Band 1
 9783205791737, 9783205787242

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Richard Bletschacher

Theaterstücke für Musik

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Gedruckt mit der Unterstützung durch   das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung in Wien, das Amt der Niederösterreichischen Landesregierung – Kultur

Umschlagabbildung: Bühnenbildentwurf „Der lange Weg zur großen Mauer“, © Richard Bletschacher, 1975 Umschlaggestaltung  : Michael Haderer

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http  ://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78724-2 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, ­insbesondere die der Über­setzung, des Nachdruckes, der Entnahme von A ­ bbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf f­otomechanischem oder ä­ hnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Daten­ver­arbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2011 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG, Wien · Köln · Weimar http    ://www.boehlau-verlag.com

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck: Prime Rate kft., Budapest

Inhalt

1 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2 Die Ameise Oper in vier Akten. Text von Richard Bletschacher und Peter Ronnefeld. Musik von Peter Ronnefeld. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 3

Die Seidenraupen Eine byzantinische Legende für Musik in einem Vorspiel, sieben Bildern und einem Nachspiel von Richard Bletschacher. Musik von Iván Eröd . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

4 Der lange Weg zur groSSen Mauer Schauspiel für Musik in zehn Bildern von Richard Bletschacher. Musik von Kurt Schwertsik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 5 Gomorra oder Wie ihr es verdient Ein musikalisches Spektakel in neun Bildern von Richard Bletschacher. Musik von Heinz Karl Gruber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 6 Thomas von Ercildoune Schauspiel für Musik in vierzehn Bildern von Richard Bletschacher ����������269 7 Wein und Wasser Heitere Oper in vier Bildern nach anonymen mittelalterlichen Quellen von Richard Bletschacher. Musik von Franz Thürauer . . . . . . . . . . . . . . . 323

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Inhalt

8 Mahan Oper in sieben Bildern. Text von Richard Bletschacher. Musik von Francis Burt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 9 Gesualdo Oper in sieben Bildern, einem Prolog und einem Epilog. Text von Richard Bletschacher. Musik von Alfred Schnittke. . . . . . . . . . . 429

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Vorbemerkung Die hiermit vorgelegten Theaterstücke für Musik wurden gleichsam errichtet als sprachliche und dramaturgische Gebäude, bestimmt, in all ihren Hallen, Nischen und Nebenkammern durch den Atem der Musik mit den Empfindungen der Festesfreude, der Trauer, der Lust, der Leidenschaft und „allen Arten von Mut“ erfüllt zu werden. Hofmannsthal hat ein Opernbuch ein seetüchtiges Schiff genannt, dem die Musik jedoch erst die Segel aufsetze, um auf große fantastische Fahrt zu gehen. Über fünf Jahrzehnte habe ich immer neue Versuche unternommen, Werke dieser Art zu gestalten, die vielleicht als Literatur oder als Spielvorlage für das Theater durchaus Bestand haben mögen, ihre eigentliche Bestimmung aber erst durch ihre Belebung durch Musik erfahren. Sie wurden in den meisten Fällen in Hoffnung auf diese ihre Zukunft und im Hinblick auf die besonderen Erwartungen und Fähigkeiten des musikalischen Partners erfunden und geformt. Diese meine Theaterstücke für Musik, unter denen sich vorwiegend Texte für Opern, aber auch solche für Kirchenspiele, musikalische Spektakel oder experimentelles Musiktheater finden, haben ihre Vertonung erfahren durch einige der bekanntesten Komponisten unserer Epoche. Mein früh verstorbener Freund Peter Ronnefeld war der Erste, ihm folgten aus der Generation des Autors Iván Eröd, Kurt Schwertsik, Heinz Karl Gruber, Erich Urbanner, Ernst Ludwig Leitner, Francis Burt, Alfred Schnittke und unter den jüngeren Franz Thürauer, Perikles Liakakis und Robert Pobitschka. Die aus solcher Zusammenarbeit entstandenen Werke wurden von den Musikverlagen Universal Edition, Doblinger, Ricordi, edition modern, Sikorski und Boosey & Hawkes publiziert und an prominenten Opernhäusern uraufgeführt: an der Düsseldorfer Oper am Rhein, im Theater an der Wien, an der Wiener Volksoper und an der Wiener Staatsoper, aber auch an den Theatern von Salzburg, Gmunden, Ulm und Luzern, sowie, je nach Erfordernis der Besetzung, in kleinerem Rahmen, wie an der Wiener Kammeroper, in der Arena St. Marx anlässlich der Wiener Festwochen, in der Ossiacher Stiftskirche während des Carinthischen Sommers, beim Fest in Hellbrunn und beim St. Donat’s Festival in London. In ihrer Fülle und Unterschiedlichkeit repräsentieren sie einen, wie ich jedenfalls im Verweis auf den Beitrag der Komponisten 7

Vorbemerkung

hoffe, beachtenswerten Beitrag zur Ausformulierung des europäischen Musiktheaters in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Vielleicht erkennen auch die allein der großen Tradition verhafteten Operntheater nach und nach, dass sie an den Werken ihrer eigenen Epoche nicht auf Dauer achtlos vorübergehen können, ohne die lebendige Weiterbildung ihrer Kunst zu gefährden. Dem Böhlau Verlag und seinem Leiter Herrn Dr. Peter Rauch ist es zu danken, dass meine in fünf Jahrzehnten entstandenen Texte für das Musiktheater nun in zwei Bänden vorgelegt werden, wobei der erste vor allem abendfüllende Opern, der zweite daneben auch einaktige Werke, Melodramen, Kirchenspiele und experimentelle Stücke enthalten wird. Zu den einzelnen Stücken ist zu sagen, dass fünf von ihnen bereits im Jahr 1973 in einem Band der Reihe „Österreichische Dramatiker der Gegenwart“ von der Österreichischen Verlagsanstalt publiziert wurden. Drei davon, nämlich „Die Ameise“, „Die Seidenraupen“ und „Der lange Weg zur Großen Mauer“ sind auch hier nun unverändert im ersten Band dieser Ausgabe zu finden. Die beiden anderen, „Gomorra“ und „Mahan“, wurden erst nach dieser ersten Publikation des Textes auch als Komposition vollendet und haben dadurch Änderungen erfahren. Im Fall von „Mahan“, dessen Fertigstellung während einiger Jahre unterbrochen und im vergangenen Jahr erst beendet wurde, ging dies so weit, dass das ursprüngliche Konzept eines etwa einstündigen Stückes auf ein abendfüllendes Format erweitert wurde. Die anderen drei Texte wurden bisher nicht in Buchform gedruckt. „Thomas von Ercildoune“ wurde ursprünglich im Hinblick auf die Vertonung durch einen hier nicht genannten Komponisten geschrieben. Der aber hat nach langen Bemühungen und der Häufung eines umfänglichen Konvoluts von Entwürfen und Skizzen das Projekt endlich beiseite gelegt. Ob er selbst oder ein anderer es unter Verwendung seines Materials jemals zu Ende führen oder gar neu komponieren wird, mag die Zukunft erweisen. Der Text soll dennoch hier seinen Platz finden und vielleicht eben dadurch einen neuen Anreiz zu seiner Vollendung geben. Die heitere Oper „Wein und Wasser“, deren Handlung in Teilen einem mittelalterlichen Volksbuch entlehnt wurde, fand in der Komposition durch Franz Thürauer, der an der Wiener Musikhochschule bei Francis Burt studiert hatte, seine Uraufführung im Stadttheater St. Pölten, der Hauptstadt des Landes, in welcher das Stück seinen Schauplatz hat. Der Text dieser Oper wurde im Programmheft erstmals gedruckt. Nachträglich jedoch habe ich es unternommen, das durch seine Vertonung auf Abendfülle angewachsene Stück wieder auf die zuerst 8

Vorbemerkung

intendierte Länge eines halben Abends zu reduzieren. Da eine weitere Aufführung derzeit nicht in Sicht ist, hat Franz Thürauer noch keinen Anlass gefunden, seine Musik der nur gekürzten, aber nicht wesentlich veränderten Form anzupassen. In der Hoffnung, dass dies bei erwünschter Gelegenheit noch geschehen wird, habe ich den Text in der kurzen Form in diesen Band aufgenommen. Die Oper „Gesualdo“ mit Musik des deutsch-russischen Komponisten Al­ fred Schnittke wurde 1995 an der Wiener Staatsoper uraufgeführt. Der Text hat während der Vertonung einige vielleicht doch allzu harte Kürzungen hinnehmen müssen. Die werden in dieser Ausgabe berücksichtigt, um keine Differenzen zur Partitur aufscheinen zu lassen. Zu meinem und vieler Musikfreunde großen Leidwesen ist Schnittke, der die Aufführung nicht mehr hatte besuchen können, nicht lange danach gestorben. Ich bewahre ihm ein dankbares Gedenken in Trauer. Die gemeinsame, sich gegenseitig ergänzende und inspirierende Arbeit an einem musikdramatischen Werk gehört zu den intensivsten Begegnungen, die zwei kreativen Künstlern erlebbar werden können. Wer Näheres über die Entstehung der Werke erfahren will, sei auf meinen 2008 im selben Verlag publizierten Band mit Essays zu „Musik und Musiktheater“ verwiesen. In dem finden sich neben Besprechungen der meisten meiner Theaterstücke für Musik auch Würdigungen der Komponisten und Verweise auf die ersten Wiedergaben dieser Werke auf dem Theater. R. B.

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Komponisten, Uraufführungen und Bühnenverlage: Die Ameise Komponist: Peter Ronnefeld, Uraufführung: Deutsche Oper am Rhein, Düsseldorf 1961, Verlag: edition modern, München Die Seidenraupen Komponist: Iván Eröd, Uraufführung: Theater an der Wien, Wiener Festwochen 1968, Rechte bei den Urhebern Der lange Weg zur Großen Mauer Komponist: Kurt Schwertsik, Uraufführung: Ulm und Luzern 1975, Verlag: Boosey & Hawkes, London Gomorra Komponist: Heinz Karl Gruber, Uraufführung: Volksoper Wien 1993, Verlag: Boosey & Hawkes, London Wein und Wasser Komponist: Franz Thürauer, Uraufführung: Niederösterreichisches Landestheater St. Pölten 1998, Rechte bei den Urhebern Thomas von Ercildoune Rechte beim Autor Mahan Komponist: Francis Burt, Verlag: Universal Edition, Wien Gesualdo Komponist: Alfred Schnittke, Uraufführung: Staatsoper Wien 1995, Verlag: Sikorski Verlag, Hamburg

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DIE AMEISE Oper in vier Akten Text von Richard Bletschacher und Peter Ronnefeld Musik von Peter Ronnefeld

Personen der Handlung Maestro Salvatore, Gesangslehrer Bariton Formica, seine Schülerin Koloratursopran Mutter Formicas Mezzosopran Diener Salvatores Tenor Melter, Gefängniswärter Tenor Professor Mezzacroce Baß Fassadendieb Bariton Taschenkletterer Tenor Staatsanwalt  Ausrufer  Sprechrolle  Geschäftsführer  Verteidiger  Gefängnisgeistlicher Sprechrolle  Gefängnisdirektor  Prozeßbesucher, Gerichtsdiener, insektoide Traumfiguren, Passanten, Gäste der Music-Hall, Kellner, Nackttänzerinnen. Die Handlung spielt in Wien.

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Orte der Handlung 1. Akt: in einem Gerichtssaal 2. Akt: in einer Gefängniszelle 3. Akt: in der Gefängniszelle 4. Akt: 1. Bild: in der Gefängniszelle 2. Bild: auf einer leeren Straße vor dem Gefängnis 3. Bild: vor dem Eingang zu einer Music-Hall 4. Bild: in der Music-Hall

Zeit der Handlung um 1920

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Erster Akt (Atto Drammatico) Gerichtssaal. In der Mitte des Hintergrunds ist der Haupteingang des Saals. Im Vordergrund steht der Tisch des Gerichts, auf dem die Bibel, das Kreuz, die Akten und das Gesetzbuch liegen. Das Publikum sitzt zu Gericht. In steilen Rängen hat der Chor der Prozeßbesucher Platz genommen, links der Verteidiger neben dem Angeklagten, rechts der Staatsanwalt neben den Zeugen.

1. Szene Salvatore: Ich bin kein Mörder! Ich habe sie nicht ermordet! Es ist etwas ganz anderes. Nie, nie, nie werden Sie das verstehen! Chor I der Prozeßbesucher (aufspringend): Unerhörtes Verhalten! Er ist irrsinnig! Gewiß! Er weiß selbst nicht, was er will! Ein Verrückter steht vor uns! Ein Verrückter! Chor II der Prozeßbesucher (aufspringend): Unerhörtes Verhalten! Er spielt den Schwachsinnigen! Nein, nein! Er stellt sich nur verrückt! Ein Simulant steht vor uns! Ein Simulant! Beide Chöre: Wir besuchen regelmäßig Prozesse! Wir können uns ein Urteil erlauben! 13

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(geht in allgemeines Durcheinanderschreien über und beruhigt sich erst auf eine Geste des Staatsanwalts) Staatsanwalt (ans Publikum gewandt): Ich bitte das Hohe Gericht, der Mutter des Opfers das Wort zu erteilen.

2. Szene Mutter (wird von einem Gerichtsdiener von der Zeugenbank gegen die Mitte geführt. Sie ist tief verschleiert): Tochter, Tochter, liebste Tochter! Was beging ich, daß ich dich verlieren mußte? Salvatore: Nicht Sie, ich hab Formica verloren! Mutter: Tochter, Tochter! Salvatore: Sie war mein Geschöpf! Sie war mein Glück! Ich formte sie, ich bildete sie, ich löste ihr die Seele und die Zunge, ich lehrte sie singen, wie nur die Sterne singen … Mutter: Tochter, Tochter, geliebte Tochter! Salvatore: Sie war mein Geschöpf, sie war mein Glück. 14

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Ich formte sie, ich bildete sie, ich erschuf sie zwischen meinen Händen! Mutter: Tochter, arme Tochter! Chor I: Ohne Zweifel, ein Verrückter, ein Verrückter steht vor uns. Chor II: Er spielt seine Rolle vortrefflich, vollendet, überzeugend! Mutter: Tochter, was beging ich, daß ich dich verlieren mußte … (Sie wird vom Gerichtsdiener zur Zeugenbank zurückgeführt und versinkt dort wiederum in wortlose Trauer.)

3. Szene Verteidiger: Der Zeuge Professor Mezzacroce, ein Kollege des Angeklagten. (Mezzacroce tritt vor.) Staatsanwalt: Zählen Sie sich zum näheren Bekanntenkreis des Angeklagten? Mezzacroce: In unseren Kreisen pflegt man keine 15

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persönlichen Kontakte, außer den nötigsten. Staatsanwalt: Wie wird der Angeklagte als Gesangslehrer allgemein eingeschätzt? Mezzacroce: Zumindest handelt es sich beim Kollegen Salvatore um eine anerkannte, internationale Kapazität. Verteidiger: Herr Professor, wissen Sie irgend etwas auszusagen über das Verhalten Ihres Kollegen seinen Schülerinnen gegenüber? Mezzacroce: Sicher ist jedenfalls, daß ihm noch niemand unterstellt hat, seinen Beruf in der fatalen Weise ausgenutzt zu haben. Staatsanwalt: Dies festzustellen, überlassen Sie gefälligst dem Gericht! Mezzacroce: Nun, mehrere seiner Schülerinnen begaben sich im Lauf der Jahre in meine Obhut. – Lehrerwechsel sagt nichts über die Qualität des Unterrichts aus, ist aber für den Schüler oft von Vorteil. – Nun, hehe! Ich wußte, den Unterricht zu 16

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gestalten, gewissermaßen. In den erfahrenen Händen ihres Lehrers klagte eine jede, daß mein Kollege Salvatore lediglich an der Arbeit interessiert war. Ein bedenklicher Vorwurf für einen Mann von Welt, wie ihn mein Kollege darstellt! Staatsanwalt: Herr Zeuge, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß es sich hier nicht um eine Galavorstellung für Sie handelt, sondern um einen Mordprozeß! Verteidiger: Haben Sie auch andere Fragen an den Zeugen? Staatsanwalt: Ich danke. Das genügt mir. Verteidiger (zum Publikum gewandt): Dann bitte ich das Hohe Gericht, den Diener des Angeklagten zu hören.

4. Szene Diener (tritt vor): Hohes Gericht! Jahrzehnte schon stehe ich in Diensten meines verehrten und hochangesehenen Herrn, des berühmten Gesangslehrers Maestro Salvatore. Seine begabteste Schülerin nahm er vor längerer Zeit in 17

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sein gepflegtes Haus, wo sie ungestört seinen vorzüglichen Unterricht zu genießen die Ehre hatte. Aus welchen Gründen sie beabsichtigte, diesen Unterricht aufzugeben, und Anstalten zur Abreise traf, kann ich nicht sagen. Ich begab mich zur Bahn, um im Voraus ihr zahlreiches Gepäck zu expedieren. Heimgekehrt, wartete ich vergebens mit der Kutsche auf das Fräulein. Im Hause war alles ruhig, unheimlich ruhig. Endlich entschloß ich mich, da die Zeit drängte, das Fräulein zu mahnen, und eilte hinauf und erlaubte mir zu klopfen – doch es blieb weiterhin ruhig. Ich erlaubte mir einzutreten und traf meinen Herrn kniend an, Hohes Gericht! Er hatte Kerzen entzündet neben dem schönen Fräulein … Staatsanwalt (unterbrechend): Um mit diesem theatralischen Trick den Verdacht von sich abzulenken!

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Verteidiger: Seine Tat ist ihm nie zu Bewußtsein gelangt! Wie wollten Sie sonst erklären, daß er zwei Tage lang neben der Toten saß und wartete, daß sie singen würde? Staatsanwalt: Der Diener wagte es nicht, das Haus zu verlassen, aus Angst vor ihm! Verteidiger: Aus der Angst und der Ehrfurcht, die einen jeden von uns ergreift, der in die Augen des Wahnsinns schaut. Der Angeklagte handelte in völliger geistiger Umnachtung. Staatsanwalt: Daß Sie zu dieser letzten – und schon zu oft mißbrauchten – Ausflucht greifen, ist das Eingeständnis in die Schuld des Angeklagten. Ich erachte es als erwiesen, daß uns ein Fall vorliegt von einem Lustmord, zu dem der Vorsatz wohl schon bei der ersten Begegnung mit dem unglücklichen Mädchen in dem Angeklagten aufkeimte, und dessen Verwirklichung nur noch vom geeigneten Augenblick abhing. Als dann der Diener am besagten Nachmittag das Haus verließ … Verteidiger: Vielleicht ist es Ihnen entfallen, Herr Staatsanwalt, daß ein Gutachten vorliegt und dahin lautet, daß das Opfer unberührt starb. Chor I: Gewiß, der Verteidiger hat recht: ein Verrückter steht vor uns! Chor II: Der Staatsanwalt hat recht: ein Simulant steht vor uns! Beide Chöre: Wir besuchen regelmäßig Prozesse! Wir können uns ein Urteil erlau…! Salvatore: Ich bin kein Mörder! Ich bin ein unseliger Mensch, der sein Leben verlor! Ich habe zwei Tage und zwei Nächte 19

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an ihrem Körper gewacht. Ich habe sie nicht ermordet! Es ist etwas ganz andres. Nie, nie, nie werden Sie das verstehen! Staatsanwalt: Ich beantrage die Vernehmung des Angeklagten! Wir werden schon sehen, ob wir ihn nicht verstehen können. Verteidiger: Ich erhebe Einspruch!

5. Szene Staatsanwalt: Angeklagter, geben Sie uns eine genaue Darstellung des betreffenden Nachmittags! Ausführlich und nüchtern. Suchen Sie sich an alles zu erinnern! Salvatore (geht langsam und in schmerzlicher Entschlossenheit bis zur Mitte der Bühne): Ich erwartete Formica. (Während des Folgenden versinkt alles um ihn im Dunkel.) Sie kam, um Abschied zu nehmen – sie kam, sie – sie – sie kommt und sagt mir Lebewohl. Warum verläßt du mich? Du gehst fort – für immer, für immer! Warum verläßt du mich? Ich soll dich verlieren, dich, mein Geschöpf, mein Leben? Muß ich’s dir zeigen, 20

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daß ich dich liebe? Hast du’s nie gespürt, daß ich dich liebe? Ich, ein alter Mann, du, noch voll Fragen und Staunen. Drei Jahre verbarg ich, was ich empfinde, drei Jahre durste ich nach deinem Leib, drei Jahre! Nun willst du mich verlassen. Du willst mich verlassen? Versuch es nicht! Versuch es, versuch es!! Werd ich dich freigeben, dich, mein Geschöpf, dich, mein Werk? Ich formte dich, ich bildete dich, ich löste dir die Seele und die Zunge, ich lehrte dich singen, wie nur die Sterne singen! Du bist mein Geschöpf, du bist mein Weib! Erwacht bist du aus meinen Händen! Du bist mein Weib! Mein, mein, mein! Formica! Formica, so komm! Komm, komm, Formica, komm!!! 21

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6. Szene Formica (tritt auf, erregend schön und doch mit all dem ungetrübten Zauber ihres Mädchenlächelns): Maestro! Maestro, es bleibt kaum Zeit, für alles zu danken, bevor der Diener mit der Kutsche kommt, und um Abschied zu nehmen. Salvatore: Du gehst. Weißt du, wie schwer es mir wird? Formica: Auch ich bin traurig, lieber Maestro. Ich hab mich so an Sie und alles hier gewöhnt. Wie ich Ihnen danke: für die Aufnahme in Ihrem Haus und die Mühe, die Sie meine Ausbildung kostete! Salvatore (für sich): Schön, unnahbar schön stehst du vor mir. Formica: Auch ich bin traurig, lieber Maestro, aber meine Traurigkeit wird bald der Freude weichen, gefeiert zu werden und Erfolg zu haben, 22

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und das alles durch Sie, Maestro Salvatore! Ich hab nichts andres, womit ich Ihnen danken kann – als meine Zukunft. Salvatore: Wie schwer es ist, Abschied zu nehmen … Formica: … Worte zu finden – Sie überraschten mich, gestern, mit einem Abschiedsgeschenk, mit einer alten Arie. Darf ich Sie auch überraschen? In aller Eile lernte ich sie heimlich und trag sie Ihnen nun vor.

7. Szene (Salvatore bleibt im Hintergrund stehen.) Formica (nach vorn gewandt): „Invocazione“ „Naqui tra le tue mani, Signore, naqui, umile fiore. Umile fiore, voce del vento, 23

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e sono cuore e sono sangue dalle tue mani, Signore.“ (Durch Masken hat sich der Chor verwandelt in das verhundertfachte Spiegelbild Salvatores und Formicas.) Chor (Männer): Ich kann dich nicht verlieren, ich muß dich besitzen, du sollst mir gehören! Formica: „Dalle tue mani, Signore.“ Chor (Frauen): Wo ist er? Steht er hinter mir? Ich spüre es deutlich. Formica: „Or di ghiaccio, or di fuoco, Signore. Tu sei l’amore, la mano, che mi distrugge, e che mi puo risuscitare.“ Chor (Männer): Ah! Formica: „E la felice, umile fiore, or ti risponde: tu sei la vita, Signore.“ 24

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Chor (Frauen): Er ist näher gekommen – er steht hinter mir –. Angst! Näher, näher! Angst!! Formica: „Tu sei la vita, glorioso, bello e forte! Tu sei la vita! Signore, e quando vorrai, sarai la mor …“ Salvatore (stürzt sich über sie). Formica (schreit auf ). Chor (Männer): Still! Salvatore: Still! Chor (Männer): Still! Formica (gleitet aus seinen Händen zu Boden). Salvatore (erstarrt zu steinerner Verzweiflung). Staatsanwalt (ist zusammen mit dem Verteidiger, nur von einem einzigen übriggeblie­ benen Scheinwerfer verfolgt, an die Rampe vorgetreten und spricht ins Publikum): Wir ersuchen das Hohe Gericht, sich zur Beratung zurückzuziehen! Vorhang

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Zweiter Akt (Atto Lirico) Gefängniszelle. Der Vorhang öffnet sich über einer kahlen Gefängniszelle, die nur mit einem eisernen Bettgestell, einem Tisch und einem Hocker ausgestattet ist. In der Mitte des Hintergrundes ist eine Tür mit Gitterstäben. Fahles Abendlicht fällt von hoch oben durch ein Fenster.

1. Szene Salvatore (sitzt regungslos am Tisch und starrt auf ein kleines, zierliches Kästchen, das er in den Händen hält): Königin, Königin … Melter (tritt ein): Nur ein kurzer Besuch, sozusagen eine private Aufwartung. Salvatore (wendet sich nur langsam um, ohne sich aber zu erheben). Melter: Verehrter Professor, Sie entschuldigen sicher die Störung, wenn Sie sehen, was ich Ihnen heute bringe: eine – wie sag ich es? – eine – bibliophile Delikatesse, unsere kleine Freundin betreffend. Unser Archiv muß mitunter den verwöhntesten Ansprüchen dienen: „Contemplatio profunda de vita et communitate mirabilibus haud exploratis mysteriosisque myrmecinarum ac earum reginae“, wenn ich richtig lese. Ich selbst mußte mich damit begnügen, die Illustrationen zu betrachten, als bescheid’ner Sammler, der ich nur bin; ein Mann von Ihrer Bildung hingegen … Salvatore (der inzwischen schon begonnen hat, in dem Buch zu blättern): Wie soll ich Ihnen nur danken dafür? Melter: Wenn ich einmal pensioniert sein werde, dann schrumpft mein Wirkungs­ kreis zusammen wie ein erstoch’ner Luftballon. Salvatore (Geste). Melter (gleichsam begütigend): Auch für Sie wird dieser Tag kommen. Doch während Sie in die große Welt zurückkehren werden, wird mir nur die Blume der Bescheidenheit grünen. 26

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Nur im kleinen werde ich noch sammeln können, Käfer und Insekten. Meine Kollektion ist schon recht ansehnlich und hat nichts ihresgleichen auf Meilen im Umkreis. Sie werden meine kleine Schwäche belächeln, aber den bescheidenen Wunsch mir nicht versagen: Schenken Sie mir die Ameise! Salvatore: Wenn ich Ihnen damit eine kleine Freude bereite. Nur – ein paar Tage hätte ich sie noch gern behalten. Sie ist das einzige lebendige Wesen, das bei mir bleibt, wenn das Licht ausgeht im ganzen Haus. Melter: Sie machen mich zu Ihrem ergebensten Diener, verehrter Herr Professor. (Er zieht sich unter zahlreichen Verbeugungen zurück.)

2. Szene Salvatore (versinkt wieder in die alte Stimmung. Das Buch hat er vergessen. Seine ganze Aufmerksamkeit gilt nur noch dem kleinen Kästchen auf dem Tisch.): Königin, du hast die Flügel abgelegt? Bist du den Sommer müd? Bleibst du bei mir? Oder bist du zu jung zur Hochzeit ausgeflogen? Hat dich die Angst da überkommen im Spiel? Königin, Königin, Tanz durch gewitternden Abend, aus süßem Licht und Blumenstaub, Tanz aus kühlgrünem Wald und Sonnenseide. Nur fliegen und unter den Flügeln den Atem der Erde fühlen, und nirgends hin, als um sich selbst: Königin für keinen. 27

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Und nun bist du verirrt, verflogen. Der Sommer ist vorbei, und du kannst nicht mehr sterben.

3. Szene Salvatore (Als er das Kästchen niedersetzt, fällt sein Blick auf das Buch, das er auf den Tisch gelegt hatte. Er greift danach.): „Contemplatio profunda …“ (Er blättert darin und beginnt schließlich auf der letzten Seite zu lesen.) Männerchor (hinter der Szene): Index specium: Myrmecinae Ponerinae Camponotini Dolichoderinae Raptiformica sanguinea Coptoformica exsecta Serviformica gagates Serviformica fusca fusca Serviformica rufibarbis Formica rufa rufa Formica pratensis Formica rufopratensis major Camponotus herculeanus Camponotus chilensis Camponotus ligniperda Camponotus rufipes Monomorium pharaonis Monomorium omnivorum Monomorium minimum Monomorium destructor 28

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Monomorium decamerum Tetramorium aculeatum Tetramorium caespitum Leptothorax tuberum tuberum Leptothorax nigriceps Leptothorax interruptus Myrmecocystos hortideorum Myrmecocystos mexicanus Myrmecocystos bombycinus Pogonomyrmex occidentalis Iridomyrmex cordatus Colobopsis truncata Solenopsis geminata fugax Oecophylla smaragdina Aphaenogaster subterraneus Azteca barbifex Azteca olithrix (Salvatore schläft über dem Lesen ein.) Myrmecinae Coptoformica Rufa Pratensis Rufopratensis Major Ligniperda Destructa Tetramorium Tetramorium Solenopsis Subterraneus Caespitum Leptothorax 29

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Occidentalis Cordatus Truncata Myr ri de ra for Mi cop for ga tes Ser ca bar mi ru Fa pra sis cam no Tus cam tus pu cam Po mon no um ni Vo um struc no ri Um tet tet ri caes Pi tu nig lep tho Ax to de myr co Cy me no oc den Ta mex ta nop trun Ca ge sma na phae No ne ca thrix

4. Szene (Ballett) (Während des wachsenden Dunkels und des immer mehr sich verwirrenden Chores hat sich die Szene nach und nach mit phantastisch insektoiden Traumfiguren belebt. Ihr chaotisches Schwirren steigert sich zum tödlich geilen Liebestanz, aus dessen letzter Ekstase Formica aufblüht, unberührbar wie ein kühler Mond: die Königin. Die Musik reißt ab. Der Tanz zuckt weiter. Von der plötzlichen Stille erschreckt, fährt Salvatore aus dem Schlaf.) Salvatore: Warum singst du nicht?! Singe, (geschrien) Singe!! ––– Hörst du mich nicht mehr, 30

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Formica?!! ––– (Ein schriller Glockenton zerreißt die angstvolle Pause. Der Traum erlischt.)

5. Szene Melter (auftretend): Einen schönen guten Morgen, mein lieber Professor! Haben Sie gut geschlafen? Hier ist das Frühstück. Aber auch unsere kleine Freundin habe ich nicht vergessen. Sehen Sie: italienischer Blütenhonig! Das war schon stets das Elixier der Königinnen. Es gibt der Haut einen Glanz wie rohe Seide. – Ich muß gestehen, heute, die ganze Nacht über, wurde ich den Gedanken daran nicht los. Salvatore: Heute – Melter: Rechtzeitig muß man die Natur unterbrechen, sonst verliert sie ihre Farben. Ein Tropfen Äther, und sie bleibt ewig so jung und seidig glänzend, wie sie’s heute war. Wie noch ihre Facettenaugen wimpernlos und groß und dunkel sind! Und ihre Beine: zwei, vier, sechs – sie hat noch alle, und ihre Fühler, ungebrochen! Wie schade wär’s, wenn sie hier alt und glanzlos würde, und könnte doch an einer feinen Nadel schweben, an einer Silbernadel zwischen Kopf und Rücken, 31

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und noch in hundert Jahren so schön sein wie am Tag, als sie zur Hochzeit ausflog und nicht mehr zurückkam. Geben Sie mir das Tierchen! Salvatore (wendet den Blick nicht mehr von dem Kästchen): Nicht heute – Melter: Je nun, es muß ja nicht heute sein … Salvatore: und nicht morgen. Melter: Ich komm ja jeden Tag. (geht ab) Salvatore (sitzt wieder am Tisch. Er singt der Ameise einen Ton vor und lauscht angestrengt.): Ah – Vorhang Zwischenspiel

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Dritter Akt (Atto Commediante) Gefängniszelle. Zwei weitere, übereinanderstehende Betten sowie zwei neue Hocker stehen in der Zelle.

1. Szene Salvatore (sitzt noch immer in derselben Haltung. Sein angestrengtes Lauschen hat sich bis zu flehentlicher Erwartung gesteigert.): Ah – – – Ich glaube! Ich weiß: du mußt es können! Wie schwer mir die Nächte werden, wenn die im Schlaf von ihren Weibern stöhnen, und ich nichts andres träumen kann als: Singe, singe, Formica! und über Tags, bis endlich für zwei kurze Stunden wir allein sind! Ich weiß: du mußt es können! Ich glaube! Ah – –

2. Szene (Lärmender Auftritt seiner neuen Zellengenossen. Salvatore schließt sofort das Kästchen.) Fassadendieb: … und da hab ich nur noch zu ihr gesagt: „Halt’s Maul, sei schön!“ (Die beiden lachen schallend.)

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Fassadendieb (zu Salvatore): Na, du Stubenhocker! Taschenkletterer: „Es bleibe, wer Lust hat, mit Sorgen zu Haus!“ (zu Salvatore) Und verpaßt die besten Witze! Fassadendieb: Aber das war noch gar nichts! Da weiß ich noch eine bessere: meine gefährlichste Liebesgeschichte.

3. Szene Taschenkletterer (begleitet ihn quasi improvisato, indem er mit Löffeln abwechselnd auf das Eßgeschirr oder die Gitterstäbe der Tür schlägt). Fassadendieb (klettert an den übereinandergestellten Betten herum): Fassaden sind mein Element, speziell im Jugendstil. Ganz gleich, wer hinter ihnen pennt, ich find mein Ziel. Oben, circa sechster Stock, wohnten alte Tanten. Sie bekamen einen Schock – ich die Diamanten. Fassaden sind mein Element, speziell im Jugendstil. Ganz gleich, wer hinter ihnen pennt, ich find mein Ziel. Reich beschenkt klomm ich hinunter – dort: ein Fenster offen! Er schlief fest, und sie lag munter. Wie hat sich das getroffen! Mein Mitleid regte sich wie immer,

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ich sprang zu ihr hinein und liebte sie im Nebenzimmer bei blauem Mondenschein. Fassaden sind mein Element, speziell im Jugendstil. Ganz gleich, wer neben ihnen pennt, ich find mein Ziel. Am Morgen, als ich spät erwacht, da hatte sie ihn umgebracht. Gut, daß ich besser war als er, sonst lebte ich wohl auch nicht mehr. Sie war zwei Jahr mein Kompagnon im Bett und in Fassade. Ihr Pech: ein wackliger Balkon. So endet die Ballade. Taschenkletterer (sucht sich vergeblich an den Gitterstäben festzuhalten, gleitet ab und fällt um): Schade!

4. Szene (Die Geschichte wird von beiden pantomimisch dargestellt.) Taschenkletterer: Und das ist meine traurigste Liebesgeschichte! Einst vergriff ich mich an einem hübschen Kind und fand zwei Hunderter in ihrem Kleid; doch Ehrenmäner, die wir sind: ich lud sie ein ins Kabarett geschwind, sie tat mir leid. Wir haben viel getrunken, viel gelacht (ich hörte nicht mehr auf ), dann hab’ ich sie nach Haus gebracht, 35

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in einer kalten Winternacht. Sie nahm mich mit hinauf. Noch in der Wohnung lachte ich; erst machte sie noch Tee, dann aber sich zurecht für mich; doch immer wieder dachte ich ans Kabarett. Als sie mich in die Arme schloß, riß mich das Lachen nieder. Da floh ich, was sie sehr verdroß, als wie ein ungeritten Roß und kam nie wieder. Vor Scham benahm ich mich noch wie ein Herr: ich legte unters Kissen zwei Hunderter, vielleicht auch mehr, bevor ich ausgerissen. Fassadendieb (zieht sich wieder an): Bei mir hast du ver … Salvatore: Verzeihen Sie, meine Herren! Haben diese Geschichten mit Liebe zu tun? Es waren hübsche Zoten, gut dargestellt, mein Kompliment! Sie hätten zum Theater gehen sollen. ––– Auf der Höhe meiner Laufbahn bewohnte ich eine geräumige Villa am Rande dieser Stadt.

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5. Szene (Die beiden Ganoven stehen rechts und links am Portal der Bühne und kommentieren mit Gesten und Pfiffen Salvatores Erzählung.) Salvatore: Eines Tages, die Sechzig hatte ich eben erreicht, meldete mein Diener den Besuch zweier Damen. Diener (im Frack, tritt auf durch die Tür der Gefängniszelle): Darf ich die Damen hereinführen? Salvatore (immer in Sträflingskleidern, zum Diener gewandt): Ich lasse bitten.

6. Szene (Formica und ihre Mutter, in Reisekleidern, treten auf durch die Tür der Gefängniszelle.) Mutter: Maestro! Salvatore: Gnädige Frau – Mutter: Meine Tochter Formica. (Fassadendieb und Taschenkletterer pfeifen.) Salvatore: Sie schrieben mir … (Erst jetzt schaut ihm Formica in die Augen. Die Zeit steht still.) Salvatore: So also sieht mein Leben aus. Mit solchen Augen schaut’s mich an

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und tritt herein in dieses Haus und weckt mich alten Mann. Vorüberflirrende Libelle, ein Glanz durch die geschloßnen Lider. Mein Blut wird eine dunkle Welle und stürzt auf meinem Herzen nieder. Formica (gleichzeitig): Mir ist, als ob ich Flügel hätt’ und spürt den Duft aus dem Jasmin, so schauert mich an dieser Stätt, seh ich sein weißes Haar und ihn. Er wird mir ganz die Zunge lösen, bis daß ich selig singen werde wie ein unirdisch Zauberwesen und doch ein Weib aus Blut und Erde! Mutter (gleichzeitig): Ach könnt mein sel‘ger Mann das sehn, vor Rührung müßt er wohl vergehn! Diener (gleichzeitig): Ist ihr Gesang wie ihr Gesicht, so einen Glücksfall gab’s noch nicht. Ich kenn doch meinen gnäd’gen Herrn! Solch hübsche Larven sieht er gern. (Alle vollenden ihre unterbrochenen Bewegungen, nur Formica steht noch eine Weile wie verzaubert.) Salvatore: … Sie schrieben mir, daß Sie die Absicht haben, Ihr Fräulein Tochter bei mir ausbilden zu lassen. Mutter: Die weite Reise scheuten wir nicht, um Sie, Maestro Salvatore, aufzusuchen. 38

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Ihr Ruhm dringt in alle Welt, und ich würde mich glücklich schätzen … Salvatore: Ihr Vertrauen ehrt mich. Mein Fräulein, darf ich Sie bitten, mir etwas vorzutragen? Diener: Wenn die so singt, wie sie aussieht! Mutter: Das Kind scheint mir ein wenig aufgeregt, begreiflicherweise. Würden Sie ihr erlauben, sich einzusingen? Formica: Wie schauert mich an dieser Stätt, seh ich sein weißes Haar und ihn. Salvatore (zum Diener): Führen Sie das Fräulein ins Nebenzimmer! Diener: Wenn die so singt, wie sie aussieht! (geleitet sie hinaus, durch die Tür der Gefängniszelle)

7. Szene Formica (hinter der Szene): Ah – – – Mutter (redet auf Salvatore ein, der nichts mehr hört als Formicas Stimme): Hoffentlich erscheint Ihnen das Material wertvoll genug. (Salvatore bietet ihr einen Hocker an.) 39

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Mutter: Aber in Ihren Händen wird es aufblühen. (Fassadendieb und Taschenkletterer pfeifen.) Mutter: Sie hatte noch keinen Unterricht. (Fassadendieb und Taschenkletterer pfeifen.) Mutter: Kosten spielen keine Rolle. Meine einzige Sorge ist nur: die große Stadt! Formica ist erst sechzehn. (Fassadendieb und Taschenkletterer pfeifen.) Salvatore: Es wären in meinem Hause einige Zimmer … Mutter: Maestro, wie kann ich das annehmen! Formica, Formica! (eilt hinaus) (Salvatore begleitet sie bis zur Türe der Gefängniszelle. Dann wendet er sich zurück.) Fassadendieb: Jetzt wär’s an der Zeit, daß endlich was passiert! Taschenkletterer und Fassadendieb: Wie geht es weiter? Weiter, weiter! Salvatore: Drei Jahre sollte Formica bei mir zu Gast sein, drei bittere Jahre. 40

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Ihre Stimme und ihr Körper erfüllten das Haus. Und jeden Tag …

8. Szene Formica (im Negligé, mehrere Kleider über dem Arm, kommt durch die Tür der Ge­ fängniszelle herein): Welches Kleid paßt am besten zum Champagner? Welche Schuhe, welche Bänder, welche Blumen, welcher Schmuck? (wirft ihm ein Kleid nach dem andern zu) Salvatore: Mein liebes Kind, die vielen Kleider? Laß mich nicht wählen, ich weiß nie, wie du mir mehr gefällst. Formica: Wir werden ausgehn, und die Leute werden glauben, daß ich Ihre Frau bin; dabei sind Sie nur mein Lehrer. Ist das nicht amüsant, Salvatore? Und die jungen Herren bitten Sie um einen Tanz mit mir, oder auch um meine Hand, so als wären Sie mein Vater. Ist das nicht lustig, Salvatore? Doch ich bin noch so jung! Ich will nichts, als hier sein und singen und lernen bei Ihnen, bei Ihnen, 41

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und träum von nichts anderm. Ist das nicht richtig, Salvatore? Salvatore (gleichzeitig): Du bist in jedem eine andre, in jedem Licht, in jedem Kleid. Ein andres Kleid und andre Augen. Ein Kind, ein Mädchen, eine Frau, ein Weib? Ein Weib, das mich umschwirrt, umtanzt, umwindet! Nachtfalter meiner Träume! Heilige Schlange! Höllenengel! (Formica küßt ihn auf die Stirn, rafft die Kleider zusammen, tanzt lachend hinaus. Salvatore steht einen Augenblick wie angewurzelt. Er will ihr nachstürzen, hält sich zurück. Seine innere Zerrissenheit äußert sich in hilfloser Raserei. Dann bricht er über dem Tisch zusammen.)

9. Szene (Fassadendieb und Taschenkletterer schauen sich verwundert an und fangen schließlich an zu lachen.) Fassadendieb: Und das nennt der Liebesgeschichte! Taschenkletterer: Er hat sich nicht getraut! Fassadendieb: Dafür gehört ihm Lebenslänglich! (Sie können sich vor Lachen kaum mehr halten.) Melter (tritt ein, durch die Tür der Gefängniszelle): Antreten zur Abendandacht auf dem Gefängnishof!

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Fassadendieb und Taschenkletterer (verlassen mit ihm die Zelle. Hinter der Szene hört man noch immer ihr Gelächter.): Liiiebe! Salvatore (hat sich das Kästchen mit der Ameise zurechtgelegt, um in tiefster Ver­ zweiflung den Unterricht weiterzuführen): Ah – – – (Im Hintergrund der Bühne wird der Gefängnisgeistliche sichtbar, eben als er seine Predigt an die versammelten barfüßigen Sträflinge beginnt.) Stimme des Gefängnisgeistlichen (hinter der Szene): Und eine Stimme hub an, eine Stimme von oben, und drang in die Herzen aller Verstockten und kündete ihnen die Botschaft dessen, der alle Seelen erlöst, daß sie auftaun, wie der Strom auftaut aus den Klauen des Eises, wenn das Jahr sich wieder zum Sommer wendet; und kündete ihnen die Botschaft des Glaubens. Salvatore (langsam wieder zu sich kommend): Und eine Stimme von oben? Eine Stimme! Deine, deine Stimme! Stimme des Gefängnisgeistlichen (hinter der Szene): Und hub an mit Macht und posaunte die Gegenwart der allumfassenden Liebe in die Herzen der Einsamsten der Einsamen. Chor der Sträflinge (hinter der Szene sichtbar): Kehre wieder, Trost der Schwachen, und ich will der Höllen lachen!

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Deine Stimme schall hernieder. Trost der Schwachen kehre wieder! Salvatore: Singe wieder! Singe wieder, Formica! Formicas Stimme (hinter der Szene): Ah – – – Stimme des Gefängnisgeistlichen (hinter der Szene sichtbar): Und eine Stimme von oben hub an und säte den Samen der Hoffnung aus in ihren Gemütern, der aufgehen wird, wenn die Zeit an ihn wird gekommen sein, gleich einem jungen Reis in warmer Erde. Salvatore: Singe wieder, Formica! Weil ich es glaube: rettungslos und ohne Ende, sing, wie du einst gesungen hast, Formica! Chor der Sträflinge (hinter der Szene sichtbar): Trost der Schwachen, kehre wieder! Deine Stimme schall hernieder, und ich will der Höllen lachen! Kehre wieder, Trost der Schwachen! Salvatore (das Kästchen mit der singenden Ameise in Händen haltend): So sollst du meine Hände verlassen, meine Hände, zwischen denen du erwachtest: aufgebrochne Lust nach ewigen Augen, weiße Blume aus Gesang! Und deine Stimme tut sich auf, und steigt ins unermeßlich Blaue: 44

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losgetrennt, befreit, errettet, selig, selig! Formica (singt hinter der Szene): Ah – – – Vorhang

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Vierter Akt (Atto Tragico) 1. Bild Gefängniszelle. Die Betten von Fassadendieb und Taschenkletterer sind entfernt.

1. Szene (Salvatore lauscht der großen Arie, die ihm die Ameise vorsingt. Er gibt seiner Zustimmung oder Verzückung des öfteren nach besonders kunstvollen Passagen begeisterten wie auch selbstgefälligen Ausdruck.) Formica (singt hinter der Szene): Ah – – –

2. Szene Melter (tritt ein. Die Tür bleibt offen.): Gratuliere, gratuliere! Sie sind frei! (Salvatore verschließt sofort das Kästchen.) Melter: In wenigen Minuten bemüht sich der Herr Direktor persönlich und überreicht Ihnen eine Urkunde, und überreicht Ihnen, höchstpersönlich, eine Urkunde: Entlassen wegen guter Führung! (In Salvatores Gesicht zeigt sich regungsloses Entsetzen.) Melter: Gratuliere! 46

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Ich kann verstehen, daß Sie verblüfft sind angesichts einer so unverhofften Botschaft. Ehrliches Bedauern, meinen verehrten Maestro zu verlieren, mischt sich mit einer kleinen Freude: Sie versprachen mir einst, vor Jahren, das kleine Tierchen beim Abschied meiner Sammlung zu überlassen. Ich werde es mit größter Sorgfalt präparieren, und die feinste Nadel … Salvatore (fährt erschrocken auf ): Das Tier, wie Sie es nennen, ich kann es Ihnen nicht geben! Ich kann es nicht … Melter: Sie können nicht? Wer brachte ihm Nahrung? Wer legte bei der Direktion täglich gute Worte ein? Salvatore: Es ist unmöglich! Melter: Wer sorgte dafür, daß die lästigen Burschen ausquartiert wurden? Salvatore: Ich kann sie Ihnen nicht geben! Melter: Ich flehe Sie an, zeigen Sie sich erkenntlich! 47

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Salvatore: Es ist unmöglich! Niemals! Melter: Ich hab ein Recht auf sie! Salvatore: Ich formte sie! Melter: Ich nährte sie! Salvatore: Ich bildete sie! Melter: Ich zog sie auf! Salvatore: Wo denken Sie hin? Melter: Für meine Sammlung war sie bestimmt! Und die feinste Nadel … Salvatore: Ich kann sie Ihnen nicht geben, niemals! Melter: Ich muß sie haben! (Er versucht, Salvatore das Kästchen zu entreißen.) Salvatore: Kommen Sie mir nicht näher!

3. Szene (Der Gefängnisdirektor erscheint in der Tür. Melters bedrohliche Haltung verwandelt sich blitzschnell in eine unterwürfige Verbeugung.)

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Melter: Gratuliere, Sie sind frei! (Gefängnisdirektor tritt ein. Er überreicht Salvatore die Urkunde, die dieser zögernd entgegennimmt. Händeschütteln. Salvatore, in der einen Hand das Kästchen, in der anderen die Urkunde, geht an Melter und Gefängnisdirektor vorbei wie ein irrer König zum Schafott.)

2. Bild Leere Straße vor dem Gefängnistor.

4. Szene Salvatore (kommt aus dem Gefängnistor. Er trägt dieselben Kleider wie im ersten Akt. Mit beiden Händen hält er das Kästchen der Ameise umklammert. Wie im Traum schreitet Salvatore, während hinter ihm das Gefängnis im Dunkel versinkt. Er beginnt die Richtungen zu wechseln. Immer zögernder werden seine Schritte. Endlich bleibt er stehen.): Wohin?

3. Bild Ein großes Portal, der Eingang zur Music-Hall, wird schlagartig hell.

5. Szene Ausrufer (lockt Passanten an, die in großer Zahl hineinströmen): Illuminationen, Attraktionen,

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Illusionen, Mädchen, saftig wie Melonen, Matronen, die ihre Kleider schonen, mit solchen Balkonen und Tischtelephonen, mit zwölf Millionen Luftballonen; aus goldenen Saxophonen, sprühen Legionen von Elektronen, Sie werden sehn, es wird sich lohnen! (Salvatore wird willenlos mit hineingespült.)

4. Bild Music-Hall. Ihr Aufbau entspricht genau dem Gerichtssaal. Das Podium ist zur Tanzfläche geworden. Eine Bühne im Hintergrund. Zwei Kapellen auf der Szene.

6. Szene (Ballett) (Girls in spärlich angedeuteten Barockkostümen treten in Gruppen, entsprechend den Fugeneinsätzen der Musik, auf. Müder Applaus. Der Vorhang der kleinen Bühne fällt.)

7. Szene (Nach den Klängen der zweiten Kapelle beginnen einige Paare zu tanzen.) (Salvatore tritt ein, findet keinen Platz, läßt sich vom Ober einen Tisch an die Rampe stellen und bestellt Sekt. Der Ober serviert. Salvatore hebt die Ameise behutsam aus dem Kästchen und setzt sie zärtlich auf das Tischtuch.)

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8. Szene Salvatore (hebt das Glas): Vivat, Formica! Nun lebe! Es war eine Zeit, da war von dir nichts als mein Glaube. Und nun bin ich kaum mehr, und du bist das Leben. Wer liebt, ist dem Tod unerreichbar. Formica, Salvatore: wir zwei sind ewig!

9. Szene Chor I der Music-Hall-Besucher (aufspringend): Unerhörtes Verhalten! Er ist irrsinnig! Gewiß! Er weiß selbst nicht, was er will! Ein Verrückter steht vor uns! Ein Verrückter! Chor II der Music-Hall-Besucher (aufspringend): Unerhörtes Verhalten! Er spielt den Schwachsinnigen. Nein, nein! Er stellt sich nur verrückt: betrunken ist dieser Mensch! Er spricht im Rausch! Beide Chöre: Wir besuchen regelmäßig Theater! Wir können uns ein Urteil erlauben!

