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German Pages 356 Year 1986
HARM KLUETING
Die Lehre von der Macht der Staaten
Historische Forschungen
Band 29
Die Lehre von der Macht der Staaten Das außenpolitische Machtproblem in der "politischen Wissenschaft" und in der praktischen Politik im 18. Jahrhundert
Von
Priv.-Doz. Dr. Harm Klueting, M. A.
DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Klueting, Harm: Die Lehre von der Macht der Staaten: d. aussenpolit. Machtproblem in d. "polit. Wiss." u. in d. prakt. Politik im 18. Jh. / von Harm Klueting. - Berlin: Duncker und Humblot, 1986. (Historische Forschungen; Bd. 29) ISBN 3-428-06052-0
NE:GT
AUe Rechte vorbehalten
@ 1986 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41
Satz: Satzstudio Irma Grlnlnger, Berlin 62 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed In Germany ISBN 3-428-06052-0
Meinen Kölner Studenten
Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde 1983 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln als Habilitationsschrift für das Fach Neuere Geschichte angenommen und danach für den Druck überarbeitet. Sie verdankt ihr Entstehen einer Anregung von Professor Dr. Johannes Kunisch (Köln), dem ich über akademische Gepflogenheiten hinaus für seinen Rat, für seine Kritik und für vielfältige Unterstützung zu danken habe. In diesen Dank schließe ich die von der Fakultät bestellten Gutachter ein, die mir in vieler Hinsicht und vor allem mit Verbesserungsvorschlägen geholfen haben. Das Zustandekommen der Arbeit wurde durch ein zweijähriges Habilitandenstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft wesentlich erleichtert, die dankenswerterweise auch durch einen namhaften Druckkostenzuschuß das Erscheinen der Arbeit ermöglicht hat. Doch habe ich den Gutachtern der Deutschen Forschungsgemeinschaft auch für wertvolle Kürzungsvorschläge zu danken. Für förderliche Gespräche während der Entstehungszeit der Arbeit danke ich auch Professor Dr. Karl-Georg Faber (t) und Professor Dr. Heinz Gollwitzer (Münster/München). Nicht unerwähnt bleiben darf schließlich die unermüdliche Hilfe meiner Frau, Dr. Edeltraud Klueting, zu der sie trotz großer dienstlicher Belastung, eigener wissenschaftlicher Arbeit und universitärer Lehrverpflichtungen immer wieder bereit war. Das Buch ist den Studenten meiner ersten Kölner Dozentensemester gewidmet. Das entspricht meinem persönlichen Anliegen und folgt aus der Überzeugung, daß es für die Habilitationsschrift eines Hochschullehrers, dem Lehraufgaben Freude bereiten, keinen besseren Widmungsadressaten gibt als seine Studenten. In das Literaturverzeichnis haben im Abschnitt "Gedruckte Quellen und Literatur" zumeist nur die mehrfach angeführten Titel Aufnahme gefunden. Darüber hinaus sind sämtliche zitierten Arbeiten über die vom Register ausgewiesenen Autorennamen erfaßbar. Universität zu Köln und Universität Osnabrück im Sommersemester 1986
Harm Klueting
Inhaltsverzeichnis Einleitung
13
1. Das Problem
13
2. Der Machtbegriff im politischen Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts ..
31
Te i I I Statistik und Staatskunst als Lehre von der Macht der Staaten 1. Statistik
39 39
a) Die Macht der Staaten als Gegenstand der ,curiositas' .............
39
b) Die vorakademische Statistik ..................................
43
c) Die ältere deutsche Universitätsstatistik .........................
45
d) Gottfried Achenwall und die jüngere deutsche Universitätsstatistik ...
51
e) Die statistische Neugierde und die Öffentlichkeit der Staatsgeheimnisse
62
f) Von der Klassifizierung und Ordnung zur Quantifizierung und Messung der Macht .................................................
67
2. Staatskunst ...................................................
84
a) Die Chimäre der QuantifIzierbarkeit der Macht: J. H. G. Justi ......
87
Die Chimäre des Gleichgewichts ...............................
89
Ein Kameralist als Lehrer der Staatskunst .......................
98
Die Wiener Antrittsrede ......................................
107
Die Relativität der Macht .....................................
113
b) Die "Kabinettswissenschaft" als Mittel zur Steigerung der relativen Macht: J. F. Bielfeld ...............................................
114
Ein "Courtisan" als Lehrer der Staatskunst ......................
115
Die "Institutions Politiques" ...................................
119
"La puissance reelle" und "la puissance relative" ..................
121
"L'art des cabinets" ..........................................
129
Die "Calculs Politiques" ......................................
134
Inhaltsverzeichnis
10
Te i I 11 Die Lehre von der Macht der Staaten im Raum der politischen Praxis
138
1. Friedrich der Große
138
a) Ein "souverain" als Lehrer der Macht ...........................
138
b) Macht und militärische Stärke .................................
148
c) "L'industrie" und "I'ordre dans toutes affaires" als Grundlagen der Macht
154
d) Die Kenntnis der "force" und "faiblesse" der Staaten ..............
164
2. Kaunitz ......................................................
167
a) Die Disposition des Staatskanzlers Kaunitz für die Rationalisierung der außenpolitischen Dezision ....................................
167
b) Kaunitzens Auffassung von der Macht der Staaten in den frühen Denkschrift eh ...................................................
174
c) Der Eintritt der inneren Politik in die Außenpolitik und die staatswirtschaftliche Verdichtung der Machtvorstellung ....................
180
d) Die Funktion kameralwissenschaftlicher und statistischer Hilfsmittel in der Außenpolitik des Staatskanzlers Kaunitz .....................
184
e) "Puissance reelle" und Ökonomie: die "inneren Kräfte des Staates"
204
..
f) "Puissance reelle" und Politik: Das "weise und vorsichtige Politicum"
213
g) "Puissance relative" und "Puissance accessoire" ...................
221
h) Die europäischen Mächte im Urteil des Staatskanzlers Kaunitz ......
230
3. Hertzberg .....................................................
236
a) Ein "premier commis" als Theoretiker der Macht .................
238
b) Die Akademiereden Hertzbergs ................................
243
c) "La Prusse, ce n'est pas une puissance ephemere" .................
247
d) Der preußische Necker: Öffentlichkeit der Staatsgeheimnisse als Mittel zur Macht .................................................
261
e) Hertzbergs "Großer Plan" ....................................
267
Teil III Ausblick
274
1. Die Lehre von der Macht der Staaten als Propagandamiuel in der Politischen Publizistik: Das Beispiel: die "Staats betrachtungen" (1761) ............
274
2. Der Glaubwürdigkeitsverlust der Lehre von der Macht der Staaten: A. F. Lueder ..................................................
283
Inhaltsverzeichnis
11
3. Die territorialen Verschiebungen von der Französischen Revolution bis zum Wiener Kongreß und der Triumph der Quantifikation in der Tabellenstatistik ......................................................... .
289
4. Das preußische Statistische Bureau (1805) und die Statistische Kommission des Wiener Kongresses ......................................... .
295
Ergebnisse ....................................................... .
Quellen und Literatur .............................................. . Register ......................................................... .
302 318 341
Sigel
ADB
Allgemeine deutsche Biographie
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Archiv für österreich ische Geschichte
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Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte
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Göttingische Gelehrte Anzeigen
GWU
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
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Zeitschrift für historische Forschung
ZRG GA
Zeitschrift der Savignystiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung
ZStA
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Einleitung 1. Das Problem Hegemonie und Gleichgewicht I bildeten die Grundformein für die Ordnung des europäischen Staatensystems, wie es in Italien seit dem Frieden von Lodi (1454) mit der "Pentarchie" der fünf Mächte Mailand, Venedig, Florenz, dem Kirchenstaat und Neapel vorweggenommen wurde, bevor es sich im Westen Europas mit dem Frieden von Cateau-Cambresis (1559) zunächst unter der Vorherrschaft Spaniens und mit dem Pyrenäenfrieden (1659) unter der Dominanz Frankreichs herausformte. Mit dem Erstarken Englands nach der "Glorious Revolution" (1688/89) und mit dem Spanischen Erbfolgekrieg (1701-14) und dem Nordischen Krieg (17@"21) auf den gesamten Kontinent ausgeweitet, nahm es die Gestalt eines pluralen Systems der vier "Großen Mächte" England, Frankreich, Österreich und Rußland an, das sich nach dem Prinzip des Gleichgewichts organisierte und im Laufe des 18. Jahrhunderts durch den Hinzutritt Preußens als fünfter Großmacht erneut eine Pentarchie ausbildete 2 • Ähnlich wirkten im Inneren der Staaten Souveränität und Bonum Commune als Grundformeln der politischen Ordnung. Die von Jean Bodin (1576) in den Begriff der "souverainete" gefaßte "plenitudo potestatis" löste Herrscher und Staat von äußeren und inneren Bindungen und drängte die im Inneren konkurrierenden Herrschaftsträger wenigstens der Tendenz nach auf die Stufe von Untertanen, die keine Möglichkeit zu selbstbestimmter Rechts- und Friedenswahrung mehr besaßen und dafür den Rechtsschutz und die Friedenssicherung genossen, die der Souverän ihnen bot 3• Dasselbe gilt für die durch die Existenz des Reiches beschränkte Landeshoheit oder "Superiorität" der deutschen Territorialfürsten. Verwandt mit Rechtsschutz und Friedenswahrung war die "Policey" mit ihrer I L. Dehio, Gleichgewicht oder Hegemonie. Betrachtungen über ein Grundproblem der neueren Staatengeschichte (1948); Vietsch. Gleichgewicht; G. Zeller, Le principe d'equilibre dans la politique internationale avant 1789 (Revue historique 215, 1956, S. 25-37); H. Rothfels, Gleichgewicht als regulierendes Prinzip im europäischen und Weltstaatensystem (Saeculum 19, 1969, S. 406-413); M. Wright (Hrsg.), Theory and Practice ofthe Balance ofPower, 14861914. Selected European Writings (1975); G. Livet, L'equilibre europeen de la fin du XVe ala fin du XV1IIe siede (1976). Zum Friedensproblem zusammenfassendH. Duchhardt, Friedenswahrung im 18. Jahrhundert (HZ 240, 1985, S. 265-282). Siehe auch unten Anm.12. 2 W. Platzhoff. Geschichte des europäischen Staatensystems 1559-1660 (1928); Immich, Gesch. d. europ. Staatensystems 1660-1789. J H. Quaritsch, Staat und Souveränität (Bd. 1, 1970); H. Denzer (Hrsg.), Jean Bodin. Verhandlungen der internationalen Bodin-Tagung in München (1973);J. H. Franklin, Jean Bodin and the Rise of Absolutist Theory (1973).
