Rahmen für seine in den Sphären der Gerechtigkeit entwickelte Idee komplexer Gerechtigkeit, die für einen „lebendigen und offenen Egalitarismus" eintritt, der mit Freiheit gleichzusetzen ist (SG: 19). Walzer versteht Freiheit sowohl im liberalen Sinne als die Freiheit von staatlichpolitischen Zwang, als auch als positive Freiheit zur aktiven Teilhabe an der Gestaltung des politischen Gemeinwesens.41 Die Begründungsvoraussetzung für beide Freiheitsdimensionen ist die Eingebundenheit der Menschen in verschiedene Gemeinschaftsformen. Menschen agieren in einer Vielzahl gesellschaftlicher Zusammenhänge, denen sie sich unterschiedlich stark verpflichtet fühlen und in denen sie spezifische Entwürfe eines gelingenden Lebens zu realisieren trachten. Diese pluralistische Sicht auf separate Handlungsräume wie Familie, Gesellschaft, Kirche, Markt, Staat, Universität verbindet Walzer mit der republikanischen Idee einer rechtlich garantierten, institutionalisierten Freiheit, die er allerdings als einen additiven Zusammenhang verschiedener Ausprägungen von Freiheit verstanden wissen will. „Freiheit ist eine Summe von Freiheiten. Sie besteht aus Rechten innerhalb bestimmter Handlungsräume. Diese sind es, die wir nach und nach verstehen müssen, wenn wir die Rechte sichern wollen. Ebenso impliziert jede Freiheit eine besondere Form von Gleichheit, oder, besser gesagt, das Fehlen einer spezifischen Ungleichheit - von Eroberern und Eroberten, Gläubigen und Ungläubigen, Verwaltungsbürokraten und Lehrern, Fabrikbesitzern und Arbeitern und die Summe all dessen, was abwesend ist, macht eine egalitäre Gesellschaft aus". (LKT: 58)

Die zivilgesellschaftliche Konzeption des guten Lebens Walzer bezeichnet sein Modell der zivilen Gesellschaft als liberale Korrektur von vier im gegenwärtigen Diskurs virulenten politischen Ordnungsvorstellungen: Republikanismus, Marxismus, kapitalistischer Liberalismus und Nationalismus. Diesen sehr unterschiedlichen Entwürfen ist aus Walzers Sicht gemeinsam, daß sie eine einseitige Auffassung des guten Lebens vertreten. In dieser Verengung, so sein erster zentraler 41

Zum „negativen" und „positiven" Freiheitsbegriff vgl. Isaiah Berlin 1995: 197ff.

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Einwand, verfehlen sie die Komplexität menschlicher Erfahrungswelten, weil Menschen realiter immer mehr sind als tugendhafte Staatsbürger, schöpferisch tätige homo faber, souveräne Konsumenten oder selbstlose Volksgenossen (vgl. ZG: 78). Der zweite Einwand betrifft den normativen Anspruch der vier Konzeptionen bzw. deren praktische Unvereinbarkeit mit den Grundprinzipien der Demokratie. Ob durch republikanische Repräsentation oder nationale Identität stiftende Konstruktion - der eigentlich aktive und kreative Part positiver Freiheit bleibt auf eine kleine Elite beschränkt, während der verbleibende große Rest sich an einer politischen oder nationalen Identität erfreuen darf, die er zwar rituell bestätigen soll, nicht aber aktiv gestalten kann. Ähnlich verhält es sich mit der marxistischen Version und seinem Gegenstück, der freien Marktwirtschaft: Während im ersten Fall die demokratische Selbstverwaltung des Arbeitsprozesses an eine anonyme staatlich-bürokratische Instanz abgetreten wird, macht der sogenannte freie Markt die ökonomische Ungleichheit zum Gesellschaftsprinzip. Führt die gesamtgesellschaftliche Übersteuerung zur Entmündigung der eigentlichen Helden des Marxismus, erschöpft sich die unbegrenzte Freiheit des Marktes in der Machtmaximierung weniger Unternehmer und der Maximierung der Wahlmöglichkeiten auf der Seite der vielen Konsumenten. Die fünfte von Walzer angeführte Antwort auf die Frage nach dem guten Leben „behauptet, nur in der zivilen Gesellschaft könne man ein gutes Leben führen, im Reich der Zersplitterung und des Kampfes, aber auch der konkreten und echten Solidarität, in dem wir E. M. Forsters Rat ,only connect' befolgen, ,uns einfach verbinden* und gesellige oder gemeinschaftliebende Männer und Frauen werden. Und natürlich ist dies die beste aller Lebensweisen". (ZG: 78)

Idealerweise nimmt die zivile Gesellschaft gleichberechtigt alle Handlungsräume auf, in denen Menschen agieren und sich engagieren wollen. Die Einseitigkeit der vier anderen Konzeptionen wird zugunsten der realen Vielfalt von Handlungsformen und -foren bestritten. Als soziale, gesellige Wesen sind Menschen sowohl Staatsbürger als auch Produzenten, Konsumenten und Mitglieder einer Nation und vieles andere mehr: Eltern, Lehrer, Gewerkschaftsfunktionäre, Kirchenvertreter, Gemeindemitglieder, Krankenpfleger oder einfach nur Freunde. Die vielen Rollen, in die Menschen im Laufe ihres Lebens schlüpfen und von denen sie viele auch gleichzeitig ausfüllen, formen eine Identität, die ihnen Verantwortung für mehr als nur einen Gruppenzusammenhang abverlangt. Diese Vielfach-Identitäten, wie Walzer den Pluralismus von Zugehörigkeiten nennt, relativieren die Exklusionsstrategien des republikanischen, marxistischen und nationalistischen Modells und eröffnen ein breites Spektrum für unterschiedliche Formen wirtschaftlichen und politischen Handelns, in denen auch konkurrierende Entwürfe des guten Lebens gesellschaftlich integriert werden können. Die Gestaltung des Gemeinwesens liegt im Modell der zivilen Gesellschaft allein in der Verantwortung sich engagierender Männer und Frauen. Dabei entscheiden die einzelnen selbst, welche Bindungen sie zu welchem Zweck eingehen wollen. In Anerkennung unterschiedlicher Praxen zivilgesellschaftlichen Engagements als Formen politi-

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sehen Handelns korrigiert Walzer die republikanische Tradition hinsichtlich einer liberalen Pluralisierung von Handlungsforen für politische Partizipation. Zugleich aber grenzt er sich von zivilgesellschaftlichen Ansätzen ab, die auf die integrative und steuernde Kraft des demokratischen Staates verzichten. Entgegen den „antipolitischen Illusionen", die vor allem auf dem Boden ost- und mitteleuropäischer Dissidentenbewegungen der endachtziger Jahre gegen den totalitären Staat gediehen sind, kann die zivile Gesellschaft aus sich selbst heraus nicht wirklich verhindern, daß Menschen, die über mehr politische Macht, größere soziale Reputation oder über ein enormes ökonomisches Kapital verfügen, ihren Einfluß derart ausweiten, daß andere Interessen dabei untergehen und die Freiheit, selbstgewählte Entwürfe des guten Lebens realisieren zu können, dadurch radikal beschnitten wird (ZG: 87f.). Die „liberale Kunst der Trennung", wie Walzer sein Insistieren auf eine institutionell gesicherten Autonomie gesellschaftlicher Handlungsräume nennt, stößt praktisch an ihre Grenzen, wenn differente Interessen innerhalb des politischen Gemeinwesens nicht mehr vermittelbar sind oder wenn bestimmte Interessen gesellschaftlich hegemonial werden. Die „soziale Landkarte" der Gesellschaft ist kein statisches Gebilde, sondern ein gesellschaftliches Konstrukt, über das debattiert und gestritten wird und das sich je nach Einfluß dieser oder jener Partei ständig ändert (LKT: 62). Aus sozialdemokratischer Perspektive optiert Walzer daher für eine beschränkte Form staatlicher Steuerung gesellschaftlichen Lebens. Der Staat als politische Entscheidungsinstanz soll verhindern, daß stärkere Vereinigungen ihr jeweiliges Kapital zuungunsten kleinerer, benachteiligter Vereinigungen einsetzen. Zugleich soll er der Rahmen sein, der zivilgesellschaftlicher Zersplitterung im Sinne einer gemeinsamen politischen Kultur Einhalt gebietet, indem er die rechtlichen und politischen Strukturen schafft, innerhalb derer Gruppen ihren spezifischen Interessen Gehör verschaffen können. Doch nicht nur bedarf die Zivilgesellschaft staatlicher Regulierung, auch der demokratische Staat ist konstitutiv auf eine lebendige Zivilgesellschaft verwiesen. „Darin liegt die Paradoxie des Arguments der zivilen Gesellschaft, Staatsbürger zu sein, ist eine der vielen Rollen, die Mitglieder spielen, aber der Staat ist keine Vereinigung wie die anderen. Er ist einerseits der Rahmen für die zivile Gesellschaft, und nimmt anderseits einen Platz in ihr ein. Er legt ihre Grenzbedingungen und die grundlegenden Regeln aller Tätigkeiten in den Vereinigungen fest (einschließlich der politischen). Er nötigt die Mitglieder der Vereinigungen, sich über das Gemeinwohl Gedanken zu machen, jenseits ihrer eigenen Vorstellungen vom guten Leben. [...] Nur eine demokratische Gesellschaft kann eine demokratische zivile Gesellschaft schaffen, nur eine demokratische zivile Gesellschaft kann einen demokratischen Staat aufrechterhalten. Der zivilisierte Umgang der Bürger miteinander, der demokratische Politik ermöglicht, kann nur in den Netzwerken der Vereinigungen erlernt werden." (ZG: 89ff.)

Die Trias von liberal-demokratischem Staat, pluralistischer Gesellschaft und republikanischem Politikverständnis, die Walzer vermitteln will, ist nicht unproblematisch. Die republikanischen Tugenden des Patriotismus und des politischen Aktivismus, die auf starke Bindungen und kollektive politische Identität im engen Sinne setzen, sind nicht ohne weiteres kompatibel mit den liberalen Werten des zivilisierten Verhaltens und der

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gegenseitigen Toleranz einer pluralistischen Gesellschaft, die dem Individuum die Freiheit eröffnet, in seinem Leben verschiedene, gruppenspezifische Zugehörigkeiten zu entwickeln und diese auch gegenüber dem Staat und seinen Ansprüchen auf politische Integration zu verteidigen (vgl. RTZT: 189). Das Umschlagen von Toleranz gegenüber anderen Lebensweisen ist Desinteresse und Ignoranz. Walzers Lösung ist insofern paradox, als er den Maßstab der Kritik an einer sich tendenziell entsolidarisierenden und atomisierenden Gesellschaft aus einer reflexiven Interpretation der gesellschaftlichen Praxis selbst entwickelt. Die amerikanische Gesellschaft ist bei allen Deformationen immer noch eine pluralistische Gemeinschaft. Als eine Nation von Einwanderern und eine auf dem föderalistischen Prinzip der Dezentralisierung von Entscheidungsbefugnissen beruhende politische Gemeinschaft und nicht zuletzt als eine Gesellschaft von vielfältigen freiwilligen Assoziationen ist der Pluralismus bereits Grundlage wie Prinzip dieser Gemeinschaft. Und eben diesen Pluralismus hält Walzer politischen Machtbestrebungen, theoretischen Vereinseitigungen und egoistischem Nutzenkalkül entgegen. Wie Otto Kallscheuer ausführt, weiß Walzer um die besondere Zerbrechlichkeit einer derart pluralistischen politischen Vergemeinschaftung: Als „offener Prozeß, in dem das zivile Gleichgewicht aus Konflikt und Kompromiß stets neu gefunden, adjustiert, definiert werden muß, (ist) diese liberale Balance des Zusammenlebens verschiedener communities [...] für Störungen in der moralischen Ökologie weitaus anfälliger als alle Idealbilder homogener Demokratien oder Nationen" (Kallscheuer in Walzer 1996b: 31). Der Punkt, an dem zivilgesellschaftliche Fragmentierung in ihr Gegenteil umschlägt und konträre Interessen innerhalb einer politischen Gemeinschaft nicht mehr vermittelt werden können, läßt sich theoretisch nicht bestimmen. Aus politischer Perspektive aber gibt es für Walzer keine wirkliche Alternative zum Pluralismus - zumindest nicht in einer Demokratie. Dieser konfliktuellen Grundstruktur zum Trotz oder, besser gesagt, weil der Konflikt wesentlich zum menschlichen Zusammenleben gehört, setzt Walzer auf die demokratische Lernfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger, wenn er das „Projekt der zivilen Gesellschaft" in drei politischen Vorschlägen zusammenfaßt: „1) der Staat muß dezentralisiert werden, so daß die Staatsbürger mehr Gelegenheiten haben, die Verantwortung für (einige) ihre(r) Tätigkeiten zu übernehmen; 2) die Wirtschaft muß vergesellschaftet werden, so daß es viele verschiedene Akteure auf dem Markt gibt, sowohl genossenschaftliche wie private; 3) nach dem Modell der religiösen Toleranz sollte man den Nationalismus pluralisieren und zähmen, so daß es verschiedene Möglichkeiten gibt, historische Identitäten zu verwirklichen und aufrechtzuerhalten". (ZG: 94)

Diese drei politischen Konsequenzen - die Anerkennung kultureller Pluralität und gesellschaftlicher Differenzierung sowie die Eröffnung mehrerer Handlungsräume für die Praxis positiver Freiheit- sind in den Sphären der Gerechtigkeit mit der Forderung nach sozialer Gleichheit verbunden: Wie kann eine gerechte Gesellschaft aussehen bzw. wie muß sie beschaffen sein, daß differente Entwürfe des guten Lebens innerhalb einer Gemeinschaft von Menschen realisiert werden können?

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Komplexe Gerechtigkeit und die Kunst der Differenzierung Den ersten wichtigen konzeptionellen Schritt zur Beantwortung dieser Frage unternimmt Walzer, wenn er das Faktum ausdifferenzierter Handlungssphären der Gesellschaft auf seine Gerechtigkeitstheorie überträgt. Danach konstituieren diese Handlungsbereiche auch unterschiedliche Sphären der Gerechtigkeit, weil in ihnen jeweils spezifische und nur intern gültige Verteilungsregeln wirksam sind.42 Die Vielzahl von Gütern, die Menschen für die Realisierung ihrer spezifischen Entwürfe des guten Lebens benötigen, wie die Pluralität der Distributionsmodi, nach denen die jeweiligen Güter verteilt werden, erfordern bereits eine anwendungsbezogene Betrachtung von Fragen der Gerechtigkeit. Hinzu kommt das, was Walzer den sozialen Charakter von Gütern nennt: die gesellschaftliche Wertschätzung, die ihnen in konkreten historischen und kulturellen Kontexten zugesprochen wird (vgl. SG: 32f.). Zwar rechnet auch Walzer mit grundlegenden Gerechtigkeitsprinzipien - freier Austausch, Bedürfnis und Verdienst - , rückt ihre Anwendung aber in den Horizont der kulturellen Selbstauslegung der Menschen. Was ein wertvolles Gut ist, ist keineswegs allgemein bestimmbar, sondern unterliegt einem historischen und politisch-kulturellen Partikularismus. Selbst solche grundlegenden Güter wie Sicherheit und Wohlfahrt, die der Staat seinen Mitgliedern schuldet, haben keine natürliche Form, sondern sind abhängig von konkreten gesellschaftlichen Prioritäten: „Unterschiedliche politische Ordnungen und unterschiedliche Ideologien erzwingen bzw. rechtfertigen unterschiedliche Verteilungen von Zugehörigkeit oder Mitgliedschaft, von ritueller Herausgehobenheit und göttlicher Gnade, von Verwandtschaft und Liebe, von Wissen, Reichtum, physischer Sicherheit, Arbeit und Muße, von Gratifikationen und Sanktionen sowie von einer Vielzahl von Gütern, die wir uns sehr viel konkreter und materieller vorstellen dürfen - wie ζ. B. Nahrung, Wohnung, Kleidung, Beförderung, medizinische Versorgung, Waren aller Art [...] Und dieser Vielfalt von Gütern entspricht eine Vielfalt von Distributions verfahren, Distributionsagenten und Distributionskriterien. [...] Es läßt sich [...] nirgendwo eine vollentwickelte menschliche Gesellschaft denken, die jemals um diese Multiplexität herumgekommen wäre. Wir müssen sie allesamt untersuchen, die Güter und ihre Verteilungsmodi, und zwar an ganz verschiedenen Orten und zu ganz verschiedenen Zeiten." (SG: 26f.)

Der Partikularismus von Gerechtigkeitsvorstellungen wie der tatsächliche Pluralismus von Lebensformen macht es für Walzer unmöglich, von einem allgemeinen Zugangspunkt aus und auf der Basis eines singulären Verteilungskriteriums ein dominantes Gut auszumachen, das für alle Lebensbereiche und in allen menschlichen Gemeinwesen gleichermaßen Geltung besitzt. Analog zu seiner zivilgesellschaftlichen Korrektur eines einzigen bevorzugten Handlungsraumes für das gute Leben beschreibt Walzer seine Theorie distributiver Gerechtigkeit, die statt auf ein dominantes zu verteilendes Gut auf ein Set von Gütern setzt, die in spezifischen gesellschaftlichen Sphären unterschiedliche Anwendung finden und Dominanz beanspruchen, selbst nicht als Wissenschaft, sondern 42 Ich folge hier der Lesart von Hubertus Buchstein und Rainer Schmalz-Bruns (Buchstein/SchmalzBruns 1992: 375-398).

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als „Kunst der Differenzierung", das dem Kontext Angemessene zu finden (SG: 22). Innerhalb einer derart kontextualistischen Auffassung von Verteilungsgerechtigkeit stehen die Prinzipien, nach denen Güter in bestimmten Sphären verteilt werden, in Relation zu den sozialen Sinnbezügen einer konkreten Gemeinschaft und zu den vielfaltigen Entwürfen des „Guten", die Menschen in ihrem Leben anstreben. In dieser „relativistischen Behauptung", so Walzer im Vorwort zur deutschen Ausgabe von Sphären der Gerechtigkeit wird die Bedeutung von Gütern und die Art und Weise ihrer Verteilung derart an das Selbstverständnis der jeweiligen Gemeinschaft gebunden, daß die Veränderung einer etablierten und akzeptierten Verteilungsordnung eine grundlegende Veränderung der Gemeinschaft selbst nach sich ziehen würde. Eine solche Veränderung aber steht allein den Mitgliedern einer Gemeinschaft zu. Die Begründung universeller Gerechtigkeitsprinzipien wird von Walzer daher nicht nur deshalb abgelehnt, weil sie die reale Komplexität gesellschaftlicher Vorstellungen über die gerechte Verteilung einer Vielzahl von Gütern verfehlt, sondern vor allem weil sie in praktischer Hinsicht das Selbstbestimmungsrecht von Mitgliedern einer Gemeinschaft eklatant einschränkt. Der demokratische Vorbehalt gegenüber universalistischen Begründungsstrategien findet seinen normativen Rückhalt in zwei politischen Forderungen, die Walzer in seinem republikanisch-pluralistischen Modell der Zivilgesellschaft erhebt und die hier als Grundlage einer politischen Ethik entworfen werden: Erstens muß das Ideal demokratischer Mitbestimmung über den Bereich der Politik im engeren Sinne hinaus auf andere Teilbereiche der Gesellschaft ausgeweitet werden und zweitens gibt es im politischen Bereich selbst keine Alternative zur Demokratie (SG: 429). Wie Hubertus Buchstein und Rainer Schmalz-Bruns betonen, sind in Walzers spezifischer Auslegung des Kommunitarismus „von vornherein systematisch Fallnetze gegen einen repressivpartikularistischen Absturz des Projektes der Demokratie eingezogen" (Buchstein/Schmalz-Bruns 1992: 380). Daher genießen auch zwei Güter eine gewisse Priorität: das Gut der Mitgliedschaft in einer politischen Gemeinschaft und damit verbunden die Verteilung von politischer Macht. Wenn die gerechte Verteilung von wertvollen Gütern nicht universell begründet werden kann, sondern an die Selbstbestimmung einer politischen Gemeinschaft von Staatsbürgern gebunden wird, dann muß die Theorie der distributiven Gerechtigkeit zwei Dinge gleichzeitig leisten: „Rechtfertigung des (begrenzten) Rechts auf Abgeschlossenheit und Exklusivität, ohne welche Gemeinschaften gar nicht erst entstünden, und die Einforderung der politischen Inklusivität in den Gemeinschaften, die bereits bestehen - , sie beginnt deshalb mit einer Beschreibung und Begründung des Rechts auf Mitgliedschaft. Denn nur als Mitglieder einer Gemeinschaft können Menschen darauf hoffen, an all den Sozialgütern - Sicherheit, Wohlstand, Ehre und Ansehen, Ämter und Macht - zu partizipieren, die das gemeinschaftliche Leben hervorzubringen imstande ist." (ZG: 107)

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Von spezifischen Gemeinschaften zu sprechen, macht nach Walzer nur Sinn, wenn man die Mitglieder selbst entscheiden läßt, welche Art von Gemeinschaft sie sein wollen und mit wem sie soziale Güter teilen und tauschen. Zwar ist dieses Selbstbestimmungsrecht in Bezug auf die Mitgliedschaft nicht absolut, es wird eingeschränkt vom „externen Prinzip der wechselseitigen Hilfeleistung" (SG: 88ff.), aber dieses externe Prinzip kann aufgrund seiner Unbestimmtheit nur konkretistisch betrachtet werden. Seine Wirkkraft kann nur beurteilt werden, wenn man sich in konkreten Fällen anschaut, wie der moralische Zwang, bedrohte Menschen aufzunehmen, politisch vermittelt wird. Ganz anders verhält es sich bei der Frage der Einbürgerung, die Walzer für absolut unabweisbar hält: „Keine Gesellschaft kann halb metökisch, halb staatsbürgerschaftlich sein und dabei den Anspruch erheben, ihre Aufhahmeverfahren seien Akte der Selbstbestimmung oder ihre Politik sei demokratisch." (SG: 106)

An den Selbstbestimmungsprozessen, mittels derer ein Staat sein Binnenleben gestaltet, sollten alle, die auf seinem Territorium wohnhaft sind, über ihre Arbeit zum Fortkommen der lokalen Wirtschaft beitragen und dort der gleichen Gesetzgebung unterstehen, teilhaben. Walzer plädiert für ein unter Umständen auch zeitlich begrenztes Staatsbürgerschaftsrecht für „Gastarbeiter". Die gleichen Rechte, die die Staatsbürgerschaft verbürgt, sind die jedem zu garantierende Möglichkeit, „minimale Macht (das Stimmrecht) auszuüben oder zu versuchen, größere Macht zu erringen (mittels Rede-, Versammlungs- und Petitionsrecht)" (SG: 436f.). Das Ideal der inklusiven Staatsbürgerschaft formuliert die rechtlichen Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich der demokratische Kampf um die Verteilung von politischer Macht abspielt. Den exponierten Status dieses Gutes begründet Walzer mit der regulativen Funktion politischer Macht, „die Grenzen der Distributionssphären (ihre eigenen eingeschlossen) zu sichern und zu verteidigen und das gemeinsame Verständnis davon durchzusetzen, was ein Gut bedeutet und wozu es da ist" (SG: 43). Dieser grundsätzlich reflexive Charakter von politischer Macht, in dem sich Walzers steuerungstheoretischer Optimismus hinsichtlich der Durchsetzungskraft ordnungspolitischer Grenzziehungen ausdrückt, wird normativ an den Ausschluß extrinsischer Gründe wie Geld, Wissen oder religiöse Erleuchtung bei der Zuweisung und Legitimation von Macht gebunden. Eine Gleichverteilung von Macht ist damit jedoch nicht intendiert: „Demokratie setzt gleiche Rechte voraus, nicht gleiche Macht." (SG: 436) Walzer bindet den Erwerb von Macht an aktive bürgerschaftliche Partizipation. Indem er für massivere Formen von Partizipation plädiert - in Parteien, Interessenverbänden, Gewerkschaften, Berufsverbänden, aber auch in Fabriken und auf kommunaler Ebene - , optiert er zugleich für eine andere Form der Gleichheit, die er „komplexe Gleichheit" nennt. Diese will und kann nicht alle Formen von Ungleichheit abschaffen, die zwischen verschiedenen Menschen mit unterschiedlichen Interessen oder Kompetenzen bestehen - auch nicht im politischen Bereich. Demokratische Politik bleibt unter der Forderung einer Aufweitung von Handlungsforen für eine breitere Partizipation von

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Bürgerinnen und Bürgern ein Monopol von Politikern (SG: 431). Wenn sich aber das Gut der politischen Macht von anderen Gütern dadurch unterscheidet, daß es als zentrale regulative Instanz über die Grenzlinien zwischen den ausdifferenzierten Gerechtigkeitssphären wacht, folglich über die ihm eigene Sphäre hinaus gesamtgesellschaftlich dominant ist, kann die Verteilung dieses höchst gefährlichen Gutes nicht nur nach bereichsinternen Kriterien erfolgen. Für Buchstein und Schmalz-Bruns ist es daher „ein Erfordernis politischer Gerechtigkeit, daß politische Macht in ihren eigenen kolonisatorischen Tendenzen im Sinne eines , limited government' beschränkt wird" (Buchstein/Schmalz-Bruns 1992: 381). Der demokratische Staat als

Regulierungsinstanz

In Auseinandersetzung mit der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls, der über die methodische Konstruktion eines idealtypischen Zustandes einfacher Gleichheit für einen demokratischen Sozialstaat plädiert, sucht Walzer auf dem Wege einer rationalen Interpretation der amerikanischen politischen Tradition die politisch und sozial integrative Kraft des Staates zu begründen.43 Als demokratische Regulierungsinstanz wacht der Staat darüber, daß die pluralistische Gesellschaft weder durch einen politisch motivierten Sozialkonformismus noch durch einen kapitalistischen Ökonomismus Schaden nimmt.44 Der Pluralismus der Gerechtigkeitsprinzipien verhindert nicht, daß es in gesellschaftlichen Sphären wie Markt, Arbeit, Erziehung oder in der Ausübung politischer Macht zu ungleichen Positionen kommt45. Ausgeschlossen aber werden soll, daß ein einzelnes soziales Gut alle anderen dominiert: „Was die Norm der komplexen Gleichheit verlangt, ist eine Gesellschaft, in der diejenigen Menschen, die mehr Geld, mehr Macht oder mehr technisches Wissen haben (und solche Menschen wird es immer geben) daran gehindert sind, sich allein deswegen auch in den Besitz von jedem anderen sozialen Gut zu setzen." (SG: 12)

Nicht also der Besitz von mehr Geld, mehr Wissen oder mehr Macht soll verhindert werden, sondern allein seine Konvertierbarkeit in andere Güter und mithin die Ausdehnung seiner Dominanz über die ihm eigene Sphäre hinaus. Dem Staat kommt hier einer43

In der Danksagung der Sphären der Gerechtigkeit schreibt er: „Niemand, der heute über Gerechtigkeit schreibt, kann umhin, die Leistung von John Rawls auf diesem Gebiet anzuerkennen und zu bewundern. Was seine textliche Arbeit unmittelbar angeht, so darf ich sagen, daß ich mich mit A Theory of Justice größtenteils im Dissens befinde." (SG: 24) 44 Walzer richtet sich hier gegen Robert Nozicks Variante des Minimalstaates: „Ein Minimalstaat, der sich auf einige eng umgrenzte Funktionen wie den Schutz gegen Gewalt, Diebstahl, Betrug oder die Durchsetzung von Verträgen beschränkt, ist gerechtfertigt; jeder darüber hinausgehende Staat verletzt Rechte der Menschen, zu gewissen Dingen nicht gezwungen zu werden, und ist damit ungerechtfertigt" (Nozick 1978: 11). 45 Walzer hält diese Form der Ungleichheit nicht nur für eine realistische Beschreibung sozialer Wirklichkeit, sondern für eine nicht hintergehbare Anerkennung des Prozesses gesellschaftlicher Ausdifferenzierung und für eine Anerkennung differenter Entwürfe des guten Lebens.

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seits die Aufgabe zu, die liberale Trennung von Staat und Gesellschaft derart zu radikalisieren, daß die Autonomie einer Vielzahl von Sphären oder Räumen innerhalb der Gesellschaft, in denen Menschen ihre spezifischen Entwürfe eines guten Lebens verfolgen, tatsächlich gesichert ist. Insofern aber der Staat der Rahmen ist, in dem gemeinsam über eine gerechte gesellschaftliche Ordnung nachgedacht und vor allem entschieden wird, muß er andererseits imstande sein, die Interessen und Forderungen einer Pluralität von sich religiös, ethnisch, oder sozial unterscheidenden communities kulturell und politisch derart zu inkorporieren, daß der gesellschaftliche Konflikt auf einer gemeinsamen Basis von geteilten Grundprinzipien ausgetragen werden kann. Das inklusive Staatsbürgerschaftsrecht und das demokratische Bürgerrecht bieten die rechtlichen und normativen Voraussetzungen für eine Vergesellschaftung der liberalen Kunst der Trennungen. Überdies aber generieren die Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft und ein umfassenderes Verständnis von politischer Partizipation eine bestimmte Ausprägung von politischer Kultur in einer Gesellschaft von Einwanderern, in der kulturelle Differenzen politisch ausgetragen und vermittelt werden. Dieses stark integrative Moment von Staatsbürgerschaft und wirklicher politischer Teilhabe, aufgrund dessen Walzer auf gemeinsame Sensibilitäten und Intuitionen der Mitglieder einer historischen Gemeinschaft schließen kann, unterliegt seiner Analyse der amerikanischen Gesellschaft in Sphären der Gerechtigkeit. Dem politischen Egalitarismus kommt dabei die normative Funktion zu, die immer partikularen Fragen distributiver Gerechtigkeit fest in einer demokratischen Kultur der Argumentation und Entscheidungsfindung zu verankern. „Ziel des politischen Egalitarismus ist eine Gesellschaft, die frei ist von Herrschaft. Es ist diese intensive Hoffnung, die in dem Wort Gleichheit Ausdruck findet: keine Kratzfüße und kein Speichellecken mehr, kein angstvolles Zittern, keine Hoheit und keine Diro Gnaden, keine Herren und keine Sklaven mehr. Diese Hoffnung gilt nicht der Auslöschung jeglicher Unterschiede zwischen den Menschen; wir müssen nicht alle gleich sein oder die gleiche Menge gleicher Dinge besitzen. Die Menschen sind einander (in allen wichtigen moralischen und politischen Belangen) dann gleich, wenn es niemanden gibt, der Mittel in seinem Besitz hält oder kontrolliert, die es ihm erlauben, über andere zu herrschen." (SG: 18f.)

In einer modernen Reformulierung von Aristoteles erfordert ein umfassender Begriff von Gerechtigkeit, der der Komplexität plural ausdifferenzierter moderner Gesellschaften Rechnung trägt, nicht, „daß Bürger im Wechsel regieren und regiert werden, sondern daß sie in der einen Sphäre regieren und in einer anderen regiert werden - wobei .regieren' nicht bedeutet, daß sie Macht ausüben, sondern daß sie einen größeren Anteil an den zur Verteilung gelangenden Gütern haben als andere Menschen - ganz gleich, um welche Güter es sich immer handeln mag." (SG: 451)

„Das Gerechte ist etwas Proportionales" schreibt Aristoteles in der Nikomachischen Ethik und wendet sich dabei gegen Piatons Idee des allgemeinen Guten, die sowohl die empirischen Gegebenheiten einer konkreten politischen Wirklichkeit übersteigt, wie die

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M . NUSSBAUM: TUGENDETHISCHER UNIVERSALISMUS

innere Differenziertheit politischer Gemeinwesen zu homogenisieren trachtet. Gerechtigkeit ist nach Aristoteles ein „staatliches Ding". Die politische Struktur eines politischen Gemeinwesens entscheidet darüber, was in ihm gerecht genannt werden kann und was nicht; demzufolge ist die Gerechtigkeit je nach staatlicher Verfassung etwas Verschiedenes. Neben dieser partikularistischen Konzeption von Gerechtigkeit, die die theoretische Reflexion an eine konkrete staatliche Rechtsnorm zurückbindet, formuliert Aristoteles die normative Funktion „distributiver" (zuteilender) Gerechtigkeit, die der menschlichen Ungleichheit oder Pluralität Rechnung trägt: „Die Gerechtigkeit ist also jene Tugend, durch die der Gerechte sich für das Gerechte entscheidet und danach handelt und sich im Verhältnis zu anderen oder anderen im Verhältnis zueinander nicht so zuteilt, daß er sich selbst vom Wünschbaren mehr, dem anderen weniger gibt, und vom Schädlichen umgekehrt, sondern daß er nach der proportionalen Gleichheit verfährt, und dies auch bei anderen untereinander." (NikoEth: V.9, 1133b32) Interpretiert man die Grundüberlegungen der Aristotelischen Theorie der Gerechtigkeit „als These der irreduziblen Pluralität und Soziabilität von Gütern", wie Rainer Forst vorschlägt, „und erkennt, daß nur eine immanente Theorie, nur eine Theorie, die in und nicht über den Praktiken einer politischen Gemeinschaft steht, dieser gesellschaftlichen Pluralität des Guten gerecht werden kann, so erschließt sich das wesentliche Anliegen von Walzers Gerechtigkeitstheorie und seiner hermeneutischen Methode" (Forst 1996: 243f.). Der Bezugsrahmen einer politischen Theorie und deren Kernfrage nach einer gerechten politischen und sozialen Ordnung, wie Walzer sie im Anschluß an Aristoteles entwirft, ist eine konkrete politische Gemeinschaft. Hier verbinden sich trotz aller innergesellschaftlichen Differenz Sprache, Kultur und Geschichte zu einer Art kollektiven Bewußtsein über gemeinsam geteilte Überzeugungen, auf die Walzer rekurriert, wenn er die normativen Maßstäbe der kritischen Reflexion nicht auf ein externes Ideal, sondern auf die shared understandings, auf ein geteiltes Verständnis von Werten zurückführt (vgl. SG: 61f.).

Martha Nussbaum: Tugendethischer Universalismus Nussbaum ist von den hier vorgestellten Autoren diejenige, die sich explizit als Aristotelikerin bezeichnet. Sie sieht in Aristoteles' politischem und ethischem Denken die geeignete moralphilosophische Quelle für eine „moderne Interpretation der sozialdemokratischen Idee in Zeiten der Globalisierung".46 Nussbaums politische Intention richtet sich auf die Umsetzung einer umfassenden Konzeption von Lebensstandard und Lebensqualität in eine Politik der Gerechtigkeit. Sie hat dabei ein wohlfahrtsstaatlich verfaßtes politisches Ordnungsmodell vor Augen, dessen politische und soziale Institu-

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So lautet der Titel ihres Berliner Vortrages vom 1. Februar 2002 (vgl. Nussbaum 2002a).

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tionen so beschaffen sind, daß sie jedem einzelnen Menschen ein gutes Leben und Handeln ermöglichen. Voraussetzung dafür aber ist eine zumindest vage Vorstellung davon, was ein solches Leben ausmacht. Nussbaum nennt diese Anforderung auch „unser Bedürfnis nach Essentialismus in der Politik": „Ohne eine wie auch immer vage Darlegung des Guten, die wir als gemeinsam unterstellen, haben wir keine angemessene Grundlage, um zu sagen, was dem Leben der Armen, der Marginalisierten oder Ausgegrenzten fehlt, und wir können die Behauptung, eine bestimmte, tief verwurzelte Tradition, auf die wir stoßen, sei ungerecht, nicht angemessen rechtfertigen." (MTSG: 346)

Nussbaum bietet einen gleichermaßen modernen wie radikalen Aristotelismus. Modern, weil er nicht nur die Schranken überschaubarer Polisverhältnisse, sondern auch die politischen Grenzen weniger homogener zeitgenössischer Staatengebilde sprengt und von vornherein transkulturell argumentiert. Ihre an Aristoteles ausgerichtete Variante eines ethischen Universalismus ist zudem radikal, da sie glaubt, mit einem ,gichtigen", unverfälschten Kernbestand Aristotelischen Denkens ohne gravierende Brüche oder Transformationen modernste politische Theorie betreiben zu können. Es muß nur gelingen, „das philosophische Prinzip des Aristoteles von seiner unerfreulichen und ungerechten Anwendung zu trennen" (GGL: 109) sowie in Hinblick auf die intendierte Reichweite der Konzeption seine implizite universalistische Sicht des Guten unterhalb seiner partikularistischen Argumentation herauszustellen (vgl. TKWG: 140).47 Nussbaums Aktualisierung von Aristoteles ist gerade angesichts ihrer Selbstbeschreibung in mindestens zwei Hinsichten problematisch. Zum einen ist unklar, was ein „unverfälschter Aristotelismus" sein soll. Hier wird unterstellt, daß es nicht mehrere differente Interpretationen geben kann, sondern nur eine, die dem ursprünglichen Aristoteles wahrhaft gerecht wird. Für jede aufgeklärte hermeneutische Position ist klar, daß es keinen privilegierten Zugang zu Autoren gibt. Dies gilt Pars pro toto auch für Nussbaum. Zum anderen erweist sich insbesondere der von ihr herausgestellte naturalistische oder essentialistische Ansatz von Aristoteles, der eben nicht auf mehrere, sondern auf die Natur des Menschern rekurriert, als fragwürdig gerade in Hinblick auf Nussbaums sozialdemokratische Intention einer interkulturellen Politik der Gerechtigkeit. Wenn man Aristoteles in dieser Frage so ernst nimmt wie Nussbaum, kommt man nicht umhin festzustellen, daß er bestimmten Menschen von Natur aus eben jene entscheidenden Qualitäten oder Grundfähigkeiten abgesprochen hat, die eine umfangreiche 47

In dieser methodischen Vorgehensweise sieht Nussbaum sich als Vertreterin der spezifisch angloamerikanischen Tradition, die sich auf die Werke von Aristoteles selbst konzentriert und nicht, wie die thomistische Tradition eines politischen und gesellschaftlichen Konservatismus und Kommunitarismus, auf deren mittelalterliche Überarbeitungen. Diese Abgrenzung findet sich vor allem in ihren Aufsatz Menschliches Tun und soziale Gerechtigkeit. Zur Verteidigung des aristotelischen Essentialismus (1993a). Im Interview mit Josef Früchtel und Herlinde Pauer-Studer räumt Nussbaum jedoch ein, daß sie sich in der letzten Zeit stärker den Stoikern zugewandt hat, um die kosmopolitischen Aspekte ihrer Position dezidierter herauszuarbeiten (TKWG: 140).

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M . NUSSBAUM: TUGENDETHISCHER UNIVERSALISMUS

Fürsorge des Staates notwendig machen und rechtfertigen würden.48 So scheint es nicht nur auf den ersten Blick schwierig, ein universales Gleichheitsideal mit einem Philosophen zu verbinden, der Sklaven und Frauen ganz oder teilweise die Fähigkeit der Vernunft absprach. Insbesondere für eine feministisch ambitionierte Moralphilosophin könnte dies eine fast unüberwindliche Hürde sein. Nicht so für Nussbaum. Im Gespräch mit Klaus Taschwer gibt sie einen Vorgeschmack auf ihren speziellen hermeneutischen Umgang mit der philosophischen Tradition: „Aristoteles hatte ziemlich blöde Ansichten über Frauen, sowohl biologisch wie auch moralisch. Aber dann kann man sich natürlich auch fragen, welche Aspekte seines Denkens auch für den Feminismus interessant sind [...] - seine Gedanken über die Wichtigkeit von Liebe und Freundschaft beispielsweise. Oder seine Ansichten über die Notwendigkeit, universalistische Urteile mit den besonderen Umständen auszubalancieren, oder seine Betonung der Gefühle bei moralischen Urteilen." (MT: 89f.)

Nussbaum favorisiert die Aristotelische Position vor allem deshalb, weil sie hier eine Sichtweise zu erkennen glaubt, die der Komplexität menschlicher Lebenserfahrungen gerecht wird. Dazu gehört sowohl Aristoteles' Offenheit gegenüber den Kontingenzen menschlichen Lebens, als auch seine Ansicht, daß die Aufgabe „staatlicher" Planung darin besteht, , jedem Bürger die materiellen, institutionellen und pädagogischen Bedingungen zur Verfügung zu stellen, die ihm einen Zugang zum guten menschlichen Leben eröffnen und ihn in die Lage versetzen, sich für ein gutes Leben und Handeln zu entscheiden" (GGL: 24).

Diese Rückbindung der distributiven Aufgabe des Staates, die gerechte Verteilung von wertvollen Gütern innerhalb einer Gesellschaft anzustreben, an eine Theorie des Guten ist Nussbaum zufolge den neueren Arbeiten auf dem Gebiet der politischen Theorie fremd (vgl. GGL: 92) 4 9 Grunderfahrungen und Tugenden Nussbaums „starke" und „vage" Theorie des Guten ist von zwei zentralen politiktheoretischen Fragestellungen geleitet: Was kann und sollte der Staat tun, um jedem Bürger So schreibt Aristoteles im Ersten Buch, 4.-7. Kapitel der Politik, es gebe Sklaven nicht nur aufgrund von Gesetz, im Sinne einer gewissen Übereinkunft, daß das im Krieg Besiegte Eigentum des Siegers sein muß (Pol: 1.6, 1255a5-10), sondern eben auch Sklaven von Natur aus: „Denn man muß sagen, daß es Menschen gibt, von denen die einen überall Sklaven sind, die anderen nirgends" (Pol: 1.6,1255a30-35). Vgl. dazu auch Spahn 1988: 409 ff. und Höffe 1996: 248ff. 49 Nussbaum bezieht sich hier vor allem auf John Rawls, der auf dem Primat der Entscheidungsfreiheit bestehend, eine „schwache Theorie des Guten" entwickeln würde, die nur eine Liste von „Grundgütern" enthält, von denen jeder Mensch lieber mehr als weniger hätte, es ansonsten aber dem einzelnen überlassen, sich eine Auffassung von einem guten menschlichen Leben zu bilden. Solche instrumenteil auf die rationale Entscheidungskompetenz des Individuums bezogene Güter sind bei Rawls Einkommen und Vermögen, Chancen und Machtbefugnisse, Rechte und Freiheiten (vgl. Rawls 1979: 112; dazu vgl. Kymlicka 1997: 3. Kapitel, insbes. 56f.). 48

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ein gutes menschliches Leben zu ermöglichen. Damit verknüpft ist die Frage, welche Tugenden jeder Bürger besitzen und, dem vorausgehend, entwickeln können sollte, um in Bezug auf andere Menschen gut zu leben und zu handeln. Mit beiden Fragen werden starke Ansprüche formuliert. Der Staat wird in die Pflicht genommen, in einem umfassenden Sinne jeden einzelnen zu einem guten Leben zu befähigen und die Grenzen abzubauen, die Menschen an der Ausübung spezifisch menschlicher Tätigkeiten hindern. Zugleich aber verbindet sich damit die Forderung an den einzelnen, wohlfahrtsstaatliche Institutionen zu schaffen und zu unterstützen und sich gegebenenfalls in seinen Ansprüchen zu beschränken. Der Staat ist demnach keine wohlfahrtsstaatliche Geberinstanz, der gegenüber einzelne ihre Ansprüche geltend machen, sondern Ausdruck der Tugend seiner Bürger und Bürgerinnen, mit anderen und in Bezug auf andere zu leben. Die Tugenden sind Bestandteil jener Fähigkeiten, die in ihrer Gesamtheit ein gutes Leben ausmachen und für deren Ausbildung und Förderung der Staat Sorge zu tragen hat. Die damit intendierte bürgerethische Kritik am Liberalismus ist jedoch keineswegs mit einer Hinwendung zum Kommunitarismus verbunden. In vehementer Abgrenzung zur kommunitaristischen Renaissance der Aristotelischen Tugendethik hebt Nussbaum deren universalistische Struktur hervor: „Die relativistische Negierung der Annahme, eine richtig verstandene Ethik stelle irgendwelche transkulturellen Normen bereit, die sich durch allgemeinmenschliche und allgemeingültige Gründe rechtfertigen ließen, [...] stellt, was Aristoteles betrifft, eine merkwürdige Folgerung dar. Denn er hat nicht nur eine auf den Tugenden basierende ethische Theorie entwickelt, sondern auch den Standpunkt vertreten, daß es vom menschlichen Guten respektive von einer gedeihlichen menschlichen Entwicklung nur eine objektive Auffassung geben könne. Diese Auffassung sollte in dem Sinne objektiv sein, daß sie sich durch Gründe rechtfertigen läßt, die sich nicht nur aus lokalen Traditionen und Praktiken ergeben, sondern aus menschlichen Wesensmerkmalen, die unter der Oberfläche aller lokalen Traditionen vorhanden sind und wahrgenommen werden müssen - ob sie nun von lokalen Traditionen tatsächlich wahrgenommen und anerkannt werden oder nicht." (GGL: 228f.)