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10. Szene (Die Girls haben sich inzwischen in durchsichtig beflügelte Insekten verwandelt. Sie tanzen von der Bühne hinunter in den Saal, wo sie sich in Erwartung ihres Stars auf der Tanzfläche gruppieren. Tusch.) Der Geschäftsführer: Ich erbitte die Aufmerksamkeit des geschätzten Publikums für unser sensationelles Insektenballett. Wir zeigen Ihnen die bezauberndsten Fliegen, Libellen und Bienen, von denen Sie je geträumt haben! Salvatore: Sieh doch, Formica, ihnen fehlt die Königin! – Geh hin und sing! Nun singe, Formica! (Salvatore drängt sich auf die Tanzfläche zwischen die Tänzerinnen. Er wird dabei von ihnen hin und her gestoßen. Das Kästchen mit der Ameise entfällt ihm – und wird von den wirbelnden Beinen zertreten. Salvatore taumelt und bricht tot zusammen.) (Der Vorhang der kleinen Bühne öffnet sich und die Insektenkönigin, der Star des Abends, wird vom Publikum begrüßt. Salvatore wird auf einen Wink des Geschäftsführers, von den Gästen unbemerkt, hinausgetragen.) Vorhang Ende

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DIE SEIDENRAUPEN Eine byzantinische Legende für Musik in einem Vorspiel, sieben Bildern und einem Nachspiel von Richard Bletschacher Musik von Iván Eröd

Vorbemerkung I. Teile der Handlung wurden dem mittelalterlichen Volksbuch vom König Rother entnommen, in welchem Gestalten und Ereignisse aus sechs Jahrhunderten mit Phantasie und Naivität unglaubwürdig gemacht werden; anderes, kaum weniger Erstaunliches wurde aus den registrierten Schätzen der Geschichte entliehen (etwa die Tatsachen, daß germanische Hünen in Byzanz als Leibwache des Kaisers dienten, daß einem persischen König eine Dame unadligen Blutes als byzantinische Prinzessin zugeführt wurde, daß ein Brautwerber westlicher Kaiser abgewiesen wurde, obwohl er eine Wasseruhr als Werbegabe überbrachte, daß dagegen der Fliederstrauch aus Byzanz nach Europa kam und die Seidenraupen aus dem Osten nach Byzanz und vieles andere), einiges ist auch – zugegebenermaßen – erfunden und erlogen; das Ganze jedenfalls ist durchaus vergangen und unwiederholbar und hat mit dem Leben unserer Tage nur das gemeinsam, wovon behauptet wird, es sei nicht zu ändern. II. Den Philologen wird der Hinweis interessieren, daß die hier wiederholt verwendete „babylonische Sprache“ streng nach der Rechtschreibung der Enzyklopäderassa Babylotta aufgezeichnet ist. Das genannte Werk ist erschienen bei Kolurabbi und Schwiegersohn, Babylon, im Jahre des doppelten Nashorns. Dem aufmerksameren Leser wird sehr bald klar, wie falsch die weitverbreitete Meinung ist, das Babylonische sei durch eine Verwirrung und Vermischung anderer Sprachen entstanden. Es ist vielmehr verblüffend zu erkennen, wie vieles aus dem sprachmütterlichen Reservoir des Babylonischen in das Vokabular der überlebenden Sprachen eingeflossen ist. R. B. 53

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Personen der Handlung Konstantin, Kaiser von Konstantinopel Oda, seine Tochter Mamella, Zoste Patrikia Kreatopoulos, Megas Domestikos Rothar, König der Langobarden Pula, dessen Gesandter Witold und Wate, zwei Riesen Ymelot, König von Babylon Wali Dawud al Pansur, dessen Gesandter Ariman, ein Löwe

Baßbariton hoher Sopran Alt Bariton lyrischer Tenor Tenor Bässe Baß Baß stumme Rolle

Byzantinisches Volk, Wachen und Hofbeamte aller hierarchischen Stufen, babylonische Krieger

Orte der Handlung Vorspiel: Im Chrysotriklinium (Goldenen Thronsaal) von Konstantinopel 1. Bild: Im Hafen von Konstantinopel 2. Bild: In Odas Kammer 3. Bild: In einer Badestube 4. Bild: In Ymelots Heerlager 5. Bild: Im Hippodrom zu Konstantinopel 6. Bild: Im Turm der Vergessenheit 7. Bild: Im Hafen von Konstantinopel Nachspiel: In den kaiserlichen Gärten an den „Süßen Wassern Europas“

Zeit der Handlung In den „dunklen Jahrhunderten“ zwischen Altertum und Mittelalter Pausen nach dem 2. und nach dem 5. Bild

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Vorspiel Im Thronsaal zu Konstantinopel („Chrysotriklinium“). Kaiser Konstantin sitzt auf seinem Thron vor einer Wand aus goldschimmernden Mosaiken. Rechts neben ihm stehen Oda, seine Tochter, und Mamella, die Zoste Patrikia; links und etwas tiefer der Megas Domestikos Kreatopoulos; weiter nach außen Kubikularier und Palastwachen. Vor den Stufen des Thrones liegen die beiden Gesandten, Liutprand Graf von Pula und Wali Dawud al Pansur, auf dem Angesicht. Wenn sich der Vorhang hebt, ertönt die Kaiserhymne. Gleichzeitig wird der Thron des Kaisers durch eine sichtbare Maschinerie langsam in die Höhe gehoben. Als der Megas Domestikos den beiden Gesandten schließlich ein Zeichen gibt, sich zu erheben, sehen sie staunend den Kaiser hoch über ihren Köpfen thronen.

Pulas Werbung Kreatopoulos: Nun steht ihr vor dem Herrn der Welt: vor Konstantin, dem Sohn des Konstantin. Nun tut den Mund auf, redet! Pula (vortretend): Erhabenes Gefäß, großmächtiges Haus, du Quell der Huld und Ozean der Weisheit, Mischkrug der sieben Gottesgaben und Vorratskammer aller Gnaden! Vor den zwölf goldenen Mauern, die dein Glück um dich schließt, liegt – begierig deines Anblicks, Kaiser – mein junger König mit dem Heer der Langobarden – Rothar ist sein Name – und fleht durch mich so ganz Unwerten – Markgraf Liutprand von Pula, Istrien, Piran, Friaul und allem, was dazugehört –, daß du die Gaben, die er dir, o Großer, 55

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zu Füßen legt, nicht ganz verschmähst und auch nicht seine Bitte. (Auf seinen Wink werden von den Soldaten Geschenke vor dem Throne ausgebreitet, Konstantin verzieht keine Miene.) Im Kvarner Meer, da liegen seine Schiffe tief im Wasser, schwer von Getreide oder Handelswaren, doch andre haben Waffen und auch Kriegsvolk in den Bäuchen. Daran sollst du erkennen, o erhabenes Gefäß, – und nicht an meiner ganz bescheidnen Art – wie groß die Stärke meines Königs ist. (Er zieht nun ein Bildnis in Form eines gerahmten Medaillons aus seinem Ärmel und reicht es Oda.) Nach diesem Bildnis aber laß dies Mädchen, deine Tochter vor der ich niederknie – alt wie ich bin, doch noch mit Augen, die das Schöne lieben – urteilen über seinen Wert. Denn wo der weise Herrscher nach der Zahl der Krieger und der Münzen rechnet, da richtet oft ein Mädchen nach den Augen. Bedenke nun bei dir, großmächtiges Haus, ob durch zwei goldne Ringe man nicht oft mehr erreicht als durch zweihundert Schiff voll Eisen. Ich hab gesprochen, Kaiser, nimm’s zum Ohr und laß mich Antwort wissen. (Konstantin, der die Geschenke keines Blickes würdigte, beißt stumm seine Lippe.) (Oda hat das Bildnis Rothars entgegengenommen, lange betrachtet und stößt nun einen kleinen Seufzer aus.): Oh … 56

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Dawuds Werbung Kreatopoulos: Was ist nun deine Botschaft, Babylonier? Tritt vor und sprich! – Doch nicht zu nah, denn du beleidigst unsres Fräuleins Nase. Dawud (vortretend): Ich hab nur wenigWorte, und nicht zubereitet wie gewürzte Mahlzeit. Mich schickt mein Herr, das ist der König Ymelot von Babylon. Zu Asche hat er schon verwandelt Schiras, Susa und Samarkand, Merw, Trapezunt und Ktesiphon; nun plündert er in Gottes Namen Tripolis, Karthago, Damaskus und Jerusalem, und aus den Inseln Kypros, Rhodos, Kreta und Sizilia macht er dem rechten Gott Brandopferfackeln. Der also läßt dir sagen: die Seidenraupen habt ihr uns gestohlen, in hohlen Wanderstöcken zweier Bettelmönche sie nach Byzanz gebracht von Osten. Die fordern wir vollzählig wieder, ganz unversehrt und ohne Schaden, sonst ist der Krieg nicht zu vermeiden. Als angemeßne Sühne für den Raub erklärt sich Ymelot bereit, als zwölftes Weib dein Kind, die Erbin deines Reiches, anzunehmen. Ein Bildnis wie der Langobarde schickt er nicht, denn Balu sagt, der, der uns konterfeit, der stiehlt uns das Gesicht. Doch wenn du mich ansiehst, so weißt du alles. Ich gleich ihm wie ein Mann dem andern. 57

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Pula: Dann hat er wenig Hoffnung zu gefallen.

Streitquartett Oda (Rothars Bildnis betrachtend): Schau her, Mamella, wie gefällt er dir? Mamella: Ich hab ihn mir ganz anders vorgestellt. Oda: Er sieht so anders aus als alle, die ich kenne. Mamella: Ich mag nicht diese blassen Menschen. Oda: Ich weiß nicht, was ich denken soll dabei. Mamella: Er hat ja gelbes Haar, abscheulich! Oda: Das kann man schneiden oder färben lassen. Mamella: Er ist ein Ausländer. Oda: Wenn man das alles wegdenkt … Mamella: Bleibt nicht viel. Dawud (zu Pula): Bist du des Kaisers Tochter, daß du Antwort gibst? Pula: Entscheide, Kaiser, wer es ehrlich meint: mein Herr schickt eine Wasseruhr, zwei Spangenhelme, filigranen Schmuck, ein Bild mitsamt dem Rahmen und der bringt nichts als schlechte Luft.

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Dawud: Wer spricht von Ehrlichkeit? Du Hundesohn, du parfümierter, arianischer Salbader! Du hast drei Wahrheiten statt einer: dein Gott ist dreigespalten so wie deine Zunge! Dawud: Die wahre Wahrheit kommt von Osten! Pula: Bisher ist nur die Pestilenz gekommen. Dawud: Und aus der Wüste kommen die Propheten! Pula: Und bringen uns die Wüstenflöhe. Dawud: Wir bringen Wohlgerüche und Gewürze! Pula: Die Pocken, Lepra und Malaria. Dawud: Im Osten liegt das Paradies! Pula: Was kommt ihr dann zu uns nach Westen? Mongolen, Hunnen, Türken, Petschenegen, Awaren, Skythen und Tataren und nun du? Dawud: Wir schenken euch den wahren Glauben! Pula: Und alles andre nehmt ihr fort. Dawud: Die ganze Erde werden wir befreien! Die ganze Welt  m u ß  glücklich werden!! Oda: Was will der Mensch von uns, Mamella?

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Mamella: Er sagt, er will uns glücklich machen. Oda: Sind wir nicht glücklich, wie wir sind? Mamella: Darüber hab ich niemals nachgedacht. Oda: Ich möcht auf meine Weise glücklich werden. Mamella: Zudem verlangt er deine Seidenkäfer. Oda: Ich will ein Seidenkleid zur Hochzeit haben. Dawud: Die Seidenraupen muß ich wiederhaben mitsamt der Brut, den Eiern und den Larven, dazu ein Korb mit Maulbeerblättern für die Reise und eine Kaisertochter für den Schaden! Pula: Und wenn du Mäuler hättest mehr als Poren, und wenn du prahlen könntest, wie du stinken kannst, du könntest keinen Henker überreden, daß du den Schatten seiner Magd beschmutzen darfst! Mit dem da muß man babylonisch reden. Chataba nasi, powidal! Igulawatsch gorengo! (Dawud stößt einen furchtbaren Wutschrei aus und reißt sein Krummschwert aus dem Gürtel – da erhebt der Kaiser die Hand und alle verstummen.)

Konstantins erster Wutausbruch Konstantin (zornbebend): Barbarisches Gesindel, Halsabschneider! Seid ihr die Boten zweier Fürsten oder 60

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tollwutkranke Affen? Werbt ihr um meine Tochter oder rauft auf dem Marktplatz ihr um einen Hund? Ist das der Ton, den man dort singt in euren Zelten oder Wagenburgen? Wißt ihr denn recht, vor wem ihr steht? (Er erhebt sich.) Ich bin der Kaiser Konstantin, dies ist mein Thron, dies mein Palast. Wo mein Fuß hintritt, hat die Erde ihre Mitte. Von diesem Mittelpunkt der Welt führ’n alle Wege auseinander. Um mich ein Kranz gebeugter Hälse von Kammerherren und Leibgardisten. Dort draußen meine Gärten, Kirchen, Frauenhäuser, darum ein Ring aus den Palästen meiner Fürsten, danach das Volk in festen Häusern, die Mauern meiner Stadt und jenseits derer das Lager der Soldaten, die Schiffe, die im Hafen warten. Dahinter liegt mein Land, mein Meer und meine Inseln und meine Grenze ist der Ozean. (Er setzt sich wieder in seinen Thron.) Was ihr besitzt, das habt ihr mir gestohlen. Mein Corpus juris wird bei euch zum Faustrecht, mein rechter Glaube Häresie: Monophysiten, Arianer, Muhammetaner, Juden, Manichäer, hol euch der Satan so gewiß, als ihr im Sinn habt, euch mein Kind zu holen und hofft nichts weniger zu erben als die bewohnte Welt! Ihr Wegelagerer, Mordbrenner, Maulaufreißer, 61

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Langstreckenläufer, Erbschleicher, Kuppler, Wassersäufer, blond oder schwarz, aus dem Gebirge oder aus der Wüste! Ich werde jedem eine Kette schenken und ein Verließ im Knochenturm mit Ausblick auf den Himmel. Soldaten, faßt sie, führt sie ab!

Das erste Handgemenge (Kreatopoulos stürzt sich auf die beiden Gesandten und bekommt als ersten den wild um sich schlagenden Wali Dawud zu fassen. Dawud (schreit vor Schmerz laut auf ): Ajjau!!! (Es gelingt ihm indes, sich loszureißen, jedoch nicht ohne einen Teil seines Bartes in der Hand seines Peinigers zu lassen. Er zieht sein Krummschwert, stößt einen erschreckenden Schwall unübersetzbarer babylonischer Flüche aus …) Brastiput, niffu! Potim, tim Tarissu, rasi nuri pas! Mretas! Hat hat!! (… und rettet sich endlich durch die Flucht.) (Pula, der solches Verhalten zutiefst ablehnt, läßt sich von den Soldaten widerstandslos festnehmen.) Konstantin: Ihm nach, ihm nach! Kubikularier, Soldaten, Kreatopoulos! Zieht ihm die Zunge aus dem Hals, reißt ihm die Ohren ab! Ihm nach, ihm nach! (auf Pula weisend) Den aber haltet gut. Legt ihn an Ketten! Fort mit ihm, hinaus! 62

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(Alle ab, außer Konstantin, Oda und Mamella.)

Konstantins „gute Ratschläge“ Konstantin: Wenn meine Augen mich nicht täuschen, warst du von dem Geschwätz geschmeichelt. Hast du an diesem Tand mehr Freude als je an meinen täglichen Geschenken? Willst du so schnell die Kinderschuhe ausziehn, die Zöpfe schneiden und die Augen schminken mit deinen sechzehn ahnungslosen Jahren? Zieh du das Bußgewand dir über, aus einem Sack geschnitten, bis zum Knöchel tief, so wie ein Mönch vom Athos oder Kopte – doch ohne Gürtel und Sandalen! – dann widerstehst du leichter der Versuchung. Üb’ dich im Beten und im Nabelschaun! Und so verläßt du deine Kammer nicht, bis du das Licht vom Berge Tabor siehst. Oda (schluchzend): Was hab ich Schlimmes denn getan? Konstantin: Was man erst denkt, das tut man bald. Oda: Ich schwöre dir, mein liebster Vater: ich denke nichts den ganzen Tag. Konstantin: Dann muß ich sorgen, daß dir nicht Gedanken kommen über Nacht. (Oda beginnt zu weinen. Mamella legt ihren Arm um sie und führt sie hinaus.)

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Erstes Bild Im Hafen von Konstantinopel

Rothars Ankunft (Links der Palast des Kaisers. Ein fremdartiges, hochbepacktes Schiff mit schlaffen Segeln legt an. An den Rudern sitzen zwei unbyzantinisch große Burschen. Sonst ist niemand drauf zu sehen.) Volk (zusammenlaufend, in Gruppen): Ein Schiff! Ein Schiff! Schaut her, ein Schiff! Ein Schiff hat angelegt! Schaut her, das Segel! Nicht schlechter als ein Hemd vom Seraph Gabriel! Den Bauch hat’s tief im Wasser wie eine Wassersau! Wo kommt ihr her? Was bringt ihr mit? Ladet doch aus! Laßt uns doch sehn! Soll’n wir euch helfen? He, braucht ihr Leute? Die brauchen euch nicht! Seht ihr die beiden dort? Was die für Arme haben und Hände wie Schaufeln! Was für Frisuren, haha! Und erst die Bärte, die langen Bärte! Ob man so einen kaufen kann? Das wären prächtige Sklaven! Das wären Leibgardisten, 64

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Raufbolde, Sänftenträger, Lasttiere, Zirkuskämpfer, Ruderknechte, Eunuchen! Doch was die fressen und saufen, das könnte der Kaiser nicht zahlen! (Wate und Witold haben das Segel losgebunden und lassen es nun zusammensinken. König Rothar wird dahinter sichtbar. Er ist als fremdländischer Handelsherr gekleidet.) Volk: Aaaaah! Rothar: Konstantinopolitaner vom Goldenen Horn! Ich entbiet’ euch meinen Gruß. Der Wind hat sich in meinem Segel totgelaufen, gestattet, daß ich hier im Hafen warte, bis er sich neu belebt. Darf ich mit meinen Schuhen den Boden eurer Stadt beschmutzen? Volk: Wo kommst du her? Wer bist du? Rothar: Ihr seht, ich bin ein Handelsherr. Solch einer kommt von allen Enden der Welt. Volk: Was führt dein Schiff für Waren? Rothar: Konstantinopolitaner, schaut und ratet! Volk: Gold, Elfenbein, Sandelholz, Silber, Schafkäse, Gewürze …

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Rothar: Viel kostbarer ist es, was ich euch bringe. Schaut her! (Er gibt den beiden Riesen einen Wink und die beginnen eine der geladenen Kisten vom Deck zu schleppen und zu öffnen.) Rothar: Tabak! Volk: Tabak? Rothar: Tabak zum Kauen! Volk: Kautabak? Rothar: Tabak! Volk: Tabak? Rothar: Tabak zum Schnupfen! Volk: Schnupftabak? Rothar: Tabak! Volk: Tabak? Rothar: Tabak zum Rauchen! Volk: Rauchtabak!!! Rothar: Und Wein und Sirup, süßen Most! Volk: Und Schnaps? 66

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Rothar: Und Bier und Met und Fusel! Volk: Selbstgebrannten? Rothar: Aus Korn, aus Mais, aus Pflaumen und aus Rüben! Volk: Dann lade aus! Du bist willkommen!

Die Zollwachenabfertigung (Kreatopoulos tritt mit Soldaten auf.) Volk: O weh! Der Kreatopoulos! (Sie weichen erschrocken zurück, als sie den Löwen erblicken, den Kreatopoulos an einer prachtvoll geflochtenen Leine führt.) Kreatopoulos: Du da, wer bist du? Rothar: Ein armer, kleiner Händler, wenn’s vergönnt ist. Kreatopoulos: Was treibst du hier? Rothar: Mein Schiff ist brüchig wie ein alter Schuh. Ich muß es flicken lassen, wenn’s vergönnt ist. Kreatopoulos: Gehört das dir? 67

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Rothar: Ich hab es nur geliehen. Das Wrack wird noch mein Untergang! Wenn’s vergönnt ist. Kreatopoulos: Was führst du mit? Rothar: Oh! Wertloses Zeug! Reiseandenken, getragne Wäsche, was man so hat an Proviant und altem Plunder. Kreatopoulos: Zeig die Papiere! Rothar: Papiere? Was ist das? So etwas führ’ ich nicht. Ich bin ein unbescholtner Mann! Kreatopoulos: Papiere! Papiere! Das Reden ist wertlos. Geschriebnes zählt hier allein. Geschrieben, gestempelt, gesiegelt, gezeichnet und endunterfertigt! Rothar: Was willst du also? Kreatopoulos: Die Schiffspapiere, die Zollerklärung, die Rudererlaubnis, den Steuerradnachweis, den Segelbescheid. Sodann die Strandurkunde, Laufschein, Wetterschein, 68

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den Paß, das Lotbuch, die Ankerwurfbewilligung, die Seemannsrolle, die Tätowierungsmarken und einen Windjacken- und -hosenkalender; den Wrackbeitrag für Mastenschiffe, die Anlegegenehmigung für diese Gegend und endlich Windpfennig, Seenotgroschen und Muschelsandstrandluxuszuschuß sowie den Salzwasserzuschlag. Rothar: Woher das alles nehmen? Ich bin erledigt, ausgeliefert! Wer hilft mir Elendswurm? (Wate und Witold erheben sich.) Kreatopoulos (erschrickt nicht wenig): Was sind denn das für zwei? Rothar: Arme Freunde, die mein Unglück teilen. Riesen, selbstgezähmte, aus den Tyroler Alpen.

Arimans Ende (Wate und Witold erheben sich und beginnen, die entsetzten Soldaten über den Haufen zu rennen, ihnen die Lanzen abzunehmen und überm Knie zu zerbrechen). Kreatopoulos: Kaufmann, bind deine Riesen fest, sonst muß ich sie erschlagen! Hört ihr? In Kaisers Namen! Faß, Ariman, faß ihn am Kragen! 69

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(Wate und Witold zerren den Löwen, der sich ängstlich hinter seinen Herrn verdrückt hat, hervor und werfen ihn an eine Wand, so daß er ohne Luft am Boden liegen bleibt). Kreatopoulos: Ajaijaijai! Was tut ihr da, ihr gottverlaßnen Katzenschinder?! Mein Ariman, mein Liebling! Wie haben sie dich hergerichtet! Hol euch der Teufel, wenn er Lust hat! Ein Christenmensch geht euch am besten aus dem Weg. Kommt mit, Soldaten, helft mir tragen, was mir von meinem Liebling übrigbleibt. (Er geht ab und seine Soldaten tragen ihm die Überreste des Löwen nach, wobei sie einen großen Bogen um die Riesen machen. Aus sicherer Entfernung ruft er aber zurück.) Ihr sollt mich kennenlernen!

Rothars Werbegeschenke Volk: Hahaha! Dich kennen wir! Da muß man nicht viel lernen, dann weiß man, wer du bist: der Oberdomestike, der Lampenträger, Paragraphenritter, der Purpurstiefelknecht, der Hinterhofmarschall, der Unterleibgardist, des Kaisers rechter Daumen,

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der zu nichts gut ist als zum Nasenbohren! Hahaha! Haha hahaaa! Rothar: Konstantinopolitaner! Nun will ich euch beweisen, wie ich euch dankbar bin und wohlgesinnt! Die größten Kostbarkeiten, neuesten Wunderdinge, Erfindungen aus unsrer Zeit sollt ihr bei mir bestaunen. Die geb ich gratis und geschenkt zur Feier dieses Tages! Volk: Dann her damit! Teil aus aus deiner Kiste! Wir sind nicht wählerisch, gib her! Gib her, gib her! (Rothar und die beiden Riesen werfen die Geschenke unters Volk.) (Oda erscheint auf dem Balkon des kaiserlichen Palastes.) Chor (einzelne): Still! – Still? Was ist? Dort! – Wo? – Dort oben … Die Prinzessin! – Die Prinzessin? (Rothar erblickt die Prinzessin. Sie schaut auf ihn herab und wendet dann langsam die Augen dem Meere zu.)

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Zweites Bild In Odas Kammer. (Oda sitzt allein auf ihrem Bett und ist mit dem Färben ihrer Zehennägel beschäftigt. Sie trägt die anbefohlene mönchische Kutte.)

Das Zwiegeplapper, erster Teil Mamella (atemlos eintretend): Kindchen, Kindchen! Oda: Ja – was ist denn? Mamella: Ach, du glaubst’s nicht! Oda: Doch, ich glaub es. Mamella: Ahnst nicht, was gescheh’n ist! Oda: Dann erzähl mir’s. Mamella: Wenn ich nur Atem hätte! Oda: Ruh dich aus, Mamella. Mamella: Ach, diese Treppen! Oda: Laß dir nur Zeit. Mamella: Bist du nicht neugierig? Oda: Nicht sonderlich. Mamella: Willst du’s nicht wissen? 72

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Oda: Nein. Mamella: Ein Schiff ist also angekommen. Oda: Je nun, es kommen täglich Schiffe. Mamella: Ach, wenn du wüßtest, Kindchen! Oda: Ach, wenn du reden wolltest! Mamella: Ein Schiff ist also angekommen. Oda: Das weiß ich schon. Mamella: Du weißt es schon? Oda: Doch weiter nichts. Mamella: Dann hör mir zu! Oda: Wenn du nicht redest! Mamella: Ich rede nicht? Ich rede nicht?! Ich sprudle wie ein Wasserspeier! Kann man mehr reden als ich rede? Oda: Dann also red zu Ende! Mamella: Ein Schiff ist also angekommen. Darauf ein junger Handelsherr, den man nicht ohne Herzklopfen anschaun kann, und zwanzig ungeheure Riesen und sechsundfünfzig Ruderknechte 73

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und hundertachtunddreißig Kisten voll … (Sie holt tief Atem.) Oda: … voll womit? Mamella (atmet wieder aus): Ach Kind, du glaubst mir doch nicht. Oda: Doch, doch, ich glaub’s. Mamella: Man kann’s nicht glauben! Oda: Ich glaube alles, was du sagst, Mamella. Mamella: Man müßte lügen können, um das zu beschreiben. Oda: Versuch’s, ich bitt’ dich! Mamella: Nun also: voll mit allem, was sich ein schwaches Herz erträumt: hauchdünne Strümpfe, falsche Zöpfe, sikyonische Sandalen, Garne, Gespinste, Netze, Augenstifte, Düfte und Wohlgerüche aus Arabien in Flaschen eingefangen, Pulver und Farben, ganz geheime Dinge! Bänder, Schleifen, Fischbein, Federn, ach … Oda: Ach! – Ach ja! Mamella: Und das ist nur die Hälfte! Oda: Quäl mich nicht weiter!

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Mamella: Da gibt es Seifen, Öle, weiße Salben und falsche Wimpern … Oda: Hinaus mit dir! Mamella: Hinaus? Was hab ich dir getan? Ich hab doch nur geredet. Oda: Hinaus! Und lauf so schnell du kannst! Und wenn der Handelsherr ein Kavalier ist, dann sag ihm, was ich leiden muß, allein und eingesperrt und ohne Spiegel. Bring mir, was er als Schönstes hat. Hinaus mit dir! Lauf, lauf! Mamella: So außer Atem wie ich bin? Oda: Hinaus! (Mamella eilig ab).

Odas Lied, erster Teil Oda (allein geblieben, geht sie ungeduldig wartend auf und nieder): Ich wollt’, ich wär’ … ich wollt’, ich wär’ … ich wollt’, ich wär’ eine Schlüsselblume, dann schlüpft’ ich durch alle Türen; ich wollt’ ich wär’ eine Glockenblume, dann könnt’ ich meinen Jammer hinausbimmeln auf die Straßen – bimbalabei – bimbaribei – bim! 75

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oder ein Rittersporn oder ein Löwenzahn, ein Türkenbund – nein, lieber ein Bund mit Zwiebeln, dann sollten alle um mich weinen. Ich wollt’, ich wär’ eine Knoblauchzeh in eines Kaufmanns Tasche, da käm’ ich durch die ganze Welt! Aber so – bin ich nur eines Kaisers Töchterlein, sitz hier und bin allein, bin allein …

Das Zwiegeplapper, zweiter Teil Mamella (kommt atemlos zurück, mit einem Bündel unterm Arm): Kindchen, Kindchen! Oda: Endlich, endlich! Sag, wo warst du? Warst du in Philipopolis? Ich bin ein altes Weib geworden in der Zeit. Was bringst du da, zeig her! Mamella: Erst laß mich doch verschnaufen! Oda: Wozu? Mamella: Dein Vater läßt mich hängen, wenn er erfährt … Oda (öffnet das Bündel): Da halt den Strick! Gleich ist’s geschehn. Mamella: Gebenedeiter Sankt Anton, wie widersteht man der Versuchung?

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Oda: Zwei Schuhe sind’s, ich spür es mit den Fingern! Mamella: Dann öffne’s ganz! Nur keine halben Sünden! Oda: O schau, Mamella! – Schnell, hilf mir hinein! Ich will’s auch spüren mit den Füßen, (Sie schlüpft in einen der Schuhe.) mit den Zehen, mit den Sohlen. Oh, das Gefühl! – (Nun in den zweiten.) Halt! Du tust mir weh! Mein Gott! Was ist das? Mamella: Es sind zwei linke Schuhe! Oda: Oh, dieses Unglück! Mamella: Was soll ich tun, mein Kindchen? Oda: Oh, diese Bosheit! Diese Infamie! Das hast du mir zu Fleiß getan! Mamella: Ich laß mich foltern, Kindchen! Ich weiß von nichts! Der Handelsherr, der junge Mensch – der Handelsherr … Oda: Der Handelsherr, der Handelsherr! Mamella: Der sagte mir, im Falle daß … 77

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Oda: Ich nicht zwei linke Füße hätt’ … Mamella: … so wäre er bereit … Oda: Dann lauf, Mamella, bring ihn her! Der Mensch soll was erleben! Mamella: Dein Vater läßt mich hängen! Oda: Du denkst auch nur an dich. Mamella: Ach, Kindchen, Kindchen! Oda: Ach, Mamella! Mamella: Was tu ich nicht für dich, mein Kindchen! Um keinen Lohn als deine Freude. Oda (gibt ihr einen Kuß): Dann also lauf! (Mamella eilig ab). Oda: Doch laßt euch nicht erwischen!

Odas Lied, zweiter Teil (Oda sucht sich nun in aller Eile hübsch zu machen, soweit sich das in ihrer groben Kutte bewerkstelligen läßt. Zwischendurch läuft sie in fliegender Erregung immer wieder ans Fenster und wirft einen ängstlichen Blick hinunter.): Ich wollt’, ich wär’ … ich wollt’, ich wär’ … was denn wollt’ ich nur sein?

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Eine Drossel, ein Fink, buntscheckig und flink. Da verkröch ich mich, husch! in einen blühenden Ginsterbusch. Ginsterbusch, Ginsterbusch, was stehst du draußen vor der Tür und nicht in meinem Zimmer hier? Nein! Ich wollt’ ich wär eines Zaunkönigs Tochter, gelb und grün gesprenkelt, und nicht die Tochter eines griechischen Kaisers, dem die ganze Welt gehört bis zum Rand und alles was darauf ist – oder doch beinah. – Ach, warum kann ich meinen Augen nicht nachlaufen! Ich wollt’ ich wär … ich wollt’ ich wär … Was wollt’ ich eigentlich sein? Eine große Dame? mit einem Kleid, so prächtig wie ein Perserteppich, so bunt wie eine Entenbrust, mit einem Garten voll Kinder: ein Mohrenkind, ein Inderlein, ein kleiner Lango - bar - de … (Sie betrachtet das Medaillon mit Rothars Bild und seufzt.) Ach, nein! Ich wollt’ ich wär’ ein Kakadu und säß auf einem Maulbeerbaum, mein Nest, das wär ein Seidenschuh gingurigu ein Seidenschuh … So aber bin ich nur eines Kaisers Töchterlein … (Plötzlich öffnet sich die Tür. Oda stößt einen kleinen Schrei aus und versteckt zitternd die Miniatur in ihrer Kutte: Rothar steht auf der Schwelle.) 79

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Die Schuhprobe Rothar: Gott schenk dir einen guten Tag, Prinzessin. Oda: Knie vor mir nieder, Schuster. Hier sind meine Füße. Du siehst, ich habe je einen recht’ und linken und nicht zwei linke wie vielleicht die Damen in dem Land, wo dich der Wind herweht, der aus Italien kommt. Rothar: Der Zufall will’s, daß ich noch einen dritten Schuh besitze. (Er zieht den rechten Schuh hervor.) Oda: Ist das nicht recht kurios? Drei gleiche Schuhe! Die Damen in dem Land, aus dem du kommst, die Damen in dem Land, die haben wohl drei Beine? Rothar: Ich nehme es auf meine Seligkeit: wie eure beiden gibt es keine, so flink und schlank als wie zwei Fische, nicht festzuhalten mit den Händen. Geruht das Fräulein erst ein Paar von diesen Strümpfen anzuproben? Oda: O Gott! Gestickte Strümpfe! Rothar: Schmiegsam und glänzend wie das Fell von einem jungen Kätzchen. Gestatte! – Oh! Mir wird ganz paradiesisch! 80

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Oda: Was red’st du da für Wörter!? Rothar: Hier wäre noch ein Strumpfband aus gewirktem Gold. – Oda: Du bist kein guter Schuster, Herr. Du zitterst wie ein Lehrbub bei der Prüfung. Rothar: Ach, vor den Wundern der Natur werd ewig ich ein Lehrbub bleiben! Oda: Mein Herr, du redest fast als säßest du in einem Holderstrauch. Rothar: Ich bin so voller Sehnsucht wie ein Fisch, dem ganz das Wasser fortgelaufen ist. Oda: Bist du nicht recht bei Trost? Du sprichst nicht mehr vernünftig, Schuster. Rothar: Mein kaiserliches Fräulein, ich glühe wie das Gold im Tiegel, wenn’s ans Schmelzen geht! Oda: Gib mir den Schuh zum Fuß, ich will aufstehen. – Oh! Das sind genau die Schuh, die ich seit langem suchte. Rothar (veranlaßt sie sanft, sich wieder zu setzen): Steh noch nicht auf, mein hohes Fräulein. Laß mich noch vor dir knien und dich anbeten, so wie ich knie. Ganz bin ich nicht unwürdig. Oda: Doch, ganz und gar. 81

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Wenn du vor meinem Kleid nicht Ehrfurcht hast, das Gott gehört, so fürchte dich vor dem, was es verbirgt, weil’s einem großen Herrn versprochen ist. Das ist ein König und kein Schuster, der hat um meine Hand geworben und nicht um meine Füße. Rothar: Wer ist der, der so glücklich ist? Oda: Du bist ein Fremder, kannst davon nichts wissen. Drum sag ich’s dir: es ist der König Rothar von der Lombardei. Rothar: Der König Rothar …? Oda: Kennst du ihn …? Rothar: Liebst du ihn auch …? Oda: Ob … ich ihn … liebe? Ich kenn ihn nicht einmal und doch hoff ich – in aller Frömmigkeit –, daß ich noch viel irdische Freuden mit ihm haben werde, wenn ich ihn nur erst anschaun kann mit Augen. Rothar: Mein hohes Fräulein, sieh mich an und schau auf deine Schuh. Fürwahr, es stehen deine Füße in König Rothars Schoß. Oda (steht auf ): Das mußt du mir beweisen oder nicht mehr leben, Herr! 82

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Rothar: Laß mich den Grafen Pula sehn, der wird wohl seinen Herrn erkennen. (Er erhebt sich.) Oda: Hab ich nicht auch zwei Augen? Rothar: Die schönsten, die ich jemals sah! Ich wollt, sie sähen mich mit soviel Freude als wie die Augen meines Pula. Oda: Du sollst ihm morgen gegenüberstehn. Ich will doch seh’n, wie der dich anschaut. Rothar: Ist das die Wahrheit? Oda: Ungelogen! Rothar: Indessen aber? Oda: Bleibst du Schuster. (Rothar kniet wieder zu ihren Füßen.)

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Drittes Bild Eine Badestube in Konstantinopel. Rothar ist als Barbier, Witold und Wate sind als Badeknechte verkleidet. Die beiden Riesen rücken einen Stuhl und eine Holzbank zurecht, schütten dampfendes Wasser in ein Faß und singen dabei ein unflätig Lied. Im Hintergrund sieht man einige dürftig bekleidete Badegäste sich tummeln, ehe Rothar die Vorhänge zu den Kabinen zuzieht.

Das Riesenlied Witold und Wate: Sie kam zur Welt im grünen Gras, drum macht das Leben ihr viel Spaß. Rothar: Habt ihr die Füß’ gewaschen und eure Ohren auch? Ein Badeknecht darf nicht das Wasser scheuen. Witold und Wate: Die Mutter eine Badehur, von einem Vater keine Spur. Rothar: Die Schürzen um die Bäuche, die Kappen auf den Kopf! Und laßt die Zungen hinter euren Zähnen. Witold und Wate: Doch ist ein Weib allein nichts wert wie eine Scheide ohne Schwert. Drum gibt sie sich mit Männern ab, da wird das Röcklein ihr zu knapp. Bald platzt ihr Bauch wie ein Melon: ein Mädchen wird’s, man ahnt es schon. Sie kommt zur Welt im grünen Gras, drum macht das Leben ihr viel Spaß. 84

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Rothar: Er darf euch nicht erkennen, eh’ er nicht mich erkannt; benehmt euch also vornehm wie zwei Sklaven. Witold und Wate: Die Mutter eine … von einem Vater keine … (Oda tritt auf, nun wieder in höfischen Kleidern. An der Hand führt sie den Grafen von Pula, der in Lumpen geht und dessen Gesicht fast zur Gänze von Haupt- und Barthaar überwachsen ist.) Rothar: Wer ist denn das? – Das ist …? Oda: Darin siehst du, was ich vermag. Nun zeig mir deine Künste.

Die Badeprozedur Rothar: Packt an, ihr Burschen kommt! Als erstes badet diesen Herrn. (Witold und Wate fassen den Grafen von Pula, zerren ihm Kittel und Schuhe vom Leib und setzen ihn ins Bad.) Pula: He! He! Hehe! He da! Hö! Hö! Höhö! Huah! Huhuhaha, haha haha haha! Uuujujujujjju Uah! Uauauah! 85

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Oda: Vorsicht! Paßt auf! Gebt acht! – Wie heißen deine Knechte? Rothar: Isaak und Abimelech, hohes Fräulein. Oda: Isaak und Abu Moloch! Wo habt ihr eure Ohren? Genug, genug! Ihr sollt ihn waschen, nicht ersäufen! Rothar: Nun ist er rein, nun trocknet ihm die Füße und salbt ihn dann mit syrischen Heilsalben. (Witold und Wate trocknen den Grafen und heben ihn dann auf eine Bank, wo sie ihn einsalben, wenden und kneten.) Pula: Auauauau, Auje! Aujemineh! Hihi hihi hihi haha! Joi joi jojoh hohoooo …! Haha haha auau! Oda: Isaak und Abu Moloch! Was tut ihr mit dem Armen? Genug, genug! Ihr sollt ihn salben und nicht foltern! Rothar: Nun riecht er gut, nun gebt ihm einen Mantel und setzt ihn her, damit ich ihn rasiere.

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(Witold und Wate setzen den Herrn Pula auf einen Stuhl, werfen ihm einen pracht­ vollen Mantel um die Schultern und binden ihm eine weiße Schürze unters Kinn. Rothar beginnt ihm den Bart einzuseifen, wobei er durchwegs, um nicht erkannt zu werden, hinter Pulas Rücken steht.) Pula (prustet und spuckt den Schaum um sich): Ph - ph - ph - prrrh! Pppp ph ph pfh pffffh Pfui Teufel! Geh zum Henker, du statt meiner! Du Lump von einem Sträflingsschinder! Pwwwh ph ph pfui, pfui! Kann man nicht ungeschoren hängen? Stört euch mein Bart beim Köpfen? Ffffh! Schneid mir den Hals nicht ab! Laß du dem Henker seine Arbeit, du Halunke! Pwwwh pwwwh ph ph! Pfui Teufel, pfui! Kannst du nicht ordentlich barbieren? Bin ich ein Probebock für Lehrlingsbuben? Kannst du nicht Ziegen erst rasieren gehn, bevor du dich an einem Herrn vergreifst? Anfänger blutiger! Schaumschläger! Patzer! Schmierfink! Scherenschleifer! Vermaledeiter Dilettant! (Rothar legt seinen Barbierskittel ab.)

Die Wiedererkennung Pula: Bei meinen Augen! Ist das Wirklichkeit? Bin ich schon blind vom langen Dunkel, vom Jammern und vom Wassersaufen?

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Oda: Was hast du? Pula: Ich? – ich habe nichts, doch der, der hat – bei Gott! – der hat ein solch Gesicht zwischen den Ohren wie’s einst mein König Rothar hatte und grad so blaue Augen. Rothar: Und wenn du nicht so ausgehungert, so elend und so schlecht rasiert dastündest, müßt’ ich glauben, du seist mein Graf von Pula. – Pula (sinkt ihm zu Füßen): Mein König Rothar! Rothar: Mein guter Pula … Nun hohes Fräulein, siehst du selbst. Oda: Ich sehe nichts, mein hoher Herr, was ich nicht längst gesehen hätte. Rothar: Hast du mich denn zuvor gekannt? Oda (zeigt ihm das Medaillon): Ich kannte dich, eh ich dich sah. Ich sah dich an und wußte alles. Rothar: Dann hab ich alle Seligkeit, die uns schon vor dem Paradies gegönnt ist, mit dir gefunden, liebstes Fräulein! Oda (sich an seine Brust schmiegend): Liebster Mann! Pula: O ersehnte Stunde! O mein König! Und dieses wundervolle Fräulein, bald meine Königin! 88

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Witold und Wate: Und wir? Und wir? Sind wir denn niemand? Komm her, komm her! Laß dich umarmen! Pula (sich loswindend): Laßt mich die Freude überleben, da ich den Kummer ausgestanden habe. Oda (zu Rothar): Zum Handelsherrn, zum Schuster und Bademeister taugst du nicht viel, mein Herr, das seh ich. Welch Glück, daß du ein König bist und für die Politik geboren.

Konstantins zweiter Wutausbruch Mamella (kommt atemlos gelaufen): Der Kaiser kommt! Der Kaiser kommt! Ihr seid entdeckt, versteckt euch! Der Kaiser kommt! Der Kaiser kommt! Wenn man euch findet, muß ich hängen! Badegäste (in großer Aufregung über die Bühne laufend auf der Suche nach Kleidungs­ stücken): Der Kaiser kommt! Der Kaiser kommt! Ein Hemd, ein Tuch, ein Kittel! Ein Stück von einem Vorhang! Kreatopoulos (auftretend): Der Kaiser kommt! Der Kaiser kommt! Der Kaiser, Kaiser Konstantin! 89

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Palastwachen (auftretend): Der Kaiser kommt! Der Kaiser kommt! Der Kaiser, Kaiser Konstantin! Der Herr vom Archipelagos, vom Marmormeer, vom Bosporus, der Herr vom Goldnen Horn! Konstantin (auftretend, in furchtbarem Grimm): Beim Gras aus dem Gethsemane! Beim Splitter aus dem Heiligen Stuhl! Beim Zahn des Sankt Ägidius, der Schürze des Sankt Daniel und dem Skelett des Zyprian! Beim heiligen Reliquienbaum und meinem ganzen Knochensaal! Wer hat die Stirn gehabt, den Langobardenlumpen mir aus dem Kerkerloch zu stehlen?! Oda: Ich war es, Vater. Konstantin: Du? Tust du so Buße, die ich dir befahl? Auf diese Art? In einer Badestube? Eidechse, du! – Wer sind denn die? Daß ich es weiß, bevor sie hängen. Rothar (vortretend): Ich bin der König der Langobardei. Rothar … (Konstantin öffnet den Mund, schließt ihn aber sofort wieder.) Rothar: … heiß’ ich mit Namen. Konstantin: Den Namen hab’ ich schon einmal gelesen.

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Rothar: Ich kam hierher in deine Stadt Byzanz … Konstantin: Die Reise war den Wind nicht wert. Rothar: … mit einem Schiff voll Gold und guten Worten … Konstantin: Die Worte kannst du dir ersparen. Rotbar: … und werb’ um deine Freundschaft und um dieses Fräuleins Hand. Konstantin: Von ihrer Hand wird sie sich wohl nicht trennen, so wenig als ich mich von meinem Kind. Rothar: Ich biet dafür mein Schwert zum Kampfe gegen deine Feinde. Konstantin: Hab’ ich denn Feinde? Ich, der Kaiser? und wenn – ? Auch meine Feinde laß ich mir nicht nehmen! – Indes, da ist ein Häuptling – wenn ich mich nicht irre – so ein gewisser Hymefott – der zieht mit einem Schwarm von siebenhunderttausend Reitern durch Persien her, um meine Seidenraupen einzusammeln. Das melden die gefloh’nen Bauern und auch der Ostwind, der nach Asche riecht. Den schleif mir her vor meinen Thron in Ketten und in Knebeln wohl verwahrt, dann will ich mich bedanken. Rothar: Ich bin allein und ohne Leute. 91

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Konstantin: Zwar hab’ ich Leibgardisten und Gefängniswärter, Zollwachen, Eckensteher und Spione, doch Kriegssoldaten hab ich nicht, drum macht ihr vier euch auf den Weg. Hier nämlich brauch ich keine Helden. Oda: Schick ihn erst nach der Brautnacht, Vater! Konstantin: Nein, jetzt sogleich! Das ist gesprochen.

Rothars Abschied Rothar: Leb also wohl, geliebtes Fräulein. Wisch vom Gesicht dir deine Tränen. Ich bleib nicht länger dort im Kriege, als bis dir deine Seidenraupen das Hochzeitskleid gesponnen haben. Oda: Leb also wohl, geliebter König. Ich will die Zeit kein Auge zutun, daß mir die Raupen nicht einschlafen und Tag und Nacht den Schleier spinnen, den ich für dich will fallen lassen. Mamella: Schad ist es um den hübschen Menschen und schade um die Hochzeitskleider. Denn ungeköpft ist bisher keiner aus Babylon zurückgekommen. Leb also wohl, solang du lebst. Kreatopoulos, Palastwachen und Badegäste: Völker neiget euch vor diesem, dem großen Kaiser Konstantin! 92

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Konstantin, das ist der Morgenstern, der Stern mit Namen Luzifer – das heißt Lichtbringer – doch seinen Feinden bringt er Dunkelheit, dieweil im Lichte leben seine Völker. Pula: Ihr sänget besser anders, nämlich so: Konstantin, gehörntes Haupt, du Ziegenfuß im Purpurstiefel, Luzifer, so heißt der Satan, goldtapezierter Lügenbauch! Breitschultrig bist du wie ein Bauer, heimtückisch, faul und widerborstig, frißt rohes Fleisch, säufst mineralisch Wasser, schwarzbärtiger, verschlagener Tyrann! Witold und Wate: Freu dich, mein Bruderherz, und pack die Fäuste aus! Endlich ein Grund zum Raufen! (Konstantin lacht laut auf und wendet sich zum Gehen.)

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Viertes Bild Ymelots Heerlager. Inmitten seiner furchterregenden Krieger sitzt Ymelot, der König von Wüsten-Babylon, auf einem prächtigen Teppich. Zum Kriegstanz seiner besten Helden klatscht er sich den Takt auf die Schenkel. Neben ihm sitzt Wali Dawud al Pansur und schweigt gefährlich.

Der Kriegstanz Chor der Krieger: Gjau gjau gjauhuhur, rukakau hau! Jajo jajaia, jukakau hau! Chaja chuja krukuku chachuja hau! Kaki, juchiva nisibur, krawì krawù kramaripur. Kawasu guri jukapan, karatschilo goringu! Gjau gjau jaukadu, rukakau chau! Kachua krakital, jukakau chau! Kaya kayo katarak, harigal chau! Chau, kau, phau! 94

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Hau, tau, wau! Hauhau Kuhau wuhaha! (Während dieses wilden Tanzes kommen Rothar, Wate und Witold und, in einigem Abstand, Liutprand von Pula auf dem Bauche angekrochen und suchen Deckung hinter einem Zelt.) Pula: Ich fleh euch an, kriecht nicht so schnell! Wie soll ein ehrenhafter Mensch da folgen? Ich bin ja nicht geübt in solchen Schlichen. Rothar: Kopf hoch, Freund Pula, nicht in Sand gesteckt! Wir sind hier unter nichts als Heiden. Wate: Die Flegel tanzen, Witold, siehst du’s? Witold: Und unsereins liegt auf dem Bauch. Wate: Mich juckt der rechte Fuß! Witold: Und mich der linke! Wate: Mir schläft der Buckel ein! Witold: Und mir der Arm! Wate: Mich macht diese Musik verrückt! Witold: Und mich das Schenkelklatschen! Wate: Ich wollt’, ich wär’ ein Heide! Witold: Ich wollt’, ich könnte tanzen! Wate: Ich wollt’, sie in den Boden stampfen! 95

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Rothar: Hei! Burschen! Wollt ihr Ruhe geben!? Was bringt euch aus dem Häuschen? Seid ihr denn ganz besessen? Komm, Pula, hilf die Kerle binden und an die Eisenkette legen! Sie sind zu gar nichts zu gebrauchen. (Rothar und Pula legen die beiden Riesen wieder an ihre Eisenkette.)