14
Einleitung
zentralen Aufgabe, dem Glück und der Wohlfahrt und dem "guten Leben" der Untertanen. Als Postulat der Glückseligkeit, des "Gemeinen Besten", als Ideal der evoalpovia durch die seit dem Mittelalter an den Universitäten gepflegte aristotelische Ethiklehre vermittelt und mit Christian Wolffs Eudämonielehre auch noch dem 18. Jahrhundert präsent und mit dem Eudämonismus der Aufklärung verbunden4 , lag diese auch von der Kameralistik propagierte Zielsetzung der wohlfahrtsstaatlichen Staatszweckbestimmung des 18. Jahrhunderts zugrunde 5• In die gleiche Richtung wirkte seit dem späten 16. Jahrhundert die antimachiavellistische Tradition, die die von Machiavelli (1532) und der auf ihn folgenden "Ragione di Stato"-Literatur aufgezeigten Mittel und Wege zur Erlangung und Befestigung von Herrschaft mit dem Verweis auf das "gute Regiment" und die Pflicht des Herrschers zur Sorge für das Gemeine Beste der Untertanen beantwortete und dabei das gegenseitige Sich-Bedingen der Wohlfahrt des Herrschers und der Wohlfahrt der Untertanen betonte. Für Gleichgewicht und Hegemonie, für Bonum Commune und Souveränität galt die Unentbehrlichkeit der Mitwirkung der Macht. Das meint einmal die Macht schlechthin, wie sie Machiavelli und nach ihm Bodin als konstitutives Element der Politik offengelegt hatten. Diese Macht meinte Jakob Burckhardt, als er davon sprach, daß "die Macht an sich böse" sei6• Unentbehrlich war für die Ordnung des Staatensystems und die innere Ordnung der Staaten aber auch die konkrete Erscheinungsform der Macht als außenpolitisch wirksame Macht von Staaten. Diese wirkte nicht nur auf Hegemonie und Gleichgewicht ein, sondern auch auf das Bonum Commune, weil die Wohlfahrt und das "gute Leben" der Untertanen auch die Sicherheit des Gemeinwesens nach außen umfaßte. Für die Souveränität ist die Mitwirkung der außenpolitischen Macht ohnehin unübersehbar, weil Souveränität immer zugleich eine nach innen und eine nach außen gewandte Seite hat. Überhaupt bedeutete Macht (la puissance), anders als Gewalt (le pouvoir), im 18. Jahrhundert stets in erster Linie die zwischen den Staaten wirksame Macht. Die Kompensationsmechanik des Gleichgewichtsdenkens verlangte den Kräftevergleich zwischen den Staaten, wie die Kenntnis des Umfangs der Macht des eigenen Staates und der der Partner und Gegner im Staatensystem als Basis der praktischen Außenpolitik zunehmend an Bedeutung gewinnen mußte, nachdem diese durch die Pluralität der Staaten und die Multipolarität des Staatensystems 4 W. Merk. Der Gedanke des gemeinen Besten in der deutschen Staats- und Rechtsentwicklung (1934); Engelhardt, Zum Begriff der Glückseligkeit. S Scheuner, Staatszwecke; D. Klippei, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts (1976), S. 51 ff., 59-66; ehr. Link. Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit. Grenzen der Staatsgewalt in der älteren deutschen Staatslehre (1979), S. 139 ff. 6 J. Burckhardt, Über das Studium der Geschichte. Der Text der "Weltgeschichtlichen Betrachtungen", hg. von P. Ganz (1982), S. 260. Zur Unauffindbarkeit des Zitates bei Schlosser siehe Anm. von Ganz auf S. 488.
I. Das Problem
15
immer komplizierter wurde. Doch ergab sich bei diesem Kräftevergleich die wachsende Schwierigkeit, den Umfang der Macht der Staaten bestimmen oder nur von ihrer militärischen Stärke herleiten zu können. Was waren überhaupt die Faktoren, durch die die außenpolitisch einsetzbare Macht von Staaten bewirkt wurde? so lautete die Frage. In welchem Verhältnis standen sie zueinander? Welche Mischung von Machtfaktoren ließ einen mittelmäßigen Staat zur Großmacht werden? Was bewirkte den Verlust der Großmachtrolle, wie er bei Spanien oder Schweden, für die Zeitgenossen sichtbar, eingetreten war'? Was verlieh kleinen Staaten wie der Schweiz mit ihren Kantonen die Möglichkeit zum politischen Überleben zwischen größeren Mächten? Worin bestanden die Voraussetzungen für den machtpolitischen Aufstieg der niederländischen Republik im 17. und für ihren Abstieg im 18. Jahrhundert? Warum war Polens Stellung im Staatensystem so viel schwächer als diejenige Frankreichs? Was gewannen und was verloren die europäischen Staaten an Macht durch ihre überseeischen Besitzungen? Wie war in dieser Hinsicht die Macht Großbritanniens zu beurteilen? Wie stand es um das Verhältnis von militärischer Kapazität, wirtschaftlicher Leistungskraft und politischen Mitteln zur Friedenssicherung oder zur Isolierung von Gegnern? Welchen Wert hatten Bündnisse? Festungsanlagen? Rüstungsaufwendungen? Was hatte den antiken Stadtstaat Rom befähigt, in Italien zur Vorrangstellung aufzusteigen und zum Zentrum einer Weltmacht zu werden, was - wie nicht erst seit Montesquieu (1734) gefragt wurde 8 - die Größe und den Niedergang der Römer bewirkt? Was endlich ermöglichte Preußen, einem territorial zersplitterten, künstlich zusammengefügten Staat mit geringen Ressourcen und schwacher Bevölkerung, als Großmacht zu agieren und sich im Siebenjährigen Krieg gegen drei Großmächte zu behaupten, von denen ihm jede für sich materiell weit überlegen war? Diese von Politikern und Politologen auch heute erörterten Fragen9 wurden von der Struktur des Staatensystems selbst gestellt und verschärften sich durch seine seit der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert eingetretene Vielpoligkeit. Die Lösungsversuche für diese für Krieg und Frieden, äußere und innere Politik grundlegenden Fragen und die Diskussion des Machtproblems im Bereich der praktischen Politik bei Herrschern, Ministern und Diplomaten, aber auch die Versuche zur Bewältigung des Machtproblems in den Schriften der Gelehrten und die Erörterungen über die Macht der Staaten in der politischen Publizistik - all das 7 K. Zemack. Schweden als europäische Großmacht der frühen Neuzeit (HZ 232,1981, S. 327-357). Es handelt sich um einen Vortrag, der auf dem Würzburger Historikertag 1980 im Rahmen einer Sektion "Aufstieg und Niedergang von Weltreichen" gehalten wurde. 8 W. Rehm. Der Untergang Roms im abendländischen Denken. Ein Beitrag zur Geschichtsschreibung und zum Dekadenzproblem (1930); R. Koselleckl P. Widmer (Hrsg.), Niedergang. Studien zu einem geschichtlichen Thema (1980); A. Demandt. Der Fall Roms. Die Auflösung des römischen Reiches im Urteil der Nachwelt (1984). 9 Siehe z.B. H. Kissinger. Years of Upheaval (1982), S. 12, dasselbe deutsch: Ders.• Memoiren 1973-1974 (1982), S. 19.
16
Einleitung
bündelt sich in einer "Lehre von der Macht der Staaten", die in engem Zusammenhang mit den Lehren vom Gleichgewicht, von der Staatsräson und von den Interessen der Staaten stand, ohne in einer dieser Lehren aufzugeben. Anders aber als die Interessenlehre 10 oder die Staatsräsonlehre 11 und anders auch als die Idee des Gleichgewichts l2 hat die Lehre von der Macht der Staaten in der Forschung bislang keine Beachtung gefunden, obwohl es eine ausgedehnte Literatur aus den verschiedensten Disziplinen von der Politikwissenschaft über die Soziologie bis zur Psychologie und Theologie zum Thema Macht gibt 13. Dabei sollte man denken, daß die Lehre von der Macht der Staaten des 18. Jahrhunderts längst Gegenstand historischer Darstellungen geworden wäre, weil sie auch in heutigen Versuchen zur Bewältigung des Machtproblems im Staatensystem der Gegenwart noch immer durchscheint. Das wird besonders deutlich in den außenpolitischen Machtlehren der "realistischen" Schule der Lehre von den Internationalen Beziehungen in der amerikanischen Politikwissenschaft seit dem Zweiten Weltkrieg, etwa bei Morgenthau, aber auch in verwandten Richtungen. Morgenthau wendet sich mit seinem zuerst 1948 erschienenen Werk "Politics among Nations" 14 gegen die Gleichsetzung des zentralen Elementes der Macht mit der materiellen, insbesondere militärischen Stärke und betont seine immateriellen 10 Noch immer wichtig Meinecke. Staatsräson, S. 172-231. 11 Meinecke. Idee der Staatsräson; Lutz. Ragione di Stato und christliche Staatsethik im 16. Jahrhundert; Stol/eis. Arcana imperii und Ratio status; Ders. . Friedrich Meineckes "Die Idee der Staatsräson" und die neuere Forschung. 12 Fenske. Gleichgewicht, Balance; M. S. Anderson. Eighteenth-Century Theories of the Balance of Power (Studies in Diplomatie History. Essays in memory of D. B. Horn. hg. von R. Hatton u. M. S. Anderson, 1970. S. 183-198; Kaeber. Idee des europäischen Gleichgewichts in der publizistischen Literatur; K. Kluxen. Zur Balanceidee im 18. Jahrhundert (Festschrift für Theodor Schieder, 1978, S. 41-58). 13 K. v. Beyme/C. D. Kernig. Art. Macht (Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft, Bd.4, 1971, Sp. 235-259); R. Dahrendorf, Art. Macht IV eRGG 4, 1960, Sp. 569-572); B. Russei. Power (1938, dasselbe deutsch: Macht. Eine sozialkritische Studie, 1947); H. D. Lasswel// A. Kaplan (Hrsg.), Power and Society. A Framework for Political Inquiry C1968); K. Sontheimer. Zum Begriff der Macht als Grundkategorie der politischen Wissenschaft (Wissenschaftliche Politik, hg. von D. Oberndörfer, 1962, S. 197-209); O. H. von der Gablentz. Macht, Gestaltung und Recht - die drei Wurzeln des politischen Denkens (Faktoren der Machtbildung, hg. von A. R. L. Gurland, 1952, S. 139-161); St. Lukes. Power. A radical View (1974);1. S. Coleman. Macht und Gesellschaftsstruktur (1979, Power and the Structure of Society, dt.); St. Hradil. Die Erforschung der Macht. Eine Übersicht über die empirische Ermittlung von Machtverteilungen durch die Sozialwissenschaften (1980); H.-D. Schneider. Sozialpsychologie der Machtbeziehungen (1977); Luhmann. Klassische Theorie der Macht; K. Lenk. Macht. Herrschaft, Gewalt. Differenzierungen der Politischen Soziologie (Aus Politik und Zeitgeschehen, B 24, 1981 , S. 13-29); R. Aron. Macht, Power, Puissance. Demokratische Prosa oder dämonische Poesie? (Das.• Zwischen Macht und Ideologie. Politische Kräfte der Gegenwart, 1974, S.69-94, Macht, Power, Puissance. Prose democratique ou poesie demoniaque? dt.); J. R. Chamblin (Hrsg.), Power (1971); H. Ph. Platz. Vom Wesen der politischen Macht. Versuch einer Erhellung in Auseinandersetzung mit F. Gogarten und G. Gundlach (1971). 14 H. J. Morgenthau. Politics among Nations (1948,31960), deutsch: Ders.. Macht und Frieden. Grundlegung einer Theorie der internationalen Politik (1963).