In ihrer Interpretation der Aristotelischen Tugendethik verfolgt Nussbaum eine doppelte Abgrenzungsstrategie. Sie besteht darauf, daß die Sensibilität für konkrete Lebenskontexte und partikulare Erfahrungswelten nicht bedeutet, den Anspruch auf Universalität und Objektivität aufzugeben. Ihre Kritik an kommunitaristischen Lesarten des Tugendkatalogs als einer bloßen Widerspiegelung lokaler Traditionen und Werte, richtet sich implizit aber auch gegen den politischen Liberalismus, dem sie den entgegengesetzten Vorwurf macht, sich von den menschlichen Erfahrungen selbst unabhängig zu machen. In diesem Spannungsfeld zwischen Anerkennung partikularer Lebenswelten und der Forderung nach einem allgemeinen, kritischen Maßstab sieht Nussbaum im Aristotelischen Ansatz eine echte Alternative. In der Nikomachischen Ethik wird der Tugendkatalog über die Auflistung derjenigen Erfahrungsbereiche eingeführt, die mehr oder weniger zu jedem menschlichen Leben gehören und in denen Menschen irgendwelche Ent-

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Scheidungen zu treffen haben. Sodann fragt Aristoteles, was es in jedem Lebensbereich bedeutet, richtig zu entscheiden und zu handeln, und was es bedeutet, falsch zu handeln. „Die .schwache Darstellung' einer jeden Tugend besagt, daß sie die ständige Bereitschaft ist, in diesem Bereich richtig zu handeln, worin dies auch immer bestehen mag. Es kann konkurrierende Spezifikationen dessen geben, was das gute Handeln jeweils ausmacht, und gewöhnlich gibt es diese auch. Aristoteles spricht sich in jedem Fall für eine konkrete Spezifikation aus und gelangt zum Schluß zu einer umfassenden oder .starken' Definition der Tugend." (GGL: 232)

Während die schwache oder nominale Definition der Tugend das Ziel menschlichen Handelns anzeigt, nämlich gut oder richtig zu handeln, bezieht sich die substantielle Definition von Tugenden in jedem Fall auf einen bestimmten Erfahrungsbereich, den Nussbaum auch „Grunderfahrung" nennt. So korrespondiert die menschliche Erfahrung von Sterblichkeit - die Furcht vor dem Tod - mit der Tugend der Tapferkeit; die Verteilung begrenzter Ressourcen erfordert Gerechtigkeit; der Umgang mit dem eigenen Besitz Freigebigkeit; die soziale Natur des Menschen verlangt Wahrhaftigkeit sowie gefälliges Verhalten und Freundlichkeit; die eigene Lebensplanung und -gestaltung erfordert praktische Vernunft. Es sind insgesamt elf universelle Erfahrungs- und Entscheidungsbereiche, denen Nussbaum zufolge Aristoteles jeweils eine entsprechende Tugend zuordnet, wobei sie betont, daß die Erfahrungen den ethischen Begriffen vorausgehen, wie etwa dem Begriff Gerechtigkeit Erfahrungen von Ungerechtigkeit: das Erleiden von Schaden, schmerzhaftem Verlust und ungleicher Behandlung (GGL: 235). Die Aristotelische Unterscheidung von Grunderfahrungen und Tugenden nimmt Nussbaum in ihre Konzeption auf, die daher auch zweistufig angelegt ist. Auf der ersten anthropologischen Ebene werden die menschlichen Grundbedingtheiten skizziert, die neben den genannten noch weitere Erfahrungsbereichen wie menschliche Körper, Erfahrungen von Freude und Schmerz, kognitive Fähigkeiten, frühkindliche Entwicklung, Verbundenheit mit anderen Spezies und der Natur enthält (GGL: 49ff.). 50 Die Liste wird durch Fähigkeiten einerseits und Grenzen andererseits strukturiert. Über den Faktor der menschlichen Fähigkeiten wird bereits auf dieser ersten Ebene der Konzeption eine grundsätzliche Bewertung vorgenommen. Ein Leben, welches eine oder gar mehrere dieser Fähigkeiten entbehrt, ist kein menschliches und demzufolge erst recht kein gutes Leben ist. Nussbaum spricht hier auch von einer „minimalen" Konzeption des Guten (GGL: 56). Mit den Grenzen sind jene Erfahrungsbereiche angesprochen, die vor allem die Verletzbarkeit des Menschen und seine elementare Angewiesenheit auf andere Menschen wie auf äußere Lebensbedingungen unterstreichen. Die Grenzen haben einen ambiva50 Der Katalog umfaßt folgende Erfahrungsbereiche: Sterblichkeit, menschliche Körper, Erfahrungen von Freude und Schmerz, kognitive Fähigkeiten, frühkindliche Entwicklung, praktische Vernunft, Gemeinschaft mit und Zugehörigkeit zu anderen Menschen, Verbundenheit mit anderen Spezien und der Natur, Humor und Spiel und schließlich Vereinzelung und starkes Getrenntsein (GGL: 49ff.)

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lenten Status, insofern Nussbaum zwar behauptet, daß das menschliche Leben in seiner allgemeinen Form ein Kampf gegen diese Grenzen darstellt, es aber darum noch lange nicht anstrebenswert ist, uns von diesen möglichst ganz zu befreien. Das spezifisch Menschliche oder wie Nussbaum in Fragility of Goodness sagt, seine eigenwillige Schönheit, gewinnt das Leben gerade aus den Erfahrungen mit oder angesichts von Grenzen: „Es ist charakteristisch für das menschliche Leben, wiederkehrenden Hunger und Essen einem Leben ohne Hunger und Essen vorzuziehen, ebenso dem sexuellen Verlangen und seiner Befriedigung einem Leben ohne Verlangen und Befriedigung den Vorrang zu geben." (GGL: 57)

Gleichwohl sind es vor allem die Grenzen bzw. der Umgang mit ihnen, der den eigentlich normativen Schritt von der ersten zur zweiten Stufe bezeichnet. Denn nun sollen die für das menschliche Leben konstitutiven Grundfähigkeiten spezifiziert werden, woraus sich dann die Anforderung an den Staat ergibt, diese capabilities bei allen Bürgern zu entwickeln und zu sichern. Das schließt den Abbau von Begrenzungen ein, die Menschen an der Ausbildung wie Ausübung dieser Fähigkeiten hindern. Die zweite Ebene der Konzeption ist die politisch interessante, denn die Forderung an eine gute politische Ordnung, kann nicht darin bestehen, den Bürgern eine nur minimale Ausübung von Tätigkeiten zu ermöglichen. Mit Aristoteles nennt Nussbaum ein politisches System dann gut, „wenn es jedem einzelnen ,die Ausübung tugendhafter Handlungen ermöglicht'" (GGL: 197).51 Die zweite, normativ anspruchsvolle Liste umfaßt Fähigkeiten wie die zu voller Lebensdauer, zu guter Gesundheit, zu lust- und freudvollen Erlebnissen und zur Erholung, zur Vermeidung unnötiger Schmerzen, kognitive Fähigkeiten, die Fähigkeit zu vor allem sozialen Bindungen, aber auch zur Natur, zu praktischer Vernunft und die Fähigkeit, sein eigenes Leben zu leben (GGL: 57f.). Auch hier spricht Nussbaum von einer Minimaltheorie des Guten, womit der „vage" Charakter der Liste unterstrichen werden soll, denn es handelt sich nur um einen „Umriß" des guten Lebens, der so allgemein gehalten ist, daß vielfaltige konkrete Spezifikationen möglich und notwendig sind. Der Unterschied zwischen den beiden Ebenen der Konzeption scheint zunächst in der Stärke der normativen Ansprüche zu bestehen. Während mit der ersten eine Schwelle der menschlichen Funktions- und Handlungsfähigkeit beschrieben wird, unterhalb derer ein Leben so verarmt wäre, daß es kein menschliches Leben mehr wäre, soll mit der zweiten Liste eine Schwelle definiert werden, unterhalb derer diese typischen Funktionen in einer so rudimentären Weise vorhanden sind, daß dieses Leben zwar ein menschliches, aber eben kein gutes genannt werden kann. Gleichwohl arbeitet Nussbaum in den ethischen und politischen Kontexten nur noch mit der zweiten Ebene der Fähigkeiten. Für Christian Scherer ergibt sich daraus die Frage, welche Funktion die Konstruktion auf zwei Ebenen hat, zumal die beiden Ebenen an entscheidenden Punkten konvergieren (Scherer 1993: 912f.). Was Scherer übersieht, ist Nussbaums kosmopolitisches 51

Nussbaum bezieht sich hier auf das VII. Buch der Politik.

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Anliegen. Die normative Darstellung des historischen und zugleich universalen menschlichen Wesens soll religiöse und kulturelle Spaltungen überbrücken. Dabei geht Nussbaum davon aus, daß sich aus der großen Vielfalt der menschlichen Selbstverständnisse und Selbstbeschreibungen eine allgemein geteilte Konzeption derjenigen menschlichen Eigenschaften umreißen läßt, von denen man annehmen kann, daß sie an jedem beliebigen Ort ein Leben zu einem menschlichen machen, und daß es einen weithin akzeptierten Konsens hinsichtlich jener Eigenschaften gibt, deren Fehlen das Ende der menschlichen Lebensform bedeuten würde. „Sowohl in der Medizin als auch in der Mythologie haben wir eine Vorstellung davon, daß bestimmte Übergänge oder Veränderungen ganz einfach unverträglich sind mit der Weiterführung der Existenz eines Wesens als einem der Menschengattung zugehörigen." (MTSG: 333f.)

Die erste Ebene der Konzeption wird zum Ausdruck der geteilten Vorstellung dessen, was es heißt, ein Mensch und nicht ein anderes Wesen zu sein. Indem Nussbaum die essentiellen oder substantiellen Eigenschaften des Menschen von seinen akzidentiellen trennt, ist die erste Ebene das unverzichtbare anthropologische Fundament, auf dem dann der Schritt zur zweiten, höheren Ebene vollzogen werden kann. Die Frage ist hier nicht mehr die nach der allgemeinen Gestalt der menschlichen Lebensform, ihren Eigenschaften und Bedürfnissen, sondern die nach den elementaren menschlichen „Funktionsfähigkeiten", welche die Gesellschaften für ihre Bürger anstreben sollten, indem sie die Begrenzungen, die ihrer Entwicklung und Entfaltung entgegenstehen, beseitigen. Dabei stellt sich die Fähigkeitenliste nicht nur als ausgesprochen umfangreich heraus, sondern obendrein als in einem hohen Maße heterogen. Die auffällige Heterogenität der Fähigkeitenliste und der daraus formulierten starken Ansprüche an den Staat erklärt sich zunächst aus dem Anspruch die Gesamtheit dessen abzubilden, was ein gutes menschlichen Leben ausmacht. Nussbaum spricht in diesem Kontext auch von der tiefgreifenden Aufgabe einer staatlichen Verfassung. Es reicht eben bei weitem nicht aus, Güter, Geldmittel und Ämter zu verteilen - also die traditionellen politischen Zuwendungen. Die distributive Aufgabe des Staates muß umfassender sein und neben voller Lebensdauer und Gesundheit auch Dinge wie Mobilität oder Beziehungsfähigkeit gewährleisten. Zwar weist Nussbaum zwei menschlichen Tätigkeiten eine dominante oder leitende Funktion zu - nämlich der praktischen Vernunft und der Verbundenheit mit anderen Menschen - , sie stellt aber die starke Behauptung auf, daß ein menschliches Leben unvollkommen ist, wenn nur eine der in der Liste aufgeführten Fähigkeiten nicht entwickelt ist und demzufolge auch nicht ausgeübt werden kann: „Das gesamte hier vorgeschlagene Verfahren ist darauf ausgerichtet, eine Vielfalt von guten Dingen zu erkennen, die sich qualitativ voneinander unterscheiden. Auf diese Weise versetzt die Liste uns politisch und ethisch in eine Situation, die sehr der des griechischen Polytheismus ähnelt. Es gibt viele Gottheiten - das heißt auf unser Projekt übertragen, es gibt viele menschliche Lebensbereiche, die unsere Aufmerksamkeit und unseren Respekt fordern." (GGL: 59)

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Nussbaum begründet die Heterogenität der Liste vor allem mit der Komplexität menschlicher Fähigkeiten, womit deren gegenseitige Durchdringung und Abhängigkeit herausgestellt werden soll. So strukturiert einerseits die praktische Vernunft alle anderen Tätigkeiten, insofern Menschen darüber entscheiden, welche Fähigkeiten sie in ihrem Leben tatsächlich ausüben wollen und welche nicht. Andererseits ist die Fähigkeit, sich eine Vorstellung vom Guten zu machen, das Leben danach zu planen und zu führen, von anderen Fähigkeiten abhängig, wie der nach voller Lebensdauer und Gesundheit oder der Fähigkeit, für andere und bezogen auf andere zu leben. Über dieses Verkopplung von Tugenden und Fähigkeiten begründet Nussbaum die Forderung an den Staat, in einem umfassenden Sinne die materiellen, institutionellen und pädagogischen Voraussetzungen zu schaffen, jeden Bürger in die Lage zu versetzen, alle Fähigkeiten zu entwickeln und deren potentielle Ausübung zu garantieren. Dabei hat sie ein an Aristoteles' dy«amis-Begrifflichkeit orientiertes dreistufiges Fähigkeitenkonzept entwickelt, über das die Forderung nach einem ausgeprägten wohlfahrtsstaatlichen System präzisiert wird.52 Die distributive Aufgabe des Staates

Für Nussbaum bedarf es materieller und institutioneller Voraussetzungen, vermittels derer die natürlichen, noch im Stadium unzureichender Realisierung befindlichen, Fähigkeiten des Menschen entwickelt werden können. Die Grund- oder „G-Fähigkeiten" bilden das positive Kriterium, um zu sagen, auf welcher Grundlage der Staat in die Förderungspflicht genommen werden kann. Sie werden von Nussbaum folgendermaßen definiert: „Ein Mensch besitzt die G-Fähigkeit, die Tätigkeit A auszuüben, dann und nur dann, wenn dieser Mensch eine individuelle Konstitution hat, die so beschaffen ist, daß er nach der angemessenen Ausbildung, dem angemessenen Zeitraum und anderen notwendigen instrumentellen Bedingungen die Tätigkeit A ausüben kann." (GGL: 109)

52 Mit dem Gegensatzpaar dynamis (Möglichkeit, Fähigkeit, Potenz) und energeia (Verwirklichung, Wirklichkeit, Akt) sucht Aristoteles das Wesen der Veränderung zu bestimmen von einer Potenz hin zu deren Ans-Ziel-Gekommensein. Wie Otfried Höffe schreibt, erhält das Sein durch das Begriffspaar einen zweifachen Sinn. „Der unbehauene Stein ,ist' schon eine Statue, der Same ,ist' schon ein Baum, der Bildhauerlehrling ,ist' schon ein Bildhauer, freilich nur aus dem Rückblick und im Modus der Möglichkeit, während es die fertige Statue, der ausgewachsene Baum und der ausgebildete Kunsthandwerker im Modus der Wirklichkeit ,sind'" (Höffe 1996: 106f.). Zu Aristoteles' Verhältnis von Potentialität, Aktualität und Bewegung vgl. auch Graeser 1993: 232 ff. - In De anima unterscheidet Aristoteles drei Stufen: ein Wissen, über das man erst im Sinne der Möglichkeit verfügt, eine Fähigkeit, die bereits erworben, aber noch nicht aktualisiert ist, und eine aktualisierte Fähigkeit. Nussbaum, die mit der Edition und Analyse dieses Spätwerkes von Aristoteles promovierte, nutzt dieses dreistufige Fähigkeiten-Modell für ihre politische Forderung nach einer umfassenden Ausbildung aller Fähigkeiten und dem Abbau von externen Hindernissen, diese auch ausüben zu können.

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Die Grundfähigkeiten oder die natürlichen menschlichen Kompetenzen nennt Nussbaum auch „Bedürfnisse nach Ausübung von Tätigkeiten". Als Bedürfnisse sind sie die Basis für die legitime Forderung an die Politik, diese Fähigkeiten in zwei Richtungen zu fördern: zur Ausbildung von „internen" und sogenannten „externen Fähigkeiten". In den Bereich der internen Fähigkeiten fallen der Ausbau kognitiver Fähigkeiten wie Wahrnehmen, Verstehen, Denken sowie die Förderung von Vernunftfähigkeit und Urteilskraft, aber auch sogenannte Charaktertugenden wie Freigebigkeit, Gerechtigkeit und Sanftmut (GGL: 232). Die konkrete Forderung, die sich hieraus an den Staat ergibt, ist vor allem die nach angemessener Erziehung und Ausbildung. Nussbaum favorisiert in diesem Kontext ein umfangreiches staatliches Erziehungskonzept, das sich über die klassische Schul- und Berufsausbildung hinaus auch auf den ganzen Bereich individueller Dispositionen wie Beziehungsfähigkeit, psychische Gesundheit, Gefühle und Leidenschaften erstreckt. Die umfassende Aufgabe staatlicher Erziehung wird von ihr zunächst mit der gegenseitigen Abhängigkeit dieser Fähigkeiten begründet. So wird jemand, der Gefühle wie Mitleid und Liebe nie erfahren hat, nicht fähig sein, gute familiäre, soziale oder politische Beziehungen zu anderen Menschen zu entwickeln. Ihre Forderung nach staatlicher Erziehung hat aber noch eine andere, wie Scherer schreibt, stark paternalistische Seite (Scherer 1993: 917f.). Nussbaum lehnt es nämlich ab, Wünsche oder subjektive Bedürfnisse zur Grundlage der Erziehung zu machen. „Ein Mensch, dem in einer Situation des Mangels beigebracht wurde, die fraglichen Fähigkeiten nicht zu wollen, hat trotzdem Anspruch auf sie; denn in diesem Menschen gibt es eine Bedingung, die nur durch die Ausübung von Tätigkeiten verwirklicht werden kann. Bedürfnisse nach Fähigkeiten sind wegen des Wertes der Tätigkeiten wichtig, in die sie einmünden; Tätigkeiten sind teilweise wegen der Art und Weise wichtig, in der sie Fähigkeiten realisieren." (GGL: 113)

Nun ist zwar klar, welche Fälle Nussbaum hier vor Augen hat: Kinder würden sich sicher lieber für den Spielplatz als die Matheklausur entscheiden, und Menschen, die von Kindheit an konditioniert wurden, sich als jemandes Eigentum zu betrachten und ihr Leben in Abhängigkeit von dessen Entscheidungen zu leben, würden Autonomie und Entscheidungsfreiheit als nicht angebracht oder als Überforderung empfinden, und wahrscheinlich haben Menschen, die weder lesen noch schreiben können, Probleme, den Wert von Literatur zu erkennen. Gleichwohl ist Nussbaums Position hier mindestens unklar, wenn nicht ausgesprochen problematisch. Innerhalb ihrer allgemeinen Konzeption des Guten bestand Nussbaum gegenüber liberalen Kritikern darauf, daß die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen darüber gewahrt sei, daß es sich bei ihrer Liste nur um Fähigkeiten handelt, deren Ausübung zwar garan53 tiert, aber vom einzelnen eben nicht abverlangt werden kann. Das stellt sich im Kon-

53 Die Aristotelische Konzeption hebt nicht direkt darauf ab, so Nussbaum, „Menschen dazu zu bringen, auf eine ganz bestimmte Weise zu funktionieren. Sie zielt vielmehr darauf ab, Menschen hervorzubringen, die zu bestimmten Tätigkeiten befähigt sind und die sowohl die Ausbildung als

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text ihrer teleologischen Präzisierung des Fähigkeitenansatzes etwas anders dar. Die staatliche Erziehung erscheint nunmehr als ständiger Begleiter des Menschen. Sie greift immer dann ein, wenn Menschen die Fähigkeiten, für die sie quasi prädisponiert sind, nicht ausüben. Daher fragt Scherer zu Recht, wann Menschen eigentlich in die Freiheit entlassen werden, wenn zu der Gruppe der „Verwirrten" nicht nur diejenigen gehören, „die keine Bildung zu autonomen Personen erfahren haben, sondern alle Menschen, die nicht im Sinne des Fähigkeiten-Katalogs erzogen wurden. Mag der Kreis derjenigen, die erstere Erziehung genossen haben, auch in westlichen Ländern erschreckend klein sein, so dürfte sich der Kreis derer, die nach letzterem Konzept erzogen wurden, im wesentlichen auf einige Waldorfschüler beschränken." (Scherer 1993: 916) Nussbaum sieht die Gefahr eines paternalistischen Abgleitens einer derart ambitionierten und umfassenden Konzeption des guten Lebens. Sie greift daher zu einer Reihe von Gegenmitteln. Das erste ist die interne Gewichtung der Fähigkeitenliste. Neben sozialer Kompetenz wird die praktische Vernunft als zentrales, alle anderen Fähigkeiten strukturierendes Vermögen betont. Zudem enthält die Liste auch jene Fähigkeit, sein eigenes Leben leben zu können und zwar in der vom einzelnen gewählten Umgebung. Der Schutz einer unantastbaren Sphäre gehört für Nussbaum so selbstverständlich zu den elementaren Freiheiten, deren Sicherung der Staat zu gewährleisten hat, wie das gleiche Recht auf politische Partizipation. Ihr wohlfahrtsstaatliches Konzept ist überdies an ein demokratisch-reflexives Verständnis von Politik gebunden, das über vielfältige Partizipationsformen die Möglichkeit des Einspruchs und der Revision akzentuiert. Das Recht auf Schutz vor staatlichen Eingriffen und das Recht auf politische Partizipation stellen dabei bereits einen Teil jener institutionellen bzw. externen Bedingungen dar, die dem guten Handeln förderlich sind. Zwar läßt sich für Nussbaum keine scharfe Trennungslinie zwischen internen und externen Fähigkeiten ziehen, weil erstere ohne Realisierungsmöglichkeit ein bloßes Schattendasein führen würden. Mit externen Bedingungen sind jedoch vor allem negative Freiheits- und Wohlfahrtsrechte gemeint (vgl. GGL: 105f.). So werden die Fähigkeiten zu voller Lebensdauer und Gesundheit zur Grundlage für die politische Forderung nach der Sicherung eines stabilen ökologischen Systems, nach ausreichender Ernährung, nach einem staatlichen Gesundheitswesen und der Sicherung von Leben und Besitz. Die Fähigkeit, sein eigenes Leben in der selbstgewählten Umgebung zu leben, erfordert sowohl den Schutz einer unantastbaren Privatsphäre als auch die Bereitstellung von Mitteln für Mobilität. Eine schwächere Lesart des Fähigkeitenansatzes bedeutet folglich nicht, daß weniger starke Anforderungen an den Staat erhoben werden. Auch jenseits einer paternalistischen Auslegung der Konzeption bleibt die politische Forderung nach einem angemessen Rahmen, alle genannten Fähigkeiten ausbilden und ausüben zu können. Über die Aufgabe einer guten staatlichen Verfassung schreibt Nussbaum:

auch die Ressourcen haben, um diese Tätigkeiten auszuüben, falls sie dies wünschen." (GGL: 40f.)

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„Die Idee ist, daß die gesamte Struktur des Gemeinwesens im Hinblick auf diese Fähigkeiten und Tätigkeiten entworfen wird. Nicht nur die Allokationsprogramme, sondern auch die Verteilung des Grund und Bodens, die Eigentumsformen, die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse, die institutionelle Förderung der Familie und der sozialen Beziehungen, der Umweltschutz und der Umgang mit Tieren, die politischen Partizipationsformen, die Freizeit- und Erholungseinrichtungen - all dies sowie die konkreteren Programme und Maßnahmen in diesen Bereichen werden in Hinblick auf ein gutes menschliches Leben gewählt." (GGL: 66)

Nussbaum bezeichnet ihren Entwurf zudem als „breit". In Abgrenzung zum holistischen Modell des Utilitarismus, der auf Maximierung des Gesamtnutzens abzielt, verteidigt sie eine „distributive Konzeption von Gerechtigkeit", nach der eine politische Ordnung dann gut genannt werden kann, wenn die Einrichtungen so beschaffen sind, daß sie für jeden einzelnen aufs Beste bestellt sind (GGL: 88; vgl. auch Pol: VILI, 1324a). Wie Wolfgang Kersting betont, besteht für Nussbaum kein Grund, „irgendeinem Menschen einen größeren Anspruch auf ein entwicklungsgünstiges Klima einzuräumen als irgendeinem anderen, (daher) verlangt die Gerechtigkeit perfektionistische Gleichheit, Entwicklungschancengleichheit, gesellschaftliche Institutionen also, die es den in ihrer Regulationsreichweite lebenden Individuen gleichermaßen gestatten, ihre Fähigkeiten zu entwickeln" (Kersting 2000: 68). Das Gerechtigkeitsideal der perfektionistischen Gleichheit hat die grundsätzliche natürliche Gleichheit der Menschen zur Voraussetzung und zwar hinsichtlich jener Kompetenzen oder Fähigkeiten, die Menschen von Natur aus besitzen und nach Ausbildung und Förderung verlangen. In diesem Sinne ist die aus der allgemeinen Konzeption des Guten abgeleitete Theorie distributiver Gerechtigkeit konsequent antirelativistisch und antipartikularistisch. Gleichwohl nimmt Nussbaum die mit der iustitia distributiva verbundene partikularistische Stoßrichtung in spezifischer Weise auf. Unter Verweis auf Aristoteles' Idee der „proportionalen Gleichheit", wonach es ungerecht ist, Ungleiche gleich zu behandeln, macht Nussbaum geltend, daß entsprechend der immer konkreten Umstände, unter denen Menschen leben, zu entscheiden ist, wer in welchem Umfang in den Genuß staatlicher Fürsorge kommen sollte. Angesichts traditioneller, kulturabhängiger Ungleichheit verlangt und rechtfertigt die distributive Konzeption eine ungleiche Verteilung der für die Ausbildung und Ausübung menschlicher Fähigkeiten notwendigen Güter. So sollte die Verteilungspolitik in Gesellschaften, in denen zum Beispiel Frauen traditionell an der Ausübung ihrer internen Fähigkeiten gehindert sind, darauf ausgerichtet sein, insbesondere die sozialen und materiellen Bedingungen von Frauen zu verbessern. In Nussbaums Interpretation kommt der distributiven Gerechtigkeitskonzeption hier die Funktion zu, gesellschaftlich konstruierte Ungleichheit durch eine proportionale Verteilung wertvoller Güter wieder rückgängig zu machen bzw. abzugleichen. Die distributive Aufgabe des Staates liegt damit in seiner ermöglichenden Funktion. Die Göttin der iustitia distributiva muß genau hinblicken. Bei Nussbaum aber tut sie dies nicht im Interesse des Erhalts von Differenz und Pluralität innerhalb von oder zwi-

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sehen staatlichen Gemeinschaften, sondern im Interesse der Gleichheit von Entwicklungsbedingungen, die es jedem Menschen ermöglichen, seine natürlichen Fähigkeiten auszubilden und auszuüben. Es ist der anthropologische Rahmen, der es problemlos möglich macht, soziale Gerechtigkeit als internationale Gerechtigkeit zu reformulieren. Der Fähigkeitenansatz wird zum allgemeinen Maßstab für eine gute Verteilungspolitik und zum kritischen Einspruch gegenüber all jenen Gesellschaften, die einzelnen oder bestimmten Gruppen das Recht und die Möglichkeit verweigern, sich für ein gutes Leben zu entscheiden.

Die Antike als Referenz Die Aufnahme Aristotelischen Denkens erfolgt bei Arendt, Walzer und Nussbaum auf divergierende Weise und ist unterschiedlich motiviert. So begründet Arendt ihren Rückgriff auf den antiken Denker vor allem damit, daß nach dem vollendeten Traditionsbruch im Totalitarismus eine Neu- bzw. Wiederbegründung des Politischen und eine neue politische Wissenschaft notwendig sind. Aristoteles' Denken bietet dafür einen guten Ausgangspunkt, insofern hier noch weitgehend unverstellt genuin politische Erfahrungen gemeinsamen Handelns tradiert sind. Während Arendt ihren wenn auch selektiven Rekurs auf Aristoteles explizit betont, findet sich bei Walzer nichts dergleichen. Er geht bisweilen gar auf Distanz zur Aristotelischen Tradition.54 Michael Haus spricht daher auch von einer „(post-)aristotelischen Konzeption von Gerechtigkeit", die soziale Güter, demokratische Praxis, Tugenden und eine Auffassung des für das menschliche Selbst Guten in komplexer Weise integriert (Haus 2003: 173). Nussbaum ist demgegenüber eine offensive Aristotelikerin. Mit Rekurs auf Aristoteles behauptet sie, daß sich die Frage der Grechtigkeit nicht ohne eine substantielle Konzeption des Guten beantworten läßt, die eine allgemeine, für alle Menschen an allen Orten Gültigkeit besitzende Liste menschlicher Vermögen und Fähigkeiten beinhaltet. Systematisch lassen sich ein handlungstheoretischer, ein gerechtigkeitstheoretischer und ein tugendethischer Aristotelismus unterscheiden. Auf der Suche nach einer genuin politischen Handlungstheorie sieht Arendt in Aristoteles' Unterscheidung zwischen poiesis und praxis, zwischen Hervorbringen und Tun, die philosophische Ausbildung eines Begriffs von Handlungen als Taten und Worte (vgl. Benhabib 1998: 185). Die Kennzeichnung politischen Handelns als selbstzweckhaftes Tun, das an einen spezifischen Ort, den öffentlich-politischen Raum, gebunden ist und sich immer in Anwesenheit von und vor anderen - die, obgleich sie sich politisch als Freie und Gleiche begegnen, existentiell voneinander unterschieden 54

So in den Sphären der Gerechtigeit, wenn Walzer Uber William M. Galston schreibt, daß er sich dessen Auffassung von Gerechtigkeit zwar sehr nahe fühle, aber den Pluralismus seiner Position durch den Aristotelismus beeinträchtigt sieht (SG: 24).

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D Œ Α Ν Ή Κ Ε ALS REFERENZ

s i n d - vollzieht, entspringe ursprünglich der Erfahrung der Polis. Indem Aristoteles diese Erfahrungen begrifflich systematisiert und normativ betont, ist es möglich, einen kommunikativen und nicht-instrumentellen Politikbegriff wiederzugewinnen. Der Hauptgegensatz zwischen den Tätigkeiten des Herstellens und des Handelns liegt aus Arendts Perspektive darin, daß der kommunikative Prozeß der Debatte und Entscheidungsfindung selbst offen ist, während am Ende des Herstellungsprozesses genau jenes Ergebnis realisiert wird, das am Anfang ideell konzipiert war. Das Freiheitsmoment politischen Handelns besteht demgegenüber darin, daß seine Resultate nicht berechenbar sind, es Folgen hat, die sich nicht antizipieren und folglich nicht in Gänze kontrollieren lassen. Arendt nennt dies Aporien des Handelns. Positiv gewendet folgt daraus eine Entgegensetzung von Politik und Herrschaft, die an Aristoteles' Bestimmung bürgerschaftlicher Herrschaft als Selbstregierung durch regelmäßigen Wechsel politischer Entscheidungsgewalt anschließt, aber um den initiativen Akt der Neugründung erweitert wird. Politische Freiheit bleibt bei Arendt nicht auf die gleichberechtigte Teilhabe beschränkt, sondern verweist in emphatischem Sinn auf die kreativen Potentiale politischen Handelns. Diese Facette des Freiheitsbegriffs, die bei Aristoteles kaum diskutiert wird, gewinnt Arendt aus einer spezifischen Interpretation der Homerischen Epen.55 Der Preis von Arendts Wiedererweckung der Aristotelischen Unterscheidung zwischen der freien politischen Lebensweise einerseits und der notwendigen und folglich unfreien Reproduktion der menschlichen Gattung im Arbeiten und Herstellen andererseits ist, daß die soziale Frage aus dem politischen Raum verschwindet. Der öffentliche Raum freien politischen Handelns mit seinen Implikationen von agonalem Wettbewerb und gemeinschaftlicher Unternehmung wird von Arendt im Anschluß an Aristoteles' Phänomenologie der Tätigkeitsformen dem privaten und dem sozialen oder gesellschaftlichen Raum radikal gegenübergestellt. Die Freiheit von materiellen und sozialen (Überlebens-)Kämpfen wird zur Bedingung der originär politischen Freiheit zu kreativem Handeln. Arendts Insistieren auf die schöpferischen Potentiale politischen Handelns - auf die Möglichkeiten von Politik, etwas völlig Neues zu generieren, im Gegensatz zu einem rein herrschaftlichen und instrumenteilen Verständnis von Politik - bleibt eigentümlich blaß in der Frage, was der eigentliche Gegenstand politischen Handelns ist, wenngleich das auch eine Stärke des formalen Ansatzes ist. Demgegenüber bietet Walzer einen genuin modernen, von verfallstheoretischem Denken freien Neoaristotelismus. Für ihn bildet komplexe Gleichheit einer gerechten Distributionsordnung den Hauptgegenstand politischen Handelns. Der von Arendt schon formal aus dem Politischen exkludierte soziale Aspekt wird für Walzer zum ei-

55

Die Bedeutung der Ilias für Arendts Politik- und Handlungsbegriff wird in der Literatur häufig unterschätzt bzw. kaum thematisiert. Eine Ausnahme ist hier Shiraz Dossa (1989). Im folgenden Kapitel „Der exemplarische Charakter antiker Narrationen" wird Arendts Homer-Rezeption ausführlich diskutiert.

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gentlichen Grund politischen Handelns. Er verbindet Aristoteles' bürgerschaftliche Herrschaft, die nicht eigentlich auf Herrschaft von Menschen über Menschen, sondern auf Selbstregierung abzielt, mit dessen normativen Idee der iustitia distributiva, nach der es ungerecht ist, Ungleiche gleich zu behandeln, und überträgt dies auf die moderne, ausdifferenzierte Gesellschaft. Indem er für massivere Formen von aktiver Teilhabe plädiert - in Parteien, Interessenverbänden, aber auch in Fabriken und auf kommunaler Ebene - korrigiert er die Aristotelisch-republikanische Tradition hinsichtlich einer liberalen Pluralisierung von Handlungsforen und -formen für politische Partizipation. Die grundsätzliche Bejahung autonomer Handlungsbereiche in pluralistisch verfaßten Gesellschaften erfordert im Gegensatz zu Modellen einfacher Gleichheit ein Konzept komplexer Gerechtigkeit, das in der Anerkennung differenter Entwürfe des guten Lebens auf mehr als ein Gerechtigkeitsprinzip abhebt. Indem Walzer nicht die Gleichheit, sondern die Differenz zum Ausgangspunkt seiner Gütertheorie nimmt, ist die gesellschaftliche Diskussion über sozial wertvolle Güter und die Verfahren und Prinzipien ihrer Verteilung konstitutiver Bestandteil der Frage nach einer gerechten Distributionsordnung. Insofern handelt es sich bei seiner Konzeption um ein dynamisches Modell von Gerechtigkeit, das nicht nur in unterschiedlichen Gesellschaften auf verschiedene Weise hergestellt wird, sondern auch innerhalb einer konkreten politischen Gemeinschaft immer wieder aufs Neue Veränderungen unterworfen ist (vgl. SG: 30). Was in einer Gesellschaft gerecht genannt wird, ist abhängig sowohl von den symbolischen Deutungskämpfen um das, was überhaupt als ein wertvolles Gut gelten soll, als auch davon, wie und mit welchen Mitteln Akteure um die gesellschaftliche Verteilungsordnung wertvoller Güter streiten. Gerechtigkeit erscheint damit einerseits als ein im Aristotelischen Sinne „staatliches Ding", das je nach politischer Verfassung etwas Verschiedenes ist (vgl. Pol. 1.2., 1253a35ff.). Andererseits bindet Walzer Gerechtigkeit an das gemeinsame Engagement von Bürgerinnen und Bürgern, ihre spezifischen Vorstellungen eines guten Lebens politisch gegenüber anderen gruppenspezifischen und auch staatlichen Interessen durchzusetzen. Über die Auszeichnung des genuin konfliktuellen und pluralistischen Charakters von Politik zielt Walzer auf die Veränderungsmöglichkeiten gesellschaftlicher Ordnung. Dem besonderen Gewicht, das in einer solchen Gerechtigkeitskonzeption dem Gut der politischen Macht zukommt, begegnet Walzer mit dem normativen Ausschluß extrinsischer Gründe bei der Zuweisung und Legitimation von politischer Macht - wie Geld, Wissen oder Prestige. Hier rekurriert er, wie schon Arendt, auf Aristoteles' Auszeichnung der politisch-staatlichen Sphäre als einem Raum, in dem sich Bürger über ihre sonstigen Differenzen hinweg im gleichen Rechtsstatus begegnen. Daß aber das demokratische Recht auf den gleichen Zugang zu politischer Macht nicht schon seine tatsächliche Ausschöpfung garantiert, sondern vielmehr an aktive politische Partizipation der

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DIE Α Ν Ή Κ Ε ALS REFERENZ

Bürger gebunden bleibt, zeigt eine weitere Gemeinsamkeit von Arendt und Walzer.56 Beide sind in einem spezifischen Sinne Machttheoretiker. Macht wird als Fähigkeit von Akteuren verstanden, sich zu einem Anliegen zusammenzuschließen und gemeinsam zu handeln. Dieser komunikative Machtbegriff wird explizit von einem herrschaftlichen und mit Gewalt assozierten Machtbegriff, wie von Max Weber systematisiert, abgegrenzt. Für Walzers gerechtigkeitstheoretische Rezeption von Aristoteles sind, knapp zusammengefaßt, drei Aspekte entscheidend: Erstens gibt der Staat den politischkulturellen Rahmen ab, innerhalb dessen das gemeinsame Verständnis davon durchgesetzt wird, was ein Gut bedeutet und wozu es da ist. Neben dieser Kontextabhängigkeit der Gerechtigkeitspraxis und der aus Walzers Sicht notwendigen Kontextualisierung einer gehaltvollen Theorie distributiver Gerechtigkeit wird zweitens nicht die Gleichheit der Menschen überhaupt, sondern ihre tatsächliche Differenz zum Ausgangspunkt, über komplexe Formen von Gerechtigkeit nachzudenken. Dabei tritt die Frage danach, was die gegenseitige Anerkennung von Menschen als menschliche Wesen möglich macht, in den Hintergrund (sie fallt keineswegs weg) zugunsten der politischen Intention, die Differenzen zwischen Menschen - den tatsächlichen Pluralismus von Lebensformen und individuellen bzw. gruppenspezifischen Identitäten - als Grundbedingungen für eine lebendige und offene Demokratie gegenüber jeder Art von politischem oder theoretischem Reduktionismus zu retten. Drittens schließlich verbindet Walzer die Frage der Gerechtigkeit mit der Idee des guten Lebens, ohne jedoch zugleich eine philosophische Grundlegung des guten Lebens oder der guten Lebensführung überhaupt anzubieten. In seiner Auseinandersetzung mit klassischen politischen Konzeptionen des guten Lebens lehnt er substantielle Festschreibung explizit ab. In ihrer anthropologisch fundierten sozialdemokratischen Auslegung von Aristoteles will Nussbaum genau das leisten, was Walzer ausdrücklich offen läßt. Zwar zielt die Moralphilosophin auf eine enge Verknüpfung von Fragen der Gerechtigkeit mit denen des guten Lebens und versteht ihre Theorie als eine soziale Neuformulierung des politischen Liberalismus, aber im Gegensatz zu Walzer plädiert sie für eine dichte und vage universalistische Konzeption der menschlichen Lebensform. Im Anschluß an Aristoteles' Unterscheidung von Erfahrungsbereichen und Tugenden entwickelt Nussbaum ihre Konzeption als zweistufige Fähigkeitenliste. Auf der ersten Stufe werden die allgemein menschlichen Bedingtheiten aufgelistet, während auf der zweiten danach gefragt wird, was ein gutes menschliches Leben ausmacht. Auch wenn beide Listen an vielen Punkten konvergieren, liegt der Akzent der ersten Stufe auf der gegenseitigen Anerkennung 56 So unterscheidet Arendt nicht nur systematisch zwischen Macht und Gewalt, sondern stellt Macht und Recht als komplementäres Begriffspaar dar. Wie Jürgen Gebhardt und Herfried Münkler argumentieren, ist damit „in Arendts Sicht die Entwicklung zur Demokratie zwingend gleichbedeutend mit der Transformation von Gewalt in Macht und, als deren komplementärer Größe, in Recht. Demokratie, zumindest die bürgerschaftlich gedachte Demokratie, ist als Form der Herrschaftsorganisation eo ipso gewaltlimitierend" (Gebhardt/Münkler 1993b: 17)

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von Menschen als menschliche Wesen, womit anthropologisch Grenzen und Fähigkeiten der dieser Lebensform skizziert werden, während auf der zweiten Stufe stark normativ gefragt wird, wie wir über die reinen Minimalfähigkeiten hinaus leben sollten. Die menschliche Natur liefert für Nussbaum die Grundlage für eine universalistische Tugendethik, aber nur insofern sie aus menschlichen Selbstbeschreibungen heraus rekonstruierbar ist. Für ihre Konzeption des Guten trifft Nussbaum zudem eine Unterscheidung, die sie wiederum auf Aristoteles zurückführt. Die Frage des guten Lebens soll nicht auf der Ebene tatsächlich ausgeübter oder auszuübender Tätigkeiten (functions) beantwortet werden, sondern auf der Ebene menschlicher Fähigkeiten (capabilities). Die Moralphilosophin will sich so gegenüber konservativen Wiederbelebungen der Aristotelischen Tugendethik abgrenzen, die die tatsächliche Ausübung von Fähigkeiten fordern, wodurch die Wahlfreiheit des einzelnen eklatant einschränkt wäre.57 Diese Abgrenzung gelingt nicht immer. Insbesondere dann nicht, wenn Nussbaum ihren Fähigkeitenansatz teleologisch ausbuchstabiert und darauf besteht, daß nur in der tatsächlichen Ausübung von Fähigkeiten die menschlichen Potentiale verwirklicht werden können. Neben den skizzierten Unterschieden zwischen einer handlungstheoretischen, einer gerechtigkeitstheoretischen und einer tugendethischen Rezeption von Aristoteles betonen Arendt, Walzer und Nussbaum die spezifisch „empirische" Fundierung seines Denkens, die Rückbezogenheit von Begriffen wie Politik oder Gerechtigkeit auf Erfahrungen der Polis. Während jedoch Nussbaum Aristoteles' Vermittlung von universalistischen Urteilen und partikularen Erfahrungswelten als weitgehend gelungen betrachtet, sind Arendt und Walzer skeptischer. So attestieren sie Aristoteles zwar ein Bemühen um die Verknüpfung von Theorie und Erfahrung, betonen seine Aufwertung der phronesis gegenüber elitärem Expertenwissen. Ein Vorbild, wie aus besonderen Erfahrungen Erkenntnisse gewonnen werden können, die zumindest eine gewisse Allgemeingültigkeit beanspruchen, können sie in dem antiker Denker aber nicht sehen. Daher entwikkeln Arendt und Walzer ihre Vorschläge einer Verallgemeinerung partikularer Erfahrungen unabhängig von Aristoteles. Gemeinsam mit Nussbaum ist ihnen jedoch, daß sie zwei grundsätzliche Vorentscheidungen treffen: Für die Auszeichnung bestimmter Erfahrungen als exemplarische rekurrieren sie auf antike Narrationen - und den in ihnen tradierten Erfahrungen wird aufgrund ihrer ideengeschichtlichen Rezeption bzw. politi-

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Nussbaum spricht hier von einer graduellen Abweichung von Aristoteles. Zwar hätte Aristoteles mit seinem Verweis auf die Wahlmöglichkeiten (proairoumenoi) die Ausübung der Entscheidungsfreiheit und der praktischen Vernunft normativ betont, aber zeitgenössische Aristoteliker müßten die moderne Wertschätzung von individueller Selbstentdeckung und Selbstverwirklichung berücksichtigen. Für Gutschker handelt es sich dagegen um eine kategorische Abweichung: „Die ,idea of the citizen as a free and dignified human being, a maker of choices' geht weit über das hinaus, was Aristoteles mit proairesis anspricht. Die proairesis ist niemals völlig ungebunden, sondern hält sich im Bereich des Möglichen und Schicklichen (hos dei)." (Gutschker 2002:444)

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DIE Α Ν Ή Κ Ε ALS REFERENZ

sehen Wirkmächtigkeit ein über den konkreten narrativen Kontext hinaus reichender Geltungsanspruch zugesprochen.

3 Der exemplarische Charakter antiker Narrationen

Der positive Riickbezug auf die Antike und insbesondere auf in ausgewählten Narrationen tradierte Erfahrungen erfolgt bei Hannah Arendt, Michael Walzer und Martha Nussbaum unter der Prämisse, die Paul Ricoeur den „dialektisch auf die Zukunft bezogenen Sinn unserer Auseinandersetzung mit dem Vergangenen" genannt hat (Ricoeur 1998: 24). Ohne zu einer Teleologie der Geschichte als im Voraus begriffener Totalität zurückkehren zu wollen, bestreitet Ricoeur den rein retrospektiven Charakter der Geschichte. Die Offenheit der Zukunft verlangt nicht die Abgeschlossenheit der Vergangenheit, sondern ihre interpretative Aneignung im Lichte gegenwärtiger Anliegen. Menschen, die etwas über sich, über ihre Herkunft wissen wollen, stehen im Dialog mit der Vergangenheit. Sie greifen Fragen aus der Vergangenheit auf, weil es Fragen sind, die sie von ihrem gegenwärtigen Standpunkt aus an die Vergangenheit haben. So begründet Nussbaum ihre Hinwendung zum griechischen Denken des vierten und fünften vorchristlichen Jahrhundert zunächst damit, daß Ethik und Ästhetik hier noch nicht als getrennte oder gar opponierende Bereiche wahrgenommen wurden, sondern als zwei Weisen, in denen man über ethische Fragen nachdachte. Im Gegensatz zur modernen Ausdifferenzierung von Ethik und Ästhetik ist für Nussbaum die Einbeziehung von Literatur elementarer Bestandteil der Erforschung einer universalistischen Konzeption menschlichen Wohlergehens. Ihre besondere Wertschätzung der griechischen Tragödiendichtung hat indes noch eine andere Dimension. Sie glaubt, hier eine komplexe Reflexion menschlichen Lebens und Handeln zu erkennen, die philosophischen Texten nicht im gleichen Maße eigen ist. In Fragility of Goodness schreibt sie: „Tragic poems, in virtue of their subject matter and their social function, are likely to confront and explore problems about human beings and luck that a philosophical text might be able to omit or avoid. Dealing, as they do, with the stories through which an entire culture has reflected about the situation of human beings and dealing, too, with the experiences of complex characters in these stories, they are unlikely to conceal from view the vulnerability of human lives to fortune, the mutability of our circumstances and our passions, the existence of conflicts among our commitments." (FG: 13)

Für Nussbaum artikuliert und reflektiert die griechische Tragödie die elementare menschliche Erfahrung, daß das Leben durch eine Vielzahl moralischer Normenkonflikte gekennzeichnet ist, die zwar minimiert, aber nicht beseitigt werden können. Nussbaum geht von der philosophischen Setzung aus, daß die griechische Tragödiendichtung für die in Mythen und Geschichten unterschiedlicher Kulturen auffindbaren

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„kulturübergreifenden Übereinstimmungen" hinsichtlich konstitutiver menschlicher Grunderfahrungen einen exemplarischen Charakter besitzt. Dagegen haben Walzer und Arendt ein anspruchsvolles methodisches Programm entworfen, über das Partikularismus und Universalismus vermittelt werden können. So zeigt Walzer am Beispiel der Exodus-Geschichte, wie über kommunikative und interpretative Aneignungen der in dieser religiösen Narration enthaltenen Vorstellungen von politischer Freiheit und gerechter Politik eine „dünne" Auffassung interkulturell geteilter moralischer Prinzipien erkennbar wird. Innerhalb seines „reiterativen Universalismus" will Walzer die ExodusGeschichte aber gerade nicht als den gemeinsamen Anfang einer sich dann politisch und kulturell ausdifferenzierenden Moral verstanden wissen, sondern als Überschneidungen besonderer Erfahrungen, deren Ursprung immer „dichte", gesellschaftlich konstituierte und damit partikulare Moralvorstellungen sind. Während er dabei von einer Kontinuität der Traditionen ausgeht, spricht Arendt explizit nicht von Tradition und Kontinuität, sondern von fragmentarischer Vergangenheit. Für sie ist die Kontinuität der Tradition bereits im Ersten Weltkrieg fragwürdig geworden, um dann an der Existenz der totalitären Herrschaft endgültig zu zerschellen. Im Gegensatz zu Walzer und auch Nussbaum ist die Erfahrung des Traditionsbruches konstitutiv für Arendts methodisches Konzept eines nur selektiv und punktuell möglichen Bergens von Traditionsgehalten. Im Gespräch mit Roger Errera sagt sie dazu: „Ich bediene mich, wo ich kann. Ich nehme, was ich kann und was mir paßt. [...] Ich denke, einer der großen Vorteile unserer Zeit ist wirklich, was René Char, wie Sie wissen gesagt hat: .Unserer Erbschaft ist keinerlei Testament vorausgegangen.' Das heißt, es steht uns vollkommen frei, uns aus den Töpfen der Erfahrungen und Gedanken unserer Vergangenheit zu bedienen." (Arendt 1996: 122f.)