Ymelots Aufruf Ymelot (gebietet dem Tanz Einhalt und erhebt sich zu einem leidenschaftlichen Aufruf an die kriegerischen Instinkte seiner Untertanen): Háfisi maky sapper! Krepati kurfi trubasim, tantah kruello gargantu. Intrasi pussuh matadol, na zyon, kulab, kaffatham. Maffi tú minn krematur klu bassa gobra dadameff: onufri kapper selù! Hai fanatas fantasimir? Ny wida sama nippes mrt!! Erin vilyba kiliman, tschar uffa tamer, Lana kukurots y schamurail y muramat y schmattez! Hai pavi, hai naki! hai simmian! Hai fatta! hai y hai kramur!! To wari samov zu matru? Kaputal, krepa, radibuz! Krt! mata! krpa, kwatra krt!! Chor der Krieger (in fanatischem Taumel): Hai! hai! hai! 96

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Hai, jaffi, jaffi Ymelotto! Hai! Jaffi, jaffi Ymelotto! Jaffi, jaffi Ymelotto … usw. Rothar: Was schreit denn dieser Unmensch? Man versteht kein Wort. Pula: Das ist ein Aufruf an das Volk auf Babylonisch. Rothar: Kannst du das übersetzen? Pula: Das ist nicht nötig, denn es sind genau die gleichen Wörter, mit denen du, mein König, deine Langobarden fütterst.

Das Babylonische Gebet Dawud (ruft die Krieger zum Gebet): Murundi uru Mokkasin y muez! (Ymelot und seine Krieger ziehen die Schuhe aus, werfen sich zu Boden und richten ihre Blicke gen Osten.) Bali ilha luh! Lawali malu túrabat! Abuli wuda mirasim, saladi wans dromeda, michnùnifrat kalî! Ymelot und der Chor der Krieger: Saladi wans dromeda, Michnùnifrat kali! Rothar: Was singen diese Vögel nun? 97

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Pula: Sie lästern Gott auf Babylonisch. Rothar: Dann übersetz es mir, wenn du’s verstehen kannst! Dawud: Bali ilha luh! Gurásibul ommaniak! Farusi mulai, manigal! Chwatari tatsch nakadu kai y gúschnas turî! Ymelot und der Chor der Krieger: Chwatari tatsch nakadu kai y gúschnas turi! Pula: Balu – das ist der Antichrist – Balu ist groß! Ist größer als die Mittagssonne, breiter als der Horizont, älter als das älteste Kamel und durstiger als alle Karawanen! Rothar: Was für ein Unmensch muß das sein! Dawud: Bali ilha luh! Towakalu gatubimal, tabù tabok igúlasim, chawas krawil samura tsukrutt mira gulà! Ymelot und die Krieger: Chawas krawil samura tsukrutt mira gulà! Pula: Balu – das ist derselbe wie zuvor – Balu ist groß! 98

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Und größer als er ist keiner, denn der Wind ist sein Atem, sein Gewand ist das Blaue und seine Füße sind die Berge. Rothar: Die Theologen übertreiben immer. Dawud: Bali ilha luh! Tatarasol lemurikat, katarack tiry damasin! Tabindrasar kunduri! Abba tiffanigal! Ymelot und die Krieger: Tabindrasar kunduri! Abba tiffanigal! Rothar: Wie viele Strophen hat das Lied? Pula: Zweihundertsechzehn. Rothar: Arme Heiden! Doch warum zeigen ihre Nasen alle in eine gleiche Richtung? Pula: Das ist, weil sie nach Mokka schaun. Dort nämlich ist das schwarze Loch, durch das die Sonne aus dem Meer steigt. Dawud: Bali ilha luh! Kai nebu nippes donossor! Kandaru maruk tarokat! Grawatumal kol libras, hai, kuli muli puntigam! Ymelot und die Krieger: Grawátumal kol libras, hai, kuli muli puntigam! 99

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Rothar: Und dürfen sie den Blick nicht wenden? Und das Gebet nicht unterbrechen? Pula: Um keinen Preis! Sonst werden sie dem Satan Mandragor zum Fraße vorgeworfen. Rothar: Dann laß die Riesen von der Kette! Pula: Wozu das Blutvergießen? Es geht auch so – und besser. Komm! Dawud: Bali ilha luh! Kafferata lavásatan, mansartonsula nîtrabak! Golà schimul ra dikki, sapper y pruglasim! Chor der Krieger: Golà schimul ra dikki, sapper y pruglasim! (Rothar und Pula sind unterdessen auf den ahnungslos betenden Ymelot zugekrochen, werfen ihm nun eine Schabracke über den Kopf und zerren den heftig Widerstrebenden samt seinem Teppich aus dem Kreis seiner Krieger, von denen keiner auch nur den Kopf wendet.) Ymelot: Aaaaah! Dawud: Bali ilha luh! Malari fari koleru! Kuraro ársyl, zyanik! Juchwa dubrai, gassudi, hurrî kalî schirok! Chor der Krieger: Juchwa dubrai, gassudi, hurrî kalî schirok! 100

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(Rothar und Pula ketten die Riesen los und hängen den gefesselten Ymelot wie einen erlegten Löwen an einen Lanzenschaft, und der Triumphmarsch nach Konstantinopel kann beginnen.) Rothar: Nun lauft, ihr Helden, was die Lungen halten! Pula: Lauft, lauft und lauft! (Während die Babylonier unbewegt weiter beten, machen sich die Langobarden aus dem Wüstenstaub.)

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Fünftes Bild Im Hippodrom zu Konstantinopel. König Rothar zieht im Triumph in die Stadt Konstantinopel ein. Zuerst sieht man Witold und Wate, die einen Wagen ziehen, auf dem sich die seltensten Siegestrophäen aus allen möglichen babylonischen Gegenden häufen; daran ist ein zweiter Wagen gekoppelt, der von Liutprand von Pula eskortiert wird und auf dem, in einen Käfig eingeschlossen, der wilde Ymelot hockt, mit Fesseln klirrend und mit Zähnen knirschend. Zuletzt erscheint der König Rothar selbst, müde, aber strahlend. Der Zug geht zweimal rund um die Bühne, wobei das herbeieilende Volk immer aufs neue Spalier bildet. So hat der Jubel kein Ende.

Der Riesenmarsch Volk: Da kommen sie! Da kommen sie! Die Riesen! Die Riesen! Die Riesen! Schaut, was für Füße die haben! Und erst die Bärte, die schmutzigen Bärte! Schau dort! Wo dort? Dort! Dort? Ja, dort! Wer ist denn das? Das ist der Graf von Pula! Der dort? Ja, der! Der mit der Nase? Heil ihm! Heil ihm und seinem Samen! Der König Rothar lebe hoch! Er lebe hoch, er lebe lang, er lebe hoch sein Leben lang! Ihm komm auf allen Wegen das Glück entgegen und seinen Feinden Untergang! 102

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Was ist das für ein Vogeltier, das dort im Käfig sitzt? Ein Wiedehopf? Ein Geier? Der Vogel Strauß? Der Vogel Greif? Der Phönix aus Arabien? Es ist der Vogel Ymelot, der Häuptling aus dem Morgenland! Man kennt ihn an den Ohren! Der Ymelot? Der Ymelot? Wo hat er seine Weiber? Allein und trocken sitzen sie in ihren Lotterbettchen. Witold und Wate (gleichzeitig mit dem Chor des Volkes): Fünf, fünf, fünf Paar lederne Strümpf! Wemmer ein Paar verliern, hammer allweil noch vier, vier, vier, vier Paar hänferne Schnür! Wemmer ein Paar verliern, hammer allweil noch drei, drei, drei, drei Paar hörnerne G’weih! Wemmer ein Paar verliern, hammer allweil noch zwei, zwei, zwei alles geht einmal entzwei! Wemmer ein Trumm verliern, hammer allweil noch eins, eins, eins, eins ist besser als keins! Wemmer das noch verliern, kann uns nichts mehr passiern, nichts, nichts, nichts ist sichrer als nichts! 103

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Der Einzug des Kaisers Kreatopoulos (tritt auf mit einer Schar von Palastwachen): In Kaisers Namen: Halt das Ganze! (Der Triumphzug kommt zum Stehen.) Wo wollt ihr hin? Pula: Zum Kaiser. Kreatopoulos: Seid ihr gerufen worden? Pula: Wir kommen wie gerufen. Kreatopoulos: Was bringt ihr für Geschenke? Pula: Hier diesen Wagen voll von babylonischen Trophäen. Kreatopoulos: Sonst habt ihr nichts zu bieten? Pula: Hier diesen Käfig voll mit Menschenfleisch. Kreatopoulos: Was ist das für ein Ungeziefer? Volk: Das ist der König Ymelot! Der Ymelot, der Ymelot, der Häuptling aus dem Morgenland! Man kennt ihn an den Ohren. (Fanfare in größerer Entfernung hinter der Szene.) Kreatopoulos: Dann also wartet hier in Schweigen. Zieht eure Schuhe aus, werft euch zu Boden! 104

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Euch widerfährt die unerhörte Gnade, daß euch der Herr der Christenheit höchstselbst im Hippodrom empfängt. So wie die Sonne selbst, die unsern Augen lieb ist, geruht der Kaiser zu erscheinen und mit ihm die Gestirne auch, die sich von seinem Lichte nähren. (Die Vertreter der Zirkusparteien treten seitlich der kaiserlichen Loge auf und verteilen sich über die Ränge.) Volk: Die Zirkusparteien! Die Zirkusparteien! Die Blauen! Die Grünen! Die Grünen! Die Blauen! Die Blaugrünen! Die Grünblauen! Die Giftgrünen! Die Dunkelblauen! Die Zirkusparteien! Die Zirkusparteien! Die Zirkusparteien! (Fanfare in geringerer Entfernung hinter der Szene) Kreatopoulos (auf die Riesen deutend): Die beiden aber schick nach Haus. Die sind dem Anlaß nicht gemäß gekleidet. Rothar: Ich bleib nicht ohne meine Freunde. Kreatopoulos: Das Hofzeremoniell gestattet nicht, daß einer größer ist als unser Kaiser. Rothar: Dann sollen sie am Boden sitzen. (Wate und Witold lümmeln sich in den Sand.) 105

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(Die Hofbeamten betreten die Ränge.) Volk: Die Hofbeamten! Die Eunuchen! Die Kammerherren! Die Eunuchen! Die Hof-, Palast- und Leibeunuchen! Der Protopräpositos! Der Protospathorios! Der Protovestiarios! Der Protoproplonaphoros! Der Protoprotokollarios! (Fanfaren auf der Szene) Kreatopoulos: Barfuß, verschwitzt und ganz verwildert sind diese beiden Ungeheuer! Rothar: Von Heldentaten wird man eben schmutzig. Kreatopoulos: Willst du denn die Prinzessin, unsern Augenstern, erschrecken! Rothar: – Wenn es um ihretwillen ist, will ich sie gehen lassen. Kreatopoulos: Ich gebe sie in gute Hände. Rothar: Doch hab ich ihnen unterwegs ein Faß mit Gerstensaft versprochen. Kreatopoulos: Ich sorg, daß sie zu trinken haben, solang sie Durst verspüren. (Er erteilt einigen seiner Palastwachen eine geflüsterte Anweisung, und diese führen die beiden Riesen ab.)

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Rothar: Nun, Pula, faß den Ymelot! Ich seh die Sonne aufgehn. (Der Kaiser erscheint auf der Estrade, hinter ihm Oda und Mamella, in großer Toilette.) Volk: Völker neiget euch vor diesem, dem großen Kaiser Konstantin!

Rothars Werbung Kreatopoulos: Nun steht ihr vor dem Herrn der Welt, vor Konstantin, dem Sohn des Konstantin, nun tut den Mund auf, redet. Rothar (vortretend): In Ketten und in Knebeln wohl verwahrt bring ich dir, erlauchtes Haupt, den Wüsten-König Ymelot, der noch vor wenig Tagen auf deinem Land Kriegstänze tanzte. Ich geb ihn hier in deine Hand gefangen. Laß mich nun aber, großer Konstantin, vor allen deinen Konstantinopolitanern dich an dein kaiserliches Wort erinnern und an den Dank, den du mir schuldest: Gibst du mir nun dies Mädchen, deine hohe Tochter, vor der ich hier auf Knien liege, zum Weib und meinem Land zur Königin? Denn die Jahrhunderte des Mittags sind vorüber, die Sonne wendet sich dem Westen zu und steht nun überm Land, in dem ich König bin: dem Abendland. Konstantin: So käm nach diesem Abend nur mehr der Sonnenuntergang. 107

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Rothar: Die Zeit geht ihre Straße wie die Sonne und schert sich wenig, was wir dazu meinen. Konstantin: Mein Kind wird meine Krone niemals aus meinem Lande tragen. Rothar: Ich möchte lieber eine Hochzeit als einen Sieg zu feiern haben, Kaiser. Konstantin: Du wirst auf beides wohl verzichten müssen, du langobardischer Barbar! Megas Domestikos! Stratopedarchos! Parakoimomenos! Kreatopoulos! Schlag diese drei in Ketten! (Kreatopoulos gibt den Palastwachen einen Wink, und diese umstellen Rothar, Pula und Ymelot.) Da ihr euch gegenseitig nicht – wie ich es sehr gehofft hab’ – aufgefressen habt, muß ich die Sach’ zu ihrem rechten Ende bringen.

Das Zweite Handgemenge Rothar: Das ist Verrat! Pula: Nein, Politik! Mamella: Versteh ich recht? Oda: Gerechter Gott! 108

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Ymelot (versucht Mamella an sich zu ziehen): Yoa nasyr zam bajadur! Amala kuja, mulibar! Oda: Was will der Mensch? Mamella: Verstehst du ihn? Pula: Nicht mit Gewalt! Rothar: Rührt mich nicht an! Ymelot (küßt Mamella Hände und Füße): Tohu wabau, misundali, krawátumal, chawata sim! Rothar: Ich bin betrogen! Pula: Nein, überlistet! Mamella: Ach, könnt ich helfen! Oda: Könnt ich verstehen! Konstantin: Macht dem Geschrei ein Ende! (Rothar, Pula und Ymelot werden überwältigt und gebunden.)

Odas Fürbitte Oda: Ich Rabenkind, ich Unglücksvogel! Ich wollt’, ich wär’ nicht, was ich bin! Durch meine Schuld, nur weil ich lebe, 109

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entsteht all dieser Jammer! Weil ich ein Mädchen bin, soll ich nun Witwe werden und niemals eine Frau gewesen sein! Hab ich mein weißes Kleid mit Asiens Seidenraupen nun ganz und gar umsonst gesponnen? Soll ich nun nicht als Braut, vielmehr in schwarzer Trauer in die Hagia Sophia gehn? Ein jeder sagt, er sieht mich gern und will mich glücklich machen und macht mich doch erst recht unglücklich! Konstantin: Warum denn, Liebstes, diese Tränen? Sag mir, was willst du, daß ich tu? Oda: Ich weiß nicht, was ich will, ich will nicht, was ich weiß und was ich weiß, das will ich nicht! Konstantin: Wenn du den Menschen dort vergißt, schenk ich dir alles, was du wünschen magst. Oda: Wenn du mir alles, alles schenkst und diesen Langobarden nicht, kannst du mir doch nicht helfen. Wenn du mich aber lieb hast, Vater …

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Konstantins dritter Wutausbruch Konstantin: Weil ich dich lieb hab, tu ich’s eben nicht! Was sind denn diese drei am Ende? Schau sie dir ohne Tränen an: Raufbolde, Weiberhelden, Menschenhändler, Landplagen, Ketzer, Weltverbesserer! Wenn ich die Welt euch überließe, endlose Raufereien, Krieg, Brandschatzung und Schändungen um Religionen oder Handelswege, um Seidenraupen oder Ideale, das wär das Ende der Geschichte. Und dieses Kind, mit seinen Augen, die nichts Böses kennen, sollt’ euch zu meiner Macht verhelfen? Nein! Sondern fort mit euch und in den Turm, der heißt: Turm der Vergessenheit! – Die Stadt, das Land, die Welt sind wieder mein und also lang ich leb, soll’n sie es bleiben. (Er geht, gefolgt von Oda, Mamella und dem gesamten Hofstaat in den Palast ab, wäh­rend Rothar, Pula und Ymelot von den Leuten des Kreatopoulos seitlich fortgezerrt werden.)

Der Christenchor Volk: Herr Konstantin soll lange leben und uns recht viele Söhne geben! Er wird ganz ohne Schwert und Krieger über die Ketzer und Heiden Sieger.

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Wer nicht an Christum glaubt, den Herrn, den läßt er in den Kerker sperr’n, damit wir ihn bei den Haaren packen und ihm den ganzen Kopf abhacken. Und ist ihr Schrei’n noch nicht vorüber, so schütten wir heißen Schwefel drüber, daß ihnen die Zung im Maule koch’. O Christenherz, was willst du noch! Und sind die Sündenböcke tot, so essen wir das Friedensbrot. Dann herrscht auf Erden nichts als Freude, dann jubiliert das Weltgebäude! (Alles tanzt und jubelt.)

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Sechstes Bild Ein Verließ im Turm der Vergessenheit. (Rothar läuft in heiliger Empörung von einer Wand zur andern. Pula sucht ihn zu be­ ruhigen. Ymelot schläft zusammengerollt in einer Ecke. Alle drei sind an Händen gefesselt.)

Vom sogenannten guten Glauben Rothar: Das widerspricht dem Völkerrecht, den heiligsten Gesetzen, dem Corpus juris, den Canones, den Sitten, Regeln und Prinzipien der Ordnung und der Konvention und allem guten Glauben! Pula: Gutgläubigkeit ist nichts als Faulheit. Rothar: Das ist Verrat, Verbrechen! Vertragsbruch, Treubruch, Ehrverletzung, Lüge und Betrug! Rechtloser Mißbrauch alles Hergebrachten! Chaotische Gemeinheit! Pula: Im Allgemeinen nennt man’s Politik, und hier kannst du sie lernen. Rothar: Blind, blindlings hab ich ihm vertraut! Wie überleb ich die Enttäuschung? Pula: Etwa indem wir diesem Kreatopel mit einer Hand voll Geld zureden.

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Rothar: Wenn der das Geld nimmt, spalt ich ihm die Hand! Pula: So solltest du nicht reden, Herr.

Das Lob der Bestechlichkeit Pula: Denn die Bestechlichkeit, die ist ein schönes Zeichen von Toleranz und menschlichem Verständnis. Wo man bestechlich ist, kann man in Frieden leben und andre leben lassen, wenn sie zahlen. Wo man bestechlich ist, da kann man alles haben, für den, der zahlen kann, ist nichts unmöglich. Wo man bestechlich ist, da kann man immer hoffen, solang man Geld hat, überlebt man alles. Hier in Byzanz ist nur der Kaiser unverletzlich und alle andern sind darum bestechlich. Rothar: Mit dieser Weltanschauung kannst du mir nicht dienen.

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Ymelots Traum Ymelot (wälzt sich im Traum von einer Seite auf die andere): Kàma karúham, sákarat!? Kalî brasam grabusi! Káfrata sarmi tàrminul, hilàrifas amurital, gràwatil, zam bàjadur! Rothar: Was redet dieses Tier im Traum? Pula: Ich wag es nicht zu übersetzen. Rothar: Versuch es zu umschreiben. Ymelot: Gràwatil plem tináf, tináf! Hàram ba schi kanasi. Bàja, dirok, fal parsileh, gringuri bàbalu, kai tras. Pula: Da sträubt sich mir die Zunge. Rothar: Dann spuck es aus! Gehorche! Ymelot: Amala kuja, mulibar! Kànapedàl zu brantilak tibùl. Pula: Er spricht – von einem – Frauenzimmer – von einer – weiblichen Person. Rothar: So weit hab ich es auch verstanden. Pula: Von einem – Fräulein – einer Dame. Rothar: Er wird doch nicht am Ende wagen … 115

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Pula: Wie soll man es verhindern? Rothar: Indem man ihm das Hirn ausschüttet! Pula: Nicht mit Gewalt, Herr Rothar, bitt ich. Rothar: Hast du schon eine Nuß mit List geöffnet? Ymelot: Kaka razzu tsyguril, kuka rigu nîbrasam, kuka ragu nîkad topasch, rasùmil kasi mîregall. Pula: Hochgewunden ist ihr Haar, hochgegürtet ihre Brust, hochgeschnürt sind die Sandalen … Rothar: Schluß, ich will’s nicht hören. Pula: Daß sie an Hoheit alle Frauen überragt. Ymelot: Tohu wa músakil nay kau, Bakléwi ni salgaf senuffi! Rothar: Von wem träumt dieser Gauch? Oda ist das nicht. Pula: Haha haha hahahaha! Hahahaha haha ha ha! Rotbar: Hör auf zu lachen, rede! Pula: Das Traumbild, hahaha, heißt Ma … hahaha, Mamella, hahaha! 116

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Rothar: Ha ha haha hahahaha ha ha! Wie mich das Lachen nun erleichtert!

Die Ohrenbeichte (Unversehens hat sich die Kerkertür geöffnet und in ihrem Rahmen erscheinen Kreato­ poulos und die als Mönch verkleidete Oda.) Kreatopoulos: Das Lachen wird euch bald vergehn, ihr Blondiane, ihr verdammten. Rothar: Das ist doch … Kreatopoulos: Das ist … Oda: Laßt mich in Demut und ohne Namen wirken! Kreatopoulos: Der fromme Mann hat sich in Kopf gesetzt, euch armseligen Barbaren den Weg ins Paradies kurz zu beschreiben, falls euch hier etwas Irdisches zustoßen sollte. (Er zieht sich zurück.) Oda: Warum toben die Heiden und die Völker reden so vieles vergeblich? Die Könige der Erde lehnen sich auf und die Herren ratschlagen miteinander … (Kreatopoulos schließt die Türe hinter sich.) Rothar (zieht Oda in seine Arme): O Oda! 117

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Oda: Rothar! Rothar! Rothar: Liebstes Fräulein! Oda: Liebster Mann! Rothar: Du kommst zu mir?! Oda: Oh, laß mich reden! Rothar: Sprich und verzeih mir. Oda: Mein Vater hat sein Herz verschlossen. Rothar: Wo keine Bitten helfen, hilft Gewalt! Oda: So dachte er und ließ dich fesseln. Rothar: Durch den Verrat bin ich nun wehrlos. Oda: Drum muß ein Mädchen dich entführen. Rothar: Liebstes Fräulein! Oda: Liebster Mann! Heut gegen Morgen, eh die Sonne aufgeht, und die Zikaden in den Sträuchern lärmen, steh ich dort unterm Fenster. – Hier hast du Werkzeug, um das Gitter und eure Fesseln zu durchbrechen. – Dann weck ich deine beiden Freunde, die liegen dort im Hof und schlafen von Wein und Ketten überwältigt. Rothar: Die Ungetüme bringen mir nur Schaden! 118

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Oda: Wenn sie bereit sind, werd ich pfeifen. – Rothar: Pfeifen? Oda: So. (zieht eine kleine Holzpfeife aus der Kutte und pfeift) Kreatopoulos (steckt den Kopf zur Tür herein): He! Oda: Bewahre uns vor den Sündern, die mit böser Tücke umgehen und nehmen gern Geschenke … Kreatopoulos: Bist du nun fertig mit der Seelenwäsche? Pula: Nur ein paar Redensarten noch, verzeih! Oda: … denn ihre Zungen trachten nach Schaden und schneiden Lügen wie ein scharfes Schermesser. (Kreatopoulos schließt die Türe von außen.) Oda: Im Morgengrauen mit dem Morgenwind sind wir auf deinem Schiff und dann … Rothar: … und dann? Oda: O Rothar! Rothar: Oda, Oda! Liebstes Fräulein! Oda: Liebster Mann! Pula: Und was geschieht mit diesem Babylonier?

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Rothar: Ich werd ihn mundtot machen. Oda: Um Himmels willen, nein! Ich leide nicht, daß einer, der um meine Hand anhielt, darum gestraft sein soll. Pula: Da muß ich dich enttäuschen, hohes Fräulein. Oda: Wie? Pula: Er spricht im Traum von einer andern Dame, die er für die Prinzessin hält. Oda: Und wer ist das? Pula: Die hochgegürtete Zoste Patrikia. Oda: Mamella? – Das will ich ihr zum Abschied noch erzählen. Ich hoff ’, das wird sie etwas trösten. Pula: Vielleicht kannst du sie gar bereden … Oda: Du meinst? – Wer weiß. Wir wollen sehen. He, holla, Kreatopoulos! Kreatopoulos (auftretend): Ist nun genug gebetet mit den Sündenböcken? Oda: Das Paradies steht ihnen offen. Kreatopoulos: Und für die Reise werden wir schon sorgen. Oda: Herr, du schlägst meine Feinde auf den Backen 120

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und zerschmetterst der Gottlosen Zähne. Hilf uns aus dem Rachen des Löwen und errette uns vor den Einhörnern. Rothar: Amen. Kreatopoulos: Amen. Pula: Amen. (Oda und Kreatopoulos gehen ab, die Türe fällt ins Schloß.)

Das Ost-West-Gespräch Ymelot (gähnend): Aaaah! Rothar: Horch, Pula, war das nicht der Ymelot? (Pula gibt dem Schlafenden einen Fußtritt.) Ymelot: A-u-aaah! Rothar: Nun träufle ihm die Nachricht in die Ohren … Ymelot: A-ua-ua-uaaah! Rothar: Daß ihm der Herr des Abendlandes die Träume wahr macht, die er träumt. Pula: Ga rundi sol onáfratil, zoresi, falis úfasim, kadábrahim si poki. 121

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Ymelot: Zîkory trawi tschúkaras? Pula: Y kolubatsch, snawásti? Ymelot: Snawám, smawám, hai hai. Pula: Maluja simsal, gràwitul! Ymelot: Snawàm, snawàm! Sa kolu madrusaba! Pula: Rinossi branti lopidal. Ymelot: Amala kuja, mulibar? Pula: Lami nak pupaia. Ymelot: Y gjaukadu snawàstigal? Pula: Kol libras káka darazuk! (umarmt den widerstrebenden Rothar) Ymelot: Imaya kul gingó biluba! Búba baluba Babylú!! Kanapisur idîfrasim. Nî posim, gulay brossamin! Sa kolu madrusaba, hau! Imaya kul gingó biluba! Búba baluba Babylú!! Rothar: Schon gut, schon gut, schon gut!

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Siebentes Bild Im Hafen von Konstantinopel. Links der Palast des Kaisers, rechts der Turm der Vergessenheit, vor dem die angeketteten Riesen ihren Rausch ausschlafen. Im Hintergrund das Meer. Oda und Mamella treten in Reisekleidern aus dem Palast.

Die Verlockung Mamella: Schönheit verlang ich gar nicht, nur – er ist ein Heide. Oda: Das heißt ein Mann wie jeder andre – oder mehr. Mamella: Ich müßte schamrot werden, wenn ich verstehen könnte, was er redet. Oda: Drum ist es gut, daß ihr fürs erste mit Augen und mit Händen euch verständigt. Mamella: Ach, Kindchen, Kindchen, was soll aus mir werden! Oda: Was? – Die Königin von allen Sonnenaufgangsländern, Gewürzhalbinseln, Seidenwegen und morganatischen Oasen, von Punth und Saba, Gangisch, Indien, von Khmer, Assyrien und der Kumanei – und schließlich auch von Babylon. Wenn du dort Einzug hältst durchs blaue Tor, führt dich Herr Ymelot durch die Allee, an der dreihundert Götzenbilder in steinerner Parade stehn. 123

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Schaukelnd in eurer Sänfte über tausend Sklavenarme erreicht ihr, wenn die Nacht kommt, endlich das oberste Gemach des siebenfachen Turmes. Auf einem Lager unter freiem Himmel ruhst du aus und unter dir Terrassen, Gärten, Teiche, süß duftende Gebüsche, Pfauen, Leoparden – und über dir der hochzeitliche Fackelzug der Sterne – und die zwei dunklen Augen deines Herrn. Mamella: Ach, Kindchen, Kindchen, ich bin ganz verloren als wie ein Körnlein Salz im Wasser. Oda: Schau! Bei meinem Vater brennt noch Licht. Mamella: Vielleicht schreibt er mein Todesurteil! Oda: Der arme Mann muß alles ganz alleine machen. Es hilft ihm niemand auf der Welt. Und ich – ich, die er lieb hat, ich geh’ fort …

Die Entführung Mamella: Sind das die beiden Langobarden? Oda: Schnell, bind sie los! Mamella: Wacht auf! Oda: Steht auf! Mamella: Es ist schon Zeit! 124

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Oda: Es wird bald Morgen! Mamella: Wacht auf! Oda: Steht auf! Seid ihr am Leben? Mamella: Bewußtlos sind sie wie zwei Steine. Oda: So laß sie liegen, wo sie liegen. Mamella: Wer wird das Schiff uns nun besorgen? Wer wird es rudern? Wer wird die Männer uns entführen helfen? Oda: So viele Herren haben schon um meine Hand geworben. Ich glaubte nie, daß ich den Liebsten mir eigenhändig würde stehlen müssen. Mamella: Wie, Kindchen, du? Oda: Und du – und noch ein Dritter wird uns helfen. (zieht das Pfeifchen hervor und pfeift) Mamella: Jetzt leb’ ich meine letzte Stunde! Kreatopoulos (erscheint schlafblinzelnd auf der Schwelle): Wer pfeift da, he? Wer schlägt Krawall? Oda: Unfreundlich bist du heute nacht, mein lieber Kreatopel. Kreatopoulos: Oh, die Prinzessin hochwohlselbst, um diese ungewohnte Stunde! 125

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Oda: Die Babylonier zählen ihre Zeit nicht nach der Wasseruhr. Sie kommen, wann sie kommen. Kreatopoulos: Die Babylonier? – Wer ist das? Oda: Das sind die Heiden, die heut nacht die Stadt umzingelt haben. Kreatopoulos: Wer hat wem was umzingelt? Oda: Mir scheint, du schläfst noch. Kreatopoulos: Ich? – Ich – ich verstehe gar nichts. Oda: Das ist auch gut so, tu nur, was ich sage. (gibt ihm Geld) Kreatopoulos: Ah, nun versteh ich! Oda: Hol uns ein Schiff, hörst du? Ein Schiff! Jedoch das schönste, das du findest. Kreatopoulos: Mit gold’nen Segeln oder mit gestickten? Oda: Ich fleh dich an, wach auf (gibt ihm wieder Geld) und hilf uns, rett’ uns, laufe! Kreatopoulos: Ich laufe – laufe … doch wohin? Oda: Ein Schiff! Ein Schiff! Die Babylonier kommen! 126

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Kreatopoulos: Aaaah! (rennt ab) Die Babylonier kommen … ! Oda: Nun, schnell, Mamella, mach die Riegel los! Ich warte hier indessen. Mamella: Ach, immer diese Treppen! Oda: Es ist das allerletzte Mal. Mamella: Ach, Kindchen, Kindchen, mir zittern die Knie. (Sie geht in den Turm.) Oda: Mir zittern die Knie … mir zittern die Hände … mir zittert das Herz … Rothar (tritt durch die Tür des Turms ins Freie): Wo bist du, Liebste? Oda: Hier, an deiner Brust! Rothar: Nun ist mir alle Traurigkeit abhanden gekommen. Oda: Mein Herz ist von Glückseligkeit ganz eingenommen! Beide: Von seliger Glückseligkeit ist mein Herz eingenommen. Und alle, alle Traurigkeit ist mir abhanden gekommen.

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Pula (ist inzwischen ebenfalls aufgetreten): He, wo steckt ihr? Ymelotto! He, Mamella! Kommt doch endlich! Hört ihr denn nicht? Rothar: Süßer als alle süßen Wasser Europas sind deine Tränen. Oda: Liebster, das macht, weil ich sie weine aus lauter heller Freude. Beide: Von seligster Glückseligkeit ist mein Herz eingenommen. Und alle, alle Traurigkeit ist mir abhanden gekommen. Ymelot (unsichtbar): Yoa nasyr zam bajadur Amala kuja, mulibar! Imaya kul gingó biloba, búba baluba Babylú! Mamella (unsichtbar): Ich fleh dich an, Herr König, sprich nicht gar so deutlich mit den Händen. Denn das, was du mir sagen willst, das hab ich längst verstanden. Pula (zieht Ymelot und Mamella aus dem dunklen Tor): Weg die Hände, Babylonier! Höchste Zeit ist’s! Schnell, beeilt euch! Seht, das Schiff kommt! Kreatopoulos: Die Babylonier kommen! Schnell, Prinzessin! 128

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(Man sieht, wie Kreatopoulos und einige seiner Soldaten das Schiff an Seilen herbeiziehen. Rothar, Pula und Ymelot treten ins Dunkle.) Rothar: Rasch, Pula, weck mir meine Riesen! Oda: Doch leise, leise, bitt ich dich, ich bin so sehr in Angst! (Pula hält den schlafenden Langobarden die Nasen zu, worauf sie mit einem fürchter­ lichen Schnauben aus dem Schlaf fahren.) Witold und Wate: Phua!! (Kreatopoulos und seine beiden Helfer ergreifen die Flucht.)

Konstantins letzter Wutausbruch, erster Teil Konstantin (erscheint auf dem Balkon): Was geht hier vor? Verliebtes Katzenvolk! Mondsüchtiges Gesindel! Was treibt ihr hier in meinem Garten? Schert euch davon und schnell, sonst ruf ich meine Wachen! Witold und Wate (betrunken umhertorkelnd): Die Welt ist eine Wüstenei, der Rausch ist die Oase. Konstantin: Wie? Was? Wer? Wie? – Das ist … das ist doch … nein, das sind … das ist … das ist nicht möglich! Nein, das ist nicht wahr!! Witold und Wate: Vielleicht wächst eine Akelei, wo ich mein Wasser lasse. 129

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Konstantin: Kubikularier, Spathorier, Prätorianer und Palasteunuchen! Türsteher, Wachen, Wächter, Schläfer! Lakaien, Domestiken, Kreatopoulos! Zu Hilfe! Kommt! Und bringt die Waffen! (Er stürzt ins Haus hinein ab.)

Die Flucht Rothar: Aufs Schiff! Oda: Aufs Schiff! Pula: Aufs Schiff! Mamella: Aufs Schiff! Ymelot: Hilari mata grigol! Hai! Rothar: Die Segel hochgezogen! Oda: Lauft, Witold, Wate, lauft, ihr Helden, und rettet eure Hälse! (Rothar, Oda, Pula, Ymelot und Mamella haben das Schiff erreicht. Eilig ziehen sie die Segel hoch, die sofort vom trefflichsten Wind gefüllt sich blähen.) Rothar (zu den beiden Riesen): Stoßt ab, stoßt ab! Daß wir das Meer gewinnen! Witold und Wate: Hau-ho! Hau-ho! Hau –

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Oda, Mamella, Rotbar und Pula: Wir segeln! Uns entführt der Wind! Witold und Wate: Und wir? Und wir? Wer soll nun uns entführen? Wir liegen an der Kette! Rothar: So reißt euch los! (Witold und Wate reißen an der Kette, mit der sie aneinandergefesselt sind, verstricken sich aber nur mehr darin und fallen übereinander.) Oda, Mamella, Rothar und Pula: Ai, ai, ihr Armen! Ymelot: Hai! (Das Schiff entschwindet.)

Konstantins letzter Wutausbruch, zweiter Teil Konstantin (tritt aus dem Palast): Himmel, Hölle, Henkerschwert! Faßt mir die Heidenhunde! Packt sie! Verfolgt sie! Werft sie nieder! Köpft sie! Zerreißt sie! Spießt sie auf! Geflohen sind sie! Ausgerissen! (Volk und Soldaten kommen von allen Seiten gelaufen. Als letzter kommt Kreatopoulos.) Verfolgt sie! Bringt sie mir zurück! Gefriert das Wasser. Wendet mir den Wind! Ich bitt euch! – Ich befehl es euch! … Nein! Laßt sie, laßt …!

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Sie sollen fahren, wohin sie’s treibt. – Laßt sie nur laufen und laßt mich – mir ist nicht wohl – hineingehn in mein Haus. Das ist ein böser Morgen. (Während er, von seinen Dienern gestützt, in den Palast zurückgeht, grüßen von dem sich entfernenden Schiff die Fliehenden zum letzten Mal die Stadt, über der es allmählich Morgen wird.)

Abschied von Byzanz Oda, Mamella, Rothar und Pula: Leb wohl, du Stadt des Konstantin, leb wohl, Konstantinopel! Die Sonne über deinen Dächern macht dich wie Gold und Moder glänzen. Versink in Dunst und in Vergessen! Ymelot: Salà, Konstantinaffa! Volk: Da liegen doch die beiden Riesen! Die Langobardenungetüme! Sie schlafen. Nein, sie sind besoffen! Sie stellen sich nur tot. Wälzt sie ins Wasser! Kreatopoulos: Nein! Volk: Ertränkt sie wie die Katzen! Kreatopoulos: Nein! Volk: Vierteilt sie! Sechzehnteilt sie! Hackt sie kurz und klein! 132

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Kreatopoulos: Nein, nein, sag ich! Das werden unsres Kaisers Leibgardisten! Volk: Lasttiere, Sänftenträger, Ruderknechte, Zirkuskämpfer! Kreatopoulos: Schleppt sie fort. Das ist ein guter Tausch am Ende: zwei Riesen für zwei Frauenzimmer. Oda, Mamella, Rothar und Pula (in größerer Entfernung): Leb wohl, du Stadt mit vielen Namen! Du weiße Stadt am Schwarzen Meer, am Marmormeer, am Goldnen Horn, du Stadt der süßen und der bittern Wasser. Kein Wind bringt wieder uns zusammen. Ymelot: Salà, Konstantinaffa! Volk und Palastwachen: Hoch lebe Kreatopoulos! Der Riesenfänger, der Koloß! Er hat die Ausländer vertrieben, die mag der Wind zur Hölle schieben. Kreatopoulos: Nichts, nichts davon, ihr Guten! Denkt an die Ohren unsres Kaisers und daß er heut nicht glücklich ist. Ihr aber packt eure Maulaffen ein und schert euch in eure Häuser. Hier gibt es nun nichts mehr zu gaffen. (Die Palastwachen tragen die gefesselten Riesen in den Palast; das Volk zerstreut sich allmählich, während man aus großer Ferne noch den Gruß der Fliehenden hört.) Oda, Mamella, Rothar und Pula: Leb wohl, du Stadt der Mittagswende! Du zwischen Morgenland und Abendländern! 133

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Du Stadt, die auf zwei Ufern ruht! Du Stadt, in der sich Ost und West begegnen und auch in Frieden trennen werden. Ymelot: Salà, Konstantinaffa! (Das Schiff ist außer Sicht.)

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Nachspiel In den kaiserlichen Gärten an den „Süßen Wassern Europas“. Der Kaiser sitzt, offensichtlich gealtert und bei angegriffener Gesundheit, auf einer Bank in der Sonne. Witold und Wate, in die Livree der kaiserlichen Leibgarde gekleidet, balgen sich und stoßen sich gegenseitig in die Blumenbeete und Büsche. Seitlich steht eine Sänfte.

Das Zweite Riesenlied Witold und Wate: Byzanz ist eine Kaiserstadt, dieweil es einen Kaiser hat. Der Kaiser, der heißt Konstantin, sonst weiß man nicht viel über ihn. Er wohnt im Schloß am Goldnen Horn, solang bis ihm ein Sohn gebor’n. Dann geht er in die Kaisergruft und riecht alsbald nach Leichenduft. Dann sitzt auf seinem Kaiserthron …

Konstantins späte Einsichten, erster Teil Konstantin: Vitolos, Vatos, Holla! Hört doch auf zu raufen! Könnt ihr nie Frieden geben? Zertrampelt mir die Fliederbüsche und verscheucht die Bienen. Ist das denn recht so, he? Macht nur nicht solche elenden Gesichter! Geht’s euch nicht wie ihr’s wollt? 135

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Habt ihr die Nostalgie? Wollt ihr doch endlich schwimmen lernen? Schon gut, schon gut! Setzt euch zu meinen Füßen, links und rechts. Ich seh den Kreatopel kommen. – Solang ich da bin, kann euch nichts geschehen. Kreatopoulos (auftretend): Hochwohlgeborner Herr der Welt! Großmächtiger Monarch und … Konstantin: Laß, laß die Redensarten, mein lieber Kreatopoulos. Was bringst du mir? Mach wenig Worte. Kreatopoulos: Zwei Briefe sind soeben eingetroffen. Aus Garden am See der hier und der aus Babylon am Wasser des Euphrat. Konstantin: Mir tun die Augen weh, ich mag nicht lesen. Kreatopoulos: Du solltest nicht so lange in der Sonne sitzen, großer Kaiser. Konstantin: Schön ist es, müde sein und in die Sonne schaun! Man sieht den Goldgrund hinter allen Dingen und riecht den Honig aus den nahen Blüten. Lies mir die Briefe vor, mein Guter.

Dawuds Brief Kreatopoulos: Wenn ich den an die Nase halte, dann muß ich an den Kittel des Herrn Dawud denken. (liest) Dawud, der Wali König Ymelots, 136

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des größten Herrschers aller Zeiten, wünscht Heil und Balus Nachsicht dem betagten Kaiser der Rhomäer, Konstantin. Konstantin: Nachsicht auch ihm, dem Schreiber. Kreatopoulos (liest): Da deine Tochter, die erlauchteste Mamella, sich zum Schreiben noch zu schwach fühlt … Konstantin: Meine Tochter? Ich versteh nicht recht, das heißt, ich glaube … fürchte … ich verstehe. Kreatopoulos (liest): … fällt mir die Ehre zu, dir mitzuteilen, daß sie vor sieben Tagen unserem allseits berühmten König einen zwölfpfündigen Thronerben mit einem Kopf voll schwarzer Haare schenkte. Konstantin: Ist die Natur zuweilen nicht verschwenderisch?! Kreatopoulos: Als Erbe König Ymelots wird er einst Babylon beherrschen und fordert nun sein Erbrecht auf den Rest der Welt, der ihm zufallen muß, wenn deine kaiserlichen Tage auch bald zu ihrem Ende kommen. Konstantin: – Ich sage nichts. Lies weiter. Kreatopoulos (liest): Für diesen Fall gedenken meine Herren Ymelot und Tamerlan, den Krieg um ihre Seidenraupen zu vergessen, da diese sich bereits vom Laub der Bäume ihres Erblands nähren. Konstantin: Wie war das doch, das mit den Seidenraupen? Ich kann mich kaum mehr recht erinnern. 137

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Kreatopoulos (liest): Du aber leb, solang du kannst, und wenn du nicht mehr kannst, so laß es wissen, daß wir kommen. Gegeben am vierzehnten Tag des Salamandermonats im Jahr achttausendsiebenhundertsechzehn nach Gründung der Stadt Babylon. Konstantin: Die Erben zerren schon an meinem Mantel! Sie warten nicht, bis ich ganz falle! – Wird, wenn ich im Beinhaus ausgestreut bin, meine Stadt nicht mehr Konstantinopel heißen? Denk einer den Gedanken! – O Trübsal, die das Alter bringt! – Nein! Du hast recht: ich will mich nicht erregen. Nur denken, daß ich lange lebe, lange – aber dann? Lies mir den zweiten Brief.

Odas Brief Kreatopoulos (liest): Oda, die Königin der Langobarden, grüßt ihren sehr geliebten Vater, den Kaiser der Rhomäer, Konstantin. Konstantin: Nicht so mit feierlicher Stimme, Kreatopel. sprich einfach, daß man dich versteht. Kreatopoulos (liest): Endlich ist mir’s gelungen – gestern in der Nacht! Herr Rothar hat geschworen, daß ich den kleinen Aripert vom Bischof in Rom kann taufen lassen. 138

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Wenn dann mein Bub einmal auf seinem blonden Kopf die eiserne Krone trägt, wird bald alle Irrgläubigkeit mit uns vergessen sein. Konstantin: Als ob man zwischen zwei Umarmungen nachholen könnte, was Jahrhunderte gebildet haben! Kreatopoulos (liest): Herr Rothar reist in wenig Tagen – kriegshalber wie er sagt – nach Norden. Ich aber sitze am Fenster und schaue über das Wasser nach Sirmium und denk an die alten Liebespaare, die nie geheiratet haben … (Konstantin schweigt.) Kreatopoulos: … Ich aber sitze am Fenster und schaue … Konstantin: … über das Wasser nach Sirmium und denke … Kreatopoulos (liest): Mein Kronprinz spielt, während ich schreibe, mit meinen seidenen Schuhen. Mein Herz ist voll zärtlicher Sorgen. Wie gern wollt ich, daß er einst in Byzanz in deiner Nähe recht erzogen würd’; Rothar will’s aber nicht. (Pause) Konstantin: Lies weiter. Kreatopoulos: Wenn du mir einmal nicht mehr zürnen solltest, so schick mir einen kleinen Setzling von deinen kaiserlichen Fliederbüschen. Hier gibt es diese Art von Blumen nicht, drum denk ich mir: mit ihrem Duft kommt mir Byzanz in Sinn – und mein Herr Vater. 139

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(Pause) Kreatopoulos: Das war der zweite Brief.

Konstantins späte Einsichten, zweiter Teil Konstantin: Nun, wenn sie glaubt, daß dort die Blumen meines kaiserlichen Gartens neben Roßkastanien oder Ebereschen Nahrung finden, schick ihr, um was sie bittet. Kreatopoulos: Du bist zu nachsichtig und gut, erhabner Kaiser Konstantin. Konstantin: Man kann nie gut genug sein, lieber Kreatopel, zumal wenn man zu schwach zum Zürnen ist. Kommt, Vatos, Vitolos, kommt, helft mir in die Sänfte. (Er erhebt sich, gestützt von den beiden Riesen.) Ich bin ein wenig müde. – Ein schwarzer Kopf, ein Turban, ein blonder Kopf und eine Eisenkrone – und unter meinem Diadem – ? Hab keine Angst, mein guter Kreatopel, Byzanz wird nicht zerfallen, denn es zerfällt schon seit viel hundert Jahren. Es ist das seine Art zu überdauern. (Er setzt sich in die Sänfte.) Kommt, hebt mich auf und tragt mich in mein leeres Haus. (Die Riesen heben die Sänfte hoch und tragen den alten Kaiser von der Bühne. Kreato­ poulos folgt ihnen mit gesenktem Kopf.) Ende 140

DER LANGE WEG ZUR GROSSEN MAUER Schauspiel für Musik in zehn Bildern von Richard Bletschacher Musik von Kurt Schwertsik

Der große Weg ist sehr gerade, aber das Volk liebt die Umwege.

Die Handlung folgt frei einem alten chinesischen Märchen.

Personen der Handlung Wang Si-lang, ein junger Landarbeiter Baßbariton Meng Tjang-nu, seine Frau lyr. Sopran Nachbarin Mezzosopran Das Kind der Nachbarin stumme Rolle Chuan, ein alter Mann aus dem Dorf Baß Wirtin Mezzosopran Ein Bauer Baß Ein Bänkelsänger Tenor 1. Soldat Tenor 2. Soldat Bariton 1., 2., 3., 4. und 5. Arbeiter Tenöre und Bässe Eine alte Frau Alt Der Aufseher Bariton Shi Huang-ti, der Kaiser Tenor Der Orakelleser Baß Arbeiter, Bauern, Soldaten, Bonzen, Hofbeamte und kaiserliche Damen. 141

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Orte der Handlung 1. Bild: Auf dem Dorfplatz Chor I (Wenn Mauern errichtet werden …) 2. Bild: In Meng Tjang-nus Stube Chor II (Einer, der feine Ohren hat …) 3. Bild: In Meng Tjang-nus Stube (wie 2. Bild) Chor III (Ein großmächtiger Baum, Tao Te King Nr. 64) 4. Bild: In einer Schenke Chor IV (Ein hartes Wort …) 5. Bild: Unterwegs am Wegrand Chor V (Das Schneelied) 6. Bild: An einer Baustelle der Großen Mauer 7. Bild: An einer anderen Baustelle der Großen Mauer Chor VI (Nichts auf der Welt … Tao Te King Nr. 78) 8. Bild: An der selben Stelle Chor VII (Warum horcht der Erhabene …) 9. Bild: Im Zelt des Kaisers Chor VIII (Begraben liegen unter Chinas Mauer …) 10. Bild: Am Grabe Wang Si-langs unter der Großen Mauer Schlusschor (Könnten wir weisen den Weg … Tao Te King Nr. 1)

Zeit der Handlung Um 210 vor unserer Zeitrechnung. Pause nach dem 6. Bild

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Erstes Bild Auf dem Dorfplatz. Die Soldaten des Kaisers treiben unter Aufsicht ihres Hauptmannes die arbeitsfähigen Männer des Dorfes zusammen, um sie zum Bau der Großen Mauer, die der junge Kaiser Shi Huang-ti an der Nordgrenze errichten will, abzuführen. Stumm und wehrlos drücken sich die Männer aneinander. Im Hintergrund zieht ein endloser Zug von Arbeitern, die aus den anderen Dörfern kommen, über die staubbedeckte Straße. Man hört die Peitschen niedergehen. Vereinzelte Schreie von Frauen mischen sich mit dem Weinen eines Kindes. Es ist ein heißer, stauberfüllter Sommertag.

I Chuan: Was hilft das Weinen, Kind? Die Dinge sind nicht, wie sie sind, sondern so, wie sie gemacht werden. Mit Jammern ist da nichts geholfen. Nachbarin (zu ihrem Sohn): Da, nimm das mit dir. Vielleicht, wenn es schlimm kommt, und woher sollte das Gute kommen? Vielleicht wirst du es brauchen. Der Sohn der Nachbarin: Es ist doch hellichter Sommer jetzt, Mutter, und ehe es schneit, hast du mich wieder. Laß du nur dir keinen Schnee auf die schwarzen Haare kommen wegen der kurzen einsamen Zeit, Mutter. Nachbarin: Du kannst auch im Sommer nicht auf der bloßen Erde schlafen. Besser liegst du auf deinem Mantel.

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Versprich mir das, Kind, denn viel schlechtes Volk wird bei solch einer Arbeit auf einen Haufen kommen.