1. Das Problem
17
Aspekte, vor allem seine Ausprägung als charismatische Macht 15. Damit erscheint die Perzeption der Macht selbst als Machtmittel, so daß nur wenig Raum bleibt für die Quantifikation der Macht, wie sie uns anderswo begegnen wird. Das gilt auch für den 1963 von Brzezinski und Huntington angestellten Vergleich der Macht der Vereinigten Staaten mit der der Sowjetunion l6 • Beide halten in diesem Werk den Erfolg im Wettstreit der rivalisierenden Weltmächte letztlich für eine Frage des Funktionierens der politischen Systeme und reduzieren daher den Vergleich der Macht der beiden Staaten auf die Vor- und Nachteile der beiden politischen Ordnungen. Hierher gehört auch die Rolle, die dem Prestige als Faktor der Macht bei Thompson zukommt l1 , der politische und militärische Macht unterscheidet und die politische Macht nicht an eine bestimmte Quantität irgendeiner materiellen Substanz gebunden sieht. Politische Macht sei eine Beziehung, ein Produkt der Umstände und von Fall zu Fall durch ganz anders gewichtete Faktoren begründet 18. Während für Thompson der Gebrauch von Stärke (force) oder Gewalt (vialence), die er mit Hannah Arendt von der Macht (power) unterscheidet, die Abdankung der politischen Macht zugunsten der militärischen bedeutet, wird Macht für Knorr erst im Konflikt relevant. Knorr trennt zwischen militärischer, wirtschaftlicher und politischer Macht (political penetrative power) 19. Zwar findet sich auch bei ihm die Feststellung, Macht sei ein Gegenstand der Wahrnehmung und der subjektiven Einschätzung ("power is what people think it is,,)20. Doch verbindet sich damit nicht die Betonung immaterieller Faktoren der Macht. Knorr arbeitet vielmehr das Gewicht heraus, das die technologischen und ökonomischen Ressourcen als Grundvoraussetzungen der militärischen und der wirtschaftlichen Macht besitzen 21 , auch wenn er daneben die politische Entschlossenheit zum Machtgebrauch als eine Grundlage der militärischen Macht einstuft. Besonders pessimistisch sind die Überlegungen Vitals über die Bedingungen der Macht der kleinen Staaten22 , da er die Fähigkeit eines Staates, äußerem Druck zu widerstehen, in erster Linie an die Quantität der ökonomischen Hilfsmittel und der Bevölkerung gebunden sieht. Doch räumt er ein, daß das nicht die einzigen Besonders Morgenthau. Macht und Friede, S. 71 ff. Z. K. Brzezinski/S. P. Huntington. Political Power: USA/USSR (1963), deutsch: Dies.• Politische Macht USA/UdSSR. Ein Vergleich (1966). I7 K. W Thompson. Power, Force and Diplomacy (The ReviewofPolitics 43, 1981, S.41~ 435). 18 Ibid., S. 429. 19 K. Knorr. The Power of Nations. The Political Economy of International Relations (1975). Sieben von elf Kapiteln dieses Werkes in überarbeiteter Form aus: Ders.• Power and Wealth. The Political Economy of International Power (1973). 20 Ibid., S. 13. 21 Ibid., S. 45. 22 D. Vital. The Inequality of States. A Study of the Small Power in International Relations (1967). 15
16
18
Einleitung
Faktoren der Macht eines Staates sind, so daß kein absoluter Nachteil für kleine Staaten besteht. Im gegebenen Fall seien die unwägbaren Momente vielleicht wenigstens ebenso wichtig wie die meßbaren Hilfsquellen an Waffen, Vorräten, Geld oder Menschen. Den Faktor der militärischen Kapazität betont Grewe in einem 1980 erschienenen Aufsatz, wenn er daneben auch andere Eigenschaften als bestimmend für das Kräfteverhältnis der Weltmächte betrachtet, etwa das Wirtschaftspotential oder den technologischen Entwicklungsstand 23 . Außerdem nennt er weitere Machtfaktoren wie Bündnissysteme und die innere Stabilität der politischen und gesellschaftlichen Ordnung, das geistige und moralische Klima in der Welt, die Kraft der Ideologien und das Prestige von Staaten und Regierungen. Diese "sind, sobald man über die Ziffern des Rüstungsstandes und des Wirtschaftspotentials hinausblickt, schwer meßbar, schwer vergleichbar, überwiegend nicht quantifizierbar,,24. Selbst die verfügbaren Zahlenangaben über quantifizierbare Faktoren der Macht seien höchst kontrovers und interpretationsbedürftig. Diese Skepsis steht im Gegensatz zu Versuchen, den Umfang der Macht der Staaten und die Verteilung der Macht in der Staatenwelt der Gegenwart durch quantitative Analysen zu ermitteln und damit Möglichkeiten zur Prognostizierung der zukünftigen Entwicklung der internationalen Machtrelationen zu gewinnen, wie sie 1973 von Morgenstern, Knorr und Heiss 25 oder 1977 von Russett 26 angestellt wurden. Eine extreme Richtung der quantitativ-mathematischen Machtlehre bietet in unserer Zeit der deutsche Physiker Fucks 27 , der sich auf die Bevölkerungsmenge und den Umfang der Energie- und Stahlproduktion beschränkt und damit die Machtverhältnisse auf der Erde im voraus für einen Zeitraum von 75 Jahren berechnen zu können meint 28 • Es ist nicht das Anliegen der vorliegenden Untersuchung, außenpolitische Machtlehren unserer Gegenwart zu erörtern. Soviel scheint aber immerhin deutlich gemacht werden zu können, daß die Fragen nach der Macht der Staaten aus dem Jahrhundert der Stehenden Heere des monarchischen Absolutismus und der temperierten Kriegführung auch in den außenpolitischen Machttheorien im Jahrhundert des totalen Krieges und der nuklearen Fernwaffen noch erkennbar sind 280. Hier - und nur hier - liegt die Aktualität unseres Themas, nicht aber der Rahmen und die AufgabensteIlung der Arbeit. 23 W. Grewe. Machtvergleiche in der Weltpolitik. Kräfterelationen und Modelle der Konfliktvermeidung (Merkur 34, 1980, S. 421-434). 24 Ibid., S. 424. 25 O. Morgenstern/ K. Knorr/ K. P. Heiss. Long Term Projections ofPower: Political, Economic, and Military Forecasting (1973). 26 B. M. Russett. World Handbook of Political and Social Indicators (1977). 27 W. Fucks. Formeln zur Macht. Prognosen über Völker, Wirtschaft, Potentiale (1965). 28 Ibid., S. 9 f. 28, Ähnlich F. H. Hins/ey, Power and the Pursuit ofPeace. Theory and practice in the history of relations between states (1963), S. 3, für den die Friedenskonzepte und Kriegsvermeidungsstrategien des 20. Jahrhunderts nur Kopien der Friedensprojekte de~ 17. Jahrhunderts sind.