Diese Freiheit des Denkens hat Arendt für eine in der philosophischen wie sozialwissenschaftlichen Literatur gleichermaßen ungewöhnliche Kombination zweier Traditionsfragmente genutzt, die auf den ersten Bück nichts miteinander zu tun zu haben scheinen. Für ihre Suche nach einem genuin politischen Begriff politischen Handelns rekurriert Arendt auf die Homerischen Epen und begründet den exemplarischen Charakter der in ihnen enthaltenen besonderen Erfahrungen mit Kants Konzept der Urteilskraft. Sie greift dabei allerdings nicht auf das Konzept der teleologischen Urteilskraft im zweiten Teil der Kritik zurück, sondern nutzt das der ästhetischen Urteilskraft im ersten Teil, welches bei Kant selbst in keiner Weise mit dem Politischen befaßt ist.58

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Kant hatte in der Kritik der Urteilskraft die „Kritik der ästhetischen Urteilskraft" im ersten Teil von der „Kritik der teleologischen Urteilskraft" unterschieden.

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„Mut ist: wie Achilles sein" Arendt hat sich nie systematisch zu den methodischen Aspekten ihres Entwurfs einer neuen politischen Wissenschaft nach dem Totalitarismus geäußert. Die methodischen Überlegungen sind vielmehr komplementäre Bestandteile ihrer politischen Analysen. Allein die Skizze für den dritten, unvollendet gebliebenen Teil ihres Spätwerks Vom Leben des Geistes über das Urteilen läßt vermuten, daß hier eine systematischere methodische Darstellung geplant war. So unterschiedlich die Kontexte sind, in denen Arendt ihre Idee der exemplarischen Gültigkeit begründet und anwendet, ihnen zugrunde liegt ein Konzept politischen Denkens, das Verstehen als eine von geschichtsphilosophischen Konstruktionen wie von politischem Handeln distinkte Weise retrospektiver Urteilsfindung faßt. Im historischen Urteil ist mehr enthalten als die Bewahrung vergangener politischer Erfahrungen, nämlich die Frage nach der Relevanz dieser Erfahrungen für gegenwärtiges politisches Handeln. Die Vorstellung, daß es für die Unsterblichkeit der Taten und Worte eines berichtenden Zuschauers bedarf, taucht nach Arendt das erste Mal bei Homer auf. Und Homer ist es auch, bei dem der Sänger nicht nur zum Bewahrer der Ereignisse, sondern darüber hinaus zu ihrem Richter wird. Im Urteil offenbart sich der Sinn der handelnd erlebten Geschichte. Deshalb bedeckt der seiner eigenen Lebensgeschichte zuhörende Odysseus „sein Gesicht und weint, was er noch nie getan hat, und ganz bestimmt nicht, als das, wovon er nun hört, wirklich geschah. Erst als er die Geschichte hört, wird ihm der Sinn völlig bewußt." (VGD: 133) Daß Urteilen ein vom politischen Handeln unterschiedenes Vermögen ist, und anscheinend nur dem Betrachter das Privileg eines endgültigen Urteils zukommt, findet Arendt auch in Kants Äußerungen zur Französischen Revolution: Während der Handelnde im moralisch-praktischen Sinne nie das Recht zur politischen Auflehnung hat, wird der Zuschauerstandpunkt nicht durch die kategorischen Imperative der praktischen Vernunft bestimmt. Für den sich vom Handeln zurückgezogenen Betrachter gelten offensichtlich andere Maßstäbe, wenn Kant über die Französische Revolution sagt: „Die Revolution eines geistreichen Volkes [...] mag gelingen oder scheitern; sie mag mit Elend und Greueltaten [...] angefüllt sein [...] - die Revolution [...] findet doch in den Gemüthern aller Zuschauer (die nicht selbst in diesem Spiel mit verwickelt sind) eine Theilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasmus grenzt. [...] [E]in solches Phänomen in der Menschengeschichte vergißt sich nicht mehr, weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat [...]." (Kant 1996b: A 144ff.) Noch deutlicher wird die Position des Zuschauers, sein Urteil und seine Einsicht in das gesamte Schauspiel, das dem einzelnen, kontingenten Ereignis Sinn verleiht, in zwei Bemerkungen über den Krieg aus der Kritik der Urteilskraft. Zunächst fragt Kant im ersten Teil über die Kritik der ästhetischen Urteilskraft, wem die größere Bewunderung gilt: Staatsmann oder Feldherrn. „Ein Mensch, der nicht erschrickt, der sich nicht

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„ M U T IST: WIE ACHILLES SEIN"

fürchtet, also der Gefahr nicht weicht, zugleich aber mit völliger Überlegung rüstig zu Werke geht. Auch im allergesittetsten Zustande bleibt diese vorzügliche Hochachtung für den Krieger [...]. Daher mag man noch so viel in der Vergleichung des Staatsmanns mit dem Feldherrn [...] streiten: das ästhetische Urteil entscheidet für den letzteren. Selbst der Krieg [...] hat etwas Erhabenes an sich [...]: da hingegen ein langer Frieden den bloßen Handlungsgeist, mit ihm aber den niedrigen Eigennutz, Feigheit und Weichlichkeit herrschend zu machen, und die Denkungsart des Volks zu erniedrigen pflegt." (Kant 1996a: Β 107) Die zweite Bemerkung stammt aus dem zweiten Teil der Kritik über die teleologische Urteilskraft und berührt die Frage, wozu Kriege in Hinblick auf den Fortschritt und die Zivilisation gut sind: Der Krieg ist „ungeachtet der schrecklichsten Drangsale, womit er das menschliche Geschlecht belegt, und der vielleicht noch größeren, womit die ständige Bereitschaft dazu im Frieden drückt, dennoch eine Triebfeder [...], alle Talente, die zur Kultur dienen, bis zum höchsten Grade zu entwickeln." (Kant 1996a: Β 394f.) In den zitierten Beispielen Kants sind für Arendt zunächst zwei Dinge entscheidend: zum einen die nichtbeteiligte Position des Betrachters, aufgrund derer er einen Sinn in dem Verlauf der Ereignisse entdecken konnte, der den Handelnden selbst verschlossen blieb. Der betrachtende Standpunkt des Zuschauers ist bei Kant wie bei Homer verbunden mit der Position des Richters. Der Verzicht auf aktive Teilnahme und das Einnehmen eines „allgemeinen Standpunktes" ermöglichen die Unparteilichkeit, „die vom Richter erwartet wird, wenn er sein Urteil fallt" (U: 76). Andererseits wird bei Kant diese alte (griechische) Vorstellung mit der Idee des Fortschritts verbunden, mit der Hoffnung auf die Zukunft. Diese Idee wird zum „ewigen Maßstab", auf Grund dessen das einzelne Ereignis beurteilt wird. Der Bedeutungshorizont der von Natur aus auf Fortschritt angelegten Menschheitsgeschichte ist das Allgemeine, das dem besonderen Geschehen Sinn verleiht. Was dabei für Arendt verlorengeht, ist die Einmaligkeit des Ereignisses, die Originalität politischen Handelns und das alte Prinzip der ursprünglich griechischen Geschichtsschreibung, daß der Sinn einer Geschichte sich erst an ihrem Ende enthüllt. Obgleich Arendt sich von Kants Geschichtsphilosophie distanziert, übernimmt sie dessen Idee, daß das Urteil aus „einem bloß betrachtenden Vergnügen oder untätigen Wohlgefallen" (zit. n. Arendt 1998b: 445) entsteht, was in der Kritik der Urteilskraft „Geschmack" heißt und in beiden Bemerkungen zur Französischen Revolution und zum Krieg als ästhetisches Urteil in seiner immer nur subjektiv verfaßten Gesetzmäßigkeit bereits angeklungen ist. In Kants dritter großer Kritik verbindet die Urteilskraft das Vermögen der erweiterten Denkungsart hin zu einem allgemeinen Standpunkt mit der auf das Besondere gerichteten und dazu stellungnehmenden Kompetenz des Geschmacks. Das so getroffene Urteil wird über das Kriterium der Mitteilbarkeit selbst wieder in die den handelnden und verstehenden Menschen gemeinsame Wirklichkeit gestellt. Arendt führt Kants reflexives Geschmacksurteil und die Homerische Tradition der „objektiven Berichterstattung" zusammen zu einem politischen Verstehenskonzept, in dem der Betrachter,

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Berichterstatter und Erzähler sich erstens nicht von der Welt, sondern nur vom aktiven Engagement zu einer Sonderposition innerhalb der Welt zurückgezogen hat. Sein Interesse gilt zweitens auch nicht dem Lauf der Geschichte als Ganzes, sondern dem besonderen Ereignis in der Vielfältigkeit seiner Erscheinungen, und drittens wird das Urteil oder die Geschichte wieder gegenständlicher Teil der öffentlichen Welt, über den man nicht disputieren, aber in der Hoffnung auf Übereinkunft sehr wohl streiten kann (Kant 1996a: Β 233f.). Arendts eigenwillige Verbindung Homerischer Darstellung mit Kantischer Begrifflichkeit wird nachfolgend in drei Schritten entwickelt. Der allgemeine Standpunkt des „blinden Dichters" Die Unparteilichkeit des „blinden Dichters" zeigt sich in den Homerischen Epen zunächst als die Zweiseitigkeit der Dinge, die in der Schilderung der Zweikämpfe unmittelbar gegeben ist. „Der Krieg gegen Troja hat zwei Seiten, und Homer sieht ihn mit den Augen der Trojaner nicht weniger als mit denen der Griechen." (WP: 95) Obgleich Achilleus die zentrale Figur der Ilias ist und obgleich mit seinem Zorn bereits am Anfang das Thema vorgegeben ist, entfällt nur ein Viertel des Gesamtwerkes auf die Entstehung des Zorns, seine schließliche Überwindung und auf die Heldentaten des Achilleus. Der größere Teil widmet sich den Erfolgen und Niederlagen der anderen, am Geschehen beteiligten Archäer und Trojaner. So wird die Ilias zu einem „gewaltigen Agon der höchsten Arete so vieler unsterblicher Helden. Nicht nur der Griechen, denn auch ihre Gegner sind ein heldenhaft um seine Heimaterde und Freiheit ringendes Volk." (Jaeger 1989: 75) Aristoteles sagt über diese besondere Form der Unparteilichkeit in Homers berichtenden Erzählung, daß er sich „dessen bewußt ist, was er selbst zu tun hat. Der Dichter muß in seiner Dichtung möglichst wenig in eigener Person sprechen". (Aristoteles 1945: 53) Er muß, mit Kant gesprochen, seinen Geist mit Hilfe der Einbildungskraft lehren, Besuche zu machen, sich vom Eigennutz befreien und lernen, an der Stelle jedes anderen zu denken. Diese „Maxime der erweiterten Denkungsart" ist für Kant die Maxime der Urteilskraft (Kant 1996a: Β 160). Und diese ist erzählend angewandt in den Homerischen Epen, in denen aus der Zweiseitigkeit der Dinge die Vielseitigkeit eines künstlerisch geschaffenen Erscheinungsraumes im Gesamtwerk wird, in dem „die einzelnen Gestalten der Handlung aus ihrem bloßen Dabeisein zeitweilig in den Vordergrund unserer Aufmerksamkeit (treten) [...]."59 Oder anders gesagt: Die Erzählung wird über die Repräsentation der Pluralität zu einem historischen Gedächtnis, in dem unabhängig von Erfolg oder Niederlage an die am Handeln beteiligten Personen erinnert wird. Aber damit ist der blinde Dichter Homers noch nicht in Gänze beschrieben, denn als metaphorisches Attribut steht „blind" für die Distanz des Dichters in einem besonderen Sinne: „Indem man seine Augen schließt, wird man zu einem unparteilichen, nicht di-

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Ludwig Voit in der Einführung zur Ilias (Homll: 32).

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„ M U T IST: WIE ACHILLES SEIN"

rekt affizierten Zuschauer sichtbarer Dinge." (U: 92) Die Fähigkeit, sich die mit den äußeren Sinnen wahrgenommenen Geschehnisse nicht nur im Geist zu vergegenwärtigen, sondern vor ihn hinzustellen, nennt Arendt im Anschluß an Kant „reproduktive Einbildungskraft": die Entsinnlichung von physisch Abwesendem im Denken. Der allgemeine Standpunkt Kants wird in Arendts Interpretation zum „blinden Dichter" Homers: in der doppelten Bedeutung von der Erweiterung des Denkens durch die Aufnahme möglicher anderer Standpunkte und der Distanzierung von sinnlich wahrgenommenen Dingen durch die Entsinnlichung im reproduktiven Denken. Während die repräsentative Dimension der Einbildungskraft auf die Gemeinsamkeit der öffentlichen Welt in der Vielfalt ihrer Standpunkte rekurriert, bereitet die reproduktive oder entsinnlichende Dimension der Einbildungskraft den Gegenstand für die „Operation der Reflexion", der eigentlichen Tätigkeit des Etwas-Beurteilens zu. In den Kant-Vorlesungen schreibt Arendt: „Die Operation der Einbildung hat das Abwesende für den inneren Sinn unmittelbar präsent gemacht, und dieser innere Sinn macht, per definitionem, Unterscheidungen. Er sagt: Esgefällt oder Es-mißfallt: Er wird Geschmack genannt, weil er wie der Geschmack eine Wahl trifft." (U: 92)

Die Urteilskraft als das Vermögen, das Besondere als Besonderes zu beurteilen Der Geschmack wird zum Beurteilungsvermögen nur über die Entsinnlichung der wahrgenommenen Dinge. Nicht die Tatsache, daß etwas in der unmittelbaren Wahrnehmung angenehm ist oder nicht, ist das Urteil, sondern ob etwas in der Vorstellung, mit der richtigen uninteressierten, unbeteiligten Distanz also, als recht oder unrecht, wichtig oder unwichtig, schön oder häßlich beurteilt wird. Arendt nennt zwei Gründe, warum für Kant der Geschmack und kein anderer Sinn zum „Vehikel" der Urteilskraft wurde: „Nur Geschmack und Geruch sind ihrem Wesen nach stellungnehmend, und nur sie sind auf das Einzelne als solches gerichtet: alle Gegenstände, die den objektgerichteten Sinnen (Sehen, Hören, Tasten, G. S.) gegeben sind, haben gemeinsame Eigenschaften mit anderen Gegenständen; sie sind nichts Einmaliges." (VGW: 454)

In ihrem Aufsatz Verstehen und Politik unterscheidet Arendt zwischen vorgängigem Verstehen, das dem Wissen vorausgeht, und „wahrem Verstehen", welches es transzendiert. Wenn das Ziel jedes Verstehens darin liegt, dem Wissen Sinn zu verleihen, das heißt, die Geschehnisse der Welt derart zu begreifen, daß Menschen sich in ihr zurechtfinden können, dann muß der Maßstab des wahren Verstehens immer die in der Umgangssprache beschlossene Erfahrung der Menschen sein. Arendt schreibt: „Die Wahl des neuen Wortes (des Totalitarismus, G. S.) weist darauf hin, daß jeder weiß, daß etwas Neues und Entscheidendes passiert ist, wohingegen sein nachfolgender Gebrauch, die Gleichsetzung des neuen und besonderen Phänomens mit etwas Bekanntem und ziemlich Allgemeinem (Totalitarismus als eine Form der Tyrannis oder der Ein-Partei-Diktatur), anzeigt,

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daß man unwillig ist zuzugeben, daß Uberhaupt etwas passiert ist, was außerhalb des Gewöhnlichen liegt." (VP: 115)

Während also die Umgangssprache den Prozeß des wahren Verstehens beginnt, beschwichtigt das unkritische Vorverständnis die Erfahrung des Neuen in seiner Gleichsetzung mit bereits Bekanntem. Wahres Verstehen transzendiert dieses unkritische Vorverständnis, indem es zur Umgangssprache zurückkehrt und das in ihr enthaltene Neue enthüllt. Diese Enthüllung entspringt dem Vermögen der Urteilskraft, einem „besonderen Talent", wie Arendt mit Kant sagt, das auf keine Weise im Verstand enthalten ist. Denn der Verstand bedient unser Bedürfnis, die Welt dadurch zu erklären, daß wir das Neue unter alte Verallgemeinerungen - Begriffe - bringen, während die Urteilskraft das Neue, was sich in der phänomenalen Welt ereignet hat, als ein von allem Alten Unterschiedenes bemerkt. Das neue Verstehen behält vom ursprünglichen Verstehen die Bindung an die Wirklichkeit der Phänomene bei - die Wirklichkeit, wie sie von den Handelnden wahrgenommen wurde, und im historischen Gedächtnis aufgehoben ist. Und es findet im besonderen und neuen Ereignis das „Ende" einer Geschichte, die erst im Lichte des anbrechenden Neuen und im Unterschied zu ihm erkennbar wird. Die Erweiterung des Denkens als historisches Gedächtnis und die reproduktive Einbildungskraft als Entsinnlichung der betrachteten, aber nun abwesenden, vergangenen Dinge werden mit dem unterscheidenden Vermögen der Beurteilung des Neuen als etwas Besonderes zu einem produktiven Vermögen, das selbst wieder etwas Neues darstellt. Dieses Neue der nunmehr reflexiven und produktiven Einbildungskraft ist die konkret urteilende und sinnstiftende Erzählung, in der die Originalität und Qualität politischen Handelns dem Urteil des Betrachters anvertraut ist: „Homer also singt den jahrhundertelang zurückliegenden Vernichtungskrieg so, daß er in gewissem Sinne, nämlich im Sinne der dichterischen und historischen Erinnerung, die Vernichtung gerade wieder rückgängig macht. Die Unparteiischkeit Homers [...] (ist) keine Objektivität im Sinne der modernen Wertfreiheit, wohl aber im Sinne der vollkommensten Freiheit von Interessen und der vollkommensten Unabhängigkeit vom Urteil der Geschichte [...], der gegenüber sie auf dem Urteilen des handelnden Menschen und seinem Begriff von Größe besteht." (WP: 92)

In der homerischen Tradition der Berichterstattung, wie Arendt sie interpretiert, wird über die urteilende Erzählung die Erinnerung an solche Ereignisse menschlicher Geschichte wachgerufen, die ohne sie nicht zum Bezugsrahmen politischen Handelns gehören würden. Der institutionellen Ordnung, den Fakten der Geschichte und dem narrativen Selbstverständnis einer politischen Gemeinschaft wird eine von den Ergebnissen der Geschichte verdrängte Erfahrung hinzugefügt. Das aber heißt, daß der urteilende Betrachter sich um eine weitere Dimension als unabhängig erweist: gegenüber dem Zwang der Geschichte selbst. Wenn Arendt die „Geschichte der Revolutionen - vom Sommer des Jahres 1776 in Philadelphia und dem Sommer 1789 in Paris bis zum Herbst 1956 in Budapest - , die politisch den innersten Kern der Geschichte des moder-

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nen Zeitalters ausmacht", als die Erzählung eines „uralten Schatzes" beschreibt, der immer nur für Momente erscheint und für lange Zeit wieder verschwindet, dann soll dem politischen Selbstverständnis wieder etwas hinzugefügt werden, was in Vergessenheit geraten ist (Arendt 1994b: 8). Der Schatz sind jene „hohen (politischen) Augenblicke", in denen die Macht des Handelns und des Neubeginnens in ihrer reinsten Form zutage treten. In ihnen offenbart sich, was Arendt den „Geist der Revolutionen" nennt, der aber in keiner - auch nicht der amerikanischen - Tradition enthalten ist. Alles aber, was nicht erinnert wird, fällt dem Vergessen zum Opfer, so auch die „seltsame und traurige Geschichte des Rätesystems, der einzigen Staatsform, die unmittelbar aus dem Geist der Revolutionen entstanden ist" (ÜR: 41). Über die Revolution läßt sich sehr wohl lesen als eine Wiedererinnerung der von der Geschichte zum Untergang verurteilten Räte und als Hinweis darauf, daß die Amerikanische Revolution dieser politischen Organisationsform letztlich ihren Erfolg verdankt. Damit ist gleichwohl mehr intendiert als die Forderung, immer wieder neu über vergangenes Handeln zu richten. Im historischen Urteil wird die Vergangenheit zitiert, um die Gegenwart zu kritisieren: und zwar in der Erinnerung an eine „heroische" Vergangenheit, als die Wiederentdeckung der großartigen Ursprünge einer politischen Gemeinschaft, an die sich das Amerika des 20. Jahrhunderts kaum noch erinnert. Über die Mitteilbarkeit des Urteils Bisher ist über die Distanz des berichtenden und urteilenden Betrachters gesprochen worden, die über die Erweiterung des Denkens und Entsinnlichung im Denken zu einem „allgemeinen Standpunkt" gewonnen wird. Auf dieser Grundlage kann der Betrachter zu einem Urteil über die Ereignisse gelangen und den Sinn in Form einer Geschichte enthüllen. Aber wie ist der Richter mit seiner Gesellschaft verbunden, welches Gewicht hat seine Stimme für die Gegenwart einer politischen Gemeinschaft? Die Namen, die Homer den Sängern in den Epen gibt, sprechen von ihrer Rolle in der Gemeinschaft: Phemios im ersten Buch der Odyssee heißt Bringer der Kunde, Künder des Ruhms, und im Namen des phäakischen Sängers Demodokos liegt, wie Werner Jaeger schreibt, „der Hinweis auf die Öffentlichkeit seines Berufes. Der Sänger hat, eben weil er der Künder des Ruhms ist, seine feste Stellung in der Gemeinschaft der Menschen." (Jaeger 1989: 69) Im achten Buch der Odyssee heißt es über den „freundlichen Sänger" Demodokos, daß man ihn hoch ehrte im ganzen Volk und ihm „einen Sitzplatz neben der langen Säule, inmitten der schmausenden Gäste" errichtete. Die Aufgabe professioneller Sänger war es, die adlige Gesellschaft beim Mahle zu unterhalten und Heldensagen so zu erzählen, daß ihre Zuhörer in ihnen die eigene Gegenwart wiedererkennen konnten. Die erzählte Geschichte ist daher nie eine adäquate Abbildung vergangener oder gegenwärtiger Wirklichkeit, sondern die Stiftung eines sinnvollen Zusammenhangs in der Konstruktion eines kollektiven Erinnerungsraumes, in den der Dichter seine Kritik an der politischen Gegenwart ebenso einfließen wie Lösungsvor-

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schläge anklingen läßt. Indem der Dichter, so Kurt Raaflaub, „Modelle positiven und negativen Handelns [...] (gestaltet), den Hintergrund und die Konsequenzen bestimmter Verhaltensweisen [...] (beleuchtet), [...] (macht er) [...] ihm Wesentliches seinen Zuhörern bewußt, er zwingt sie zum Nachdenken, er erzieht sie" (Raaflaub 1988: 215).60 Urteil und Sinn der erzählten Geschichte stehen so in einem direkten Zusammenhang zur Gemeinschaft, der sie berichtet wird und von der sie verstanden und angenommen werden soll. Das Kriterium für die Geschichte ist daher ihre Mitteilbarkeit oder Öffentlichkeit, und der Maßstab, mit dem darüber entschieden wird, ist der Gemeinsinn, schreibt Arendt (allerdings in dem Fall nicht über Homer, sondern über Kants reflexives Geschmacksurteil). Aus dieser Perspektive betrachtet, steht der urteilende Erzähler seiner Gesellschaft zwar immer noch mit dem Abstand gegenüber, der sich aus seiner berichtenden Tätigkeit ergibt, ist aber weder selbst autonom noch sein Urteil über jeden Zweifel erhaben. Er ist bei Homer und bei dem Kant des Geschmacksurteils nicht autonom, das heißt, er genügt sich nicht selbst, weil seine Tätigkeit die Öffentlichkeit ebenso voraussetzt, wie umgekehrt diese seiner Tätigkeit bedarf. Und insofern sich sein Urteil nach Kant auf eine nur „subjektive Allgemeingültigkeit" (seine Gültigkeit reicht nicht weiter als die Standpunkte, die in das so erweiterte Denken aufgenommen sind) berufen kann, also „gar nicht durch Beweisgründe bestimmbar" und demzufolge keine Erkenntnis ist, muß es um aller Beistimmung werben, kann sie aber nicht erzwingen (vgl. Kant 1996: Β 62ff. und Β 135ff.). In dem „Werben" um Zustimmung erkennt Arendt das griechische Reden und Überzeugen wieder, das politische Miteinandersprechen, welches die Griechen von dem philosophischen Dialog genau zu trennen wußten. In diesem 60 Kurt Raaflaub hat vier Hauptthemen, „die bei einer bewußt politischen Lektüre der homerischen Epen in die Augen springen" zusammengefaßt: 1. Die Problematik des Krieges: Obgleich Homer oft in bewundernder Genauigkeit die einzelnen Kriegsszenen beschreibt, werden doch zugleich die Not und Fragwürdigkeit des Krieges - in der Diskrepanz zwischen Anlaß und Dimension dem Hörer vor Augen geführt (ζ. B. Ilias 6, 394—502; Odyssee, 8,521-30) und damit der Weg „für die Hochschätzung anderer Werte wie Frieden, Ordnung und Gerechtigkeit" geebnet. 2. Die Rolle des Königs bzw. der Edlen: Da ist zunächst die Kritik am eigensüchtigen und unverantwortlichen Handeln des Königs und der Adligen. Zwei Beispiele aus den Epen sind dafür exemplarisch: der Streit zwischen Agamemnon und Achill im ersten Buch der Ilias und die Schilderung der auf Odysseus Gutshof herumlungernden Freier, die sich aller Mittel bedienen, um aus der Schwäche anderer (in dem Falle Penelopes und noch mehr Telemachos') ihren größtmöglichen Gewinn zu ziehen. Die Volksversammlung, die Telemachos in der sich schließlich nichterfüllenden Hoffnung auf Unterstützung einberuft, bringt aber zugleich durch Telemachos und Mentor das Ideal des guten Königs Odysseus zur Sprache. Hier wird dann 3. auch die Rolle des Volkes thematisiert: Die Kritik betrifft seine Passivität in dieser Sache und fordert durch Mentors Rede das Bewußtsein für die Mitverantwortung am Gemeinwohl. 4. Das Rechtswesen und die Streitschlichtung: Der Streit zwischen Agamemnon und Achilleus findet bis zur Aussöhnung in allen Phasen öffentlich statt. Die Quintessenz, die im Ritual des öffentlichen Versöhnungsgeschenks zum Ausdruck kommt, ist, daß niemand vor Irrtum gefeit ist, weshalb Einsicht und Wiedergutmachung entscheidend sind (vgl. Raaflaub 1988: 201-215).

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geht es um Erkenntnis und Wahrheitsfindung, im Politischen aber geht es um Urteilen und Entscheiden, „um das urteilende Begutachten und Bereden der gemeinsamen Welt und die Entscheidung darüber, wie sie weiterhin aussehen und auf welche Art und Weise in ihr gehandelt werden soll" (KP: 300). Im Raum des Politischen kommt dann der urteilenden und sinnstiftenden Erzählung dieselbe Bedeutung zu wie der über die erweiterte Denkungsart qualifizierten politischen Meinung oder, wie Arendt in Kultur und Politik sagt, dem politischen Urteil. Ihnen gemeinsam ist die Beurteilung der „Welt in ihrer Weltlichkeit", also das Wissen darum, daß die Welt pluralistisch organisiert ist, und die Fähigkeit, sich diese Vielfältigkeit der Standpunkte zu vergegenwärtigen, was Arendt in Anschluß an Kant auch Gemeinsinn nennt. Arendts „homerisch" inspirierte Aneignung Kantischer Kategorien In ihrer Reinterpretation Homers mit den Kantischen Kategorien der erweiterten Denkungsart, des allgemeinen Standpunktes und der Urteilskraft entwickelt Arendt die Idee einer Dekontextualisierung konkreter Erfahrungen als exemplarische Erfahrungen. Arendt nimmt Kant, so kann man zugespitzt sagen, um Homers exemplarische Darstellung zu verstehen. Das bedeutet, diese besondere Erzählung, ihre politischen Implikationen und die Rolle des Erzählers im Sinne einer theoretischen Abstraktion zu verallgemeinern. Die Urteilskraft vereint das Besondere und das Allgemeine auf eine „geheimnisvolle Weise". Es ist das Vermögen, wie Arendt Kant zitiert, „das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken" (VGW: 460). Die Schwierigkeit besteht für Arendt darin, welches denn nun das Allgemeine sein soll, das durch das Besondere gefunden und alsdann zum Maßstab für das wiederum Besondere werden soll. Denn weder läßt sich der Maßstab der Erfahrung entlehnen, noch läßt sich ein einzelnes mittels eines anderen einzelnen beurteilen. Man benötigt ein Drittes, das zu den Einzeldingen in Beziehung steht, um ihren Wert zu bestimmen, und dennoch von ihnen unterschieden ist. In Kants Kritik der Urteilskraft findet Arendt eine Lösung für dieses Problem: die exemplarische Gültigkeit. , Jedem Einzelding, etwa einem Tisch, ist ein Begriff zugeordnet, anhand dessen wir den Tisch als Tisch erkennen. Man kann sich darunter eine Platonische ,Idee' oder ein Kantisches Schema vorstellen: man hat vor seinem geistigen Auge eine schematische oder bloß formale Tischgestalt, mit der jeder Tisch irgendwie übereinstimmen muß. Oder man geht umgekehrt von den vielen Tischen aus, die man in seinem Leben gesehen hat, nimmt ihnen alle sekundären Qualitäten, und es bleibt ein Tisch im allgemeinen, der die allen Tischen gemeinsamen Minimaleigenschaften enthält: der abstrakte Tisch. Es gibt noch eine weitere Möglichkeit, und die kommt bei Urteilen zur Geltung, die ja keine Erkenntnisse sind: Man stößt auf oder denkt an einen Tisch, den man für den besten möglichen hält, und ihn nimmt man als Beispiel dafür, wie Tische eigentlich sein sollten-der exemplarische Tisch. [...] Dieser ist und bleibt ein Einzelding, das gerade in seiner Einzigartigkeit das Allgemeine erkennen läßt, das anders nicht bestimmbar wäre. Mut ist: wie Achilles sein." (VGW: 461f.)

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Das ausgewählte Beispiel enthält als Besonderes einen Begriff oder eine Regel in sich und das Urteil erlangt seine „exemplarische Gültigkeit" in dem Maße, wie das Beispiel richtig gewählt wurde. Im Falle Homers war das Beispiel „richtig gewählt". Sein Urteil hatte exemplarische Gültigkeit und reichte über bloße Kritik hinaus, „weil griechischem Selbstverständnis zufolge die Einrichtung und Gründung der Polis aufs engste an die Erfahrungen gebunden waren, die innerhalb der Homerischen vorlagen" (WP: 46). Denn was die Griechen von Homer lernten, so Arendt, war nicht das nur negative Ausscheiden der Gewalt aus dem Bereich des Politischen, sondern daß es eines öffentlichen und gesicherten Raumes bedarf, in dem der einzelne im Gegensatz zu den vielen anderen erscheinen kann und daß dieser Raum beständiger sein muß, als das sich nach Kriegsende auflösende Heereslager der Achäer. Die Helden zogen nach Hause und errichteten dort den Raum des gemeinsamen Unternehmens, der gemeinsamen Tat. Es ist, als hätte sich das Homerische Heereslager nie wirklich aufgelöst. Und es ist eben dieser homerische Agon, der in Arendts Begriff vom öffentlichen Erscheinungsraum wieder auftaucht: als ein Ort des Wettbewerbs der Mutigen, die sich aus der Sicherheit des Hauses in das grelle Licht der Öffentlichkeit wagen, als ein Raum, in dem der einzelne erst in der Differenz zu anderen „wirklich werden" kann, in dem Handeln und Sprechen als die höchsten Tätigkeiten der vita activa gelten und als der Raum schließlich, in dem aus dem Kantschen Vermögen, eine Kette von selbst anzufangen, eine politische Möglichkeit wird. Und es ist noch um eine weitere Dimension die homerische Öffentlichkeit und in dieser nicht die griechische Polis, die für Arendt zum exemplarischen Beispiel für ihre mnemotische Auffassung des Politischen wird: Die Macht der Polis ist nicht so groß, daß die Monumente ihres Ruhmes direkt aus dem Handeln, dem Politischen selbst erwachsen, und - wie Perikles meinte - der Dichter und Künstler entraten könnte. „Ohne die Schönheit der Kulturdinge, ohne die leuchtende Herrlichkeit, in welcher sich politisch gesprochen Dauer und potentielle Unvergänglichkeit der Welt manifestieren, bleibt alles Politische ohne Bestand." (KP: 302)

Aus dieser Perspektive von Dauerhaftigkeit oder Unsterblichkeit bleibt das Politische an seine künstlerische Vergegenständlichung gebunden. In dem bestimmten exemplarischen Bild des Politischen, das Homer und auch Arendt erinnern, ist die Begrenzung von gegenwärtigem politischen Handeln im Sinne einer Norm intendiert. Aber es ist die politische Öffentlichkeit, die darüber entscheidet, welche Gültigkeit dem immer nur exemplarischen Urteil für das Verständnis der Gegenwart und des Handelns in ihr zukommt. Wenn Geschichte für Arendt das ist, was wert ist, erinnert zu werden, läßt sich im Umkehrschluß sagen: Homer ist für Arendt so wichtig, da er, was das Politische betrifft, den Anfang der abendländischen Tradition politischen Denkens bildet. Aber die in den Homerischen Epen tradierten Erfahrungen, die Arendt in ihren dramaturgischen Begriff öffentlich-politischen Handelns konstitutiv aufnimmt, sind nicht die einzigen wertvollen

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Erfahrungen. Auf ihrer Suche nach den wenigen „Glücksfällen in der Geschichte", in denen Politik nicht als Herrschen und Gehorchen begriffen oder als notwendiges Übel betrachtet wurde, verweist sie neben der griechischen Antike auf die republikanische Verfassung des alten Roms und als moderne Phänomene auf die Revolutionen des 18. und die revolutionären Rätebewegungen des 20. Jahrhunderts. Das Werk, das die moderne Wiederbelebung genuin politischer Handlungsfreiheit zum Thema hat, ist Über die Revolution. Arendt hat über das Ziel des Revolutionsbuches gesagt, sie wolle erklären, was eine Revolution eigentlich ist und was es für Menschen bedeutet, in einer revolutionären Zeit zu leben. „Für solche Fragen aber hält man sich besser nicht an die Vorgeschichte und nicht an die vermutlichen Anfänge, sondern an denjenigen geschichtlichen Augenblick, in dem das Phänomen voll in Erscheinung tritt und seine mehr oder minder endgültige Gestalt annimmt. [...] Diese Gestalt hat sie zweifellos [...] in den großen Revolutionen des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts angenommen." (ÜR: 53)

In Arendts Verständnis sind die Amerikanische und Französische Revolution nicht nur die ersten Revolutionen in der Geschichte, sie sagen auch etwas darüber aus, was Revolutionen überhaupt auszeichnet. Neben der Verallgemeinerung dieser besonderen politischen Erfahrungen als exemplarische Phänomene, wird in dem Vergleich beider Revolutionen zudem offenbar, wie Arendt die Idee der exemplarischen Gültigkeit anwendet. Gegen alle dominanten Meta-Erzählungen wird nicht die Französische, sondern die Amerikanische Revolution zum exemplarischen Beispiel einer erfolgreichen Revolution: daß nämlich die Befreiung von Fremdherrschaft innerhalb eines wesentlich gewaltfreien Prozesses der Verfassungsdebatte in die Gründung einer neuen politischen Ordnung mündete. Und wenngleich sie über ihr historisches Urteil sagt, sie habe etwas Ähnliches gemacht habe wie Montesquieu mit der englischen Verfassung, nämlich aus der amerikanischen Verfassung eine Art Idealtyp herauszukristallisiert, handelt es sich hier gerade nicht um eine Variation Weberscher „Idealtypen", sondern um einen „exemplarischen Realtyp". Die Beschreibung der amerikanischen Verfassungsgebung gibt ein Beispiel für eine erfolgreiche Revolution. Dennoch bleiben es besondere Erfahrungen, die nicht einfach auf andere Handlungskontexte übertragen werden können. Als in einem wertenden Sinne besondere Erfahrungen enthalten sie allerdings einen Maßstab, an dem sich eine kritische Reflexion gegenwärtiger Probleme zu orientieren vermag. Während Arendt aus einer Reinterpretation Homers mit Kants Kategorien ein methodisches Konzept entwickelt und darüber nicht nur ihren normativen Maßstab genuin politischen Handelns begründet, sondern in der Erzählung der Amerikanischen Revolution die Idee einer exemplarischen Verallgemeinerung besonderer Erfahrungen vollzieht, rekurriert Walzer methodisch wie inhaltlich auf die jüdische Tradition. Dabei verknüpft er zwei zentrale Motive, die bei Arendt zunächst noch getrennt verhandelt werden: der Rekurs auf eine ausgewählte antike Narration, der er einen exemplarischen Gehalt attestiert, und die Interpretation von Revolutionen als spezifische kommunikati-

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ve Wiederholungen der Idee politischer Freiheit und gerechter Politik. In seiner hermeneutischen Darstellung wird der Exodus zur paradigmatischen Geschichte politischen und gesellschaftlichen Wandels, wobei Walzer das Wort Paradigma im lockeren Sinne verstanden wissen will: „Der Exodus ist keine Revolutionstheorie, und es wäre wenig sinnvoll, aus der biblischen Erzählung eine Theorie abzuleiten. Der Exodus ist eine Geschichte, eine große Geschichte, die sich in das kulturelle Bewußtsein des Westens einfügte, so daß eine Reihe politischer Ereignisse (verschiedene Ereignisse, aber eine ganz bestimmte Reihe) im Rahmen dieser Erzählung angesiedelt und verstanden werden konnte. Diese Geschichte machte es möglich, andere Geschichten zu erzählen." (ER: 17)

Walzer verweist hier auf eine bereits stattgefundene Universalisierung besonderer Erfahrungen, die in der Exodus-Geschichte erzählt werden, und die wegen ihrer exemplarischen Qualität zu verschiedenen Zeiten und an unterschiedlichen Orten aufgegriffen und in einem spezifischen interpretativen Sinne wiederholt wurden. Diese Wiederholungen darzustellen und über die Wiedererzählung zu verstärken, ist der Ansatz von Walzers reiterativem Universalismus.

„Das gelobte Land" Universalistische Großtheorien sind nicht das Parkett, auf dem Walzer sich vornehmlich bewegt. Er versteht Theorie als Gesellschaftskritik, die sich durch eine vordergründig immanente Perspektive auszeichnet: „Gesellschaftskritiker arbeiten meistens in einem Büro für Innere Angelegenheiten." (DDS: 71) Doch so wenig man daraus den Schluß ziehen sollte, daß der moralische Maximalismus überhaupt nicht theoretisch gefaßt werden könne, so wenig sollte man auf einer prinzipiellen Unvermittelbarkeit von Partikularismus und Universalismus bestehen. Systematischer als Arendt und Nussbaum hat sich Walzer in verschiedenen Aufsätzen zu den methodischen Aspekten seiner politischen Theorie geäußert. Zum größten Teil handelt es sich hierbei um Reaktionen auf Kritiken, die insbesondere gegen die methodische Begründung seiner Gerechtigkeitstheorie erhoben wurden. Radikale Gesellschaftskritik aus einer immanenten Perspektive sei unmöglich, so lautete der allgemeine Vorwurf. Vor allem in Kritik und Gemeinsinn hat Walzer sein Konzept der „interpretativen Moralphilosophie" gegenüber metaphysischen und konstruktivistischen Spielarten universalistischer Gesellschaftskritik offensiv verteidigt. Die Betonung liegt hier gleichwohl auf der methodischen wie demokratietheoretischen Begründung seiner partikularistischen und mithin maximalistischen Theorie von Verteilungsgerechtigkeit. Der Modus der Interpretation wurde von Walzer als der demokratischste und darüber hinaus als der einzig mögliche Weg beschrieben, wie aus einer gegebenen dichten Moral eine Theorie zu konstruieren sei, die mit einer praktisch verwertbaren moralischen Maxime schließt. Wenn eine Theorie kritischen Zwek-

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ken dienen soll, bedarf es einer „pointierten Interpretation", einer auf örtliche Verhältnisse zugeschnittenen Theorie - und es bedarf der Fähigkeit, eine Geschichte zu erzählen, in der die Suche nach angemessenen theoretischen Begriffen mit der Anerkennung historischer Ereignisse und Eigennamen einher geht (DDS: 71f.). Die Rahmenerzählung, die Walzer für seine narrative Vermittlung von moralischem Partikularismus und Universalismus wählt, ist die Exodus-Geschichte. Über sein Anliegen schreibt er: „Ich möchte die Geschichte nacherzählen, wie sie sich in der politischen Historie abzeichnet, ich möchte den Text im Lichte seiner Interpretationen lesen und seinen Sinn in dem, was er bisher bedeutet hat, entdecken. Ich will deutlich machen, daß es sich beim politischen Gebrauch dieses Textes nicht um Entweihungen, nicht um Erfindungen handelt, jedenfalls nicht um bloße Erfindungen: Der Exodus, wie wir ihn aus dem Text kennen, ist auch im politischen Sinne plausiblerweise als Befreiung und Revolution verstanden worden - obwohl er, im selben Text, auch als ein Akt GOTTES erscheint." (ER: 16)

Damit hat Walzer drei Prämissen benannt: Erstens interessiert ihn nicht der historische Wahrheitsgehalt der Exodus-Geschichte, sondern seine ideell-konstitutive Bedeutung für politische Geschichte. Zweitens liest er den Exodus politisch, nämlich als eine Geschichte revolutionären Handelns. Drittens handelt es sich um eine Reinterpretation bestimmter politischer Ereignisse als je verschiedene Wiederholungen der ExodusGeschichte, die darüber erst zur exemplarischen Erfahrung wird. Der „Exodus" als politische Narration „Wo immer Menschen die Bibel kennen und Unterdrückung erleben, hat der Exodus ihre geistige Kraft gestärkt und (zuweilen) ihren Widerstand inspiriert." (ER: 14) Und dies war und ist Walzer zufolge noch immer möglich, weil der Exodus eine Geschichte erzählt von Unterdrückung, Befreiung von Unterdrückung und von einem gelobten Land, in dem Freiheit herrscht. Unabhängig davon, ob die Geschichte sich so zugetragen hat, machte sie es möglich, andere Geschichten zu erzählen, in denen sich die im Exodus illustrierten grundlegenden Erfahrungen wiederholen: die Erfahrung dessen, was es bedeutet, nicht frei zu sein, unterdrückt zu werden und ein entwürdigtes Leben führen zu müssen; die Hoffnung zu hegen, es gäbe ein besseres Leben in einem anderen, einem freien Land; von dieser Hoffnung inspiriert die Befreiung von Fremdherrschaft zu wagen; zu erkennen, daß die Befreiung noch nicht Freiheit bedeutet, sondern ein langer Weg „durch die Wüste" zurückgelegt werden muß, dessen Entbehrungen und Hindemisse die Menschen oft genug wünschen lassen, daß sie nie losgegangen wären; und schließlich die Ankunft im gelobten Land und die bittere Erkenntnis, daß hier weder Milch noch Honig fließen. Nun ist der Exodus ein Bericht von Rettung oder Befreiung, der durch religiöse Begriffe ausgedrückt ist und der als Wille Gottes interpretiert werden kann und worden ist. Danach haben die Israeliten sich nicht selbst befreit, sondern Gott hat dies getan, und hat auch für die vielen Wunder gesorgt: Er hat die ägyptischen Verfolger im Roten

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Meer ertrinken lassen, den hungrigen und durstigen Israeliten in der Wüste zu essen und zu trinken gegeben, vor allem aber hat er ihnen die Gesetze geschickt, nach denen sie fortan leben sollten. In dieser Lesart ist der Exodus die Geschichte eines passiven Befreiungsprozesses und nicht das Paradigma revolutionären politischen Handelns, das Walzer in ihm sieht. Der Exodus hat in der religiösen wie politischen Rezeption divergierende Auslegungen erfahren, die sich im Prinzip danach unterscheiden, ob diese Geschichte als eine aktive Befreiung des Volkes durch das Volk oder als passive Befreiung des Volkes durch Gott oder seine weltlichen Vermittler gelesen wurde. Für letztere Lesart ist die Geschichte über das „Goldene Kalb" zentral.61 Sie wird zur Metapher: zum einen für den Materialismus des Volkes gegenüber dem Idealismus revolutionärer Führer und zum anderen für die beschränkte Vorstellungskraft des Volkes, das ein gegenständliches und verständliches Bild von Gott oder der Freiheit braucht, weil es zu einem selbstbestimmten und verantwortlichen Leben und zu einer kreativen Vision nicht imstande ist. Beide Deutungen, so Walzer, stärken die Position von Moses und den Leviten. Als geschulte Avantgarde unterrichten sie das Volk und richten auch über seine Fehler. Die politische Konsequenz dieser Perspektive ist, daß Politik als Herrschaft begriffen wird, als eine Form der Herrschaft der wenigen Geschulten über die Masse der Unwissenden. In der politischen Geschichte und Ideengeschichte, wie in der religiösen Narration selbst, ist dieses Verständnis revolutionärer Herrschaft mit dem Einsatz von Gewalt als legitimes Mittel der Revolution gegen ihre Feinde wie mit der Legitimation von Gewalt als probates Mittel der Herrschaftsausübung überhaupt verbunden.62 Das gelobte Land war nur zu erreichen, wenn man die Gegner des Marsches überwand. Diese Deutungen haben Walzer zufolge die Römer in ihrer Verfolgung ketzerischer Christen und die 61

Moses, der Anführer der Israeliten oder der Vermittler zwischen Gott und dem auserwählten Volk, ist seit vierzig Tagen auf dem Berg Sinai. Einige der wartenden Menschen unten am Berg sind verängstigt und besorgt über seine Abwesenheit und es bricht ein Streit zwischen ihnen aus, in Folge dessen sie sich in Parteien und Fraktionen teilen. Eine dieser Parteien bittet Moses Bruder Aron, ihnen ein Götzenbild, einen sichtbaren Gott zu machen. Aron kommt diesem Verlangen nach, sammelt das „Wertvollste", den golden Schmuck des Volkes, und formt aus dem geschmolzenen Metall ein Kalb. Endlich des angeblichen Gottes ansichtig, versammelt sich das Volk um das Kalb und betet es orgiastisch an. Gott ist erzürnt und will das Volk vernichten, was er gerade befreit hat und Moses' Geschlecht selbst „zum großen Volk" machen. Moses aber bittet Gott um Vergebung für das verwirrte Volk, die dieser auch gewährt. Als aber Moses mit den von Gott empfangenen Gesetzestafeln den Berg hinunter kommt und das Ausmaß der Götzenverehrung erkennt, ist er so erzürnt, daß er die Tafeln zerschmettert und seine Anhänger mobilisiert, um die Götzenanbeter zu bestrafen, und das heißt in diesem Fall, zu vernichten. Die Großmut Gottes konnte sein weltlicher Vertreter nicht aufbringen: „Die Kinder Levi taten, wie ihnen Mose gesagt hatte; und es fielen des Tages vom Volke dreitausend Mann." (Exodus 32, 26-28) Vgl. ER: 64ff.