II Wang Si-lang (nimmt Abschied von seiner jungen Frau Meng Tjang-nu): Also vergiß nicht: das Wichtigste ist, daß du das Saatgut trocken lagerst und es nicht anrührst, auch nicht, wenn du Hunger hast. Für die nächste Aussaat im Herbst will ich schon wieder zurück sein. Meng Tjang-nu: Ja, Wang Si-lang, oder früher noch, wenn du kannst. Wang Si-lang: Nimm lieber, wenn es zum Leben nicht reicht, nimm lieber ein Stück vom Hausrat und trag es ins Pfandhaus, Tjang-nu. Meng Tjang-nu: Ja, Wang Si-lang, Liebster. Wang Si-lang: Wenn ich nur noch die Herbstsaat selbst auswerfen kann, sonst ist dieses Jahr nicht das schlimmste gewesen, sondern das kommende erst. Meng Tjang-nu: Ja, Wang Si-lang, aber du wirst doch kommen, oder nicht?

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Wang Si-lang: Kann eine Mauer so groß sein oder so lang, daß so viele Männer wie wir sie nicht vor dem Winter auch um einen Berg ziehen könnten? Meng Tjang-nu: Nein, Wang Si-lang, nein. Kein Haus, keine Stadt braucht solch eine Mauer. Wang Si-lang: Das denk ich auch und darum will ich nicht, daß du weinst. Ich habe noch immer die Saat selbst ausgeworfen und so bin ich also nicht traurig. Nur dich, dich laß ich nicht gerne allein. Meng Tjang-nu: Schick mir Nachricht, Si-lang, daß ich weiß, was ich denken soll, wenn ich an dich denke abends. Wang Si-lang (lacht): Nachricht, Tjang-nu? Ich kann nicht schreiben, du kannst nicht lesen, Liebste. Wie soll das gehen? Glaubst du, die Boten des Kaisers reiten für uns von Norden nach Süden, um dir zu sagen, Liebste: Mir geht es gut, wie geht es dir? Meng Tjang-nu: Ach, Si-lang, wie gern ich dich lachen sehe! Wang Si-lang: Dann sollst auch du keine Tränen mir auf die Hände fallen lassen. 145

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Meng Tjang-nu: Ich hab dich lieb, Wang Si-lang. Ich hab dich lieb, denk daran und gib acht auf dich, Liebster. Gib acht auf deine lieben Hände, auf deine glatten, kräftigen Schultern, die ich so gern berühre, gib acht auf deinen Kopf mit den beiden geliebten Augen, in denen ich mein heißes Gesicht sehen kann, wenn du bei mir bist, Liebster. Wang Si-lang: Mach mir die Brust nicht eng. Laß mich gehen, Tjang-nu. Ganz so, wie du mich gern hast, ganz so werd ich wohl nicht zurückkommen, aber davon soll unsere Liebe nicht kleiner werden. Leb wohl, Meng Tjang-nu! Meng Tjang-nu: Leb wohl, Wang Si-lang, leb wohl!

III (Die Männer des Dorfes werden abgeführt. Der Zug verliert sich in der Ferne.) Eine junge Frau (liegt auf der Erde und schreit): Ai ai ai aih! Nachbarin: Steh doch auf, Schwester, schau, sie ziehen fort und wenn du nicht aufstehst, kannst du ihnen nicht einmal mehr winken. Die junge Frau: Ai ai ai aih! 146

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Meng Tjang-nu: Was hat sie? Die junge Frau: Ai ai ai aih! Nachbarin: Willst du im Staub hier Mutter werden? Die junge Frau: Ich will dieses Kind nicht haben, das seinen Vater nicht haben darf! Nachbarin: Komm, hilf mir, Meng Tjang-nu, tragen wir sie ins Haus. Sie muß schlafen, schlafen. Das Kind ist ja nicht schuld an der Welt. Die junge Frau: Ai ai ai aih! (wird hineingeführt) Meng Tjang-nu (im Abgehen zu dem alten Mann): Und komm auch du herein, Vater Chuan, es ist so viel Staub in der Luft, daß einem die Augen weh tun.

IV Chuan: Und in dem Staub ziehen sie fort. Und ich weiß nicht einmal, ob ich winken soll oder die Augen abwenden, weil ich nicht mehr mit ihnen den Weg gehen kann. Die Welt ist, solang ich am Leben bin, nicht besser geworden. Und jetzt hab ich nicht mehr viel Zeit zu warten. Irgend etwas hätte ich tun sollen, 147

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irgend etwas hab ich versäumt, als ich noch Schultern hatte und Arme daran, um etwas ins Rollen zu bringen. Aber jetzt sitze ich da und schau, schau zu, wie das geschieht, was ich nicht sehen will. Wer sagt da, ich hätte gelebt. (Meng Tjang-nu wendet sich ab und geht ins Haus.)

Chor I Wenn Mauern errichtet werden zwischen den Menschen und nicht gepflasterte Straßen, wenn Feuer gezündet werden, nicht in den Hütten, sondern auf offenen Plätzen, wenn Asche geflogen kommt und nicht Blütenwolle und Heu mit dem Wind, der vom Land kommt, wenn Waffen ausgeteilt werden und nicht Pflugscharen, Saatgut und eisernes Werkzeug, wenn viele schweigen, wenn nur wenige reden und doch zu viele das gleiche sagen, dann ist wieder die Zeit gekommen, die erst von manchen beschworen, hernach von allen verflucht wird.

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Zweites Bild In Meng Tjang-nus Stube. Meng Tjang-nu sitzt mit der Nachbarin auf dem Boden und näht an einer Jacke. Nachbarin: Was hat dein Mann auf dem Leib gehabt, als sie ihn fortbrachten, weißt du das noch? Meng Tjang-nu: Wie sollte ich das nicht wissen? Nichts anderes als sonst auch jeden Tag: seinen blauen Rock aus Grasleinen, die schwarze Kattunhose und Bastschuhe an den Füßen. Nachbarin: Ich habe meinem Sohn die Wetterstiefel mit auf den Weg gegeben, die sich mein armer Mann erst kurz vor seinem Tod gekauft hat. Gut eingefettet hab ich sie ihm dort draußen noch vor der Tür. Und dann noch seinen gefütterten Drillichrock. Hu! Er hat mich beschimpft, aber ich habe gedacht: Man kann doch nie wissen. Und man weiß ja auch wirklich nichts. Meng Tjang-nu: Ja, man weiß gar nichts. Nachbarin: Und der Sommer ist bald vorüber. Meng Tjang-nu: Im Herbst kommt er, hat er gesagt. Er wird sich freuen, wenn er kommt und seine neue Jacke findet, mit Wolle gefüttert und mit seidenen Fäden bestickt. 149

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Wenn ich nur fertig werde damit, eh er zurückkommt, mein Mann. Nachbarin: Einer müßte doch wenigstens schon zurück sein von so vielen Männern. Eine Mauer, eine Mauer sagen sie. Für wen? Gegen wen eine Mauer? Wozu einen Krieg, frage ich? Wem wollen sie hier etwas nehmen? Was haben wir, was man uns nehmen wollte? Wozu also solch eine Mauer? Meng Tjang-nu: Der Erhabene wird schon einen Grund dafür haben. Er fügt die Dinge, wie sie gefügt sein wollen, auch wenn wir’s nicht einsehn. Er ist ja der Kaiser. Nachbarin: Jaja, das schon, aber so viele Männer aus so vielen Dörfern. So groß kann doch eine Mauer nicht sein. Meng Tjang-nu: Wer weiß, vielleicht bauen sie noch einen neuen Palast für den Erhabenen und bleiben noch ein paar Wochen darum und kommen dann heim mit einer Tasche voll Kupfer, daß es klingt bei jedem Schritt. Nachbarin: Dummheit! Seit wann wissen denn unsere Männer, wie ein Palast aussehen soll? Die könnten nicht einmal die Straße davor so glatt auslegen, daß keiner stolpert. Ach, unsere Männer! 150

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Meng Tjang-nu: Wenn sie nur wieder da sind! Nachbarin: Ja, für das, was wir wollen von ihnen, dazu sind sie uns gut. Wer soll uns das Wasser tragen vom Fluß? Wer soll uns die Knie auseinanderbiegen, wenn wir nicht schlafen können allein? Wer braucht sie denn auf der Welt außer uns und den Kindern? Meng Tjang-nu (singt): Eingeschlafen sind mir die Hände in einem Rosenstrauch, verwundet von Nadelstichen, verwundet von Nadelstichen, von tausend Wegen müd. Ich wollt’, ich könnte auf der Pi-pa-Laute spielen wie die alte Tschung aus dem Nachbardorf. Ich würd’ mich nicht so verlassen fühlen. Nachbarin: Du solltest nicht so mit dem Lampenfett sparen, Meng Tjang-nu. Es ist schon fast dunkel. Man stößt mit den Augen an. (Sie zündet die Lampe an.) Meng Tjang-nu (singt): Von den zahllosen kleinen Wegen sind meine Hände müd. Sie haben den Rosengarten, sie haben den Rosengarten gestickt beim Lampenschein. Das ist ein Lied für geschminkte Damen. Nicht wahr, es paßt nicht recht zu der groben Jacke, die ich nähe für meinen armen Mann. 151

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Nachbarin: Das ist ein altes Lied. Das haben wir alle einmal gesungen. Es macht, daß die Zeit schneller geht. Meng Tjang-nu: Vielleicht wird es kalt, eh’ er heimkommt! Nachbarin: Das will ich nicht hoffen, Kind. Das will ich nicht hoffen. Wer zerschlägt uns das Eis auf dem Fluß, wenn wir Wasser brauchen zum Waschen? Wer bessert die Schilfdächer aus, wenn der Wind mit dem Schnee kommt? Meng Tjang-nu (singt): Zwei Tränen sickern mir leise aus meinen Wimpern herab und fallen mir auf die Hände, und fallen mir auf die Hände, und wecken die Schlafenden auf. Ich wollt’, ich sähe dich schlafen, den Kopf in meinem Schoß. Mit dem Schatten meiner Hände, mit dem Schatten meiner Hände bedeckt ich dein müdes Gesicht. Nachbarin: Jetzt mußt du nicht weinen, Tjang-nu. Ein Mädchen bist du nicht mehr. Jetzt mußt du das Warten lernen. Das Warten ist ja die größere Hälfte unseres Lebens.

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Chor II Einer, der feine Ohren hat, kann auch die Lichter des Himmels hören, wenn sie ans Ölpapier seines Fensters schlagen, die Tropfen des Sternlichts, den Gong des Mondscheins und sogar die Fühlhörner der Morgensonne. Einer, der feine Sinne hat, braucht nicht auf die Bergfeuer und auf gefiederte Botschaft zu warten, der Föhrenwind, der Bambuswind, der Blütenwind und der Schneewind sogar, die flüstern mit viel tausend Zungen.

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Drittes Bild In der Stube der Meng Tjang-nu. Meng Tjang-nu hat die Jacke, die sie fertiggenäht hat, auf dem Boden ausgebreitet. Sie kniet vor einer geöffneten Truhe und sucht einige Gegenstände zusammen, die sie auf die Jacke legt, um sie zu einem Bündel zu schnüren. Die Nachbarin erscheint in der Tür. Sie hat ihr Enkelkind an der Hand.

I Nachbarin: Was schnürst du zusammen, Meng Tjang-nu? Meng Tjang-nu: Die Jacke. Sie ist fertig. Nachbarin: Dann leg sie in die Truhe, Tjang-nu. Wenn dein Mann kommt, kannst du sie vor ihm auf den Boden breiten. Meng Tjang-nu: Wenn er zurückkommt, ja, aber er kommt nicht, er kommt nicht! Ich kann nicht ohne ihn leben! Ich geh zu ihm. Nachbarin: Was hast du gesagt? – Zu ihm? Meng Tjang-nu: Ich will ihm die Jacke bringen. Nachbarin: Kind! Wie willst du ihn finden? Weißt du denn, wo er ist? Meng Tjang-nu: Darum gehe ich ja, daß ich es endlich erfahre. Nachbarin: Aber, Tjang-nu, 154

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das ist doch nicht einfach dort hinterm letzten Dorf. Das ist doch irgendwo – hörst du? –, das ist doch irgendwo weit im Norden. Und den Norden, den kennt niemand, nicht einmal der alte Chuan, und der war Soldat unter drei Kaisern. Niemand kennt dort einen Wang Si-lang. Niemand kann dir dort einen Weg zu ihm zeigen. Such eine Vogelfeder, die der Wind hat.

II Meng Tjang-nu: Ich kann doch nicht sitzen und warten, bis der weiße Winter da ist und er, er friert in seinen grasleinenen Kleidern, die er trug, als sie ihn holten von hier. Ich kann doch nicht warten und zusehn, wie die Flüsse zufriern und die Leute die ersten Schneeflocken vom Ärmel schütteln und die Lager näher zum Feuerplatz rücken. Und er dort oben im Norden, mein Mann, haucht seine starren Hände an und denkt: Wenn du bei mir wärst, Tjang-nu, wären mir die Hände nicht starr geworden.

III Nachbarin: Der Schlamm von den Herbstregen liegt nun überall auf den Straßen, Tjang-nu. Wie willst du den Weg da noch finden? Wie willst du mit deinen verkümmerten Füßen 155

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hinauskommen über das nächste Dorf oder über das Dorf hinter dem nächsten oder noch ein Dorf weiter? Und dann? Dahinter liegt noch ein Dorf, und von dem hört man nicht einmal mehr die Hunde bellen. Und das ist noch immer nicht der Norden. Bleib hier, Meng Tjang-nu, und warte, warte auf deinen Mann wie wir anderen auch. Du bist nicht die einzige Frau hier im Dorf. Und es ist noch keine am Warten gestorben. Meng Tjang-nu: Umso schlimmer, wenn man nicht stirbt daran. Ich kann nicht mehr! Ich kann nicht mehr! Ich gehe zu meinem Mann. Nachbarin: Sie ist verrückt geworden! Lauf, Kind, lauf und hol den alten Chuan herüber, schnell! Und die Li und die Tschang und die andern und die Alten von nebenan und alle! Lauf! Sie sollen alles liegen lassen, wo’s liegt, und herüberkommen! Sag’s ihnen! Lauf! (Das Kind läuft ab.)

IV (Gleich darauf kommen in Abständen die Nachbarn herbei und drängen sich in der Tür. Als letzter erscheint der alte Chuan. Meng Tjang-nu packt indessen wortlos ihr Bündel fertig, nimmt es unter den Arm und schickt sich an, das Haus zu verlassen.) Nachbarin: Kommt doch her! Seht sie doch an! Sagt ihr doch, daß sie nicht fort darf! Sie darf nicht gehen, sie darf nicht! Ihr Mann hat ein Feld hier und eine Hütte. 156

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Was wird denn daraus? Wer soll denn die Wintersaat auswerfen und das Strohdach flicken? Und wenn er heimkommt, und die Hütte ist leer?! Redet doch etwas! Haltet sie doch! Steht doch nicht da, und starrt sie nur an! Meng Tjang-nu: Lebt wohl! – Leb wohl, Vater Chuan! Chuan: Leb wohl, Meng Tjang-nu! (Durch eine Gasse, die die anderen wortlos freigeben, geht Meng Tjang-nu langsam aus ihrer Hütte.) Chor III (Tao Te King Nr. 64) Ein großmächtiger Baum entsteht aus einem haarfeinen Sproß, ein neunstöckiger Turm erhebt sich aus einem Häuflein Erde, eine Reise von tausend Meilen beginnt mit einem Schritt.

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Viertes Bild In einer Schenke. Zwei Soldaten sitzen mit einem Bauern beim Wurzelschnaps. Ein Bänkelsänger hockt klimpernd abseits. Die Wirtin bedient.

I Bauer: Nein, nein! Das ist nichts für einen wie mich. Da muß einer schon anders sein, anders als ich jedenfalls. 1. Soldat: Anders, wie meinst du das? Bauer: Was weiß ich denn, wie man ist, wenn man anders ist als ich bin. Ihr seid anders, ihr beide. Für euch ist das gut so, oder nicht? – Na also. 2. Soldat: Weil du ein Maultier bist, das nicht studieren will, weil du immer nur den andern das Futter nachtragen willst, weil du eben doch nur ein Bauer bist! 1. Soldat: Aber das mit den fetten Lieblingsfrauen, das hat dir schon gefallen, nicht wahr? Bauer (lacht): Ja, ja, das war schon nicht schlecht. 2. Soldat: Warum soll er es nicht machen, wie’s ihm am besten bekommt? Wie viele Existenzen muß einer warten, 158

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bis er wieder der Sohn des Himmels wird! Vielleicht nie wieder, nie. 1. Soldat: Darum hat er also immer schön zugewartet, bis sie eingeschlafen waren, die Weiber auf ihren geheizten seidenen Kangs, immer schön zugewartet und dann, wenn sie schliefen, herausgetastet. Im Schlaf, mußt du wissen, Bauer, im Schlaf sind sie am wärmsten. Im Schlaf sind sie weich wie gelbe Birnen. Und so läßt er sie darum schlafend hinüberziehn, samt ihrem warmen Bett durch die Gänge, hinüber in sein Gemach. Gut eingewickelt natürlich, daß sie nicht aufwachen vom Luftzug unterwegs. Er ist zwar der Kaiser, aber den Schlaf, den kann auch er nicht befehlen. Darum müssen die Gänge immer so spiegelglatt gescheuert werden, daß es nicht holpert, sonst wachen sie auf. Ja, und dann werden sie aufgeblättert. Hast du eine Ahnung, wie das duftet, so eine kaiserliche Lieblingsfrau mitten im ersten zartesten Schlaf. Und davon hat er über fünfzig. Bauer: Da kann einer leicht Kaiser sein, denk ich. 1. Soldat: Und was für ein Kaiser das ist, unser Kaiser Shi Huang-ti! Den solltest du einmal dasitzen sehen: so! Ich hab ihn gesehen! Ich hab ihn gesehen! Die Drachenstirn, das ist nicht zuviel gesagt, und darunter alles in Brokat 159

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oder was du willst: in Seide, und einen Jadegürtel hier um den Bauch, Armspangen, Ringe und den Mantel, mit Email gepflastert wie ein Eisvogel, so! Ich hab ihn selbst gesehn auf seinem Drachenthron, nicht weiter als von hier bis zur Tür entfernt. Das war ein Anblick! Und dabei hat er nicht mehr als dreißig Frühlinge gesehen. Bauer: Winter sagt man bei unsereinem. 1. Soldat: Und hat in den wenigen Jahren seither die sechs Reiche im Osten und Westen zusammengeworfen, und hat die Han und die Wei und die Yen und die Chao und die Ch’u und die Chi geschlagen, und sitzt nun da in seiner westlichen Hauptstadt und läßt sich eine Große Mauer bauen um alles, was er hat. Und er hat so viel, daß all seine Untertanen zusammen nicht fertig werden mit diesem Bau ihr Leben lang, und wenn sie arbeiten Tag und Nacht und sonst kein Land mehr bestellen und keine Frau mehr anrühren deswegen. So groß wird seine Große Mauer werden. Denn ihm gehört alles, alles, und wer etwas haben will davon, der muß sich bei ihm verdingen, daß er’s geliehen bekommt. Ist das ein Kaiser? Das ist ein Kaiser!

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II (Meng Tjang-nu ist leise eingetreten und setzt sich abseits nieder.) 2. Soldat: Was sagst du, Mensch? Was sagst du dazu? Bauer: Nichts sag ich. Ich arbeite weiter. 2. Soldat: Weil du eben ein Maultier bist und nicht studieren willst, das hab ich schon einmal gesagt. 1. Soldat: Was kann man wollen von so einem? Mir schwappt das schäbige Gesöff im Bauch. Ich muß in den Hof. Kommst du mit? Bauer: Ich hab noch nicht ausgetrunken. 1. Soldat (macht eine wegwerfende Geste und torkelt durch den Raum. Dabei kommt er dicht an Meng Tjang-nu vorüber, stolpert und fällt ihr dabei um den Hals.): Ho! Das ist aber eine grobe Art, einen Kriegsmann des Kaisers an seinen Tisch zu bitten, Schwester. Wozu lädst du mich ein? He! Wirtin: Laß sie in Frieden, Soldat! Das ist kein Singmädchen. Siehst du nicht, sie ist müd. Das ist doch nichts für dich, nichts für einen hochmächtigen Soldaten des Kaisers. Komm! 1. Soldat: Sie hat mir aber das Füßchen gestellt. Fast wäre ich auf den Boden gefallen. 161

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Wenn sie nicht einen so hübschen Hals hätt’, daran hab ich mich festgehalten im Fallen. Zeig mir ein bißchen, Schwesterlein, ein bißchen mehr von deinem Hals. Ist das nicht ein Hals, um den seinen dran zu reiben, Hals an Hals? Meng Tjang-nu: Ai! (Sie schreit entsetzt auf und erhebt sich zitternd.) Bauer (ist aufgestanden): Was ist denn? Wirtin: Er hat sie gebissen. 2. Soldat (sitzt und trinkt weiter): Jaja, das tut er gern, wenn er besoffen ist. Er muß einmal in einem früheren Leben ein Marderhund gewesen sein. Wirtin: Kommt, hebt ihn auf vom Boden! (zu Meng Tjang-nu) Und du, Schwester, wo kommst du denn her, so spät noch am Abend? Du bist wohl nicht aus der Gegend? Meng Tjang-nu: Nein. Ich bin nicht von hier. Wirtin: Du mußt ein gut Stück aus dem Süden kommen, an der Art, wie du redest, merkt man’s dir an. Meng Tjang-nu: Ja, aus dem Süden, weit aus dem Süden. Wirtin (zieht sie beiseite, da sich der Bauer und der 2. Soldat angeschickt haben, dem betrunkenen 1. Soldaten vom Boden aufzuhelfen): Komm weg von hier, da setz dich in die Ecke. Und wo willst du denn noch hinaus, Schwester? 162

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Meng Tjang-nu: Ich bin unterwegs in den Norden. Wirtin: In den Norden? Jetzt vor dem Winter? Mit dem Schuhzeug? Und allein? Hast du Verwandte dort? Meng Tjang-nu: Ja, Verwandte. Wirtin: Armes Ding! Solltest lieber hier warten. Manchmal kommt doch ein Ochsenkarren vorbei. Vielleicht nimmt dich einer dann mit. Meng Tjang-nu: Wann? Wirtin: Das kann man nicht wissen. Morgen vielleicht. Ein paar Dörfer kommst du damit schon weiter. Aber wie weit willst du denn überhaupt? Meng Tjang-nu: Ich will bis zur Großen Mauer. Dort ist mein Mann, Wang Si-lang. Er arbeitet dort für den Erhabenen. 1. Soldat (torkelt wieder näher): Oho! Für den Kaiser arbeitet er? Oho! Was arbeitet er denn, dein Mann? Ist er ein Zensor oder ein Mandarin? Ein Steuereintreiber oder Präfekt oder ein Yamenbüttel, dein Mann? Wirtin: Komm weiter, Schwester, komm hierher, sprich mit den Soldaten nicht. Man weiß nicht, wes man sich bei denen versehen muß. Komm. Von der Großen Mauer haben wir auch gehört, überall spricht man davon, aber 163

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wo die ist, das weiß hier niemand. Auch von unserem Dorf haben sie Männer fortgetrieben vor einem halben Jahr. Und bisher ist keiner zurück. Wie willst du da allein und zu Fuß dorthin gehen, woher die Männer nicht einmal zurückkommen. Komm, trink ein wenig Brühe aus dieser Schale, daß sie dich warm macht innen. Du mußt ja halb tot sein, Schwester. Meng Tjang-nu: Und einen, der weiß, wen man fragen kann, kannst du mir so einen nennen? Es muß doch ein großes Gebäude sein, das man von allen Bergen aus sieht, diese Mauer, an der so viele Hände schaffen. Aus allen Dörfern, durch die ich kam, haben sie Männer fortgetrieben zum Bau. Und ich bin schon sehr lang unterwegs. Wirtin: Armes Geschöpf, komm, stell deine Füße hier an das Becken, lehn dich zurück und horch. Der alte, lausige Bänkelsänger, der kennt ein Lied. Das singen sie schon viele Monate hier. Hoffentlich werden sie’s bald aufhören zu singen und andere, schönere Lieder lernen. Komm, Li, sing ihr das Lied von der Großen Mauer.

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III Bänkelsänger (der nur auf seinem Hackbrett geklimpert hat, rückt näher und beginnt zu singen. Nach und nach stimmen auch die Wirtin und die Soldaten ein.):

Das Lied von der Grossen Mauer In der westlichen Hauptstadt Hsien Yang, da sitzt auf dem Drachenthron der Mann mit der Drachenstirn, den nennt man den Himmelssohn. Der hat seine Nachbarn erschlagen mit neuen Waffen aus Eisen und viel Beute zusammengetragen von seinen Eroberungsreisen. Die Bücher der alten Schreiber, die hat er zu Hauf gerichtet, denn seine Steuereintreiber, die haben ihm neue gedichtet. Er machte ein großes Feuer aus dem alten Gedankengut, das qualmte und stank ungeheuer, doch endlich siegte die Glut. Im Norden die Hunnenhorden, die lockt der Gestank herbei, die wollten ihm helfen morden. Da war der Spaß bald vorbei. Er schlug sie in die Steppe mit eisernen Prügeln zurück und ließ sich auf seine Schleppe einsticken die Schlacht und den Sieg.

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Und nun baut er sich eine Mauer, so hoch, so lang und so dick, eine Mauer von ewiger Dauer, eine Mauer so groß wie sein Glück. Und wenn sein Glück sich nicht wendet, dann werden sie ewig bauen, und die Mauer wird nie beendet, soweit unsre Augen schauen. (Meng Tjang-nu hat sich, während der Gesang immer lauter wurde, unbemerkt zur Türe hinausgestohlen und sich wieder auf ihren Weg gemacht.) Chor IV Ein hartes Wort macht uns im hellen Sonnenschein frieren, es legt sich wie Reif auf die Seele. Aber ein hilfreiches Wort macht, daß wir mitten im Winter die bitterste Kälte vergessen. Ein hartes Wort treibt uns vom wärmenden Feuerplatz, der von köstlichen Speisen duftet. Aber mitten in fremdem Land wird durch ein hilfreiches Wort jede Distelgrube zur Heimat. Drum, wer das weiß und viel unterwegs ist von einem zum andern, der ist allen Menschen ein Bruder.

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Fünftes Bild Unterwegs am Wegrand. Meng Tjang-nu kommt langsam des Wegs. Unter einem kahlen Ahornbaum hockt sie sich auf die Erde und öffnet mit klammen Fingern das Bündel. Sie nimmt die Jacke hervor, drückt sie an ihre Brust und weint leise. Dann entdeckt sie eine große, schwarze Krähe in den Zweigen des Baumes und versucht sie vergeblich mit schwachen Gebärden zu verscheuchen. Meng Tjang-nu: Schu! Schu! Flieg fort, schwarzer Vogel! Flieg fort! Schu! Schu! Laß mich ausruhn, schwarzer Vogel! Laß mich schlafen! Schu! (Sie richtet sich das Bündel unterm Kopf zurecht und hüllt sich in die Jacke ein.) Ach, Wang Si-lang, wie arm bist du! Ich schlafe unter deiner warmen Jacke und du – und du …? Schu! Schu! Die braunen Ahornblätter rascheln so freundlich unter meinen Schultern. Sie decken die fröstelnde Erde. Bald wird sie der Schnee bedecken. Ach, Wang Si-lang! Ich schlafe hier unter deiner wärmenden Jacke und du – und du? Du liegst mit geöffneten, schmerzenden Armen dort auf gefrorener Erde, weit fort von mir, weit fort und allein … Schu! Schu! Schu! (Sie schläft ein. Während es langsam dunkel wird, beginnt es zu schneien. Die Krähe ist verschwunden.) 167

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II Wang Si-lang (erscheint ihr im Traum): Du schläfst, Tjang-nu. Meng Tjang-nu (seufzt in leisem Schreck auf, ohne die Augen zu öffnen): – Si-lang … Wang Si-lang: Du schläfst, und deine Träume kommen zu mir. Ich bin bei deinen Träumen, sonst nirgends mehr. Meng Tjang-nu: Warum kommst du nicht näher, Si-lang? Warum kniest du nicht neben mir nieder? Warum riechst du nicht an meinem Haar, streichelst mir nicht mit der Hand übers Gesicht, legst nicht dein Ohr an meine klopfende Kehle? Kennst du mich nicht mehr, Si-lang? Bin ich so ganz voll Straßenstaub? Hab ich mich so verändert? Wang Si-lang: Nicht du hast dich verändert, meine kleine, meine liebe Tjang-nu. Verändert bin ich worden, verändert, denn ich bin tot. (Meng Tjang-nu stöhnt leise auf, rührt sich aber nicht.) Gestorben bin ich, ausgelöscht wie ein Licht im Wind, verloren wie Schnee, der auf   ’s offene Meer fällt. Meng Tjang-nu: Tot? Tot bist du, Liebster? Und meine Träume reden mit dir? Ich habe doch nichts gespürt. Erloschen bist du? Und meine Kleider haben noch den Geruch von deiner Nähe? 168

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Du kannst doch nicht sterben, während ich auf den Stufen sitze vor unserer Hütte und auf den Hufschlag eines Boten höre, der meinen Jammer mit einem, einem Wort in helles Glück verwandeln könnte. Nein, tot bist du nicht, Si-lang. Warum willst du mich erschrecken? Siehst du denn nicht, wie weit, wie weit ich zu dir gekommen bin? Heb mich auf, Si-lang, heb mich auf aus dem Staub und zieh mich ans Herz. Wang Si-lang: Wie soll ich dich aufheben, Tjang-nu, mit diesen zerbrochenen Armen? Wie soll ich dich an mich ziehen, an diese leere Brust? Tot ist das Herz im Käfig meiner Rippen, Tjang-nu. Tot bin ich selbst. Geh heim. Geh zurück den Weg, den du gekommen bist. Zünde wieder ein Licht an in unserer Hütte. Es wird wieder ein Frühling den Birnbaum vor unserer Tür zum Blühen bringen, wenn der Winter, der furchtbare Winter vorbei ist, der mich getötet hat dort im Norden. Meng Tjang-nu: Si-lang! Si-lang! Liebster! Wie kannst du gestorben sein und mich, deine hilflose Frau, verlassen, die unterwegs ist, weit, weit von unserer Hütte und weiter noch von deinem Grab! Wo soll ich mich niederhocken 169

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am Wegrand hier, in der Fremde, wo kein Fußbreit Erde mir gehört, wo soll ich bleiben, wenn nicht bei dir? Si-lang! Wo bist du? Wo bist du? Wang Si-lang: Verschollen bin ich! Verschollen! Landlos! Heimatlos! Grablos! Verloren bin ich, Tjang-nu, von fremdem Erdreich verschüttet. Nirgends, wo du mich noch finden könntest. Du aber, die du auf der Erde liegst, den Himmel anschauen darfst, steh auf und lebe. Leb wohl! (Die Erscheinung schwindet. Morgenlicht kommt auf.)

III Meng Tjang-nu (erwacht): Wo bin ich? – Oh! – Ist das Schnee, Schnee, der gefallen ist, während ich schlief? (Sie nimmt ihr Bündel auf, stäubt sich die Schneeflocken von den Ärmeln, blickt fröstelnd um sich und geht weiter ihren Weg nach Norden.) Chor V Ho! wie der Eiswind das unberührte Gewand des Himmels über die Erde hinschleift! Pagoden und Lehmhütten überfällt es mit Stille. Dem Schnee sind alle Dächer gleich, kein Wall hält ihn auf.

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Grenzpfähle weht er zu und hemmt den gepanzerten Schritt der Kriegspferde. Frierend hocken die Menschen dann um ihre Feuer nah beieinander. Friede kommt in das Land mit dem Schnee, alles Jähe ist zugeschüttet. Alles Laute erstickt, alles Unreine endet, und die nie betretenen Gipfel der Min-Schan-Berge leuchten.

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Sechstes Bild Eine Baustelle an der Großen Mauer Im Hintergrund sieht man die gewaltigen Umrisse fertiggestellter Mauerteile. Im Vordergrund arbeitet eine Schar ausgehungerter Gestalten. Es ist ein nebeliger Wintertag. Eine wankende, erschöpfte Frauengestalt nähert sich langsam.

I 1. Arbeiter (bemerkt sie): He, du da! Was suchst du hier? 2. Arbeiter: Was ist denn das? Sieht aus wie eine Frau. 3. Arbeiter: Das soll eine Frau sein? Sieht so eine Frau aus? Ich hab schon lange keine mehr gesehn, aber so hab’ ich sie nicht in Erinnerung. 1. Arbeiter: He, du da! Was willst du hier? (Die Gestalt bleibt stehen, antwortet nicht.) Zu essen kannst du hier nichts finden. Und das Feuer ist auch noch nicht angezündet. Es ist noch nicht Abend. Und der Aufseher kommt gleich vorbei. Am besten, du gehst bald weiter, das heißt, wenn du noch gehen kannst. 2. Arbeiter: Mensch, siehst du nicht, daß die mehr tot ist als lebend. Was suchst du denn, Schwester? Was treibt dich denn hierher zu uns? 172

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Hier ist das Ende der Welt, das mauern wir zu mit Steinen. (Die Gestalt antwortet nicht.) 3. Arbeiter: Die kann nicht reden. Die ist am Ende. Seht ihr das nicht? Komm, setz dich, setz dich da her, Schwester, ruh dich aus und hol etwas Luft. Davon haben wir genug. Die Luft soll hier sehr gut sein, sagen die Leute, die kommen, um zu schauen. Vor uns brauchst du keine Angst zu haben, wir nehmen dir dein Bündel nicht. Red lieber etwas, daß wir wissen, was wir tun können für dich.

II Meng Tjang-nu: Kennt ihr einen hier an der Mauer mit Namen Wang Si-lang? 1. Arbeiter: Wang? Wang gibt es Tausende hier! Meng Tjang-nu: Wang Si-lang heißt er. 2. Arbeiter: Hier fragt man nicht viel nach Namen. Hier ist einer soviel wie der andre. Wir kennen nur die, die uns hören, so weit wir rufen können, und von denen kaum einen mit seinem Namen. Meng Tjang-nu: Wang Si-lang ist sein Name und ich bin seine Frau Meng Tjang-nu. 173

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3. Arbeiter: Schau dort hinunter, Schwester, wie viele Tausende so wie wir siehst du dort schaufeln und schleppen. Und von dem höchsten Berg dort oben, da siehst du tausendmal so viele und kannst doch kein Ende sehen, denn die Mauer führt um die ganze Welt. Meng Tjang-nu: Mein Mann ist aus dem Süden, man kennt es an seinem Reden. Sie haben ihn schon vor dem Sommer mit vielen anderen hierher gebracht. Er ist ein Mann mit breiten Schultern, der gut und willig arbeitet. Wang Si-lang heißt er, Wang Si-lang. 1. Arbeiter: Wir kennen ihn nicht. (Meng Tjang-nu sinkt langsam auf einen Stein nieder und zeigt keine Regung mehr auf die Rede des 3. Arbeiters.) 3. Arbeiter: Ruh dich aus, Schwester, ruh dich aus, eh du weitergehst. Du hast noch einen langen Weg. Du wirst noch tausendmal nein hören, eh einer ja sagt auf deine Frage. Wart, bis wir in einer Stunde das Feuer anzünden, dann bekommst du etwas Warmes zu trinken.

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III Meng Tjang-nu (springt mit einem Schrei in die Höhe. Sie hat bemerkt, daß sie sich neben einen Toten gesetzt hat, der auf der Erde unbestattet liegt.): Ai! – aaaah … 2. Arbeiter: Ja, das war auch einer, der hier gearbeitet hat. Gut, daß es nun Winter ist und der Schnee ihn kühl hält. Wenn wir den nächsten Graben ausheben, legen wir ihn unter die Mauer. Da hat er ein haltbares Grab. Meng Tjang-nu: Aber … aber wer ist das? Der da! 2. Arbeiter: Wir kennen ihn nicht. Er lag schon da, als wir kamen. Und er ist nicht der einzige, der so daliegt, ohne Namen. Man kann sie nicht zählen. Sie sind das Fundament der Mauer. (Meng Tjang-nu hat ihr Bündel aufgenommen und sich wieder auf den Weg gemacht). 3. Arbeiter: Wo gehst du hin? 2. Arbeiter: Laß sie! Komm! 1. Arbeiter: Machen wir weiter. (Sie beginnen wieder zu arbeiten.) Pause

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Siebentes Bild Eine andere Baustelle der Großen Mauer. Es ist Nacht. Um ein Feuer, an dem ein Kessel mit einem Reisgericht gewärmt wird, sitzen ein alter und ein jüngerer Arbeiter und eine alte Frau und essen mit den Händen aus ihren Schalen. Meng Tjang-nu kommt langsam näher und läßt sich in geringer Entfernung auf der Erde nieder. Sie ist kaum wiederzuerkennen, so schmal und elend ist sie geworden. Die Essenden blicken einige Male auf, räuspern sich und essen dann weiter.

I Alte Frau (schiebt ihr endlich ihre Schale über den Boden zu): Da, nimm das. Ich hab genug. Der alte Arbeiter: Bist du verrückt geworden, Frau? Die alte Frau: Ja, vielleicht. Ich kann das nicht ansehn. Der alte Arbeiter: Und wovon sollen wir morgen essen? Die alte Frau: Ich gehe wieder ins Dorf. Kümmre dich nicht darum. (zu Meng Tjang-nu, die die Schale nicht berührt hat) Iß nur, du da, und dann geh weiter. Der junge Arbeiter: Sie ißt nicht. Sie schaut nur herüber. Die alte Frau: Dann schau weg. Vielleicht hat sie Angst. Der alte Arbeiter: Eine Frau! Was hat die hier verloren? Was sucht die? Arbeitet die? Also. Sie soll geh’n, woher sie gekommen ist. Die alte Frau: Iß nur, der Reis, den ich bettle, gehört denen, die Hunger haben. 176

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II Meng Tjang-nu: Habt ihr … habt ihr hier einen Mann gekannt, der Wang hieß und aus dem Süden kam? Der junge Mann: Wang? Meng Tjang-nu: Ja. Der alte Mann: Wang, und wie noch? Meng Tjang-nu: Wang Si-lang ist sein Name. – Kennt ihr ihn? (Der junge Arbeiter blickt den alten an. Der senkt den Kopf und schweigt.) Die alte Frau: Und was bist du zu ihm, du? Meng Tjang-nu: Ich bin seine Frau. Mein Name ist Meng Tjang-nu. Er ist ein großer Mann mit freundlichen Augen. Er kam hierher mit den ersten, die man im Sommer zusammentrieb. Kennt ihr ihn nicht? (Die drei senken die Köpfe und hören auf zu essen.) Vielleicht könnt ihr mir sagen, wohin ich noch gehen soll, um weiter nach ihm zu fragen. Ich gehe schon ein paar Wochen an dieser Mauer, ich weiß schon nicht mehr, wie lange. Und zuvor bin ich allein und zu Fuß den Weg von Süden gekommen. Ich suche meinen Mann. Niemand kennt ihn. Kennt ihr ihn auch nicht? 177

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Der alte Arbeiter: – Doch. (Lange Pause) Ich hab ihn gekannt. Meng Tjang-nu (stöhnt ganz leise): Wo ist er? Der alte Arbeiter: Dein Mann ist tot. (Meng Tjang-nu erhebt sich mit einem Mal und steht ganz still.) Der alte Arbeiter: Es ist schon ein paar Monate her. Groß war er, mit breiten Schultern und freundlichen Augen. Er kam aus dem Süden. Wang war sein Name. Wang Si-lang, das ist richtig. Meng Tjang-nu (regungslos stehend): Tot! – Tot! Der alte Arbeiter: Es war in den ersten Tagen des Winters. Schnee fiel, und wir haben ihn unter der Mauer begraben wie andere auch, die vor ihm gestorben sind. Meng Tjang-nu: Ihr habt ihn …? Nein! Nein! – Wo liegt er? Der alte Arbeiter: Das weiß ich nicht mehr genau. Er war nicht der einzige damals – und nicht der letzte seither. Die alte Frau: Trink einen Schluck von dem Tee, Kind. Du bist ja selbst halb erfroren. Bleib. Komm, setz dich ans Feuer, hier auf die Decken. 178

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Es ist auch schon dunkel geworden, und die Wölfe sind unterwegs bei Nacht.

III Meng Tjang-nu: Tot ist er. Gestorben. Und ich habe geglaubt, es könne ihm nichts geschehn, solange ich unterwegs bin zu ihm. Wann ist das Garn zwischen unseren Seelen zerrissen? Warum hab ich es nicht gespürt? Sind wir so einsam, so abgeschieden einer vom andern? Wang Si-lang, mein Leben, wie bist du allein, mit leeren Armen hier in der Fremde zerfallen, ohne Grab, ohne Abschiedshauch auf den Augen, von fremden Händen unter die Steine gewälzt! Keine Seele erinnert sich mehr, wo du verscharrt bist, Lehm, Erde, Geröll über deinem Gesicht, das ich lieb hatte, lieber als das Innerste meines Leibs, als das Schwarze meiner Augen. Wo ist dein Gesicht, Wang Si-lang, um dessentwillen mir meine Hände lieb waren, die es halten, meine Lippen, die es küssen durften, als es lebte. Hätt’ ich dich lebend getroffen, Si-lang, ich weiß, ich wäre vor Glück gestorben, aber nun muß ich weiterleben. In wessen Hand lag unser Leben, daß wir so elend daraus gefallen sind?

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IV (Meng Tjang-nu lehnt sich gegen die Große Mauer und beginnt zu weinen. Ein Schneesturm erhebt sich und nimmt schnell an Heftigkeit zu.) Die alte Frau (sucht Meng Tjang-nu in die Hütte zu ziehen, in die sich auch die Männer zurückziehen): Komm herein in die Hütte, Kind! Mit Tränen kannst du die Welt nicht ändern. Komm herein in die Wärme. Komm doch! Dort in der Hütte ist Wärme von Menschen. Es gibt nichts andres als Menschenwärme. (Meng Tjang-nu wendet sich schluchzend von ihr ab.) (Der Sturm wird immer stärker und bringt mit einem großen Getöse einen Teil der Mauer zum Einsturz. Männer eilen herbei, um Meng Tjang-nu aus den Trümmern zu retten.) Die alte Frau: Sie lebt! Sie lebt! Sie ist unversehrt! Und die Mauer, schaut, Männer, die Große Mauer ist eingestürzt! Chor VI (Tao Te King Nr. 78) Nichts auf der Welt ist weicher und schwächer als Wasser. Und doch, wenn es Hartes und Starkes angreift, wird es durch nichts übertroffen. Das Schwache überwindet das Starke. Das Weiche überwindet das Harte. Niemand auf Erden, der das nicht wüßte, niemand, der es vermöchte zu üben. Wahres ist oft widersinnig.

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Achtes Bild Dieselbe Stelle an der Großen Mauer. Im hellen Tageslicht ist die furchtbare Wirkung des Einsturzes deutlich erkennbar. Trümmer liegen ringsum verstreut. Eine große Schar von Arbeitern hat sich versammelt. Meng Tjang-nu kauert auf der Erde, in die Jacke ihres Mannes gehüllt, und redet kein Wort. Aus dem Hintergrund kommen schnell Soldaten heran, die dem Aufseher eine Gasse bilden.

I Aufseher: Hej! Hej! Hej! Platz da! Zurück! Zurück, sag ich! Hej! Was geht hier vor? Was ist hier geschehen? Einige Arbeiter: Die Mauer! Die Mauer! Die Große Mauer ist eingestürzt. Aufseher: Das seh ich. Und wie ist das gekommen? Eine tausendköpfige Horde von Hunnen hätt’ sie nicht einreißen können, nicht mit Brechstangen und Stoßblöcken. Einige Arbeiter: Die Mauer! Die Mauer! Sie ist von selbst eingestürzt! Die alte Frau: Schaut nur, dort ist sie gestanden, dort, wo jetzt die Trümmer liegen. Ah, da habt ihr lange umsonst gebaut an dieser steinernen Schlange, die sich um die Berge windet. Kein Segen war an der Arbeit, 181

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wie hätten sie sonst die Tränen einer Frau so elend zum Einsturz bringen können. Aufseher: Was redest du da? Der junge Arbeiter: Die Mauer haben wir selbst gebaut, und gut gebaut haben wir sie, nicht nur einfach so aufgeschüttet. Mit den Füßen haben wir den Lehm gestampft, mit den Hämmern haben wir die Steine behauen, gestützt und verklammert haben wir alles, und jetzt liegt sie in Bruch und Schutt und sollte eine Ewigkeit dauern, wenn es nach dem Willen des Kaisers gegangen wäre. Aufseher: Und da die Welt nach seinem Willen geht, werdet ihr sie also wieder bauen, und diesmal so, daß keine Gewalt der Erde und auch kein Sturm vom Himmel sie noch einmal zu Boden stürzt! Was steht ihr? Was schaut ihr? Was hängt ihr die Arme? Geht an die Arbeit! Hej! Der alte Arbeiter: Niemand kann diese Mauer wieder aufbauen, niemand von uns, nach dem, was gestern geschehen ist. Mehrere Arbeiter: Niemand kann diese Mauer wieder aufbauen, niemand von uns, nach dem, was gestern geschehen ist. Aufseher (wütend): Was ist gestern geschehen? Was, das ihr mir verschweigt, ihr Tiere? Wie ist die Mauer zum Einsturz gekommen? Sagt mir’s beim Zorn eures Kaisers! 182

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Die alte Frau: Wer braucht diese Mauer? Wozu? Um welche Menschen von welchen zu trennen? Sind die dort unten im Dorf nicht dieselbe Art von lebendigen Wesen wie die auf unserer Seite? Wozu ein Steinwall zwischen den Dörfern? Aufseher: Das soll des Kaisers Sache sein, nicht eure! Schweigt davon! Von euch will ich nur eines wissen, nämlich: Wie ist die Mauer hier zum Sturz gekommen? Die alte Frau: Das haben die Tränen der Meng Tjang-nu getan. Aufseher: Wer ist das? Die dort? Die am Boden? Hej! Du da! Du! Steh auf! Ich sprech mit dir! Warum redest du nicht? Hast du deine Zunge gefressen? Du kommst mit mir! Du wirst unsre Sprache schon lernen. Ich habe gute Lehrer dazu. Bindet sie! Fort mit ihr! Fort! Und ihr, ihr kehrt zurück und nehmt die Arbeit auf, dort, wo ihr sie habt liegen lassen. Die Mauer wird gebaut, sooft sie einstürzt und am Ende einmal mehr. Das ist der Befehl des Drachenstirnigen. Ihr müßt schon sieben Stirnen und acht Gallen haben, wenn ihr euch auflehnt gegen seinen Willen. Weh euch! (Er wendet sich zum Gehen. Die Soldaten schleppen die gebundene Meng Tjangnu hinter ihm drein, während die Arbeiter sich nicht von der Stelle rühren.) 183

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Chor VII Warum horcht der Erhabene nicht auf die richtigen Worte? Warum sind die Einflüsterer so nahe an seiner Schulter? Und die Hilfeschreie seines Volks erreichen kaum seinen Fuß! Warum traut der Erhabene mehr den geflüsterten Worten als den laut aufgeschrienen? Warum legen sie ihm immer nur, wenn wir um Frieden bitten, die Peitsche aufs Knie? Warum horchen wir auf den Erhabenen und nicht auf die richtigen Worte?

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Neuntes Bild Im Großen Zelt des Kaisers. Der „Sohn des Himmels“ befindet sich mit seinem Hofstaat auf Inspektionsreise, so ist der Prunk, der ihn umgibt, streng und kriegerisch. Hinter dem erhöht sitzenden Kaiser stehen seine Kriegsherren und Baumeister. Hinter einer Wand von Perlenschnüren ahnt man eine Schar verborgener Weiblichkeit, die sich durch Tuscheln und Kichern bemerkbar macht. Meng Tjang-nu liegt vor dem Kaiser auf der Erde. Sie trägt die Jacke, die für ihren Mann bestimmt war. Neben ihr kniet der Aufseher.

I Der Aufseher (vollzieht mit Meng Tjang-nu den neunfachen Kotau und spricht mit ihr zusammen die vorgeschriebene Formel): Zehntausend Jahre dem Sohn des Himmels! Shi Huang-ti: Du also hast gesehn, wie die Mauer zum Einsturz kam, die ich aufbauen ließ! Du? Aufseher (stößt sie an): Rede! Meng Tjang-nu (ohne den Blick von der Erde zu heben): Es war solch eine Kälte, Erhabener, ein starker Wind war in der Luft, und Schnee trieb, daß man blind war. Ich weiß sonst nichts. Ich dachte, ich wäre gestorben. Shi Huang-ti (lacht): Gestorben bist du nicht bisher. Und ohne meinen Willen kannst du nun auch nicht mehr sterben. Doch, was tatest du an der Mauer? Aufseher (stößt sie an): Rede! 185

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Meng Tjang-nu: Ich suchte Wang Si-lang, meinen Mann. Ich wollte ihm diese Jacke bringen. Shi Huang-ti: Die, die du am Leibe trägst? Meng Tjang-nu: Ja, eben die. Shi Huang-ti: Dann hast du ihn nicht gefunden, deinen Mann? Meng Tjang-nu: Ich habe ihn nicht gefunden. Shi Huang-ti: Weiß einer, wo dieser Mann ist, ihr? Wie war sein Name? Meng Tjang-nu: Wang Si-lang war sein Name. Aufseher (wirft sich nieder): Der Mann ist tot, Erhabener. Shi Huang-ti: Tot? Aufseher: Ja. Und sie weiß es, Erhabener. Darum trägt sie nun selbst seine Jacke. Shi Huang-ti: Nun also. Nun weißt du es. Steh auf! Aus welchem meiner Dörfer bist zu gekommen? (Meng Tjang-nu sinkt, ohne zu antworten, noch tiefer zu Boden.) Aufseher: Sie ist aus dem Süden gekommen, Erhabener. Das sagen die Leute dort an der Mauer. Alle sagen das, die man dort fragt. Shi Huang-ti: Aus dem Südreich? Aus Ch’u?

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Aufseher: Jawohl, Erhabener. Zu Fuß. Zu Fuß, allein aus dem Südreich. Um ihren Mann zu suchen, sagen sie. Shi Huang-ti: Und er ist gestorben? Wo liegt er? (Als der Aufseher schweigt:) Rede! Meng Tjang-nu: Unter der Mauer liegt er! Unter der Mauer des zehntausendjahralten Kaisers! (Der Aufseher drückt sie wieder zu Boden.) Shi Huang-ti (macht eine jähzornige Bewegung, mit der er alle Anwesenden hinausweist. Er hat sich vom Thron erhoben): Laßt mich allein mit ihr! Hinaus! (zu den Frauen hinter den Perlenvorhängen) Auch ihr! Vor allem ihr! Laßt uns allein. (Alle außer dem Kaiser und Meng Tjang-nu verlassen rasch das Große Zelt.)