1. Das Problem
19
Erforscht und dargestellt werden soll die Lehre von der Macht der Staaten des 18. Jahrhunderts als eine bislang vernachlässigte Form der Bewältigung grundlegender Probleme des neuzeitlichen Staatensystems, die Eigenwert besaß gegenüber anderen Formen der Bewältigung dieser Probleme wie der Interessenlehre oder der Gleichgewichtslehre. Das umfaßt die Untersuchung der Inhalte und der Aussagen der Lehre von der Macht der Staaten, ihrer Träger und ihrer Erscheinungsformen, ihrer Möglichkeiten und ihrer Grenzen, aber auch der in ihr wirksamen Traditionen und der aus ihr heraus in die Zukunft ihrer Gegenwart weisenden Entwicklungslinien. Dazu gehört die Verschränkung der Lehre von der Macht der Staaten mit den ökonomischen und finanzwissenschaftlichen Lehren der Kameralisten, Neocolbertisten und Physiokraten. Dabei meint "Lehre" zunächst die doctrina im Sinne der gelehrten Unterweisung, wie sie in der mündlichen Lehre der Professoren an den Ritterakademien und Universitäten vor ihren Studenten geübt wurde, von denen manche, besonders aus den Reihen der adeligen Hörer ihrer Privatkollegien, für politische oder diplomatische Posten im Dienste der Fürstenstaaten ausersehen waren oder in derartige Stellungen aufstiegen. Diese Lehre ist in schriftlicher Gestalt in Kompendien und anderem gelehrten Schrifttum auf uns gekommen, wobei zwei Gattungen zu unterscheiden sind, die für unterschiedliche Zugangsweisen zum Machtproblem stehen. Die eine Zugangs weise begegnet in der "Politik" oder "Staatskunst", auch "Staatsklugheit" genannt, die sich auf dem Boden der Kameralistik, als Gegenstück zu der für die innere Ordnung des Gemeinwesens zuständigen "Policey", als vierte oder - bei Justi - als fünfte Disziplin im kameralistischen Fächerkanon ausbildete. In der Tradition der aristotelischen Philosophie, des machiavellistischen und des antimachiavellistischen Schrifttums oder der Fürstenspiegelliteratur trat die "Staatskunst oder Politik" aber auch außerhalb der Kameralwissenschaften hervor, wobei sich hier wie dort im Laufe des 18. Jahrhunderts die außenpolitische Thematik dieser Politiklehre verstärkte - bis zur Ausbildung besonderer Außenpolitiklehren wie der Bielfeldschen "Kabinettswissenschaft" (1760). Wieder in anderen Traditionen gründete die andere Zugangs weise der Gelehrten zum Machtproblem, die Staatenkunde oder "Statistik", die sich selbst diesen Namen gab, den sie während des ganzen 18. Jahrhunderts gegenüber dem amtlichen Aufzeichnungs wesen und der aus der englischen Politischen Arithmetik hervorgegangenen, der modernen Statistik näher stehenden Richtung monopolisieren konnte. Statistik und Staatskunst behandelten die Fragen nach der Macht der Staaten und den sie bewirkenden Faktoren, wobei die Statistik - dieser zeitgenössische Name soll hier durchgehend gemäß dem Verständnis des 18. Jahrhunderts Verwendung finden - empirisch Kenntnisse über die Machtpotentiale der einzelnen Staaten zusammentrug, während die Staatskunst systematisch-theoretische Maximen über die Macht der Staaten überhaupt erarbeitete, generelle Aussagen über das Wesen und die Inhalte der außenpolitisch relevanten Macht formulierte
Einleitung
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und Möglichkeiten zur Beeinflussung der Machtverhältnisse, Strategien zur Machtsteigerung oder Mac\1tminderung, erörterte. Was oben über die fehlende Beachtung der Lehre von der Macht der Staaten in der Literatur angedeutet wurde, das gilt, wenn auch weniger absolut, auch für die Staatskunst und die Statistik. Besonders schlecht stellt sich der Forschungsstand für die kameralistische Staatskunstlehre als Tecnnik und Theorie der Außenpolitik 29 dar, während die ökonomische und die finanzwissenschaftliche Seite der Kameralistik dank der dogmengeschichtlichen Arbeiten der Historischen Schule der Nationalökonomie seit Roscher und durch jüngere Arbeiten vergleichsweise gut bekannt ist 30 und auch die lange "vergessene" Polizeiwissenschaft seit Hans Maiers Buch von 1966 längst nicht mehr die damals von ihm beklagte terra incognita darstellt 3' • Dagegen gibt es für die in jüngster Zeit erneut beachtete Statistik32 des 18. Jahrhunderts eine Reihe älterer Arbeiten 33 , doch kranken besonders die älteren - aber auch einige jüngere 34 - oft unter dem blickverengenden Aspekt der Geschichte oder Vorgeschichte einer modernen Disziplin35 • Damit wird die so ganz anders gerichtete alte Statistik ihres Eigenwertes beraubt und erscheint dann mit ihrer scheinbar ordnungslosen Materialfülle als "wüstes Noti7;enwesen" (A. Wagner) oder als "ziemlich primitive ,proto-statistische' empirische Beobachtungsmethode" (R. Horvath). Dabei handelt es sich um ein wohl komponiertes analytisches Instrument, dessen einzelne Bestandteile keine Absonderlichkeiten sind, sondern Elemente einer bestimmten Vorstellung von Wesen und Inhalten staatlicher Macht, einer bestimmten Wahrnehmungsweise der Macht, die zu erDas gilt auch für Brückner. Staatswissenschaften. W. Roseher. Gesch. d. National-Oekonomik in Deutschland (I 874); Zielenziger. Die alten deutschen Kameralisten; Sommer. Die österreichischen Kameralisten; Tautseher. Gesch. d. deutschen Finanzwissenschaft; Ders.. Staatswirtschaftslehre des Kameralismus (1947); F. Blaich. Die Epoche des Merkantilismus (1973); Dittrich. Die deutschen und österreichischen Kameralisten. 31 Maier. Ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre;R. Schulze. Policey- und Gesetzgebungslehre im 18. Jahrhundert (1982); M. Raeff. The Well-Ordered Police-State. Social and Institutional Change through Law in the Germanies and Russia. 1600-1800 (1983). 32 Hammerstein. Jus und Historie, S. 236 ff.; Brückner. Staatswissenschaften, S.33-42; Hoock. D'Aristote a Adam Smith; RassemlStagl (Hrsg.), Statistik und Staatsbeschreibung in der Neuzeit; Klueting. Statistik. 33 Wagner. Statistik (Dt. Staatswörterbuch, Bd. 10, 1867);John, Gesch. d. Statistik; Günther. Gesch. d. deutschen Statistik (Festschrift G. v. Mayr, 1911); Westergaard. Contributions to the . History of Statistics (1932). J4 Das gilt etwa für Horvath. Statistische Deskription. 35 Dagegen ist die mit der alten Statistik verwandte Gattung der Reisebeschreibung in den letzten Jahren verstärkt in das Blickfeld interdisziplinärer Forschung gerückt, siehe W. E. Stewart. Die Reisebeschreibung und ihre Theorie im Deutschland des 18. Jahrhunderts (1978); W. Griep. Reiseliteratur im späten 18. Jahrhundert (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 3,1980, S. 739-764);B. I. Krasnobaevl G. RobellH. Zeman (Hrsg.), Reisen und Reisebeschreibungen im 18. und 19. Jahrhundert als Quellen der Kulturbeziehungsforschung (1980); A. Mqczakl H. J. Teuteberg (Hrsg.). Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte (1982). 29
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fassen die hier gestellte Aufgabe ist. Das kann jedoch nur gelingen, wenn man an die alte Statistik als Wissensbereich von Eigenwert herangeht 36 und sie auch als Lehre von der Macht der Staaten in ihrer Zeit ernst nimmt. Unter Lehre, nun nicht mehr eng im Sinne der gelehrten Unterweisung aufgefaßt, sollen aber auch die Versuche zur Bewältigung des Machtproblems im Raum der praktischen Politik bei Herrschern, Staatsmännern und Diplomaten verstanden werden, wie sie in Politischen TeStamenten und ähnlichen Formen der Selbstvergewisserung und der Weitergabe politischer Erfahrungen von einer Herrschergeneration auf die nächste sichtbar werden, aber auch in dem schriftlichen Niederschlag der Entscheidungspi"ozesse selbst. Gemeint sind die Denkschriften und schriftlichen Vorträge der für die Außenpolitik zuständigen Minister, mit denen sie um die Zustimmung des Herrschers zu der von ihnen konzipierten Politik warben, sofern das Regierungssystem ein solches Zusammenspiel von Monarch und Minister kannte. Diese Papiere, in denen Politik als Dezision unmittelbar greifbar wird, enthalten von Fall ZU Fall Lageanalysen und Erörterungen über Wesen und Inhalte staatlicher Macht, Handlungsmaximen zum Machterhalt und zur Machtsteigerung, Überlegungen über die Ressourcen -der Macht und Machtvergleiche. Daneben können andere Denkschriften von Ministern und Diplomaten, Erlasse von Ministern an die Gesandten ihres Fürsten an den fremden Höfen oder EntWürfe und Alternativvorstellungen der Mitarbeiter von Ministern derartigen Reflexionen Raum geben. Auch gehört der gesamte Bereich der Berichterstattung der Gesandten in diesen Zusammenhang. Es ist nicht übertrieben, wenn man daraufhinweist, daß dieses Quellenmaterial, das seit anderthalb Jahrhunderten. den Darstellungen der politischen Ereig~ nisgeschichte und insbesondere der Diplomatiegeschichte als Grundlage gedient hat, auf unsere Fragestellung hin nur in Einzelfallen37 , aber nie im Zusammenhang und erst recht nicht in Bezug auf zeitgenössische und sachlich verwandte Erörterungen in der Politiklehre ausgewertet worden ist. So haben wir zwar eine Fülle von Klischeevorstellungen über "arithmetische Diplomatie" und "politische Mechanik" in der Außenpolitik des 18. Jahrhunderts, wie sie etwa das Werk von Rohden 38 vermittelt, aber keine üntersuchung, die das Kriterienbündel aufzudecken sucht, das dem Machtkalkül und der "politischen Rechenkunst" zugrunde lag, wie überhaupt Arbeiten zum "decision making" in der Außenpolitik dieser Zeit fehlen 38a • 36 Das geschieht bei Seifert, Staatenkunde. Eine neue Disziplin und ihr wissenschaftstheoretischer Grund. 37 Für Friedrich H. etwa Wagner, Die europäischen Mächte in der Beurteilung Friedrichs des Grossen; Schöl/gen, Sicherheit durch Expansion? 38 Rohden. Klassische Diplomatie von Kaunitz bis Metternich. 38a Zur Frage nach den - ökonomischen, geographischen, ethnischen, biologischen, psychologischen und religiösen - Bestimrnungsgtünden politischen HandeIns jetzt]. B. Müller, Determinanten politischer Entscheidung (1985).