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So schreibt Max Weber in Politik als Beruf. „Der Staat ist, ebenso wie die ihm geschichtlich vorausgehenden politischen Verbände, ein auf das Mittel der legitimen (das heißt: als legitim angesehenen) Gewaltsamkeit gestütztes Herrschaftsveihütms von Menschen über Menschen". (Weber 1988b: 507)

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calvinistischen Revolutionäre mit Machiavelli gemein, der in seinen Discorsi Moses als einem harten Errichter des Staates beschreibt: „Wer die Bibel mit Scharfblick liest, wird sehen, daß Moses, um Gesetze und Einrichtungen herstellen zu können, eine sehr große Zahl von Menschen töten muß." (ER: 69)63 Die Verbindung von Revolution mit Gewalt und der Führung des Volkes durch eine politische Avantgarde sieht Walzer auch in der leninistischen Variante der Exodus-Politik: „Wahrhaftig, der Leninismus ist anscheinend eine alte Geschichte: das sklavische Volk, unfähig, sich selbst zu befreien, unfähig, sich selbst vorzustellen, wie die Befreiung aussehen könnte; der revolutionäre Führer, der von außen kommt, dessen Lebenserfahrung eine ganz andere ist als jene der unterdrückten Männer und Frauen, die er fuhrt; die Gruppe von Kämpfern, aus dem Volk rekrutiert, doch auch von ihnen getrennt, um einen organisierten und disziplinierten Kader zu bilden; und schließlich die ständigen .Säuberungen' des Volkes durch die Kämpfer." (ER: 75)

Die leninistische Rezeption der Exodus-Geschichte weist für Walzer erstaunliche Parallelen mit den rabbinischen Auslegungen des Textes auf: „Martin Buber bleibt dreitausend Jahren jüdischer Textauslegung treu, wenn er in seinem Moses schreibt, daß der Exodus ,die Art von Befreiung (ist), die keiner ausführt, der als Sklave aufwuchs' [...]" (ER: 75). Der Lesart der Exodus-Geschichte als einer Befreiung des Volkes durch einen Führer oder durch eine geschulte revolutionäre Avantgarde stellt Walzer nun eine andere, eine aus seiner Sicht wahrhaft politische Interpretation gegenüber, die er als „sozialdemokratische Auslegung" der Geschichte bezeichnet. In dieser Deutung wird der Bundesschluß am Berg Sinai zur entscheidenden Stelle. Der Bund, den Walzer im Blick hat, ist allerdings nicht der, den das ausgewählte Volk mit Gott oder mit einem Stellvertreter Gottes schließt, sondern der Bund, den die unten am Berg Sinai versammelten Menschen miteinander schließen, um gemeinsam den Weg durch die Wüste ins Gelobte Land zu gehen. Die Prinzipien des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die dieser Bund regelt, sind freigewählte Prinzipien. Gottes Versprechen, so interpretiert Walzer, werden sich nicht erfüllen, wenn die Menschen selbst die Bedingungen nicht erfüllen. Sie allein entscheiden, ob sie nach dem moralischen Gesetz leben wollen oder nicht. „Die Menschen, die den Bund schließen, sind - um einen Begriff der heutigen philosophischen 63

Für Machiavelli ist Gewalt das Mittel, die politschen „Neider" oder Gegner zu überwinden. Er schreibt: „Wer die Bibel mit Verstand liest, sieht daß Moses, um seinen Gesetzen und Einrichtungen Geltung zu verschaffen, gezwungen war, zahllose Männer zu töten, die sich allein aus Neid seinen Plänen widersetzten. Diese Notwendigkeit erkannten auch Fra Girolamo Savonarola und Piero Soderini, der Gonfaloniere von Florenz, sehr wohl. Der erstere konnte damit nicht fertig werden, weil er keine Gewalt zur Ausführung hatte (er war ja ein Mönch) und von seinen Anhängern, die Macht hatten, nicht richtig verstanden wurde. [...] Soderini glaubte, mit Güte, mit seinem Glück und mit Wohltaten dem Neid allmählich beikommen zu können. [...] Er wußte nicht, [...] daß die Güte nicht ausreicht, daß das Glück wechselt und daß Bosheit durch keine Wohltat besänftigt wird. So gingen beide unter. Ihr Sturz hatte darin seine Ursache, daß sie es nicht verstanden oder nicht die Macht hatten, den Neid zu besiegen." (Machiavelli 1977: 367)

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Sprache zu verwenden - moral agents: zu moralischem Handeln fähige, verantwortliche Akteure." (ER: 92) Walzer schließt mit seiner Lesart an zwei sich scheinbar ausschließende jüdische Interpretationen an: Die erste zählt 603 550 Bünde, insofern jeder Mann einen persönlichen Vertrag mit Gott geschlossen hätte. Die zweite behauptet, jeder einzelne dieser 603 550 Bünde sei 603 550 mal beschlossen worden, denn die Männer hätten sich nicht nur gegenüber Gott, sondern auch einander verpflichtet. Die zweite Ansicht ist radikaler, weil sie darauf insistiert, daß jeder nicht nur selbst die Gesetze befolgen muß, sondern dafür sorgen muß, daß sie kollektiv befolgt werden. Walzer hebt auf eine dritte Variante ab: „Die siegreiche Formulierung verbindet die beiden rabbinischen Aussagen miteinander und ersetzt Gott durch das Volk als Ganzes. So heißt es in der Präambel zur MassachusettsVerfassung von 1780: ,Das politische Gemeinwesen (body politic) setzt sich aus einer freiwilligen Vereinigung von Individuen zusammen; es ist ein Gesellschaftsvertrag, durch den das ganze Volk mit jedem Bürger einen Bund schließt und jeder Bürger mit dem ganzem Volk Jeder Bürger hat also ein Recht und vielleicht eine Pflicht, sich für das zu interessieren, was ,das ganze Volk' tut." (ER: 93)

In Walzers säkularer und partizipatorischer Interpretation des Bundesschlusses am Berg Sinai wird Verantwortung zum zentralen Motiv politischen Handelns. Aus dem gegenseitigen und gleichberechtigten Versprechen erwächst die Verantwortung, das durch den Bund gestiftete Gemeinwesen zu erhalten und die Werte und Überzeugungen, auf denen es gründet, über aktive Teilhabe praktisch zu bestätigen bzw. zu erneuern. Gegenüber republikanischen Varianten der Vertragstheorie, die politische Partizipation als Pflicht ausbuchstabieren, sich für das Gemeinwohl zu engagieren, betont Walzer die Freiheit verantwortlichen Handelns. In dieser Lesart kann nicht ausgeschlossen werden, daß der Bund zerfällt, weil sich die Vertragsschließenden selbst oder ihre Nachfolger der Verantwortung, an einer gerechten gesellschaftlichen Ordnung teilzuhaben, nicht zu stellen bereit sind. Die Freiheit jener Bünde, die Walzer als demokratische Interpretationen der Exodus-Geschichte reinterpretiert - der Mayflower-Vertrag von 1620, der Schottische Nationale Bund, der Volksvertrag der puritanischen Armee und schließlich die amerikanischen Verfassungen der 1780er Jahre - eröffnet einen Handlungsraum für kreative und verantwortliche Politik, das Ergreifen dieser Möglichkeit liegt jedoch in der freien Entscheidung eines jeden Bürgers. Die Rückkehr nach Ägypten ist mithin, um in Walzers Metaphorik zu bleiben, eine permanente Möglichkeit demokratischer Politik, weil sie gleiche Verantwortung und Gleichheit in der Verantwortung möglich macht und zugleich aber auch die Distanzierung von Politik eine persönliche Option bleibt.

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Politische Implikationen: Die Erneuerung des Bundes Mit dem besonderen Verweis auf die Bünde, die der Gründung der Vereinigten Staaten vorausgingen, wie auf die amerikanische Verfassung selbst verfolgt Walzer eine unmittelbar politische Intention. Die Auseinandersetzung mit dem gerade für die Vereinigten Staaten so maßgeblichen Motiv des Bundes zielt auf ein zeitgenössisches Publikum. Wie Skadi Krause und Karsten Malowitz herausstellen, fällt die Publikation von Exodus und Revolution in die Zeit der Präsidentschaft des Republikaners Ronald Reagan, in der sich die Kluft zwischen den ärmeren und den reicheren Bevölkerungsschichten Amerikas in kaum geahnten Ausmaß vergrößerte. „Für Walzer ist das Amerika Reagans weniger denn je Kanaan, das Land, in dem Milch und Honig fließen, statt dessen sieht er ein Land der Aggression, der Ungerechtigkeit und der Unterdrückung. Er erzählt die Geschichte des Exodus als eine Integrationsgeschichte, von der sich all diejenigen angesprochen fühlen können und sollen, die bereit sind, sich für eine freiere und gerechtere amerikanische Gesellschaft auf den Weg zu machen - und jene, die sich schon einmal für eine solche Geschichte auf den Weg gemacht haben, denen aber aufgrund der wiederholten Enttäuschungen der Glaube an das Gelobte Land verlorengegangen ist." (Krause/Malowitz 1998: lOOf.) Zwanzig Jahre zuvor ist Arendts Buch Über die Revolution erschienen und wie Walzer hatte sie eine Laudatio auf die amerikanische Gründungsgeschichte gehalten. Vielen, vor allem links-intellektuellen Lesern, war dies suspekt. Bernhard Crick von der Universität London, der Arendt für „den originellsten Kopf im modernen politischen Denken" hielt, schreibt Elisabeth Young-Bruehl in ihrer Biographie, „gab nicht nur zu, daß er über Arendts Bewunderung der Gründerväter verblüfft war, sondern bot auch eine Erklärung an: Jeder Deutschamerikaner tut es irgendwann einmal aus Dankbarkeit'" (Young-Bruehl 1991: 550). Wie Young-Bruehl pointiert, war Über die Revolution gewiß auch eine Geste der Dankbarkeit, im Grunde aber war ihr heroisches Porträt der Gründerväter eine politische Fabel. Die Frage, die Arendt ihrem zeitgenössischen Publikum stellte, lautete: Was ist geblieben von der großen Revolution, von „öffentlichem Glück" und „öffentlicher Freiheit", von dem „öffentlichen Geist", der die Revolutionäre inspiriert hatte? Ihr wenig emphatisches Urteil war: „Davon ist kaum mehr übrig geblieben als ein waches Bewußtsein für die Sicherung der Grundrechte, die Sorge um das private Wohlergehen der größten Zahl, das Wissen um die ungeheure Macht der öffentlichen Meinung in einer egalitären, demokratischen Gesellschaft und die Fähigkeit, sich, wenn es sein muß, unbekümmert gegen die eigene Regierung zu stellen, pressure groups zu bilden und im äußersten Falle den Gehorsam zu verweigern. Das ist gewiß erheblich mehr als nichts, aber es bedeutet doch eine traurige Verkümmerung und Deformation dessen, was es hier einmal wirklich gab. Und diese Verwandlung entspricht genau den Folgen des Eindringens des Gesellschaft in den öffentlichen Bereich: Es ist, als hätte man politische Prinzipien in gesellschaftliche »Werte« transformiert." (ÜR: 284 f )

Wiewohl Walzer Arendts handlungstheoretische Differenzierung zwischen dem politischen und dem gesellschaftlichen Raum nicht teilt, eint die Autoren die zeitdiagnosti-

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sehe Einschätzung einer individualistisch verkürzten Auffassung von öffentlichem Glück und politischer Verantwortung. Die Reduzierung von Freiheit auf Sicherheit und Wohlstand und die Delegation von Verantwortung auf politische Eliten bergen die Gefahr, daß das Gemeinwesen von innen erodiert und die Tugenden, aus denen es entstand, und die Ziele, um deretwegen es gegründet wurde, verlorengehen. In ihrer Kritik an modernem Individualismus und Subjektivismus eint sie zudem die Auffassung, daß eine entscheidende Leistung von Theorie für Praxis in der Wiedererinnerung an politische Schlüsselerfahrungen hegt, die von Akteuren innerhalb eines gemeinsamen Verstehenshorizontes identifizierbar sind. Die politische Schlüsselerfahrung in der amerikanischen Tradition, an die aus Sicht beider konstruktiv angeschlossen werden kann, ist die Verfassungsgebung. Die Verfassung bzw. der amerikanische Bundesschluss werden dabei selbst als interpretativer Rekurs auf narrativierte Erfahrungen gedeutet. Das außerordentlich große Gewicht historisch überlieferter Gründungslegenden für das geschichtliche Selbstverständnis (nicht nur) der amerikanischen Revolutionäre ist bekannt. Arendt und Walzer gehen in ihren Deutungen jedoch weit darüber hinaus. So wird für Arendt Vergils Erzählung über die Auferstehung Trojas auf italienischem Boden gleich in zweifacher Weise zum Anknüpfungspunkt für die amerikanischen Verfassungsgeber: Zum einen bietet die Gründungslegende der römischen Republik - aus Arendts Sicht im Gegensatz zur Exodus-Geschichte - das Vorbild für einen diesseitigen Neuanfang, wobei Rom bei Vergil in historischer Kontinuität nicht als absoluter Ursprung, sondern als wiedergeborenes Troja erscheint. Indem die Amerikaner Vergils magnus ordo saeclorum in novus ordo saeclorum verwandelten, war entschieden, so Arendt, daß die abendländische Tradition für sie nicht mehr verbindlich war, nicht mehr sein konnte. Der Faden, welcher die Geschichte des Abendlandes an die Gründung der ewigen Stadt und diese wiederum an die prähistorische Geschichte Griechenlands und Trojas band, war gerissen und konnte nicht mehr neu geknüpft werden.„Denn die Amerikanische Revolution begründete ja nicht nur ein neues politisches Gemeinwesen, mit ihr hebt auch erst die Geschichte des Volkes an." (ÜR: 273) Die dem Gründungsakt zugesprochene Autorität zeigt sich in der „Heiligsprechung der Verfassung", weshalb Arendt den Verfassungsvätern eine religiöse Haltung im römischen Sinne attestiert: religare als das Sich-Zurückbinden an einen Anfang. Damit verbunden ist eine zweite im engeren Sinne institutionelle Rezeption der römischen Gründungslegende: Autorität kommt im politischen Institutionengefüge der Vereinigten Staaten nicht dem Senat zu, wie dies im alten Rom der Fall war, sondern dem Obersten Gerichtshof als Hüter der Verfassung oder, anders gesagt, als jener Institution, die der Autorität des Anfangs gleichermaßen verpflichtet ist, wie sie selbst ihre Autorität aus dem Gründungsdokument bezieht. Damit haben die Amerikaner in ihrem Rückgriff auf das römische Vorbild eine wesentliche Veränderung vorgenommen. Die Autorität des Staates ist in einer konkreten Institution verkörpert, die sich klar von den anderen Staatsgewalten der Legislative und Exekutive abhebt und dadurch gerade keine Macht hat (ÜR: 257).

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Neben der ideell-konstitutiven Bedeutung von narrativierten Erfahrungen für die amerikanische Verfassungsgebung betont Arendt die Rolle praktischer Erfahrungen. Entscheidend für den Erfolg der Revolution waren aus ihrer Sicht die politischen Fähigkeiten der Amerikaner, die sie im Umgang mit kommunaler Selbstverwaltung und intermediären Institutionen ausgebildet hatten, sowie ihr Vertrauen in die Kraft gegenseitiger Versprechen seit dem Mayflower Pakt von 1620.64 Indem Arendt den Akzent auf Erfahrungen legt und deren ideelles wie unmittelbar praktisches Gewicht für den Gang der Revolution herausstellt, werden strukturelle und handlungstheoretische Argumentationen verknüpft. Einschränkend festzuhalten bleibt, daß das innovative Moment der amerikanischen Verfassungsgebung bei Arendt primär als kreative Interpretationsleistung politischer Akteure vorgestellt wird, während die für den Erfolg der Amerikanischen Revolution so wesentlichen strukturellen Rahmenbedingungen nicht detaillierter erörtert werden. Das Verständnis von gesellschaftlicher Praxis als kreative Interpretation von Erfahrungen gehört auch zum Kern von Walzers politischem Denken. Der Auszug Israels aus Ägypten wird von ihm nicht als entscheidendes Geschehen einer Universalgeschichte interpretiert, sondern als „exemplarisches, entscheidendes Ereignis einer partikularen Geschichte, eine Erfahrung, die von anderen Völkern auf je eigene Weise wiederholt wird - ja wiederholt werden muß, soll diese Erfahrung jemals die eigene sein" (NW: 144f.). Die Amerikaner haben diese Erfahrung mehrfach wiederholt: vom Mayflower Pakt angefangen über die Unabhängigkeitserklärung bis zur Verfassung der Vereinigten Staaten. In diesem Prozeß der „prozeduralen Wiederholung", wie Walzer betont, ist das im Exodus aufgehobene Muster sozialen und politischen Wandels universalisiert worden. Reiterativer Universalismus und interpretative Verstärkung Die jüdische Tradition ist für Walzer dadurch gekennzeichnet, daß sie, wie Bluhm schreibt, „für menschliche Gesellschaften Erzählungen enthält, die als Deutungsmuster nicht nur immer wieder aufgegriffen wurden, sondern die ob ihres exemplarischen Gehalts durch kommunikative Aneignung und Übersetzung in andere Kontexte universalisiert wurden" (Bluhm 1993: 1054). In Abgrenzung zu einem „covering-law64

Hier schließt Arendt an Tocqueville an, der in Über die Demokratie in Amerika (1987) das Gelingen der Amerikanischen Revolution mit dem Zusammenspiel von strukturellen Rahmenbedingungen, politischen Institutionen und Sitten, Gebräuchen und Gewohnheiten erklärt. Arendt zitiert in diesem Zusammenhang John Adams, der rückblickend bemerkte, daß die Revolution schon vollzogen war, bevor der Unabhängigkeitskrieg begonnen hatte, weil die Bewohner der Kolonien das politische Recht hatten, sich in den town halls zu versammeln und über die öffentlichen Angelegenheiten zu beraten, in diesen Versammlungen wurde die Denkungsart des Volkes ursprünglich geformt (ÜR: 15lf.). Der Machtbegriff, der den politischen Institutionen der Selbstverwaltung zugrunde liegt, geht zurück auf den Mayflower Pakt, der noch auf dem Schiff entworfen und bei der Landung unterzeichnet wurde (ÜR: 216ff.).

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Universalismus", der in seinen religiösen wie säkularisierten Formen eine allen gesellschaftlichen Moralen gemeinsame Tiefenstruktur unterstellt und die Menschheit als Schicksalsgemeinschaft entwirft, spricht Walzer von reiterativem Universalismus (NW: 140). Dieser auf Wiederholung beruhende Universalismus muß aus den biblischen Fragmenten erst wiedergewonnen werden. „Das für uns entscheidende Fragment stammt vom Propheten Amos, der Gott fragen läßt: ,Seid ihr nicht genausoviel wert, wie die Äthiopier, ihr Kinder Israels? [...] Habe ich nicht Israel aus dem Lande Ägypten herausgeführt, doch auch die Philister aus Kaphtor und die Aramäer aus Kir?' Die Fragen legen nahe, daß es nicht nur einen Auszug, eine göttliche Erlösung, einen Zeitpunkt der Befreiung für die ganze Menschheit gibt - so wie es nach der christlichen Lehre ein Erlösungsopfer gibt. Befreiung ist eine besondere, von jedem unterdrückten Volk wiederholte Erfahrung. Gleichzeitig ist sie in jedem Einzelfall eine gute Erfahrung, denn Gott ist der allgemeine Befreier. Jedes Volk erfährt seine eigene Befreiung durch die Hand eines einzelnen, in allen Fällen identischen Gottes, dem vermutliche jegliche Unterdrückung verhaßt ist." (NW: 144)

Walzer nennt diesen Gott den schöpferischen Gott des „wiederholenden Universalismus", dessen Kreativität darin besteht, jedes Volk an seinem eigenen Maßstab zu messen und nicht denselben Maßstab auf alle verschiedenen Völker anzuwenden. Gott geht kontextualistisch vor, so Walzers eigenwillige Deutung: Anstelle vieler Völker und eines Berges sehen wir einen Gott und viele Segnungen. Und da die Segnungen verschieden sind, vereinigen sich die Geschichten der Völker nicht zu einer einzigen Geschichte (ZAU: 145). Walzer hält die Pluralität von Völkern durchaus vereinbar mit der jüdisch-christlichen Vorstellung des einen, allmächtigen Gottes. Wenn man davon ausgeht, so seine Interpretation, daß Gott die Menschen nach seinem Ebenbild geformt hat, ist es beinahe selbstverständlich, daß er sie als schöpferische Männer und Frauen geschaffen hat, die viele verschiedene Dinge auf verschiedene Weisen tun. Die schöpferische Kraft der Menschen, ihr kreatives Potential, ist „die (schwach) widergespiegelte, verteilte und partikularisierte Allmacht Gottes. Dies ist zugegebenermaßen keine übliche Version der Schöpfungsgeschichte, aber eine mögliche Variante, die die Lehre des wiederholenden Universalismus unterstützt." (ZAU: 150) Der reiterative Universalismus ist empirischer Art. Verwandte Standards werden nur aus der Erfahrung gelernt.65 Umfassend daran sind der gegenseitige Respekt vor der Besonderheit der anderen und die unterschiedlichen Versionen der in der Wiederholung erfahrenen Gemeinsamkeiten. Insofern die historischen Begegnungen mit anderen neben minimalen Überschneidungen aber gerade die Unterschiede offenbaren, kann der Respekt vor der Besonderheit jeder Erfahrung Indifferenz befördern. Exodus und Revolution läßt sich demgegenüber als Integrationsgeschichte verstehen. Indem Walzer unterschiedliche Erfahrungen von Unterdrückung und Befreiung im Kontext der ExodusGeschichte wiedererzählt, wird das Gemeinsame in den verschiedenen Erfahrungen betont und zu zwei moralischen Minimalstandards geführt: Unterdrückung und Knecht65 Zu Walzers „empirischer" Universalismus vgl. Haus (2003: 91).

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schaft sind moralisch zu verurteilen, und es ist legitim, sich dagegen politisch zu Wehr zu setzen. Wenn die Erfahrung von Unterdrückung universal, die Geschichte der Befreiung aber von jedem Volk selbst zu erzählen ist, dann folgt der reiterative Universalismus in der Praxis dem Prinzip der Nicht-Einmischung. Das positive Fundament ist eine Haltung der Toleranz und der gegenseitigen Achtung, aber die moralisch schwierig zu ertragende Schlußfolgerung ist, daß das Recht auf politische Selbstbestimmung ein Wert ist, „den ich, sofern ich ihn überhaupt verteidige, auch dann verteidigen muß, wenn ich glaube, daß häufig verabscheuungswürdige oder ungerechte Entscheidungen getroffen werden" (NW: 151). Moralvorstellungen sind, so lassen sich Walzers Überlegungen zusammenfassen, „dicht", gesellschaftlich konstruiert und daher immer partikularistisch. Sie haben keinen gemeinsamen Anfang und vermutlich auch kein gemeinsames Ende. Der gesellschaftliche Maximalismus geht dem universalen Minimalismus voraus, der letztlich die Schnittstelle markiert, an dem sich die vielen verschiedenen, kulturell spezifisch vermittelten Auffassungen von Moral überschneiden. Diese Schnittstellen oder kulturellen Überschneidungen lassen sich Walzer zufolge nicht im voraus bestimmen, sondern nur nachträglich aus ähnlichen oder gar gemeinsamen Erfahrungen heraus rekonstruieren und interpretativ verstärken. Je häufiger diese Schnittstellen anzutreffen sind, desto stärker lassen sich die Gemeinsamkeiten betonen und desto verbindlichen werden die daraus möglichen Verallgemeinerungen. Praktisch verwertbare Maßstäbe für eine Politik distributiver Gerechtigkeit lassen sich daraus nicht formulieren - diese Aufgabe obliegt bei Walzer einzig partikularistischer Gesellschaftskritik.66 Menschliche

Gleichheit

und politische

Pluralität

Gewöhnlich, so Walzer, versuchen Philosophen das Adjektiv menschlich über das Substantiv Gesellschaft zu stellen. Praktisch laufen diese Bemühungen auf eine enorm hohe Uniformität hinaus, wogegen sich Menschen aller bisherigen Erfahrung nach zur Wehr setzen würden (DDS: 22). Während Walzer das Verhältnis umdreht und die partikulare gesellschaftliche Norm vor das universal Menschliche stellt, beginnt die Philosophin Nussbaum ihre Überlegungen mit dem „Menschlichen": „Was sind die charakteristischen Tätigkeiten des Menschen? Was tut der Mensch als solcher und nicht als Mitglied einer bestimmten Gruppe oder einer bestimmten lokalen Gemein-

66 Im internationalen Kontext beschäftigt sich Walzer dezidiert „nur" mit Fragen politischer Ethik und deren Kern ist eine „Politik der Differenz": die gegenseitige Anerkennung von Menschen als kreative und selbstbestimmte Moralbilder. Darin impliziert ist allerdings ein moralischer Mindeststandard, dessen Verletzung nicht allein Kritik fordert, sondern Intervention: wenn die „Unmoral", jemand anderen die „Rechte der Wiederholung", also die Grundlagen moralischer Handlungsfähigkeit, abzusprechen, eine bewußt gewalttätige wird und das Leben und die Freiheit der Menschen in einem elementaren Sinne bedroht. Was dies genau meint und welche Fälle dazugehören, läßt Walzer indes offen.

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schaft? [...] Welche Formen des menschlichen Tuns und Seins konstituieren die menschliche Lebensform und heben sie von anderen tatsächlichen oder vorstellbaren Lebensformen wie denen von Tieren und Pflanzen einerseits und von den unsterblichen Göttern der Mythen und Legenden andererseits ab?" (GGL: 187)

Diese offen universalistische und „essentialistische" Konzeption konzentriert sich auf die Gemeinsamkeiten hinsichtlich jener Fähigkeiten und Tätigkeiten, die wichtiger und zentraler für das menschliche Leben sind als andere. Sie attackiert damit „DifferenzDenker", also all jene, die nicht von der Gleichheit, sondern von den Unterschieden ausgehen, und deren Suche nach Normen von lokalen Überzeugungen und in bezug auf lokale Kontexte geleitet ist (GGL: 178 f.).67 Die Vermittlung von universellen und partikularen Orientierungen wird bei Walzer und Nussbaum auf inverse Weise angegangen. Ersterer wählt partikulare Narrationen sowie die dabei relevanten Erfahrungen und verfolgt im Konzept des reiterativen Universalismus ihre Verallgemeinerung. Nussbaum setzt bei der „natürlichen Gleichheit" an und benennt universelle Fähigkeiten und Erfahrungen, für deren Ausbildung und Förderung jede Nation Sorge zu tragen hat.68 So grundsätzlich Walzer und Nussbaum sich bereits in ihrem Ansatz unterscheiden - hier der Differenz-Denker, der anthropologische Letztbegründungen radikal ablehnt, dort die Moralphilosophin, die auf einem anthropologischen Fundament eine elementare Gleichheit der Menschen begründet - , so unterschiedlich sind auch ihre politischen Intentionen. Während Walzer auf dem Partikularismus von Gerechtigkeitsvorstellungen besteht, eine kontextualistische Theorie distributiver Gerechtigkeit fordert und im internationalen Kontext letztlich eine Politik der Differenz favorisiert, ist für Nussbaum ein ethischer Universalismus nicht nur möglich, sondern geradezu notwendig, wenn man sich für eine internationale Politik der Verteilungsgerechtigkeit engagieren will. Das von Walzer so großzügig gehandhabte Recht auf nationale Selbstbestimmung ist für die Moralphilosophin ethisch und politisch unhaltbar. Zu den interessanten Gemeinsamkeiten von Walzer und Nussbaum gehört das methodische Verfahren, über das eine partielle (Walzer) oder eine generelle (Nussbaum) Universalisierung besonderer Erfahrungen begründet wird. Walzer gelangt von kulturel67 Nussbaum argumentiert hier zwar im Kontext des feministischen Diskurses über Gleichheit und Differenz zwischen Frauen und Männern einerseits und zwischen Frauen andererseits, für ihren ethischen Universalismus aber sind diese Überlegungen über den konkreten Argumentationskontext hinaus zentral und werden daher von mir in einem weiteren Sinne rekonstruiert. 68 Die ursprünglich bescheideneren Ansprüche der Fähigkeitenliste, die sie zusammen mit Amartya Sen für die UNO-Entwicklungspolitik erarbeitet hatte, bekommen, wie Nussbaum in ihrem Berliner Vortrag ausführt, einen stärker imperativen Charakter: „Anfänglich wurde die Liste als Vergleichsmaßstab benutzt, um Lebensqualität zwischen Nationen und innerhalb von nationalen Regionen und Gruppen zu messen. In der letzten Zeit habe ich argumentiert, daß sie uns eine gute Grundlage verschafft, um die fundamentalen konstitutionellen Berechtigungen vorzustellen, die jede Nation bis zu einer bestimmten Schwelle für jeden Menschen schützen sollte." (Nussbaum 2002a: 24f.)

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, D A S GELOBTE L A N D "

1er Differenz zu einer universalistischen Minimalmoral, indem er diese als die Summe dessen definiert, was wir wiedererkennen. Wir könnten, schreibt er, die große Vielfalt historischer Prozesse anerkennen und nach ähnlichen oder sich überschneidenden Ergebnissen Ausschau halten, denn „obgleich unsere jeweilige Geschichte anders aussieht, haben wir gemeinsame Erfahrungen und manchmal gemeinsame Reaktionen; und aus diesen Überschneidungen bilden wir das moralische Minimum, wenn wir seiner bedürfen" (DDS: 34). Zwar hält Walzer das moralische Minimum, er spricht auch von „dünner Moral", für „eine zusammengeflickte und wacklige Sache", die nur in Krisenzeiten wirklich handlungsanleitend zu sein vermag und auch dann nur zu einer begrenzten Solidarität führt. Aber diese Universalisierung ist möglich und wird von narrativistischer Theorie durchaus forciert. Nussbaum will ihren ethischen Universalismus nicht als „wacklig" verstanden wissen, spricht aber auch von einer „vagen" Konzeption, die nur einen allgemeinen Umriß derjenigen Fähigkeiten aufzeigt, in denen sich Menschen über kulturelle und sonstige Differenzen hinweg einig sind (GGL: 188).69 Die große Differenz zu Walzer, die anthropologische Fundierung der vagen Konzeption des Guten, wird darüber verringert, daß Nussbaum in Abgrenzung zu metaphysischen Konstruktionen auf dem empirischen Charakter ihrer essentialistischen Konzeption besteht. Explizit verwahrt sie sich dagegen, daß eine universalistische und ethische Konzeption den universalen Menschenbegriff als Teil einer unabhängigen Struktur der Welt betrachten müsse, die nicht durch die Selbstinterpretation und Geschichte der Menschen vermittelt sein könne. „Denn universale Menschenbegriffe ergeben sich aus der menschlichen Geschichte und Erfahrung und lassen sich durch die Erfahrung begründen." (GGL: 184) Dabei sind es Erfahrungen von „Verwandtschaft", die den Schluß zulassen, daß es grundlegende, interkulturelle Gemeinsamkeiten oder Überschneidungen gibt. Diese Überschneidungen zu verstärken, ist die Absicht, die Nussbaum mit ihrem Programm einer internen Rekonstruktion des Wissens um uns selbst verfolgt. Die Besonderheit des „empirischen Essentialismus" oder „internen Realismus" besteht darin, daß Nussbaum sich nicht auf unmittelbare, empirische Erfahrungen bezieht und diese dann objektivistisch umdeutet. Ausgangspunkt sind vielmehr in Mythen und Geschichten eingeschriebene und normativ bereits reflektierte menschliche Selbstbeschreibungen und Erfahrungen. Die materialen Quellen, aus denen Nussbaum einen verallgemeinerbaren Katalog menschlicher Fähigkeiten und Tugenden zu rekonstruieren beabsichtigt, sind literarische Erfahrungen. Die menschliche Natur ist normative Grundlage für eine universalistische Ethik, aber nur insoweit als sie durch einen narrativ gefilterten Ausleseprozeß gegangen ist. Mythen und Geschichten, „die dem Menschen einen Platz im Universum zwischen den ,Tieren' einerseits und den , Göttern' andererseits zuweisen" (GGL: 188), erscheinen dafür besonders geeignet, weil der Mensch hier 69 Zu Nussbaums Begriff der „starken" und zugleich „vagen" Konzeption vgl. auch GGL: 303, Fußnote 243.

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als ein Wesen vorgestellt wird, das bestimmte Fähigkeiten besitzt, zugleich aber auch durch eine Reihe von Grenzen in seinem Leben und Handeln beeinträchtigt ist. Die Tatsache, daß es zwischen den unterschiedlichen Geschichten große Übereinstimmungen hinsichtlich elementarer menschlicher Grundfähigkeiten gibt, läßt für Nussbaum die Vermutung zu, daß sich Menschen in vielen verschiedenen Gesellschaften über allgemeine Umrisse der Konzeption einig sind. Diese Konvergenz ist dann auch der Ausgangspunkt für ihre Annahme, daß am Ende einer vergleichenden und hermeneutischen Vorgehensweise eine Theorie entwickelt werden kann, die nicht nur lokale Präferenzen widerspiegelt, sondern „im vollen Sinne international ist und eine Grundlage für kulturübergreifende Verständigung darstellt" (GGL: 188). Die Untersuchung eines breiten Spektrums von in Narrationen aufgehobenen menschlichen Selbstinterpretationen, die in vergleichender Perspektive kulturübergreifende Berührungspunkte erkennbar werden lassen, hat Nussbaum material nicht expliziert, was als großes Defizit bezeichnet werden muß. Dafür geht sie umso ausführlicher auf die griechische Tragödiendichtung ein: „Wenn wir die Antigone von Sophokles lesen, kommt uns vieles fremd vor; und wir haben dieses Stück nicht richtig gelesen, wenn wir nicht erkennen, wie weit seine Vorstellungen vom Tod, von der Stellung der Frau usw. von unseren eigenen abweichen. Aber es ist uns immer noch möglich, von dem Drama berührt zu sein, Anteil am Schicksal seiner Protagonisten zu nehmen, ihre Debatten als Reflexionen über die Tugend zu betrachten, die zu unser eigenen Erfahrung sprechen, und ihre Entscheidungen als Entscheidungen in Lebensbereichen zu sehen, in denen auch wir entscheiden müssen." (GGL: 255)

Der griechischen Tragödie wird als normativer ethischer Reflexion ein exemplarischer Status hinsichtlich jener Grunderfahrungen attestiert, die konstitutiv für das Menschsein überhaupt sind. In Fragility of Goodness schreibt sie: „The tragedies characteristically show a struggle between the ambition to transcend the merely human and a recognition of the losses entailed by this ambition." (FG: 8)

„Antigone" oder Die Tragik menschlichen Lebens Leitend für Nussbaums Interesse an der griechischen Tragödie ist deren Einsicht, daß das menschliche Leben von kontingenten äußeren und inneren Umständen abhängig ist, die nie Völlens tranzendiert werden können, es sei denn um den Preis des Menschlichen selbst. Die in der Tragödie reflektierte Gefahr des tragischen Scheiterns ist konstitutiv für Nussbaums Konzeption des guten Lebens, die sie selbst als Aristotelischen Lösungsversuch beschreibt, eine Mitte in dem Spannungsfeld von menschlicher Selbständigkeit und Abhängigkeit zu finden. Die These, daß Aristoteles' Konzeption des guten Lebens eine philosophische Auseinandersetzung mit den Erfahrungen ist, die in der

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.Antigone" oder Die Tragik menschlichen Lebens

griechischen Tragödiendichtung exemplarisch vorliegen, entwickelt sie in ihrer Studie Fragility of Goodness. Für oder wider die Verletzlichkeit des Guten Nussbaum beginnt ihre Untersuchungen der dichterischen und philosophischen Formen ethischer Selbstverständigungen im griechischen Denken mit einem Zitat von Pindar: „But human excellence grows like a vine tree, fed up by the green dew, raised up, among wise men and just, to the liquid sky." (FG: 1) Pindars Beschreibung zielt auf ein Problem, das Nussbaum zufolge als das Herzstück des griechischen Denkens über das gute menschliche Leben bezeichnet werden kann, obgleich oder weil es gleichzeitig zwei scheinbar grundverschiedene Bewertungen enthält. Einerseits lobt Pindar die menschliche Vorzüglichkeit. Ihn und sein Publikum eint die Überzeugung, daß die Qualität einer guten Person etwas ist, was dieser eigen ist und für deren Ausbildung jeder einzelne verantwortlich ist und verantwortlich gemacht werden kann. Andererseits gebraucht er für das gute menschliche Leben das Bild der .jungen Pflanze", die in einer ihr zunächst fremden Welt aufwächst, die zerbrechlich und klein ist und die gedeihlicher äußerer Bedingungen bedarf, um sich entwickeln und bestehen zu können. Wie kann aber, fragt Nussbaum, Pindar ein das menschliche Leben und seine Vorzüglichkeit lobpreisender Poet sein, als der er sich selbst verstand und auch rezipiert wurde, wenn das menschliche Gute als etwas beschrieben wird, daß durch externe Bedingungen konstituiert und gestützt wird. „How can we be givers and receivers of praise, if our worth is just a plant in need of watering?" (FG: 2) In Pindars Poem wie in der Tragödiendichtung überhaupt wird der Mensch als Teil der Natur verstanden, der den Pflanzen vergleichbar äußerer Dinge bedarf. Diese natürliche Abhängigkeit macht das menschliche Leben grundsätzlich verletzlich und stellt das Gute im Menschen ständig auf die Probe. Die Verletzlichkeit wird in der griechischen Dichtung jedoch nicht als ein Makel der Unvollkommenheit beschrieben, die sogenannte Fragilität menschlichen Lebens macht vielmehr dessen seltsame und einzigartige Schönheit aus. Daher wählt Odysseus die sterbliche Liebe einer alternden Frau und nicht die göttliche, unvergängliche Pracht Calypsos'. Gleichwohl bleibt das passive Bild des Weinstocks schwierig, widerspricht es doch, so Nussbaum, unserer Absicht, mehr oder gar anderes zu sein als abhängige Wesen, die auf die Gnade des Glücks oder kontingenter äußerer Bedingungen angewiesen sind. Es widerspricht im Kern der Idee vom Menschen als selbstbestimmt handelnden, vernünftigen Akteur, dessen Rationalität darin besteht, die Kontingenzen des menschlichen Lebens zu bannen und sich eine Welt zu schaffen, die sowohl von ihm beherrschbar ist wie ihn wirkungsvoll schützt vor der „feindlichen" Natur - innerhalb und außerhalb des menschlichen Lebens. Denn was die griechische Tragödiendichtung zum Thema hat, ist ja nicht nur die Abhängigkeit von der Natur und ihren Gewalten. Viel zentraler sind jene Abhängigkeiten, die genuin den Menschen ausmachen und ihn gleichermaßen von

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Tier und Gott unterscheiden: nämlich die Angewiesenheit der Menschen aufeinander und zwar in ihren politischen wie persönlichen Beziehungen. Liebe, Freundschaft und Politik sind die drei großen Bereiche, in denen sich für Nussbaum die besondere Fragilität des menschlichen Lebens ausspricht. Für die Suche nach dem, was das gute Leben ausmacht, ist es folglich notwendig zu klären, in welchem Verhältnis das Ideal der Selbstbestimmtheit oder Rationalität zu jenen Lebensbereichen steht, die nicht oder nur bedingt der rationalen Kontrolle zugänglich sind. Es sind dabei vor allem drei Aspekte, die Nussbaums Untersuchung leiten. Erstens, welche Rolle spielen Aktivitäten und Beziehungen im guten menschlichen Leben, die im Besonderen für Rückschläge anfällig sind. Inwieweit sollte man in einem rationalen Lebensplan Elemente zulassen, die von Glück oder Zufall abhängig sind, wie Freundschaft, Liebe und politische Aktivität? Zweitens, wie verhalten sich diese einzelne Elemente untereinander, existieren sie harmonisch miteinander oder generieren sie unvereinbare Konflikte? Drittens, welche Konsequenzen hat ein Entwurf des guten Lebens, der die Vernunft gegen die unkontrollierbaren Leidenschaften stellt und diese menschlichen Reaktionen bekämpft oder zu assimilieren trachtet? Die drei Fragen faßt Nussbaum zusammen: „My general question will be, how much luck do these Greek thinkers believe we can humanly live with? How much should we live with, in order to live the life that is best and most valuable for a human being?" (FG: 4)

Das ethische Denken der Griechen bietet zwei Lösungswege, zwei normative Konzeptionen von Rationalität: Die eine versteht den Menschen als aktiv und selbstbestimmt Handelnden, der sein Leben kontrolliert und jene der Vernunft „externen" Aspekte eliminiert. Dieses Ideal der Selbstgenügsamkeit favorisiert Piaton und zwar, wie Nussbaum betont, in Ansehung der tragischen Konflikte, die das menschliche Leben hervorbringt, angesichts dessen ihm die radikale Lösung - ein Leben jenseits aller politischen und sozialen Beziehungen bzw. ein allein der Idee der unveränderlichen Wahrheit verpflichtetes - als die einzig angemessene erscheint. Die Alternative bietet Aristoteles. Danach ist der Mensch ein verletzliches Wesen, er bedarf äußerer Güter, um gut zu „funktionieren", und er setzt sich den Risiken zwischenmenschlicher Beziehungen aus, weil ein Leben ohne Mitbürger, ohne Freunde und ohne Liebe kein wirklich gutes Leben wäre. Aber der Mensch ist auch aktiv und kann in menschlichen Grenzen sein Leben kontrollieren. Aristoteles' Ideal ist eine Konzeption der praktischen Vernunft, die das menschliche Leben auf eine menschliche Weise selbstbestimmt macht - und zwar unter Ansehung der jeweils besonderen Situation, in der Entscheidungen getroffen werden müssen, und der verschiedenen, konkurrierenden Werte, die zur Disposition stehen. In der zugespitzten Frage, ob das menschliche Leben grundsätzlich eher dem Bild der „Pflanze" oder dem des ,Jägers" entspricht, verteidigt Nussbaum zufolge Aristoteles die erste Version, während Piaton die zweite favorisiert (vgl. FG: 20f.) Damit rekurrieren beide auf die bereits in der Tragödiendichtung normativ reflektierten menschlichen

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.ANTIGONE" ODER DIE TRAGIK MENSCHLICHEN LEBENS

Selbstbeschreibungen. Während jedoch Piaton in bewußter Abgrenzung zu Pindars Bild des Weinstocks den Versuch unternimmt, das menschliche Leben gegen die Zufälligkeiten abzusichern, ist dieses Bild für Aristoteles der Ausgangspunkt für den Entwurf einer Konzeption des guten Lebens, welche die Risiken nicht ausschließt, aber zu minimieren trachtet. In ihrer modernen, sozialdemokratischen Reformulierung der Aristotelischen Konzeption betont Nussbaum explizit Rawls gegenüber, daß die praktische Vernunft zwar eine zentrale, architektonische Funktion innerhalb ihres komplexen FähigkeitenAnsatzes einnimmt, die Entscheidungsfreiheit selbst aber bestimmter, sie unterstützender sozio-ökonomischer Bedingungen bedarf (vgl. GGL: 94). Damit wird der Bereich externer Kontingenzen, also der Einfluß äußerer Umstände und Geschehnisse zum Problem einer Konzeption des guten Lebens. Mit der Betonung des grundsätzlich tragischen Charakters menschlichen Lebens besteht sie gegenüber einer rationalitätstheoretisch verkürzten, vernunftzentrierten Konzeption überdies darauf, daß auch moderne Menschen in persönlichen wie in politischen Entscheidungen mit einer Pluralität inkommensurabler Werte konfrontiert sind, die sich nicht auf einen letzten gemeinsamen Wert reduzieren lassen. Schließlich formuliert sie mit ihrem Projekt einer grundsätzlichen moralphilosophischen Rehabilitierung der Gefühle nicht nur eine Gegenposition zur Theorie des homo oeconomicus wie sie sich überhaupt gegen die in der westlichen philosophischen Tradition dominante Abwertung der Gefühle wendet, sondern sie öffnet die Frage nach dem guten Leben für den Bereich interner Kontingenz. Diese drei Aspekte - die Betonung einer Pluralität und Konkurrenz von Werten und Verpflichtungen, die Vermittlung von Vernunft und scheinbar irrationalen Elementen wie Gefühlen und Leidenschaften sowie die Suche nach einer politischen Ordnung, die Kontingenz nicht behebt, aber gleichwohl einschränkt - bilden den Kern des ethischen und politischen Denkens von Nussbaum, das sie wesentlich im Dialog mit den griechischen Tragödien, insbesondere mit Sophokles' Antigone entwickelt. Über die Komplexität ethischer Konflikte Ausgangspunkt von Antigone ist Nussbaum zufolge die im griechischen Denken des fünften Jahrhunderts prominente Idee, daß die Vermeidung praktischer Konflikte das Kriterium ist, an dem sich die Rationalität einer Person erweist. Ungeachtet der unterschiedlichen ethischen Werte, für die Kreon und Antigone als Hauptprotagonisten des Dramas stehen, verfolgen beide die Strategie einer unbarmherzigen und skrupellosen Vereinfachung des Wertekanons. Ihr Ziel ist die Verhinderung konfliktueller Verpflichtungen durch Simplifikation. Damit stellt sich Nussbaum gleich am Anfang gegen solche Interpretationen, die Antigones Tat als heroische Auflehnung gegen Kreons Machtpolitik und seine willkürliche Ersetzung überkommenen Rechts durch politisches Dekret rezipieren, während im Gegenzug die moralische Unzulänglichkeit Kreons verurteilt wird. Aus Nussbaums Sicht haben beide eine eingeschränkte Weltwahrnehmung:

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„Creon's strategy is to draw, in thought, a line between the invading and defending forces. What falls to one side of this line is a foe, bad, unjust; what falls to the other (if loyal to the city's cause) becomes, indiscriminately, friend or loved one. Antigone, on the other hand, denies the relevance of this distinction entirely. She draws, in imagination, a small circle around the members of her family, therefore loved one and friend; what is outside is non-family, therefore, in any conflict with the family, enemy." (FG: 63)

Die Freund-Feind-Unterscheidung nach dem, was gut für die Stadt respektive gut fur die Familie ist, beschreibt Nussbaum als zwei durchaus vergleichbare Strategien der Simplifikation. Dieser Vereinfachung des komplexen Kosmos' menschlicher Beziehungen und ethischer Verpflichtungen geht die Subsumtion aller anderen ethischen Werte unter einen gemeinsamen Wert voraus. Der Erfahrung, daß Freundschaft und Liebe mit der Gerechtigkeit in Konflikt geraten können, daß gerechtes Handeln mit religiösen Werten kollidieren kann, daß ehrenhaftes Verhalten mitunter ungerecht gegenüber Freunden ist, entkommt Kreon dadurch, daß er das Wohl der Stadt nicht nur als vorrangiges Gut betrachtet, sondern alle anderen darunter subsumiert. Polyneikes ist nicht nur ein Vaterlandsverräter, der um der Herrschaft willen bereit war, gegen Theben Krieg zu fuhren, und über den daher zu Recht die verschärfte Strafe verhängt wird, außerhalb der Heimaterde und unbestattet liegen zu bleiben. Als Feind der Stadt ist er weder Freund noch Familienmitglied: „Auch jeden, der dem Vaterland die Freunde und Verwandten vorzieht, kann ich nur zutiefst verachten. Ich rufe Zeus, der ständig alles schaut zum Zeugen: Ich kann nicht schweigen, sehe Unheil auf den Staat zukommen und des Staates Heil gefährden, kann keinem Landesfeind als Freund wie als Verwandten betrachten. Denn ich weiß: Das Vaterland allein verbürgt uns Schutz, und nur den geraden Kurs des Staatsschiffs erheben wir zum Maßstab für die Wahl von Freunden. [...] Nur wer als Freund sich unsres Staats bewährt, ist mir im Leben wie im Tode hoher Ehren wert." (SophAnt: V. 182-210) Kreon ist nicht bereit, Verpflichtungen anzuerkennen, die er selbst nicht eingegangen ist. Verwandtschaftliche Beziehungen, überkommenes Recht oder religiöse Gebote haben keinerlei Einfluß auf seine Entscheidungen. In Nussbaums Lesart ordnet Kreon jedoch nicht nur alle ethischen Verpflichtungen dem Wohl der Stadt unter, damit einher geht zudem ein radikaler Wandel jener Werte, die mit seiner Politik im Konflikt stehen. Sie schreibt: „If I say to Creon, .Here is a conflict: on the one side, the demands of piety and love; on the other, the requirements of civic justice', he will reply that I have misdescribed the case. The true eye of the healthy soul will not see the city's enemy as a loved one, or his exposed corpse as an impiety. The apparent presence of a contingent conflict is an indication that we have not been working hard enough at correct vision." (FG: 58)70

70

So ist Antigones Tat, ihren Bruder entgegen des ausdrücklichen Befehls symbolisch zu bestatten, in Kreons rationalistischen Weltbild nicht nur eine feindliche, den Staat erodierende Handlung, Antigone wird obendrein als jemand angegriffen, der mental unfähig ist, das Richtige und das Gute klar zu erkennen.