II Shi Huang-ti: Steh auf. (Meng Tjang-nu erhebt sich mühsam.) Shi Huang-ti: Schau mir ins Angesicht. (Er mustert sie aufmerksam, indem er langsam um sie herumgeht.) Du gefällst mir. Wie viele Jahre hast du schon erlebt? Wie viele solche Jahre in solchen Kleidern? 187

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Meng Tjang-nu: Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht. Shi Huang-ti: Und es ist schwer zu erraten. Schmal bist du und verkümmert. Und dabei hättest du vielleicht ein hübsches Geschöpf werden können, wenn man dich – vor ein paar Jahren – rechtzeitig gefunden hätte. Aber damals, wer hätte dich angesehn unter den Millionen schmutziger Mädchen in meinen zehntausend Dörfern. Und ich selbst war noch auf Kriegspferden unterwegs und nicht in gepolsterten Sänften. Komm näher. Du gefällst mir. Zieh diese häßliche Jacke aus. (Meng Tjang-nu macht eine unwillkürliche Geste der Abwehr.) Shi Huang-ti: Gib sie mir. Ich möchte sie ansehn. (Er nimmt ihr die Jacke ab.) Die hast du mit eignen Händen gemacht? Zeig mir die Hände. Hm. Er hat dich arbeiten lassen, dein Wang. Er hat keine Augen gehabt, als er lebte. Und jetzt hat er sie in den Boden gekehrt. Und dabei bist du nicht häßlich. Dein Hals gefällt mir. Du hast Schlüsselbeine, so zart wie eine Prinzessin. Ich werde dich in mein Frauenhaus nehmen. (Meng Tjang-nu wirft sich plötzlich mit entschiedener Ablehnung zu Boden, ohne einen Laut von sich zu geben.) Shi Huang-ti: Was ist? Bist du so schwach? 188

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Was sagen sie? Du bist allein aus dem Südreich gekommen? Allein, mit diesen kleinen Füßen? Ich habe noch keinen berittenen Boten allein so weit übers Land geschickt, und dabei gibt es im Reich überall Stationen, um die Pferde zu wechseln. Wie viele Monate bist du gegangen? Meng Tjang-nu: Im Herbst hab ich mein Dorf verlassen, Herr. Shi Huang-ti: Im Herbst? Und nun ist bald Frühling. Wenn du willst, kannst du im nächsten Herbst in einem Pavillon sitzen an einem Weiher und für jedes Blatt, das du auf   ’s Wasser fallen siehst, einen Wunsch tun, den ich dir erfüllen werde. Wenn du willst, so lasse ich die Schritte abzählen von hier bis zu deinem Dorf und dir für jeden Schritt eine Perle geben oder einen Schuh aus Atlasseide. Willst du? (Er legt ihr die Jacke wieder um die Schultern und versucht, sie vom Boden aufzuheben.) Meng Tjang-nu (erhebt sich auf die Knie und blickt ihn an): Sohn des Himmels, warum verlachst du mich? Ich habe all diese Schritte getan, weil ich zu meinem Mann gehöre. Und wenn er noch lebte, ich machte mich noch einmal auf den Weg und ginge zu ihm. Dein Reich, Kaiser, ist nicht weit genug für meine Liebe. Shi Huang-ti: Aber nun ist er tot, dein Mann. Was tust du da mit deiner Liebe? Du kannst ihn nicht mehr erreichen.

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Meng Tjang-nu: Er liegt unter den Steinen, die er für dich herbeitragen mußte, Erhabener. Shi Huang-ti: Du wirst ein Haus haben, Meng Tjang-nu, ein Haus, an dem tausend solcher Schultern wie die seinen arbeiten werden. Vergiß ihn. Du wirst nachts mit mir auf deiner Terrasse im Mondlicht stehen und die Welt unter dir und ganze Städte voll solcher Männer vergessen. Du wirst mit mir, mit dem Sohne des Himmels, alle Zärtlichkeiten tauschen, von denen dir kein Traum geflüstert hat. Du wirst mit mir, mit dem Herrn der Welt, die Phönixspiele der Lust spielen lernen, die dich in Glück verströmen lassen wie die Wolke, die als Frühlingsregen am Himmel zerschmilzt, Meng Tjang-nu. Denn du gefällst mir. Meng Tjang-nu: Erhabener, drachenstirniger Kaiser! Ich bin wie der Staub auf deinen Straßen. Ich bin wie das Gras auf deinen Feldern. Ich bin wie die Wellen in deinen Flüssen: eine von vielen Millionen. Wie kannst du die Hand aufheben wollen, um mich zu retten, da doch viele andre, Bessere, Stärkere als ich, nutzlos verlorengingen. Laß mich! Laß mich! Shi Huang-ti: Du, mit deinem Gesicht voll Tränen, Meng Tjang-nu, du gefällst mir. Und was ich einmal gesagt habe, das ist nicht mehr auszulöschen. Niemand, seit ich die Hände habe auf diesem Land, niemand hat mir je widersprochen. 190

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Was willst du, daß ich für dich tu? Soll einer sterben, der dich gebunden hat, einer, der dich herzog an den Stricken, einer, der dich zu Boden drückte? Willst du? Meng Tjang-nu: Ist nicht genug an denen, die für dich, den Himmelssohn, aus dem Leben müssen? Nein, nicht so –, aber wenn du wirklich dich herabläßt, mir meinen einzigen Wunsch zu erfüllen, so werd ich kein Wort mehr über die Lippen bringen, das deinem Willen zuwider wäre. Shi Huang-ti: Nenn mir den Wunsch, Meng Tjang-nu. Er ist erfüllt, eh er gesprochen ist. Meng Tjang-nu: Mein Mann liegt unter den Steinen deiner großmächtigen Mauer, Kaiser. Wo, das weiß niemand, niemand, soviel ich auch fragte. Für dich, für dich, Erhabener, wär es ein leichtes, seinen Leichnam ausforschen zu lassen und in ein Grab zu legen, dessen Erde ich küssen kann, wie eine Frau es tun muß nach der Sitte, die China geschaffen hat. Shi Huang-ti (ruft): He! Holla! Wache! (Der Aufseher und zwei Soldaten treten auf.) Sorgt mir dafür, daß dieser tote Mann, der Mann dieser Frau hier, gefunden werde. Tot wie er liegt unter der Mauer, wo immer. Und bald. Ich warte. Aufseher (wirft sich zu Boden): Erhabener Himmelssohn! 191

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Der Mann, den die Frau da sucht, der liegt unter der Großen Mauer begraben. Shi Huang-ti (sehr ungeduldig): So reißt ab von ihr so viel, bis er gefunden wird, da wo er liegt! Aufseher: Niemand weiß mehr, Erhabener, wo er verschüttet liegt. Shi Huang-ti (jähzornig): So reißt die Mauer nieder! Reißt sie nieder so lang, bis ihr ihn findet! Ich will, daß ihr ihn findet! Ich befehle es! Mir aus dem Angesicht! Aufseher (geht mit den beiden Soldaten rasch ab): Zehntausend Jahre dem Sohn des Himmels! Shi Huang-ti (wendet sich zu Meng Tjang-nu): Und nun, steh auf, Meng Tjang-nu. Solang dein Wunsch dir nicht erfüllt ist, berühr ich dich nur mit den Augen. (Meng Tjang-nu erhebt sich langsam.) Chor VIII Begraben liegen unter Chinas Mauer, Steinberge zwischen sich und dem Himmel, begraben, verschüttet, kein Zeichen auf dem Grab, keine Grasnarbe auf der Wunde. Verschüttet, verloren, unterm Gewicht des ungeheuersten Grabsteins, Chinas ganze Qual auf der zerbrochenen Brust, verloren und nicht vergessen. Denn es gibt kein Leid, das groß genug wäre, daß nicht ein Mensch käme, der es ertrüge.

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Zehntes Bild Ein frisch ausgehobenes Grab am Fuße der Großen Mauer, von der im Umkreis nur noch Trümmerreste zu sehen sind.

I (Aus dem Hintergrund nähert sich der Zug mit der Leiche Wang Si-langs. Acht Bonzen schreiten dem Sarg voran, nebenher schreitet der Kaiser selbst, die Hand auf den Sargdeckel gelegt als Zeichen, daß er an Sohnes Statt die Pflicht übernommen hat, für das Andenken des kinderlos Verstorbenen zu sorgen. Hinter dem Sarg geht Meng Tjang-nu, gekleidet in die armselige Jacke, danach der Orakelleser, Hofbeamte und Bauarbeiter. Die Trauermusik wird von keinem Gesang begleitet. Sie beginnt und endet jeweils mit acht schweren Trommelschlägen.)

II (Nachdem der Trauerzug am offenen Grabe angelangt ist, wird der Sarg niedergestellt, und es beginnen die althergebrachten Bestattungszeremonien, in deren Verlauf der Orakelleser das Geheime Schicksalsbuch nach Vergangenheit und Zukunft der Seele des Verstorbenen befragt und die Stunde seines Todes verzeichnet.) Orakelleser: Seele des Wang Si-lang, woher bist du gekommen? Als Lastträger hast du einst gelebt im Zeltlager eines Kriegsherrn in der nördlichen Steppe. Seele des Wang Si-lang, wie lebtest du dieses Leben? Als breitschultriger Bauer lebtest du im südlichen Reiche Ch’u, verließest deinen Acker und deine Frau, um an der Großen Mauer zu bauen. 193

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Nun, da du gestorben bist, Seele des Wang Si-lang, wohin wirst du gehen? Als der vierte Sohn eines Fischers wirst du am Ufer des Flusses Huang die Frachtschiffe stromauf ziehen und ein weiteres mühseliges Leben leben. Wir denken an dich. Shi Huang-ti (indem er die Seelentafel des Toten übernimmt): Wir werden auch morgen an dich denken und auch nach sieben Tagen und auch nach sieben mal sieben Jahren, wie es die Pflicht der Nachfahrenden ist. Bonzen (indem sie Weihrauch und Papiergeld als Totenopfer verbrennen und der Sarg in die Grube gesenkt wird): Seele des Wang Si-lang, zwischen Tod und Wiedergeburt, schau herab auf den Leib, der dir auf deiner Wanderung durch die Bitternisse der Welt als kärgliche Wohnung diente, schau herab und sieh ihn vergehn. Geh ein zur Ruhe. Seele des Wang Si-lang, abgestreift hast du die Schmerzen, überwunden die Erniedrigungen, den Ausweg hast du gefunden aus der Irrsal dieses Lebens, allem Jammer bist du entstiegen, schau herab und sieh ihn vergehn. Geh ein zur Ruhe. Seele des Wang Si-lang, wir, die wir dir nicht weiter folgen, die wir noch immer gebunden liegen, 194

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wir denken an deine Schmerzen, weil sie die unsrigen sind. Wir können nicht vergessen, aber du schau herab und sieh uns vergehn. Geh ein zur Ruhe. Meng Tjang-nu (zieht langsam die Jacke aus und hält sie über das offene Grab): Hier ist die Jacke, Si-lang, die Jacke, die ich für dich in meiner Hütte genäht und mit weißer Wolle gefüttert habe. Von einem Ende der Welt bis zum andern hab ich sie dir nachgetragen, daß du nicht so kalt und jammervoll daliegen solltest, wie du jetzt daliegst vor meinen schmerzenden Füßen. Und nun habe ich dich gefunden, Si-lang, nun, da ich nichts mehr tun kann für dich, da ich dich nicht mehr erwärmen kann, nicht mit meiner Jacke und nicht mit meinen Armen. Allein bist du hier in fremdem Land gestorben, allein mit deinem Heimweh, deinen zerschundenen Schultern und deinen erfrorenen Händen. Nichts habe ich ändern können an deinem Elend, das nur ein Elend von unzähligen Elenden ist. Nichts, trotz all meiner nicht enden wollenden Liebe. Nun, da du tot bist, Si-lang, nun ist auch mein Schmerz gestorben in mir. Durchscheinend sind meine Augen von Tränen. Ich bin nicht mehr und war doch einst zu deinem Glück geboren. (Sie wirft die Jacke ins Grab.)

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der lange weg z ur grossen mauer

Nimm nun deine Jacke, Si-lang, und laß mich weitergehen auf meinem Weg. (Sie wendet sich ab, blickt dem Kaiser einige Herzschläge lang in die Augen und beginnt zu gehen. Der Kaiser hebt die Hände, und die Umstehenden treten ihr aus dem Weg. So geht sie fort, und keiner hält sie auf.) Chor IX (Tao Te King Nr. 1) Könnten wir weisen den Weg, es wäre kein ewiger Weg. Könnten wir nennen den Namen, es wäre kein ewiger Name.

Ende

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GOMORRA oder wie ihr es verdient

ein musikalisches Spektakel in neun Bildern von Richard Bletschacher Musik von Heinz Karl Gruber Fassung von 1991

Inhaltsangabe Die Stadt Gomorra empfängt den Besuch eines Vertreters der Obrigkeit und versucht ihm ein Bild friedlichen Besitzens vorzuspiegeln. Leopold Goschek, der Präsentator, führt ihm die Errun­gen­schaften und Besitztümer vor Augen. Eine Gruppe aufmüpfiger Brandstifter nützt die Gelegen­heit, um ihren Protest anzumelden; doch der wird durch ein solidarisches Bürgerlied zum Schwei­gen gebracht. Zwei junge Journalisten aus der Redaktion der alles beherrschenden „Öffentlichen Mei­nung“, Au­gustin und Flitzer, machen sich, nach einer versehentlichen Perlustrierung durch die Ordnungs­kräfte der Feuerwehr, auf die Suche nach einem Glücks­kind, das auf einem Feuer­wehrball, der zu Ehren des Hohen Gastes vorbereitet wird, das große Los zie­hen soll. In einem Versorgungsheim für gefährdete Existenzen begegnet der etwas unausge­ schla­fene Au­gustin einer jungen Armenpflegerin, Gwendolyn mit Namen, die in allem den ge­wünschten Be­dingungen zu entsprechen scheint. In der Redaktion der „Öffentlichen Meinung“ wird jedoch Gwendolyn nach dem vom Chefre­da­kteur Müller-Machenschafft bestimmten gomorranischen Geschmack umge­schminkt und neu eingekleidet. Dabei kommt es zu einem erregten Auftritt zwischen Au­gustin und der eifersüchtigen Tochter des Feuerwehrhauptmanns, Valentina, der ge­eig­net ist, den jungen Träumer wachzu­rüt­teln. Als sich alle auf den Weg zum Ballsaal machen wollen, droht ein anonymer Anrufer, die Stadt an allen vier Ecken anzuzünden, und verursacht damit nur allgemeines Gelächter. Nach einem vom Feuerwehrhauptmann Gerwalt angestimmten besänftigenden Schun­kel­lied e­reicht der Ball seinen Höhepunkt mit der Ziehung der Glückslose. Re197

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porter und Agenten um­lagern sofort den verdutzten Gewinner. Zu Ehren des Hohen Gastes wird vor den Fenstern des Saales ein Feuerwerk gezündet. Da treffen aus allen Him­melsrichtungen Nachrichten ein, daß die Stadt Gomorra in Flammen steht. In den Straßen Gomorras liefern sich die Brandstifter unter ihrem Anführer Hilarius und die Feuerwehrleute unter ihrem Hauptmann Gerwalt einen wilden Kampf. Die Bürger wehklagen um ihre verlorene Habe. Als Augustin und Gwendolyn, ahnungslos und eng umschlungen, des Wegs kommen, stürzen sich die volkserhaltenden Kräfte nach einem Zuruf Valentinas, die zu den Gegnern ihres Vaters übergelaufen ist, auf das Paar und knüppeln Augustin nieder. Im Lagerschuppen der Feuerwehr lecken die Verletzten ihre Wunden. Gerwalt weigert sich, seine Niederlage einzugestehen und überredet seine Leute, sich im Untergrund der durch zahllose Ka­näle untergrabenen Stadt zu versammeln und dort die Schleusen zu öffnen. Vor der alsbald stei­genden Abwasserflut retten sich Augustin und Gwendolyn, die durch Flitzers Hilfe wieder zu­sammengefunden haben, in ein Schlauchboot und trei­ben davon. In einer großen Schlammschlacht raufen sich die fanatischen Brandstifter mit den Bo­denspe­kulanten und Anhängern des nunmehr reichen Losgewinners um die verkohl­ten Ruinen der Stadt. Nun hat der Hohe Gast genug gesehen von der Stadt Gomorra. Er begibt sich, ohne ein einziges Wort zu verlieren, an Bord eines Helikopters, um die gebrandschatzte und in Schlammfluten ver­sin­kende Stadt zu verlassen. Vergeblich bitten die Gomorraner um Hilfe und Fürsprache höheren Orts. Nur das junge Paar, Augustin und Gwendolyn, das, ganz in sich versunken, den öffentlichen Dingen wenig Beachtung schenkt, entkommt mit der Unverletzbarkeit der Traumwandler dem Untergang der Stadt Gomorra. R. B.

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Die Personen der Handlung Der Hohe Gast stumme Rolle Leopold Goschek, der Präsentator Tenor Rochus Gerwalt, Feuerwehrhauptmann Bariton Valentina, seine Tochter Mezzosopran Augustin, ein freier Mitarbheiter der „Öffentlichen Meinung“. Bariton Flitzer, ein Photoreporter der „Öffentlichen Meinung“ Tenor Müller-Machenschafft, Chefredakteur der „Öffentlichen Meinung“ Baß Hilarius, ein Brandstifter Tenor Gwendolyn, eine Armenpflegerin Sopran Notburga, Vorsteherin des „Schlaraffenheims“ Sprechrolle Eine alte Frau Sprechrolle Der Gewinner Sprechrolle Vier Ausrufer Chorsoli Vier Zündler Chorsoli Vier Boten Chorsoli Vier Feuerwehrmänner Chorsoli Vier Schmarotzer Chorsoli Drei Meinungsmacher Chorsoli Drei Agenten Chorsoli Die Bürger und Bürgerinnen von Gomorra: Haber und Habenichtse, Brandstifter und Feuerwehr­leute, Frühaufsteher, Greise, Meinungsmacher, Honoratioren, Ball­ gäste, Agen­­ten, Mitläufer u.a.m.

Ort der Handlung Die Stadt Gomorra

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1. Bild (Vorspiel) „Die Präsentation“: Auf dem Hauptplatz der Stadt 2. Bild „Auf dem Heimweg“: Vor einer Untergrundbahn­­-Station 3. Bild „Das Interview“: Im Hofe des Schlaraffenheims 4. Bild „Die Meinungsbildung“: In der Redaktion der „Öffentlichen Meinung“ 5. Bild „Der Feuerwehrball“: Im Festsaal der Stadt 6. Bild „Die Feuersbrunst“: Vor einem brennenden Warenhaus 7. Bild „Die Weltflucht“: Im Gerätehaus der Feuerwehr 8. Bild „Die Schlammschlacht“: Auf einer Straße zwischen Ruinen 9. Bild (Nachspiel) „Der Untergang Gomorras“: Auf dem Hauptplatz der Stadt

Zeit der Handlung Demnächst in diesem Theater.

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Erstes Bild Vorspiel

Die Präsentation Leere Bühne. Im Hintergrund eine Papierfolie, auf welcher die Skyline von Gomorra zu sehen ist. Ein roter Teppich wird nach vorn über den Boden gerollt. Mit einem Mal platzt ein schwarzer Luxuswagen durch die Folie und gleitet langsam auf dem Teppich in den Vor­dergrund. In dem Automobil, dessen Dach zurückgeschlagen ist, stehen der Hohe Gast, hinter einer Halbmaske oder Sonnenbrille starr und unaufhörlich lächelnd, hin und wieder mit den Händen grüßend oder mit dem Kopfe nickend, den imposanten Kör­per in einen weißen Burnus gehüllt, und neben ihm Leopold Goschek, der Prä­sen­tator, ein kleines Männchen in gestreiftem dunklem Anzug, Brust und Zylinder g­e­schmückt mit Bändern und Orden, heftig gestikulierend und lauthals in ein Mikrophon schreiend. Ne­ben dem livrierten Fahrer sitzt ein Hüter der Ordnung, auf dem hinteren Tritt­brett des Wa­gens stehen zwei Leibwächter, alle mit kugelsicheren Westen, Sturz­helmen, Schlag­ringen und Maschinenpistolen bis an die Zähne bewaffnet. Die vom Präsentator vorgestellten Gegenstände werden anfänglich mechanisch wie von unsich­tbaren Händen von allen Seiten an die langsam fahrende Karosse herangescho­ben; andere werden danach aus der Versenkung gehoben, vom Schnürboden herabge­lassen oder von den herbe­iströmenden Darstellern herbeigetragen. Es handelt sich da­bei um Requisiten und Bestand­teile des Bühnenbildes, die sich am Ende der Präsenta­tion zur Szenerie des Hauptplatzes der Stadt Go­morra zusammenfügen.

I Präsentator: Dies ist Gomorra, Exzellenz! Das ist unsere Stadt! Unsere Stadt mit allen ihren Häusern, Hausmauern und Haustoren, mit ihren Hausierverbotsschildern und Haussuchungsbefehlen, mit ihren Vogelbauern, Baracken, Kiosken und Hundehütten. Das alles ist unsere Stadt, Exzellenz, 201

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wir sind schon mitten in ihren Straßen. Unter uns sind unsere Pflastersteine, Vorratskeller, Familiengrüfte, Luftschutzbunker, Banktresore, Kanäle und unsere abwassergetriebene Untergrundgrottenbahn, und all dies eingewühlt in die Mauern versunkener Städte.

Doch wenden Sie Ihren Blick nach oben, Ha, was sehen Sie da? Sie sehen unsere Wolkenkratzer, Fernsehtürme, Sternwarten, Lichtmasten, Funkantennen und Signalanlagen; Sie sehen unsere Helikopter, Satelliten, Leuchtraketen und unsere Telephon- und Telegraphendrähte; Sie sehen unsere Dachrinnen, Wetterhähne, Blitzableiter, die uns bewahren vor den Ungewittern, vor Donneschlägen, Meteoren, Feuer, Wasser und der übrigen Natur. Bei uns ist für alles gesorgt! Aber das ist noch lange nicht alles, Exzellenz, denn wir haben noch mehr: Wir haben Fensterläden, Schnellkochtöpfe, Leitungsrohre, Kühlschränke, Verbrennungsanlagen und Wärmespeicher, Fernsehtruhen, Fernsprechzellen, Mikroskope, Hanfstricke, Nylonstrümpfe, Nähmaschinen, Krokodilhandtaschen, Schlauchboote, Fahrradschläuche und Lauchsuppenwürfel, Zahnbohrer, Schnapsdepots und Lachgasbomben; wir haben Lastkraftwagen, Schwachstromwerke und Spitäler, Meldezentralen, Lohnbüros und Strafanstalten, Blutbanken, Datenspeicher, Munitionstresore, Brutkästen, Krematorien und Erziehungsheime; wir haben Salzämter, Magistrate, Quarantänelager, Schuldtürme, Versicherungspaläste, Senffabriken, Wechselstuben, Hochöfen, Tiefgaragen, Wohnblöcke und Schatullen, Kataster, Katalysatoren, Kanalisationsventile, Limousinen, Limonaden, limitierte Ladenpreise, Gummiknüppel, Orden, Wasserwerfer, Feuerwerke, Feuerwaffen! All das haben wir und wir haben es nicht nur, nein! Wir besitzen es auch, es gehört uns, es … es … 202

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es ist unser Eigentum! – Womit ich natürlich nicht gesagt haben möchte, daß wir damit schon genug hätten.

Und nun gestatten Sie, Exzellenz, daß ich Ihnen unser Menschen­material vorstelle: Das also sind unsere Bürger, Wähler und Verkehrsteilnehmer, unsere Kollegen, Konsumenten, Kunden und Komplizen, Klienten, Kompagnons, Kommanditisten, Kriegskameraden, Kompatrioten und Kumpane. Wir haben aber auch Treuhänder, Linkshänder, Rechtspfleger, Nutznießer, Nehmer und Geber, Haber und Teilhaber, Zöllner, Zinszahler und Zensoren, zurrechenschaftzuziehende Zivilisten, Zirkuszwerge, Zeitungszaren, Zauberkünstler, Zukunftsdeuter und vor allem: unser Zupf-, Blas-, Streich- und Schlagorchester! (Das Orchester erhebt sich und spielt einen Tusch.) Und über allem, was wir haben, wacht schlaflos und unermüdlich unsere freiwillige, volkserhaltende Feuerwehr!

II

Feuerwehrhauptmann (stürmt nach vorn): Ein Hoch auf unsern Hohen Gast! Ein Hoch auf dero Exzellenz! Ein exzellentes Dreimalhoch! Chor der Feuerwerleute: Hoch! Hoch! Hoch! Eine Stimme aus dem Hintergrund (dem Hilarius zugehörig): Nieder! Feuerwehrhauptmann: Schschscht! – Sag deinen Spruch auf, Valentina! 203

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Valentina: (wird widerstrebend von ihrem Vater in den Vordergrund gezogen und schließ­lich auf das Trittbrett des zum Stillstand gekommenen Wa­gens gehoben): Willkommen in Gomorra, Exzellenz, hoch umbraust von Jubel und Applaus! Oh, nehmen Sie in unsren Mauern Residenz und fühlen sich bei uns als wie zu Haus! Die Schlüssel darf ich Ihnen überreichen, die alle Tore unsrer Stadt erschließen, die Blumen aber sind gemeint als Zeichen, daß auch Gomorras Herzen Sie begrüßen als Richter, Gönner, Helfer oder Mahner, vor allem doch als neuen Gomorraner! Chor der Feuerwehrleute: Hoch! Hoch! Hoch! Eine Stimme aus dem Hintergrund: In den Staub! An die Laterne! Feuerwehrhauptmann: Schschscht! – Mein Fräulein Tochter, Exzellenz. Heißt Valentina, verkörpert die Reize der Jugend. (Gezwungen lächelnd überreicht Valentina dem Hohen Gast einen rie­ sigen Blu­ men­strauß und bekommt dafür, als die Reporter blitz­lich­ternd näherdrängen, ei­nen­­ angedeuteten Kuß auf die Stirne.) Präsentator: Ja, Blumen, Exzellenz, Blumen haben wir auch. Und junge Mädchen! Was wäre Gomorra ohne junge Mädchen! Blumen und Mädchen, die sollen Ihnen das Glück bedeuten. Denn Glück, das haben wir auch, und mehr davon werden wir Ihnen morgen vor Augen führen mit Hilfe der großen Lotterie auf unserem Feuerwehrball. Chor der Reporter: Den Händedruck noch einmal, Exzellenz! Den Händedruck, den Kuß, die Blumen! Noch einmal für die Wochenschau! Und jetzt noch einmal im Profil! 204

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Das Dekolleté muß auch ins Bild!

(Mehrfach leuchten Blitze und Scheinwerfer auf, wobei jeweils die pho­­togra­phierten Personen in Schnappschußgesten erstarren.) Augustin (drängt sich durch die Menge zu Valentina vor): O Valentina, Valentina, ich bin dein sehr ergebner Diener. Durch diesen Kuß bist du berühmt geworden, er ist mehr wert als jeder Scheck und jeder Orden. Gönn’ mir ein exklusives Interview, nur du und ich und ich und du. O Valenti … Valentina: Laß doch den Blödsinn, Augustin! Heut’ nicht und nicht hier vor allen Leuten. Laß meine Hand! Mein Vater schaut herüber! (Augustin versucht Valentina zu fassen.) Hilarius (drängt sich zwischen die beiden): Belästigt Sie der Kerl? Soll ich ihn expedieren? Valentina: Nein, er belustigt mich. Augustin: Wir beide brauchen keine fremde Hilfe. Feuerwehrhauptmann: Schmink dich noch einmal, Valentina. Sei freundlich zu der freien Presse. Die Herren wollen nur dein Bestes. Valentina (zu Augustin, nachdem Hilarius sich zurückgezogen hat): Mein Bestes, ja, das kann ich mir denken. Nun gut, heut’ abend. Augustin: Heut’ abend? Heute nacht! Und wo? Valentina: Wo? Da ist der Schlüssel. Da. 205

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Aber laß mich diesmal, du Schuft, nicht wieder auf dich warten, sonst … Feuerwehrhauptmann: So ist es recht, Valy, mein Kind! Sei immer freundlich, immer auf Hochglanz! Du stehst im Licht der Öffentlichkeit. Das ist der Preis der freien Meinung. Ein Hoch auf dero Exzellenz! Chor der Feuerwehrleute: Hoch! Hoch! Hoch! Hilarius: Zündet den roten Teppich an! Feuerwehrhauptmann: Ruhe! Valentina (hat von Hilarius einen Zettel in die Hand gedrückt bekommen und zeigt diesen nun ihrem Vater): Schau, Papa, was man hier in die Hände bekommt. Feuerwehrhauptmann (liest laut): „Unsere Geduld ist am Ende. Das Wichtigste habt ihr vergessen.“ – Valentina: Das Wichtigste, was ist das? Feuerwehrhauptmann: Woher soll ich das wissen? Ruhe! (Er bemächtigt sich des Mikrophons, das für das Rednerpult des Hohen Gastes bereit­ gestellt wurde, und brüllt das „Gomorraner Bürgerlied“. Der Chor der Feuerwehrleute und nach und nach auch die übrigen Bürger stimmen mit ein, indem sie die Arme einhängen und im Stehen zu schunkeln beginnen.) Feuerwehrhauptmann und Chor: Wir lassen unsre Welt nicht verbessern, nicht mit Wörtern und erst recht nicht mit Messern.

Wir brauchen auch keine Revolution, denn das, was wir brauchen, das haben wir schon. 206

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Und was uns noch fehlt, das können wir kaufen, drum lohnt es sich nicht, um etwas zu raufen.



Was unsre Vorvorderen hinterlassen, das wollen wir nun in Ruhe verprassen,



denn Ruhe, das ist unsre Bürgerpflicht. Wenn Ruhe herrscht, ändert die Welt sich nicht.



Wir leben derzeit als wie die Schlaraffen, Und haben mit der Zukunft gar nichts zu schaffen.



Wir sitzen auf vollen Kisten und Fässern, und was gut ist, braucht man nicht zu verbessern.

(Bravorufe, Pfiffe, Tumult, Konfettiregen. Der Wagen des Hohen Gas­tes beginnt zu rever­sieren, um wieder nach dem Hintergrund zu fah­ren.)

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Zweites Bild „Auf dem Heimweg“ Ein Platz mit zwei einander gegenüberliegenden Untergrundbahn-Stationen, deren Mäu­ler abwech­selnd Menschenmassen ausspeien und verschlingen. Um die Stationen stehen Verkaufsbuden. Leucht- und Laufschriften verkünden Parolen. Es handelt sich dabei meist um Zitate aus dem „Go­morraner Bürgerlied“. Nicht zu übersehen sind die Auf­schriften RAUCHEN UND HAN­TIEREN MIT OFFENEM FEUER AUSNAHMSLOS VERBOTEN und AB SOFORT WASSER­RATIONIE­RUNG. Ausrufer und Zeitungsver­käufer stehen bis zum Auftritt der Frühaufsteher ohne Be­ wegung. – Morgendämmerung.

I (Aus dem Schacht der Untergrundbahn-Station ergießt sich plötz­lich ein Schwall von Frühaufstehern.) Chor der Frühaufsteher: Rasch! Rasch! Rasch! Frisch! Frisch! Frisch und rasch! Frisch und rasch und rasch und frisch und rasch! Rasch! Rasch! Ausrufer: Frühnachrichten! „Öffentliche Meinung“ – Extraausgabe! „Die Öffentliche Meinung“ – Morgenausgabe! Hoher Gast in Gomorra! Umsturz in Katakrawattopol! Heimtückischer Mundraub am Börseplatz! Staatsbesuch! Sport! Sex und Comics! Energietabletten! Knackwürste und Hunderennen! Kraftfutter! Heiße Würste! Milchersatz! Glückslose! Zigaretten! Tabak! Ihr Horoskop! 208

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II Augustin (ist unterwegs nach Hause): Vielleicht, vielleicht, vielleicht hab ich mit dir heut’ nacht so etwas wie das Glück erlebt.

Mir scheint, mir scheint, mir scheint, als ob mein Fuß sich sacht bei jedem Schritt vom Boden hebt.



So leicht, so leicht, so leicht hast du mein Herz gemacht; daß es mich lüpft und mit mir schwebt.

(Aus dem anderen Untergrundbahn-Schacht ergießt sich ein zwei­ter Schwall von Früh­ aufstehern.) Chor der Frühaufsteher: Rasch! Rasch! Rasch! Frisch und rasch! Ausrufer: Frühnachrichten! „Öffentliche Meinung“-Morgenausgabe! Kraftfutter! Heiße Würste! Glückslose! Zigaretten! Augustin (ernüchtert): Ach, nein! Da steh’ ich wieder in Gomorra. Schade, Valentina! Du hast es gut gemeint. Chor der Frühaufsteher: Frisch! Frisch! Frisch und rasch! Frisch und rasch und 209

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rasch und frisch und rasch! Rasch! Rasch! Ausrufer: Hoher Gast in Gomorra! Umsturz in Katakrawattopol! Heimtückischer Mundraub am Börseplatz! Staatsbesuch! Sport! Sex und Comics! Milchersatz! Energietabletten! Knackwürste und Hunderennen! Glückslose! Ihr Horoskop! Zigaretten! Tabak! Ihr Horoskop!

III (Aus der Ferne hört man grelle Musik aus einem Lautspre­cher, die sich rasch nähert. Dann fährt ein kleines, buntes Auto auf die Bühne. Auf se­inem Dach ist ein Megaphon montiert, aus dem Musik und eine Stimme tönt.) Stimme aus dem Megaphon: Töchter Gomorras! Gomorranerinnen! Schickt euer Brustbild in die Redaktion der „Öffentlichen Meinung“, dazu eure Maße, Daten und Personalnummern! Wir ermitteln unsre diesjährige Feuerwehrprinzessin. Sie soll unser Glückskind sein und morgen zur Ehre unseres Hohen Gastes und unserer allgegenwärtigen Feuerwehr das große Los ziehen. Eine von euch wird dazu auserlesen. Die Auswahl trifft „Die Öffentliche Meinung“. Töchter Gomorras! Gomorranerinnen! (Das kleine, bunte Auto entfernt sich in den Hintergrund. Musik und Stimme begleiten, immer leiser werdend, den folgenden Dia­log.) 210

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Augustin: Feuer, bitte. 4. Ausrufer: Feuer? Augustin: Zündhölzer mein’ ich. 4. Ausrufer: Zündhölzer gibt’s nicht, Augustin: Gibt’s nicht? Wieso? 4. Ausrufer: Rauchverbot. Ausnahmezustand. Hoher Gast in Gomorra. Lesen Sie keine Zeitungen? Augustin: Nein. 2. Ausrufer (mischt sich ein): Sollten Sie aber. Da. (Er verkauft ihm eine Zeitung und wendet sich wieder ab, indem er aus­ruft:) „Die Öffentliche Meinung“ – Morgenausgabe! Staatsbesuch! Sport! Sex! Comics … 1. Ausrufer (sich entfernend): Frühnachrichten! „Öffentliche Meinung“ – Extraausgabe! Hoher Gast in Gomorra! Umsturz in Katakrawattopol! Heimtückischer Mundraub am Börseplatz …

IV (Augustin lehnt sich, die Zigarette im Mundwinkel, an eine Litfaßsäule und will eben seine Zeitung aufschlagen, da steht unversehens Hila­rius neben ihm, zün­det einen kleinen Bund Schwefelhölzer an und spricht ihn an.) Hilarius: Feuer gefällig? 211

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Augustin: Wie bitte? (Er läßt die brennende Zeitung fallen.) Hilarius: Nur ein kleiner Wink, mein Freund. Du siehst, wir sind gerüstet. Augustin: Aha! … Sie arbeiten für unsere Rüstungsindustrie? Hilarius: Was vermag ein Lagerhaus voller Granaten gegen ein einziges kleines Zündholz? Augustin: Aha! … Ich verstehe … Hilarius: Aha! Verstehen genügt nicht, mein Freund, zupacken muß man, mitmachen, durchgreifen! Augustin: Was für scheußliche Wörter auf nüchternen Magen. Hilarius: Zeig uns die Hände! (Einige verdächtige Gestalten haben sich Augustin genähert und packen ihn nun bei den Armen.) 1. Zündler: Tinte! 2. Zündler: Druckerschwärze! 3. Zündler: Angstschweiß! 4. Zündler: Nikotin! 1. Zündler: Ein Skribifax!

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2. Zündler: Ein Eskapist! 3. Zündler: Ein Schnorrer! 4. Zündler: Ein Schmierant! Hilarius: Ich kenn’ den Kerl. Er kommt mir nicht zum ersten Mal in mein Gehege. Die vier Zündler: Oho! Oho! Hilarius: Er schreibt Lokalberichte für die „Öffentliche Meinung“. Die vier Zündler (angewidert): Oh! Oh! Hilarius: Das heißt, er produziert für eine Altpapierfabrik. Augustin: Was wollen Sie von mir? Hilarius: Wir wollen nichts, wir fragen nicht. Wir nehmen, was wir brauchen. Augustin: Dann nehmt jetzt Abschied. Ich hab kein Auge zugetan heut’ nacht. Ich hab es leid. Hilarius: Mir scheint du träumst noch, he? Augustin: Das scheint mir auch. Und wenn ich aufgewacht bin, seid ihr hoffentlich verschwunden. (Er geht weiter.) 213

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V (Kaum hat sich Augustin ein paar Schritte entfernt, da krepiert ein Knallfrosch neben seinen Schuhen.) Hilarius: Es ist genug! Es ist genug gehortet und geschaffen! Schluß mit dem Roboten und Raffen! Bald werdet ihr dressierte Wohlstandsaffen sehr dumm aus eurer Plastikwäsche gaffen,

wenn wir euch Feuer unterm Hinterm machen. Und die nicht Sieben-, sondern Siebentausendsachen, die werdet ihr vergebens hüten und bewachen. Die Balken schwelen schon, bald wird es krachen.



Wir schießen Salut! Und mit Salut wird unsre Wut euch bald vom Fenster wischen. Hört ihr die Lunten zischen? Bald wird’s hier kräftig knattern, daß euch die Fetzen von den Ärschen flattern! Wir schießen Salut!

(Augustin hüpft von einem Bein auf das andere, während Knall­frösche, Zünd­schlangen und anderes elektrisches Unge­ziefer un­ter seinen Schuhso­hlen krepieren.)

VI (Aus einiger Entfernung hört man die Hupsignale der Feuer­wehr.) Hilarius: In Deckung! In Deckung! Die volkserhaltenden Kräfte kommen! (Er verschwindet mit seinen Kumpanen im Gewühl.)

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(Aus einer der Untergrundbahn-Stationen ergießt sich wieder ein Schwall von Frühaufstehern auf die Szene.) Chor der Frühaufsteher: Rasch ans Werk! Rasch ans Werk! Rasch ans Werk! Immer rascher, immer frischer, immer rascher, immer frischer! Rascher, frischer! Rascher, frischer! Frisch ans Werk! (Die Hupsginale der Feuerwehr kommen näher.) Ausrufer: Frühnachrichten! „Öffentliche Meinung“ – Extraausgabe! Kraftfutter! Heiße Würste! Milchersatz! Glückslose! Zigaretten! Toto! Ihr Horoskop! Hoher Gast in Gomorra! Umsturz in Katakrawattopol! Heimtückischer Mundraub am Börseplatz! Staatsbesuch! Sport! Sex! Comics! Milchersatz! Energietabletten! Knackwürste fürs Hunderennen! Glückslose! Zigarren! Tabak! Ihr Horoskop! (Bremsen kreischen hinter der Szene und dann stürmt die Feue­r­wehr auf die Bühne und hat im Nu den ahnungslosen Augustin ge­stellt, der eben ver­sucht hat, sich seine Zigarette mit einer­­verglimmenden Zündschlange anzu­zünden.) Chor der Feuerwehrleute: Halt! Augustin: Was ist denn nun schon wieder?

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Chor der Feuerwehrleute: Packt ihn! Arretiert ihn! Augustin: Ach, um diese Tageszeit, da bin ich noch so wehrlos. (Zigarette und Zündschlange werden Augustin aus der Hand ge­schlagen und sofort durch einen mächtigen Strahl aus der Schaum­spritze unschäd­lich gemacht.) Chor der Feuerwehrleute: Wir haben ihn! Wir haben ihn! Flitzer (eilt herbei und photographiert:) Wen habt ihr? Chor der Feuerwehrleute: Den Täter! Flitzer: Und was war die Tat? Chor der Feuerwehrleute: Die haben wir verhindert. Flitzer: Augustin! Wie kommst denn du hierher? Du bist doch sonst kein Frühaufsteher. Augustin: Ich komm’ noch von gestern und aus dem Feuer in die Traufe. Feuerwehrhauptmann (tritt auf ): Halt! Wer ist der Mann? Den kenn’ ich doch. Wo hab ich den geseh’n? Paß! Alter! Leumund! Nummer! Name! Und Existenzrechtsnachweis! Rasch! Flitzer: Ein Mitarbeiter von der „Öffentlichen Meinung“. Augustin: Ein freier Mitarbeiter, darauf leg’ ich Wert.

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Flitzer: Ein harmloser Kollege, echter Gomorraner. Für den leg’ ich die Hand ins … ins … ins Wasser. Feuerwehrhauptmann: Und was sucht der hier am Tatort? Augustin: Ich suche nur den Weg nach Haus. Flitzer: Gibt’s denn etwas hier zu suchen? Feuerwehrhauptmann: Das frag’ ich Sie. Sie waren doch als erster hier. Flitzer: In unserem Beruf kann man nicht früh genug am Tatort sein. Doch diesmal waren wir zu schnell. Wir sind der Tat – gewissermaßen – zuvorgekommen. Feuerwehrhauptmann (indigniert): Schnüffler! Schmierer! Tachinierer! (zu seinen Leuten:) Schwärmt aus, Leute! (zu Augustin und Flitzer:) Und ihr, Pack, verschwindet! (zu seinen Leuten:) Sucht die Umgebung ab! (zu den Umstehenden:) Aus dem Weg hier! Fort mit euch! (zu seinen Leuten:) Perlustriert die Passanten! Irgend etwas ist immer gescheh’n. Und irgend etwas werden wir schon finden. Augustin: Ach, welch ein Aufwand an Gerechtigkeit! Flitzer: Halt’s Maul jetzt und komm mit! 217

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Augustin: Wohin? Flitzer: Der Meinungsmoloch hat gesprochen. (zeigt ihm die Photographie von Gwendolyn) Das ist die Glückliche! Augustin: Wer? Die? Ist die Kartei verrückt geworden? Flitzer: Mensch, kannst du’s Maul nicht halten! Komm! Augustin: Wie heißt sie? Sag den Namen! Flitzer: Steht keiner drauf. Nur die Adresse. Komm! (Während die Feuerwehr über die ganze Bühne ausschwärmt, zieht Flitzer den verwirrten Augustin mit sich fort. Verwandlung bei offener Bühne.)

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Drittes Bild „Das Interview“ Zu Beginn der Szene ist eine getünchte Außenmauer mit einem imposanten Potem­ kin­­­ schen Tor zu erkennen, über welchem die Aufschrift SCHLARAFFENHEIM DER STADT GOMORRA ange­bracht ist. Darunter steht in kleineren Lettern REHABILITA­TIONS-ZENTRUM FÜR NICHT­PRO­­DU­ZIE­REN­DE KRÄFTE. Auf einer Tafel neben dem Tor ist zu lesen: FLIESSWASSER, ZENT­RALHEIZUNG, FERNSEHEN, SAUNA, MASSAGE, JEDER KOMFORT. Auf der Mauer sind mit Sprayfarbe Parolen geschrie­ben wie BRECHT DAS RAUCHVERBOT!, NIEDER MIT DEM HOHEN GAST! und ähnliches mehr.

I (Flitzer: umgeben von einem Schwarm kamerabewehrter Reporter, läu­tet am Tor. Augus­tin steht unauffällig etwas abseits.) Notburga (öffnet das Tor und fragt in abweisendem Ton): Was wollen Sie? Was suchen Sie? Flitzer (hält ihr die Photographie Gwendolyns vor die kurzsichtigen Au­­gen): Die hier. Wohnt die bei euch? Wie heißt sie? Wo ist sie? Her damit! Notburga: Wer? Die? Hier im Schlaraffenheim? Wer sind Sie? Fernsehen? Jugendamt? Arbeitsvermittlung? Flitzer (zeigt seinen Presseausweis): Wir sind die „Öffentliche Meinung“. Was haben Sie für Leute? Zeigen Sie? Notburga: He! Langsam, langsam! Nicht so stürmisch! (Während sich Flitzer und die Reporter durch das Tor drängen, weichen die Mauern nach beiden Seiten auseinander und geben den Blick frei auf den Hof des Asyls. Greise

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und Greisinnen sitzen auf den Bänken, Stöcke zwi­schen den Knien, Taschen auf dem Schoß, und blinzeln in die Sonne. Teils verwahrlost, teils phantastisch gekleidete jüngere Leute lagern unge­niert auf der Erde.)

II Flitzer: Sehr malerisch! Sehr photogen! Darf unsre Kamera ein schnelles Auge auf dieses Stilleben werfen? Notburga: Muß das sein? Flitzer: Es muß. Notburga: Wir sind in diesen Tagen überfüllt. Sie finden hier nur Obdachlose, Lahme, Arbeitsscheue und andere Gestörte. Nichts, was man in Gomorra derzeit auf offner Straße zeigen dürfte. Flitzer: Und was sind das für Typen? Notburga: Träumer, Denker, Schreiber, Musikanten. Fast lauter sogenanntes Kulturelles. Flitzer: Huoau! Phantastisch! Eine ganze Bank voll! Das ist ein Fressen für den Photographen! Stillhalten! In die Sonne schaun! – Ich danke. Ich dachte eigentlich an etwas frischere Gesichter. Sie kennen den Geschmack der Massen. Notburga: Nein, nicht so ganz. Nein, nicht so ganz. 220

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Flitzer: Die Redaktion der „Öffentlichen Meinung“ sucht für das Fest, das man zu Ehren unsres Hohen Gastes gibt, ein photogenes Kind, das etwas Glück in unsre Stadt Gomorra bringt. Notburga: Glück? Was ist das? Suchen Sie das hier? Flitzer: Nun ja, wir dachten, im Schlaraffenheim gibt es noch etwas, was das Herz der großen Masse rührt. Verstehen Sie? Notburga: Nein, nicht so ganz. Flitzer: Macht nichts, wir sehen uns ein wenig um. Notburga: Wo rennen Sie denn hin? Flitzer: Wir finden schon den Weg. Kommt mit! (Er winkt seinen photographierenden Kollegen und verschwin­det mit ihnen im Haupt­ gebäude. Notburga folgt ihnen empört.)

III Augustin (der sich bisher im Hintergrund gehalten hat, folgt seinen Kolle­gen nicht, sondern lehnt sich gegen eine Bank, steckt sich eine Z­igarette in den Mund und muß feststellen, daß er wieder einmal keine Streichhölzer bei sich hat. Darum wen­det er sich an die am nächsten sitzenden Asylanten und fragt): Haben Sie Feuer, einer von Ihnen? (Die Asylanten blicken einander beunruhigt an. Nur eine alte in Lumpen gekleidete Frau lächelt freundlich zurück.) 221

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Die alte Frau: Haben Sie eine Zigarette? Augustin: Oho! Bitte sehr. Nur Feuer habe ich keins. Die alte Frau: Keine Sorge. Ich habe eine ganze Sammlung von Zündern hier in der Tasche. Sehen Sie. (Sie öffnet ihre Tasche.) Augustin: Oho! Ein Streichholz genügt. – Danke. Rauchen Sie nicht? Die alte Frau: Nicht jetzt. Und auch nicht hier. Ich kenne das Mädchen. Das von dem Photo. Es heißt Gwendolyn. Augustin: Wie? Gwendolyn? Die alte Frau: Ein Katastrophenkind ohne Familie. Gastarbeiterin aus dem Norden. Die ist genau das, was Sie suchen. Augustin: Da, nehmen Sie die ganze Schachtel! Die alte Frau (nimmt die Zigaretten und ruft im Abgehen): Ich sorg’ auch, daß Sie niemand stört. Ich bin nicht von gestern. (geht ab)

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IV

„Rauchlied“ Augustin (setzt sich auf eine Bank, zündet sich eine Zigarette an und bläst Rauchringe in die Luft): Vielleicht – ph! vielleicht – phh! vielleicht – phhh! gelingt mir auch einmal so ein Ding

wie ein – ph! wie ein – phh! wie ein – phhh! ein Ring aus Rauch, ein Zigarettenrauchring,

der sich – ph! der sich – phh! der sich – phhh! als Schleife rund um meinen Atem schlingt und steigt – ph! und steigt – phh! und steigt – phhh! und ihn gesund hinauf ins Blaue bringt. (gesprochen:) So als eine Art Pulswärmer für meine Träume.

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V Die alte Frau (ist unterdessen, von Augustin unbemerkt, mit Gwendolyn wie­der aufgetre­ten und tippt ihm nun mit dem Finger auf die Schul­ter): Da ist sie. Hab ich zuviel versprochen? (Gwendolyns Äußeres läßt nicht erkennen, ob sie hübsch ist. Sie legt keinen Wert auf „adrette Erscheinung“ und macht einen herb saloppen Eindruck. Augustin wendet sich um, sieht Gwen­­dolyn und steht überrascht auf.) Die alte Frau (indem sie den Zigarettenstummel, den Augustin fallen ließ, auf­klaubt, löscht und in ihre Tasche steckt): Hoppla, hoppla! Jung und unvorsichtig. Wenn das die Feuerwehr erschnüffelt. Sie haben fünf Minuten Zeit. Dann müssen Sie wissen, ob sie die Richtige ist. (Sie geht nach dem Hintergrund ab, wobei sie den anderen As­y­lanten Zeichen macht, die beiden allein zu lassen.) Augustin: Sie heißen Gwendolyn? Gwendolyn: Ja, heiß ich. Augustin (zeigt ihr die Photographie): Ist das Ihr Bild? Gwendolyn: Ja, möglich. Augustin: Ich muß Sie etwas fragen. Gwendolyn: Ja. (setzt sich) Augustin: Es wird so eine Art von Interview. Gwendolyn: Gut.