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Ein drittes, bis zu einem gewissen Grad zwischen der praktischen Politik und der Politiklehre vermittelndes Feld der Lehre von der Macht der Staaten bildeten offiziöse Staatsschriften und die übrige politische Publizistik, wenn auch die Autoren ohne amtlichen Auftrag als Privatschriftsteller schrieben. Wichtig sind hier Propagandaschriften, die - dem Wort des Thomas Hobbes, "reputation of power, is power", folgend- die Macht des eigenen Staates über ihren wirklichen Umfang hinaus zu vergrößern oder die anderer Staaten zu verkleinern suchten. Mit den Intentionen, die hinter Schriften dieser Art standen, ergeben sich Berührungen mit dem Problem der bürgerlichen Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert, d.h. der Entstehung der "öffentlichen Meinung", wie es Mannheim 39 , Habermas 40 und Koselleck41 und neuerdings Becher42 und Hölscher43 behandelt haben. Zugleich zielte die Statistik im Endergebnis auf "Öffentlichkeit" der Staatsgeheimnisse, d.h. auf Offenlegung der verborgenen Bedingungen der Macht, eine Zielrichtung, die bei Schlözer ihren Höhepunkt erreichte. Den damit verbundenen Fragen soll hier jedoch nicht im einzelnen nachgegangen werden, weil diese Probleme außer halb des Frageansatzes der Arbeit stehen, in der es vielmehr darum geht, die Lehre von der Macht der Staaten überhaupt erst einmal als solche zu ent-decken. Mit dieser Aufgabenstellung verbindet sich jedoch die Frage nach der Beziehung zwischen der Lehre von der Macht der Staaten der Gelehrten und dem Machtkalkül der praktischen Politiker. Das ist die Frage nach dem Einfluß von Wissenschaften, speziell von auf den Staat als Objekt ausgerichteten Disziplinen wie der Statistik und der Staatskunst, auf die politische Dezision und nach der Interdependenz, der wechselseitigen Abhängigkeit von Theorie und Praxis. Dabei kann diese Frage sowohl als Frage nach der Wirkung gestellt werden, die einzelne Schriften von Theoretikern bei der Gestaltung der praktischen Politik ausübten, aber auch als Frage nach der Mitwirkung der Theoretiker selbst und ihrer Tätigkeit als Ratgeber für die praktische Politik. Das Problem ist mehrfach, etwa auch von Meinecke44 , angesprochen worden. Für die frühe Neuzeit hat Faber die Entsprechung zwischen Ordnungsdenken des Absolutismus und neuem Wissenschaftsgeist in der Naturerkenntnis des 17. Jahrhunderts herausgearbeitet 45 , aber auch die zunehmende Praxisbezogenheit der Wissenschaften und die 39 E. Mannheim. Aufklärung und öffentliche Meinung. Studien zur Soziologie der Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert (1979, zuerst u.d.T.: Die Träger der öffentlichen Meinung. Studien zur Soziologie der Öffentlichkeit, 1933). 40 J. Habermas. Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (1962, 81976). 41 Kasel/eck. Kritik und Krise. 42 Becher. Politische Gesellschaft. 43 L. Hölscher. Öffentlichkeit und Geheimnis. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zur Entstehung der Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit (1979). 44 Meinecke. Staatsräson, z.B. S. 168 f., 232. 41 K. -G. Faber. Zum Verhältnis von Absolutismus und Wissenschaft (Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Abhandlungen der Geistes- u. Sozialwiss. Klasse, Jg. 1983, Nr. 5).
I. Das Problem
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Forderung etwa der Kameralwissenschaft nach Anwendung ihrer Erkenntnisse in der ökonomischen und administrativen Praxis. Darüber hinaus wurde von ihm auch die Wissenschaftsförderung des Absolutismus und die Kooperation von Absolutismus und neuer Wissenschaft in der Auseinandersetzung mit dem theologischen Weltbild und dem Konfessionalismus betont. Dagegen hat Braun, weniger an Analogien und Entsprechungen als an der politischen Entscheidungspraxis orientiert, für das 17. und 18. und auch für das 19. und 20. Jahrhundert für den Bereich der Wirtschaftstheorie hervorgehoben, daß Ökonomen bei der Ausarbeitung allgemeiner Konzepte durchaus eine Rolle für die praktische Wirtschaftspolitik spielten, während ihre Bedeutung als "Politikberater" auch noch im 20. Jahrhundert gering und wenig erfolgreich war46 • Im allgemeinen sei weniger die Überzeugungskraft wissenschaftlicher Entwürfe ausschlaggebend gewesen, sondern deren Verwertbarkeit zur Rechtfertigung bestimmter politischer Maßnahmen. Das bedeutet nicht nur die institutionelle und personelle Trennung von Raten und Regieren, von Theorie und Dezision - was der konkrete Inhalt des Philosophenkönigtums seit Platon und im 17. und 18. Jahrhundert bei Leibniz, Thomasius, Wolff oder Kant wäre 47 - sondern die Reduktion der Bedeutung der Wissenschaft für die Politik auf die Wahrnehmung von Alibifunktionen für die politische Praxis. Das deckt sich mit der von Lübbe betonten "Dekorfunktion" und "Feigenblattfunktion" der wissenschaftlichen Politikberatung48 • Die Frage nach dem Zusammenhang von "politischer Wissenschaft" und praktischer Außenpolitik ist bei der Konzeption der vorliegenden Arbeit weniger skeptisch gesehen worden und hat ursprünglich als Ausgangspunkt der Untersuchung gedient. Diese war auf einen Forschungsgegenstand hin angelegt, der in der Frage nach der Hilfsmittelfunktion der Statistik als einer von ihren Trägern auf praktische Anwendung ausgerichteten Disziplin für die Außenpolitik bestehen sollte. Obgleich Kaunitz für die Einrichtung einer Arbeitsbibliothek in der Wiener Staatskanzlei, dem Außenministerium der Österreichischen Monarchie, gesorgt und bei der Ausarbeitung seiner Denkschriften auch Schriften zeitgenössischer Theoretiker herangezogen hat, erwies sich dieser Ansatz, für sich genommen, doch als zu wenig tragfahig. Dennoch scheint die Frage nach der Beziehung von Wissenschaft und Politik im Zusammenhang mit der Lehre von der Macht der Staaten der Klärung bedürftig zu sein, weil die Arbeiten der Statistiker nach der Selbsteinschätzung ihrer Autoren für jeden unentbehrlich waren, der in der aus46 H-J. Braun. Zur Rolle der Nationalökonomen in der praktischen Wirtschaftspolitik. Von den Kameralisten bis Keynes (Wirtschaftskräfte und Wirtschaftswege. Festschrift Hermann Kellenbenz, Bd. IV, 1978, S. 633-648). 47 W. Schneiders. Philosophen könige und königliche Völker. Modelle philosophischer Politik bei Platon und Kant (Filosofia Oggi 4, 1981, S. 165-175). Zum Ideal des Philosophen königturns bei Leibniz Ders.• Vera Politica. Grundlagen der Politiktheorie bei G. W. Leibniz (Festschrift Helmut Schelsky, 1978, S. 589-604). 48 H Lübbe. Rationalisierung der Politik (Ders.. Theorie und Entscheidung. Studien zum Primat der praktischen Vernunft, 1971, S. 54-61).
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wärtigen Politik tätig sein wollte, auch wenn dieser Anspruch zumeist noch nicht über das Propädeutische hinaus auf Instrumentalisierung der Statistik als Hilfsmittel der politischen Dezision und auf die unmittelbare Beteiligung des Statistikers als beratender Experte am Geschäft der Politik abzielte. Gleichwohl waren Statistik und Staatskunst nicht Sache einer vom Staat abgehobenen und diesem bald kritisierend und opponierend gegenüberstehenden Gesellschaft. Man hat wohl zurecht betont, daß Kosellecks "Kritik und Krise" und Habermas' ,,strukturwandel der Öffentlichkeit" keine Rekonstruktion deutscher Wirklichkeit im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung geben 49 • Bei Männern wie Achenwall oder Büsching, Süßmi1ch oder Crome und selbst bei Schlözer gibt es nicht jenen "Herrschaftsanspruch der Kritik über den Staat", den Koselleck in Kants Vorrede zu seiner "Kritik der reinen Vernunft" von 1781 ausgesprochen sieht 50, und den er für die "Republique des lettres" und die Logen der Freimaurerei und - mit dem Blick auf Frankreich - für den antiabsolutistischen Adel, das finanzkräftige Bürgertum und besonders für die "freischwebende" Schicht der Schriftsteller herausgearbeitet hat. Die Träger der Statistik und der Staatskunst gehörten dieser freischwebenden Intelligenz nicht an - wenn man von dem zeitweiligen Schicksal von Einzelpersonen absieht. Sie waren eine staatsbezogene, auf den Staat hin orientierte Intelligenz von Professoren und Lehrern, die vorwiegend an den Universitäten kleinerer und mittlerer Reichsstände, in Göttingen, Erlangen, Jena, Gießen oder im mecklenburgischen Bützow, oder an Ritterakademien wie dem Collegium Carolinum in Braunschweig tätig waren, aber .auch an privaten Schulanstalten wie Pfeffels Kriegsschule im französischen Colmar oder Basedows Philantropinum in Dessau. Sie alle waren mit der höheren Beamtenschaft der Territorialstaaten wohl eng verbunden und konnten in Einzelfalien - man denke an Dohm in Preußen - in politischen oder diplomatischen Ämtern Verwendung finden, blieben, von solchen Ausnahmen abgesehen, aber doch auf ihre Lehrtätigkeit und ihre Veröffentlichungen beschränkt. Dabei war ihr Verhalten gegenüber dem Staat das einer steten "Näherung" an den Staat und an die Staatssachen. wie man im 18. Jahrhundert die Außenpolitik nannte. Ihr Verlangen konzentrierte sich auf die Gewinnung von Kenntnissen, auf Wissen um den Staat und seine Macht. Statt mit dem Begriff der Kritik oder dem der Emanzipation wird hier daher in Anlehnung an Blumenberg5 ! mit dem Begriff der Neugierde gearbeitet. Dieser erweist sich als operabel, um sowohl die "Näherung" besonders der Statistiker an die Staatssachen als auch den geringen Stellenwert zu erschließen, der diesem Zweig der Gelehrsamkeit in der außenpolitischen Dezision zukam. Neugierde, 49 F. Kopitzsch, Einleitung: Die Sozialgeschichte der deutschen Aufklärung als Forschungsaufgabe (Aufklärung, Absolutismus und Bürgertum in Deutschland, hg. von F. Kopitzsch, 1976, S. 11-169) S. 67. 50 Kosel/eck. Kritik und Krise, S. 101. 51 Blumenberg, Legitimität der Neuzeit.