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„ A N T I G O N E " ODER DIE TRAGIK MENSCHLICHEN LEBENS

Die Stadt oder das politische Gemeinwesen wird zum alleinigen Maßstab des Guten, wobei die Stadt nicht als ein komplexes Gewebe gesehen wird, das von vielfältigen individuellen und familiären Beziehungen durchzogen und durch religiöse Praktiken geformt ist, sondern als ein „Staatsschiffdessen vorrangige Aufgabe darin besteht, die nichtbeherrschbaren Elemente vom menschlichen Leben fernzuhalten, wozu Liebe, Freundschaft und die Bindung an außerweltliche Werte gehören. So wie das Schiff die Besatzung vor der äußeren Natur schützt, ist der Staat die stabilisierende Kraft gegenüber der Kontingenz menschlichen Tuns. Dabei verweist das von Kreon genutzte Bild vom Staatsschiff auf ein spezifisches Verständnis von praktischer Vernunft als einer Art technischem Vermögen. Die praktische Klugheit Kreons gilt der Vermeidung aller Konflikte, die den Staatszielen irgendwie zuwiderlaufen könnten, wobei er selbst es ist, der als Lenker des Schiffes entscheidet, was das Gerechte in Hinblick auf das Wohl des Staates ist. Seine Strategie ist daher nicht nur auf eine radikale Ausschaltung aller nichtpolitischen Werte gerichtet, sein herrschaftliches oder instrumentelles Verständnis von staatsmännischer Klugheit ist zugleich ein Angriff auf die Pluralität von Meinungen im politischen Raum selbst und mithin auf jene Institutionen, in denen kontroverse politische Standpunkte verhandelt werden. Als er von seinem Sohn Haimon darauf hingewiesen wird, daß die Bürgerschaft von Theben seine Ansicht, daß es sich bei Antigones Tat um ein Kapitalverbrechen handelt, das mit dem Tode bestraft werden müsse, nicht teilt, entgegnet Kreon: „Die Bürgerschaft hat mir doch gar nichts zu befehlen. [...] Als Herrscher schulde ich mir selbst nur Rechenschaft. [...] Der Staat gehört dem Herrscher, das gilt allgemein." (SophAnt: V. 734-738) Es ist Haimon, der die politische und ethische Unhaltbarkeit dieser reduktionistischen und machtpolitischen Staatsauffassung zusammenfaßt: „Dann müßtest du allein in der Wüste herrschen." (V. 739) Zu spät erkennt Kreon, daß seine Strategie, alle ethischen Werte und unterschiedlichen Interessen unter einen gemeinsamen Wert zu subsumieren, nicht aufgeht: „it was an impoverished standard because it left things of genuine worth on the outside" (FG: 62). Als Kreon Antigone vor dem Tode, den er selbst befohlen hatte, bewahren will, hat sie sich bereits in der Gruft erhängt, ihr Verlobter Haimon sich mit dem Schwert getötet und Kreons Gattin angesichts der Katastrophe Selbstmord begangen. A m Ende ist Kreon ein gebrochener Mann. Doch auch Antigone - als Verfechterin ethischer Verpflichtungen gegenüber der Familie und der Unterwerfung des eigenen Lebens unter religiöse Gebote unnachgiebige Gegenspielerin von Kreon - unterliegt für Nussbaum einer eindimensionalen Sicht auf die Welt. Die Tatsache, daß durch Polyneikes' Handlungsweise die Stadt Theben und das Leben seiner Bewohner ernsthaft bedroht waren und daß daher zu Recht gegen ihn der Vorwurf des Vaterlandsverrats erhoben werden kann, nimmt sie nicht wahr: „ T o her it is a simple injustice that Polynices should not be treated like a friend." (FG: 64) In ihrer Verteidigung verwandtschaftlicher Bande gegenüber politischem Machtkalkül argumentiert sie zudem völlig emotionslos. Die Verwandtschaft ist Quelle von Verpflichtungen, nicht von Liebe und Zuneigung. Sie benutzt und funktionalisiert, so poin-

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tiert Nussbaum, die verwandtschaftlichen Bande, um ihre Schwester Ismene unter Druck zu setzen. Gegen Kreons Verbot fordert sie Ismene auf, ihr bei der Bestattung Polyneikes zu helfen: „Er bleibt doch unser Bruder, ob du willst, ob nicht." (SophAnt: V. 45) Und als sich Ismene weigert, ihr zu folgen, klagt Antigone sie nicht nur des Verstoßes verwandtschaftlicher Verpflichtungen an, sondern im fundamentaleren Sinne der Gotteslästerung: „Wenn du willst, verschmähe nur, was die Unsterblichen hoch schätzen!" (V. 76-77) Die Verpflichtungen, die sich aus den Familienbeziehungen ergeben, werden nicht um ihres eigenen Wertes willen zitiert, sondern in ihrer Funktion für das Befolgen religiöser Gebote. Wenn Kreons Strategie der Simplifikation ihn letztlich dazu führt, andere als bloßes Material für die Durchsetzung seiner aggressiven Staatsdoktrin zu sehen, nimmt Antigone andere Menschen nicht wirklich wahr. Sie erscheinen ihr als leblose Hüllen. So ist auch Antigones Entscheidung, ihr eigenes Leben zu opfern, Ausdruck einer Abwertung des weltlichen Lebens gegenüber göttlichem Gebot. „In the world below, there are no risk or failure or wrongdoing." (FG: 65) Dabei stellt ihre radikale Unterwerfung menschlichen Lebens unter göttliche Regeln, die mit einer generellen Abwertung emotionaler und politischer Beziehungen verbunden ist, für Nussbaum nicht nur eine unbarmherzige Vereinfachung dar. Ähnlich wie Kreon das Wohl des Staates zugunsten des eigenen Herrschaftsinteresses zweckentfremdet und das eigene Recht über göttliches Gebot stellt, funktionalisiert Antigone den Glauben. Sie macht sich ihr eigenes Gesetz: „She sets herself up as the arbiter of what Zeus can and cannot have decreed, just as Creon took it upon himself to say whom the gods could and could not have covered: no other character bears out her view of Zeus as single-mindedly backing the rights of the dead." (FG: 65)

Am Ende jedoch lernt sie - Kreon vergleichbar - , daß sie durch ihr eigenes Recht nicht nur einen Teil des Glaubens ignoriert, sondern die religiösen Werte überhaupt gefährdet hat.71 Im Vergleich beider Strategien der Konfliktvermeidung durch Simplifikation kommt Nussbaum dennoch zu dem Schluß, daß Antigone und nicht Kreon unsere Bewunderung gilt und Antigone moralisch höher steht. Sie zeigt erstens ein tieferes Verständnis von der menschüchen Gemeinschaft und ihren Werten, wenn sie gegenüber Kreon darauf besteht, daß die Verpflichtung, den Toten zu begraben, ein ungeschriebenes Gesetz ist, das nicht einfach durch das Dekret eines partikularen Herrschers aufgehoben werden kann. Zweitens zieht sie trotz anfänglicher Forderungen gegenüber Ismene andere Menschen nicht willentlich mit in ihre Entscheidung hinein, während Kreon wissentlich 71

Ähnlich wie Nussbaum konstatiert auch Otfried Höffe das Scheitern beider Helden. Zwar sieht er anders als Nussbaum beide Hauptakteure von vornherein in einem leidenschaftlichen (und eben nicht rationalen) Widerstreit, aber er betont ebenso wie die Moralphilosophin die kognitive Funktion von Leidenschaften innerhalb der tragischen Handlung selbst und in Hinblick auf die öffentlich-erzieherische Funktion der Dichtung. „Bei Sophokles lernen freilich beide Helden zu spät: Antigone stirbt und Kreon verliert erst den Sohn, dann die Frau. [...] Rechtzeitig lernen können allerdings in allen Tragödien die Zuschauer" (Höffe 2001: 333).

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und ohne äußeren Zwang den Tod Antigones befiehlt. Drittens schließlich ist sie bereit, sich zu opfern, widerruft nicht und bleibt doch zerrissen von dem Konflikt: „Her virtue is, then, prepared to admit a contingent conflict, at least in the extreme case where its adequate exercise requires the cancellation of the conditions of its exercise. From within her single-minded devotion to the dead, she recognizes the power of these contingent circumstances and yields to them, comparing herself to Niobe wasted away by nature's snow and rain." (FG: 67)

In Nussbaums Interpretation läßt sich der Konflikt, den Sophokles beschreibt, nicht auf die Inkommensurabilität von nur zwei ethischen Werten - politischem Recht, für das Kreon einsteht, und religiösen Geboten, die Antigone vertritt - reduzieren. Eine Vielzahl von ethischen Werten stehen sich hier gegenüber: familiäre Verpflichtungen gegen politische Loyalität, Religion gegen Freundschaft, individuelle Entscheidungsfreiheit gegen Gemeinwohl, politische Rationalität gegen Gefühle, Tradition und Glauben gegen Fortschritt. Für Nussbaum reflektiert Sophokles aber nicht nur die Erfahrung, daß eine Vielzahl von konkurrierenden ethischen Verpflichtungen zu praktischen Konflikten führen können. Er zeigt darüber hinaus, daß der Versuch, Wertekollisionen über die Reduzierung der Pluralität zu vermeiden, den praktischen Konflikt noch verschärft und das Gut, das man als das höchste und wertvollste betrachtet hatte, selbst Schaden nimmt. Mit dem Scheitern rationaler Strategien der Konfliktvermeidung durch Simplifikation wird die Unvermeidlichkeit von Kontingenz thematisiert, ohne der praktischen Vernunft generell ihre ordnende und strukturierende Funktion abzusprechen. Dabei ist es der Chor, der durch seine interpretierende Darstellung der am Handlungsgeschehen Beteiligten, wozu neben Kreon und Antigone auch Haimon und Ismene und vor allem der blinde Seher Teiresias gehören, eine spezifische Auffassung von praktischer Klugheit entwickelt. Weit davon entfernt, eine einfache Lösung des Konfliktes anzubieten, verweist die anteilnehmende Betrachtung des Chores darauf, daß es keine neutrale Sicht auf die Dinge geben kann, die menschliche Pluralität also zu den unabwendbaren menschlichen Bedingtheiten gehört. Über den permanenten Wechsel der Perspektiven, einschließlich ihrer emotionalen Dimension, wird die praktische Vernunft als zu erlernende Fähigkeit entworfen, sich diese Pluralität zu vergegenwärtigen. Die angemessene Reflexion der Vielschichtigkeit und Komplexität einer Situation verlangt, die eigene Perspektive um die anderen möglichen Standpunkte zu erweitern. Der Chor erinnert uns daran, schreibt Nussbaum, „that good response to a practical situation (or: a text) before us involve not only intellectual appreciation but also, where appropriate, emotional reaction" (FG: 69). Für das antike Drama ist die Erfahrung von Kontingenz innerhalb der conditio humana nicht zu transzendieren. So läßt Sophokles den Chor resümieren: Der Mensch überquert das schäumende Meer, quält die Erde um seines Nutzens willen, mit listigen Mitteln erringt er die Macht über die Tiere des Feldes, allein dem Hades wird er nicht entrinnen (SophAnt: V. 332-374). Aber es sind nicht nur Krankheit und Tod, die in

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einem existentiellen Sinne die Verletzlichkeit des Menschen ausmachen, im Leben sind es seine Verpflichtungen zu Liebe und zu politischen und sozialen Werten. Es ist aber gerade die Verletzlichkeit des Menschen oder seine Angewiesenheit auf andere, die ihn positiv unterscheidet von dem Göttlichen bzw. von der Absicht, in einem unmenschlichen Sinne über das Menschliche hinauszugehen. Das Bild, in dem Nussbaum diese Einsicht zusammengefaßt sieht, ist Antigones Gang in die Todesgruft: Auf der einen Seite steht die Ausnahmefigur Antigone, ein Mädchen göttlicher Eltern, und trotzdem gepackt von den ewigen Moiren - auf der anderen Seite der blinde Teiresias, der von einem sehenden Kind geführt wird (SophAnt: V. 987-988). „This man, although blind, is walking, not immobilized; this child, though dependent, is active, not passively weeping." (FG: 79) Die philosophische „Lösung" tragischer Konflikte Während das Instruktive von Walzers narrativistischer Theorie darin besteht, daß er den Prozeß der Universalisierungen besonderer Erfahrungen darstellt und in einer Verschränkung von Ideen- und Ereignisgeschichte die Attraktivität bestimmter Ideen nachvollzieht, gewinnt Nussbaum ihre normativen Urteile aus einer spezifisch modernen Interpretation der griechischen Tragödiendichtung. Den materialen Nachweis, daß es sich bei diesen literarischen Erfahrungen um interkulturell geteilte Erfahrungen handelt, die zu einer universalistischen Konzeption des guten Lebens verallgemeinert werden können, hat Nussbaum nicht erbracht. Mit dem Verweis auf den exemplarischen Status der in Tragödien reflektierten Erfahrungen verfolgt sie eine Arendt verwandte Strategie - im Gegensatz zu Arendt aber liefert sie weder eine methodische Begründung noch läßt sie eine Beschränkung auf den abendländischen Kulturkreis gelten. Mit ihrem Rekurs auf die griechische Tragödiendichtung verfolgt Nussbaum zwei generelle Ziele: Die Tragödie wird als Artikulation der spezifisch menschlichen Erfahrung interpretiert, daß eine Vielzahl von konkurrierenden ethischen Verpflichtungen zu praktischen Konflikten führen können. Menschen sind in persönlichen wie politischen Entscheidungen mit einer Pluralität inkommensurabler Werte konfrontiert, die sich nicht auf einen letzten Wert reduzieren lassen. Rationale Strategien der Konfliktvermeidung durch Simplifikation schlagen fehl bzw. verschärfen den praktischen Konflikt. Insofern es sich hier nicht nur um eine Beschreibung, sondern um eine normativkritische Reflexion handelt, formuliert die Dichtung bestimmte ethische Urteile, die Nussbaum für ihre eigene moderne Konzeption des guten menschlichen Lebens fruchtbar macht. Den Kern bildet dabei ihre Vermittlung von zwei zentralen menschlichen Fähigkeiten: der Fähigkeit zu praktischer Vernunft, im Sinne selbstbestimmter Lebensplanung und -führung, und zu sozialen Bindungen. Gestützt wird diese Vermittlung von Vernunftfähigkeit und sozialer Kompetenz auf eine grundsätzliche Rehabilitierung der Gefühle als Formen wertender Wahrnehmung (GGL: 136).

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In ihrer Unterscheidung zwischen internen Fähigkeiten, die eine gute Person ausbilden können sollte, und den externen Bedingungen, die eine Realisierung dieser Fähigkeiten ermöglichen, nimmt Nussbaum überdies Pindars Bild vom Menschen als Pflanze auf. Das gute menschliche Leben ist von äußeren Bedingungen abhängig, von politischen, sozialen und ökonomischen Strukturen. Politisch ergibt sich daraus die Forderung nach einem Wohlfahrtsstaat, der in einem umfassenden Sinne dafür Sorge zu tragen hat, daß jeder einzelne die Möglichkeit erhält, alle Fähigkeiten, die wertvolles Leben und gutes Handeln ausmachen, entwickeln und ausüben zu können. Dabei kommt es zu einer interessanten Wendung. Mit ihrem Plädoyer für ein umfassendes wohlfahrtsstaatliches Ordnungsmodell stellt Nussbaum die Stabilität gegen die Fragilität menschlichen Lebens. Das wäre nicht besonders spektakulär. Die Vorstellung, daß der Staat eine ordnende und stabilisierende Funktion übernimmt und einen gewissen Schutz vor externen (Umstände, die von außen auf den Menschen treffen) wie internen Kontingenzen (Risiken, die durch die soziale Natur des Menschen entstehen) gewährt, ist beinahe Konsens in der politikwissenschaftlichen Literatur. Jedoch für eine Denkerin, die in dem konfliktuellen Charakter menschlichen Lebens nicht nur einen Fakt sieht, sondern darin dessen spezifische Schönheit ausgedrückt findet, ist dies ungewöhnlich. Ihre normative Konzeption zielt in der Konsequenz auf eine Entdramatisierung menschlichen Lebens und Handelns. Nussbaum sieht nicht, daß damit eine philosophische und politische Entzauberung der ästhetischen Qualität menschlichen Lebens verbunden ist. Sie ist vielmehr der Ansicht, daß die Tragödie eine spezifische Auffassung des guten Lebens impliziert, die in der interpretativen Darstellung des Handlungsgeschehens durch den Chor auch zum Ausdruck gebracht wird. Die Art und Weise, wie diese Konzeption Gestalt annimmt und begründet wird, ist entscheidend für Nussbaums methodischen Rückgriff auf die griechische Tragödiendichtung. Der Chor gilt als involvierter Betrachter des Handlungsgeschehens, seine Sicht auf die Ereignisse ist nicht neutral, sondern durchaus geprägt von den ethischen Werten, die unversöhnlich aufeinander prallen. Für das Theorieverständnis von Nussbaum bedeutet dies, daß der externe Standpunkt zugunsten einer anteilnehmenden, internen Position abgelehnt wird. Zugleich aber verfolgt der Chor das Handlungsgeschehen nicht nur, sondern beurteilt es auch. Er vermittelt, so ihre Schlußfolgerung, eine normative Konzeption des guten Lebens und Handelns, die auf dem Weg einer kritischen Interpretation der verschiedenen Perspektiven auf den ethischen Konfliktfall gewonnen und über deren komplexe Reflexion begründet wird. Danach läßt sich das gute menschliche Leben weder auf einen grundlegenden Wert reduzieren, noch existieren die verschiedenen ethischen Werte unabhängig voneinander. Die Pluralität von sich qualitativ unterscheidenden Werten erfordert eine komplexe Sicht auf das, was das gute menschliche Leben in seiner Gesamtheit ausmacht. Die Fähigkeit, die der Chor im Gegensatz zu einzelnen Akteuren besitzt, die aufgrund ihrer eingeschränkten Weltwahrnehmung auf der Singularität eines besonderen Wertes bestehen, ist, sich die verschiedenen Perspektiven zu vergegenwärtigen. Arendt hatte dies mit Kant erweiterte

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Denkungsart genannt. Nussbaum erweitert Arendts vor allem rational gefaßte Kompetenz zum Perspektivenwechsel um die emotionale Dimension der Einfühlung in den Standpunkt eines anderen. Dadurch wird aus ihrer Sicht der normative Anspruch stärker betont, daß die Qualität einer politischen Ordnung sich daran erweist, ob sie jedem Mitgüed die Möglichkeit bietet, ein gelingendes menschliches Leben zu leben - zu dem neben der Fähigkeit zu politischen Bindungen auch Liebe und zwischenmenschliche Beziehungen gehören. Mit der Betonung der kognitiven Funktion dichterischer Reflexion verbindet Nussbaum gleichwohl noch eine weitere Intention: „We should not forget that they (die lyrischen Texte, G. S.) are, first and foremost, choral elements in a dramatic performance. They are performed by a group working together in word, music, and dance; and they are watched by a group - by an audience that has come together in community at religious festival and whose physical placement surrounding the action makes acknowledgement of the presence of fellow citizens a major and inevitable part of the dramatic event." (FG: 70)

Nussbaum betont hier die öffentlich-politische Funktion der dramatischen Performance. Als wichtiger Bestandteil gesellschaftlicher Höhepunkte hatte die Aufführung des Dramas neben dem Unterhaltungsaspekt immer auch die Funktion, das Publikum zum kritischen Nachdenken über seine ethischen Einstellungen und Handlungsweisen aufzufordern. Die poetische Reflexion hatte einen festen Platz in den öffentlichen Selbstverständigungsdiskursen der Bürger.72 Die in der Tragödie formulierten moralischen Normen richteten sich an ein konkretes Publikum und dessen Fähigkeit zur kritischen (Selbst-) Reflexion. In dieser normativen Wertschätzung antiker Dichtung als Teil öffentlichpolitischer Rationalität hegt die wohl auffallendste Schnittstelle zwischen Arendt und Nussbaum. Beide machen sich diese besondere ethische respektive politische Leistung von Dichtung zueigen, wenn sie Literatur eine entscheidende kognitive Rolle für die Herausbildung einer selbstreflexiven politischen und ethischen Praxis beimessen. Die Homerischen Epen und die griechischen Tragödien zeigen nicht nur auf, welche Normen die richtigen sind; indem sie das Publikum zur Interpretation und Reflexion auffordern, schulen sie Fähigkeiten, die für ein gutes ethisches und politisches Handeln essentiell sind: nämlich die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel und zu einer um plurale Standpunkte erweiterten, komplexen Weltwahrnehmung.

72 So weist u. a. Otfried Höffe darauf hin, daß die griechische Tragödie trotz ihrer adligen oder gar königlichen Helden ein „Bürgertheater im emphatischen Sinn" ist: „Sie entsteht auf dem Boden der attischen Demokratie, wird vor allem von den freien Bürgern - aber auch von Frauen, Kindern, selbst Sklaven - besucht, hat insbesondere mit Sophokles politisch hochaktive Bürger zum Dichter und fordert die Zuschauer zum Nachdenken über politische Grundfragen auf. Und soweit die Bürger mit ihresgleichen im Theater saßen - die Ärmeren dank eines Tagegeldes - , sie also Frauen, Kinder und Sklaven als Mitzuschauer ausblendeten, war für sie das Theater ein wichtiger Ort ihrer Bürgeridentität" (Höffe 2001: 332).

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Die Ansicht, daß unabhängig von dem jeweiligen partikularen Inhalt der spezifische Modus interpretativer Gesellschaftskritik handlungstheoretische Implikationen hat, teilt auch Walzer. Dies wird deutlich, wenn er mit Verweis auf den dialogischen Charakter prophetischer Gesellschaftskritik betont, daß es die selbstreflexive und kommunikative Praxis der Kritik ist, die zum Paradigma gesellschaftlicher Auseinandersetzung wird, und nicht vordergründig die Botschaft selbst. Es geht ihm, wie Arendt und Nussbaum, um die Schulung und Ausbildung bestimmter Kompetenzen, die Menschen dazu befähigen, Gesellschaftskritiker zu sein. Dabei ist Walzer der Auffassung, daß die Fähigkeit zu kritischer Reflexion Teil einer umfassenderen Tätigkeit ist, die er kulturelle Tätigkeit nennt: „die [...] kulturelle Erarbeitung und Bekräftigung kultureller Werte. Das ist die Arbeit von Priestern und Propheten; von Lehrern und Weisen; von Geschichtenerzählern, Poeten, von Geschichtsschreibern und von Schriftstellern überhaupt. Sobald es diese Art von Leuten gibt, gibt es auch die Möglichkeit von Kritik." (PG: 5 0 f . )

Im Gegensatz zu den vielen verschiedenen Einzel- und Gruppeninteressen innerhalb politischer Gemeinschaften agieren diese Intellektuellen als eine Art gesellschaftliche Vermittler. Was sie in dieser Funktion auszeichnet, ist die Fähigkeit, die in einem Gemeinwesen vorhandenen Stimmungen und Meinungen aufzunehmen - Walzer spricht hier auch von Gemeinsinn - und sie zugleich kritisch zu reflektieren, wozu es allerdings einer gewissen Distanz zur „herrschenden Klasse" bedarf, nicht nur zur Gesellschaft überhaupt, wie Walzer vehement betont. Das Verhältnis von Gemeinsinn und kritischer Distanz wird von allen drei Autoren prominent diskutiert, wenngleich sie darunter zum Teil recht Unterschiedliches verstehen.73 Sie stimmen zunächst darin überein, Gemeinsinn als eine besondere Qualität politischen Denkens zu verstehen, als ein Vermögen, durch das sich die Pluralität und Gemeinsamkeit der Welt dem Menschen erschließt. Sie sind darüber hinaus der Auffassung, daß die Entwicklung dieser Fähigkeit zum erweiterten Denken maßgeblich davon abhängt, ob die Pluralität der Perspektiven im öffentlichen-politischen Raum in Erscheinung tritt. Die konstitutive Rückbindung des Gemeinsinns an die Instanz einer pluralistisch verfaßten Öffentlichkeit ist das tragende Motiv für den normativen Entwurf einer guten politischen Ordnung. Neben diesen Parallelen gibt es aber erhebliche Unterschiede zwischen den Autoren. So hat Gemeinsinn bei Walzer eine eher staatsbürgerliche Ausrichtung, während Nussbaum eine stärker kosmopolitische Perspektive vertritt. Gemeinsinn wird von ihr als eine die politischen Tugenden des Patriotismus und der politischen Partizipation mindestens ergänzende, wenn nicht gar dominierende moralische Fähigkeit gefaßt. Arendt teilt Nussbaums aufklärerische Haltung zwar nicht,

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Die philosophische und politikwissenschaftliche Literatur bietet eine Fülle von zum großen Teil divergierenden Auffassungen über das, was man unter Gemeinsinn verstehen kann. Grundlegend zu Gemeinsinn und Gemeinwohl in ideengeschichtlicher Perspektive vgl. Münkler/Bluhm 2001 sowie zu normativen und zeitdiagnostischen Fragestellungen vgl. Münkler/Bluhm 2002.

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bleibt aber gegenüber einer zu engen Verknüpfung von Gemeinsinn und partikularem Gemeinwohl, wie sie Walzer tendenziell vertritt, skeptisch. Das politisch integrative Moment bestreitet sie nicht, sie faßt aber Gemeinsinn prinzipieller als spezifische Vermittlung von Differenz und Gemeinsamkeit: „Das Einzige, woran wir die Realität der Welt erkennen und messen können, ist, daß sie uns allen gemeinsam ist, und der Gemeinsinn steht so hoch an Rang und Ansehen in der Hierarchie politischer Qualitäten, weil er deijenige Sinn ist, der unsere anderen fünf Sinne und die radikale Subjektivität des sinnlich gegebenen in ein objektiv Gemeinsames und darum eben Wirkliches einfügt." (VA: 203)

Auch zu der Frage, wieviel Distanz der Theoretiker als Kritiker zur Politik aufbringen sollte, haben die Autoren bisweilen konträre Positionen. Ungeachtet des Anspruchs eines erhöhten Maßes an Reflexionsfähigkeit läßt sich Arendt zufolge von politischen Akteuren, die sich initiativ in den politischen Raum begeben, nicht erwarten, daß sie vorurteilsfrei und unparteilich in Ansehung aller möglichen Perspektiven eine gute, ausgewogene Entscheidung treffen. Das Prinzip politischer Pluralität und auch politischer Differenz kann nicht aufgehoben werden, es sei denn um den Verlust des Politischen selbst. Dies bedeutet aber im Gegenzug, daß Theorie als eine vom politischen Handeln und vom politischen Urteil distinkte Form der kritischen Reflexion entworfen wird, die eine Distanz des Theoretikers zur Politik wie zur Gesellschaft voraussetzt. Kritische Distanz ist für Arendt keine „Frage von Zentimetern" (Walzer), sondern notwendig mit einem Rückzug aus den politischen Handlungsraum verbunden. Diese Ansicht teilt Nussbaum nicht. Zwar besteht sie wie Arendt und im Gegensatz zu Walzer auf einem Unterschied zwischen Theorie und Praxis, aber politische „Unparteilichkeit" hält sie keineswegs für eine Tugend der Moralphilosophie.

4 Theorie und Kritik

Innerhalb des narrativ-hermeneutischen Theorietypus', wie ihn Hannah Arendt, Michael Walzer und Martha Nussbaum darstellen, wird antiken Narrationen und den in ihnen eingekapselten Erfahrungen ein besonderer Status zugeschrieben. Aus Sicht der Autoren sind diese ausgewählten literarischen Erfahrungen insofern exemplarisch, als sie kommunikativ in politische Handlungskontexte übersetzt und/oder ideengeschichtlich rezipiert wurden. So gewinnt Arendt ihr auf Freiheit zentriertes politisches Handlungskonzept durch den Rekurs auf die Homerischen Epen; Walzer interpretiert die ExodusGeschichte als Grunderzählung von gerechter Politik und verantwortlichem Handeln; Nussbaum schließlich rekurriert für ihre Konzeption guten Lebens und Handelns auf die griechische Tragödiendichtung. Die Antike wird aber noch in einer weiteren Hinsicht zum Bezugspunkt. In ihrem Anspruch, Public Philosophy zu betreiben und über eine starke Präsenz im öffentlichen Raum einen engen Kontakt zur Praxis herzustellen, greifen sie auf poetische bzw. religiöse Formen praktischer Gesellschaftskritik zurück. Für Walzer werden die jüdischen Propheten zu vorbildlichen Gesellschaftskritikern und die prophetische Klage zum Muster für eine engagierte Form immanenter Gesellschaftskritik. „Kritik ist dann am mächtigsten", so seine These, „wenn sie den gemeinsamen Klagen der Menschen Stimme verleiht oder die Werte erhellt, die jenen Klagen zugrunde liegen" (ZE: 30). Den Streit mit dem Priester Amanzja um die „wahren" Werte der israelischen Tradition hat der Prophet Amos nicht deshalb gewonnen, weil seine Intepretation nach einem externen Maßstab die allgemein richtige war. Sein Sieg ist anderer Art: „Arnos hat so etwas wie einen Sieg davon getragen, den einzigen Sieg, der im gesellschaftlichen Streit errungen werden kann: er hat in machtvoller und plausibler Weise die Grundwerte seines Publikums angerufen. [...] Arnos' Prophetie ist Gesellschaftskritik, weil sie die Führer, die Gebräuche, die rituellen Praktiken einer bestimmten Gesellschaft herausfordert und weil sie dies im Namen von Werten tut, die in dieser selben Gesellschaft anerkannt und geteilt werden." (PGK: 103)

Ganz ähnlich betont Arendt in ihrem Rekurs auf die Ilias die öffentliche wie kritische Funktion des Homerischen Erzählers, dem es gelang, im Zitat der Vergangenheit die Kritik an der Gegenwart sichtbar werden zu lassen. Die Geschichte, die Homer erzählt, ermahnt die Zuhörer, ihre eigenen Handlungen in den heroischen Taten und in den Fehlern ihrer Vorfahren zu überdenken. Die erzählte Geschichte ist keine Rekonstruktion der Vergangenheit, sondern die sinnvolle Anknüpfung der Gegenwart an einen gemein-

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THEORIE UND KRITIK

samen Erfahrungshorizont, vor dem gegenwärtiges Handeln kritisch reflektiert wird. Nussbaum entwirft ihre politische Theorie zwar nicht explizit als eine Variante von Gesellschaftskritik, wie dies Arendt und Walzer tun, aber in dem öffentlichen Bildungscharakter der dramatischen Performance ist das Modell einer Public Philosophy angelegt, die tradierte Handlungsmaximen, lokale Werte und Normen kritisch reflektiert. In der Betonung des öffentlichen Charakters und der gesellschaftlichen Funktion von politischer Theorie setzen die Autoren jedoch unterschiedliche Akzente. Walzer entwickelt eine dialogische Praxis von Gesellschaftskritik, die gleichermaßen Vorbild wie Ausdruck gesellschaftlicher Auseinandersetzung ist. Diese Auffassung, daß nämlich Theorie als Kritik bereits Praxis ist, teilt Arendt nicht. Die kritische Reflexion von Erfahrungen gehört mit zu jenen Bedingungen, die politisches Handeln ermöglichen, ist aber von diesem über den retrospektiven Charakter unterschieden und hat zudem neben der kritischen eine kompensatorische Funktion. Der Umgang mit Kontingenz ist ein tragendes Element der narrativistischen Wendungen politischer Theorien. Das gilt auch für Nussbaum, die systematischer als Arendt und Walzer die gleichermaßen irritierende wie handlungsmotivierende Rolle von Gefühlen und Leidenschaften akzentuiert. Dabei ist sie an einer grundsätzlichen moralphilosophischen Rehabilitierung der Gefühle interessiert und zwar dergestalt, daß sie diesen eine kognitive, das gute menschliche Handeln unterstützende Funktion zuweist. Insbesondere in Poetic Justice und Love 's Knowledge untersucht Nussbaum, wie das Vertiefen in Erzählungen und Romane und die Lebenswelten ihrer Protagonisten ethische Einsichten vermittelt und Empfindungen formt. Ihre Untersuchungen des Zusammenhangs von Ethik und Literatur lassen sich durchaus als Weiterführung der Arendtschen These lesen, dass Erzählungen eine für das politische Handeln elementare Fähigkeit ausbilden helfen: die Urteilskraft, die als Vermögen ausgezeichnet wird, sich die Multiperspektivität der Welt zu vergegenwärtigen und sich eine Meinung zu bilden, die die anderen Standpunkte im politischen Raum berücksichtigt. Indem Nussbaum emotionale und affektive Dimensionen des Perspektivenwechsels betont, lotet sie nicht nur Ressourcen solidarischen Handelns aus, sondern knüpft weitaus stärker als Arendt und Walzer den praktischen Erfolg ihrer universalistischen Tugendethik an die unterstützende Leistung literarischer Imagination: „Es gibt eine Art von Imagination, die sich im Akt des Lesens von Romanen entwickelt und die ein sehr wichtiger Bestandteil des guten staatsbürgerlichen Denkens ist." (GGL: 139) Arendt und Walzer teilen Nussbaums Wertschätzung von Literatur. Auch sie betonen den partikularen, auf besondere Lebensgeschichten und Erfahrungen bezogenen, Charakter literarischer Reflexion. Sie gehen zwar nicht so weit zu behaupten, Erfahrungen ließen sich nur narrativ angemessen deuten, aber sie sind durchaus der Auffassung, daß mit steigendem Abstraktionsniveau und Systematisierungsanspruch ein Erfahrungsverlust verbunden ist, der theorieimmanent nur schwer zu kompensieren ist. Insbesondere die affektive und emotionale Dimension von Erfahrungen ist aus Sicht der Autoren auf der Ebene theoretischer Verallgemeinerung nicht bzw. nur in Grenzen explizierbar.

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Darüber hinaus ist mit dem Anspruch, Public Philosophy zu betreiben, das Erfordernis verbunden, den Erfahrungshintergrund des angesprochenen Publikums, einschließlich der emotionalen Aspekte, zu bedienen. In Anerkennung der Grenzen praktischer Vermittelbarkeit von Theorie setzt Nussbaum auf die unterstützende Leistung von Literatur und Dichtung. Narrationen kommt die Funktion zu, einer allgemeinen Theorie des Guten die über sekundäre Erfahrungen vermittelte emotionale Einsicht für eine Politik der Verteilungsgerechtigkeit zu geben, die es jedem Mitglied der Gesellschaft ermöglicht, sich für ein gutes Leben und Handeln entscheiden zu können. Arendt und Walzer schlagen insofern einen anderen Weg ein, als sie sich für die theoretische Verarbeitung von Erfahrungen und deren öffentliche Vermittelbarkeit den narrativen Darstellungsmodus selbst zu eigen machen: Sie argumentieren sehr stark beispielbezogen und favorisieren eine emotionsgeladene, eher poetisch denn akademische Sprache, vor allem aber wird das Erzählen zu einem klar erkennbaren und sich durchziehenden Darstellungsprinzip. In Exodus und Revolution verweist Walzer explizit darauf, daß es sich um eine Nacherzählung der ExodusGeschichte im Lichte ihrer verschiedenen Interpretationen handelt, und in den Sphären der Gerechtigkeit wird die kasuistische Argumentationsstrategie in Form explikativen Geschichten-Erzählens realisiert.74 Bei Arendt wird dies noch deutlicher. Sie hat ihre politische Theorie selbst als eine Art von storytelling bezeichnet, deren Besonderheit darin besteht, daß Arendt abhängig vom Gegenstand der theoretischen Reflexion spezifische Modi des Erzählens wählt: fragmentarische Historiographie in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, das homerische Modell der klassischen Erzählung im Revolutionsbuch und eine Verfallsgeschichte des öffentlich-politischen Raumes in Vita Activa.

Eine Theorie der Enttäuschungsverarbeitung Der vornehmliche Gegenstand von Arendts politischem Denken sind Krisensituationen und damit verbunden Enttäuschungserfahrungen. Das Totalitarismusbuch erzählt den Niedergang des Nationalstaates und das Aufkommen der modernen Massengesellschaft 74

Von Althaus und Hartmann über die Rolle des Konzepts des Erzählens für seine politische Theorie befragt, stellt Walzer eine Analogie zwischen dem Geschichtenerzählen und der Rechtsliteratur her. Beiden sei eine auf Einzelfälle bezogene Argumentation und Anwendung eigen: „Als ich Gibt es den gerechten Krieg? schrieb [...] da hatte ich das Gefühl, daß ich so etwas wie Rechtskasuistik betreibe [...] Wenn ich nun eine Geschichte erzähle (Walzer bezieht sich hier auf Exodus und Revolution, G. S.), dann trage ich auch ein Argument vor, so daß es auch hier immer die Versuchung gibt, andere Versionen der Geschichte oder andere Versionen innerhalb der einen Geschichte zu unterdrücken. Dem kann man theoretisch nicht vorbeugen, da hilft wohl nur die Integrität oder vielleicht auch die Spielfreude der Erzählerin" (Walzer 1999b: 159 f.). Zu Walzers kasuistischer Argumentation und Darstellung vgl. auch Bluhm 1993: 1054.

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als soziale Erfahrung von Weltverlust. Die Vita Activa ist eine Verfallsgeschichte des öffentlich-politischen Raumes, das Revolutionsbuch thematisiert bei aller Wertschätzung der amerikanischen Verfassungsgebung den Verlust des revolutionären Geistes und seiner bislang einzigen Institutionalisierungsform, den Räten, und auch in ihren Porträts signalisieren bereits die Titel Menschen in finsteren Zeiten oder Die verborgene Tradition das tragische Scheitern der Porträtierten. Die in der Krisenmetaphorik betonte tragische Struktur menschlichen Lebens betrifft in besonderer Weise das politische Handeln, das daher auch als flüchtigste Tätigkeit bezeichnet wird. „Notre héritage n'est précédé d'aucun testament" - diesen Satz von René Char hat Arendt ihrem Schlußkapitel über „Tradition und Geist der Revolution" vorangestellt. Am Ende ihres Revolutionsbuches kommt sie auf diesen modernen Dichter der Résistance zurück. Sie zitiert ihn mit einem Satz, der im letzten Kriegsjahr geschrieben eine Verlusterfahrung antizipiert: „Ich weiß, daß, wenn ich überleben sollte, mich der Duft dieser entscheidenden Jahre wieder verlassen wird, daß ich schweigend meinen Schatz werde zurückweisen (nicht unterdrücken) müssen." (ÜR: 361) Der Schatz wird bei Arendt zur prominenten Metapher für die Erfahrung politischer Freiheit. Die Rede von politischer Freiheit als einem „Schatz" hat dabei mindestens drei Implikationen: Erstens ist damit bereits gesagt, daß es sich hier um eine besonders wertvolle menschliche Erfahrung handelt, die aber - und das ist der zweite Punkt - offensichtlich nicht oder nur schwer auf Dauer zu stellen ist; drittens schließlich kann diese Erfahrung nicht nur dadurch verlorengehen, daß ihre Wiederholung verunmöglicht wird, sie kann auch schlicht vergessen werden, was durch den Verweis auf das nichtvorhandene Testament ausgedrückt ist. Diese drei Implikationen sind konstitutiv für Arendts politisches Denken. Danach liegt das Ausgezeichnete politischen Handelns in seiner expressiv-kreativen Dimension, zu deren Entfaltung es allerdings eines öffentlichen Raumes bedarf, der grundsätzlich prekär ist. Die Öffentlichkeit, die zugleich immer auch die Qualität eines Erscheinungraumes hat, wird allein durch gemeinschaftliches Handeln konstitutiert und stabilisiert. Gelingt dies nicht, gehen die Bedingungen der Möglichkeit für politische Erfahrungen verloren. Daher stellt Arendt dem öffentlich-politischen Raum einen Erinnerungsraum zur Seite, der in der Tradierung vergangener Erfahrungen ideelle Ressourcen für politisches Handeln enthält. In dieser mnemotischen Dimension des Politischen, die tradierten Handlungsmustern großes Gewicht beimißt, liegt aus Arendts Sicht der entscheidende Beitrag von politischer Theorie für politische Praxis, die daher, wie ich es nennen möchte, als eine „narrative Theorie der Enttäuschungsverarbeitung" entworfen wird. Eine narrative Theorie der Enttäuschungserfahrung unterscheidet sich von Mythen und politischen Weltbildern dadurch, daß sie Kontingenz zwar auch reduziert, aber vor allem ihre Unvermeidlichkeit thematisiert. Dazu bedarf es zunächst einer systematischen Freilegung der dem politischen Handeln inhärenten Enttäuschungsstruktur. Dies hat Arendt in Vita Activa realisiert und später im Revolutionsbuch exemplifiziert. So-

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dann müssen Bedingungen der Möglichkeit der Kompensation eruiert werden. Arendt unterscheidet hier zwischen der menschlichen Fähigkeit zu verzeihen als subjektiver Voraussetzung und historischen Narrationen, die in der Tradierung politischer Erfahrungen die kulturelle Bedingung für einen kollektiven Diskurs der Enttäuschungsverarbeitung bereitstellen. Schließlich muß die Kompensationsleistung, die von politischer Theorie zu erbringen ist, genauer geklärt werden, insbesondere dann, wenn wie bei Arendt neben dem Kompensationsangebot eine kritische Reflexion politischer Praxis intendiert ist. Die Fragilität politischen Handelns75 In Vita Activa hatte Arendt dem Handeln einen Sonderstatus gegenüber dem Arbeiten und dem Herstellen zugesprochen. Allein im Handeln, nämlich in kommunikativer Auseinandersetzung mit anderen, so ihre Argumentation, erfahren sich Menschen als einzigartige Wesen, die qua Natur eine besondere Begabung besitzen. Diese ausgezeichnete Fähigkeit nennt Arendt das Einen-Anfang-Machen-Können: „Initium ut esset, creatus est homo - ,damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen', sagt Augustin. Dieser Anfang ist immer und überall da und bereit. Seine Kontinuität kann nicht druchbrochen werden, denn sie ist garantiert durch die Geburt eines jeden Menschen." (ET: 730)

Damit aus der natürlichen Begabung die politische Möglichkeit eines Neuanfangs wird, bedarf es eines geschützten Bereiches, eines öffentlich-politischen Raumes, in dem Menschen Erfahrungen von Einzigartigkeit und Pluralität überhaupt machen können. In der Angewiesenheit des Handelns auf einen künstlich zu schaffenden Ort liegt bereits ein Teil seiner grundsätzlichen Fragilität, hinzu kommt das, was Arendt die Aporien politischen Handelns nennt. Unter der Voraussetzung, daß Handeln sich kommunikativ im Sinne eines acting in concert vollzieht, also die Pluralität der Perspektiven und Meinungen nicht herrschaftlich eingehegt werden, sondern sich zunächst ungehindert entfalten können, lassen sich Handlungsfolgen nicht in Gänze absehen. Politisch Handelnde werden mit dem Eintritt in das „Bezugsgewebe der menschlichen Angelegenheiten" (VA: 174) immer mit den Folgen politischer Entscheidungen konfrontiert sein, die sie nicht getroffen haben wie zugleich ihr Handeln Folgen haben wird, die nicht indendiert waren. Die Aporien des Handeln oder, anders gesagt, die dem Handeln inhärente Enttäuschungsstruktur kann zwar nicht aufgehoben, aber kompensiert werden: durch bindende, in die Zukunft weisende und eine gewisse Stabilität verbürgende Versprechen, die

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Die dem politischen Handeln inhärente Enttäuschungsstruktur wurde ausführlich im 2. Kapitel im Kontext von Arendts Begriff der vita activa diskutiert und wird hier daher nur in Kürze zusammenfassend skizziert. Das gilt auch für das Verzeihen als Kompensationsmodus von Enttäuschungserfahrungen, das ebenfalls dort dargestellt wurde.