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Augustin (nimmt einen Zettel und einen Bleistift aus der Tasche und setzt sich dann neben Gwendolyn): Sie sind geboren am … Gwendolyn: Weiß ich nicht. Augustin: Sie wissen’s nicht? Gwendolyn: Ehrlich. Ungelogen. Ich weiß es nicht, das können Sie mir glauben. Augustin: Ich? Die Leser müssen’s glauben. Sie sagen’s und es wird notiert. Gwendolyn: Gut, dann notieren Sie.

Ich bin auf diese Welt gekommen an einem dreißigsten Februar und kann mich nur ganz verschwommen erinnern, in welchem Land das war.

Ich hab’ auch keine Idee, wer mich an solch einem Tag – drinnen war’s warm und draußen lag Schnee – auf die Welt geschickt haben mag. Augustin: Ich glaub’s, aber wie soll ich das schreiben? Gwendolyn: Irgendwie hab ich mich zurecht gefunden, wählte selber mir einen Namen und fühlte mich nicht so sehr an die Welt gebunden wie die, die wissen, woher sie kamen. Augustin: An einem dreißigsten Februar?

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Gwendolyn: Vor beinah siebzehn Jahren. So steht es jetzt in der Großen Kartei. Augustin: Du bist die Richtige, Gwendolyn! Ich brauche nichts weiter zu fragen. Gwendolyn: Die Richtige? Wofür nur und für wen? Augustin: Sie werden die Glückslose ziehen auf dem Großen Feuerwehrball, und zwar mit verbundenen Augen. Gwendolyn: Mit verbundenen Augen? Wieso? Da würd’ ich ja nicht wissen, was ich tu. Augustin: So soll es sein. Das Glück hat keine Augen. Gwendolyn: Und ich, ich soll jemanden glücklich machen und die andern vielleicht alle ein bißchen unglücklich? Ich hoffe nur, daß ich den Richtigen treffe mit meinen verbundenen Augen. Denn am hellichten Tag wär’ ich nicht sicher, daß ich ihn fände. – Aber das müssen Sie nicht schreiben. Wer weiß, ob es wahr ist. Ich weiß es nicht. Augustin: Glückskind! Ich wollt’, ich könnte dich glücklich machen! Gwendolyn: Dann hören Sie auf, alles mitzuschreiben, und lassen die sinnlosen Fragen bleiben. Augustin (erhebt sich und steckt sein Schreibzeug in die Tasche): Mein Fräulein, ich danke Ihnen für dieses Interview. 226

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Gwendolyn (erhebt sich ebenfalls): Ich bitte, mein Herr, zu dienen. Augustin: Und jetzt sagen wir uns du. (Er legt seinen Arm um ihre Schulter und …)

VI

„Das Greisenlied“ (Aus dem Hintergrund haben sich während der vorhergehenden Szene wi­eder einige Greise und Greisinnen genähert. Sie hocken sich auf die um­stehenden Bänke, Stöcke zwischen den Knien, Ta­­­­schen auf dem Schoß, und beobachten die beiden, die allmäh­ lich hinter einem kleinen Wald von Topf­pflanzen, welche die jün­­geren Asylanten um sie stellen, verschwinden.) Chor der Greise und Greisinnen: Das kennen wir. Das kennen wir schon zur Genüge. Das haben wir, das haben wir ja früher selbst erfahren. Doch das vergeht schon mit den Jahren: Das ist die sogenannte, das ist die sogenannte, das ist die sogenannte Liebe. So nennt man doch die Sache mit dem Händedrücken und mit den stundenlangen Augenblicken, das martervolle Lustspiel ohne Pausen, voll Atemnot, Kniekehlenseufzern, Ohrensausen. Das kennen wir. Das kennen wir schon zur Genüge. Das haben wir, das haben wir ja früher selbst erfahren. 227

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Doch das beruhigt sich mit den Jahren: Das ist die sogenannte, das ist die sogenannte, das ist die sogenannte Liebe. Und schließlich kommt der eine Augenblick, in Illustrierten nennt man ihn das Glück. Danach beginnt die Uhr wieder zu ticken und die Ernüchterung folgt dem Entzücken. Das kennen wir. Das kennen wir schon zur Genüge. Das haben wir, das haben wir ja früher selbst erfahren. Doch alles legt sich mit den Jahren und auch die sogenannte, und auch die sogenannte und auch die sogenannte Lie…hi…hi… (Das letzte Wort endet in heiserem Husten.)

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Viertes Bild „Die Meinungsbildung“ In der Redaktion der „Öffentlichen Meinung“. Der größte Teil des Raumes wird einge­ nommen von einer unüberschaubar verwickelten Maschine, in welche von mehreren Fernschreibern Informa­tionen eingefüttert werden und aus deren Rückseite über ein Fließband fertige Tageszeitungen ans Licht kommen. Rechts eineTüre, die ins Zimmer des Chefmanipulators führt. Dieses ist durch einen Strang von dicken Leitungen mit der Meinungsmachmaschine verbunden. Links eine Tür, die über einen Windfang nach draußen führt. Ringsum an den Wänden hängen Plakate, Aktphotos und ein mit Bän­dern geschmücktes Bild des Hohen Gastes. Der Schreibtisch, an welchem Augustin und Flitzer Platz nehmen werden, steht im Vordergrund der Bühne.

I Chor der Meinungsmacher (auf den Schreibmaschinen hackend): Wir sind die „Öffentliche Meinung“, denn was wir meinen, das meint die Welt. Wir drucken den Orakelspruch des Säkulums, das alles von sich gibt und nichts für sich behält. Wir wissen ganz genau, was für Gomorras Volks das Beste ist. Zumindest meinen wir’s. Wir pressen hier aus der Maschine bei Nacht und Neon, was die Leute morgen bei Sonnenlicht behaupten und bezeugen werden, und was wir krähen, ist der dernier cri. Wir meinen Tag und Nacht. Es pocht der Puls der Zeit an unsre Ohren. Zumindest meinen wir’s.

Wir sind das Bruthaus aller neuen Eier.

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Worauf wir sitzen, kann man zwar nicht sehn, doch wenn es auskriecht, kriegt es einen Namen, und was es fordern wird, das wird geschehn. Wir meinen’s gar so gut, daß man es gar nicht besser meinen kann! Zumindest meinen wir’s.

II (Augustin, Flitzer und Gwendolyn treten auf.) Müller-Machenschafft: Jetzt kommen Sie daher, wo alles schon im Roll’n ist? Wer ist das? Wie sieht die denn aus? Das soll doch nicht etwa … Sag’n Sie, soll das etwa die sein, die wir suchen? Augustin: Hier ist das Bild. Hier sind die Maße. Hier die Daten. Der Große Manitou persönlich hat gesprochen. Müller-Machenschafft: Blond allein genügt nicht, Mensch! Dafür haben wir Perücken. Sie haben keinen Tau vom Geschmack der Massen. Augustin: Was gibt es, was man in Gomorra nicht machen könnte, daß es schmeckt? (zeigt auf die Mädchenbilder an den Wänden) So oder so? Wie wollen Sie sie haben? Flitzer, hol den Visagisten! (Flitzer läuft ab.) Müller-Machenschafft: Was? Nennen Sie das Mitarbeit? Augustin: Freie Mitarbeit, darauf besteh’ ich. 230

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Müller-Machenschafft: Sie werden bald von Ihrer Freiheit mehr bekommen, als Sie brauchen können. Stimme aus dem Lautsprecher: Herr Chefredakteur Müller-Machenschafft, bitte, zum Chefmanipulator! Müller-Machenschafft: Ich komme! (Augustin versucht ein Lachen zu unterdrücken.) Was? Sie lachen? Ich versteh’ Sie nicht. Verstehen Sie sich selbst? Ich will nicht hoffen. Stimme aus dem Lautsprecher: Herr Chefredakteur Müller-Machenschafft! Müller-Machenschafft: Ja, ich komme. Sie kümmern sich zu wenig um den Lauf der Welt. Sie hocken mir zuviel bei der privaten Lampe. Sie merken nicht, daß auf Gomorra jetzt ein Auge fällt, und zwar kein kleines. Stimme aus dem Lautsprecher: Herr Chefredakteur Müller! Müller-Machenschafft: Ich komme schon! (auf Gwendolyn deutend:) Hinaus mit dieser Vogelscheuche! Ich gebe Ihnen eine Stunde Zeit. Bis dahin haben Sie das Nummerngirl gefunden. Und wenn nicht, … Stimme aus dem Lautsprecher: Herr Müller! Müller-Machenschafft: Yaaah! (läuft nach rechts ab)

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(Von links kommt Flitzer mit einem Schwarm von Maskenbild­nern und Schneidern. Diese machen sich an Gwendolyn zu schaf­fen.) Gwendolyn: Was wollen die von mir? Flitzer: Die werden eine Gomorranerin aus Ihnen machen. Sie werden sich nicht wiedererkennen. (Gwendolyn wird von den Maskenbildnern und Schneidern abg­eführt.)

III Chor der Meinungsmacher: Wo bleiben die Informationen, die Nummern, Namen, Fakten, Fristen, die Glaubensgüter der Millionen, die Mengen, Massen, Längen, Listen? Bald ist der Tintenkreislauf trocken. Die Meinungsmachmaschine kommt ins Stocken.

Die Wunderwerke der Epoche, die Quanten, Quoten, Preise, Posten, das Lebensziel der nächsten Woche, die Daten, Doten, Kurse, Kosten. Bald ist der Tintenkreislauf trocken. Die Meinungsmachmaschine kommt ins Stocken.



Wo bleiben die Informationen, die Ziffern, Zahlen, Zinsen, Zeiten, das Futter für die Druckkanonen, Profite und Verbindlichkeiten? Bald ist der Tintenkreislauf trocken. Die Meinungsmachmaschine kommt ins Stocken.

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„Das Lob der Faulheit“ Augustin (nonchalant an seinem Schreibtisch lümmelnd): Wer gar nichts tut, der kann auch nichts verderben. Flitzer: Ja, ja, allerdings, jedoch … Augustin: Wer meistens schläft, muß selten dafür sterben. Flitzer: Ja, ja, allerdings, wenngleich … Augustin: Wer sich nicht selbst ausgibt, den kann man nicht besitzen. Flitzer: Ja, ja, allerdings, obzwar … Augustin: Wer nichts verzapft, verzapft auch keine Lügen. Flitzer: Ja, ja, allerdings, indes … Augustin: Wer niemals kämpft, den kann man nicht besiegen. Flitzer: Ja, ja, allerdings, wenn auch … Augustin: Wer niemals schwitzt, verkühlt sich nicht so leicht. Flitzer: Ja, ja, allerdings, trotzdem … Augustin: Wer nichts begehrt, hat alles schon erreicht. Flitzer: Ja, ja, allerdings. Ich wollt’, so ging’s.

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IV Valentina (stürmt herein): Was hab ich da gehört? Ich werde übergangen? Ich werde nicht einmal gefragt? Noch gestern war ich das Gesicht der Woche und heute bin ich nicht mehr blond genug? Augustin: Wer spricht von blond? Blind muß man sein. Valentina: Blind bin ich nicht so sehr, um nicht zu sehn, was da gespielt wird. Augustina: Valentina, laß dir erklären … (Gwendolyn tritt auf, völlig entstellt durch Schminke und Klei­dung, gefolgt von Schnei­dern und Maskenbildnern.) Valentina (wird angesichts der Aufmachung Gwendolyns von einem Lach­anfall ge­ schüttelt): Das also ist der neue Schlager! Ein auftoupiertes, parfümiertes Suppenhuhn! Ich finde keine Worte! Ich bin sprachlos! Flitzer: Sprachlos? Stumm! Das haben wir vergessen. Das ist das Wichtigste von allem. Augustin: Die Chance muß ich nützen, hör mir zu … Valentina: Das wird mir nicht so bald ein zweites Mal passieren, daß es ein Kerl wie du schafft, mich aufs Kreuz zu legen. Den Honig kannst du mir nicht in die Ohren schmieren. 234

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Das wird mir nicht so bald ein zweites Mal passieren!



Ab heute gehn wir zwei auf sehr verschied’nen Wegen, denn ich laß mich von dir nicht an der Nase führen. Und bilde dir nicht ein, ich kränk’ mich deinetwegen.



Das wird mir nicht so bald ein zweites Mal passieren! (läuft ab)

V Augustin: Bist du das wirklich, Gwendolyn? Wie haben sie dich zugerichtet! Heul nicht, sonst zerrinnt die Schminke! Müller-Machenschafft (stürzt aus dem Zimmer des Chefmanipulators): Sehr gut, das Girl! Ganz ausgezeichnet! Wo haben Sie das her? Phänomenal! Umdrehen! Eine Augenweide! Gestempelt und genehmigt. Keine Widerrede! Schafft Platz dafür auf Seite eins! (Das Telephon klingelt.) Flitzer (hebt ab): Hier spricht die „Öffentliche Meinung“. (Man hört aus dem Telephonhörer leise, aber drohend klingen­de, unverständliche Wort­ kaskaden.)

Wo brennt’s? Wie bitte? 235

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Augustin: Verzeih mir, Gwendolyn. Flitzer: Da ist ein Irrer in der Leitung. Er sagt, er will die Stadt anzünden, und zwar an allen vier Ecken zugleich. (Nach einem Augenblick der Erstarrung beginnt Müller-Ma­chen­­­schafft zu lachen. Nach und nach stimmen die Meinungsma­cher, außer Augustin, in das Gelächter ein.) Augustin (reißt Flitzer den Hörer aus der Hand und ruft hinein): Hallo! – Hallo! – Hallo! Wer spricht denn dort? (Keine Antwort aus dem Hörer.)

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Fünftes Bild „Der Feuerwehrball“ Der große Festsaal der Stadt Gomorra. Ein Teil des Orchesters geht über seitlich ange­­brachte Treppen auf die Bühne, nimmt dort auf einem Podium als Ballkapelle Platz und spielt eine beschwingte Polka. Von einer Empore blickt der Hohe Gast zusammen mit dem Präsentator auf das Gewühl der tanzenden Paare.

I Präsentator: Sehen Sie, Exzellenz, die bunte Pracht! All dies junge, feurige Blut! Die wehenden Fahnen der Mädchenkleider! Die Lackschuhe, Frackschöße, Uniformen … Valentina (tanzt mit Augustin vorüber): Du Schuft! Präsentator: Die kühl funkelnden Kolliers, die goldglänzenden Orden von Gomorras Honoratioren! Valentina (tanzt mit Augustin vorüber): Du Schuft! Präsentator: Gibt es einen erhebenderen Anblick für ein weitblickendes Auge wie das Ihre? Greifen Sie zu, Exzellenz! Das ist Ihr Volk, der Rohstoff für Ihre Pläne! Valentina (tanzt mit Augustin vorüber): Du schäbiger Schuft! (Der Tanz ist zu Ende. Die Paare trennen sich.)

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II (Das Bühnenorchester stimmt ganz leise seine Instrumente.) Augustin: Valentina, ich muß dir erklären … Valentina: Ich will nichts mehr hören, du Schuft! Du kannst dich zum Teufel scheren! Augustin: Bleib nur einen Augenblick stehn. Valentina: Für mich bist du dünner als Luft, so als wärst du gar nicht vorhanden. Augustin: Versuche, mich doch zu versteh’n … Valentina: Ich hab dich längst schon verstanden. Willst du mir die Schulter ausrenken? Augustin: Valentina, wenn ich dir doch sage … Valentina: Sag’s nicht, ich kann es mir denken. Augustin: Ich war einfach nicht in der Lage … Valentina: Du sagst es und drum ist es aus. Augustina: Valentina, jetzt hör endlich auf! Valentina: Es hängt mir zum Hals heraus! Augustin: Was? Valentina: Mein Herz mit deinem Monogramm darauf! (Sie macht sich los und läuft davon.) 238

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III (Die Kapelle beginnt einen allseits beliebten Schlager zu into­nieren. Applaus. Der Feuerwehrhauptmann Rochus Gerwalt erklimmt im Übermut der Stimmung unter dem Gejohle des Publi­kums das Podium und grölt ins Mikrophon.) Feuerwehrhauptmann: Früher war man den Wolkenbrüchen ausgeliefert, Gott und den Lawinen. Man half sich mit Regenschirmen und Sprüchen. Nun helfen uns die Maschinen.

Sie schützen uns vor wilden Tieren, Erdbeben, Seuchen, dem Ungewissen. Nun kann uns nichts mehr passieren, als was wir selber beschließen.

Drum könnt ihr’s euch gemütlich machen, nun wird euer Angstschweiß entbehrlich, weil euch unsre Sirenen bewachen. Nun seid nur ihr selbst noch gefährlich. Alle im Chor: Nun können wir’s uns gemütlich machen, nun wird unser Angstschweiß entbehrlich, weil uns unsre Sirenen bewachen. Nun sind nur wir selbst noch gefährlich.

Wir brauchen auf nichts mehr zu verzichten. Wir haben ein Recht auf die Welt, denn wir können sie vernichten, wenn sie uns nicht mehr gefällt.

(Allgemeines Johlen und Schunkeln.)

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IV Präsentator: Tusch! (Die Kapelle spielt einen Tusch. Die Ballgäste glotzen einander überrascht und ernüchtert an.) Lichtwechsel! (Das Licht wird abgedunkelt. Nur ein heller Scheinwerfer be­leuch­­tet eine seitliche Flügeltür.) Das Glück pocht an die Tür. Öffnet sie weit! (Die beiden Türflügel werden geöffnet. Gwendolyn betritt mit ver­bundenen Augen den Saal. Ringsum herrscht gespannte Auf­merksamkeit, als sie sich mit ausgestreckten Armen durch die Men­ge tastet, um sich dem Podium, auf welchem die Schale mit den Losen aufgestellt ist, zu nähern. Immer wenn sie eine fal­sche Richtung einschlagen will, wird sie von den Umst­e­hen­den behutsam in die richtige geleitet.) Augustin (sucht sich ihr zu nähern und ruft leise): Gwendolyn! (Gwendolyn bleibt stehen, lächelt und geht zögernd weiter.) Präsentator: Darf ich um absolute Stille bitten. Das Glück ist unterwegs. Es möchte alle treffen, jedoch – es ist nur für einen bestimmt. (Gwendolyn ist bei der Schale mit den Losen angelangt, besinnt sich einen Augenblick, wühlt die Lose durcheinander und hält end­lich eines davon in der Hand.) Augustin (ruft leise): Gwendolyn! (Gwendolyn läßt das Los wieder fallen.)

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Präsentator: Stille, meine Herrschaften! Stille! Bedenken Sie: das Glück ist blind und muß sich ganz auf seine Fingerspitzen verlassen. (Gwendolyn zieht ein Los und hält es in die Höhe.) Präsentator (öffnet es und liest): 220 343! Der Gewinner (ein wohlgenährter Durchschnittsbüger, reißt sein Los in die Hö­­he und ruft): Getroffen! (Tusch, Jubel, Tumult, Erleichterung. Der Gewinner arbeitet sich zum Po­dium vor, wobei er schließlich sogar über Rücken und Schultern der Ball­gäste steigt. Kaum ist er auf dem Podium an­gelangt und hat den Scheck vom Präsentator entgegengenom­men, wird er auch schon von Meinungs­machern und Agenten um­­lagert und nach einem Augenblick lauernder Stille wie von wilden Tieren angefallen.) Flitzer und der Chor der Meinungsmacher: Mensch, Sie haben Schwein gehabt! Das nenn’ ich Glück! Da gratulier’ ich, Mensch! 1. Meinungsmacher: Was fangen Sie nun an? 2. Meinungsmacher: Was geben Sie nun aus? 3. Meinungsmacher: Wo steigen Sie nun ein? 1. Meinungsmacher: Was meinen Sie zum Wetter? 2. Meinungsmacher: Was halten Sie vom Fortschritt? 3. Meinungsmacher: Was sagen Sie zur Außenpolitik? 1. Meinungsmacher: Ihr Kommentar zur allgemeinen Lage! 241

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2. Meinungsmacher: Ihr Kommentar zu der Theaterkrise! 3. Meinungsmacher: Ihr Kommentar zur Kunst von heute! Flitzer und der Chor der Meinungsmacher: Mensch, Sie haben Schwein gehabt! Das nenn’ ich Glück! Da gratulier’ ich, Mensch! Der Gewinner (halb verlegen, halb indigniert): Aber, meine Herren, ich bitte Sie! Chor der Agenten: Wieviel verlangen Sie für Ihren Namen? Der hat jetzt einen guten Klang. Da hört man gleich die Kassen klingeln. Flitzer: Wie heißen Sie denn eigentlich? Chor der Agenten: Sie sollten groß in Schaumgummi einsteigen! Die Kunststoffaktien steigen stündlich! 3. Agent: Was sagen Sie zu einer Wurstfabrik? 2. Agent: Wie wär’ es jetzt sofort mit Bankgeschäften? 1. Agent: Kunststoffhandel! 2. Agent: Teppiche! 1. Agent: Versicherungen! 3. Agent: Wir raten Ihnen zur Bestattungsindustrie! Der Gewinner (echauffiert): Aber, meine Herren, ich bitte Sie! Flitzer und Chor der Agenten und Meinungsmacher: Ab heut sind Sie nicht mehr der kleine Mann da. Sie brauchen nichts zu zahlen, denn Sie können borgen, 242

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und Feierabend ist für Ihre kleinen Sorgen, denn hierzuland ist Geld die beste Propaganda. 1. Meinungsmacher: Trinken Sie gern? 2. Meinungsmacher: Rauchen Sie gern? 3. Meinungsmacher: Lieben Sie gern? Flitzer: Oder sehen Sie am liebsten fern? Flitzer und Chor der Agenten und Meinungsmacher: Das Geld ist hierzuland die beste Propaganda. Vertrauen Sie uns Ihren Scheck bis übermorgen, und was Sie wünschen, werden wir für Sie besorgen. Dann stehn Sie bald schon als ein großer Mann da. Der Gewinner (überwältigt): Aber, meine Herrschaften, ich bitte Sie ! Feuerwehrhauptmann: Valentina, wo bleibst du, du und die Blumen? (Er reißt die Blumen aus den umherstehenden Vasen, drückt sie Valentina in die Arme und schiebt sie dem Gewinner zu.) Lächle, Valentina, lächle und zeige deine beste Seite. Flitzer (photographierend): Darf man zur Verlobung gratulieren? Der Gewinner (versucht Valentina zu küssen): Mein Fräuleinchen, gestatten Sie?

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V Valentina (reißt sich los und wirft dem Gewinner die Blumen ins Gesicht. Sie funkelt vor Wut und Abscheu): Ich hab’ es satt! Ich hab’ es satt! Ich hab’ es bis zum Platzen satt! Ich wollt’ ich wär’ ein Granatapfelbaum! Vor Wut und Abscheu würde ich mich schütteln, daß meine Äpfel als Granaten alle auf einen Krach krepieren! Pfauh! So würd’ ich in die Erde fahren und einen solchen Krater reißen, daß darin diese Stadt Gomorra so abgrundtief versinken soll, daß man den Aufprall erst vernehmen wird, wenn dieser ganze faule Zauber verworfen und vergessen ist! So hab’ ich euch satt! So hab’ ich euch satt! Euch alle und jeden in Gomorra, dieser Steißgeburt von Stadt! (Sie läuft wutenbrannt ab.)

VI (Der Hohe Gast hat sich erhoben und macht Anstalten, den Saal zu verlassen.) Präsentator: Diese Jugend, Exzellenz, diese Jugend! Sie entzündet sich gar zu leicht! Feuerwehrhauptmann: Keine Angst! Ich werde den Hitzkopf schon kühlen. 244

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Präsentator: Aber, Exzellenz, Sie brechen doch nicht schon auf? Womit haben wir denn Ihr Mißfallen erregt? Sie werden uns doch jetzt nicht den Rücken kehren? (Vor den Fenstern des Ballsaals sieht man die Raketen eines vielfarbigen Feuerwerks in den nächtlichen Himmel steigen.) Präsentator: Tusch! (Die Kapelle spielt einen Tusch. Der Hohe Gast verläßt den Saal, der Prä­sentator folgt ihm händeringend.)

Exzellenz! Exzellenz! – Ich bin nicht zu trösten!

VII

„Das Feurio-Finale“ Der erste Bote (tritt atemlos auf, rempelt gegen den Präsentator, stolpert und fällt bäuch­lings in den Saal, rappelt sich wieder auf und brüllt): Feurio! Es brennt! Es bruzzelt! Es knistert! Es kracht! Es ist ein Brand ausgebrochen! Und zwar im Geräteschuppen, Pharisäer-Gasse Numero acht! (Er bricht zusammen.) Chor der Ballgäste: Pharisäer-Gasse Numero was? (Alle stürmen an die Fenster der linken Seite.) Der zweite Bote (tritt atemlos auf ): Feurio! Feurio! 245

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Es glüht! Es schwelt! Es flammt! Es funkt! Daß die Flammen zum Himmel stieben! Und zwar im Zeughaus Nabuchodonnossor-Straße Numero sieben! (Er bricht zusammen.)

Chor der Ballgäste: Nabuchodonnossor-Straße? Numero sieben? (Alle stürmen an die Fenster der rechten Seite.) Der dritte Bote (tritt atemlos auf ): Feurio! Feurio! Feurio! Es raucht! Es rußt! Es qualmt! Es glimmt! Ein ganzer Gebäudekomplex! Und zwar die Lochkartenfabrik Amalakiter-Graben Numero zwei bis sechs! Chor der Ballgäste: Amalakitergraben Numero zwei bis sechs? (Alle stürmen an die Fenster im Hintergrund.) Der vierte Bote (tritt atemlos auf ): Feurio! Feurio! Feurio! Feurio! Es flirrt! Es flammt! Es flimmert! Es flackert! Weil der rote Hahn auf dem Dache gackert! Die Leute sonder Hemd und Strümpf springen aus dem Warenhaus Sodomiter-Platz Numero fünf! (Er bricht zusammen.) Chor der Ballgäste: Sodomiter-Platz Numero fünf? (Alle stürmen nach vorn.)

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Feuerwehrhauptmann: Feurio! Feurio! Feurio! Feurio! Feurio! Ich glaub’ es brennt hier irgendwo! Chor der Ballgäste: Er glaubt, es brennt hier irgendwo! Feuerwehrhauptmann: Schnell, rafft eure Kleider zusammen, sonst steht ihr selber bald in Flammen! Chor der Ballgäste: Wir selbst in Flammen? Feuerwehrhauptmann: Das Feuer nagt schon an der Tür, und zwar im Feuerwehrhaus und das ist hier! Chor der Ballgäste (wild durcheinander schreiend): Feurio! Feurio! Feurio! (Alles drängt in wilder Flucht zu den Ausgängen, während im Hintergrund das Feuerwerk immer prachtvollere Blüten in den Nachthimmel malt.) Gwendolyn (die die ganze Zeit über verschreckt auf dem Podium gesessen ist, ruft le­ise): Wo bist du, Augustin? Augustin (nimmt ihr die Binde von den Augen): Ich bin bei dir, Komm! Nichts wie weg! Pause

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Sechstes Bild „Die Feuersbrunst“ Vor einem brennenden Warenhaus führen Hilarius, Valentina und die Zündler einen wilden Freudentanz auf. Im Hintergrund steigen noch immer vereinzelte Garben des Feuerwerks in den dunklen Himmel.

I Valentina, Hilarius und Chor der Zündler: Hijua, hijua, hijua, hijua … Funken und Fackeln, Feuer und Flammen, schlagt über gefälschten Waren zusammen! Hilarius: Bringt die Prestigeprojekte zum Brennen! Zerstrampelt das Dickicht der Fernsehantennen! Chor der Zündler: Bratet den protzigen Prunk! Hilarius: Brecht eine Bresche in die Produktionen! Valentina: Brandschatzt die Bruttoregistertonnen! Chor der Zündler: Verbreitet Asche und Stunk! Valentina und Hilarius: Bringt die prallen Pfründner zum Tanzen mit prasselnden Feuerprotuberanzen! Chor der Zündler: Funken und Fackeln, Feuer und Flammen, schlagt über gefälschten Waren zusammen! Bratet den protzigen Prunk! Verbreitet Asche und Stunk! Valentina und Hilarius: Hijua, hijua, hijua, hijua, hijua … 248

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Valentina, Hilarius und Chor der Zündler: Und wenn der Plunder zusammenbricht, macht uns der Zunder Wärme und Licht!

II Chor der Warenhäusler (abwechselnd einzeln und gemeinsam): Mein Hab! Mein Gut! Mein Hort! Mein Schatz! Mein Hemd! Mein Hut! Mein Grund! Mein Platz! Mein Ganz und Gar! Mein Ein und Alls! Und meine ganze Handelswar sind Opfer des Zerfalls! Valentina, Hilarius und Chor der Zündler: Hu! Hu! Hu! Hu …! Chor der Warenhäusler: Wo bleibt denn nur die Feuerwehr? Warum kommt sie nicht schnell daher und opfert sich mit Haut und Haar für unsre teure Handelswar’? (wieder abwechselnd einzeln und gemeinsam) Denn mein Besitz und Eigentum kommt in dem Fraß der Flammen um! Mein Nießnutz, Treuhand, Pacht und Lehen seh’ ich im Flammenwind vergehen! Mein Erbteil, mein Privatvermögen samt allen meinen Privilegien birst, schmilzt, verkohlt, verbrennt! Ich hab’ nichts mehr! Ich bin am End’!

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III (Aus der Ferne sind Hupsignale und Trillerpfeifen zu verneh­men.) Chor der Warenhäusler: Die Feuerwehr! Die Feuerwehr! Da kommt sie endlich doch daher! Sie haben es von fern gerochen, daß hier ein Feuer ausgebrochen. Auf ihrem feuerroten Wagen sieht man die Feuerleiter ragen. Sie stürzen sich in Qualm und Rauch mit ihrem Feuerwasserschlauch. Sie husten, hasten, rasen, rennen und doch wird alles niederbrennen. Zu spät, zu spät ist die Aktion! Die morschen Balken krachen schon! Valentina, Hiarius und Chor der Zündler: Funken und Fackeln, Feuer und Flammen schlagt über gefälschten Waren zusammen! (Mit kreischenden Bremsen sind die Feuerwehrwagen hinter der Szene zum Stehen ge­kommen. Die Feuerwehrleute stürzen her­bei.) Chor der Feuerwehrleute: Die Ordnung ist das Wohl der Welt. Zum Ordnen sind wir angestellt. Und für ein ordentlich Gehalt gebieten wir dem Chaos Halt mit Wasserwerfern und Gewalt. Feuerwehrhauptmann: Alles, was ist, ist gut, darum bewahren wir es vor Zerstörungswut. Alles, was noch nicht ist, ist schlecht. Darum verhindern wir’s mit Macht und Recht.

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Valentina, Hilarius und Chor der Zündler: Wie brennt, wie brennt das Haberstroh! So licht, so loh, so lichterloh! Und macht die Habenichtse froh!

Der Überfluß nimmt überhand, drum stecken wir die Stadt in Brand. Wie sich die Feuerzungen recken. Sie schlecken über alle Ecken! Die ganze Welt wird wieder gut, gereinigt durch des Feuers Glut. Durch nichts wird man so schnell erneuert, als wenn man alles, was man hat, verfeuert.

(Während das Schreien und Kämpfen der drei Gruppen seinem Höhepunkt zusteuert, beginnt das brennende Warenhaus plötz­lich in allen Fugen zu krachen.)

IV (In der unmittelbar darauf eintretenden Stille sieht man Augus­tin und Gwe­ndolyn, eng umschlungen, ganz als bemerkten sie nichts von dem Inferno, quer über die Szene gehen. Gwendolyn hat eine Schnur, an der ein blauer Luftballon schwebt, um ihren kleinen Finger gebunden.) Augustin: Schön ist der Sonnenuntergang hinter den Türmen und Dächern von Gomorra. Gwendolyn: Es ist schon Morgen, Liebster. Du träumst. Augustin: Dann muß es der Sonnenaufgang sein, der sich so schaurig rot in den Fenstern spiegelt.

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Gwendolyn: Ich glaub’, es ist ein Freudenfeuer irgendwo. Augustin: Auch schön … Heut’ nacht gefällt mir alles. (Ein fliegender Funke hat sich auf den Ballon gesetzt und bringt ihn mit einem Knall zum Platzen.) Valentina (auf Augustin deutend): Da ist er! Da ist er, der Schuft! Hilarius (abfällig): Wer? Der? Daß ich nicht lache! Valentina: Werft ihn ins Feuer, den Hundsfott! Und seine Schlampe auf den Scheiterhaufen! Feuerwehrhauptmann: Packt ihn! Ertränkt ihn! (Die Feuerwehrleute stürzen sich auf den verdutzten Augustin und knü­ppeln ihn nieder.) Gwendolyn (verzweifelt): Augustin! Augustin! Feuerwehrhauptmann: Kenn’ ich den nicht? Immer derselbe! Wo man hinschlägt, hält der den Kopf hin. Packt ihn und schleppt ihn davon! (Augustin wird im Tumult von der Bühne gezerrt, eben in dem Augenblick, in dem das Warenhaus mit gewaltigem Getöse zu­sam­­men­bricht.)

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Siebtes Bild „Die Weltflucht“ Im Gerätehaus der Feuerwehr liegen einige versehrte Feuerwehrleute auf Schläuchen und Sandsäcken. Augustin liegt im Vordergrund an ein Schlauchboot gelehnt. Sein Kopf ist mit dicken, weißen Binden umwickelt.

I Chor der Feuerwehrleute (wimmernd): O weh! O weh! 1. Feuerwehrmann: Das Feuer war so rot, so rot! Mein Kopf ist schwer, mein Schlauch ist leer, bald bin ich tot. Chor der Feuerwehrleute: O weh! O weh! 2. Feuerwehrmann: Das Feuer war so gelb, so gelb, die Leiter kurz, ich kam zu Sturz und fürcht’ dasselb’. Chor der Feuerwehrleute: O weh! O weh! 3. Feuerwehrmann: Das Feuer war orange, orange! Versichert zwar lebt’ ich zehn Jahr in dieser Branche. Chor der Feuerwehrleute: O weh! O weh!

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4. Feuerwehrmann: Mir schien das Feuer schwefelfarben! Vor Augen ward’s mir plötzlich schwarz. Nun leck’ ich meine Narben. Chor der Feuerwehrleute: O weh! O weh!

II Feuerwehrhauptmann (tritt auf ): An die Arbeit, Leute! Schluß mit dem Gestöhn’! Man kann ja sein eigenes Wort nicht verstehn. (Leise wimmernd verschwinden die Feuerwehrleu­te nach und nach durch eine Falltüre im Boden des Geräte­hauses.)

Junger Mensch, wir wollten im Grunde nur Ihr Bestes. Aber in einer so schnellebigen Zeit wie der unseren hat man eben viel Nervosität in den Händen. Vielleicht sollten Sie auch Uniform tragen, dann kennt man sich aus, ehe man zuschlägt. Und lassen Sie sich eines noch gesagt sein:



Auch wenn wir jetzt in den Untergrund gehn, wir gehen nicht unter, Sie werden schon sehn. Wir werden auch unter der Erde nicht ruh’n, sondern unsre Pflicht und Schuldigkeit tun.



Ab sofort werden wir die Gossen verstopfen und unermüdlich Tropfen für Tropfen von Gomorras Abwässern sammeln. Wir werden jeden Abfluß verrammeln.



Wir warten geduldig und schweigen unter den Bürgersteigen.

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Doch plötzlich kriechen wir wieder hervor aus einem finstern Kloakenrohr.



Und auch die kleinste, flüchtigste Flamme ersticken wir dann im Schlamme. Wir wachen und lauern, und schlagen wir zu, dann herrscht wieder Ordnung und Ruh’.



Das war’s, was ich Ihnen noch sagen wollte. (Er verschwindet hinter dem letzten Feuerwehrmann in der Versenkung und schließt über sich die Falltür.)

III Augustin: Ach, wenn ich nur wieder auf die Beine käme, barfuß wollt’ ich mich davonmachen! Nur, mit meinem verbundenen Kopf find ich den Ausweg nicht allein.

Mein Hirnkasten ist ein dunkler Schrank, ein versiegelter Andenkenladen mit wenig Luft und viel Gestank, ein Paradies für die Maden.



Historische Perücken hängen neben Kutten und Uniformen, Feuerwehrhelmen und Pyjamas in Mengen und Masken in allen Formen.



Und ein Gespenst oder auch Geist, der das Gerümpel verwaltet, hockt in der Ecke, blind und vergreist, und scheint vermorscht und erkaltet.



Doch jeden dreißigsten Februar beginnt er umherzuirren. 255

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Und alles, was einmal aus Silber war, versucht, ganz leise zu klirren …



IV

(Von draußen wird an das Tor des Gerätehauses geklopft, dann wird eine Glocke gezogen.) Augustin: Klirrt es? – Nein, es klingelt! (Das Tor wird geöffnet. Im Licht, das von draußen herein­dringt, steht Gwendolyn.) Gwendolyn: Augustin? Augustin: Gwendolyn? Gwendolyn: Augustin! Augustin: Gwendolyn! Gwendolyn (eilt auf ihn zu und umarmt ihn): Du Unglücksmensch! Augustin: Mein Glücksgespenst! Flitzer (ist mit einem großen Schirm bewaffnet hinter Gwendolyn ein­­­getreten und ver­sucht nun die beiden zu photographieren): Stillhalten, bitte! Beruhigt euch! Augustin: Geh zum Teufel, Flitzer! Stör uns nicht! Das hier ist nicht mehr für die „Öffentliche Meinung“. Flitzer: Der Meinungsmoloch hat sich überfressen. Er ist hin. Du mußt dir jetzt dein Brot woanders suchen. 256

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Augustin: Zeit ist’s, daß ich eine eig’ne Meinung bilde. Flitzer: Mach, was du willst. Ich muß zum Flugplatz waten. Der Hohe Gast hat sich entschlossen abzureisen. Augustin (zuckt die Achseln): Tja. Flitzer: Man kann in dieser Stadt kein Aug’ mehr schließen. Das Gaswerk steht schon knietief unter Wasser, der Müllverbrennungsofen qualmt und zischt, die Haifischflossen zischen durch die Gassen und um das Arsenal schäumt schon die Gischt.

Von Ruh’ und Ordnung ist nichts zu berichten. Geöffnet ist die Büchse der Pandora. Und auf das meiste daraus wollt’ ich gern verzichten, denn was zuviel ist, ist zuviel, auch in Gomorra.



Man kann in dieser Stadt kein Aug’ mehr schließen, weil alles, was nicht Stahl und Stein ist, brennt, und weil das Wasser, das sie aus den Schläuchen schießen, nicht Gut und Böse auseinanderkennt. (Er rennt ab, läßt aber in der Eile seinen Schirm liegen.)

Gwendolyn: He, vergessen Sie den Schirm nicht! Flitzer (zurückkehrend in höchster Eile): Ja, es wird demnächst eine schwarze Wetterfront erwartet. Mich halten die Geschäfte, aber ihr, ihr fahrt am besten ins Gebirge. Vielleicht dorthin, wo sie die alte Stadt ausgraben, dort in den Schwefelminen. Wie war doch gleich ihr Name? Augustin: Sodom? 257

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Flitzer: Sodom? Sodom. Meinetwegen. (will wegrennen) Augustin: He, wo rennst du hin? Flitzer: Wohin? Wohin? Ich hab den Überblick verloren. Doch es eilt auf jeden Fall. Macht’s gut, lebt wohl, bis später! (Er rennt ab und vergißt den Schirm endgültig.)

V Gwendolyn: Den Regenschirm … hat er vergessen. Augustin: Laß ihn laufen. Setz dich her zu mir. Gwendolyn: Es ist so feucht. Das Wasser steigt. Augustin: Laß es steigen. Setz dich her zu mir. Komm, mach die Augen zu und sag mir: Was bleibt uns beiden noch zu wünschen? Gwendolyn: Oh, vieles, Liebster, vieles, vieles … Augustin: Was zum Beispiel? Gwendolyn: Zum Beispiel wünsch’ ich mir, ich wär’ der ganze Himmel und könnt’ dich mit vieltausend Augen anseh’n und immer nur anseh’n.

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Mit meinen beiden kann ich mich nicht satt sehen an deinem Gesicht. Augustin: Oh, wenn das so ist, dann wünsch’ ich mir, ich wär’ ein großer Häuptling mit tausend rechtmäßigen Frauen, daß ich auf alle – oder doch auf die meisten – verzichten könnte nur dir zuliebe und mir nur mehr das Nötigste bliebe. Gwendolyn: Ich wünschte, ich hätte wie früher die Damen mindestens zwanzig Unterröcke, daß ich aus einem nach dem andern langsam heraussteigen könnte für dich und wäre schließlich nur noch ich. Augustin: Ich wünschte, ich hätte ein Warenhaus mit hundert offenen Fenstern, daß ich alles, was mein Herz nicht begehrt, in einem großen Happy-End beim Fenster hinauswerfen könnt’! Gwendolyn und Augustin (haben sich in das Schlauchboot gesetzt und Flitzers Regen­ schirm über ihren Köpfen geöffnet. Die langsam steigende Flut treibt sie, während sie singen, durch das offen stehende Tor davon): Wir wünschten, daß die ganze Erde und alles, was wir je besessen, versinke und zuschanden werde. Was uns betrifft, ist sie vergessen.

Und alle Wünsche, die wir dann noch haben, die sollen uns nicht mehr verführen, die woll’n wir mit der Welt begraben und viel gewinnen, wenn wir die verlieren.

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Achtes Bild „Die Schlammschlacht“ Eine Straße zwischen Ruinen. Verkohlte, qualmende Gegenstände liegen verstreut umher. Im Hintergrund sieht man den roten Widerschein der brennenden Stadt. Es hat begonnen zu regnen. Das Wasser steigt.

I Hilarius (tritt von links auf, gefolgt von Valentina und den Zündlern): Dreiviertel der Stadt haben wir angezündet. Wenn einer von euch noch ein Streichholz findet, dann stecken wir auch noch das letzte in Brand und leben hier in Gomorra als wie auf dem Land. Valentina: Du hast bestimmt etwas Großes im Sinn, drum machst du alles Kleinere hin. Ich kann dich zwar nicht ganz verstehn, doch würd’ ich für dich durchs Feuer gehn. Hilarius: Genug geschwätzt! Jetzt wird gehandelt, und was den Blick auf die Zukunft verschandelt, wird niedergerissen, gebrandschatzt, versengt, und was nicht brennen will, das wird gesprengt. Valentina: Ja! Ich spür’ es unterm Büstenhalter: Du bist ein großer Umgestalter! Jetzt werden wir alles anders machen Und wer nicht mitmacht, der hat nichts zu lachen. 1. Zündler: Ja, trotzdem hab’ ich schon ganz nasse Füß’. 2. Zündler: Ja, es gatscht und gluckst unterm Stiefel. 260

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3. Zündler: Ja, irgendwo ist eine Wasserleitung gebrochen. 4. Zündler: Ja, und es regnet auch noch zu allem Überfluß. (Mißmutig folgen sie Hilarius und Valentina, die in den Hin­tergrund gehen.)

II (Von der rechten Seite tritt der Gewinner auf, gefolgt von ei­nem Schwarm von Schmarotzern, die alle die gleichen Kra­wa­tten und Stroh­hüte tragen.) Der Gewinner: Also, wenn das hier aufhört zu rauchen, kann man das alles wieder brauchen. 1. Schmarotzer: Ja, aber ist der Grund nicht schon reichlich versalzen? Der Gewinner: Den muß man nur säuberlich niederwalzen, dann kann man zum Beispiel Melonen drauf züchten. Chor der Schmarotzer: Melonen, Melonen! Jaja, das könnte sich lohnen! Der Gewinner: Man braucht nur Phantasie und Courage. 2. Schmarotzer: Wie wär’s mit einer Meerettich-Plantage? 3. Schmarotzer: Der Boden ist so glitschig und weich. 4. Schmarotzer: Ich glaub’, wir stehen hier in einem Karpfenteich.

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III (Hilarius, Valentina und Zündler kommen zurück.) Hilarius: He da! Das ist ab heute mein Revier, drum rat’ ich euch: verschwindet von hier, sonst steigen wir euch Schmarotzern aufs Dach und hauen euch dort die Strohhüte flach! Chor der Schmarotzer: Seid auf der Hut! So etwas endet nicht gut. Bei allzu viel Mut Fließt am Ende noch Blut. Drum seid auf der Hut! Valentina: Ach, laß doch diese Waschlappen laufen. Hilarius: Nein, denen werden wir die Schneid abkaufen. Der Gewinner: Aber, meine Herren, ich bitte Sie! Verhandeln spart uns Energie! (Der Feuerwehrhauptmann und seine Truppe kommen aus den Kanälen hervor­gekro­ chen. Sie sammeln sich auf der rech­­­­ten Seite der Bühne.) Feuerwehrhauptmann: Jetzt kommt hervor aus den Gehäusen und öffnet die verstopften Schleusen. Werft Wasser in das Kampfgetümmel, wascht diese ungewasch’nen Lümmel! Präsentator (kommt aus dem Hintergrund herbeigelaufen und sucht den Streit zu schlichten): Vertragt euch, gebt Frieden und rettet die Stadt! Hier gibt es für alle Mäuler genug. Wer Ruhe bewahrt, der wird hier auch satt,

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und schließlich kommt ein jeder zum Zug. Wir sitzen alle im selben Boot! Wenn einer strampelt, kommen alle in Not! Hilarius: Wir werden hier schon für Ruhe sorgen. Ihr müßt uns nur den großen Hammer borgen. Feuerwehrhauptmann: Das Wasser reinigt diesen Stall mit seinem ungehemmten Schwall! Hilarius: Schlagt zu! Die hauen wir jetzt in die Pfanne! Erst der Faustkampf macht den Menschen zum Manne! Der Gewinner: Aber, meine Herren, ich bitte Sie. Das ist ja reinste Anarchie! Präsentator: Was nutzt der Friedensdurst dem Frommen? Jetzt wird es doch zur Schlammschlacht kommen.

IV

(Zündler, Feuerwehrleute und Schmarotzer sind nach einem anfäng­lichen Aufmarsch­ ritual – Scharren am Boden, Ärmel­auf­­krempeln etc. – bald in einer immer wilder werdenden Straßen­schlacht ineinander ve­rkeilt. Wasser- und Flammen­wer­fer setzen schließlich den Kampf in der Luft fort, während langsam die Flut immer höher steigt.) Feuerwehrhauptmann: So bald sollt ihr diese Stadt nicht begraben. Das Ganze wird noch ein Nachspiel haben.

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Neuntes Bild Nachspiel

„Der Untergang Gomorras“ Auf dem Hauptplatz von Gomorra ist ein riesiger Haufen von Möbeln, Fahrzeugen und Maschinen aufgetürmt. Obenauf thront ein startbereiter Hubschrauber. Der Hohe Gast steht auf der Gangway und läßt sich vom Präsentator beim Anlegen einer phantasievol­len Fliegermontur behilflich sein. Im Hintergrund erhellt die verlöschende Glut des Stadt­brandes den Horizont über den verkohlten Ruinen. Während die Flut langsam steigt, suchen sich die verängstigten, vom vorhergegangenen Kampf gezeichneten Bür­ger von Gomorra – Feuerwehrleute, Brandstifter, Schmarotzer, Mei­­nungs­macher und Asylanten, alle in gleicher Bedrängnis – dadurch in Sicherheit zu bringen, daß sie auf Mauerreste, Möbel, Fahrzeuge und schließlich sogar auf die Schultern ihrer ertrinken­den Nachbarn klettern. Für eine kurze Frist sichern sich die Honoratioren noch ein­mal die besten Plätze. Schließlich suchen einige sogar am Hubschrauber rettenden Halt, werden jedoch vom Hohen Gast freundlich, aber unerbittlich abgewiesen.