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curiositas von Individuen, erscheint als der Grund, aus dem heraus, einzelne Gelehrte seit dem 17. Jahrhundert in statistischen Arbeiten die Arkana der Macht zu erkennen und zu beschreiben suchten. Doch bedarf Neugierde- das gerade hat ja Blumenberg für den Bereich der Naturerkenntnis gezeigt - als illegitime Wißbegierde Unbefugter der Legitimation. Die Legitimation der statistischen Neugierde gründete im "patriotischen" Anspruch, mit den Ergebnissen dieser Neugierde und mit der Lehre von der Macht der Staaten der Statistik dem Staatsmann als dem befugten Verwalter der Arkana der Macht nützliche Hilfsdienste leisten zu können. Nun erschöpft sich hierin nicht der Fragehorizont der Arbeit, in der es auch darum geht, welche Veränderungen in den Machtanalysen und in der Einschätzung der einzelnen Machtfaktoren im Laufe des 18. und bis in den Beginn des 19. Jahrhunderts hinein eingetreten sind, und inwiefern in diesen Wandlungen in der Wahrnehmungsweise der Macht ein Vorgang hervortritt, der als Rationalisierung erklärt werden kann. Es scheint angezeigt, hier zunächst eine Klärung des Begriffes des Rationalismus und der Rationalisierung zu versuchen, wie er dieser Arbeit zugrunde liegt. Dabei gilt es sich klarzumachen, daß Rationalismus in seiner zeitlichen Erstrekkung und in seinem sachlichen Gehalt mehr ist als Aufklärung, wie Aufklärung mehr urnfaßt als das streng Rationale, Cartesianische 52, nämlich etwa den englischen Empirismus und die historische Individualitätslehre Montesquieus, aber auch den Kult des Geheimen und Verborgenen in den geheimen Gesellschaften53 • Wer sich dem Problem des Rationalismus und der Rationalisierung zu stellen sucht, der wird - auch wenn jetzt mit dem Werk von Kondylis eine philosophische Darstellung über die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus vorliegt 54 - bei diesem Bemühen auf Max Weber und sein großes Thema, den modernen okzidentalen Rationalismus 55 stoßen und der Rationalisierung als Prozeß der "Entzauberung der Welt" und der Intellektualisierung und Regulierung, der Bürokratisierung und "Versachlichung", der Generalisierung und Systematisierung begegnen. Bekannt ist Webers Herrschaftssoziologie mit ihren drei Typen legitimer Herrschaft, wobei Rationalisierung als Vorgang des Wandels von 52 Dazu jetzt Kondylis. Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Kondylis betont die enge Beziehung von Aufklärung und Anticartesianismus und hebt hervor, daß "die Aufklärung als Ganzes im Zeichen der Ablehnung cartesianischer Grundpositionen steht" (S. 172). Die große Bandbreite der Aufklärung zeigt F. Schalk. Art. Aufklärung (Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. I, 1971, Sp. 620-633) und Ders.. Studien zur französischen Aufklärung 1977). U. Scheuner. Der Beitrag der deutschen Romantik zur politischen Theorie (Rhein.-westf. Akademie der Wissenschaften, Vorträge G 248, 1980), S. 29 läßt deutlich werden, wie die Vorstellung vom Rationalismus der Politik des 18. Jahrhunderts von der romantischen Staatslehre geprägt ist. 53 M. W. Fischer. Die Aufklärung und ihr Gegenteil. Die Rolle der Geheimbünde in Wissenschaft und Politik (1982). 54 Wie Anm. 52. Siehe daneben auch weiterhin Cassirer. Philosophie der Aufklärung. 55 Vor allem M. Weber. Wirtschaft und Gesellschaft und Ders.. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie (3 Bde., 1971-72). Dazu W. Schluchter. Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Gesellschaftsgeschichte (1979).
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der traditionalen und der charismatischen Herrschaft zur legalen und bürokratischen (= rationalen) Herrschaft erscheint 56, ohne daß Charisma und Rationalität bei Weber absolute Gegensätze bilden. Die wichtigsten Elemente seiner Auffassung des Rationalismus zeigen sich jedoch nicht hier, sondern in seiner Rechtssoziologie mit ihrer Unterscheidung von formeller und materieller Rationalität. Ein formell rationales Recht zeichnet sich nach Weber durch die Anwendung verstandesmäßig kontrollierbarer Mittel der Rechtsschöpfung und Rechtsfindung aus. Unter materiell rationalem Recht versteht er die auf Generalisierung beruhende regel hafte , berechenbare Anwendung genereller Rechtssätze, im Gegensatz zur "Irrationalität des Einzelfalles"s7. Erscheinen somit das Verstandesmäßige und die Regelhaftigkeit oder Berechenbarkeit als Kriterien des Rationalen s8 , so meint Berechenbarkeit hier überhaupt nichts Quantitatives, Mathematisches, sondern die Absenz von Regellosigkeit und Willkür. Nun hat jedoch Reichmann mit dem Blick auf das Zeitalter der Aufklärung bemerkt, daß "das Rationale" als Arbeitsbegriff "den Zenit wissenschaftlicher Ergiebigkeit längst überschritten" habe, und den Versuch unternommen, stattdessen das Phänomen der Quantifikation, das Rechnerische, Mathematische, Zahlenhafte als zentrales Element der Denk- und Ausdrucksstruktur der Aufklärung herauszuarbeiten s9 . Quantifikation setze voraus, so Reichmann, daß dem Erkenntnisobjekt eine Quantität, eine "Wiegroßheit" eigne, die sich als Zusammenschluß gleichartiger Teile zur Einheit erweise, verminderungs- und vermehrungsfähig sei, den Meßakt gestatte und in Zahlen ausgedrückt werden könne. Das ist der Vorgang der arithmetisch-zahlenmäßigen Ermittlung und Darstellung von Mengen und der Rückführung von Qualitäten auf ihre zahlenmäßig erfaßbaren Elemente. Doch heißt es zugleich, das Zahlenhafte, Rechnerische habe alle Wissens-, Glaubens- und Lebensbereiche durchdrungen und die Mathematik zur Grundwissenschaft werden lassen. Diese Mathematisierung des Denkvorgangs habe mit der Denkform, für die Descartes das Vorbild gewesen sei, dem "rationalistisch-aufklärerischen Zeitraum" in Deutschland das Gepräge gegeben. Hier also erscheint Quantifikation als die der Mathematik und insbesondere der Geometrie angenäherte Methode der axiomatisch-deduktiven Analyse, Darstellung und Beweisführung, die im 18. Jahrhundert - auch in unseren Quellen - mit der Bemerkung reklamiert wird, man wolle bestimmte Fragen more geometrico oder gleichsam per mathematices demonstrationes auseinandersetzen. Hier aber noch von Quantifikation und von "Herrschaft der Zahl" zu sprechen, scheint nicht sinnvoll zu sein. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 122-176. Ibid., S. 396 f. Siehe auch Schluchter, S. 129-134. 58 Für Kondylis liegt das Kriterium des Rationalen "in der Folgerichtigkeit formallogischen Denkens bei der gedanklichen Ausführung einer Grundhaltung" , wobei ihm nur "das LogischIrrationale" als das Gegenteil des Rationalen erscheint, nicht aber "das Mystisch-Irrationale", weil "religiöse Denksysteme nicht als Gegner des Rationalismus überhaupt betrachtet werden können" (S. 37). 59 Reichmann, Herrschaft der Zahl, S. 8. 56 57
1. Das Problem
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Es gilt also, zwischen Zergliederung und Ordnung und axiomatisch-deduktiver Methode einerseits und Summierung und quantitativer Methode andererseits zu unterscheiden, wobei beide als Formen des Rationalen erscheinen. Die erste Form ist jene "Denkform des Zeitalters der Aufklärung" (Cassirer), in der der Begriff des Calcul keine ausschließlich quantitativ-mathematische Bedeutung hat. "Er ist", so heißt es bei Cassirer, "nicht bloß auf Größen und Zahlen anwendbar; sondern er greift vom Gebiet der Quantitäten in das der reinen Qualitäten über. Denn auch Qualitäten lassen sich derart zueinander in Beziehung setzen und miteinander verknüpfen, daß sie nach einer festen und strengen Ordnung auseinander hervorgehen"oo. Aus dem Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit folgt nun die Frage, in welcher Beziehung diese beiden Formen des Rationalen in der Lehre von der Macht der Staaten im 18. Jahrhundert zueinander standen - vielleicht eine Beziehung wie zwischen Cartesianismus und Empirismus in der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte dieser Zeit. Das bedeutet nicht, daß sich der einzelne statistische Schriftsteller der axiomatisch-deduktiven Argumentationsmethode tatsächlich bediente. Bei den Statistikern begegnet stattdessen zumeist ein rein empirisches Sammeln und Beobachten, das - wenn sie sich nicht mit der bloßen Ausbreitung des Materials zufrieden geben - auf induktivem Wege von den einzelnen Staatsmerkwürdigkeiten zu einem Urteil über den jeweiligen Staat überhaupt