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im weiteren über aktive politische Partizipation bestätigt werden - und durch beständige Reinterpretation politischer Erfahrungen im öffentlich-politischen Raum. Die Öffentlichkeit ist für Arendt daher sowohl der Raum, in dem Neues dadurch zustande kommt, daß Initiativen einzelner von anderen aufgenommen, diskutiert und in Hinblick auf gemeinsame Handlungsabsichten interpretiert werden als auch der Ort, an dem die Resultate politischen Handelns verarbeitet und in Hinblick auf gegenwärtiges und zukünftiges Handeln kommuniziert werden. Das politische Vermögen zu verzeihen findet, wiewohl es eine Qualität des öffentlich-politischen Raumes ist, in historischen Narrationen seinen Halt. Die Relevanz von in Narrationen aufgehobenen Erfahrungen für politisches Handeln hat Arendt an verschiedenen Beispielen aufgezeigt. Das für ihre mnemotische Auffassung des Politischen zentrale Beispiel ist ihr Verweis auf die ideelle Bedeutung der Homerischen Epen für die Praxis der griechischen Demokratie. Die Leistung Homers bietet zudem ein Vorbild für die Theorie der Enttäuschungsverarbeitung, weil hier die Verknüpfung von Enttäuschung, narrativer Kompensation, Kritik und interpretativer politischer Praxis besonders anschaulich wird. Wie Arendt betont, erzählt Homer in der Ilias den jahrhundertelang zurückliegenden Vernichtungskrieg so, daß die Vernichtung in der Dichtung wieder rückgängig gemacht wird (WP: 92). Damit ist ein politisch-kultureller Verstehenshorizont eröffnet, vor dem politische Praxis sich interpretativ vollzieht und zwar dergestalt, daß die Auflösung des Homerischen Heereslagers oder, anders gesagt, des öffentlichen Erscheinungraumes vor den Toren Trojas kompensiert wird durch die Institutionalisierung eines öffentlichpolitischen Raumes. Doch unter den Bedingungen der conditio humana ist dieser öffentliche Raum immer gefährdet, wie der Untergang der griechischen Polis und im Weiteren der römischen Republik zeigen. Erhalten haben sich die homerischen Erfahrungen von Handeln als Beginnen und Vollenden in den griechischen Begriffen archain und prattein und, wie Arendt betont, in Vergils Erzählung über die Gründung Roms. An sie konnten die Amerikaner anschließen, als sie für ihre eigenen Erfahrungen der Freiheit nach Orientierung suchten. Doch wiewohl Arendt den Amerikanern die Erfahrung der erfolgreichen Gründung einer modernen Republik zuschreibt, diagnostiziert sie auch hier eine Enttäuschungserfahrung, die sich bereits in einem „Formulierungsfehler" der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung andeutet und im Folgenden durch einseitige Interpretationen dieser fehlerhaften Formulierung sowie institutionelle Leerstellen der Verfassung zu dem steigert, was Arendt als ein wesentliches Moment der krisenhaften Struktur der Moderne bezeichnet hatte: nämlich die Instrumentalisierung und Funktionalisierung des öffentlich-politischen Raumes im Interesse privater Wohlfahrt. Indem Thomas Jefferson, der, wie Arendt pointiert, wegen der Leichtigkeit seiner Formulierung mit dem Entwurf der Unabhängigkeitserklärung beauftragt wurde, den Ausdruck pursuit of happiness an jene Stelle setzte, welche in der alten Formulierung der bürgerlichen Rechte „Leben, Freiheit und Eigentum" dem „Eigentum" zugefallen war, und überdies das Adjektiv

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public wegließ, wurde es möglich, das „Verfolgen des Glücks" mit dem Streben nach privatem Wohlstand gleichzusetzen (vgl. ÜR: 162ff.). Was sich nach und nach vor alle anderen Errungenschaften der Revolution setzte und schließlich die spezifisch amerikanische Ideologie bestimmte, war nicht die im 18. Jahrhundert so wichtige Erfahrung öffentlichen Glücks, sondern das unqualifizierte und, wie Arendt nicht müde wird zu betonen, das gleichermaßen sinnlose wie gefährliche Streben nach privatem Wohlstand. Daß Jefferson selbst wie auch seine Zeitgenossen unter „Glück" oder, anders gesagt, mit dem „guten Leben" nicht private Wohlfahrt und familiäre Beschaulichkeit meinten, illustriert Arendt an einem Briefwechsel zwischen Jefferson und John Adams, in dem sich die beiden alten Männer der Revolution halb ernsthaft, halb im Scherz über die Möglichkeiten eines Lebens nach dem Tode unterhalten. Jeffersons Glücksvorstellung kommt für Arendt „ganz deutlich und gleichsam naiv zum Vorschein, wenn er John Adams im Spiel souveräner Ironie zuruft: .Mögen wir uns dort Wiedersehen, in einem Kongreß, mit unseren Kollegen aus dem Altertum, und lassen sie uns hoffen, daß sie uns das Siegel anerkennender Zustimmung nicht versagen werden: »Das habt Ihr gut gemacht, Ihr guten und getreuen Diener«.' Hier gibt Jefferson im Gewände der Ironie offen zu, daß sein in Kongressen und Nationalversammlungen, in Debatten und Entwürfen, in hohen Ämtern, Reden und öffentlichen Geschäften jeglicher Art verbrachtes Leben ihm eine Art von Freude eingetragen hatte, die ihm, als er auf sie aus dem souveränen Abstand des Alters zurückblickte, wie ein Vorgeschmack der ewigen Seligkeit erschien [...]. [W]enn Jefferson hier von dem .Siegel anerkennender Zustimmung' spricht, so meint er natürlich nichts weniger als eine künftige Belohnung irdischer Tugend; er meint den Applaus, den demonstrativen Beifall, ,die Achtung der Welt', von der er in einem anderen Zusammenhang sagt, daß es eine Zeit in seinem Leben gegeben habe, in der ,in seinen Augen nichts anderes einen höheren Wert gehabt habe'." (ÜR: 168f.)

Hier werden zwei, für Arendts narrative Theorie der Enttäuschungsverarbeitung zentrale, Aspekte offensichtlich: zum einen die besondere Wertschätzung subjektiver Erfahrungen, deren Zitation keinen rein illustrativen Charakter hat, sondern zum Programm einer politischen Theorie gehört, die sich als Erfahrungswissenschaft versteht. Zur Explikation subjektiver Erfahrungen gehört auch die Betonung nicht-rationaler Elemente wie Leidenschaften und Emotionen. Zum anderen blickt Jefferson in diesem von Arendt zitierten Beispiel auf seine politische Laufbahn zurück. Erst mit dem zeitlichen Abstand des rückblickenden Betrachters wird ihm die besondere Qualität dessen bewusst, was er erlebt hatte. Verstehen als die andere Seite des Handelns fällt in der Retrospektive ein Urteil über das, was geschehen ist - und nicht über das, was sein wird. Als Verstehen, das auf Sinnstiftung und historisches Urteil zielt, hatte Arendt ihr politisches Denken bezeichnet und damit den Anspruch, politische Theorie habe konkrete Handlungsentwürfe zu unterbreiten, zurückgewiesen. Für die politische Selbstvergewisserung wird historischen Urteilen gleichwohl eine wichtige Rolle zugewiesen, stellen sie doch aus Arendts Sicht die Bezugsgrößen dar, auf die sich Akteure stützen können, wenn sie angesichts sich verändernder Situationen, politische Entscheidungen und Urteile treffen müssen, für die es keine Handlungsanleitung gibt.

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Kompensation und Kritik Arendt hat mit ihrem Revolutionsbuch eine am Homerischen Modell orientierte Erzählung von Gewinn und Verlust politischer Erfahrungen geschrieben. Der Gewinn ist die Erfahrung der Gründung einer modernen Republik. Der Verlust geht mit dieser Gründung einher. Arendts zentrale Kritik der Amerikanischen Revolution ist, daß für alles Institutionen gefunden wurden, nur nicht für den sie tragenden revolutionären Geist. Der Höhepunkt dieser aus Arendts Sicht einzig erfolgreichen Revolution ist damit zugleich auch ihr zur Katharsis gesteigerter Wendepunkt. Die Amerikanische Revolution hat nicht nur narrativ versagt, indem sie keinen Begriff für das gefunden hatte, was Arendt als die die Revolution tragenden Leidenschaften für Freiheit und öffentliches Glück bezeichnet hatte, sie hat auch institutionell versagt. Die Verfassung bietet keine Raum für die in den kommunalen Rätebewegungen repräsentierte Lust auf Erneuerung und initiatives Handeln. Neben ihrer Kritik an der in der Praxis so wirksam gewordenen amerikanischen Ideologie privaten Wohlstandsstreben hat Arendt noch eine andere Geschichte erzählt. Zu berichten bleibt nicht nur - und auch darin folgt Arendt dem homerischen Vorbild einer sinnstiftenden Erzählung - die Degenerierung dessen, was in Amerika mal politische Freiheit bedeutet hatte, sondern die vergessene Geschichte der Räte, jener revolutionären Institutionen, die bereits für den Verlauf der Amerikanischen Revolution entscheidend waren und seitdem in allen Revolutionen wieder entstehen. Anders als Tocqueville, auf den Arendt wiederholt rekurriert, wenn sie die Bedeutung lokaler Selbstverwaltung und vermittelnder Institutionen für das Gelingen der Amerikanischen Revolution hervorhebt, argumentiert sie trotz ihrer Verweise auf die bereits seit den Anfängen der Kolonisierung vorhandenen und gelebten Erfahrungen politischer Selbstregierung nicht strukturgeschichtlich. Anstatt die politische Neuerung angesichts eben dieser strukturellen Rahmenbedingungen zu diskutieren, betont Arendt die zentrale Rolle der Räte (vgl. Bluhm 2001b: 87). Wohl wissend, daß diese Institutionen immer nur flüchtige Übergangsphänomene darstellten und im großen Zweifel, ob eine Vermittlung von Stabilität und Dauerhaftigkeit, wie sie die Verfassung verbürgt, und der Freiheit initiativen und in diesem Sinne radikalen politischen Handelns überhaupt gelingen kann, werden die Räte zum „uralten Schatz" des Politischen erklärt, der für Momente erscheint und für lange Zeit wieder verschwindet (ÜR: 361f.). Wie Homer in der Ilias den jahrhundertelang zurückliegenden Vernichtungskrieg so erzählt, daß die Vernichtung in der Dichtung wieder rückgängig gemacht wird, so erzählt Arendt die Geschichte der Revolutionen als Geschichte der von der Geschichte zum Untergang verurteilten Räte. Sie werden für Arendt zu ausgezeichneten Institutionen, die allein dem initiativen und kreativen Moment politischen Handelns Rechnung tragen. Der Arendt oftmals attestierte Hang zur historischen Rarität läßt sich vor diesem Hintergrund produktiv wenden, nämlich dergestalt, daß Kritik als Wiedererinnerung an exemplarische politische Erfahrungen - die griechische Erfahrung von der Schaffung

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eines gewaltfreien politischen Raumes, die römische und die moderne amerikanische Erfahrung der Gründung einer Republik und die Räte schließlich als revolutionäre Erfahrungen genuin politischen Handelns - die praxisbezogene Therapie ist, die politische Theorie leisten kann. Damit ist der Anspruch verknüpft, daß im Kompensationsangebot enthaltene Krisendiagnose und Kritik ein zeitgenössisches Publikum erreichen. Eine narrativistische Theorie der Enttäuschungsverarbeitung zielt auf öffentliche Mitteilbarkeit und will Reaktionen provozieren. Verlangt bereits der erfahrungswissenschaftliche Anspruch eine die subjektive und nicht-kognitivistische Dimension von Erfahrungen einbeziehende Präsentationsform, so gilt dies in besonderer Weise für die intendierte allgemeinere Wirkung. Die moralisch expressive sprachliche Darstellung wird von Arendt als ein wesentliches Mittel des politischen und historischen Urteils auch über den Kontext der Totalitarismusanalyse hinaus eingesetzt, wobei für sie evident ist, daß über eine leidenschaftliche Sprache auch Werturteile transportiert werden.76 Eine narrative Theorie der Enttäuschungsverarbeitung, die auf öffentliche Wirkung abzielt, macht sich das „kathartische Moment" von Dichtung zueigen. Wieder mit Rekurs auf Homer schreibt Arendt: „Geschichte als Kategorie menschlichen Daseins ist natürlich älter als das geschriebene Wort, älter als Herodot, älter selbst als Homer. Nicht chronologisch und überhaupt nicht historisch, aber gleichsam metaphorisch könnte man ihren Beginn vielleicht in die Szene verlegen, da Odysseus am Hofe des Phäakenkönigs der Geschichte seiner eigenen Taten und Leiden zuhört, der Geschichte seines Lebens, die ihm hier als ein Ding, ein Stoff außerhalb seiner selbst, entgegentritt, als etwas, das jeder sehen und hören kann. Was bloßes Geschehen gewesen war, ist zur Geschichte geworden. [...] Jedenfalls ist der Augenblick, da Odysseus dem Bericht seines eigenen Lebens lauscht, maßgeblich für Dichtung wie Geschichte. Hier trug sich zum ersten Mal die Katharsis zu, die nach Aristoteles das Wesen der Tragödie ausmacht, oder die .Versöhnung mit der Wirklichkeit', die nach Hegel das Wesen der Geschichte ist. Und sie trug sich zu in den Tränen der Erinnerung. [...] Bestünde Geschichte in nichts anderem als interessanten Nachrichten und wäre Dichtung vorwiegend zur Unterhaltung da, so wäre Odysseus nicht erschüttert, sondern gelangweilt gewesen." (Arendt 1994b: 61f.)

76 Lisa Dish zufolge verwendet Arendt das Mittel einer moralisch expressiven sprachlichen Darstellung vor allem zur Beschreibung der Konzentrationslager, die zum schwierigsten Teil der Analyse der totalen Herrschaft werden. Ausdruck der Unmöglichkeit, etwas zu beschreiben und zu verstehen, was dem „gesunden Menschenverstand" derart zuwiderläuft, ist Arendts Kategorisierung der Lager durch Oxymorone, wie „Auslöschungsfabriken" und „Todesfabriken" für die „Fabrikation von Leichen". Die direkte Gegenüberstellung von Gegenteilen - Produktion und Auslöschung richtet nach Dish die Aufmerksamkeit auf den Fakt, daß das beschriebene Phänomen vernünftig nicht zu erklären ist. Indem Arendt die Absurdität der Lager dramatisiert und sie als „Fabriken" bezeichnet, die nur existieren, um Tod zu produzieren, wird bereits sprachlich die Analogie zum Massenmord widerlegt. Während der Massenmord nur quantitativ ohne Vorläufer ist, ist die systematische Zerstörung der Individualität durch die Produktion von Leichen - toten und lebendigen - unvergleichbar und mit existierenden Verbrechenskategorien nicht zu erfassen (Dish 1993: 674f.).

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Gefühle und Leidenschaften besitzen insofern eine kognitive Funktion, als sie Lernprozesse auslösen und (selbst-)kritische Reflexionen initiieren können. Indem die griechische Dichtung den Widerstreit verschiedener Leidenschaften vorführt wie überhaupt den Menschen als ein Wesen vorstellt, das vor dem Hintergrund konfligierender Leidenschaften und Verpflichtungen handelt und Entscheidungen trifft, ist sie in ausgezeichneter Weise anschlussfähig für ein „kathartisches Rationalitätsverständnis", dem Arendt zuneigt. Diesen Begriff verwendet Thomas Gutschker in seiner Studie Aristotelische Diskurse für Nussbaums Verknüpfung von Vernunft mit Emotion, Imagination und Identifikation. Er schreibt: „Der mit dem tragischen Helden leidende Zuschauer verläßt das Theater mit einer vertieften Einsicht in die conditio humana, der er nicht anders als die tragischen Protagonisten unterliegt." (Gutschker 2002: 418) Die herausragende Rolle von Literatur und Dichtung für die Formung einer selbstreflexiven politischen und ethischen Praxis - gerade in den das Verstehen stützenden emotionalen Effekten - betont auch Arendt. Ein besonders prägnantes Beispiel für den Stellenwert, den sie poetischer Sprache und damit verbunden literarischen Quellen für die politikwissenschaftliche Analyse beimißt, ist ihre Darstellung der rassenideologisch inspirierten und gesetzlosen Vernichtung der afrikanischen Stämme im Kongo und in Südafrika. Für die Veranschaulichung des „scramble for africa" stützt sie sich fast ausschließlich auf Joseph Conrads Erzählung Das Herz der Finsternis. Die interessante Wendung aber ist, daß Arendt in der Rezeption von Kants Konzept des sensus communis neben der Betonung der intuitiven und emotionalen Dimension des Verstehens, den Akt des Urteilens selbst als eine intellektuelle Tätigkeit faßt, die sich von Emotionen befreit hat und Sympathie - als eine Form emotionaler Identifikation oder Einfühlung in den Standpunkt eines anderen - ablehnt. Vom sensus communis als einem Beurteilungsvermögen zu sprechen, das sich den multiperspektivischen Charakter der Welt in Gedanken repräsentiert, macht für Arendt nur dann Sinn, wenn darunter das genaue Gegenteil von Identifikation verstanden wird. Die zentrale Stelle bei Kants Überlegungen zum Geschmacksurteil, an die Arendt hier anschließt, ist die über den „Mann von erweiterter Denkungsart", der sich in die Lage bringt, aus einem allgemeinen Standpunkt über sein eigenes Urteil zu reflektieren (Kant 1996: Β 159; vgl. Gutschker 2002: 172). Ob das Vermögen der erweiterten Denkungsart in eine allgemeine Handlungskompetenz überführt werden kann, bleibt bei Arendt offen. In der unvollendeten Triologie Vom Leben des Geistes wird es als eine Qualität des denkenden und nicht des handelnden Menschen gefaßt. Motiviert ist diese Hinwendung zu einem eher ästhetischen als politischen Vermögen der erweiterten Denkungsart, das ja auf eine Erweiterung nicht nur tatsächlicher, sondern vor allem imaginierter Perspektiven gerichtet ist und sogar als Distanzierung von in der Diskussion befindlichen Meinungen entworfen wird, durch Arendts große Skepsis gegenüber dem Konformitätsdruck, der von der „öffentlichen Meinung" ausgehen kann. Politisch ist ein solches eher poetisches Denken vor allem in Krisensituationen, in denen Orientierungsmarken für den gesunden Menschenverstand verlorengegangen sind. Aber poli-

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tisch ist es auch hier nur in Form von Krisendiagnose und Kritik, konkrete Handlungsanweisungen und praktikable politische Vorschläge sind damit nicht verbunden. Eine derart distanzierte Aufassung von Gesellschaftskritik hält Walzer in spezifischer Weise für politikfremd. „Kritisch gegenüber der Moderne, populistischen Tendenzen, der Massengesellschaft, der Bürokratie, Wissenschaft und Technik, dem Wohlfahrtsstaat und allem anderen, was da in Erscheinung tritt" (ZE: 310), löst es mehr Irritationen aus als daß es Effekte erzielt. Um politische Effekte zu erzielen, bedarf es aus seiner Sicht einer immanenten Gesellschaftskritik, die konkrete Handlungsvorschläge unterbreitet.

Immanente Gesellschaftskritik: Moral und Interpretation Im Vorwort zu den Sphären der Gerechtigkeit schreibt Walzer: „Gerechtigkeit und Gleichheit können möglicherweise als philosophische Artefakte entwickelt werden, für eine gerechte oder eine egalitäre Gesellschaft gilt dies jedoch meiner Ansicht nach nicht. Wenn eine solche Gesellschaft - wenn auch verborgen und versteckt in unseren Konzepten und Kategorien - nicht bereits existierte, dann könnten wir sie auch in Zukunft niemals konkret ausformen und verwirklichen." (SG: 20)

Dem Anspruch, die normativen Maßstäbe für eine Theorie der Gerechtigkeit aus der gesellschaftlichen Praxis selbst zu gewinnen, unterliegt eine entscheidende methodische Annahme: daß nämlich die soziale Welt und die moralische Welt mehr oder weniger kohärent aufeinander bezogen sind oder, anders gesagt, daß den alltäglichen Praktiken von Mitgliedern einer Gesellschaft geteilte moralische Überzeugungen und Normen inhärent sind, die in der Interpretation dieser Praktiken rekonstruiert und entschlüsselt werden können. Sein in den Sphären der Gerechtigkeit entworfenes Bild der amerikanischen Gesellschaft versteht Walzer als kritische Interpretation der institutionellen Grundlagen, politischen Traditionen und gesellschaftlichen Praxen. Auf den Begriff der „komplexen Gleichheit" gebracht wird diese Interpretation zum kritischen Maßstab, an dem gegenwärtige soziale und politische Praxis bemessen wird.77 77

Der Einwand, der am häufigsten gegen Walzers politische Theorie vorgebracht wird, betrifft im Kern nicht den substantiellen Gehalt, sondern gerade deren methodische Begründung. Es ist unmöglich, so die Kritik, eine Norm aus einem Faktum abzuleiten. Dieser Vorwurf läßt sich auf zweierlei Weise ausbuchstabieren: Entweder man überführt Walzer eines normativen Universalismus, der nicht expliziert wird. Dies ist die Strategie von Ronald Dworkin und Rainer Forst. So ist Walzers „inklusives Staatsbürgerschaftsrecht" für Forst ein Beispiel für die externe Begründungsleistung normativer Vorgaben. Er folgt darin der Kritik von Dworkin, der Walzers methodische Reflexionen im ganzen für falsch hält, weil er in Ermangelung wirklich geteilter gemeinsamer Werte und Bedeutungen seine selbst entworfene Sphärentheorie auf die Gesellschaft projiziert (Forst 1996: 229f.). Eine andere, konträre Kritik liefert Joshua Cohen. Er etikettiert Walzers

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In Kritik und Gemeinsinn grenzt Walzer den von ihm beschrittenen „Pfad der Interpretation" von zwei weiteren paradigmatischen Modellen innerhalb der Moralphilosophie und Sozialkritik ab, die er als Pfade der „Entdeckung" bzw. „Erfindung" bezeichnet. Dabei ist ihm weniger an meta-theoretischen Überlegungen gelegen. Sein Anliegen ist vielmehr, einen philosophischen Rahmen für das Verständnis von „Gesellschaftskritik als einer gesellschaftlichen Praxis" zu liefern und dabei die für die eigene Tätigkeit entscheidenenden Fragen zu beantworten: Was tun Gesellschaftskritiker, woher kommen ihre Prinzipien und wie stellen sie Distanz zum Gegenstand der Kritik her (Walzer 1993: 7). Diese selbstreflexive Betrachtung der eigenen Rolle als Gesellschaftskritiker wird verbunden mit der Suche nach dem gesellschaftlichen Ort von politischer Theorie: „Gesellschaftskritiker sind Individuen, aber sie sind ebenso - wenigstens in den allermeisten Fällen - auch Mitglieder der Gesellschaften, die sie kritisieren; und sie reden in der Öffentlichkeit zu anderen Gesellschaftsmitgliedern, die ihrerseits am Gespräch teilnehmen und deren Rede eine kollektive Reflexion auf die Bedingungen kollektiven Zusammenlebens darstellt." (PG: 45)

Während der Zusatz „Gesellschafts-" eine „pronominale" und eine „reflexive" Funktion hat, weil er sowohl den Gegenstand der kritischen Reflexion wie das Subjekt der Betrachtung selbst kennzeichnet, zielt die Rede von Gesellschaftskritik als einer „gesellschaftlichen Tätigkeit" auf deren gemeinschaftlichen Charakter und deren öffentliche Ausübung. Für Walzer sind Moralphilosophie und Sozialkritik keine Tätigkeiten, die nur privilegierten Experten zustünden. Die kritische Reflexion des eigenen Standpunktes wie der anderen in der gesellschaftlichen Debatte virulenten Auffassungen ist eine für politisches Handeln und politische Entscheidungen notwendige Fähigkeit, die allerdings nur in der öffentlichen Auseinandersetzung erlernt wird. Allein in der Öffentlichkeit gibt es gewissermaßen den Zwang, für die eigenen Argumente zu werben. Diesem Zwang unterliegen auch professionelle Kritiker, wenngleich zwei der von Walzer modellierten Kritikertypen sich dem über metaphysische oder rationalistische Konstruktionen zu entziehen suchen. Geteilte Überzeugungen Walzer entwickelt sein narrativistisches Modell interpretativer Moralphilosophie zunächst als Kritik an Varianten „entdeckender" und „erfindender" Moralphilosophie. Zu ersteren zählt er neben göttlichen Offenbarungsvorstellungen vor allem naturrechtliche und geschichtsphilosophische Begründungsansätze. Deren kritische Kraft hegt in der radikalen Infragestellung überlieferter Vorstellungen und Praktiken. Denn das Aufstellen eines göttlichen bzw. universalen Normen- und Handlungskatalogs macht nur Sinn,

relativistische Begründung distributiver Gerechtigkeit als strukturkonservativen Partikularismus, der die praktische Vernunft in die Grenzen einer Common-Sense-Moral zwingen will (Cohen 1993: 1019).

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wenn sich dieser hinreichend von der kritisierten Praxis unterscheidet (DWM: 12; vgl. Krause/Malowitz 1998: 107). Als „Erfindung" bezeichnet Walzer einen zweiten Typus normativer Theorie, der allein im Vertrauen auf die menschliche Vernunft eine völlig neue Welt der Moral zu konstruieren beabsichtigt. Voraussetzung eines solchen Vorhabens, für das in ausgezeichneter Weise John Rawls und Jürgen Habermas stehen, ist die methodologische Konstruktion einer idealen Situation des „was-wäre-wenn". Wofür würden Menschen sich entscheiden, wenn sie all ihren Wissens über sich, ihrer Position im gesellschaftlichen Raum, über ihre Interessen, Werte und Fähigkeiten beraubt worden sind; oder worauf würden Menschen sich verständigen, wenn sie in einer ideologisch unverzerrten Kommunikation ihr Interessenkalkül und ihre partikularistischen Beschränkungen fahren lassen? Diese ideal konstruierten Gesetzgeber würden, schreibt Walzer mit ironischer Distanz zu diesem zweiten Pfad, „diejenige moralische Welt erfinden, die existieren würde, wenn es auch ohne ihre Erfindung eine moralische Welt gäbe. Sie erschaffen das, was auch Gott erschaffen hätte, gäbe es einen Gott." (DWM: 20) Für Walzer hat die universale Moral, die über ein solches Konstruktionsverfahren entworfen wird, bereits als Voraussetzung, was überhaupt erst das Ergebnis von Gespräch, Verhandlung und Übereinkunft sein könnte, aber realistischer Weise eben nicht ist. Das tatsächliche Ergebnis ist eine konkrete, gelebte gesellschaftliche Moral, „die als Produkt von Zeit, von Zufällen, äußeren Einflüssen sowie als Ergebnis politischer Kompromisse, fehlbarer und partikularistischer Absichten" gemessen am philosophischen Ideal immer unvollkommen ist und dennoch für die Menschen, die in dieser unvollkommenen Welt leben, sich in ihr einrichten und sie auch zu verändern trachten, einen Wert darstellt (DWM: 30). Diesen Wert eines gelebten Lebens negiert die konstruierte Moral letztlich ebenso wie ihr metaphysisches Gegenstück, auch wenn sie sich dabei auf die menschliche Vernunft als regulative Idee bezieht. Gegenüber dem gleichermaßen elitären wie wirklichkeitsfremden Charakter der entdeckenden und erfindenden Modi skizziert Walzer als dritte und von ihm präferierte Methode den demokratischen Pfad der Interpretation: „Was wir tun, wenn wir moralisch argumentieren, besteht darin, eine Bestandsaufnahme der bereits existierenden Moral vorzunehmen. Und diese Moral verpflichtet uns kraft der Autorität ihres Vorhandenseins: d. h. kraft dessen, daß wir nur als die moralischen Wesen existieren, die wir nun einmal sind. Alle unsere moralischen Kategorien, Beziehungen, Verpflichtungen und Hoffnungen sind bereits von dieser existierenden Moral geformt und werden in ihrem Vokabular formuliert. [...] Die Kritik des Bestehenden beginnt - oder kann doch beginnen - mit Grundsätzen, die dem Bestehenden bereits innewohnen." (DWM: 31)

Die Maßstäbe der Kritik werden auf dem Weg der Interpretation gemeinsamer moralischer Werte begründet, die aus den Sozialpraktiken rekonstruiert werden können (vgl. DWM: 22, 31). Dabei verfolgt Walzer keine funktionalistische Identifikation von sozialen Praktiken mit moralischen Werten. Er unterstellt vielmehr, daß Moral stets einen für Macht und Herrschaft potentiell subversiven Charakter hat, insofern es bisweilen zu

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eklatanten Abweichungen sozialer Praktiken von gemeinsam geteilten moralischen Auffassungen kommen kann. Aber was Handelnde auch tun, von welchen machtstrategischen Kalkülen ihre Taten auch immer geleitet sein mögen, sie werden ihre Aktivitäten in der öffentlichen Debatte immer mit Rekurs auf ein allgemein geteiltes moralisches Verständnis zu rechtfertigen suchen: „Die von einem menschlichen Gemeinwesen geteilten Auffassungen werden [...] häufig in allgemeinen Begriffen ausgedrückt - in seinen historischen Idealen, seiner öffentlichen Rhetorik, seinen Gründungstexten, seinen Riten und Zeremonien. Nicht allein, was die Leute tun, sondern auch die Art und Weise, wie sie ihre Taten erklären und rechtfertigen, welche Geschichten sie dabei erzählen und auf welche Prinzipien sie sich dabei berufen, konstituiert eine moralische Kultur." (DWM: 39)

Der Begriff shared understandings, über den Walzer bereits sein Modell der Zivilgesellschaft und die Theorie komplexer Gerechtigkeit begründet hatte, erfährt in diesem Zusammenhang eine klarere Konturierung: Mit shared understandings sind jene Werte gemeint, auf die Menschen sich in der Öffentlichkeit berufen, wenn sie für ihre Standpunkte und Vorschläge auf breite Zustimmung abzielen. Öffentliche Unterstützung und das heißt in einer Demokratie mehrheitliche Zustimmung erfährt nach Walzer nur derjenige, dem es gelingt, „in machtvoller und plausibler Weise die Grundwerte seines Publikums" anzurufen (PGK: 103). Für einen Gesellschaftskritiker, der sich nicht über oder neben die demokratische Gesellschaft stellen will, gelten demnach dieselben Kriterien wie für jeden anderen an der politischen Debatte beteiligten Akteur. Damit hebt Walzer die klassische Unterscheidung zwischen theoretischer Beobachtung und politischem Handeln zugunsten einer demokratischen Praxis von Gesellschaftskritik auf, deren Ursprünge und exemplarische Gestalt er auf die prophetische Gesellschaftskritik zurückführt (PGK: 84). Die demokratische Praxis der Gesellschaftskritik Als entscheidendes Kennzeichen prophetischer Botschaft gilt Walzer ihr unorigineller Charakter. Ihre Wirkmächtigkeit besteht gerade nicht darin, daß sie etwas Neues, gar radikal Neues verkündet. Im Gegenteil, die Vergangenheitsform, derer sich die prophetische Kritik bedient, rekurriert auf einen gemeinsamen Kanon bereits verkündeter Normen und Werte, dessen Kenntnis beim Publikum erwartet wird und daher vorausgesetzt werden kann. Wenn Propheten im Namen dieser Werte an ihre Zuhörer appellieren, zielen sie darauf ab, Erinnerung, Wiedererkennen, Empörung, Reue hervorzurufen (PGK: 89). Während sich Empörung auf das normenverletzende Verhalten anderer bezieht, konfrontiert die auf Reue gezielte Kritik die Menschen mit ihrem eigenen Verhalten, das in Widerspruch zu einer früher akzeptierten gemeinsamen Moral steht. Über das Band der Solidarität aber sind alle, einschließlich der Kritiker, miteinander verbunden, denn es geht prophetischer Klage, wie Walzer wiederholt herausstellt, um das gemeinsame Unternehmen, und ein Ausstieg - ob in aktiver Verletzung gesellschaftlicher

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Normen oder in passiver Duldung - käme einem Verrat an dieser gemeinschaftlichen Anstrengung gleich. Diese gemeinsame Moral ist kein universales Gesetz. Sie erwächst aus einer dichten, bekannten und belebten moralischen Welt. Indem sich Propheten, wie Amos, auf eine besondere religiöse Tradition und ein besonderes Moralgesetz berufen, argumentieren sie partikularistisch: Nicht irgendein Volk soll so oder so leben, sondern dieses Volk soll auf diese Art und Weise leben ( P G K : 95). Kritik, die sich auf einen gemeinsamen Horizont moralischer Werte bezieht, ist notwendig partikularistisch, aber sie wiederholt nicht einfach die Tradition, sondern interpretiert sie im Kontext einer konkreten gesellschaftlichen Situation und sie revidiert sie auch. „Die Interpretation verpflichtet uns nicht zu einer positiven Lesart der real existierenden Moral, einer Beschreibung moralischer Tatsachen, als ob sie unserem Verstehen unmittelbar zugänglich wären. Es gibt solche moralischen Tatsachen, aber die interessantesten Teile der moralischen Welt sind nur im Prinzip Tatsachenfragen: In der Praxis müssen sie .gelesen', verdeutlicht, ausgelegt, kommentiert, erläutert und nicht bloß beschrieben werden. Wir alle sind damit beschäftigt, all diese Dinge zu tun; wir alle interpretieren die Moral, an der wir teilhaben. Das bedeutet nicht, daß die beste Interpretation aus der Summe aller anderen besteht [...]. Die beste Lesart ist nicht von anderer Art als alle anderen Lesarten - sie ist nur von besserer Qualität: sie erhellt uns das Gedicht auf schlagendere und überzeugendere Weise." (DWM: 40)

Was „ w i r " nach Walzer auf dem W e g e guter und schlechter Argumente unterscheiden können, sind starke und schwache Interpretationen, wobei „ w i r " die im weiten Sinne politische Gemeinschaft bezeichnet, die sich in einem ständigen und endlos wiederholenden öffentlichen Prozeß der Diskussion, (Re-)Interpretation und Reflexion ihrer gemeinsamen Werte in einem spezifischen politischen und gesellschaftlichen Kontext vergewissert. Einen von diesem Prozeß, der auch einer der gesellschaftlichen Veränderung von traditionellen Auffassungen ist, unabhängigen Maßstab gibt es nicht. Mit ihrem Rekurs auf die „ H o m e r i s c h e Öffentlichkeit" verpflichtet Arendt das exemplarische Urteil des Theoretikers auf die über den Gemeinsinn antizipierte Mitteilbarkeit und überantwortet darüber, ähnlich wie Walzer, dessen praktische Umsetzung der demokratischen Debatte. Sie geht jedoch keineswegs so weit, die politische Öffentlichkeit zum alleinigen Maßstab des exemplarischen Urteils zu machen. Der im dramaturgischen Handlungsmodell konzipierte normative Begriff von Öffentlichkeit ändert nichts an Arendts Mißtrauen gegenüber realer Politik. Während Arendt mit ihrem Kant entlehnten Begriff der exemplarischen Gültigkeit auf ein drittes neben Gemeinsinn und einer kommunikativ verfaßten Öffentlichkeit abzielt, will Walzer einen solchen zumindest tendenziell externen Maßstab nicht gelten lassen. Auf die Frage nach dem qualitativen Unterschied zwischen einem dominanten Demagogen, der es mittels rhetorischen Geschicks versteht, seine ganz spezielle Interpretation nicht nur als Selbstrechtfertigung heranzuziehen, sondern obendrein gesellschaftsfähig zu machen, und der „richtigen" Interpretation eines im Interesse der Gemeinschaft und ihrer Werte agierenden politischen Intellektuellen, entgegnet Walzer:

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„Ich habe meine eigene Antwort - oder vielmehr meine Nicht-Antwort - auf derartige Fragen bereits angedeutet: Solche Fragen versuchen, die moralische Diskussion ein für allemal abzubrechen, aber diese Diskussion hat kein Ende. Sie hat nur zeitweilige Endpunkte, und dies sind die Momente des moralischen Urteils." (PG: 60)

Walzers offensives Eingeständnis eines schwach hermeneutischen Konzepts interpretierender Moralphilosophie ist zunächst theoretisch wie politisch unbefriedigend, weil er systematisch nicht wirklich zu klären vermag, warum es wertvoll sein sollte, an bestimmten traditionellen Werten festzuhalten und an anderen nicht. Der gegenüber dem Kommunitarismus erhobene Konservatismusvorwurf, über die narrative Aneignung der Tradition würde die moralische Welt der radikalen Kontingenz unterstellt, trifft auf Walzer indes nicht zu. Die Genese moralischer Werte wird bei ihm in einem Modell partizipatorischer Demokratie verankert, in dem die Vergangenheit Gegenstand interpretierender politischer Praxis ist, die wie der von ihm privilegierte Modus der Gesellschaftskritik „dialogisch und egalitär" konzipiert ist (vgl. Buchstein/SchmalzBruns 1992: 385). Die Tradition wird ausdrücklich für vielfältige Formen ihrer Interpretation geöffnet, von denen diejenige des professionellen Kritikers nur eine darstellt. Diese muß sich wie alle anderen Vorschläge in der gesellschaftlichen Debatte der Rezipienten bewähren. Die Zuhörer oder Leser aber sind kein passives Publikum, das von Experten belehrt und von Berufspolitikern geleitet werden müßte, sondern zur kritischen Reflexion befähigte Akteure. Die Frage, was das gute Leben sei und wie es zu verwirklichen ist, läßt sich für Walzer nicht abschließend beantworten, wohl aber lassen sich die Formen für die Diskussion über eine gerechte gesellschaftliche Ordnung auszeichnen. Die selbstreflexive und kommunikative Praxis interpretativer Gesellschaftskritik selbst wird zum Paradigma der gesellschaftlichen Auseinandersetzung über moralische Werte und Normen: „Es ist die Praxis, nicht die Botschaft, die wiederholt werden würde. Leser könnten lernen, Gesellschaftskritiker zu sein; die Kritik wäre jedoch ihre eigene." (PGK: 106) In der direkten Vermittlung von Theorie und Praxis unterläuft Walzer nicht nur die klassische Unterscheidung zwischen Beobachter- und Teilnehmerperspektive, vielmehr wird die konkrete Ausgestaltung einer gerechten gesellschaftlichen Ordnung an das Recht und die Pflicht der Bürgerinnen und Bürger gebunden, daran aktiv teilzunehmen. Der Theoretiker bildet da keine Ausnahme. In seinem Modell partizipatorischer Demokratie wendet sich Walzer gleichermaßen gegen eine „Zuschauertheorie des Erkennens" wie gegen eine „Zuschauerdemokratie" und mithin gegen die Autorität einer „intellektuellen Aristokratie" oder politischen Avantgarde.78 Die implizite Aufnahme der theore-

78 Gegen eine „Zuschauertheorie" des Erkennens wendet John Dewey ein, daß „Erkennen nicht der Akt eines außenstehenden Beobachters ist, sondern der eines Teilnehmers auf dem natürlichen und sozialen Schauplatz" und daß demnach der „wahre Gegenstand der Erkenntnis in den Konsequenzen einer gelenkten Handlung" liegt (Dewey 1998: 197; vgl. auch Dewey 1996: 23f.).

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tischen Tradition des amerikanischen Pragmatismus erfolgt mit Rekurs auf ursprüngliche Gehalte von Politik. Neben dem Bezug auf die demokratisch-pluralistische Praxis prophetischer Gesellschaftskritik wird der Bundesschluß am Berg Sinai zum paradigmatischen Modell politischen Handeln. In seiner republikanischen Interpretation werden die Israeliten erst durch den Bund zu einem „Volk" mit gemeinsamer Tradition und Geschichte. Grundsätzliche Prinzipien des Zusammenlebens sind im Bund festgeschrieben, als deren Kern Walzer die Prinzipien der gegenseitigen Verantwortung für das Gemeinwesen und der wechselseitigen Anerkennung als gleichberechtigte Mitglieder auszeichnet. Beide Prinzipien nimmt Walzer auf und verbindet sie mit der grundsätzlich egalitären und dialogischen Praxis prophetischer Gesellschaftskritik. Über die als dialogische Praxis entworfene interpretative Moralphilosophie will Walzer einen demokratischen Weg eröffnen, über den die kollektive Identität, die ursprünglich im Gründungsvertrag einer politischen Gemeinschaft gestiftet wurde, unter den Bedingungen gesellschaftlicher Ausdifferenzierung und Pluralisierung revitalisiert werden kann. Die dialogisch und egalitär verfaßte Öffentlichkeit wird zum ausgezeichneten Medium der politischen Vermittlung von Differenz und Identität. Und sie ist auch der Ort, an dem politische Theorie praktisch und das heißt für Walzer konkret handlungsorientierend wird - und zwar ohne Vermittlung durch Dritte, wie er betont: „Die Leser, vermute ich, sind die wirkliche Autorität: wir bieten unsere Interpretation auf, damit sie ihr zustimmen. Aber die Sache ist nicht erledigt, wenn sie nicht zustimmen. Denn Leser sind auch Wiederleser, die ihre Meinung ändern können, und auch die Zusammensetzung der Leserschaft ändert sich; die Auseinandersetzung kann also immer wieder neu beginnen." (DWM: 41)

War Walzer in den Sphären der Gerechtigkeit noch weitaus stärker von partikularen und lokalen Interessen unterschiedlicher communities ausgegangen, deren Anerkennung er in seiner Forderung nach „komplexer Gleichheit" Geltung verschaffen wollte, liegt der Fokus in seinem demokratischen Modell einer egalitär und dialogisch konzipierten Öffentlichkeit auf den Strukturen, über die innergesellschaftliche Differenzen derart vermittelt werden können, daß die verbindenden Gemeinsamkeiten in den Unterschieden hervortreten. Der Dialog wird zur vorbildlichen politischen Praxis, in der Menschen nicht nur erfahren, daß es andere Standpunkte, Interessen und spezifische kollektive Bindungen gibt, im Dialog lernen sie darüber hinaus, sich in ihrer Unterschiedlichkeit anzuerkennen. Als dialogische und auf dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung beruhende Form der Auseinandersetzung wird Demokratie selbst zu einem Wert, der nun nicht mehr auf die Grenzen partikularen Gemeinwesen beschränkt bleibt. Walzer universalisiert seine in den Sphären der Gerechtigkeit aufgestellte Forderung nach „komplexer Gleichheit" zunächst als negative Ethik, wenn er schreibt:

Grundlegender zu Dewey und zur pragmatischen Gesellschaftstheorie vgl. Joas 1992 sowie zur kommunitaristischen Renaissance des Pragmatismus Joas 1993.

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„Wir handeln immer dann unmoralisch, wenn wir anderen Menschen den legitimen Anspruch auf das verweigern, was ich künftig die Rechte der Wiederholung nennen werde, nämlich das Recht, autonom zu handeln, und das Recht, Bindungen entsprechend einer bestimmten Auffassung vom guten Leben einzugehen. Anders gesagt, die Unmoral zeigt sich für gewöhnlich in der Weigerung, anderen dieselbe moralische Verantwortung und dieselben schöpferischen Kräfte zuzugestehen, die wir für uns selbst beanspruchen." (NW: 172f.)

Die Kunst der Differenzierung, die in Walzers immanenter Gerechtigkeitstheorie auf die Akzeptanz autonomer Handlungsbereiche innerhalb der (amerikanischen) Gesellschaft orientierte, wird sukzessive zu einer „Politik der Differenz" universalisiert. Allgemein gefaßt, ist für Walzer Politik überhaupt die Kunst, Grenzen zu ziehen und zu akzeptieren. Dieser Maßstab gilt über die amerikanische Gesellschaft hinaus zunächst für die Binnenstruktur anderer moderner Gemeinwesen: „Wo die Kunst der Trennung herrscht, treten Freiheit und Gleichheit Hand in Hand. Ja, sie laden geradezu dazu ein, für beide eine einzige Definition zu geben: Wir können sagen, eine (moderne, komplexe und differenzierte) Gesellschaft sei sowohl frei als auch gleich, wenn Erfolg in einem institutionellen Handlungsraum nicht in den Erfolg in einem anderen umgemünzt werden kann." (LKT: 48)

Die Politik der Differenz, die sich hier als allgemein-kritisches Korrektiv auf die Binnenstruktur moderner Gesellschaften bezieht, erfährt im Kontext der Beziehungen zwischen kulturell verschiedenen Gesellschaften eine weitere Universalisierung und Abstrahierung. Gerechtigkeit in einem umfassenden Sinne läßt sich so als gegenseitige Anerkennung von Menschen als handelnde und kreative Moralbildner beschreiben, was die gegenseitige Anerkennung der Unterschiede einschließt. Die ursprüngliche negative Umkehrung von Kants kategorischen Imperativ, andere Menschen so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte, wird von der Vermeidung der NichtAnerkennung gewendet zu dem positiven Prinzip der Anerkennung von Andersheit. Dieses universale Prinzip findet ebenso wie das der Anerkennung von Pluralität innerhalb demokratischer Gemeinwesen seinen Halt in praktischen Erfahrungen des Umgangs mit Anderen. Der Begriff, den Walzer hier verwendet, ist der dem Dialog verwandte Begriff der interpretativen „Wiederholung". Er bezeichnet einen empirischen Universalismus, nach dem verwandte Standards nur aus der Erfahrung gelernt werden. Dem Theoretiker fällt hier die Aufgabe zu, die Gemeinsamkeiten in den Erfahrungen zu betonen. Exodus und Revolution ist daher nicht nur eine Integrationsgeschichte, die sich an das amerikanische Publikum wendet, sondern erhebt in der Reinterpretation historisch und politisch verschiedender Erfahrungen von Unterdrückung und Befreiung im Rahmen der Exodus-Geschichte den Anspruch einer gleichermaßen übergreifenden wie zwangsläufig weniger gehaltvollen Integrationsleistung. Auf Integration zielt auch Nussbaum, wenn sie für die Ausbildung interner Fähigkeiten, wie Gerechtigkeit, Solidarität, Freigiebigkeit, Gemeinsinn, die gleichermaßen als staatsbürgerliche wie kosmopolitische Tugenden entworfen werden, auf die unterstützende und fördernde Leistung von Emotionen abhebt. Sie sieht ihre Rolle als Moralphi-

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losophin jedoch vorrangig darin, gegen die philosophische wie öffentliche Abwertung den Status von Gefühlen und Leidenschaften für gutes Handeln zu akzentuieren. Die praktische Vermittlungsleistung einer um emotionale Aspekte erweiterten Denkungsart schreibt sie weniger der Philosophie als der Dichtung und Literatur zu.