I Chor der Ertrinkenden: Uns wird so zweierlei zumut. Wir fürchten fast, dies end’t nicht gut. Man kennt den Freund nicht mehr vom Feind, was uns doch sehr bedenklich scheint. Das Wasser steht uns bis zum Knie! Das Schiff der Stadt hat Havarie! Präsentator: Exzellenz, da Sie uns so unbedingt verlassen müssen, da wichtigere Geschäfte Sie von uns rufen, gerade heute und sofort und mir nichts, dir nichts – wir machen Ihnen natürlich keinerlei Vorwürfe, Exzellenz, 264

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Sie haben Ihre Richtlinien und Vorschriften wie alle, das steht außer Zweifel – aber lassen Sie uns, Exzellenz, hier und jetzt, Ihnen unsere allerletzten Bittschriften unterbreiten, während Sie die Gangway hinaufschreiten und wir im Argen liegen. Chor der Ertrinkenden: Uns wird so zweierlei zumut. Wir fürchten sehr, dies end’t nicht gut. Der kalte Schlamm aus Schutt und Asche rinnt uns schon in die Hosentasche. Das Wasser steht uns bis zur Brust! Schad’ ist’s um uns! Welch ein Verlust! Der Gewinner: Die Luft ist so dick vom Qualm und Rauch! Naß ist mein Hemd und klebt mir am Bauch! (Er geht unter und ertrinkt. Die Ertrunkenen treiben unter Was­ser, zu­nächst kaum bemerkbar, langsam hin und her. Daraus ent­steht nach und nach eine Choreographie, die sich zu einem grotesken Unterwasser-Ballett gestaltet.) Valentina: Vor Wasser und Schlamm fürcht’ ich mich mitnichten, nur auf den Frost könnt’ ich gerne verzcihten. (Sie geht unter und ertrinkt.) Hialrius: Ich geb’ nicht auf, solang ich lebe, weil ich immer aus dem Dunkeln zum Licht emporstrebe! (Er geht unter und ertrinkt.) Chor der Ertrinkenden: Das Wasser steht uns bis zum Kragen! Bald haben wir nichts mehr zu sagen! Präsentator: Verlassen Sie uns nicht, Exzellenz, ohne unsere Bitten anzuhö­ren! Versagen Sie uns nicht Ihre Fürsprache höheren Orts! Wir würden eine große Zahl von Dingen benötigen, Exzellenz, davon viele sehr dringend, die anderen sofort, alle aber unbedingt, denn wir haben schon vieles verloren. 265

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Unsere Not ist sehr groß, es mangelt uns an fast allem. Das ist sehr viel, aber bedenken Sie, Exzellenz, was wir schon alles besessen haben! Chor der Ertrinkenden: Uns wird so zweierlei zumut. Jetzt ist’s gewiß: dies end’t nicht gut. Die hohen Herren sind aus dem Wasser, der kleine Mann wird immer nasser. Feuerwehrhauptmann (auf den Schultern seiner Untertanen stehend): Auch dem Besten kann einmal etwas mißglücken. Ihr müßt euren Kleinmut unterdrücken, den Gürtel enger schnallen, euch am Riemen reißen, und wer noch Zähne hat, muß sie zusammenbeißen! Chor der Ertrinkenden: Das Wasser schwappt uns bis zum Kinn, wenn’s höher schwappt, dann sind wir hin! Feuerwehrhauptmann: Wir haben schon Schlimmeres überstanden. Solange wir steh’n, ist Gomorra noch nicht zuschanden! (Er fällt, geht unter und ertrinkt. Mit ihm fallen und ertrinken die letzten Go­ mo­r­raner.) Präsentator: Sie finden alle unsere Wünsche auf diesen Listen verzeichnet, trotzdem, Exzellenz, trotzdem, ich bin fast sicher: irgend etwas haben wir wieder vergessen. Irgend etwas fehlt eben immer. Ich wollte, ich könnte Ihnen sagen, was, Exzellenz. Und wenn man es dann vermißt, dann war es das Wichtigste von al­lem. Leben Sie wohl, Exzellenz, und schauen Sie herab auf unser Elend. Lassen Sie uns nicht los mit Ihren Augen. Wir warten, wir warten, wir sind voller Vertrauen auf die Obrigkeit. Ach, schicken Sie uns, wenn es sich machen läßt, schicken Sie uns von Zeit zu Zeit ein Zeichen … ein Zeichen … ein Zeichen … (Er geht unter und ertrinkt.) 266

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Der Hohe Gast (hat die Listen übernommen, blättert sie mit dem Daumen durch wie ein geschickter Spieler einen Stoß Karten, besteigt dann den Helikopter und schließt die Luke. Der Lärm des Propellers über­tönt die letzten gurgelnden Hilfeschreie. Nachdem der Mo­tor mehr­mals abgestorben ist, erhebt sich der Hubschrauber doch end­lich in die Lüfte und entschwindet im Schnü­r­boden. Im Hintergrund der von den Wassern überschwemmten Szene sieht man währenddessen ein kleines Schlauchboot vorübertrei­ben. Darinnen sitzen eng umschlungen unter einem aufgespann­ten Regenschirm Augustin und Gwendolyn und singen welt­ ve­r­gessen.) Augustin und Gwendolyn: Von allen Wünschen, die wir je empfanden, ist uns nur noch der eine Wunsch geblieben: wir könnten weiter, ohne je zu landen, so wunschlos treiben und uns ewig lieben. (Eine weiße Wolke von tausend kleinen, zerrissenen Papier­schnit­zeln senkt sich von dort, wo eben der Helikopter ver­schwun­den ist, auf die versunkene Stadt Gomorra herab. Es sieht aus, als ob es schneite. Der Tanz der Ertrunkenen kommt all­mäh­lich zum Erliegen. Die Darsteller erstarren. Das Licht erkaltet. Dämmerung. Gestirne spiegeln sich auf dem vereisten Wasser. Gomorra ist versunken.)

Ende

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Thomas von Ercildoune Schauspiel für Musik in vierzehn Bildern von Richard Bletschacher

Erste Fassung: Wien, im Sommer 1977 Zweite Fassung: Drosendorf, im Sommer 1984

Personen der Handlung Thomas Learmont von Ercildoune, genannt der Reimer Die Fee Die Gräfin von March und Dunbar Die alte Moragh Janet, eine Frau aus dem Dorf Isobel, ihre ältere Tochter Alison, ihre jüngere Tochter Fergus, ihr Sohn Colum, Isobels Mann Der alte Rory Gavin Ian Sim Samond, ein Diener der Gräfin Der Wirt Die Stimme des Türmers Chor der Dorfbewohner, unsichtbare Feenstimmen Thomas Learmont, die Fee und der Türmer sind ebenso wie der Chor mit Sän­ gern, alle anderen mit Schauspielern zu besetzen.

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Zeit der Handlung Die Bilder 1 bis 7 spielen im Jahre 1237, die Bilder 8 bis 11 im Jahre 1244, das zwölfte Bild spielt im Jahre 1286 und die beiden letzten Bilder spielen im Jahre 1293. Die Bilder 6 und 7 sowie 13 und 14 sind simultan, das heißt auf getrennten Schau­ plätzen gleichzeitig, zu spielen.

Ort der Handlung Das Dorf Ercildoune (heute Earlston) am Leader im südlichen Schottland, am Ufer des Huntley-Bachs unter dem Eildon-Baum und in den Wäldern der Um­ gebung.

Pause nach dem siebten Bild.

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Erstes Bild „Das Rondeau“ Das Wirtshaus in Ercildoune. Thomas Learmont, Rory, Ian, Colum, Gavin und mehrere Bauern, der Wirt. Die Bauern (betrunken grölend): Gesoffen hat er genug und geschlemmt, drum rülpst er als wie ein Ziegenfellschlauch. Der Sheriff hat sich vom Tisch hochgestemmt. Nun zupft er die Wirtin an ihrem Hemd und wälzt sich auf ihren rosigen Bauch. Gesoffen hat er genug und geschlemmt, drum rülpst er als wie ein Ziegenfellschlauch … Rory (schlägt sein Messer in die Tischplatte): Da steht der König von Schottland! Alexander heißt er und jeder, der eine Münze im Sack hat, kennt sein Gesicht und weiß, daß er keinen Spaß mit sich treiben läßt. Gavin: Steht aber nur auf einem Bein. Und wenn man ihm den Finger gegen den Kopf schnalzt, so, dann kommt er ins Wackeln. Colum: Weg mit den Pratzen vom Tisch! (schlägt sein Messer in die Tischplatte) Da steht der Lord von den Inseln! Ist Herr von Movern, Lochaber und Argyll, segelt den Clyde hinauf bis nach Glasgow und räumt die schottischen Taschen aus.

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Tausend solcher Münzen und mehr fallen, wenn er zupackt, ihm in die Hände. Gavin: Das gibt einen Tanz! Adam de Feure, Peter Haig, der Earl of Bemerside und der Viscount von Roxburgh heben das Bein. Thomas, wo bleibt die Musik? Rory: Gib Frieden, Gavin! Hast einen Kamm ganz rot geschwollen vom Saufen. Setz dich auf deinen sommersprossigen Arsch! Ian (schlägt sein Messer in die Tischplatte): Da steht der König von Norwegen! Dem gehören die hebridischen Inseln. Ich setz’ auf den. Denn wenn der nur eine Hand freibekommt aus seinen nordischen Raufhändeln, dann packt er euch alle am Kragen. Rory: Haben wir nicht seinerzeit seinen Onkel Somerled heimgeschickt mit einem Speer im Hals? Werden auch für ihn einen Prügel finden. Gavin (wirft den Tisch um): Da kommt der König von England! Edward heißt er und der wischt euch alle vom Tisch! So! Der Wirt: Schluß jetzt mit dem Politisieren! Was versteht ihr Strohschädel schon von der Welt? Trinkt eure Becher aus und gebt Frieden! Thomas: Ja, gebt Frieden und vor allem: zahlt eure Zeche. Und zahlt auch die der hohen Herren, die eure Schafe an ihren Bratspieß stecken, die Schafe, die Rinder und eure Weiber dazu. 272

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Ian: Was will der Singvogel? Gehört der zu uns? Colum: Er wird sich noch einmal das Maul verbrennen. Ich schlag’ ihm die Harfe über den Schädel, Schlag’ ich, ehrlich, ich tu’s! Rory: Da kämst du ins Halseisen, Colum. Nicht einmal der König darf ihm den mageren Hals umdrehen, wenn ihm auch dreimal nicht paßt, was er singt. Alles, was er tun kann, ist, daß er ihm die Augen eindrückt, die Klimperfinger abhackt oder die Lästerzunge aus dem Maul reißt, aber das Singen in Schottland ist frei. Gavin: Das Singen in Schottland ist frei! Sing uns also von deinen freien Liedern eins, Thomas. Thomas (singt und begleitet sich auf der Harfe): Zwei Beine in raschelnden Röcken, die haben mich heute betört. Drum will ich mein Saitenspiel wecken, daß ihr es auch rascheln hört. Ich hab mir den Hals wund gesungen, sie zeigte sich wenig geneigt. Zwei Saiten sind mir zersprungen. Doch sie hat mir den Vogel gezeigt. Colum: Na also, er kann doch auch anders. Thomas: Kann, aber will nicht. Genug davon! Was wüßtet ihr von den Wundern der Welt, wenn einer wie ich sie euch nicht erzählte!

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Gavin: Ha, Wunder der Welt! Wo warst du, Thomas, wo wir nicht schon waren? Warst du vielleicht in Nachtigallien oder in Marzipannonien? Warst du da schon? Mit dem Maul ist leicht reisen, wenn man kein Maultier hat. Thomas: Heut’ oder morgen, wenn der Wind mich treibt, heut’ oder morgen werd’ ich sein, wo ich will. Schiffe gehen genug übers Wasser, überallhin. Zuvor aber sing’ ich euch noch ein kleines Rondeau, das solltet ihr als ein Andenken lernen an mich. (singt und begleitet sich auf der Harfe) Im Tweedfluß fängt man die Lachse mit Netzen, im Leader sticht man die bunten Forellen. Hört ihr sie nicht schon die Wurfspieße wetzen? Hört ihr denn nicht schon die Weckrufe gellen? Das Volk aber wird man mit Bluthunden hetzen. Aus den Wäldern kommen die finstern Gesellen. Unterdessen fangt ihr die Lachse mit Netzen, und stochert im Leader nach bunten Forellen. Ian: Ein Hundsfott ist das, ein hundsföttischer Kläffer. Colum: Wenn nur ein Wind käm’ morgen und dich dorthin trieb’, wo der Pfeffer wächst, Großmaul! Der Wirt: Schluß für heut’ mit dem bösen Geschwätz! Was kommen muß, kommt, und kommt früh genug. Ihr alle könnt es nicht hindern. Darum genug! Geht jetzt. Gut Nacht! (Der Wirt löscht die Lichter und treibt die Betrunkenen hinaus.)

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Zweites Bild „Der Stein“ Im Schlafgemach der Gräfin von March und Dunbar. Ein Bett, eine Lampe, ein hohes Fenster. Die Stimme des Türmers: Nun wachet auf! Es gehet an den Morgen. Lang hab’ ich euch bewahrt vor Sorgen, hab’ euch umschlungen schlafen lassen. Nun will der Venusstern erblassen, versunken ist der Große Wagen, der Morgen graut, bald wird es tagen. Die Gräfin: Schläfst du, Thomas? Thomas: Nein, ich schlafe nicht. Die Gräfin: Hab ich dich geweckt? Thomas. Ich habe nicht geschlafen. Die Gräfin: Hast du den Türmer singen gehört? Thomas: Es ist ein altes Lied. Die Gräfin: Mir war, als gält’ es uns. Thomas: Er singt es jeden Morgen. Die Gräfin: Die Nacht ist vorüber. Thomas: Wann hat sie begonnen? Ich hab sie kaum bemerkt. 275

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Die Gräfin: Es war nicht ihre Schuld. Sie war dunkel genug. Thomas: Es war die Schuld der Lampe. Ich hab’ kein Auge zugetan. Die Gräfin: Meine Schuld war es allein. Ich habe keine Kraft zu lieben. Thomas: Wer spricht von Schuld? Du bist nicht frei und ich bin allzu ungebunden. Die Gräfin: Du bist ein Narr. Und Narren gehen am Seil, auch wenn sie es nicht bemerken. Ich will das Fenster schließen. (Ein Steinwurf zertrümmert das Fenster und verletzt die Gräfin an der Stirn.) Ah! Thomas (eilt ihr zu Hilfe): Was war das? Ein Stein? Agnes, Liebste! Bist du verletzt? Die Gräfin: Nein. Es ist nichts … fast nichts. Man gönnt uns nicht, was wir uns nehmen wollen. Geh’, eh’ es zu spät ist. Geh’, beeil’ dich, du Narr! Thomas: Blut ist an dem Stein. Die Gräfin: Ein Tropfen, mehr nicht. Thomas: Agnes. 276

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Die Gräfin: Sprich nicht von Liebe. Nimm ihn. Und denk an mich. Geh! Leb wohl, du Narr! (Thomas steigt zum Fenster hinaus.)

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Drittes Bild „Der Abschied“ Thomas tritt aus seinem Turm, die Harfe geschultert, und schickt sich an, das Dorf Ercil­doune zu verlassen. Colum: Wo rennst du hin, Thomas? Du läufst ja nach Norden! Wohnt nicht der König von England in der anderen Richtung? Thomas: Colum, du Schandmaul, was du da redest, muß dir nicht lange mehr leid tun. Gern geh’ ich nicht, das wißt ihr, aber hier bleiben kann ich nicht mehr. Zu lange hab’ ich mich festgekrallt auf dem selbstgewebten Leintuch, auf das mich meine arme Mutter einst gelegt hat. Ich hab’ am Schmutz auf Ercildounes Straßen mehr Freude gehabt als anderswo an weichen Daunen und seidenen Kissen. Aber nun muß ich fürchten, daß mir eine Hornhaut über das Herz wächst, daß ich mit euch hier ersticke in der Wärme des eigenen Mists. Darum geh’ ich, ganz gleich wohin, und ihr, laßt euch ins Joch einspannen, ihr Ochsen, laßt euch das Fell abziehen, ihr Hammel, laßt euch die Klauen stutzen, ihr Kapaune, und sauft und johlt und prügelt einander das bißchen Hirn aus dem Schädel! Man muß kein Wahrsager sein, um vorherzusagen, was euch hier blüht, 278

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zwischen den Raubtieren wehrlos. Aber selber müßt ihr es schmecken lernen, was euch der Wind daherbringen wird. Mich seht ihr nicht wieder. Mag sein, ihr werdet hören von mir eines Tags, wenn ihr noch Ohren habt. Dann sollen die Mäuler euch offen stehn. Das sag’ ich, so wahr ich Tom Learmont heiße. Lebt wohl! Gavin: Geh, wenn du’s nicht lassen kannst, Wenn du’s anderswo friedsamer findest. Überall wird mit Feuer geschmiedet. Colum: Geh und verroll dich, du Großmaul! Wir werden die Straße hinter dir kehren. Isobel (herbei laufend): Was schreien sie da, Thomas? Du willst auf und davon? Ian: Ja, er will Fersengeld geben. War nie einer von uns, war immer ein andrer. Isobel: Wo will er hin? Nicht einen Pfennig besitzt er. In seinen Taschen kenn’ ich mich aus. Gavin: Er wird nicht allzu weit kommen. Isobel: Thomas! Niemand hat mehr Recht als du, in diesem Dorf und in deinem Turm zu wohnen. Thomas: Ich weiß, Isobel, ich weiß. Mein Urgroßvater hat ihn gebaut. Aber Streit ist nun im Dorf und Krieg ist im Land und Nachbarn werden zu Feinden. 279

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Leb wohl, Isobel, Du warst meinen Händen außer meiner Harfe das Liebste. Leb wohl! (geht ab) Isobel: Thomas! Gavin: Tröste dich, Isobel, einen wie den kannst du hinter jeder Schafhürde finden. Rory: Da geht er. Seine Nase zeigt mitten hinein in die Welt. Soll er sich dort die Hörner abrennen. Hier hat er schon lang nicht mehr gut getan, Ob es seine Schuld war oder unsre. Gavin: Komm, Isobel, plärr nicht. Es ist nicht das erste Mal, daß Tom Learmont sein Bündel geschnürt hat und die Harfe über den Buckel geworfen. Mit einem neuen Piebroch aus Fayle oder Roxburgh ist er immer noch wiedergekommen. Er hat nicht das richtige Schuhwerk für die langen, steinigen Wege.

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Viertes Bild „Der Eildon-Baum“ Eine Anhöhe unweit von Ercildoune. Thomas Learmont liegt im Gras unter dem Eildon-Baum am Ufer des Huntley-Baches und blickt hinab in das Tal. Thomas (singt und begleitet sich auf der Harfe): In diesem Dorf dort am Leader-Fluß, da deckt man die Hütten mit Stroh. Dort aß ich mein Brot bis zum Überdruß und war weder traurig noch froh. Und einen blühenden Dornrosenstrauch umarmte ich wie eine Braut, der hatte jedoch einen stachligen Bauch und zerkratzte mir elend die Haut. Lang hab’ ich Gespinste gewoben im Hirn, draus will ich nun ein Segeltuch spinnen, daß mich die Winde des Himmels entführ’n. und werde endlich zu leben beginnen. Die Fee (erscheint am jenseitigen Ufer des Huntley-Baches. Langes, blondes Haar fällt ihr über die Schultern. Sie trägt ein weit fließendes, grü­nes Gewand und führt einen Schimmel am Zügel): Schön singst du, Thomas von Ercildoune. Thomas: Was seh’ ich? Trau ich meinen Augen? Wer bist du, Mädchen. Bist du von hier? Die Fee: Wer ich bin? Weißt du das nicht? Thomas: Ich gäbe viel, wenn ich es wüßte. Bist du eine von denen, die heute mit dem Grafen von March aus Berwick kommen zum Jagen? 281

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Die Fee (lacht): Nein, Thomas, ich komme zu keinem anderen heut’ als zu dir. Ich ritt übers Feld und dachte an nichts und da hört’ ich dich singen. Und mein Pferd, das wandte den Kopf – es weiß, was mir wohlgefällt – und trug mich hierher, zu dir unter den Eildon-Baum. Dort weidet es auf der Wiese. Thomas: Dann komm näher und setz dich zu mir hier ins Gras. Schatten ist da genug für uns beide. Die Fee: Gern wollt’ ich, Thomas, gern, doch ich kann nicht. Thomas: Du kannst nicht? Warum? Die Fee: Das Wasser, der Huntley-Bach, trennt mich von dir. Thomas: Es ist nicht tief. Komm herüber. Die Fee: Ich kann nicht, Thomas, ich kann nicht. Thomas: Hast du Angst, die hübschen Zehen dir naß zu machen oder den Saum deines grünen Gewands? Die Fee: O Thomas! Ich darf nicht hinüber. Es ist ein fließendes Wasser. Thomas: Und was ist so Übles an fließendem Wasser? Die Fee: Frag nicht, Thomas. So ist es. 282

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Thomas: Ich Narr! Jetzt versteh’ ich! Ich Narr! Die alte Moragh hat oft davon gesprochen und ich, ich hab’ gelacht. Doch nun weiß ich auch, wer du bist. Die Fee: Sagt’ ich es nicht. Du kennst mich. Und nun komm und trag mich hinüber. (Thomas springt über den Bach, hebt die Fee vom Pferd und trägt sie über den Huntley-Bach. Im Schatten des Eildon-Baumes setzt er sie behutsam ins Gras.) Die Fee: Oh, du bist stark, Thomas, stark! Aber was wird nun aus meinem Pferd? Thomas: Das zu tragen, bin ich nicht stark genug. Laß es grasen. Hier in der Runde gedeiht das grünste Gras an der schottischen Grenze. Die Fee: Gsss! Gsss! Lauf mein Pferd, Lauf, lauf auf die Weide! (Der Schimmel entfernt sich.) Und nun setz dich zu mir, Thomas Learmont. Sing mir eines von deinen Liedern. Grünes Gras und Musik, die stimmen gut zueinander. Thomas: Wenn du meinst, wenn du es wünschst, wenn es dich freut, wenn du mich bittest. Ich sing’ dir das Drossellied. (singt und begleitet sich auf der Harfe) Geschlafen hast du im grünen Gras, auf meinen Mantel gestreckt. 283

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Geträumt hast du wohl, ich wüßte gern, was, da hat dich die Drossel geweckt. Zizirilí zizilí ziriló ziziwigí zazári pschizó gízigi zízigo wó Die Drossel, die Drossel, die hat dich geweckt. Steh auf und blicke mir ins Gesicht. Die Grashalme streif vom Gewand. Erinnerst du dich meiner Küsse nicht, entsinnst du dich nicht meiner Hand? Zizilí zizilí ziriló ziziwigí zazarári pschizó gízigi zízigo wó Die Drossel, die Drossel, die hat dich geweckt. Nun siehst du mich so verwundert an, als wüßest du nicht, wer ich bin. Du bist eine Frau und ich bin ein Mann. Das ist von dem Liede der Sinn. Zizilí zizilí ziriló ziziwigí zazazári pschizó gízigi zízigo wó. Die Drossel, die Drossel, die hat uns entdeckt. Die Fee: Ach, Thomas, das ist ein hübsches Lied und hübsch hast du es gesungen. 284

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Thomas: Und du denk’ nun auf einen hübschen Lohn. Die Fee: Davon, Thomas, davon reden wir später. Thomas: Nein, gleich und genau will ich es wissen. Die Fee: Wenn du klug bist, Thomas, singst du nur, um zu singen. Thomas: Kein Vogel würde singen im Wald ohne auf den einzigen Lohn zu hoffen, der die Lust in ihm weckt zum Gesang. Die Fee: Und was wäre denn dieser Lohn? Thomas: Neig dich zu mir, schönhalsiges Wesen, und zahl mir den Lohn auf die Lippen. Die Fee: Weißt du auch, törichter Thomas, mit wem du da im Gras liegst unter dem Eildon-Baum? Thomas: Ich weiß es und ich weiß es nicht. Die Fee: Eh’ du mich küßt, sollst du’s erfahren. Ich bin eine Frau aus dem Feenland. Wenn du mich küßt auf meinen Mund, vergißt du alles, was je du gekannt und bist selbst verloren mit dieser Stund’. Du wirst mit einem Mal dein Dorf, du wirst die Täler des Tweed, du wirst die Steine von Schottland, die Freunde, die Frauen, du wirst sogar die Harfenmusik

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und alles, was dir lieb war, in diesem einen Kuß vergessen. Du folgst mir dann ins Land der Feen und wirst für sieben lustvoll lange Jahre die Welt der Menschen nicht mehr sehen. Bedenk es, Thomas, eh’ ich dir willfahre. Thomas: Oh, laß mich siebenundsiebzigmal mit meinen Armen dich umschließen und immer noch und noch einmal dir Mund und Stirn und Augen küssen. Die Fee: Dann komm und neige dich zu mir. Nimm mir den Atem aus meinem Mund. Küß mich und sei geküßt von mir. Denk nie in Reu’ an diese Stund’. (Thomas küßt die Fee. Sie sinken beide ins Gras.) Thomas: Wer war ich einst? Was ist mit mir geschehen? Die Fee: Nun bist du mein. Nun mußt du mit mir gehen. Thomas: Mir ist, als wär’ ich aus der Welt gesunken und hätte nichts mehr, was ich je besessen. War’s Glück, war’s Grauen, was ich da getrunken? Bin ich erlöst nun oder selbstvergessen? Die Fee: Du bist versunken, um dich zu erheben, du hast vergessen, um dich zu entsinnen, du bist gestorben, um ein neues Leben verwandelt und getröstet zu beginnen. Thomas: Als meine Liebe einst zu dir begann,

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da stand die ewige Welt noch nicht. Denn dich hab’ ich vor aller Zeit gekannt. Die Fee: Dann komm mit mir und vertrau meiner Hand. Steh auf und blicke mir ins Gesicht. Ich bin eine Frau und du bist ein Mann. (Thomas will sich nach seiner Harfe bücken.) Die Harfe, die laß nur liegen im Grase oder häng sie dem Eildon-Baum ins Geäst. Und kommst du zurück auf der selben Straße nach sieben Jahren, wenn die Fee dich entläßt, dann hol sie herab und singe die Lieder, die sie der Regen gelehrt hat oder der Wind. Thomas (hängt die Harfe in die Zweige des Eildon-Baumes): Da hängt sie. Ich wollt’, ich säh’ sie nicht wieder, bis Baum und Harfe zerfallen sind. Die Fee: Dann heb mich auf und trag mich über die Quellen und netze mir nicht im Wasser den Saum und rufe mein Pferd mit den silbernen Schellen und vergiß die Welt und den Eildon-Baum. (Thomas hebt die Fee vom Boden auf und trägt sie über den Huntley-Bach davon.)

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Fünftes Bild „Das Bündel“ Abenddämmerung im Moor. Einige Frauen und Männer aus Ercildoune stechen Torf. Janets Kinder, Fergus und Alison, spielen mit einem Bündel. Chor der Männer und Frauen: Schwarz sind die Fenster von Lindesey. Kein Kienspan brennt, keine Kerze. Unruhig scharren im Hof die gesattelten Pferde und im Stall brüllt hungernd das Vieh. Ich werde weinen heut’ nacht und morgen werde ich schweigen. Janet: Könnt ihr nicht still sitzen, Fergus, Alison, hört ihr nicht? Wenn eines von euch in ein Torfloch fällt, hab ich es umsonst gefüttert und gewaschen. Tot wird es sein oder zumindest doch schwarz, schwarz wie ein Troll. Setzt euch her, setzt euch zur alten Moragh, die soll euch erzählen, wie es mehr als einem schon hier ergangen ist. Chor der Männer und Frauen: Leer ist die Halle von Lindesey. Kein Rauch weht über den Dächern. Wer dich gekannt hat dereinst, rät, ich soll dich vergessen, aber keiner sagt mir warum. Ich werde weinen heut’ nacht und morgen werde ich schweigen. Colum: Moragh, wo hast du die Augen? Paß auf die verdammten Kinder auf? Wenn du zum Arbeiten nicht mehr taugst

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und nicht mehr zum Märchenerzählen, dann mußt du zu Hause bleiben und spinnen. Janet: Fergus, gib Frieden, laß deine Schwester in Ruh! Alison: Fergus will mir mein Bündel wegnehmen. Janet: Was für ein Bündel? Alison: Mein Bündel. Ich hab’ es gefunden. Janet: Zeig her! Wem gehört das? Alison: Mir. Janet: Wo hast du das her? Alison: Ich hab’ es gefunden. Janet: Gefunden hast du es, wo? Alison: Gefunden, dort drüben beim Eildon-Baum, dort. Janet: Beim Eildon-Baum? Wieso wart ihr dort? Hab ich euch nicht gesagt, dorthin, dorthin geht ihr mir nicht, ihr Teufel? Gib her da! Plärr nicht! – (Sie nimmt ihr das Bündel.) Heiligmäßige Jungfrau! Ian: Was ist? Gavin: Was ist denn? Isobel: Es ist Tom Learmonts Bündel! Ich kenn’ es. 289

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Ich kenn’ es wieder! Oft genug hab ich ihm dieses Hemd da gewaschen. Janet (zu Alison): Warum plärrst du? Alison: Es hängt auch noch eine Harfe dort, hoch oben auf einem Ast. Sie hängt so hoch, ich kann sie ohne Fergus’ Hilfe nicht holen. Janet: Wehe, wenn mir eines von euch je wieder dorthin geht! Ich warn’ euch! Laßt hängen, was hängt. Plärrt nicht! Isobel, komm, bring mir die Kinder nach Haus. Es ist auch schon dunkel geworden. Moragh (hat das Bündel vom Boden aufgehoben): Das ist Thomas Learmonts Bündel. Viel ist es nicht, was er besessen hat. Eine Harfe nur und ein paar Lieder. Nun haben ihn die Feen geholt. Den sieht kein Lebender wieder.

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Sechstes und siebentes Bild „Der Weg ins Feenreich“ Unterwegs in das Feenreich haben sich Thomas und die Fee im dichten Gestrüpp eines Wal­des verirrt. Um die auf einem Torfhaufen hockende alte Moragh haben sich die Dorfbewohner von Ercil­doune versammelt und horchen auf ihre Erzählungen. Thomas: Wir sind in die Irre gegangen. Gefangen stehn meine Füße im wild wuchernden Dornengestrüpp. Und du, wo bist du geblieben, und wo ist dein milchweißes Pferd? Die Fee (erscheint von ihm getrennt zwischen den Bäumen): Mein Pferd hat seinen Weg allein gefunden. Es ist ihn vielhundertmal schon gelaufen. Aber von den menschlichen Wesen hat keines jemals noch unsere Wohnungen gesehn. Auch du, Thomas, kannst mir nur folgen, wenn du alles zurückläßt, woran du hängst, und wenn du vergißt, woher du gekommen bist. Thomas: Woher ich komme, weiß ich längst schon nicht mehr. Und hinter meinen Schritten schließen die Wurzeln des Waldes sich über dem Weg. Das Herz erstickt mir im Dornengesträuch. Wo bist du nun, seltsame Frau? Ich seh’ dich nicht, ich seh’ dich nicht mehr? Die Fee (erscheint an einer anderen Stelle): Ich bin dir nah. Bist du schon müd? Willst du mir nicht mehr folgen? Thomas: Wohin? Wohin? 291

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Die Fee: Nicht suchen, folgen sollst du und nicht fragen. Thomas: Blind bin ich und gefangen. Die Fee (erscheint in verschiedenen Gestalten und an mehren Stellen des Waldes zugleich): Siehst du mich hier? – Hier bin ich. Hier! – Nein, hier! Hier! Hier! Hier! (Sie lacht mit vielen Stimmen.) Thomas: Irrlichter sind deine Augen! Bald bist du nah, bald bist du fern, und mit Lockrufen narrt mich das Echo der lieblichen Stimme. Bist du mir wohlgesonnen noch immer? Wie Geißeln schlagen die Zweige nach mir, zerreißen mir das Gewand, zerraufen mein Haar! Die Fee: Folge mir, Thomas! – Hier bin ich, hier! Thomas: Und wenn ich die Knie mir zerstoße, die Augen zersteche, ich breche den Weg mir zu dir! Die Fee: Nicht mit Gewalt, Thomas, nicht mit Gewalt! Willst du denn lieber einen Fingernagel von deinem Willen haben, Thomas, als beide Arme voll von deinem Glück? Thomas: Du bist mein Glück, dich will ich fassen! Halten will ich dich und umschlingen! (Er umarmt eine der Frauengestalten; die aber verwandelt sich in seinen Armen in ein altes Weib.) Weh mir! – Wie sehnige Schlangen, wie knorrige Schlingen schnüren sich deine Arme um mich! Wer bist du? Erdklumpen kleben 292

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an deinen eisgrauen Haaren, als wenn du lange gestorben wärst und begraben. Wer bist du, Frau? Ich kenn’ dich nicht mehr. Die Fee (erscheint in ihrer ersten Gestalt in seiner Nähe): So bald schon bist du ans Ende mit deinen Wünschen gelangt? Bereust du den Kuß, den halb du gegeben hast und halb auch empfangen? Thomas: Wie eine Fremde bist du mir erschienen. Zünde wieder das Licht an in deinen Augen. Die Fee: Wenn du mich liebst, wie ich dich liebe, wird dein Gesicht so weiß werden wie das meine und deine eignen Augen werden dir den Weg erhellen. Thomas: Sanftäugiges Mädchen aus den Feenhügeln, ich will zu dir und wer du bist erkennen. Die Fee: Ich bin dir nah. Du sollst bei mir nicht traurig werden. Doch jeder lebt bei uns und stirbt bei uns allein. Thomas: Für uns soll dieses Wort nicht gelten. Bei allem, was mir lieb war, will ich schwören … Die Fee: Bei allem, meinst du, was du nicht vergessen kannst. Laß doch die großen Worte sein. Ich will dir einen Zauberspruch singen, der löst dir die Kletten von deinem Kleid, befreit deine Knie von Ranken und Schlingen, und der Weg, den du suchst, der öffnet sich weit. Thomas: Singe, wenn du willst, daß ich lebe. Die Fee (singt den ersten Zauberspruch): Wilddornenstrauch,

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Schwarzrosengebüsch, brennende Nesseln der Lüste! Wurzelgeflecht, wildwuchernder Wald, Essigbeeren der Süchte! Schlingengewächs der Begierden, hört mich den Zauberspruch singen! Entlaßt uns aus Hecken und Hürden auf daß die Dornenfesseln zerspringen. (Der Wald öffnet sich und gibt einen Weg frei, der die beiden auf eine helle Lichtung führt.) Moragh: Schwarze Frauen und krummgewachsene Trolle gibt es unter dem Fe­en­­­volk. Der Umgang mit denen kann einem Menschen nie zur Freude ausschlagen. Sie tanzen viel und lieben ihre Art von Musik, die unsereinen schmerzt in den Ohren. Fallsüchtige, Traumwandler, Huren und Spielleute, die ihnen dienstbar sind, schicken sie als ihre Lockvögel aus in die Dörfer. Denn ganz ohne Menschenblut haben auch sie keine Lust­­barkeit. Drum gibt es hinter den grünen Hügeln so viele Leute, daß man meint, es sei noch nie einer von denen gestorben. Die Nacht, wenn wir schlafen, ist ihre Zeit. Der Mond, das Milchkind der Sonne, muß ihnen leuchten. Sie weinen, wenn er nicht scheint. Eine aber gibt es unter den Feen mit Eulenaugen, die kann ohne Männerliebe nicht leben. Sie ist so alt wie die Wolken am Himmel und so jung wie der Regen im Gras. Sie ist viel unterwegs und wer ihr begegnet, dem hilft nur ein Mit­tel: er muß die Ja­cke, die er am Leib trägt, ausziehen so rasch wie er kann, und sie um und um wenden, das Inn’re nach außen. Dann muß sie ablassen von ihm und er findet sicher nach Hause. Die Fee: Komm weiter, Thomas, komm weiter. Was stehst du und lauschst auf den Wind? Thomas (deutet auf einen breiten Fluß, der ihnen den Weg versperrt): Siehst du den Fluß nicht, das dunkle Wasser? 294

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Die Fee (erschrickt): Oh! Thomas: Lichtlos fließt es vorüber. Wie tief mag es sein? Die Fee: Tief, Thomas, tief. Thomas: Kein Boot, keine Brücke. Und das Ufer drüben kaum zu erkennen. Nie hab ich solch einen Fluß gesehen. Die Fee: Es ist der Strom, in dem sich das vergossene Blut der Welt versammelt. Woher er kommt? Aus allen Ländern, in denen Menschen miteinander wohnen. Wohin er geht? Ich weiß es nicht. Gott allein kann es verzeihen. Thomas: Wie kannst du, Mädchenwesen aus den Feenhügeln, das sich vom Tau auf den Wiesen nährt, wie kannst du einen Menschen wie mich, einen Blutvergießenden lieben? Herzweh und Jammer werd’ ich dir bringen. Verdorren fühl’ ich mir in der Brust all die ungeborenen Lieder. Flußabwärts wird auch mein Leben einst rinnen. Laß mich am Ufer hier! Laß mich zurück! Geh heim und wende dich ab von mir! Die Fee: Thomas von Ercildoune, du hast gesehen, was sonst kein Lebendiger sieht. Sag dich nun los von den Blutvergießern, sag dich los von den Verletzenden, sag dich los von den Tötenden! 295

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Dann will ich noch einmal einen Zauberspruch singen, der soll uns heil ans jenseitige Ufer bringen. Thomas: Ich sag mich los, du aber sing, wenn du die Kraft hast, mir zu vertrauen. Sing, eh’ dir die Stimme versagt! Die Fee (singt den zweiten Zauberspruch): Wer bringt den Strom der Gewalt zum Versiegen? Wer macht ein Ende mit Morden und Kriegen? Ich kann nur mit meiner hilflosen Stimme uns einen schmalen Steg erbauen, über den ich mit meinem Liebsten klimme, zitternden Fußes und das Herz voll Grauen. Spanne dich, Brücke, und trag uns fort, beug dich und füg dich dem Feenwort! (Eine schmale Brücke spannt sich über den Fluß; auf ihr geleitet die Fee Thomas an das andere Ufer.) Moragh: Die Leute, die auf den Schiffen kommen, erzählen viel von den Kriegen der Kö­nige, vom Streit des Kaisers mit dem Papst und vom Heiligen Land, in dem heute mehr Greueltaten als einstmals Wunder geschehen. Aber das Feenland, das keiner kennt, liegt so nah vor ihrer Tür. Doch davon wissen sie wenig. Merlin, der Wilde, zum Beispiel, der lebte in den Wäl­dern des Tweed. Viel Unheil und wenig Heil hat er hierzulande gestiftet. Er war der Sohn einer Fee und eines sterblichen Mannes. Schwarz ist er von Liebessünden an seinem ganzen Leib geworden. Und viel Blut hat er rinnen sehen und hat es nicht bannen können. Weder Mensch noch Feen wollten ihn endlich in ihrer Erde begraben. Jetzt liegt er verscharrt nicht weit von hier unter einem Hügel in Drummelziar. Dornen und Disteln wu­­­chern auf seinem Grab. Die Fee: Laß mich dir nun die Wege zeigen, die hier auseinanderzweigen. Den wirren Pfad dort haben wir genommen, 296

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als wir von den Wohnungen der Menschen gekommen. Wer das verborgene Land der Toten sucht, den führt die Straße dort durch eine tiefe Schlucht. Wir aber wollen den dritten Weg gehen: zwischen Heilkraut und Farn zu den Hügeln der Feen. (Als sie sich dorthin auf den Weg machen, verfinstert sich mit einem Mal über ihnen der Himmel.) Thomas: Bleib nahe bei mir! Es ist so dunkel geworden. Gespenstische Schatten fallen vom Himmel. Bleib nahe bei mir! Wild flatternde Vogelhorden verfinstern das Licht mit schwarzem Gewimmel! Die Fee: Das sind die Lügen, die den Himmel bedecken und die Erde mit ihren Schatten beflecken. Thomas: Oh weh! Manch eine von denen hab’ ich selber erfunden und glaubte sie längst vergessen und verschwunden. Ihr dunkles Gefieder funkelt im Licht, das sich in phantastischen Farben bricht. Die Fee: Wenn du den Willen hast, ihnen zu wehren, ich weiß aus unseren Feenbräuchen ein Zauberwort, um sie zu verscheuchen. Thomas: Dann zögere nicht, es auszusprechen. Und mögen sie alle die Hälse brechen! Die Fee (singt den dritten Zauberspruch): Lügenschwärme, die ihr uns umkreist, hindernd vom Himmel das reine Licht, das uns auf Erden die Wege weist, nehmt euren Schatten von unserm Gesicht! Ins Unheil lockt ihr arglose Ohren, sehende Augen macht ihr erblinden. 297

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Hier aber sind eure Künste verloren. Hier sollt ihr keine Nahrung mehr finden. (Ein Schwarm von riesigen, schwarz schimmernden Vögeln zieht krächzend nach dem Hintergrunde davon.) Moragh: Eine große Zahl gibt es von verborgnen Nestern im Land. Oft stößt man schier mit der Nase daran, kann aber doch den Eingang nicht fin­den. Sie alle ha­ben ver­schiedene Namen. Drei davon sind mir bekannt. „Wiese der Lustbarkeiten“ heißt das eine, „Land der tausend Farben“ das ande­re und der Name des dritten ist „Insel der großen Ruhe“. Ob das aber die schön­sten oder die schrecklichsten von ihnen sind und wie viele noch dahinter liegen, das kann ich alte Frau euch nicht sagen. Trauen kann man ih­nen allen nicht. Und viel­leicht ist es besser für mich, daß ich nichts Näheres von ihnen weiß. Spät ist’s geworden. Kommt jetzt und geht mit mir nach Haus. Dort sind wir sicher, wenn wir die Lampe brennen lassen während der Nacht. (Sie erhebt sich und führt die Kinder davon. Die älteren Leute fol­gen ihr.) Die Fee: Nun, Thomas, gib mir deine Hand. Wir sind am Ziel. Wie lieblich leuchtet das Tal. Thomas: Es ist so grün wie dein grünes Gewand. Und deine Stimme lacht mir wie ein Sonnenstrahl. Die Fee: Nun ist der letzte Schritt geschehen: vor unsren Füßen öffnet sich das Reich der Feen.

Pause

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Zweiter Akt

Achtes Bild „Der Schellenbaum“ Sieben Jahre später. Die Frauen von Ercildoune haben sich, müde vom Holzsammeln, am Wald­rand auf ihren Bündeln niedergelassen und horchen auf eine Erzählung der alten Mo­­ragh. Moragh: Als ich ein Mädchen war, lang ist’s her, da erzählten sie mir von einem, Shea­ mus hat er geheißen, der sich im Nebel verlaufen hatte. Weit fort war er geraten, bis an die Steilküste am Tay. Einer fremden, unerhörten Musik war er gefolgt, die ihn gelockt und gelockt hatte immerfort. Da sah er mit einem Mal einen Schellenbaum vor sich tanzen mit klingenden Glocken und suchte danach zu fassen. Er setzte den Fuß in den Nebel und stürzte über die Klippen … Janet: Heiliger Columban! Moragh: Ja, aber der Schellenbaum, den hatte er schon ergriffen. Ein Blütenzweig war es an einem Strauch. Der hielt ihn über dem Abgrund. Janet: Ein klingender Blütenzweig? Moragh: Eh’ er sich auf den Heimweg machte, mit zerschundenen Knien, brach er den Zweig. Janet: Er pflückte ihn ab? Moragh: Ja, und er bracht’ ihn nach Haus. Aber zu Haus, da wollte ihm keiner glauben, was er erzählte. Ein Strauch mit Blüten wie die, so sagten die Leute, der wächst doch hinter deiner eigenen Hütte. Was soll an dem Selt­­sames sein? Du hast wohl ge­träumt. Seitdem ging Sheamus oft in den Garten und schüt­tel­te, wenn sie blühten, die Zweige. Die wunderli­che Musik wollt’ er noch einmal hö­ren. 299

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Alison: Und hat er sie noch einmal gehört? Moragh: Trübsinnig ist er geworden. Janet (steht auf ): Ist das die Gräfin von March, die dort draußen reitet, dort auf dem Feld? Alsion: Das ist sie. Wer sonst? Sie reitet jeden Tag, seit abgeerntet ist, übers Feld. Sie achtet nicht auf das Wetter. Janet: Sie ist nicht mehr, wie sie war. Keine Fröhlichkeit ist mehr im Schloß. Isobel: Sie wird wohl wissen, warum. Janet: Wer hätte gedacht, daß sie’s nicht verwinden kann, daß Cospatrick, der Graf, im Krieg geblieben ist gegen den Lord von den Inseln. Grüßt sie, Kinder, wie sich’s gehört, wenn sie vorüberkommt. Isobel: Sie kommt nicht vorüber. Sie hat uns gesehn. (Die Frauen nehmen ihre Bündel auf und machen sich auf den Weg zurück ins Dorf.) Janet: Kommt, es ist spät geworden. Alison: Wie hat er geheißen, der mit dem Schellenbaum? Moragh: Sheamus hat er geheißen. Janet: Beschütz uns, heiliger Columban. 300

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Neuntes Bild „Die Harfe“ Unter dem Eildon-Baum. Es ist ein nebliger Morgen, die Stunde vor Sonnenaufgang. Die Fee hat Thomas nach sieben Jahren an den Ort ihrer ersten Begegnung geführt, um Ab­schied von ihm zu nehmen. Die Fee: Hier hab’ ich gehalten, an dieser Stelle, hier hab’ ich dich spielen und singen gehört. Mein Pferd und ich, wir hielten den Atem an und wir beide hätten dich nicht gestört, doch der Wind, der rührte an eine silberne Schelle und da hobst du den Kopf und blicktest mich an. Erinnerst du dich? Thomas: Ich erinnere mich. Ich blickte dich an wie noch keine der Damen, die je meinen Liedern ihr Ohr geneigt. Das Saitenspiel glitt mir aus meiner Hand und mein Knie hat sich ganz von selber gebeugt. Du aber riefst mich bei meinem irdischen Namen, als hättest du mich seit ewig gekannt. Erinnerst du dich? Die Fee: Ich erinnere mich. Und gekannt hab’ ich dich seit Merlins Zeiten und seit wir im Nebel über die Hügel reiten. Nun aber sind die sieben Jahre vergangen. Thomas: Wie sieben Tage! Ich kann es kaum fassen! Die Fee: Hier, wo wir uns trafen, werden wir uns verlassen. Thomas: Und ich hab’ dich zu lieben kaum angefangen. 301

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Die Fee: Wenn das Licht des Tages den Eildon-Baum mit seinen jüngsten Strahlen berührt, erlischt mein Bild, als wär’ es ein Traum, der dich schlafend einst aus der Welt entführt. Thomas: Dort oben im Baum hängt meine Harfe noch auf dem Ast, an den ich sie hängte. Laß mich! Ich hole sie mir herunter. (Er springt über den Huntley-Bach und versucht vergeblich, die Harfe mit den Händen zu erreichen.) Die Fee: Laß sie, Thomas! Sie wartet nun schon seit sieben Jahren dort oben und kann auch wohl eine Weile noch warten. Thomas: Seltsam, ich kann sie nicht mehr erreichen und hab sie doch selbst auf den Ast gehoben. (Er entschließt sich, auf den Baum zu steigen, um die Harfe herunterzuholen.) Die Fee: Aus manchem Trieb ist ein Strauch geworden, aus manchem Mädchen eine junge Frau. Auch der uralte Eildon-Baum ist in den Jahren, die so zeitlos für uns vergangen sind, ein Stücklein näher zum Himmel gewachsen. (plötzlich erschrocken) Wo bist du, Thomas? Ich seh’ dich nicht mehr. Thomas (springt aus dem Baum herab ins Gras. Die Harfe hält er in der Hand.): Da bin ich wieder. Komm her und schau. Die Fee: O Thomas, ich kann nicht. Thomas: Du kannst nicht? Die Fee: Der Bach, das lebendige Wasser!

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Thomas: Der Huntley-Bach! (lacht) Den habe ich ganz vergessen. Ich werd’ dich noch einmal herübertragen. Die Fee (ernst und traurig): Nein, Thomas, bleib. Laß es geschehen sein. Nun sind wir getrennt, eh’ wir es dachten. Was du damals vor sieben Jahren gewannst, das kannst du nicht wiedergewinnen. Wie du mich damals hobst und auf deinen Armen, mein Kopf an deinen Hals gelehnt, durch dieses rieselnde Wasser trugst, das kannst du nicht von neuem beginnen. Thomas (wirft die Harfe ins Gras): Ach, hätt’ ich die Harfe doch nicht gesehen! Die Fee: Thomas, mein Liebster. Es ist nun aber geschehen. Nun setz dich ans Ufer des Baches wie ich, ein jeder auf seiner Seite, und rede mit mir. Ich ängstige mich. Die Zeit läuft so schnell und wir haben einander noch lange nicht alles gesagt, was wir empfinden. (Sie setzt sich auf ihrer Seite ans Ufer des Baches, Thomas folgt ihrem Beispiel.) Thomas: Ich hab’ dir gesagt, daß ich dich liebe. Die Fee: Du hast es gesagt, und ich hab’ es gehört, aber ob ich’s verstanden hab, weiß ich noch nicht. Denn deine Liebe ist Menschenliebe und ist doch kein Teil von der irdischen Welt. Thomas: Mag sein, sie ist wie das Licht der Sonne uns Menschen für eine Zeit nur geliehen. Doch ohne sie wird mich das Leben reuen und alles Hab und Gut wird mich nicht mehr freuen. 303

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Die Fee: Hast du nicht einen Turm und ein Feld und eine Mühle in Ercildoune, Thomas? Niemanden mußt du um Wohnung bitten oder um Brot. Thomas: Kein Mensch wird für die Einsamkeit geboren. Kein Mensch will leben, ohne zu lieben. Die Fee (mit großer Zärtlichkeit): O Thomas, ich werde immer bei dir sein. Loslassen werd’ ich dich niemals mit meinen liebenden Augen. Vor deinen Füßen will ich die Wege trocknen und deine Traurigkeit um mich soll nicht verloren sein. (Sie erhebt sich langsam.) Nimm jetzt deine Harfe und geh. Ich spüre den Morgenwind auf der Stirn, und über den Tälern von Leader und Tweed will schon das Licht durch den Nebel glimmen. Thomas (erhebt sich rasch): Sag mir noch eins: Wenn es mich nicht mehr leidet in den steinernen Wohnungen auf unserer Erde, wenn ich nicht mehr leben kann und doch nicht sterben, sag mir, ob ich dich wiedersehen werde. Die Fee: Mehr als ich durfte, hab’ ich dich geliebt und hab’ dir meine eigene Not verschwiegen. Auf daß es auch für mich einst Verzeihung gibt, hilf mir nun unsre Liebe zu besiegen. Der du sieben Jahre in meinen Armen lagst, vergiß mich nun, Thomas, wenn du es vermagst. Thomas: Wie könnt’ ich vergessen, was ich genossen? Hab’ ich mich selbst denn zuvor je gekannt, eh’ deine Arme mich umschlossen und mich dein Mund mit Namen genannt? 304

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Was aber weiß ich von deinem Wesen, das zu vergessen könnte taugen? Nur wortloses Wissen hab’ ich gelesen aus dem Zauber deiner Feenaugen. Nicht deinen Namen und nicht deine Jahre hab’ ich erfahren in der seligen Zeit, nur den Geruch deiner lichtfarbenen Haare und das Geheimnis der Zärtlichkeit. Die Fee: O Thomas, laß mich los mit deinen Bitten! Das Licht streicht schon mit silbernen Fingern über den Wipfel des Eildon-Baumes. Du sollst nicht leiden, was ich um dich gelitten! Thomas: Ich bin nur ohne Leid, wenn ich dich sehe. Duld nicht, daß ich zugrunde gehe! Die Fee: O Thomas, so soll unsre Liebe nicht enden. Sie war nicht das Trugbild nur eines Traumes. Sprich niemals ein bitteres Wort von ihr. Ich aber will dir in die Irrsal des Lebens, ehe du stirbst, eine Botschaft senden. Wenn du sie vernimmst, dann komm wieder zu mir. Thomas: Wann wird das sein, daß ich die Stunden zähle? Die Fee: Lang wirst du warten, doch nicht vergebens. Und die Boten, die ich für dich wähle, die wirst du erkennen und die Botschaft verstehn. Du wirst die Harfe aus deinen Händen legen, wirst dich erheben und dich auf den Weg begeben, an dessen Ende wir uns wiedersehn. Siehst du die Sonne dort auf den Blättern gleißen. Du bist nun der Welt zurückgegeben.