führt. Doch das ist nicht entscheidend. Wichtiger ist die Orientierung der alten Statistik am Ordnen und Klassifizieren und nicht am Zählen und Messen von Mengen. Dennoch erscheint die aufgezeigte Frage auch unter Bezug auf die Statistiker als wichtig, weil die moderne Statistik eine Wissenschaft empirischer Zahlen ist und auch die Lehre von der Macht der Staaten im 18. Jahrhundert in erheblichem Umfang mit Gegenständen befaßt ist, die eine quantitative Erfassung wenigstens ermöglichen und zum Ende des Jahrhunderts auch zunehmend quantitativerfaßt werden. Der Rationalisierungsprozeß könnte sich dabei als ein Doppeltes erweisen, nämlich zunächst als ein Vorgang der Generalisierung und Systematisierung, der "Verwissenschaftlichung" und technischen Perfektionierung im Sinne Max Webers innerhalb der älteren, auf die Konstitution von Ordnungsgefügen angelegten Rationalität, auf den ein gleichgerichteter Vorgang in der jüngeren Rationalität folgt, der hier nun ein Prozeß fortschreitender Erfassung immer weiterer Bereiche durch die Quantifikation ist, bis hin zur Vollendung der "Herrschaft der Zahl". Die andere Gestalt des Rationalisierungsprozesses wäre der Wechsel von der älteren, an Regeln und Ordnungen orientierten zu der jüngeren, mengenorientierten Rationalität. Es ist nun von hohem Interesse, daß dieser Prozeß, den man - was hier jedoch nicht aufgenommen wird - mit Kuhn als "Paradigmawechsel,,61 von der klassifi«J
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Cassirer, S. 30. Th. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen e1981). Dazu auch S. Müller,
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zierenden Ordnung zur quantifizierenden Messung bezeichnen könnte, für denselben Zeitraum für andere, von Staat und Außenpolitik doch weit entfernte Felder wie die Leibesübungen beschrieben werden konnte. Gemeint sind Eichbergs Arbeiten zu der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzenden Ablösung der älteren Phase geometrischen Harmonieverhaltens durch die jüngere Phase der linear-rechenhaften, quantifizierenden Leistungsermittlung des modemen Sports62 , wobei Eichberg in Anlehnung an Max Weber die Rationalität beider Verhaltensweisen betont. Dieser Wandel der Verhaltensweise steht bei Eichberg und anderen im Zusammenhang mit einem "Wandel der ,Wahrnehmungsweise'" , wie er in mehreren Arbeiten, die Nitschke teils selbst verfaßt, teils angeregt hat darunter die Untersuchungen Eichbergs - für den Zeitraum zwischen 1750 und 1850 auf zahlreichen Gebieten beschrieben worden ist 63 • Dieser Wandel der Wahrnehmungsweise hängt für Nitschke mit einem umfassenden Wandel der Gesellschaft zusammen und ist dort zu beobachten, wo die Menschen einer Gesellschaft die "Konfiguration", wie er mit Foucault sagt, und damit das Beziehungsmuster, das sie untereinander und mit ihrer Umwelt verbindet, wechseln. Unsere Beobachtungen zu den in der Lehre von der Macht der Staaten sichtbar werdenden Rationalisierungsvorgängen können trotz enger Berührung mit den Ergebnissen Eichbergs nicht ohne weiteres mit Nitschkes Annahme eines gesamtgesellschaftlichen Wandels von einem räumlichen Kontinuum zu einem zeitlichen Kontinuum 64 in Beziehung gesetzt werden, wie das etwa dann möglich wäre, wenn man earl von Linnes "Systerha naturae" von 1735 mit seiner umfassenden Ordnung und Klassifikation und Georges Buffons von 1749 bis 1804 erschienene, "Histoire naturelle" mit ihrer entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung zu vergleichen hätte 65 • Die'vorliegende Arbeit sucht sich daher auch nicht, über den Aufweis von Parallelen hinaus, den Untersuchungen Nitschkes und seiner Schüler anZUschließen. Dennoch soll hier terminologisch vom Wandel von einer älteren Wahrnehmungsweise der Macht zu einer jüngeren gesprochen werden. Paradigmenwechsel und Epochenwandel. Zur Struktur wissenschaftshistorischer und geschIchtlicher Mobilität bel Thomas S. Kuhn, Hans Blumenberg und Hans Freyer (Saeculum
32, 1981, S. 1-30). 62 Vor allem Eichberg, Leistung, Spannung, Geschwindigkeit. Sport und Tanz Im gesellschaftlichen Wandel des 18./19. Jahrhunderts; Ders., Geometrie als barocke Verhaltensnorm; Ders., »Auf Zoll und Quintlel,n". Sport und QuantifiZlerungsprozeß in der frühen Neuzeit. Dazu auch die Kritik beI G. Dohrn van Rossum/H. G. Reif, Sportgeschichte als Strukturge-
schichte. Eine Auseinandersetzung mIt Henmng Eichbergs Untersuchungen zum Bewegungsverhalten im 18. und 19. Jahrhundert (SportwiSsenschaft 10, 1980, S. 71-87). 63 Dazu die Beiträge - u.a. von J Burkhardt und S. Koch - des Sammelbandes von A. Nitschke (Hrsg.), Verhaltenswandel In der Industriellen RevolutIon (1975); Ders., Verhalten und Wahrnehmung. Eine umweltbezogene AnthropologIe (Neue AnthropologIe, hg. von H.G. Gadamer/P. Vogler, Bd. 4: KulturanthropologIe, 1973, S. 13--149). Überbhck über die Forschungsnchtung bei A. Nitschke, HIstorische Verhaltensforschung. Analysen gesellschaftlicher Verhaltensweisen (1981). 64 Dazu A. Nitschke, Zum Wandel in der Geschichte (Verhaltenswandel In der Industriellen Revolution, hg. von A. Nitschke, 1975, S. 136-143).
I. Das Problem
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Der Untersuchungsgegenstand besteht somit in den Erörterungen, die im 18. Jahrhundert in der theoretischen und in der praktischen Politik über die Macht der Staaten angestellt wurden und sich zusammenfassend als "Lehre von der Macht der Staaten" bezeichnen lassen. aber auch in der Wahrnehmungsweise, in der außenpolitisch wirksame Macht gesehen und mit der die Faktoren, die die Macht hervorrufen, beurteilt wurden. Hinzu treten die Beziehungen zwischen den Machtlehren der Statistiker und Staatskunstlehrer und dem Machtkalkül der außenpolitischen Entscheidungsträger und die Veränderungen, die im Laufe des 18. Jabrhunderts in der Wahrnehmungsweise der Macht hervortraten und sich als Rationalisierungsvorgänge beschreiben lassen. Hier wird bis in das 19. J ahrh undert auszugreifen und die Zeit bis zum Wiener Kongreß einzubeziehen sein. Mit der Erforschung und Darstellung dieser Probleme wird das Ziel verfolgt, zur historischen Erkenntnis von Versuchen der Bewältigung fundamentaler Fragen beizutragen, die das Staatensystem dem Denken und Handeln im 18. Jahrhundert aufgab, das in vielem, wie Koselleck 1959 geschrieben hat, der Vorraum des gegenwärtigen Zeitabschnitts war 66 • Das geschieht in der Konzentration auf wenige wichtige Träger der Lehre von der Macht der Staaten und somit ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit, wohl aber in der Absicht auf Herausarbeitung typischer Vertreter, die gemeinsam die Breite der Diskussion zu repräsentieren vermögen. Dazu kommt die räumliche Beschränkung auf das Gebiet des Alten Reiches und der beiden deutschen Großmächte Österreich und Preußen. Diese Konzentration hat Gründe, die im Untersuchun2Sgegenstand selbst liegen. Dazu gehört die Andersartigkeit der Verhältnisse in England, wo die Stellung der Premierminister und der Staatssekretäre des Äußeren, der Parlamentarismus und die RoUe der öffentlichen Meinung für die Erörterung von Fragen der internationalen Politik im 18. Jahrhundert von kontinentalen Bedingungen stark abweichende Zustände schufen. Überdies waren die britischen Horizonte im 18. Jahrhundert durch weltweite Interessen und durch den Kolonialgegensatz zu Frankreich bestimmt, wie der "Handelsstaat England" schon lange vor der Mitte des 18. Jahrhunderts Fragen des Außenhandels und der wirtschaftlichen Macht in den Vordergrund rückte67 , die in der Machtdiskussion der mitteleuropäischen Großmächte eine ungleich weniger bedeutsame Rolle spielten. Hinzu kommt, daß das Erkenntnisstreben in Bezug auf Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in England wissenschaftsgeschichtlich einen anderen Weg gegangen ist als in den deutschen Staaten, wobei die Niederlande und Frankreich 6S Dazu W Lepenies, Naturgeschichte und AnthropolOgie Im 18. Jlj.hrhundert (HZ 231, 1980, S. 21-41); Ders., Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten m den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts (1977). Dazu aJ.1ch die Kritik bei A. Seifert, "Verzeitlichung". Zur Kntik emer neueren Frühneuzeitkategone (ZHF 10, 1983, S.447-477) S. 475 f. 66 Kose/leck, Kntik und Knse, S. 2. 67 E. Schu/in, Handelsstaat England. Das politische Interesse der Nation am Außenhandel vom 16. biS inS frühe 18. Jahrhundert (1969).