Kathartische Rationalität: Die kognitive Funktion von Gefühlen Nussbaums Ansatz einer Verknüpfung von gutem politischen Handeln mit Gefühlen ist Teil einer philosophischen und soziologischen Wiederentdeckung von Emotionen und Leidenschaften seit den 1990er Jahren.79 Sie sieht sich selbst als Vertreterin einer „positiven Mitleidstradition", die in der antiken Tragödiendichtung ihren poetischen und bei Aristoteles ihren philosophischen Ursprung hat und über Rousseau bis in die aktuellen Debatten über die Rolle von Gefühlen für solidarisches und gemeinwohlorientiertes Handeln reicht (vgl. MGN: 833ff.). Innerhalb der gegenwärtig zu beobachtenden Rehabilitierung der Gefühle als motivationale Ressourcen moralischen und politischen Handelns nimmt Nussbaum jedoch eine Sonderstellung ein. Es geht ihr weder darum, einer „emotionalen Intelligenz" das Wort zu reden, noch will sie Gefühle der Rationalität als bessere Wegweiser guten Handelns gegenüberstellen; auch beläßt sie es nicht bei der Betonung der Sozialfunktion von Emotionen. Nussbaums Interesse gilt einer prinzipiellen, moralphilosophischen Anerkennung von Gefühlen als „intelligente und differenzierende Persönlichkeitselemente, die eng mit Wahrnehmung und Urteilsvermögen zusammenhängen" (GGL: 136). Gefühle und Leidenschaften besitzen selbst eine kognitive Dimension; indem sie Lernprozesse auslösen können, sind sie Teil der praktischen Vernunft.80 79

In ihrer Studie Narrative Emotionen macht Christiane Voss für das lange Schweigen der Philosophie über die Emotionen, das erst in den letzten drei Jahrzehnten und parallel zur Entwicklung in der neueren Psychologie, Biochemie und Physiologie langsam gebrochen wird, vor allem jene tradierte Auffassung vom Menschen mitverantwortlich, „der zufolge unsere Emotionalitat implizit oder explizit - als dasjenige Element der menschlichen Natur angesehen wird, das dem rationalen Vermögen entgegenstrebt, es gar behindert und daher negiert werden sollte" (Voss 2004: 3). - Zur emotivistischen Wende in Philosophie und Soziologie gehören u.a. die Arbeiten von Agnes Heller (1980), Antonio Damasio (2003), Helga Flam (2002), Robert Frank (1992), Ronald DeSousa (1997). 80 Ähnlich wie Nussbaum hat Otfried Höffe in seinem Aufsatz Durch Leiden lernen mit Rekurs auf die griechische Tragödiendichtung die kognitive Funktion der Tragödie betont. Als „Drama der Leidenschaften" führt sie den Widerstreit verschiedener Leidenschaften vor und proviziert derart einen Lernprozess, „den der erste Tragödiendichter, Aischylos, im Agamemnon, in die Formel bringt: ,pathei mathos', durch Leiden lernen" (Höffe 2001: 333).

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KATHARTISCHE RATIONALITÄT: DIE KOGNITIVE FUNKTION VON GEFÜHLEN

Nussbaum wendet sich damit explizit gegen das Rationalitätsverständnis des ökonomischen Utilitarismus, das in ihren Augen das öffentliche Leben beherrscht. Die Fähigkeit, seine Emotionen zu unterdrücken, gilt nicht nur in der Wirtschaft als Tugend, sondern gleichermaßen im Rechtswesen und in der Politik, wo die nüchterne Abwägung dem leidenschaftlichen Kampf als normatives Ideal gegenübergestellt wird (GGL: 132). Diese rationalistische Verkürzung menschlichen Lebens schließt nicht nur viele Bereiche von Handlungsmotivationen als irrelvant aus, als die Praxis leitendes Ideal kann es nicht wirklich anstrebenswert sein. Eine Welt, aus der die Gefühle verbannt sind, schreibt Nussbaum, ist eine verarmte Welt, in der es nur noch Ich-Zustände gibt (GGL: 156). Mit ihrer grundsätzlichen moralphilosophischen Rehabilitierung der Gefühle sucht Nussbaum vier Einwände zu entkräften, die innerhalb der Philosophie gegen Gefühle vorgebracht wurden. Gegen den ersten, weit verbreiteten Einwand, Gefühle seien unreflektierte, irrationale, eruptive Energien, die weder Reflexion noch Urteilskraft ausdrücken, betont Nussbaum deren intentionalen Charakter. Im Gegensatz zu körperlichen Bedürfnissen und Trieben wie Hunger und Durst sind Gefühle eine Form der Wahrnehmung, Ausdruck dessen, wie ich etwas oder jemanden sehe. Darüber hinaus sind sie eng mit bestimmten Überzeugungen in bezug auf den jeweils betrachteten Gegenstand verbunden. So drückt Zorn die Überzeugung aus, daß jemand, der mir wichtig ist, durch das bewußte Handeln einer anderen Person Schaden genommen hat, und Mitleid erfordert die Überzeugung, daß jemand ohne eigenes Verschulden zu leiden hat. Diese Position, daß Gefühle neben nicht-kognitiven Komponenten wie Stimmungen oder wechselnde körperliche Verfassungen auf Überzeugungen beruhen, wird von Nussbaum mit Rekurs auf die antike Philosophie auch als philosophischer Minimalkonsens bezeichnet. Ein zweiter Einwand ist insbesondere von der griechischen und römischen Stoa vorgebracht worden, aber auch in der westlichen philosophischen Tradition wie in der indischen und chinesischen Philosophie zu finden. Danach sind Gefühle zwar eng mit Urteilen verbunden, aber sie beruhen auf falschen Werturteilen, „weil sie außenstehenden Personen und äußeren Ereignissen, die nicht vollständig durch die Tugend oder den rationalen Willen der Person kontrolliert werden können, einen zu großen Wert beimessen" (GGL: 138). Hier werden Selbstgenügsamkeit und Gefühle als Eingeständnis von Bedürftigkeit entgegengesetzt. Wenngleich Nussbaum den stoischen Lebensentwurf einer Austilgung aller Affekte wie Zorn, Kummer oder Mitleid ablehnt, sieht sie in der Interpretation von Gefühlen als Reaktionen bedürftiger Wesen auf eine unvollkommene Welt die tiefergreifende Frage nach den externen Bedingungen für ein gutes menschliches Leben aufgeworfen, an das sich positiv anschließen läßt. Gefühle sind dann nämlich Ausdruck der Wertschätzung äußerer Güter für ein gutes, „florierendes Leben". Der dritte Einwand richtet sich gegen die Rolle von Gefühlen bei der Meinungsbildung und behauptet eine Entgegensetzung von Gefühl und Unparteilichkeit. Danach sind Gefühle zu wenig abstrakt, wertschätzen das Besondere, das dem eigenen Nahestehende und verhindern so ein umfassenderes, distanziertes Urteil. In ihrer Kritik verweist

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Nussbaum exemplarisch auf die Erzählung von Charles Dickens Hard Times: Das Zirkusmädchen Cilchen erfährt von ihrem „utilitaristischen" Lehrer, daß in einer großen Stadt mit einer Million Einwohnern nur fünfundzwanzig auf der Straße verhungert sind. Cilchen antwortet dem Lehrer, der offensichtlich eine zufriedene Antwort darauf erwartet, daß nur so wenig gestorben sind, „daß es für diejenigen Menschen, welche Hungers gestorben sind, ebenso hart war, ob es nun eine Million oder eine Million mal eine Million Menschen gewesen seien" (GGL: 157). Gegen die utilitaristische Orientierung, die Maximierung des gesellschaftlichen Gesamtnutzens über die gerechte Behandlung des einzelnen zu stellen, besteht Nussbaum darauf, daß eine staatliche Ordnung nur dann gut genannt werden kann, wenn jedem Gesellschaftsmitglied ein gelingendes Leben möglich ist. Indem Gefühle sich auf das Besondere beziehen und ihm einen Wert beimessen, sensibilisieren sie für die Lebenssituation anderer Menschen und schulen derart die Fähigkeit zu einer komplexen Weltwahrnehmung als Quelle tugendhaften Handelns. Die kommunitaristische Betonung von Gefühlen als Motivation und soziomoralische Disposition für gemeinwohlorientiertes Handeln erfährt angesichts eines weiteren von Nussbaum angeführten Einwandes eine liberale Wendung, auch wenn der vierte Einwand dem dritten eng verwandt ist: „Gefühle sind zu sehr auf einzelne Dinge und Menschen und nicht genügend auf größere gesellschaftliche Einheiten wie beispielsweise Klassen gerichtet. Aus diesem Grund glauben viele Marxisten und andere politische Denker, daß ein von Gefühlen geleitetes Denken völlig untauglich, wenn nicht sogar schädlich für die politische Reflexion ist." (GGL: 141)

Nussbaum bestreitet nicht, daß Gefühle eine partikuläre Sicht der Dinge befördern, sie hält dies aber für deren eigentliche Stärke. In Gefühlen drückt sich eine Auffassung von Gemeinschaft aus, in der jeder einzelne einen Wert hat und nach der es unmoralisch ist, das Leben eines Menschen zugunsten einer größeren Gruppe von Menschen weniger zu achten oder es sogar im Interesse einer kollektiven Sache zu opfern. Die gebräuchliche Redensart, daß dort, wo gehobelt wird, auch Späne fallen, läßt Nussbaum nicht gelten. Indem Gefühle nicht nur die Angewiesenheit verletzlicher Menschen auf bestimmte äußere Bedingungen betonen, sondern insbesondere die wechselseitige Abhängigkeit der Menschen herausstellen, „verlangen sie auch, daß das Leben eines jeden Menschen respektiert wird und daß jeder Mensch als ein eigenes Zentrum von Erfahrungen - auch von emotionalen Erfahrungen - gesehen wird" (GGL: 159). Damit wendet sich Nussbaum gegen marxistische wie kommunitaristische Konzeptionen des guten Lebens, die dem kollektiven politischen Handeln einen vorrangigen Wert beimessen. Die starke Betonung der kognitiven Dimension von Gefühlen, deren Richtigkeit Nussbaum durch „starke Parallelen sowohl in der indischen als auch in den klassischen chinesischen Theorien sowie in zahlreichen nicht-theoretischen intuitiven Auffassungen von den Gefühlen in vielen Teilen der Welt" bestätigt sieht, läßt sich in fünf zentralen Argumenten zusammenfassen (GGL: 144). Wegen ihres intentionalen Inhalts sind Gefühle erstens intelligente Formen einer wertenden Wahrnehmung. Indem Gefühle die Bedürftigkeit bzw. Abhängigkeit des Menschen betonen, spricht sich in ihnen zweitens

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KATHAimSCHE RATIONALITÄT: Dffi KOGNITIVE FUNKTION VON GEFÜHLEN

die richtige Erkenntnis aus, daß es für ein gelingendes Leben bestimmter äußerer Bedingungen und Güter bedarf. Sie spielen daher drittens eine wichtige soziale Rolle, weil sie in ihrer identifikatorischen Dimension solidarische Einstellungen gegenüber anderen, hilfebedürftigen Menschen befördern. Viertens schulen Gefühle die praktische Urteilskraft, die Fähigkeit, angesichts konkreter Probleme und partikularer Lebensumstände Handlungsoptionen zu reflektieren und Lösungsvorschläge anzubieten. Fünftens schließlich spricht sich in der partikulären Tendenz von Gefühlen die Achtung und der Respekt gegenüber dem Wert eines jeden Menschen aus, der immer auch ein einzigartiges, besonderes, von anderen unterschiedenes Lebewesen ist. Mit diesen fünf Argumenten geht Nussbaum weit über eine moralphilosophische Kritik am Utilitarismus hinaus. Gefühle werden zum integralen Bestandteil einer tugendethischen Konzeption des Guten: „Ein Rationalitätsideal, das auch die Gefühle einschließt, ist ein Teil der Idealvorstellung von einem gedeihlichen Leben." (GGL: 164) Das aber heißt, daß Emotionen nicht nur eine wichtige Rolle im menschlichen Leben spielen, und eine erfahrungsbezogene Moraltheorie sich daran messen lassen muß, mit welcher Sensibilität sie diesem Teil des Lebens begegnet; Gefühlen wie Liebe, Fürsorge und Mitleid wird darüber hinaus eine zentrale normative Rolle für tugendhaftes Handeln zugeschrieben. In dieser Funktion bedürfen sie jedoch der Ausbildung und Schulung. Hier nun stellt Nussbaum eine wichtige Verbindung zwischen dem Ethischen und dem Ästhetisch-Narrativen her. Mythen und Geschichten werden nicht nur zu wertvollen materialen Quellen für die Rekonstruktion einer interkulturell geteilten Vorstellung von einem guten menschlichen Leben. Eine entscheidende Leistung von Literatur sieht Nussbaum in der Formung guter Gefühle, die eine selbstkritische Reflexion des eigenen Urteilens und Handelns zu befördern vermag. 81 Ethik und Literatur: Über das Mitleid Nussbaum hebt zwei Gefühle hervor, die für das menschliche Zusammenleben besonders wichtig sind: Achtung und Mitleid. Beide haben einen Begriff gemeinsamer Menschlichkeit zur Voraussetzung - mit dem Unterschied, daß sich Achtung auf den Besitz und die Ausübung bestimmter menschlicher Fähigkeiten und Kräfte richtet, während Mitleid vor allem den externen Bedingungen gilt, die die Ausbildung und Aus-

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Wie Voss argumentiert, wird in der einschlägigen Literatur der Begriff des Narrativen insbesondere dann mit Emotionen in Zusammenhang gebracht, „wenn es darum geht, ihre Aufarbeitung, Bewältigung oder auch Evokation zu beschreiben. [...] Martha Nussbaum untersucht diese Aspekte primär mit Blick auf die literarische Verarbeitung menschlicher Erfahrungen. Dabei begreift Nussbaum Emotionen als .soziale Konstrukte', die insbesondere im Medium von Geschichten erlernt und reproduziert werden. [...] In diesem Verständnis dienen die Geschichten von emotionalen Reaktionen als Medien der intersubjektiven Vermittlung normativer Lebenskonzepte." (Voss 2004: 187)

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Übung dieser Fähigkeiten hemmen oder befördern. Mit Rekurs auf Aristoteles schreibt Nussbaum: „Mitleid und Achtung richten sich nicht auf genau dasselbe Objekt: Eine Person wird geachtet für das, was er oder sie wählt, tut, kontrolliert, und sie oder er wird bemitleidet für einen besonders harten Schicksalsschlag in einem Bereich des Lebens, den er oder sie nicht kontrollierte." (MGN: 854)

Achtung und Mitleid sind mithin keine konkurrierende Gefühle, wie Nussbaum in Abgrenzung zu Friedrich Nietzsche betont, sondern kombinierbare Haltungen, die durchaus ein und derselben Person gegenüber angemessen sein können. Daß die Moralphilosophin im folgenden dem Mitleid eine größere Aufmerksamkeit zuteil werden läßt, erklärt sich zum einen aus ihrer Konzeption des Guten, die die Ausbildung und Ausübung interner Fähigkeiten an förderliche externe Bedingungen bindet. Zum anderen aber wird aus ihrer Sicht über das Mitleid die affektive Dimension moralischen Handelns stärker betont, die sich nicht gleichermaßen im abstrakten Begriff der Achtung wiederfindet. Mit Aristoteles definiert Nussbaum Mitleid als schmerzhafte Empfindung, die sich auf das Leiden anderer bezieht und auf der Überzeugung beruht, daß die eigenen Möglichkeiten denen des Leidenden ähneln. Im Mitleid artikuliert sich eine grundsätzliche Anerkennung von Menschen als verletzbare Wesen, die von Umständen abhängen, die außerhalb ihrer Kontrolle liegen. Was jedoch vorrangig als zu meisternde Schwierigkeiten gelten, ist damit noch nicht entschieden. Es lassen sich darunter äußere Dinge oder Bedingungen verstehen, die für alle Menschen so wichtig sind, daß die Gesellschaft deren Verteilung für die Bedürftigen übernehmen kann: „Indem man die Wichtigkeit dieser Dinge anerkennt, gesteht man auch zu, daß man selbst eines Tages in einer Notsituation sein könnte und arbeitet so auf eine gerechte Verteilung dieser Güter hin." (MGN: 836) In der Verknüpfung von Eigeninteresse und Gemeinwohl wird Mitleid zum ersten und entscheidenden Gefühl, zum bindenden Glied einer egalitären Gesellschaft. Die Gegenposition vertritt Nussbaum zufolge Nietzsche. Zwar anerkennt auch er die Schwierigkeiten des Lebens, nur sind damit nicht die äußeren Bedingungen gemeint, sondern der Kampf mit sich selbst, tugendhaft zu werden. Die angemessene Reaktion darauf ist gerade nicht Mitleid, sondern Gnade. In ihrem Aufsatz Mitleid und Gnade entwickelt Nussbaum die Bedeutung von Mitleid als entscheidende emotionale Disposition moralischen Handelns in Auseinandersetzung mit Nietzsche. Ausgangspunkt der Kontroverse ist der Status äußerer Güter für das gute menschliche Leben. Während die positive Mitleidstradition seit Homer davon ausgegangen ist, daß man schlecht funktioniert, wenn man hungrig ist, daß man schlecht denkt, wenn man den ganzen Tag mit körperlicher Arbeit beschäftigt ist, die nicht den ganzen Menschen beansprucht, sei Nietzsche die einfache Tatsache entgangen, daß unsere Fähigkeiten notwendig körperlich bedingt sind, weil sie körperliche Fähigkeiten sind. Auf die „eigentliche Verletzbarkeit" des Menschen, seine elementare Angewiesenheit auf für das menschliche Funktionieren zentrale Sachmittel gehe Nietz-

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sehe nicht ein - offensichtlich aus der Überzeugung heraus, so Nussbaums polemischer Kommentar, daß sogar ein Bettler ein stoischer Held sein kann (MGN: 855). Seine stoizistische Haltung zeigt sich für die Moralphilosophin auch in dem Argument, Mitleid vergrößere einfach nur die Menge des Leids, ohne irgendwelche positiven Effekte zu haben. Dagegen hat die positive Mitleidstradition überzeugend dargestellt, „daß das Empfinden von Mitleid faktisch zu Wohltaten und zur Errichtung von Gesellschaften führt, in denen es denjenigen, die am schlechtesten gestellt sind, besser geht, als es ihnen sonst ginge" (MGN: 852f.). Den Nachweis, daß dieselben Vorteile auch durch ein Kantisches oder stoisches Gefühl von Respekt für Menschlichkeit erreicht werden können, habe Nietzsche nicht erbracht. Das hinsichtlich einer moralphilosophischen Rehabilitierung der Gefühle zentrale Argument sieht Nussbaum jedoch in Nietzsches Behauptung, Mitleid sei im Grunde nicht altruistisch, sondern egoistisch. Danach stellen die Handlungen, die aus dem bemitleidenden Hineinversetzen in eine andere Person erfolgen, den Versuch dar, sich von den eigenen Schmerzen beim Anblick fremden Leidens zu befreien. Nussbaum hält dieses Argument zwar für ernstlich fehlerhaft, konzediert Nietzsche aber, einen entscheidenden Punkt getroffen zu haben: „Nietzsche bemerkt ganz richtig, daß Mitleid ein Gedankenexperiment enthält, bei dem man sich an die Stelle des anderen versetzt und sich tatsächlich vorstellt, diese Stelle könnte die eigene sein oder werden. In diesem Sinne ist die Überlegung, die im Mitleid steckt (ebenso wie die Überlegung der Parteien im Rawlsschen Naturzustand) eine Klugheitsüberlegung." (MGN: 853)

Im Unterschied zu Nietzsche besteht Nussbaum darauf, daß die aus dem Mitleid getroffenen Entscheidungen sich nicht auf ein rationales Eigeninteresse reduzieren lassen. Vielmehr ist in der Struktur der Klugheitsüberlegung ein grundlegendes Modell der Anerkennung des anderen als jemand enthalten, der ebenso zählt wie ich zähle. Der im Mitleid artikulierte Wunsch, in einer vergleichbaren Situation ebenso behandelt zu werden, läßt sich Nussbaum zufolge nicht damit vereinbaren, den anderen als Mittel für die eigene Sicherheit oder Befriedigung zu benutzen - und zumal dann nicht, wenn Menschen auch zu solchen Hilfestellungen bereit sind, die Einschränkungen für sie selbst bedeuten.82 Voraussetzung dafür ist jedoch, daß sich Menschen über ihre eigene unmittelbare Lebenssituation hinaus das Leben und Leiden anderer Menschen vorstellen können. Mitleid und daraus entstehende Handlungsweisen sind an eine bestimmte Art von Betroffenheit gebunden, denn mit dem schmerzhaften Gefühl des Mitleids wird man nur dann auf das Leiden eines anderen reagieren, wenn man sich in dem anderen wiedererkennt und man aufgrund eigener Erfahrungen verstehen kann, was etwas für eine

82 Nussbaum zielt hier auf eine Vermittlung von Eigeninteresse und gemeinwohlorientiertem Handeln, die eine einseitige Reduktion, unabhängig davon, von welcher Seite aus diese erfolgt, ausschließt.

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andere Person bedeutet. Die Riickbindung von Mitleid an die Betroffenheit hat eine Gemeinsamkeit oder Vergleichbarkeit von Erfahrungen zur Voraussetzung, die nicht unmittelbar gegeben ist. An dieser Stelle nun erlangt die literarische Imaginationskraft für Nussbaum eine entscheidende kognitive Funktion: Sie schult unsere Fähigkeit, sich mit Sympathie das Leben eines anderen vorzustellen, an ihm teilzunehmen, auch wenn wir über keine eigenen unmittelbaren Erfahrungen verfügen (TKWG: 138f.). Die entscheidende Leistung der Tragödie wie des modernen Romans sieht die Moralphilosophin folglich darin, daß der Zuschauer oder Leser die Lebenssituation eines Anderen als eine begreift, in die auch er selbst geraten könnte: „Through pity we recognize and acknowledge the importance of what has been inflicted on another human being similar to us, through no fault of his own. [...] Through attending to our responses of pity, we can hope to learn more about our own implicit view of what matters in human life, about the vulnerability of our own deepest commitments." (FG: 385)

Hier wird auf einen emotionalen Perspektivenwechsel abgestellt. Charles Dickens' Harte Zeiten bringen uns nach Nussbaum dazu, Sympathien mit den Arbeitern von Coketown und eine ordentliche Portion Wut auf die Kapitalisten zu entwickeln. Homers Dichtung fordert sowohl unser Mitleid mit dem als Bettler verkleideten Odysseus, der von dem Anführer der Freier in seinem berechtigten Wunsch nach Essen abgewiesen und von der reich gedeckten Tafel veqagt wird, als auch unsere Empörung gegenüber dem herzlosen und ungerechten Verhalten von Antinoos. Wie diese Beispiele zeigen, ist Nussbaum nicht nur an einer literarischen Erweiterung menschlicher Erfahrungswelten gelegen. Mit dem emotionalen Perspektivenwechsel ist eine bestimmte Art der Parteilichkeit verbunden. Wir empfinden Mitgefühl mit dem ungerecht Behandelten und wir empfinden Wut gegenüber dem Ungerechten. Mitleid ist für Nussbaum kein abstraktes Gefühl, das einem allgemeinen Begriff von Ungerechtigkeit gilt, es richtet sich vielmehr auf die Bedürfnisse und besonderen Umstände eines Individuums. Gefühlen und Literatur ist gemeinsam, so ihre Konklusion, daß sie zu einer partikulären, speziellen Sicht der Welt tendieren. Eine so gefühlsintensive literarische Form wie der Roman enthält implizit die Erkenntnis, „daß jeder Mensch eine eigene Lebensgeschichte hat und daß eine gute Planung darauf abzielen sollte, diese Geschichten zu verstehen, so daß jedem einzelnen Menschen die volle Ausübung seiner Fähigkeiten ermöglicht wird" (GGL: 160). Nussbaum sieht in Literatur wie in Gefühlen eine grundsätzlich liberale Auffassung von Gemeinschaft enthalten, die den Wert eines jeden Menschen respektiert und vom Leiden anderer Menschen nicht unbeeindruckt bleibt. Nun gehört zum Mitleid, wie in den exemplarischen Verweisen auf Dickens und Homer deutlich wird, noch ein komplementäres Gefühl: die Wut auf diejenigen, die andere ungerecht behandeln, indem sie ihnen die äußeren Bedingungen und Güter verweigern, die sie für sich selbst in Anspruch nehmen. Parteilichkeit erscheint hier nicht mehr nur als partikulare Wertschätzung jedes Menschen als zu schützendes, einzigartiges Wesen; Parteilichkeit wird vielmehr zur Parteinahme, die sich - politisch gesprochen - nicht nur für, sondern auch gegen jemanden wendet.

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GEMEINSINN UND ERWEITERTE DENKUNGSART

Es ist diese konfrontative Struktur, die Arendt dazu veranlaßte, Mitleid als politische Tugend abzulehnen. Im Gegensatz zur politischen Tugend der Solidarität, „die sich nicht wie das Mitleid ,zu den Schwachen hingezogen' fühlt, sondern in abwägender Freiheit von Gefühl und Leidenschaft darauf sinnt, eine von dem Wechsel der Stimmungen und Empfindungen unabhängige, dauerhafte Interessengemeinschaft mit den Unterdrückten und Ausgebeuteten zu etablieren", wendet sich das Mitleid gegen die Starken und Reichen (ÜR: 112). Die Kluft, die das Mitleid überwinden wollte, wird noch verstärkt und eskaliert letztlich in einem Prozeß der Gewalt, wie für Arendt das Beispiel der Französischen Revolution zeigt. Ihr Argument, daß Mitleid mit Wut und dem Wunsch nach Vergeltung und Rache verbunden ist - ein Argument, das auch Nietzsche gegen das Mitleid vorbringt - , wird von Nussbaum zwar erwähnt, aber nicht weiter diskutiert. Statt dessen verweist sie auf die im Mitleid implizit enthaltene moralische Überzeugung, daß es keinen Grund gibt, irgendeinem Menschen bessere Entwicklungsbedingungen einzuräumen als irgendeinem anderen. Diese eher intuitive Anerkenntnis der grundsätzlichen Gleichheit aller Menschen wird erst durch Erziehung und Praxis zu einer das ethische und politische Handeln anleitenden Tugend. Als derart „geläutertes" Gefühl geht Mitleid dann auch über die von Arendt und Walzer favorisierten genuin politischen Tugenden der Solidarität oder des Gemeinsinns hinaus. Die Beschränkung gemeinwohlorientierten Handelns auf die eigene politische Gemeinschaft hält Nussbaum für zu kurz gegriffen. Das gravierende Wohlstandsgefälle zwischen Staaten und ethnischen und politischen Gemeinschaften erfordert eine internationale Verteilungsgerechtigkeit, die mit der Forderung an jeden einzelnen verbunden ist, über den im engeren Sinne politischen Handlungskontext hinaus Verantwortung zu übernehmen.

Gemeinsinn und erweiterte Denkungsart Walzer verbindet interpretative Moralphilosophie und Gesellschaftskritik mit einem Verständnis von Gemeinsinn als auf ein konkretes politisches Gemeinwesen bezogenes Urteilen und Handeln. Mit Rekurs auf die jüdischen Propheten als vorbildliche Gesellschaftskritiker schreibt Walzer: „Der paradigmatische Auftrag der Propheten besteht darin, das Verhältnis der Menschen untereinander (und zu ,ihrem' Gott), also die innere Natur ihrer Gesellschaft zu beurteilen [...]. Die prophetische Lehre, schreibt Lindblom genauer, ,ist durch das Prinzip der Solidarität charakterisiert'. [...] Auf diese Solidarität verpflichtet, vermeiden die Propheten ebenso das Sektierertum, wie sie einen weiterreichenden Universalismus meiden. [...] Wenn sie sich an ihre Zuhörerschaft wenden, benutzen sie stets kollektive Eigennamen, die das ganze Volk einschließen - Israel, Joseph, Jakob; ihr Blickwinkel gilt stets dem Schicksal der aus dem Bundesvertrag erwachsenen Gemeinschaft als ganzer." (PGK: 94)

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Der Gemeinsinn hat hier vor allem eine staatspolitische Ausrichtung, die gleichermaßen auf die engagierte Verbundenheit des Kritikers zielt wie seine intime Kenntnis jener Werte, Überzeugungen und kulturellen Traditionen voraussetzt, die in dieser konkreten Gemeinschaft geteilt werden. Der Begriff, der Walzers Auffassung von Gemeinsinn präzisiert, ist shared understandings. Ein geteiltes Verständnis von Werten, nicht jedoch von Überzeugungen, verbindet zunächst auch Arendt mit dem Begriff des Gemeinsinns, wenn sie mit Homer auf den interpretativen Modus kritischer Reflexion besteht. Danach sei die Wirkmächtigkeit oder öffentlich-politische Anerkennung des Urteils in entscheidendem Maße davon abhängig, wie es dem Kritiker gelingt, politische und kulturelle Werte anzurufen, die von dem Publikum als eigene identifiziert werden können. Während jeoch Walzer davon ausgeht, daß es einen traditionellen Korpus gemeinsam geteilter ethischer Verbindlichkeiten gibt, der ungeachtet von Transformationen oder Deformationen nach wie vor identifizierbar ist und für die gesellschaftliche Praxis normativ handlungsanleitend zu sein vermag, unterscheidet Arendt zwischen der Normalität von Politik und Grenzsituationen. Sie entwirft daher zwei Konzeptionen von Gemeinsinn. Die erste orientiert sich an dem Aristotelischen Begriff der „Alten Klugheit". Die phronesis ist an ein wohlgeordnetes politisches Gemeinwesen gebunden, wie es für Aristoteles die athenische Polis und für Arendt die amerikanische Republik verkörpert. Die ethischen Maßstäbe politischen Handelns sind in Gesetzen und Institutionen verankert, die Dauer und Kontinuität verbürgen. Angesichts dieser „Normalität von Politik" ist die praktische Urteilskraft die politische Tugend, das Richtige im Sinne der Regeln und Maßstäbe des Gemeinwesens zu tun. Hier ist die Urteilskraft nur bestimmend und nicht reflektierend, weil sie, wie Arendt betont, das Besondere des jeweiligen Handelns unter eine allgemeine Regel subsumiert. Sie muß nicht von einem Besonderen auf ein unbestimmtes Allgemeines schließen, weil dieses Allgemeine bereits existiert: der Gemeinsinn ist in den Institutionen der Republik repräsentiert. Was aber geschieht, fragt Arendt in ihrem Aufsatz Über den Zusammenhang von Denken und Moral W. B. Yeats zitierend, wenn die Maßstäbe der politischen Tugend zerstört sind, „wenn ,die Dinge auseinanderbrechen, das Zentrum nicht hält, die reine Anarchie über die Welt losgelassen wird und es den besten an innerer Gewißheit fehlt, während die schlechtesten voll leidenschaftlicher Intensität sind'" (Arendt 1994b: 154). In solchen Grenzsituationen kommt der reflexiven Urteilskraft die politische Funktion zu, geltende ethische Handlungsmaximen zu ersetzen. Es ist vor allem die Erfahrung totalitärer Herrschaft, aus der heraus Arendt ihre grundsätzliche Skepsis gegenüber der ethisch verbindlichen Kraft tradierter Normen und Werte begründet. Im ersten Teil ihres Werkes Vom Leben des Geistes über das „Denken" schreibt sie: „Wenn das Ethische und das Moralische wirklich das ist, was die Etymologie dieser Wörter ausweist, dann sollten die mores eines Volkes ebenso leicht veränderbar sein wie seine Tischsitten. Die Leichtigkeit, mit der eine solche Veränderung unter bestimmten Bedingungen ein-

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treten kann, erweckt in der Tat den Eindruck, daß alle zu dieser Zeit (während des Nationalsozialismus, G. S.) fest geschlafen haben." (VGD: 177)

Angesichts des unhintergehbaren Faktums eines vollendeten Traditions- und Geschichtsbruchs und aufgrund eines grundsätzlichen Mißtrauens gegenüber konformistischen und manipulativen Tendenzen demokratischer Meinungsbildung grenzt Arendt ihr Urteilskonzept klar gegenüber dem traditionellen Gemeinsinn ab. Urteilen wird stärker als ein geistig-reflexives Vermögen verstanden, das sich von den in der Öffentlichkeit virulenten Meinungen und Standpunkten distanziert. Die kritische Distanzierung vom partikularen Gemeinsinn geht dabei mit der Forderung nach einem Perspektivenwechsel einher, der imaginäre Standpunkte in die Urteilsfindung mit einbezieht. Hier gibt es offensichtliche Parallelen zu Nussbaums Konzept einer literarisch erweiterten Denkungsart. Zwar geht die Moralphilosophin nicht von einem Traditionsbruch und der Erosion tradierter Überzeugungen aus, aber auch sie fordert eine philosophischpoetische Reflexion, die auf kritische Distanz zu gesellschaftlichen Normen geht. Das poetische Vermögen der erweiterten Denkungsart In ihrem Rekurs auf die griechische Tragödiendichtung hebt Nussbaum den durch den Chor repräsentierten Gemeinsinn hervor und definiert ihn zunächst als Fähigkeit zur komplexen, die Pluralität der Perspektiven aufnehmenden Sicht auf die in einem Gemeinwesen vorhandenen Werte und Normen. In Poetic Justice erweitert sie diese bisher auf die Tragödie bezogene poetische Reflexionsfähigkeit um die literarische Gattung des Romans als moderne und gegenüber der klassischen Tragödiendichtung populärere Uterarische Form. Während die Entscheidung für eine dem zeitgenössischen Publikum und seinen kulturellen Vorlieben angemessenere Gattung den Status der Tragödie als vorbildliche ethische Reflexion nicht beeinträchtigt, enthält die Bevorzugung von novels gegenüber Geschichtsschreibung und Biographien eine normative Wertung, die auf ein erweitertes Verständnis von Gemeinsinn verweist: „Why novels and not histories or biographies? My central subject is the ability to imagine what it is like to live the life of another person who might, given changes in circumstance, by oneself or one of one' loved ones. So my answer to the history question comes straight out of Aristotle. Literary art, he said, is ,more philosophical' than history, because history simply shows us .what happened', whereas works of literary art show us ,things such as might happen' in a human life. In other words, history simply records what in fact occurred, whether or not it represents a general possibility for human lives." (PJ: 5)

Romane sind keine Bestandsaufnahme historischer oder biographischer Fakten, sondern entwerfen ein Bild möglicher Situationen. Damit sind novels eine von empirischen Fakten unabhängige poetische Vorstellungskraft inhärent, die auch Arendt betont, wenn

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sie Kant zitierend den (traditionellen) Gemeinsinn vom sensus communis unterscheidet:83 „Unter dem sensus communis ... muß man die Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, d. i. eines Beurteilungsvermögens verstehen, welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes anderen in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten ... Dieses geschieht nun dadurch, daß man sein Urteil an anderer, nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß mögliche Urteile hält, und sich in die Stelle jedes anderen versetzt, indem man bloß von den Beschränkungen, die unserer eigenen Beurteilung zufällige Weise anhängen, abstrahiert..." (U: 95) Die Erweiterung des Denkens um mögliche Urteile Anderer wird von Arendt und Nussbaum nicht nur notwendig mit einer Distanzierung von wirklichen Standpunkten und Perspektiven verbunden; sie sehen in der imaginären Ausweitung die eigentlich kritische Kraft von Literatur wie von Theorie gegenüber etablierten gesellschaftlichen Normen. Eine solche philosophische Auffassung von Gemeinsinn und Urteilsfíndung lehnt Walzer ab - zumindest wenn sie zu normativen Maßstäben gerinnt, die auf die wirkliche Welt angewandt werden sollen - und bezeichnet sie als „utopische Spekulation", „Weitabgewandtheit" und „Flucht aus dem Partikularismus" (PGK: 95). Für ihn verliert Moralphilosophie und Gesellschaftskritik an politischer Relevanz, wenn sie sich auf imaginäre Standpunkte zurückzieht, um von diesen aus ethische und politische Praxis zu kritisieren.85 Aus Arendts Perspektive der Trennung von Verstehen und Handeln 83 Arendt hat diese Unterscheidung nicht konsequent durchgehalten. Sie verwendet sowohl den Begriff des Gemeinsinns als auch die lateinische Form des sensus communis. Einerseits gibt es eine synonyme Entsprechung beider Begriffe. Verstanden wird darunter dasjenige menschliche Vermögen, durch das sich die Pluralität wie Gemeinsamkeit der Welt dem einzelnen Menschen erschließt. Dieser „gemeinschaftliche Sinn" macht es dem Menschen als einzigartiges, individuell verschiedenes Wesen möglich, sich durch Sprechen und Handeln in eine gemeinsame, pluralistische Welt einzufügen. Für Arendt manifestiert sich in diesem gemeinschaftlichen Sinn die eigentliche Humanität des Menschen, weil die Kommunikation, die Sprache von ihm abhängt: Die existentielle Verschiedenheit des Menschen wird in der Kommunikation mit anderen zur Erfahrung menschlicher Pluralität als einer Vielheit, wie Arendt in Vita Activa schreibt, „die die paradoxe Eigenschaft hat, daß jedes ihrer Glieder in seiner Art einzigartig ist" (VA: 165). Zur Verbindung von sensus communis und der „Humanität" des Menschen vgl. auch Arendt 1998a: 94. Hinter dieser terminologischen Verknüpfung von „Gemeinsinn" und sensus communis, die in den Vorlesungsmanuskripten noch um einen dritten Begriff - „gemeiner Menschenverstand" - erweitert wird, steht jedoch eine Spezifizierung von sensus communis als einer besonderen Art von Urteilskraft. 84 Für Christoph Menke heißt Gemeinsinn bei Kant gemeinsamer, gemeinsam geteilter Sinn, ist die „Fähigkeit zu einem Urteilen oder Auffassen, in dem wir mit allen anderen übereinstimmen" (Menke 2002: 81). Zur Idee des sensus communis in der Kritik der Urteilskraft vgl. auch Leyva 1997. 85 In der Literatur zu Arendts Begriff der Urteilskraft ist die „tendenzielle Herauslösung des Urteilens aus dem Entscheidungsprozeß" (Thomas Gutschker) durchaus unterschiedlich bewertet worden. Weitgehend einig aber sind sich die Rezipienten darüber, daß Arendt insbesondere in der späteren Schriften und mit der stärkeren Hinwendung zu Kants Konzept des Geschmacksurteils

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sind dagegen konkrete Handlungsentwürfe und substantielle politische Vorschläge Sache der Politik und eben nicht der Theorie. Die Aufgabe von Theorie wie von Poesie besteht vielmehr in der Initialisierung einer selbstreflexiven politischen Praxis, in der die immer nur exemplarischen Urteile Gegenstand der öffentlichen Debatte werden. Eine vergleichbare Intention verfolgt Nussbaum, wenn sie für die Integration von Literatur in gesellschaftliche Selbstverständigungsdiskurse plädiert. Literarische Texte sind ein „optical instrument", schreibt sie in Form and Content, Philosophy and Literature, sie machen ihre Leser mit Situationen vertraut, die ihnen bislang unbekannt waren, und eröffnen ihnen Perspektiven, die sie bisher nicht eingenommen haben (Nussbaum 1990: 47). Dabei erschöpft sich die kognitive Funktion von Literatur für Nussbaum nicht im privaten Zwiegespräch zwischen dem Autor und dem Leser; es geht ihr wie Arendt um die öffentliche Diskussion der Leser miteinander: „Different readers will legitimately notice different things about a novel, both interpreting and also assessing it varied ways. This naturally suggests a further development of the idea of public reasoning as novel-reading: that the reasoning involved is not only context-specific but also, when well done, comparative, evolving in conversation with other readers whose perceptions challenge or supplement one's own." (PJ: 8f.)

Die Moralphilosophin ist optimistisch, daß über die öffentliche Diskussion von Literatur das geistige Vermögen der erweiterten Denkungsart in eine allgemeine Handlungskompetenz überführt werden kann. Diesen Optimismus teilt Arendt nicht. Wenngleich sie weit davon entfernt ist, bestimmten Menschen das Vermögen der erweiterten Denkungsart überhaupt abzusprechen, ist diese Fähigkeit eher eine des denkenden denn des handelnden Menschen. Die Trennung von Verstehen und Handeln wird weiterhin aufrechterhalten und sie drückt sich nicht nur zuletzt in der Unterscheidung zwischen dem exemplarischen Urteil des unparteilichen Zuschauers und der partikularen Meinung des politischen Akteurs aus.

zu einer anderen Gewichtung kommt. Die Urteilskraft erscheint nicht mehr als eigentlich politisches Vermögen, sich die vielen verschiedenen Standpunkte im wirklichen politisch-öffentlichen Raum zu vergegenwärtigen und sich in deren Beurteilung eine eigene Meinung zu bilden, sondern nunmehr als rein geistiges Vermögen des betrachtenden Zuschauers, das überdies eine retrospektive Ausrichtung bekommt. Während Dag Javier Opstaele dies als Gewinn betrachtet, insofern historische Urteile fur die politische Selbstvergewisserung eines Gemeinwesens eine wichtige Rolle spielen (Opstaele 1990: 137ff.), spricht Gutschker von den „Kosten", die durch diese Abkehr vom aristotelischen Begriff der phronesis entstehen: „Das Urteil verliert seine handlungsanleitende, an Gegenwart und Zukunft orientierte Funktion. Statt dessen wird es zum historischen Urteil, dem es zukommt, immer wieder neu über vergangenes Handeln zu richten. [...] Von den ursprünglichen Fragen - wie der Totalitarismus zu beurteilen sei und wie man neue Maßstäbe für das Handeln finden könne - setzt sich zum Schluß die erste auf Kosten der zweiten durch." (Gutschker 2002: 173)

THEORIE UND KRITIK

147

Perspektivenwechsel: Identifikation oder unparteiliches Urteil Stimmen Arendt und Nussbaum gegenüber Walzer darin überein, den Gemeinsinn als um mögliche oder imaginäre Perspektiven erweitertes Denken zu verstehen, das sich von geltenden Handlungsmaximen kritisch distanziert, so gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen den Autorinnen, der die Art des intendierten Perspektivenwechsels und seine Konsequenzen betrifft. Die poetische Imaginationskraft ist bei Nussbaum mit Emotion und vor allem mit Identifikation verbunden, woraus eine parteiliche Positionierung nicht nur notwendig folgt, sondern von vornherein intendiert ist. Sie schreibt: „Nehmen wir Charles Dickens' Harte Zeiten als Beispiel. Wenn ich diesen Roman lese, bekomme ich durch die Art und Weise, wie er mich dazu bringt, Sympathien mit den Arbeitern von Coketown und eine ordentliche Portion Mut auf die Borniertheit der Kapitalisten zu entwickeln, einen ziemlich klaren Sinn davon, welche Normen die richtigen sind." (TKWG: 138)

Der von Arendt favorisierte Perspektivenwechsel ist dagegen insofern ein rationaler, als daß das Vermögen, den (möglichen oder tatsächlichen) Standpunkt eines anderen einzunehmen, nicht bedeutet, sich in den Anderen einzufühlen oder mit ihm zu sympathisieren. So hebt sie an Homer hervor, daß gerade seine Unparteilichkeit ihm ermöglichte, die Komplexität eines Geschehens und die vielen verschiedenen Perspektiven, aus denen es betrachtet werden kann, darzustellen. Identifikation oder Sympathie ist für Arendt aber nicht nur ein untrügliches Zeichen für den Verlust von Unparteilichkeit und mithin von Urteilskraft auf Seiten des Betrachters, sie hält das Hineinversetzen und Hineinfühlen in die Lage eines Anderen überdies für ganz und gar unpolitisch, weil es die Differenz zwischen den Menschen aufhebt und derart politische Pluralität verunmöglicht. Zwar beziehen auf Sinnstiftung zielende historische Urteile die emotionale Dimension von Erfahrungen ein und verstärken sie über die expressive sprachliche Darstellung, aber die Leistung der historischen und, ohne daß Arendt dies systematisch ausgeführt hätte, auch der politischen Urteilskraft liegt in der beständigen rationalen Relationierung des eigenen Standpunktes zu anderen tatsächlichen oder möglichen Meinungen. In der Frage der politischen Identifikation steht Nussbaum mit ihrem Modell einer literarisch erweiterten Denkungsart Walzers Konzept immanenter Gesellschaftskritik näher als Arendts sensus communis. Verbundenheit bzw. Parteinahme und nicht „Homerische" Unparteilichkeit ist das tragende Element von poetischer wie prophetischer Gesellschaftskritik. So verfolgen denn auch Walzer und Nussbaum identifizierbare politische Intentionen. In ihrer sozialdemokratischen Konzeption des Guten plädiert die Moralphilosophin für einen Wohlfahrtsstaat, dessen soziale und politische Institutionen so beschaffen sind, daß sie jedem einzelnen Menschen ein gutes Leben und Handeln ermöglichen. Ungeachtet der Tatsache, daß Walzer weitaus stärker als Nussbaum das zivilgesellschaftliche Engagement von Bürgerinnen und Bürgern fordert, sich für ihre Interessen aktiv einzusetzen, hat er seine Theorie komplexer Gerechtigkeit sozialdemokratisch genannt und dabei nicht nur gegen eine schleichende Transformation ökonomi-

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GEMEINSINN UND ERWEITERTE DENKUNGSART

sehen Kapitals in politische Macht argumentiert, sondern für eine Aufweitung von Partizipationsformen innerhalb des Marktes plädiert (vgl. ZG: 84). In ihren sozialdemokratischen Aspirationen haben Walzer und Nussbaum nicht nur den eigenen politischen Standpunkt deutlich gemacht, sondern die Vorstellung einer guten politischen Ordnung entworfen, die auch jene die politische Partizipation hemmenden oder fördernden sozialen und ökonomischen Faktoren einschließt, die Arendt in ihrem engen Begriff guten politischen Handelns nicht thematisiert. In diesem Zusammenhang betonen Walzer und Nussbaum stärker als Arendt das ethische Moment guten Handelns. Ist die im Totalitarismus offensichtlich gewordenen Instabilität und Kurzlebigkeit allgemeinverbindlicher Maßstäbe für die Theoretikerin der Grund, eine Urteilstheorie zu entwickeln, die geltende Normen immer wieder aufs Neue einer kritischen Reflexion und Revision unterwirft, worüber Urteilen an die Stelle tradierter Überzeugungen tritt, sind Walzer und Nussbaum an der Reformulierung eines relativ stabilen Wertekanons interessiert. Im Unterschied zu Walzer verbindet die Moralphilosophin ethische Einstellungen jedoch mit dem visionären Moment literarischer respektive philosophischer Imagination. Über die Erweiterung ethischen Denkens und Urteilens um neue, bislang unbekannte Erfahrungsinhalte und Perspektiven ist es für Nussbaum relativ unproblematisch, Gemeinsinn nicht nur als eine im engen Sinne staatsbürgerliche Tugend zu entwerfen, die als partikulare Gemeinwohlorientierung auf ein konkretes politisches Gemeinwesen beschränkt bleibt, sondern kosmopolitisch auszubuchstabieren. In der universalistischen Lesart wird der Gemeinsinn zu einem normativ-kritischen Einspruch gegenüber partikularistischen Beschränkungen traditioneller Normen und Werte und zur Forderung nach tugendethischen Einstellungen, die auch Fragen internationaler Verteilungsgerechtigkeit einbeziehen. Diese eher kosmopolitische Ausrichtung des Gemeinsinns, die über das Mitleid als emotionale Initialisierung moralischen Handelns nochmals unterstützt wird, gilt einem perfektionistischen Gleichheitsanspruch, nach dem es ungerecht ist, irgendeinem Menschen bessere und günstigere Entwicklungsbedingungen für ein gutes Leben und Handeln zuzugestehen als anderen. Wenngleich sich Nussbaum darüber im Klaren ist, daß kosmopolitische Ansprüche mit partikularen Zugehörigkeiten und Loyalitäten konfligieren können, und sie sich in den politischen Forderungen, die sich aus einer universalen Tugendethik ergeben, eher zurückhaltend äußert, so erhebt ihre Gerechtigkeitstheorie einen globalen Anspruch. Das unterscheidet sie von Walzer, für den Fragen distributiver Gerechtigkeit allein innerhalb einer konkreten politischen Gemeinschaft verhandelbar sind. Dabei verweist Walzer neben dem demokratischen Vorbehalt gegenüber universalistischen Gerechtigkeitstheorien auf den „sozialen Charakter" von gesellschaftlichen Gütern. Diese haben eben gerade keine gemeinsame, allgemein bestimmbare Gestalt, sondern sind kulturell, sozial, politisch und letztlich historisch spezifisch imprägniert. Eine Gerechtigkeitstheorie kann daher ihre normativen Maßstäbe nicht nur aus einer internen Perspektive gewinnen, sie verbleibt auch in ihren ethischen Ansprüchen im partikularen Kontext. Die

THEORIE UND KRITIK

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substantiellen Forderangen nach gemeinwohlorientiertem Handeln, die auch bei Walzer mit einem partiellen Verzicht auf die Durchsetzung individueller oder gruppenspezifischer Interessen verbunden werden, können nicht über die konkrete politische Gemeinschaft hinaus erhoben werden. Sie setzen einen lebensweltlich erfahrbaren politischen Zusammenhang voraus, dem sich Menschen über ihre Differenzen hinweg zugehörig fühlen. Die Menschengemeinschaft ist aus Walzers Perspektive zu abstrakt, als daß daraus gemeinwohlengagiertes Handeln entstehen könnte. Indem Nussbaum mit Moraltheorie von vornherein einen normativ-kritischen Anspruch verbindet, der gegenüber partikularen, durch Tradition und Sitte beschränkten und daher immer defizitären, gesellschaftlichen Normen einen permanenten Einspruch formuliert, hält sie eine systematische Betrachtung der eigenen Rolle als politische Intellektuelle nicht für notwendig. Das ist bei Arendt und Walzer insofern anders, als ihre politiktheoretischen Überlegungen - bei allen Vorschlägen zu möglichen Universalisierungen - zumeist auf konkrete politische und historische Kontexte bezogen sind, mehr dem Verstehen besonderer politischer und historischer Erfahrungen gelten als globale Perspektiven eröffnen. Da sie nicht mit dem „normativen Recht" universalistischer Argumentationen auftreten können und wollen, müssen sie viel stärker als Nussbaum Gültigkeit und Gewicht ihrer Urteile gegenüber den anderen im politischen Raum virulenten Standpunkten und Meinungen begründen. Sie kommen nicht umhin, eine Konzeption der eigenen Rolle als kritische Intellektuelle in ihrem Verhältnis zu politischer Praxis zu entwickeln.

5 Intellektuelle Tugenden

Das Dilemma der Intellektuellen Politische Theoretiker, die eine öffentliche Vermittlung von Theorie und Praxis intendieren, kommen nicht umhin, eine Vorstellung ihrer eigenen politischen und gesellschaftlichen Position zu entwickeln. Das gilt insbesondere für solche, die wie Hannah Arendt und Michael Walzer Theorie vorrangig als Gesellschaftskritik entwerfen. Was sie brauchen, ist eine Intellektuellen-Theorie. Während Walzer sich selbst als einen public intellectual bezeichnet (Walzer 1999b: 142f) und vor allem in Zweifel und Einmischung unterschiedliche Intellektuellen-Konzepte diskutiert, vermeidet Arendt den Begriff des Intellektuellen weitgehend und lehnt ihn als Selbstbezeichnung ab. Sie entwickelt jedoch ein eigenständiges Konzept über die gesellschaftliche Position des Kritikers und Maßstäbe zur Beurteilung der Qualität von Gesellschaftskritik. Martha Nussbaum ist in dem Trio diejenige, die keine Konzeption des Intellektuellen entwickelt. Zwar enthalten ihre Überlegungen zur normativ-kritischen Rolle von Theorie in gesellschaftlichen Selbstverständigungsdiskursen Hinweise auf ein spezifisches Verständnis des engagierten Intellektuellen, der seine philosophische Kompetenz angesichts praktischer Problemstellungen geltend macht, aber eine systematischere Betrachtung intellektuellen Engagements fehlt In einem ersten allgemeinen Zugriff können die drei Autoren unabhängig davon, ob sie die eigene Rolle systematisch, selektiv oder im Kontext allgemeinerer Überlegungen über die Verknüpfung von Theorie und Praxis reflektieren, gleichwohl als Intellektuelle bezeichnet werden. So verstehen sie ihre Tätigkeit nicht als private oder rein akademische Angelegenheit, sondern greifen Themen auf, die öffentlich diskutiert werden bzw. formulieren Einsichten, welche zumindest aus ihrer Sicht die für eine Gemeinschaft konstitutiven Werthaltungen berühren. Sie konstatieren dabei mehr oder minder radikal eine Krise der Werte. Sie sind zudem daran interessiert, daß ihre Krisendiagnose ein zeitgenössisches Publikum erreicht, also öffentliche Aufmerksamkeit erfährt. In der Behauptung, das Gemeinwesen befinde sich in der Krise, wie in der Unterbreitung von Therapievorschlägen bestätigen sie schließlich ihre Zugehörigkeit und Verbundenheit zu einem konkreten Gemeinwesen, treten also als Staatsbürger auf. Das Dilemma des modernen Intellektuellen liegt diesen allgemeinen Charakteristika zugrunde und besteht in der problematischen Vermittlung von Autonomieanspruch und

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DAS DILEMMA DER INTELLEKTUELLEN

politischem Engagement.86 Angesichts dieses Dilemmas beschreibt Pierre Bourdieu den Intellektuellen als eine paradoxe Synthese von Gegensätzen, der etwas Labiles und Unbeständiges anhaftet, „was, wie es die in der Geschichte zu beobachtenden Vorstöße und Rückzüge bezeugen, zur Folge hat, daß die Besitzer von kulturellem Kapital jederzeit auf die eine oder die andere vom Pendel der Geschichte vorgezeichnete Position, d. h. in die Rolle des ,reinen' Schriftstellers, Künstlers oder Wissenschaftlers oder in die Rolle des bloßen politischen Akteurs, Journalisten, Politikers usf. zurückfallen können" (Bourdieu 1991: 46). Für Arendt und Walzer ist die Frage der Balance zwischen Engagement und Autonomie, Gemeinsinn und Unparteilichkeit, Intervention und Unabhängigkeit konstitutiv für die Reflexion der Rolle des Theoretikers als Kritiker. Sie tun dies aber fast ohne Bezug auf die philosophischen und soziologischen Debatten, die insbesondere durch Karl Mannheims Werk Ideologie und Utopie (1929) angestoßen wurden.87 Walzer greift Mannheims „freischwebenden Intellektuellen" als Bild auf, setzt sich aber mit dessen sozialstrukturellen und professionssoziologischen Aspekten nicht auseinander. Auch die europäischen Diskussionen, die in den 1980er Jahren um Bourdieus Begriff des Intellektuellen und die Erweitung der Kapitaltheorie um kulturelles und symbolisches Kapital als spezifische Machtressourcen von Intellektuellen geführt wurden, werden von Walzer nicht aufgegriffen. Auf der Suche nach exemplarischen Figuren intellektuellen Engagements rekurrieren Arendt und Walzer - und in dieser Frage auch Nussbaum - mehr auf Vorbilder der poetischen Tradition als auf Protagonisten philosophischen und politikwissenschaftlichen Denkens. Aus ihrer Sicht suchten Dichter und Geschichtenerzähler immer schon einen engen Kontakt zur Praxis, insofern ihr beruflicher Erfolg (im Sinne der eigentli86

87

Die Geschichte des modernen Intellektuellen beginnt mit der Dreyfus-Affäre. Der zu Unrecht wegen Verrats militärischer Geheimnisse an die deutsche Botschaft 1894 verurteilte jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus ist Anlaß für eine bis dahin unbekannte Mobilisierung der „Intellektuellen", die - nachdem der Prozeß 1898 zum ersten Mal neu aufgerollt wurde und der eigentliche Schuldige Major Esterhazy freigesprochen wird - sich erstmals öffentlich und als Gruppe gegen die herrschenden Eliten stellten. Emile Zolas' „Ich klage an", 3 Tage nach dem Freispruch, und die öffentliche Unterstützung, die sein Aufruf erfährt (offene Briefe, Petitionen, Gründung von Vereinigungen) besitzen insofern exemplarischen und paradigmatischen Wert, weil sich die auf Autonomie gestützte künstlerische und wissenschaftliche Autorität in politischen Intenventionen neuen Typs geltend macht (Bourdieu 1991: 45). Zum Status der Dreyfus-Affäre innerhalb der europäischen Intellektuellen-Geschichte des 19. Jahrhunderts vgl. Charle 2001: v.a. 180ff. Zu den politischen Folgen der Dreyfus-Affäre in Frankreich vgl. Beilecke 2003. Arendt diskutiert in einer umfangreichen Rezension, die 1930 in Die Gesellschaft erschien, Mannheims wissenssoziologische Thesen, auf ihre Intellektuellen-Konzeption hat dies jedoch keinen Einfluß. Arendt thematisiert hier vornehmlich Mannheims implizite doppelte Polemik gegen Karl Jaspers existenzphilosophische Aufwertung von „Grenzsituationen" als jene wenigen Augenblicke, in denen der Mensch sich als Mensch erfährt, und Martin Heideggers „Eigentlichkeit", die er dem Verlorensein des .Alan" in der Öffentlichkeit entgegenstellt (Arendt 1974: 533ff.). Zur „freischwebenden Intelligenz" vgl. Mannheim 1985a: 4Iff. sowie Mannheim 1985b: v. a. 75. Zu Mannheim vgl. auch Fetscher 1999.

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INTELLEKTUELLE TUGENDEN

chen Profession) ganz wesentlich an die Popularität ihrer Publikationen, an die öffentliche Rezeption ihrer Dichtung gebunden war. Nun mag es genug Dichter und Literaten geben, deren Werken nie das Privileg öffentlicher Wahrnehmung beschieden war entweder weil sie „den Einklang in die Welt und die Öffentlichkeit nie gefunden" haben, wie Arendt über Gotthold Ephraim Lessing schreibt, oder weil ihnen der kreative poetische Prozeß selbst mehr bedeutete als die öffentliche Anerkennung, die ihr künstlerisches Produkt erfahren könnte (GL: 19). Arendt, Walzer und Nussbaum gehen jedoch davon aus, daß das Erzählen von Geschichten ein öffentliches Geschäft ist, daß es zum Berufsethos der Literaten gehört, im öffentlich-politischen Diskurs über ihre Werke und mitunter auch als Personen präsent zu sein. Und sie sind ebenso der Auffassung, daß die Öffentlichkeit dieser poetischen Stimmen bedarf, weil sich in ihnen eine besondere Qualität des Nachdenkens und des politischen und ethischen Urteils ausspricht. In gegenwartsdiagnostischer Perspektive besteht Nussbaum darauf, daß gerade in modernen, pluralistischen Gesellschaften, in denen Gemeinsinn und Gemeinwohlorientierungen zugunsten individualistischer Lebensentwürfe abhanden kommen, die besonderen Qualitäten von Dichtern mehr denn je gefragt sind. „The poet is the arbiter of ,the arbiter of the diverse', ,the equalizer of his age and land'. His capacious imagination ,sees eternity in men and woman' and ,does not see men and woman as dream or dots'. Whitman's call for public poetry is, I believe, as pertinent to our time as it was to his. Very often in today's political life we lack the capacity to see one another as fully human, as more than ,dreams or dots'. Often, too, those refusals of sympathy are aided and abetted by excessive reliance on technical ways of modeling human behavior, especially those that derive from economic utilitarianism. These models can be very valuable in their place, but the frequently prove incomplete as a guide to political relations among citizens." (PJ: XIII)

Anschlußfähig bzw. vorbildhaft für eine Public Philosophy ist gerade in Hinblick auf die besonders herausgestellte Realitätsnähe poetischer Reflexion der einem breiteren 88

Publikum zugängliche narrative Darstellungsmodus. Während Nussbaum in dieser Frage auf eine komplementäre Ergänzung von Moraltheorie und Literatur im öffentlichen Diskurs setzt, favorisieren Arendt und Walzer im Interesse einer über den akade88 Sprache als Mittel der Abgrenzung, eine eigenständige Autorität in gesellschaftspolitischen Fragen zu beanspruchen, halten die Autoren generell für ungeeignet, wenngleich, worauf insbesondere Walzer verweist, die moderne Massengesellschaft die Kritiker unter Druck setzt. Einerseits wollen sie für und im Interesse der Massen sprechen, insofern es ja um das gemeinsame demokratische Projekt geht, andererseits aber wollen sie sich auch von den Massen unterscheiden. Etwas polemisch bemerkt Walzer: „Vielleicht ist deshalb die zeitgenössische .kritische Theorie' eine der dunkelsten aller kritischen Sprachen, und vielleicht bestehen deshalb ihre Sprecher darauf, daß die Ernsthaftigkeit ihres Unterfangens mit seiner theoretischen Schwierigkeit verknüpft sei." (ZE: 22) - Der Persistenz und Präsenz der kritischen Theorie hat die „dunkle" Sprache indes nicht geschadet. Wie Alex Demirovic in Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule zeigt, ist hier ein wissenschaftlich, kulturell und politisch einflußreicher Schulzusammenhang etabliert worden, der die Kritische Theorie zum festen Bezugspunkt kritischer Strömungen hat werden lassen (Demirovic 1999: 11).

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PARIA-EXISTENZ ODER HAUPTSTROMKRITIK

mischen Raum hinausreichenden Rezeption den narrativen Darstellungsmodus auch für ihre Überlegungen zur Rolle des Intellektuellen. Zur Spezifik ihrer narrativistischen Wendung politischer Theorie gehört, daß sie ihre Intellektuellen-Konzeption gerade nicht als systematische Theorie entwerfen. Sie wählen vielmehr die literarische Form des Porträts und diskutieren an Leben und Werk ausgewählter Intellektueller das Dilemma von Gesellschaftskritik im 20. Jahrhundert. Die leitende Frage, wieviel Distanz der Kritiker zum Gegenstand seiner Kritik aufbringen kann oder sollte, wird von den Autoren unterschiedlich beantwortet. Arendt setzt auf die bewußte Außenseiter- bzw. Paria-Position, Walzer betont dagegen das Moment solidarischer Identifikation.89

Paria-Existenz oder Hauptstromkritik Das Interesse von Arendt und Walzer gilt einem nicht-intellektualistischen Verständnis von Praxis. Sie eint daher zunächst der Anspruch, aus einer involvierten Perspektive über politische und gesellschaftliche Prozesse zu schreiben und zu urteilen. Die Autoren haben jedoch recht unterschiedliche Auffassungen davon, was eine involvierte Perspektive ist. Während Arendt sich dem Politischen als einem vielfach vernetzten Erfahrungsbereich nähern will, ohne dabei die gesellschaftliche und politische AußenseiterPosition des Theoretikers als unparteilichem „Paria" aufzugeben, favorisiert Walzer das Konzept solidarisch-kritischer Verbundenheit und politischer Parteinahme. Er grenzt sich damit explizit von Julien Benda ab, der ihm als klassischer Repräsentant des alten Gedankens intellektueller Distanz und Einsamkeit des Kritikers gilt.90 Bendas Polemik gegen die Bereitschaft zeitgenössischer Intellektueller, sich mit Massenbewegungen zu verbünden, und sein Plädoyer für universalistisches Engagement steigere sich zu der Forderung an Intellektuelle, ihr eigenes Land so anzuschauen, als ob sie Bürger eines anderen wären. Ironisch bemerkt Walzer: „Bendas Philosoph kehrt niemals in die Höhle zurück, er kommt nur gelegentlich vorbei, um die Insassen zu kritisieren." (ZE: 50) Walzer versteht sich demgegenüber als Gesellschaftskritiker, dessen öffentliches Engagement mit Praktikabilitätserwägungen verbunden, also auf konkrete Ereignisse und spezifische Problemkonstellationen bezogen ist, für die Lösungsoptionen angeboten werden. Ohne empirisch vorzugehen, sind seine Argumentationen immer beispielhaft und gelten mehr dem „Alltäglichen" als der „großen politischen Welt". Walzers Ablehnung des allgemeinen Gestus des „Groß-Kritikers", der aus politischer Enttäuschung kritische Distanz zu allem und jedem aufbaut, kann partiell gegen 89

90

Nussbaum bleibt im folgenden Vergleich unberücksichtigt, da ihre Konzeption einer Public Philosophy weder explizit als Gesellschaftskritik entworfen wird noch systematischere Überlegungen über die Rolle des Intellektuellen enthält. Walzer bezieht auf Bendas berühmtes Buch Der Verrat der Intellektuellen (1988), das 1927 unter dem Titel La trahison des clerc erschienen ist.

INTELLEKTUELLE TUGENDEN

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Arendts Paria-Konzept gerichtet gelesen werden. Paradigmatische Bedeutung erlangen Intellektuelle bei ihr vor allem im Kontext zugespitzter Krisensituationen. Im Vorwort zu Menschen in finsteren Zeiten erklärt sie den Zusammenhang ihrer Porträts über Dichter und Literaten wie Lessing, Bertolt Brecht oder Isak Dinesen und Philosophen wie Karl Jaspers, Martin Heidegger und Walter Benjamin: „Die Überzeugung, daß wir selbst dann, wenn die Zeiten am dunkelsten sind, das Recht haben, auf etwas Erhellung zu hoffen, und daß solche Erhellung weniger von Theorien und Begriffen als von jenem unsicheren, flackernden und oft schwachen Licht ausgehen könnte, welches einige Männer und Frauen unter beinahe allen Umständen in ihrem Leben und ihren Werken anzünden und über der ihnen auf der Erde gegebenen Lebenszeit leuchten lassen - diese Überzeugung bildet den unausgesprochenen Hintergrund für die hier vorgelegten Persönlichkeitsprofile." (Arendt 1989a: 15f.)

Der Ausdruck „finstere Zeiten", den Arendt Brechts Gedicht An die Nachgeborenen entnimmt, erfaßt den dominanten Fokus ihres politischen Denkens, der nicht auf das Alltägliche, sondern auf Ausnahmesituationen gerichtet ist. Gemeint sind damit jene Zeiträume der politischen Geschichte, in denen „nur Unrecht war und keine Empörung" (Brecht) oder in denen sich das Ungerechte (oder auch das Gute) im Verborgenen abspielte, nicht öffentlich sichtbar und folglich nicht öffentlich kritisierbar war. Was die hier porträtierten Personen aus Politik, Philosophie und Dichtung für Arendt in einem besonderen Maße auszeichnet, ist, daß sie kritisch gedacht haben zu Zeiten, als das öffentliche Licht von „Glaubwürdigkeitslücken" und „unsichtbarer Herrschaft" gelöscht war und mit ihrer Kritik eine Öffentlichkeit eingefordert haben, die es nicht gab. Sie konnten dies, weil sie, wie Arendt betont, eine Paria-Existenz jenseits des gesellschaftlichen und politischen Mainstreams aufrechterhalten haben. Mit dem Begriff des Paria ist eine spezifische Auffassung des Intellektuellen als politischem Schriftsteller verbunden. Für Ingeborg Nordmann markiert die Vorstellung vom Paria einen Einschnitt in Arendts Biographie: „Der Paria ist die erste theoretische und politische Antwort auf den Totalitarismus. Der Begriff ist von Max Weber übernommen, bei dem der Paria soziologisch die gesellschaftliche Randstellung einer bestimmten Gruppe bezeichnet." (Nordmann 1994: 19) In Zeiten erdrückender Meinungskonformität und gesellschaftlicher Assimilation wird der Paria bei Arendt zum positiven Gegenbegriff des anpassungswilligen Parvenüs. Seine Qualitäten sind Unabhängigkeit, Selbstbewußtsein und Vorurteilslosigkeit, die über die finstersten Zeiten totalitärer Herrschaft hinaus die spezifische Kompetenz des Gesellschaftskritikers bezeichnen. Daß Arendt eine solche randständige Existenz auch in Amerika für sich in Anspruch nimmt, wird in einem Brief an Karl Jaspers vom 29. Januar 1946 deutlich: „Sehen Sie, ich bin in keiner Weise respectable geworden. Bin mehr denn je der Meinung, daß man eine menschenwürdige Existenz nur am Rande der Gesellschaft sich heute ermöglichen kann, wobei man dann eben mit mehr oder weniger Humor riskiert, von ihr entweder gesteinigt oder zum Hungertode verurteilt zu werden." (Arendt/Jaspers 1993: 65)

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INTELLEKTUELLE IM PORTRÄT

Gegen die Paria-Stellung des Kritikers hat Walzer sein „demokratisches" Konzept der „Hauptstromkritik" gesetzt (ZE: 24). Kritik ist für ihn keineswegs mit einem Leben am Rande der Gesellschaft verbunden. Im Gegenteil: Der moderne Kritiker agiert aus der Mitte der Gesellschaft heraus. Er „ist ein Experte der .gemeinen Beschwerde'" (ZE: 13). Voraussetzung dieser Art immanenter Kritik ist die aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, eine tiefe Verwurzelung in der Gemeinschaft und Mut, auf seinem „tieferen Patriotismus" zu bestehen, selbst wenn das, was man sagt, unpatriotisch klingt (ZE: 319).91 Für Intellektuelle, als deren Haupttugenden Mut, Loyalität und Gemeinsinn gelten, ist Distanz nicht immer möglich. Das trifft in verschärfter Form auf moderne Gesellschaftskritik zu: „Sie ist neu mit den Bewegungen und Hoffnungen der Allgemeinheit verknüpft. Sie ist ebenso engagiert wie unabhängig. Die Kritiker kritisieren nicht nur, sie mUssen auch Hinweise geben, Programme entwerfen, Partei ergreifen, politische Entscheidungen treffen [...]. Sie müssen einen Standort finden, an dem sie ihrer Anhängerschaft nahe sind, aber nicht von ihr aufgesogen werden." (ZE: 44)

Die unterschiedliche Auffassung der Autoren darüber, wie weit das politische Engagement des Intellektuellen gehen sollte und welche Art der Parteilichkeit respektive Unparteilichkeit damit verbunden ist, zeigt sich in der Auswahl der porträtierten Personen, auf die sich Arendt und Walzer zur eigenen Selbstvergewisserung beziehen, und in der vermittelnden Interpretation von deren kulturellem Werk und politischen Wirken. Die in Zweifel und Einmischung vorgestellten Personen sind „allgemeine Intellektuelle" (Michel Foucault) und professionelle Kritiker, Figuren des öffentlichen Lebens, „die das Wesen der Konflikte verstehen wollen, die Argumente über sie austauschen und die manchmal sogar Romane, Gedichte und Reden schreiben, um die Meinung der Leute zu ändern" (Walzer 1999b: 142). Sie sind wie Walzer selbst „Männer und Frauen der Linken", die ein gemeinsames Dilemma eint: Kritiker jener demokratischen Bewegungen zu sein, die sie zugleich unterstützen (ZE: 44). Demgegenüber eint die von Arendt Porträtierten gerade keine gemeinsame politische Überzeugung. Einige gehören zu den „Linken", wie Brecht oder Rosa Luxemburg; andere waren jenseits klarer politischer Positionen rebellische, leidenschaftliche und 91

Drei neuere Aufsätze haben Walzers Kritikverständnis explizit zum Thema: Jonathan Allen (2002) entwickelt Walzers Ansatz einer Kritik in Verbundenheit dahingehend weiter, daß er von zwei zu unterscheidenden, aber nicht per se zu qualifizierenden, Perspektiven - einer „internalistischen" und einer „externalistischen" - spricht, die in unterschiedlichen Kontexten Relevanz beanspruchen können. David Owen und Thomas Johansson kritisieren aus interner Perspektive Walzers Ansatz einer interpretativen Gesellschaftskritik, indem sie darauf aufmerksam machen, daß sich Walzer zu wenig mit dem „Problem der aspektivalen Gefangenschaft" auseinandersetzt. Darunter wird die Abhängigkeit des Urteils von einem Bild verstanden, das man sich von einer besonderen Situation macht (Owen/Johansson 2002). Matthias Iser (2002) schließlich stellt die These auf, daß Walzers interpretative Gesellschaftskritik nicht notwendig als Gegenpart zur Kritischen Theorie zu lesen ist. Aus einer komplementär-kritischen Lektüre ließen sich die Projekte vielmehr fruchtbar verbinden.

INTELLEKTUELLE TUGENDEN

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freie Denker, wie Lessing und Jaspers, und mancher wanderte politisch auf „Holzwegen", wie Heidegger, die meisten jedoch sind Schriftsteller mit einem ausgeprägten Sinn für menschliche Realität (Arendt 1989:13ff.). Carol Brightman schreibt über Menschen in finsteren Zeiten, daß etwas von der Revolutionärin, der Kritikerin, der Philosophin, der Dichterin, der Autorin und der Geistlichen in Arendt in die Darstellung der Porträtierten einfließt (Brightman in: Arendt/McCarthy 1997: 23). Noch offensichtlicher aber ist, daß Arendt bei den vorgestellten Personen eine spezifische Art der Vorurteilslosigkeit, eine Unabhängigkeit des Denkens und Urteilens hervorhebt. Diese Berührungspunkte macht sie stark, nicht zuletzt um sich ihrer eigenen Haltung zu vergewissern, daß die Paria-Existenz nicht nur die Dimension einer soziologischen Realität hat, sondern mit einem bewußten, selbstbewußten Akt der Distanzierung verbunden ist.

Intellektuelle im Porträt Arendt diskutiert das Dilemma einer „Kritik in Verbundenheit" in den Porträts über die politische Theoretikerin Luxemburg und den Dramatiker und Dichter Brecht. Luxemburg und Brecht stellen exemplarisch zwei Intellektuellen-Typen dar: auf der einen Seite die politische Theoretikerin, die sich zumindest partiell der Ideologie jener Bewegung verweigerte, die sie unterstützte, und dies mit dem Verlust von politischem Einfluß bezahlte; auf der anderen Seite Brecht, dem die Öffentlichkeit, die ihm als Dichter und Dramatiker zuteil wurde, nicht genug war und der mit seiner künstlerischen Unterstützung Ost-Berliner Politik die Fähigkeit kritisch-poetischer Reflexion verlor. Beider Leben trifft sich in dem politischen Engagement für die sozialistische bzw. kommunistische Partei, in dem Anliegen, sich mit relativ wenig Erfolg, wie Arendt bemerkt, in den Dienst dieser Emanzipationsbewegung zu stellen. So erweist sich der Mißerfolg Luxemburgs an ihrer politischen Randständigkeit.92 „Selbst in ihrer eigenen Welt der europäischen, sozialistischen Bewegung war sie eher eine Randfigur, die nur in relativ kurzen Augenblicken Glanz und große Brillanz entwickelte, deren Einfluß in Taten und niedergeschriebenen Worten kaum mit dem ihrer Zeitgenossen, mit Plechanow, Trotzki und Lenin, mit Bebel und Kautsky, mit Jaurès und Millerand verglichen werden kann." (RL: 49)

Von dem, was Luxemburg geschrieben und gesagt hatte, überlebte aus Arendts Sicht nichts, „mit Ausnahme ihrer überraschend genauen Kritik an der bolschewistischen Politik während der frühen Stadien der Russischen Revolution, und auch dies nur, weil sie von enttäuschten 92

Wie Barbara Hahn in Die Jüdin Pallas Athene. Auch eine Theorie der Moderne schreibt, wurde der Name Rosa Luxemburg schnell zum Synonym für Abweichung, wobei die Abweichung oder auch Ablehnung der Politikerin und der Theoretikerin galt. Als „Frau" wurde sie insbesondere nach der Lektüre ihrer Briefe zur Identifikationsfigur (Hahn 2002: 190ff.)

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INTELLEKTUELLE IM PORTRÄT

Exkommunisten als bequeme, wenn auch unzulängliche Waffe gegen Stalin verwendet werden konnte" (RL: 54).

Die Luxemburg verweigerte öffentlich-politische Anerkennung wurde Brecht zuteil. Sein Scheitern zeigt sich für Arendt in dem Verlust dichterischer Kraft, der ihm allerdings erst widerfuhr, als er in Berlin sein eigenes Theater unterhielt. Alle Stücke, die Brecht als Direktor des Berliner Ensembles auf die Bühne brachte und die heute auf der ganzen Welt gespielt werden, sind außerhalb Deutschlands geschrieben worden, und alles, so Arendts radikales Urteil, was er in Ost-Berlin geschrieben hat, ist bis auf wenige Ausnahmen keine große Dichtung (BB: 285). Mit Luxemburg und Brecht beschreibt Arendt nicht nur zwei Figuren des Intellektuellen, sondern erzählt zugleich deren Geschichte: die Entwicklung Luxemburgs von einer sozialistischen Intellektuellen, die, weil sie Parteiintellektuelle nicht sein wollte, zum Paria wird, und Brechts Wandlungen vom Paria zum Parteiintellektuellen. Zwischen Kritik und Ideologie:

Rosa Luxemburg

und Bertolt

Brecht

Der politische Mißerfolg Luxemburgs hängt neben ihrer unorthodoxen, kritischen Rezeption des ökonomischen Marxismus für Arendt aufs Engste mit ihren politischen Ansichten zusammen, die sie in Widerspruch zur Partei brachten, wie ihre Verteidigung klassischer liberaler Freiheiten, die in der mittlerweile zum Gemeinplatz gewordenen Formulierung komprimiert ist, daß „Freiheit immer Freiheit der Andersdenkenden" ist (Luxemburg 1974: 359, Fn. 3). Dazu zählt weiterhin ihre Kritik an Lenins und Trotzkis Schlußfolgerung, eine aus allgemeinen Volkswahlen hervorgegangene Volksvertretung 93

während der Revolution sei überflüssig (Luxemburg 1974: 353). Insbesondere gegenüber Lenin beharrte sie darauf, daß Revolutionen von niemandem gemacht werden, sondern „spontan ausbrechen" und daß „der Druck zur Aktion" immer „von unten" kommt. Sie fürchtete, zitiert Arendt den Luxemburg-Biographen Peter Netti, „eine deformierte Revolution weit mehr als eine erfolglose" (RL: 72). Als deformiert galt Luxemburg eine Revolution, an der die breite Masse keinen Anteil und kein Mitspracherecht hatte und individuelle wie öffentliche Freiheiten nicht existierten. Sie wurde daher zur vehementen Befürworterin der revolutionären Rätebewegung und unnachgiebigen Kritikerin der Leninschen Teilung zwischen einer straff geführten politischen Avantgarde und der unwissenden Masse der zu Belehrenden. Es ist offensichtlich, daß Arendt genau jene Aspekte an Luxemburgs Denken hevorhebt, die für ihre eigene politische Handlungstheorie anschlußfähig sind bzw. mit denen sie übereinstimmt, wie die Betonung der Spontaneität politischen Handelns, die Bedeutung von öffentlicher Freiheit, die Ablehnung eines instrumenteilen Politikbe-

93 Zu Luxemburgs Kritik an Lenins Geringschätzung der Demokratie vgl. den Aufsatz von Iring Fetscher Macht, Herrschaft, Demokratie bei Rosa Luxemburg und Lenin (Fetscher 1993: bes. 183 ff.).

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griffs und nicht zuletzt die Entkopplung von Krieg und Revolution. Die zumeist implizit bleibende Aufnahme von Luxemburgs politischen Ideen läßt sich beinahe in allen Schriften Arendts finden.94 Der Schwerpunkt des Porträts hegt jedoch weniger auf den politischen Einsichten als vielmehr darauf, daß Luxemburg mit ihnen völlig allein stand.95 Ihre Verbundenheit mit der sozialistischen Bewegung hatte nicht dazu geführt, den unabhängigen und kritischen Standpunkt aufzugeben - weder gegenüber der alten politischen Ordnung noch gegenüber der sozialistischen Bewegung. Der Preis, den Luxemburg für ihre Unabhängigkeit zahlte, war politische Isolation innerhalb der sozialistischen Bewegung und eine weitgehende Verweigerung, sowohl bei den Linken als auch im bürgerlichen Lager, ihr Werk zu rezipieren. Gegen dieses Vergessen von Luxemburgs politischem Denken wendet sich Arendt, wenn sie ihr Porträt mit den emphatischen Worten Nettls beendet: „Wo immer ernsthaft die Geschichte der politischen Ideen gelehrt wird, da müssen auch ihre Ideen gelehrt werden." (RL: 74) Für die Einschätzung des Scheiterns von Brecht wählt Arendt einen anderen Maßstab, denn weder war er politisch isoliert noch wurde ihm öffentliche Anerkennung verweigert. „Der einzige Maßstab, nach dem auch das persönliche Verhalten des Dichters zu beurteilen ist, ist seine Dichtung. Das Schlimmste, was einem Dichter geschehen kann, ist, daß er aufhört ein Dichter zu sein; und gerade dies ist Brecht in dem letzten Jahrzehnt seines Lebens geschehen." (BB: 249)

Für Arendt hat Brecht die „Gabe der Götter" erst zum Schluß verspielt. Weder seine Bekehrung zum Kommunismus in den zwanziger Jahren hat seiner dichterischen Produktivität geschadet noch seine öffentliche Linientreue während der Moskauer Prozesse, ja nicht mal seine poetische Verklärung des wissenschaftlichen Kommunismus in das Lob der Partei, in dem sich Brechts „Entzückung" darüber ausdrückt, „daß man in

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So rekurriert Arendt auf Luxemburg, wenn sie in Über die Revolution zeigt, daß die revolutionären Räte in Rußland der Parteidoktrin und der Parteibürokratie zum Opfer fielen und sich politische Apathie und Tatenlosigkeit breit machten: „Das öffentliche Leben schläft allmählich ein, einige Dutzend Parteiführer von unerschöpflicher Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren, unter ihnen leitet in Wirklichkeit ein Dutzend hervorragender Köpfe, und eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde also eine Cliquenwirtschaft - nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker." (ÜR: 340) Zu Arendts „Räte-Republik" vgl. das Interview mit Adelbert Reif (MG: 107ff). Zu Arendts Luxemburg-Rezeption vgl. auch Hahn 2002: 204ff. Für Hahn schreitet Arendt im Revolutionsbuch den Denkraum aus, den Luxemburgs Schriften über die Revolution und vor allem ihre Kritik an der Leninschen Politik entworfen hatten. Luxemburg wird in Hahns Analyse für Arendt zur beratenden Expertin der Rätedemokratie. Sie ist die verborgene Heldin, auf die sich Arendt bezieht, auch wenn sie so häufig von den „Männern der Revolution" spricht (Hahn 2002: 205).

95 Auf politische Mitstreiter und Freunde Luxemburgs wie Paul Levi, der sich später als Mitglied des Reichstages um die Aufklärung der Morde an Luxemburg und Karl Liebknecht bemühte, und Clara Zetkin geht Arendt nicht ein, weil sie ihr auch eher als Randfiguren galten.

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diesem Chaos, in dem alle Traditionen untergegangen waren, sich doch noch an .Klassiker' halten konnte" (BB: 278). Die Jahre in der dänischen und später amerikanischen Emigration gehörten, so Arendt, neben den frühen zwanziger Jahren zu den produktivsten. In all seinen Irrtümern und selbst noch in seiner Rechtfertigung der Stalinschen „Säuberungsaktionen" behielt Brecht einen Rest „poetischer Distanz". So war Die Maßnahme, in der Brecht die Gründe besprochen hatte, warum gerade die Besten, die Menschlichsten, die moralisch Integeren der Revolution im Wege stehen können und von ihr beseitigt werden müssen, ein eklatanter Mißerfolg. Abgelehnt sowohl von den Gegnern Stalins, die das Stück als Verteidigung Moskaus verstanden, als auch von den Stalinisten selbst, die gar kein Interesse daran hatten, die Liquidation von Mitgliedern innerhalb der Partei in dieser Art öffentlich zu diskutieren. Über die Gründe für diesen im engeren Sinne politischen Mißerfolg, der aus Arendts Sicht keiner ist, schreibt sie: „Brecht hatte das getan, was Dichter zu tun pflegen, wenn man sie in Ruhe läßt: Er hatte die Wahrheit gesagt, jedenfalls das Stück Wahrheit, das man damals, wenn man nur sehen wollte, sehen konnte. [...] Brecht hatte die Regeln des infernalischen Spiels deutlich erkannt und schön (mit .wohllautender Stimme') besungen, und natürlich hoffte er auf Beifall. Nur eine Kleinigkeit hatte er in seinem Eifer übersehen: daß die Partei verständlicherweise keine Absicht hatte, die Wahrheit bekanntzugeben, und noch dazu von einem ihrer prominentesten Anhänger. Es gibt eben in der Politik mit Dichtern immer Unannehmlichkeiten; in diesem Fall störte ein parteitreuer Dichter die Parteilinie, die eindeutig auf Betrug des Volkes und der Welt hinauslief." (BB: 280)

Die Grenze, von der Arendt meint, daß sie ihn die poetische Distanz und mit ihr die dichterische Kraft gekostet hat, hatte Brecht noch nicht überschritten, als er sich in seiner Kritik an Ungerechtigkeit, Not und Elend und in seinem Mitleid mit den Erniedrigten und Beleidigten der Kommunistischen Partei anschloß und deren Dichter wurde, ohne jemals ihr Mitglied gewesen zu sein. Erst als er nach Ost-Berlin ging, sein eigenes Theater haben konnte und damit erreicht hatte, was er wollte, nämlich mitten drin zu sein, ging ihm die Stimme aus. Brecht hat bewiesen, resümiert Arendt, „daß es für einen Dichter nicht heilsam ist, sich da anzusiedeln, wo, wie man sagt, die Fetzen fliegen" (BB: 286). An dieses Urteil lassen sich zwei Fragen anschließen, die über den „Fall Brecht" hinausweisen: Ist Emigration oder örtliche Distanz die notwendige Bedingung für kritische Reflexion? Und ist das Ausland vielleicht deshalb der bessere Ort kritischer Dichtung, weil er politisches Engagement im Sinne aktiver Partizipation und Unterstützung unmöglich macht? Die erste Frage ist leichter zu beantworten. Für Arendt ist Heimatlosigkeit als anderes Wort für Emigration keine notwendige Bedingung für kritische Distanz, wenngleich ihr Emigration in besonderen, existentiellen Situationen als einzig gangbarer Weg erscheint, sich politischer Mittäterschaft zu verweigern. Die Antwort auf die zweite Frage

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ist schwieriger, weil diese unmittelbar das Verhältnis des Dichters oder Kritikers zur politischen Wirklichkeit betrifft. Arendt schreibt dazu: „Was das Verhältnis der Dichter zur Wirklichkeit angeht, hat Goethe recht: [...] Sie müssen abseits stehen und wären doch keinen Schuß Pulver Wert, wenn sie nicht ständig versucht wären, sich zu exponieren, die dichterische Distanz aufzuheben und zu sein wie alle anderen. Auf diese Karte hat Brecht alles gesetzt! Keine Ausnahme sein, keine Ausnahmestellung beanspruchen: dafür hat er sein Leben wie seine Dichtung riskiert." (BB: 286f.)

Das Privileg des Paria, von politischen Entscheidungen unbelastet und unvoreingenommen zu urteilen, hat seinen Preis. Es bedeutet nicht nur ein Leben am Rande der Gesellschaft, sondern es verlangt auch, sich deqenigen Tätigkeit zu enthalten, die Arendt als menschlichste und außergewöhnlichste bezeichnet hatte: dem politischen Handeln als kommunikatives und schöpferisches Tun. Es ist daher nur allzu verständlich, wenn politische Dichter und Denker der Paria-Existenz, der eine Weltlosigkeit und Schwerelosigkeit anhaftet, zu entkommen suchen. Dennoch besteht Arendt darauf, daß kritische Reflexion und Distanz zum aktiven politischen Handeln notwendig miteinander verbunden sind. So kann Luxemburg für die Frage, wie das Vermittlungsproblem von Theorie und Praxis zu lösen ist, nicht zum Vorbild werden, auch wenn Arendt ihr Scheitern positiv wendet und sie in den Stand einer der wichtigsten politischen Denker des 20. Jahrhunderts erhebt. Für den Dichter Brecht stellte sich dieses Problem ohnehin nicht. Der Mehrwert der Porträts für Arendts Intellektuellen-Konzeption liegt in der Präzisierung des Paria-Begriffs, der neben gesellschaftlicher Randständigkeit politische Unparteilichkeit und soziale Interessenlosigkeit umfaßt. Arendt, die die Verlängerung gesellschaftlicher Interessen in den politischen Raum ohnehin für einen Grundfehler moderner Politik hält, weil es das allen Mitgliedern einer politischen Gemeinschaft über ihre sozio-ökonomischen Unterschiede hinweg Gemeinsame zerstört, betont daher an Luxemburg vor allem ihr von den sozialen und ökonomischen Interessen der Arbeiterklasse unabhängiges Engagement in der europäischen Politik und ihre politische Forderung nach einem „republikanischen Programm" für die deutsche und die russische Partei (RL: 69f.). Die Entgegensetzung von Politik und gesellschaftlichen Interessen bezeichnet eine grundlegende Differenz zwischen Walzer und Arendt. Man kann diese Differenz nicht außer Acht lassen, wenn man beide Autoren in Hinblick auf die hier relevante Frage vergleicht, welche Art der Unparteilichkeit für kritische Distanz notwendig ist. Während Arendt der Arbeiter- und Frauenbewegung oder auch der Studentenbewegung der sechziger Jahre nur in Hinblick auf deren Forderung nach politischer Partizipation und demokratischer Öffentlichkeit den Status einer politischen Bewegung beimißt, sie aber zugleich wegen ihres apolitischen, auf soziale und ökonomische Interessen fokussierten Engagements kritisiert, ist es für Walzer evident, daß Menschen nach politischer Teilhabe verlangen, damit ihre je verschiedenen Interessen im politischen Gemeinwesen Berücksichtigung finden. Walzers Selbstperspektivierung als „linker Intellektueller" ist

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daher als gesellschaftspolitische Positionierung gemeint. Das moderne Dilemma eines solidarischen wie kritischen Engagements, das die von ihm porträtierten Kritiker eint, ist auch sein Dilemma und läßt sich für ihn nicht dadurch lösen, daß man sich als Betrachter und Zuschauer auf einen von Politik wie von gesellschaftlichen Interessen gleichermaßen distanzierten Standpunkt zurückzieht. Identifikation und Distanz: Orwell oder Lessing Arendt zieht aus dem Scheitern des Projekts kritischer Verbundenheit, das entweder zu politischer Randständigkeit oder zum Verlust poetischer Distanz führt, den Schluß, daß kritisches, unabhängiges Denken mit politischem Handeln nicht vereinbar ist. Walzer geht dagegen nicht nur weiterhin davon aus, daß Kritik in Verbundenheit möglich ist, er hält dies für die einzig praxisrelevante Form der Kritik. Die exemplarische Figur des Intellektuellen, an der er sich orientiert, ist der politische Schriftsteller George Orwell. Jemand wie Orwell mag zwar heute, so schreibt er in Zweifel und Einmischung, wie eine Figur aus einer fernen Vergangenheit anmuten, bleibt aber dennoch beispielhaft für eine Form immanenter Gesellschaftskritik, die einen klaren politischen Standpunkt vertritt und eine spezifische gesellschaftliche Herkunft hat (ZE: 46). Im Gegensatz zur linken Kritik an Orwell, die den Autor von Farm der Tiere und 1984 zum Ideologen des Kalten Krieges machte, und im Unterschied zum gemäßigten Urteil von Raymond Williams (1981), der Orwells Rückkehr zur „englischen Großfamilie" als Scheitern einer heldenhaften Anstrengung begreift, seine bürgerlichen Wurzeln auszureißen und ein radikaler, leidenschaftsloser Kritiker zu sein, sieht Walzer das Konstante: „Im Grunde war Orwell stets Eric Blair, der Engländer aus der ,unteren oberen Mittelklasse', der Eton besuchte, sich der Polizei in Burma verpflichtete und sie wieder verließ. [...] [E]r änderte seine Meinung - mehr als einmal - und seinen politischen Standpunkt. Aber es gab keine gravierenden Bekehrungen und keinen ,Notausgang'. Er mied die Kommunistische Partei, diente niemals einem Gott, der versagte, war Trotzkist auf Distanz, hatte keine Erfahrung mit dem, was Silone ,die Situation des >Ex