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Einleitung
gleichsam eine vermittelnde Position einnahmen. In England wurde die Politische Arithmetik, deren Name durch William Pettys "Political Arithmetic" von 1690 Verbreitung fand, bereits seit der ersten demographischen Veröffentlichung John Graunts von 1662 heimisch und arbeitete von vornherein mit quantitativen Analysen 67'. Trotz des Süßmilchschen Werkes, dem das Wirken des Schlesiers Kaspar Neumann voraufging, hatte die Politische Arithmetik in Deutschland, wo es auch keine der Londoner Royal Society vergleichbare Institution gab, keine Parallele67b . Bei Einbeziehung Englands müßten sich daher die hier zur Erörterung anstehenden Fragen anders stellen und teilweise zu anderen Antworten führen. Zu den Gründen für die Konzentration auf den mitteleuropäischen Bereich gehört auch das Fehlen einer akademischen Machtlehre in Frankreich, die mit der deutschen Universitätsdisziplin der Statistik verglichen werden könnte. Das hängt mit der geringeren Bedeutung der Universitäten im Frankreich des Aufklärungsjahrhunderts ebenso zusammen wie mit der Rolle der Universitäten in Deutschland 68 seit der Gründung von Halle (1694) und Göttingen (1736), aber auch mit dem wissenschaftsgeschichtlichen Faktum, daß die Statistik im Stile des 18. Jahrhunderts ganz so wie die Polizeiwissenschaft 69 eine spezifisch deutsche Erscheinung war, auch wenn darin italienische, französische und niederländische Traditionen fortwirkten. Hinzu kommt der sogenannte "aufgeklärte Absolutismus"70, der so weder im Frankreich Ludwigs xv. und Ludwigs XVI. noch gar in England eine Parallele fand. Dagegen war die Einbeziehung Rußlands anfangs beabsichtigt, doch ist das aus arbeitsökonomischen Gründen zurückgestellt worden, zumal für Preußen und Österreich die Persönlichkeiten Friedrichs 11. und des Staatskanzlers Kaunitz ins Gewicht fielen. All das wäre Begründung genug für die Beschränkung auf Österreich und Preußen und auf die an den Universitäten der kleineren deutschen Territorialstaaten wirkenden Politiklehrer, wenn sich hier nicht auch noch um 1760 weit mehr als im übrigen Europa das Preußen-Problem gestellt hätte, d.h. die Frage nach den Voraussetzungen der Selbstbehauptungsfähigkeit eines kleinen und an materiellen Ressourcen Mangel leidenden Staates. 67. P. Buck. Seventeenth Century Political Arithmetic. Civil Strife and Vital Statistics (Isis 68, 1977, S. 67-84). 67b Dazu Lazarsjeld. Notes, S. 279-294. 68 Hammerstein. Die deutschen Universitäten im Zeitalter der Aufklärung, bes. S. 74. 69 Das betont Maier. Ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, S. 1. 70 K. O. v. Aretin. Einleitung: Der Aufgeklärte Absolutismus als europäisches Problem (Der Aufgeklärte Absolutismus, hg. von K. O. v. Aretin, 1974, S. li-51); V. Sellin. Friedrich der Große und der aufgeklärte Absolutismus. Ein Beitrag zur Klärung eines umstrittenen Begriffs (Soziale Bewegung und politische Verfassung, hg. von U. Engelhardt u.a., 1976, S. 8~ 112); G. Niedhart. Aufgeklärter Absolutismus oder Rationalisierung der Herrschaft (ZHF 6, 1979, S. 199-211); I. Mittenzwei. Über das Problem des aufgeklärten Absolutismus (Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 18, 1970, S. 1162-1172); E. Weis. Der Aufgeklärte Absolutismus in den mittleren und kleinen deutschen Staaten (ZBayerLdG 42, 1979, S. 31-46). Für Rußland D. Geyer. Der Aufgeklärte Absolutismus in Rußland. Bemerkungen zur Forschungslage (J ahrbücher für Geschichte Osteuropas NF 30, 1982, S. 17~ 189).
2. Der Machtbegriff
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Damit war die Frage nach Wesen und Inhalten der außenpolitisch wirksamen Macht aufgeworfen, von der die Lehre von der Macht der Staaten gerade um diese Zeit in Deutschland in hohem Maße beeinflußt wurde. Die Behandlung der aufgezeigten Fragenkomplexe soll nicht nacheinander erfolgen, sondern "integral", wobei die Darstellung in zwei große Teile zerfällt, von denen der erste mit den beiden Kapiteln über die Statistik und über die Staatskunst den Machtlehren der Theoretiker gilt. Dabei gliedert sich das StaatskunstKapitel in zwei Abschnitte. Im Mittelpunkt des ersten steht mit Justi die zentrale Gestalt der deutschen Kameralwissenschaft um 1760 und der wichtigste Repräsentant der kameralistischen Staatskunstlehre. Gegenstand des zweiten Abschnitts ist Bielfelds "Kabinettswissenschaft". Die drei Kapitel, die den zweiten, der Sphäre der politischen Praktiker gewidmeten Teil der Darstellung bilden, behandeln zunächst mit Friedrich II. einen monarchischen Selbstherrscher und danach mit Kaunitz einen leitenden Minister in einem Regierungssystem, das ihm, zumindest in der ersten Phase seiner Staatskanzlerzeit, faktisch eine sich der Premierministerschaft nähernde Stellung ermöglichte. Im dritten Kapitel wird die Machtlehre des preußischen Ministers Hertzberg erörtert, also einer Gestalt mit einer Art Doppelrolle zwischen praktischem Politiker und gelehrtem Publizisten. Auf diese beiden Teile folgt ein kürzerer dritter Teil, in dessen erstem Kapitel anhand eines Beispiels der Einsatz der Lehre von der Macht der Staaten als Propagandainstrument in der politischen Publizistik aufgezeigt wird. Daran schließen sich drei kleine Kapitel an, in denen der Glaubwürdigkeitsverlust der traditionellen Machtlehre nach der Wende zum 19. Jahrhundert, der Durchbruch der Quantifikation und die in dieser Zeit eintretende Verbindung von statistischer Gelehrsamkeit und politischer Dezision zur Darstellung kommen, wobei der Bogen der Untersuchung bis zum Wiener Kongreß gespannt wird. Am Ende steht eine Zusammenfassung, in der die Ergebnisse gebündelt werden. Zunächst gilt es jedoch, nach der Bedeutung von ,Macht', ,Kraft', ,Force', ,Puissance' und ,Pouvoir' im Sprachgebrauch unserer Quellen zu fragen, um damit wichtige Voraussetzungen vorab zu klären. 2. Der Machtbegriff im politischen Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts Das Wort ,Macht' ist Träger eines zentralen Begriffs der politischen und sozialen Sprache 71 • Mit den Bedeutungsmöglichkeiten seiner Synonyma und alternierenden Termini, die wie ,Kraft', ,Stärke', ,Vermögen', ,Reichtum', ,Autorität', ,Einfluß', ,Herrschaft' oder ,Gewalt' das Wortfeld von ,Macht' bilden, bündelt 71 Zur Begriffsgeschichte K.-G. Faber/K.-H. Iiting/ehr. Meier, Art. Macht, Gewalt (Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, 1982, S. 817-935) und Th. Kobusch/L. Oeing-Hanhoff/ K. Röttgers/K. Lichtblau, Art. Macht (Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, 1980, Sp. 585-617).
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Einleitung
sich seine Bedeutung zu der Bedeutungsfülle, die der Machtbegriff in sich vereinigt. Das 18. Jahrhundert kannte noch - vor der Ausfächerung des Machtbegriffs zu seinem uns heute vertrauten "amorphen" (Max Weber) Charakter - einen auf Fürst und Staat bezogenen Machtbegriff, der dem Machtstaatsdenken des 19. und 20. Jahrhunderts ebenso zugrunde liegt wie der modemen Politischen Wissenschaft, wenn diese sich als "the science of power" definiert 72. Voraufgegangen war der Vorgang der Säkularisierung des Machtbegriffs, mit dem dieser bei Machiavelli - nach Präfigurationen bei Marsilius von Padua und Wilhelm von Ockham aus seiner transzendenten Begründung gelöst wurde. Das spätere 16. Jahrhundert gab dem Machtbegriff mit Bodins Souveränitäts lehre in neuer Weise einen Bezug, indem mit Bodins ,republique' die "Verstaatlichung" der seit Thukydides 73 im antiken Denken greifbaren Vorstellung von der Macht als etwas Politischem einsetzte. Direkter noch als bei Bodin läßt sich die "Verstaatlichung" des Machtbegriffs bei Hobbes aufweisen, der 1651 im 10. Kapitel des "Leviathan" eine moderne Faktorenanalyse der Macht gab 74 und damit ein Thema vorwegnahm, das im Mittelpunkt der Lehre von der Macht der Staaten des 18. Jahrhunderts stand. Im 19. Jahrhundert weitete sich die Bedeutungsfülle des Machtbegriffs über den identifizierenden Beziehungszusammenhang mit dem Staat hinaus in die Bereiche von Gesellschaft und Wirtschaft, wobei ihn nicht nur die sozialistischen Theoretiker aus seiner etatistischen Verankerung lösten, indem sie das Schwergewicht auf die ökonomischen Machtverhältnisse legten. Vielmehr fand der Machtbegriff im 20. Jahrhundert auch den Weg in die Individualpsychologie und die Psychoanalyse, in die Elitentheorie und in die Sozialpsychologie. Mit Max Weber 75 wurde der Machtbegriff konfigurativ für die Soziologie des 20. Jahrhunderts - mit der Folge, daß der Staat als Macht und die Macht des Staates nur noch einen Teilaspekt des modemen Machtbegriffs bilden 76 • Diese "Entstaatlichung" des Machtbegriffs hat Plessner als "Für sich-Werden der Macht" bezeichnet, als "Emanzipation der Macht vom Staat", die "staatsrechtlich Volkssouveränität und Problematisierung staatlicher Ordnung überhaupt, soziologisch die industrielle Gesellschaft mit ständig wachsendem Machtpotential zur Voraussetzung" gehabt habe 77 • 72 Lasswell/Kaplan (Hrsg.), Power and Society (wie Anm. 13), S. XIV u. 74-102, bes. S. 75 (zitiert nach 51963). 7J Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges, Buch V, 104, 105. 74 The English Wortes ofThomas Hobbes, hg. von W. Molesworth, Bd. 3 (1839), S. 74 f. Siehe auch S. J. Benn, Hobbes on Power (Hobbes and Rousseau, hg. von M. Cranston u. R. S. Peters, 1972, S. 184-212). 75 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, dort S. 28 die berühmte Definition, Macht sei "jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht". Herrschaft hingegen wird als "Sonderfall von Macht" (S. 541) herausgestellt, als "Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden" (S. 28). Ergänzend hinzuweisen ist auf K. Holm, Zum Begriff der Macht (Kölner Zeitschrift für Soziologie 21, 1969, S. 269-288), hier S. 278 eine an Max Weber angelehnte Machtdefinition. 76 Siehe dazu die Anm. 13 genannte Literatur.
2. Der Machtbegriff
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Die Bedeutungsfülle, die dem Machtbegriff im 18. Jahrhundert eigen war, spiegelt sich in Zedlers "Universal-Lexicon", das 1739 unter dem Stichwort "Macht" sechs Bedeutungen aufführt 78 • Zunächst heißt es allgemein: Macht ist eine Krafft oder Vermögen, das mögliche würcklich zu machen. Oder Macht ist nichts anders als die Möglichkeit, auszurichten oder zu vollführen, was man beschlossen79 • Diese Grundbedeutung von ,Macht' im Sinne von körperlicher Kraft und abstrahiert im Sinne von Vermögen, Möglichkeit entspricht dem wortgeschichtIichen Befund 80 • Neben dieser Grundbedeutung nennt Zedlers "Universal-Lexicon" aus Luthers Übersetzung von 1. Kor. 11, 10 ,Macht' (l