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Leb wohl, Thomas, leb wohl und das soll heißen: versuch mir zuliebe für die Menschen zu leben. (Die ersten Sonnenstrahlen berühren die Wipfel des Eildon-Baumes und die Erscheinung der Fee schwindet im Morgennebel.)

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Zehntes Bild „Die Heimkehr“ Auf dem Hauptplatz von Ercildoune spielen Musikanten einen Strathspey. Die Jungen tanzen, die Kinder drängen sich lärmend zwischen die Paare, die Alten sitzen abseits. Aus dem Hintergrund nähert sich unbeachtet Thomas Learmont. Chor der Bauern: Was nützt mir ein Beutel von Ziegenbockleder, wenn ich nicht vermag, ihn mit Münzen zu füllen. Was nützt mir ein Hut mit buntfarbiger Feder, wenn ich nicht vermag, meinen Hunger zu stillen. Was nützt denn ein Wagen mir ohne Räder, was nützt mir ein Weib, das nicht folgt meinem Willen. Nichts nützt mir das alles, das sieht doch ein jeder. drum pfeif   ’ ich auf derlei hochnoblige Grillen. Isobel: Tanz mit mir, Gavin! Komm, rühr dich! Ich denk immerzu: einmal und bald ist der nächste Tanz schon der letzte. Gavin: Nicht solang deine sündroten Haare wehen! Isobel: Halt du mich fest und laß sie nur fliegen. Noch ein paar Jahre und sie fliegen nicht mehr. Gavin: Sie machen, daß die Ohren mir glühen. Isobel: Wenn Colum mich sieht, wird er sie mir schneiden. Gavin: Wer heiratet schon die Frau, die er liebt. Isobel: Ist’s nicht genug schon mit ihr zu tanzen?

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Der alte Rory: Von einem Kerl hab ich gehört, in den Lothians war der daheim, der soll den Weg gefunden haben zu einer Frau von dieser Sorte. Ihr wißt, wel­che Sorte ich meine. Ian: Ich kann es mir denken und noch andere Hurereien dazu. Der alte Rory: Als der zurückkam, schlug er ans Tor. Eine fremde Frau tat ihm auf und fragte ihn, was er wolle. Es war schon spät am Abend, muß man wissen. Aufgewacht waren die Kinder im Haus von dem Lärm, den der fremde Kerl machte, und sie plärrten. Darum ließ er sich abweisen und legte sich die erste Nacht in den Stall. Aber auch die Ochsen und Maultiere und Hunde kannten ihn nicht und scheuchten ihn bald wieder fort. Auf dem Kirchhof endlich am anderen Morgen fand er die Namen der Leu­te, zu denen er hatte heimkehren wollen. Er hat sie auf alten Grabsteinen ge­lesen. Was sollte er tun, der Kerl aus den Lothians? Von seinen En­keln und Ur­enkeln sich heuern lassen als Knecht, in seinem eigenen Haus? Oder zurück­gehen zu jener Frau, von der ich den Namen nicht sage? Wer weiß, wie alt auch die inzwischen geworden war? Ian: Die werden alt wie die Eulen. Der alte Rory: Ja, weil sie immer mit dem Schatten eines sterblichen Mannsbilds sich vor dem Licht der Sonne beschützen. Es heißt, sie können nicht ohne uns leben. Chor der Bauern: Als Kind hab ich oft vor Kälte gezittert, und mein Vater besaß keinen Hufbreit Land. Und ich hätt’ auch gern schöne Pferde gezüchtet und Falken getragen auf meiner Hand. Meine Mutter hat mich auf dem Strohsack geboren und ich putz mir den Hintern noch heute mit Gras. Und ich würd’ mir auch gern ein Spanferkel schmoren und hätt’ mit Mamsellen im Bett meinen Spaß. Das alles ist doch nun anders gekommen, und nicht zum Bessern hat sich’s gewandt. 308

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Man hat mir auch noch meinen Strohsack genommen und hat mir gepfändet mein letztes Gewand. Ian: Was ist aus dem Kerl dann geworden, Rory, dem aus den Lothians? Der alte Rory: Der lebte noch eine Zeit, aber es gelang ihm nicht mehr recht, so zu tun, als ob nichts geschehen wär’. Auf dem Kirchhof zum Beispiel, dort, wo er seine ­Jacke ausgebeutelt hatte, um sich für die Nacht draufzulegen, auf dem Kirchhof dort wuchsen auf einmal die seltsamsten Blumen. Blü­tenstaub und Grassamen ­hatte er mitgebracht auf seinem Buckel, weiß der Teufel wo­her. Und bei Nacht konnte man ihn unter hundert anderen kennen; denn die Frau hatte ihm einst einen Knopf, den er verloren hat­te, wieder an seine Jacke genäht mit einem Faden, der im Dunkeln funkte wie ein Glüh­­wurm oder Leuchtkäfer. Ian: Wird schon eher an seiner Hose gewesen sein, dieser Knopf. Der alte Rory: Und weil ihm keiner die Hand geben wollt’, ging der Kerl in den Wald. Holzfäller fanden ihn, oder was von ihm noch geblieben war, Jahre da­nach auf einem Baum in ei­ner Astgabel hocken. Leuchtkäfer schwärm­ten ein und aus durch seine Rip­pen. Alison: Isobel! Siehst du den Mann dort stehen? Er steht schon die ganze Zeit da und rührt keinen Fuß. Er sieht uns zu, wie wir tanzen. Isobel: Laß mich. Ich tanze. Alison: Willst du den Kopf nicht wenden? Isobel: Nein! Alison: Sieht er nicht aus wie damals, vor sieben Jahren, als er davonging? Isobel: Verflucht soll er sein. Ich tanze. 309

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Alison: Er ist’s aber. Er ist zurückgekommen. Janet: Fergus, Alison, Kinder! Kommt! Es ist Zeit! (Die Musikanten haben aufgehört zu spielen.) Gavin: Spielt weiter! Warum spielt ihr nicht? Ian: Da steht er. Dort. Und redet kein Wort. Der alte Rory: Kommt! Bringt die Kinder nach Haus. Er ist keiner mehr von den Lebendigen. Gavin: Was spielt ihr nicht weiter, ihr Lumpenpack? Sind euch die Saiten gerissen? (Die Dorfbewohner verlassen, einer nach dem anderen, zögernd den Tanzplatz. Thomas allein bleibt unbewegt stehen.)

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Elftes Bild „Im Turm“ Am westlichen Rand des Dorfes steht der verlassene Turm des Thomas Learmont. Als Thomas durch die Tür in sein Inneres tritt, kann er die Spuren von Plünderung und Ver­fall erkennen. Thomas (eintretend): Die Tür ist offen, aufgebrochen. Oder ließ ich sie unversperrt? Ich weiß es nicht mehr. Es war mir damals nichts daran gelegen. Daß ich zurückkehren würde, dachte ich nicht. Die Vögel der Nacht hausen nun in den Fensterhöhlen. Ängstigt euch nicht. Sieben Jahre, lange genug wohnt ihr nun hier. Sieh da: in meinem erkalteten Herd haben Feldhasen sich eine Grube bereitet, haben Junge geworfen im selben Raum, in dem auch ich einst geboren wurde. Warum sollte ich euch verscheuchen? Gibt es ein besseres Recht auf Eigentum und Besitz als dieses Recht der Geburt? Bin ich nun also zu Haus? Bin ich heimgekommen zu mir? Hab’ ich geträumt und bin ich nun endlich erwacht? Als wie durch Türen bin ich gegangen von einem Leben in ein anderes und hab’ an jeder Schwelle etwas abgelegt von meinen Kleidern. Überall war ich ein Fremder. Und doch: dieser Blick, 311

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der Blick aus meinem Fenster. Die Hügel Schottlands, die schwer tragenden Wolken und dahinter die weiße, tröstliche Blume des Himmels, der Mond. O Thomas, wolltest du einst nicht anders wiederkehren ins Dorf? Mit vollen Taschen, offenen Händen und im geschirrten Wagen? Wer bist du nun, Thomas? Ein Irrläufer bist du, ein Grenzgänger, ein heimatloser, trauriger Mann. Wo sind die Lieder, die du einst ersannst? Ob deine Harfe sich ihrer erinnert? (Er spielt auf seiner Harfe und beginnt nach und nach wieder zu singen.) Solang ein grünendes Blatt im Walde du findest, mein Lieber, so lang freust du dich noch des Lebens. Solang einen zärtlichen Kuß du spürst auf den Lippen, mein Lieber, lohnt sich noch die Mühe des Strebens. Solang noch im Spalt deiner Augen ein Licht brennt von Hoffnung, mein Lieber, so lange lebst du nicht vergebens. (Ein Geräusch an der Tür stört ihn aus seinem Spiel.) Wer scharrt an der Tür? Ist sie nicht offen? Nur immer herein! (Als niemand sich zeigt, steht er auf, um nachzusehen, und öffnet die Tür.) Niemand da? He! Hallo! Keine Antwort … Ah, eine Ratte. Und das? Was ist das? 312

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Eine Schale voll Milch. Für dich, für mich? Wir wollen sie teilen. (trinkt und stellt sie wieder zu Boden) Ah, den Geschmack, den Durst, den Trost, Irdische Milch! Das alles hatt‘ ich lange vergessen.

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Zwölftes Bild „Der Tod des Königs“ Zweiundvierzig Jahre später. Ein Aprilabend im Jahre 1286. Vor dem Schloßtor von Er­cil­doune hat sich eine Gruppe beunruhigter Dorfbewohner versammelt. Die alte Gräfin von March und Dunbar tritt gefolgt von Adam de Feure, dem Kastellan, und Sim Sa­mond, ihrem Diener, aus dem Tor. Die Gräfin: Ihr wißt, was geschehen ist, Leute. Der König ist tot. Alexander, der König, der unser Schutz war gegen den Norweger und den Herrn von den Inseln. Ein Reiter hat uns die Nachricht gebracht aus Kingshorn und ist auch schon weitergeritten nach Dunbar. Gavin: Ich hab’ seinen Gaul humpeln gesehen. Die schnellen Pferde galoppieren nach England. Die Gräfin: Ich bin eine alte Frau und habe schon allzu viele schlimme Nachrichten hören müssen. Um den König hab’ ich aber geweint und mehr noch um Schottland. Colum: Weine nicht, alte Frau. Es ist einer so gut oder schlecht wie der andre. Er liegt nun in einem gut gepolsterten Sarg. Das große Unheil trifft nur die Armen. Die Gräfin: Geht heim jetzt in eure Häuser. Haltet Ruhe, betet, und morgen, sobald die Sonne herauf ist, sollen die Jüngeren von den Männern mit Adam de Feure nach Berwick reiten. 314

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Die Alten aber sollen wie sonst ihre Arbeit tun. Kein Erbe lebt, der das Land jetzt bewahren könnte vor dem Krieg. Gott schütze Schottland! (Sie geht gestützt von Adam de Feure, dem Kastellan, zurück in ihr Schloß.) Fergus: Wie ist das geschehen, Sim, das mit dem König? Sim Samond: Er ist vom Pferd gestürzt, heißt es, bei Kingshorn, nachts in den Klippen. Unterwegs war er zu seiner französischen – Dame. Ian: Dame! Ich lache! Ein Hurenbock war er! Sim Samond: Der Gaul ist ausgeglitten auf dem hartgefrorenen Boden und er, der König, hat sich die Stirn zerschlagen an einem Stein. Colum: Gott soll ihn richten. Unglück hat er mehr als genug übers Land gebracht! Isobel: Colum! Kannst du das Maul nicht halten! Colum: Nein. Den Stein möchte ich sehen, an dem noch das Weiße klebt von seinem wurmstichigen Hirn. Gavin: Ja, wenn’s nicht geregnet hat seither oder geschneit. Ian: Kein Erbe lebt, sagt sie, kein Erbe nach ihm? In Norwegen lebt noch ein Kind, ein kleines Mädchen, sagt man, für das wird der norwegische König, das wett’ ich, das Recht auf den Thron ansprechen. Colum: Und der Lord von den Inseln wird’s ihm verwehren. 315

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Gavin: Aber rascher als alle anderen steht der Engländer schon an der Grenze. Das heißt Krieg! Der alte Rory: Ein Stein, der einen König erschlägt, das ist kein gewöhnlicher Stein. Er hat gerufen, hat den Kopf des Königs gerufen. Komm her, komm her! hat er gerufen, der Stein. Ich bin für dich da! Den Stein, den haben die Trolle besprochen. Fergus: Wer von uns wird morgen nach Berwick reiten? Isobel: Keiner wird reiten, wir werden die jungen Männer im Hochmoor verbergen. Ian: Man wird sie mit Hunden aufspüren. Colum: Krieg wird es geben und niemand wird fragen, ob wir ihn wollen. Der alte Rory: Uns nicht, aber zu Thomas dem Reimer, da werden sie kommen aus allen Enden des Lands und werden ihn bitten um Rat. Er hat es vorhergesagt, das Sturmgewitter, das nun auf einmal da ist. (Während dieses Gesprächs der Männer haben sich die Frauen um Isobel versam­melt. Die stimmt nun einen Klagegesang an, in den nach und nach die anderen einfallen.) Isobel: Alexander, unser König, ist tot. Er schützte Schottland vor Krieg und Not. Wer steht nun dem Land gegen die Landnehmer bei? Wer weiß gegen das Elend eine Arznei? Der Chor der Frauen: Verwandelt in Essig ist unser Wein, 316

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unser Kupfer in Blei und unser Brot in Stein. Nun sind die Tanzlieder zu Ende gesungen, denn es kommt die Zeit der Erniedrigungen. Vorbei, vorbei sind nun die Lustbarkeiten, gepanzerte Schuhe hört man schreiten. Helft uns, Sankt Andreas und Columban, da unser König uns nicht mehr helfen kann!

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Dreizehntes und vierzehntes Bild „Die Botschaft“

Noch einmal sieben Jahre später. Die nun schon sehr alte Gräfin von March kommt, ge­stützt und geleitet von ihrem Diener Sim Samond, über die Dorfstraße von Ercildoune zum Turm des Thomas Learmont gegangen. Aus dem Turm tönt Harfenmusik. Es ist ein sonniger Herbst­tag des Jahres 1293. Abseits auf einer Bank sitzt der alte Rory mit einigen Dorfbewohnern, die seinen Erzäh­lun­gen lauschen. Die Gräfin: Ist er das, der spielt? Sim Samond: Er ist es. Die Gräfin: Die Musik, die er spielte, als wir noch jung waren, die klang anders, nicht so. Seltsam sind diese Klänge. Geh nun und sag ihm, Sim, sag ihm, da er ins Schloß hinauf nicht mehr kommen mag, bin ich vor all den neugierigen Augen endlich hierher zu ihm gekommen. Denn in ein paar Wochen, fürcht’ ich, werd’ ich vielleicht ihn nicht mehr gehen können. – Warte. Laß mich noch ein paar Augenblicke hier sitzen und horchen. Lange Zeit hab ich ihn nicht mehr spielen gehört. Seltsam, seltsam klingt die Musik, sie klingt, als dürfte ich sie mit meinen Ohren nicht hören. (Sim Samond richtet ihr auf einer niederen Mauer vor dem Turm einen Sitz und bedeckt ihre Knie mit einer Decke.) 318

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Der alte Rory: An einem Sonntagmorgen, so hat er gesagt, noch eh’ man zur Früh­mes­se läutet, an einem Sonntagmorgen wird es begonnen werden. Und wenn die Sonne hinter den westlichen Inseln hinab ist, wird am Ufer des Bannockburn Wasser und Lehm gemischt sein mit Blut. Banner wer­den aufgepflanzt werden mit grellen seidenen Fahnen. Pferde wer­den davon­stie­ben, herrenlos gegen die Berge zu. Sättel werden hängen von ihren Flanken. Zwischen Seton und der See werden Schiffe stehen auf dem Sand der Küste. Vögel werden nisten in ihrem Takel­ werk. Und kein See­mann wird leben, der sie heimführen könnte in ihren Hafen. Fergus: So hat er gesagt? Der alte Rory: So hat er gesagt. Isobel: Und wann wird das sein? Sagt er das auch? Thomas (kommt tastend langsam mit seiner Harfe aus dem Turm hervor): Wann das sein wird, willst du wissen, Isobel? Wann das sein wird? Wenn eiserner Draht rings die Erde umspannt, wenn London ein Feld sein wird, schwarz und von Eisen gepflügt. Wenn die Menschen einen Kapuzenmann zu ihrem Herrscher erheben. Wenn die Menschen einander an Stricken führen werden zum Kauf. Wenn sie Schweinekoben machen aus ihren Schlössern und Pferdeställe aus ihren Kirchen. Fergus: Und was wird dann geschehen? Thomas: Das Ende, das Ende wird dann geschehen. Fergus: Und wann wird das sein? Thomas: Nicht in deiner Zeit und nicht in der meinen. 319

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Die Gräfin: Bist du das, Thomas? Ich kenn’ dich kaum wieder. Thomas: Viel ist nicht mehr an mir, von dem, Agnes, was du einst kanntest. Die Gräfin: Sie sagen, du seist ein Wahrsager geworden. Sie nennen dich jetzt den Reimer. Ich hab’ dich Tom genannt, früher. Die Leute kommen von weither zu dir mit ihren Fragen. Auf Krücken kommen sie oder auf Ochsenkarren. Wir beide wohnen nicht weit auseinander, doch der beschwerlichste Weg war der meine. Nun sind wir alt geworden, wir beide. Und keiner kann uns mehr schelten, wenn wir nun beieinandersitzen. Setz dich also zu mir. Thomas (setzt sich in einigem Abstand neben die Gräfin): Haben sie uns denn damals gescholten, die Leute? Das hattest du nicht verdient. Die Gräfin: Mehr, als du ahntest, Thomas, mehr, als du ahntest. Was kommen wird, das magst du wissen, aber was war, das ruht in mir, und du, du hast es vergessen. Thomas: Viel, Agnes, hast du mir zu verzeihen. Die Gräfin: Nichts, Thomas, nichts. Thomas: Und ich hab’ nicht das Herz gehabt, dich um Vergebung zu bitten. Die Gräfin: Meine Freude war, daß du lebtest. 320

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Nun bin ich gekommen, Thomas, um dir dafür zu danken. Thomas: Manches ward mir zu wissen geschenkt, manches mußt’ ich mühsam erlernen, wenig von allem hab’ ich wirklich begriffen. Nur die Untröstlichen wissen zu trösten. Die Gräfin: Wir waren einander nah, und wir lebten getrennt, ein jeder sein halbes eigenes Leben. Thomas: Das meine geht nun leise zu End’. Und dabei glaubte ich einst vor Jahren und Jahren, ich könnte es kaum ein paar Tage ertragen. Dir bin ich dankbar, Agnes, daß du gekommen bist. Du warst von je die Großmütigere von uns beiden. Ich kann dich ohne Schmerzen nicht ansehn. Die Gräfin: Du bist kaum mehr hier, Thomas. Wo bist du, wo ist dein Herz? Thomas: Gewohnt habe ich in dem Turm, in dem ich geboren wurde, gegessen hab’ ich das Brot vom eigenen Acker. Aber nun, da es Abend wird, geh’ ich heim. Nun bin ich heiter. Der alte Rory: Zwei fremde Tiere werden kommen von den Hügeln, hat er gesagt, wie sie kein Jäger je gesehen hat: ein Hirsch und eine Hirschkuh, weiß das Fell und weiß das Geweih. Sie werden zwischen die Hütten treten, ganz ohne Scheu, sie werden die Köpfe heben und wittern, hat er gesagt. Isobel: Heiliger Columban, bewahr uns vor Unglück! 321

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Alison: Dort stehen sie! Dort! Fergus: Sie kommen ins Dorf! Ian: Unreine Geister sind es auf der Suche nach Seelen! Thomas (erhebt sich): Sie kommen zu mir und bringen mir Botschaft, Botschaft, die nur ich verstehe. Lebt wohl. Und nehmt, was mir gehörte: den Turm, das Feld und die Mühle und schließlich die Harfe da. Das alles wird bald zerfallen. Aber ich hinterlasse euch auch meine luftgesponnenen, meine atmenden, wehrlosen Lieder. Die sind so zahlreich geworden in all den Jahren wie die Blätter des Eildon-Baums und wie die Kiesel des Huntley-Bachs. Sie wollten nichts anderes sein als meine hörbar gewordene Liebe. Denkt ohne Bitterkeit an mich. Mein Herz war lange schon nicht mehr bei mir. (Er legt die Harfe nieder und geht auf die beiden Tiere zu, die ihn in ihre Mitte nehmen und sich langsam mit ihm entfernen.) Die Gräfin: Fragt nicht nach seinem Weg. Er hat gelebt, nicht wie wir, aber mit uns. Und er hat genug gesehen, übergenug von der Welt.

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WEIN UND WASSER Heitere Oper in vier Bildern nach anonymen mittelalterlichen Quellen von Richard Bletschacher Musik von Franz Thürauer

Die Personen der Handlung Anselm, ein Weinhauer in Krems Bariton Odilia, seine Frau Sopran Urschel, deren Dienstmagd Alt Der Goldschmied Tenor Der Tierhändler Bariton Der Lautenmacher Baß Ein Flößer Tenor Ein Mönch Kontratenor

Ort und Zeit der Handlung Die Handlung spielt in Krems an der Donau an einem Tag und in einer Nacht im Frühling.

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Szenenfolge 1. Bild: Auf der Hauptstraße der Stadt, vor Anselms Haus 2. Bild: In Odilias Kammer 3. Bild: In der Weinstube 4. Bild: Am Ufer der Donau, hinter Anselms Schenke

Besetzung des Instrumentalensembles Einfaches Holz Einfaches Blech Laute Schlagwerk Streichquinett Spieldauer: ca. 90 Minuten

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Vorbemerkung Diese Oper für acht Gesangssolisten und dreizehn Instrumentalisten entstand aus dem Be­dürfnis nach einem Musiktheater ohne „pomp and circumstance“. Es werden darin weder Chor noch Kom­parserie, weder Banda noch Ballett gefordert. Man findet in Beschränkung auf das We­sentliche nur eben einen hierzu­lande allseits bekannten Schauplatz, eine geradlinig aufs Ziel gerichtete Handlung, ein paar handfeste, dankbare Rollen und eine Musik, die dem si­ngenden Men­schen den Vortritt lässt, ohne deshalb mit ihrem klin­genden Instru­mentarium in der Versenkung zu verschwinden. „Ar­mes Theater“ soll geboten werden, das überall spart, nur nicht an kräftigen Worten und deftigen Noten. Musiktheater eben, auf der Grundlage ei­nes Schau­spiels, das für die Dar­stel­lung mensch­licher Leidenschaften und Begierden durch Wort und Musik erfunden wurde. Und wie es sich für eine heitere Oper gehört, regiert hier die ir­dische Drei­ei­nig­keit der Sinnes­ freuden: die Völlerei, die Trunk­sucht und mehr alles andere die Lie­bes­lust, durch wel­che man­cher tapfere Mann schon zum Narren geworden ist. Darüber mag dem arg­losen Lau­scher wohl das ein oder andere Mal das Lachen im Halse ste­ cken bleiben. Ganz ohne Scha­den gibt’s keine Scha­­den­freude. Die nämlich ist die boshaft erfrischende Schwes­ter der gutmütig lau­warmen Rüh­rung. Und sie treibt diesmal nicht, wie in der tra­ditionellen opera buffa, ihr Schindluder mit einem wehrlosen Al­ten, sondern hat die Männer und ihre Wollust an den Frauen so ganz im All­gemeinen zum Ziel. Aber die weibliche Ver­führung ist allmächtig, und so wird es auch unter den p.p. Zu­schauern und Zuhörern manche Herren geben, die un­ter ähn­lichen Um­­ständen auch ein kaltes Bad in der Donau nehmen müss­ten. Die Handlung unseres Stückes folgt der mittelhochdeutschen Verserzählung eines un­be­kann­ten Autors, der sie ursprünglich in Kolmar und an einem Nebenarm des Rheins lokalisiert hat, sie hat aber Vor­bilder auch in östlichen Literaturen, nicht zuletzt in der Sammlung von Tausendundeiner Nacht. In unserem Falle spielt sie in Krems an der Donau, auf halbem Weg zwischen der Waldviertler Schreibstube des Autors und dem Haus des Kom­ponisten, das sich im Dun­kel­ steiner Wald verbirgt. Die Besetzung der Sänger und des Instrumentalensembles wurde so gewählt, dass das Werk zusammen mit dem Armesünderspiel „Der Landsknecht aus Kärnten“ ge­spielt werden kann, dessen Musik ebenfalls von Franz Thürauer komponiert wurde. 325

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Ein Wort noch zur Uraufführung am Niederösterreichischen Landestheater. Komponist und Au­tor haben sich damals entschieden, einen Entwurf, der auf einen Einakter ange­legt war, zu einem abendfüllenden Werk zu erweitern. Nach den gemachten Erfah­rungen möchte ich je­doch zu der gedrängteren Ver­ sion zurück­kehren. Die Slapstick-artige Hand­­lung und die dras­tische Komik der Situa­tionen ver­langt nach der knappsten möglichen Form. Ich habe darum die gekürzte Fassung wiedererstellt und hoffe, dass der Komponist bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit die nötigen Striche und Retuschen an der Partitur selbst durch­führen wird. Erst dann wird sich erweisen, ob ich, was ich da in übermütiger Laune geschrie­ben, selber auch recht beurteilt und verstanden habe. R. B.

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Erstes Bild Auf der Hauptstraße der Stadt. Es ist ein frischgewaschener, sonniger Vormit­tag im Frühling. Odilia verläßt die Weinschenke. Sie trägt ein verführerisch de­ko­lletiertes rotes Kleid. Anselm, ihr Mann, vor dem Abgang zum Keller mit dem Auspechen von Fässern beschäftigt, unterbricht seine Arbeit. Anselm: Wo gehst du hin, Frau? Odilia: Ich? Ich gehe aus. Anselm: Aus? Was soll das heißen? Odilia: Das heißt: hinaus durch diese Tür. Anselm: Und wenn du draußen bist? Odilia: Dann geh’ ich fort. Anselm: Fort, wohin? Odilia: Die Straß’ entlang. Anselm: Die Straß’ entlang? Odilia: Du sagst es. Anselm: Ich sag’s und weiß noch immer nicht, wohin du gehst … mein Schatz. Odilia: Mußt du alles wissen? Anselm: Alles nicht, nein, nur so viel wie du.

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Odilia: Einkaufen geh’ ich. Weißt du’s jetzt? Anselm: Einkaufen gehst du? Odilia: Ja. Anselm: So? (Er deutet auf ihr Kleid.) Odilia: So, jawohl. Ostern steht vor der Tür. Anselm: Ostern? Wer hätt’ das gedacht. Odilia: Ich. Ich muß an alles denken. (ruft ins Haus hinein) Urschel, he, wo bleibst du? Komm, beeil dich! Und vergiß den großen Korb nicht! Hörst du, Urschel? Und die Tasche! Urschel (von drinnen, unsichtbar): Ja, ich komm’ schon! Ja, gnä’ Frau! Anselm: Ah! Und die geht mit, die Urschel? Odilia: Wie du hörst. Du willst doch nicht, daß ich das viele Zeug alleine trage. Anselm: Gott bewahre, mit dem schönen Kleid. Odilia: Gefällt es dir? Mir auch. Anselm: Gefallen ist zu wenig. Ich bin ganz geblendet. Ist das neu? 328

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Odilia: Es ist aus Wien. Anselm: Ja, dann … Odilia (ruft lauter): Urschel, he! Anselm: Ja, ich versteh’: Wenn man ein solches Kleid hat, muß man’s den Leuten zeigen. Odilia: Soll ich mich hier verstecken? Anselm: Nein, beileibe nicht. Das wär’ ein Frevel. Odilia: Vielleicht geh’ ich auf einen Sprung zum Goldschmied, wenn die Zeit ausreicht. Anselm: Ja, warum nicht? Ganz einfach so, am hellen Tag. Odilia: Ja, immerhin ist es bald Ostern. Und wenn ich Lust hab’, kauf ’ ich mir ein Kettlein. Anselm: Dazu brauchst du die Urschel, mit dem Korb? Odilia: Und einen Papageien hätt’ ich gerne oder einen Affen. Anselm: Aha! Nun gut. Wenn es dich freut. Der Händler steht bei mir in Kreide.

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Odilia: Und eine Laute oder Cister fehlt auch hier im Haus. Anselm: Warum nicht eine Orgel? Odilia: Orgel? Ah! Das erinnert mich: ich sollt’ demnächst auch wieder einmal beichten gehn. Anselm: So oft du willst. Das kostet nichts. Odilia: Drum ist’s auch nicht recht lustig. Anselm: Laß für den Fall die Urschel einen Karren nehmen. Odilia: Einen Karren? Anselm: Ja. Für die Last von deinen Sünden. Odilia: Das sagst mir du? Du ausgerechnet? Ich beichte, wann ich will und was mich reut, hörst du? Und was mir Spaß macht, laß ich mir von keinem schwarzen oder braunen Rock verbieten. Anselm: Was reut dich denn, mein Schatz? Darf man das wissen? Odilia: Daß ich mit dir zum Beispiel die schönste Zeit verplaudre, reut mich. (ruft sehr laut) Bist du nun endlich fertig, Urschel? Sakerment! Urschel (auftretend aus dem Haus mit Korb und Tasche): Ja, gnä’ Frau. 330

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Odilia: Dann komm! Komm! Es pressiert! Du weißt, daß ich das Trödeln aufs Blut nicht leiden kann. Komm, wir gehen! (Sie geht eilig ab. Die Urschel schlurft hinterdrein. An­selm blickt ihr nach und zuckt die Achseln. Dann geht er ab in den Keller. Odilia ihrerseits geht, immer gefolgt von Urschel, einmal rund um die Bühne. Dann betritt sie den Laden des Gold­schmieds. Urschel bleibt vor der Tü­re stehen. Man sieht, wie im Innern des La­dens der Gold­­schmied seiner Kun­­­din allerlei Schmuck­­stücke zum Kauf anbietet. Zu hören ist nichts, dennoch ist zu erken­nen, daß der Goldschmied mehr In­teresse an den weib­lichen Reizen seiner Kundin bezeugt als diese an seinen Waren. Nach einiger Zeit wird die Ladentür energisch auf­gerissen und Odi­­lia stürzt zorn­funkelnd auf die Straße. Der Goldschmied folgt ihr auf dem Fuß.) Odilia: Was? Was? Hab’ ich recht gehört? Und das mir? Jetzt, in der Fastenwoche! Ist das jetzt Kaufmannsbrauch in Krems? Und für ein Kettlein, dünn und ärmlich, wie ich’s am Fuß nicht tragen wollt’, geschweige denn an Hals und Busen? Unverschämtheit! Unverfrorenheit! Ich bin ganz außer Atem vor Empörung! Der Goldschmied: Ich bitt’ Euch, schöne Frau! Nur keinen Lärm, um Himmels willen! Odilia: Soll man das heimlich machen? Hinterm Ladentisch? Soll man die Tür absperren und sich einigen? Ich bin schamrot vor Entsetzen, das soll jeder sehen! Der Goldschmied: Schönste Frau, ich fleh’ Euch an Um Diskretion, bei etwas gutem Willen. 331

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Odilia: Was Diskretion! Ich werd’ Euch meinen Mann herschicken, der schreit es aus in Krems, der zieht Euch Euren Schafspelz über Eure Wolfsohren! Urschel, lauf! Der Goldschmied: Ich werd’ alles leugnen! Odilia: Bleib stehen, Urschel! Wohin läufst du? Ist denn das zu fassen, diese Frechheit! Der Goldschmied: Ist es das erste Mal, daß man Euch schöntut? Sagt Ihr immer nein? Was habt Ihr denn dabei gewonnen? Ihr bringt Euch um die schönsten Freuden. Geh ein Stück beiseite, Urschel. Ich bitt’ Euch, überlegt Euch doch die Sache, schönste Frau. Kommt wieder hier herein. Ich leg’ noch etwas zu. Wir werden uns schon einig. Die blanke Liebe ist’s, die aus mir redet. Aber leise, leise, denn ich seh’ die Nachbarinnen schon an ihren Fenstern. Hätt’ manche gern ein Kettlein, einen Fußreif oder Ohrenring. Ihr, Ihr allein sollt’s haben. Ich leg’ noch etwas obendrauf, noch eine Kleinigkeit für Eure Urschel. Im Ganzen käm’ das ungefähr auf einen Preis von dreißig Mark in Wiener Münze. Na? Ist das so recht? Das ist kein schlechter Lohn für ein paar schöne Stunden. 332

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Odilia: Lohn, hör ich, und Preis! Werd’ ich denn hier versteigert? Wofür nehmt Ihr mich denn? Bin ich nicht ehrbar? Bin ich käuflich? Der Goldschmied: Verzeiht, verzeiht, man denkt sich allerhand, wenn man Euch ansieht, schönste Frau. Odilia: Ihr sollt mich kennenenlernen, Goldschmied! Der Goldschmied: Das will ich ja, das will ich ja. Davon ist ja die Rede: Kennenlernen durch und durch. Odilia: So nicht, so nicht mit mir! Euch wird das Maul fein sauber bleiben und auch der Hosenlatz! Komm, Urschel, komm, wir gehen! Ich muß ja meine Klunker nicht in Krems einkaufen. Komm! Urschel: Ja, ich komm’, gnä’ Frau … (Odilia macht sich, gefolgt von Urschel, auf den Weg einmal um die Bühne und betritt danach den Laden des Tierhändlers. Man sieht sie drinnen gestikulieren und verhandeln, einen Affen und einige Vogel­kä­fige prüfen, während Urschel geduldig auf der Straße wartet. Nach einiger Zeit wird plötzlich die Türe heftig aufgerissen und Odilia stürzt zornentbrannt heraus.) Odilia: Unglaublich! Unfaßbar! Unerhört! Ich traue meinen Ohren nicht! Seid Ihr ein Vogelfänger, Affenhändler oder Frauenkuppler? 333

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Ist das ein ehrenhaftes Angebot? Glaubt Ihr, ich geh’ auf einen solchen Leim? Der Tierhändler: Beruhigt Euch doch, Madame … (Der Papagei auf seiner Schulter wiederholt: Madame … Madame …) Was soll ich anders reden, als was ich denken muß, wenn ich Euch anseh’ in der ganzen Pracht. Die Hände hüpfen mir vor Freude, und nicht nur die, das könnt Ihr glauben. Odilia: Juckt Euch das Fell? Ihr seid wohl an Verstand und Sinn gepfändet. Der Tierhändler: Ja, es hat so den Anschein. Schuld seid Ihr selber dran. Ihr habt so etwas ganz Unwiderstehliches an Euch. Ist es der Duft? Ist es die Farb’? Ist es die Hülle oder ist’s die Fülle? Ich kann mir gar nicht helfen, muß es grad’ heraus gestehn: Wählt, was Ihr wollt, wählt eine Meerkatz oder Papageien … (Der Papagei protestiert: Non non … pas moi … pas moi …) Jeden könnt Ihr haben samt Maulkorb oder Vogelbauer, umsonst und obendrein noch sechzig Mark in Silber abgewogen. Nur kommt mit mir hinein ins Haus. Odilia: Was ist denn los mit Euch? Ihr habt ganz rote Ohren, Ihr verdreht die Augen, Mensch. 334

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Habt Ihr zuviel gefastet? Der Tierhändler: Vergeßt die Fastenzeit. Jetzt ist es Frühling! Die Knospen sprießen! Was sag’ ich Knospen: die Bäume schlagen aus, Madame! Was sein muß, muß geschehen! Odilia: Schämt Ihr Euch denn kein bißchen? Mir sind dergleichen Reden ganz und gar ein Greuel. Bocksfuß, Faun und Satyr von einem Affenhändler, geht zum Teufel! Der Tierhändler: Erbarmt Euch, s’il vous plait! (Der Papagei respondiert: S’il vous plait … s’il vous plait …) Ich werd’ dafür mit Euch ein Spiel anstellen, daß Ihr die frühern Freuden ganz vergessen sollt. Odilia: Packt Eure Tatzen ein! Steckt Euren Vogel hin, wo’s Euch gefällt! Mich seht Ihr hier nicht wieder. Urschel, komm, wir gehen! Urschel: Ja, gewiß, gnä’ Frau, gewiß … (Während der Tierhändler enttäuscht in seinen Laden zurückkehrt, macht sich Odilia, gefolgt von Urschel, auf den Weg, der sie zum drit­ten Mal rund um die Bühne führt. Danach gelangt sie zum Laden des Lautenma­chers. Sie tritt ein und schließt hinter sich die Tür. U­r­schel bleibt wieder draußen stehen. Drinnen wird un­hör­bar verhandelt. Der Lau­tenmacher führt seiner Kun­din verschiedene Saiteninstrumente vor, wobei er offen­bar deren Rundungen mit Odilias weiblichen Fo­r­men ver­­gleicht. So dauert es nicht lange, bis sie auch diesmal wieder die Flucht ergreift und zornbebend aus dem La­den stürzt.) 335

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Odilia: Ich höre wohl nicht recht? Nennt man das Süßholzraspeln? Da bin ich eine schlechte Musikantin, wenn man mir solche Liedlein singt. Der Lautenmacher (hinterdrein kommend): Ja, zürnt und zappelt nur ein wenig. Ihr werdet schon noch zahm, wenn ich die rechten Saiten aufzieh’. Es kann Euch, glaubt mir, Euer Leben lang nicht Besseres geschehn, als was ich mit Euch anstell’n werd’, wenn Ihr’s geschehen laßt nach meinem Willen. Odilia: Ist heut’ Sankt-Veits-Tag? Träumt Ihr? Seid Ihr denn allesamt vergiftet? Hab’ ich den falschen Duft genommen aus einem falschen Fläschchen, daß ich mich heut’ in Krems der Männer nicht erwehren kann? Was hab’ ich denn gesagt, getan, daß Ihr so mit mir redet? Der Lautenmacher: Wozu die vielen Wörter unter unsresgleichen? So wie Ihr seid, so seid Ihr recht geschaffen. Was man bei einer Frau am liebsten hat, das ist bei Euch am rechten Fleck. Ich hoff   ’, Ihr werdet bald nach meinem Takt in höchsten Noten singen. Odilia: Ich bin entsetzt, Herr Lautenzupfer, will sagen, ich bin ganz entgeistert. Ich werd’ mir nicht mit Euch den Mund verbrennen, sondern will nach Hause gehen und darüber denken; 336

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was ich sagen soll. Heut ist, so scheint mir, nicht mein Tag. Der Lautenmacher: Ja, geht und denkt darüber nach. Und wenn Ihr dann das Eure tun wollt, wie ich das Meine fleißig leisten will, werd’ ich Euch hundert Mark in bestem Silber dafür geben und diese Laute obendrein, denn geizig bin ich nicht. Ihr könnt das Geld selbst wiegen, nichts wird fehlen, so wie an Euch nichts fehlt, woran ich meine Freude haben werd’. Odilia: Bezähmt Euch, Meister. Ich hab recht gut verstanden, worauf Ihr aus seid, ohne Umschweif. Ich aber muß doch erst ein wenig nachsehn, ob mein Mann zu Haus ist, und hören was er sagt. Wenn ich das weiß, werd’ ich Euch wissen lassen, was geschehen soll. Ihr hört von mir, mein Herr, auf diese oder eine andre Weise. Der Lautenmacher: Lieber auf diese und am liebsten bald. Odilia: Komm, Urschel, komm, wir gehn nach Haus. Urschel: Der Korb ist ja noch leer, gnä’ Frau. Odilia: Das wird er heut auch bleiben. Komm! Urschel: Sehr wohl, gnä’ Frau, sehr wohl … 337

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(Odilia geht mit ihrer Urschel eilig den Weg zurück rund um die Büh­ne. Der Lautenmacher reibt sich die Hände und geht ab in seinen Laden.)

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Zweites Bild In Odilias Kammer. Odilia (ist zusammen mit Urschel wieder zu Hause angelangt und zieht sich zorn­ glühend das rote Kleid vom Leib): Ah! Und jetzt? Und jetzt? Was werd’ ich hören müssen! Hab ich’s nicht gleich gesagt. So geht man hier nicht auf die Gassen, mag sein in Wien, mag sein. Dort sind die Sitten anders. Hier behält man seine Brust für sich. (zu Urschel:) Was stehst du hier herum? Geh, Urschel! Geh! Laß mich allein! (Urschel schlurft ab. Odilia setzt sich auf iht Bett.) Was hab’ ich armes, unglücksel’ges Weib, was hab’ ich heut’ erleben müssen! Ist so etwas, solang die Donau fließt durch die Wachau, in Krems, in Stein, in Spitz, in Mauthern, Furth und Gneixendorf, was sag ich: von Maria-Taferl bis Maria-Laach und von Maria-Laach bis nach Maria-Elend je einem Frauenzimmer widerfahren? Wie soll man da unschuldig bleiben und seinen Anstand wahren, wie es die Sitte vorschreibt und der Pfarrer predigt? Wie? Soll ich mich auf der Straßen ’leicht nur mehr in Sack und Asche zeigen? Soll ich den Schmuck vom Hals tun, soll ich barfuß laufen und mir die Fingernägel abschneiden bis aufs Fleisch? 339

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Soll ich mein schönes, neues Kleid in Fetzen reißen, daß ich die lüsternen, unfrommen Augen der Männer nicht Spießruten gleich auf meiner armen, glatten, weißen Haut verspür’ …? Wie soll man hier in dieser Stadt, in diesem Pferch neunmal geschwänzter Hurenböcke als wohlgerat’nes Frauenzimmer ehrbar und sittsam bleiben, wie? (Sie weint herzzerreißend und bemerkt nicht, daß Anselm ins Zimmer gekommen ist.) Anselm: Was hört man da? Du weinst? Odilia, mein Weib, geliebtes, dickes Frauenzimmer, was ist dir zugestoßen? Odilia: Laß mich in Ruh! Anselm: Verrat mir doch den Grund für deinen Kummer. Odilia: Laß mich in Frieden! Geh zum Teufel, Mannsbild! Ist doch einer wie der andre. Die Augen soll’n mir aus dem Kopfe springen, bevor ich sag’, was mir geschehen ist. Anselm: Dann ist es bald soweit, denn deine süßen Äuglein sind schon so verquollen wie zwei Murmeln. Odilia: Bastarde! Hundsfotte! Hurentreiber! Dreimal gegrillte und verfluchte Satansbraten! Ich hätte nie und nimmer dir aus Wien in dieses Sündenbabel folgen sollen. Man hat mich mehr als einmal ja davor gewarnt, drum bin ich selber schuld an allem. 340

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Anselm: Herzblatt, Odilia, wein doch nicht. Es ist um diese Jahreszeit mehr als genug schon Wasser in der Donau. Warst du nicht bei der Beichte? Odilia: Wo? Anselm: Bei der Osterbeichte? Odilia: Ich? Ich heute? Beichten? Ich? Bei einem Mannsbild! Einem Mönch! Da kann ich gleich dem Teufel in die Pfanne springen. Anselm: Kommst du so ungetröstet heim? Odilia: Ungetröstet! Ha! Daß ich nicht lache! Schmutzbesudelt, schwarz vor Unflat! Ah! Anselm: Odilia, Liebste, laß dich trösten! Odilia: Laß mich in Ruh, beim heil’gen Arbogast! Ich will heut’ keinen Mann mehr sehn. Und morgen weiß ich nicht, ob ich noch lebe. Ah! Anselm: Hab’ ich dich nicht gewarnt, mein dickes, süßes Weib? Du hättest doch vielleicht das rote Kleid nicht anziehn sollen. Es zwingt geradezu die Männeraugen zu kleinen Mißverständnissen … Odilia: Nimm deine Finger fort! Ich schreie! 341

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Anselm: Schrei nur, mein Schatz. Die Leute werden denken: Zeit wird’s, daß das glückverwöhnte Luder doch endlich übers Knie gelegt wird. Recht geschieht ihr! Odilia: Ja! Schlag mich nur! Ich hab’s verdient. Und heut kommt eines schon zum andern: Der Goldschmied, der Tierhändler, der Lautenmacher und am Schluß der eigne Mann. Schlag zu! Schlag zu …! Anselm: Der Goldschmied, sagst du? Odilia: Ja, der Schuft! Anselm: Der Tierhändler? Odilia: Ja, der auch, der feiste Lüstling! Anselm: Der Lautenmacher? Odilia: Ja, der Frauenschänder! Anselm: Und denen allen hast du heut ge beichtet? Odilia: Ah …! Ach, Anselm, Anselm, laß mich meine Sünden büßen! Anselm: Was denn für Sünden, Weib? Gib Antwort! Odilia: Ich werd’ dir alles, alles sagen. Hör nur zu, ich bitt’ dich: Was kann denn ich dafür, 342

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daß ich den Männern hier in Krems gefalle? Darf eine junge Frau kein neues Kleid mehr tragen? Darf sie kein Kölnisch Wasser auf das Brusttuch träufeln, wenn die Straßen hier in der Wachau nach Pferdepisse riechen? Anselm: Der Goldschmied also … Odilia: Ja. Anselm: Der hat dich … Odilia: Ja, und wie. Die Urschel kann’s bezeugen. Anselm: Der hat dich was? Hat er dich angetastet, angegriffen, angefaßt? Odilia: Was alles noch? Anselm: Was hat er dich, der Goldschmied? Odilia: Jetzt bin ich ganz verwirrt. Der Kerl … der Kerl … der Kerl hat mich beleidigt. Und hat mir, als ich sprachlos war, den Schmuck, den ich nur ansehn wollte, als Schandlohn angeboten für … Anselm: Wofür? Odilia: Mein Gott, wofür! Wofür! Für das, was du umsonst bekommst. 343

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Anselm: Der Goldschmied? Ha! Der kleine Scheißkerl, dieser filigrane Schuft mit seinen Zappelfingern! Der? Und der Vogelhändler? Odilia: Der nicht minder. Anselm: Was? Was? Der ausgefress’ne Wanst, der Lüstling, Schinkenfresser, die Steißgeburt von einem Hundedieb, von einem Fallensteller, Affenfänger! Odilia: Er wollt’ mir einen Papageien schenken. Anselm: Dem werd’ ich seinen Wein vergiften! Odilia: Ja. Tu das und die Suppe auch. Er hat mich schier nicht unverrichtet wieder fortgelassen. Anselm: Und der Lautenmacher? Odilia: Hat meinen Leib mit einem Lautenbauch verglichen, wollt’ mir das Maß abnehmen mit den Händen und hat den Ladentisch beinahe umgeschmissen. Anselm: Verlauste Hurenböcke, Urgesteinsfaune! Satyrn! Satansbraten! Frauenschänder! Wachauer Mädchenhändler! Wildschweinrüssel! Ich werd’ … ich werd’ … ich werd’ euch allesamt … Odilia: Was wirst du, was? Nichts wirst du außer einen faulen Wind von großen Worten machen. 344

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Von euch ist einer wieder der andere, und alle wollen nur das eine. – Sechzig Mark in feinstem Silber hat mir der Affenhändler zugesagt. Stell dir das vor! Die Hände weg von meinem Kleid! Und dreißig immerhin der Goldschmied. Und der dritte von den Teufeln der Versuchung einhundert Mark in Wiener Münze, dabei ist der der Ärmste von den dreien. Anselm: Was? Was? Wieviel? Odilia: Wieviel? Was? Anselm: Wieviel Silber? Odilia: Ist das denn wichtig? Anselm: Wissen möcht’ ich’s, wichtig ist es nicht. Odilia: Ich hab’s vergessen. Anselm: Hundert Mark der Katzendarmzwirbler. Odilia: Kann sein. Anselm: Und sechzig Mark der Schimpansendressierer? Odilia: Schon möglich. Anselm: Und zwanzig … Odilia: Dreißig …

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Anselm: … nur der lausige Löffelpolierer. Nein, so was, das ist unerhört. Odilia: Nicht wahr, das sagst du auch. Anselm: Ja, dreißig Mark, das ist zu wenig. Vierzig müßt’ er bringen … Odilia: Du rechnest? Rechnest du? Anselm: Ich rechne nicht, ich überschlage nur die Summe. Silber sagtest du … alle drei kein Gold? Odilia: Gold … Silber … Münzen … Affen … Gitarren … Ringe … Papageien … Wen kümmert das? Die Schande zählt, nichts andres! Anselm: Da hast du recht, doch andrerseits … Odilia: Was andrerseits? Anselm: Andrerseits hab’ ich in meinem Leben schon viele Fässer oder Flaschen von edelstem Wachauer Wein gezapft und keiner hat mir je so leichtes Geld geboten. Wenn ich bedenk’, wie oft und tief ich mich in meinem Weinberg bücken muß, um einen magern Schoppen Wein zu keltern und wie viel Schoppen braucht’s, bis eine solche Riesensumme ich auf die hohe Kante lege … Und du, was hast du drauf gesagt? 346

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Odilia: Was sagt man wohl zu einer solchen Niedertracht? Anselm: Ja, was sagt man? Odilia: Brühwarm erzähl’ ich’s meinem Mann, hab ich gesagt, brühwarm. Sie können sich darauf verlassen. Und was der dann dazu sagt, das werden sie demnächst erfahren … Und was sagt der nun? Anselm: Der sagt: Die Urschel kennt den Weg. Wir werden sie zu deinen Herren Verehrern schicken und sie höflich für heute Nacht hierher bestellen. Alle drei. Viel Zeit bleibt nicht, wir müssen uns beeilen. (ruft) Urschel! – Keine Widerrede! Odilia: Ich finde keine Worte. Ich bin sprachlos. Anselm: Dann laß es gut sein, Frau. Geredet ist genug. Jetzt wird zugepackt. (ruft lauter) Urschel, he! Odilia: Anselm! Anselm! Anselm: Hör mir zu, Odilia, und schweig. Wir müssen heut von unserm Glück den Anfang machen, heut, verstehst du? Zweihundert Mark in Silber! Bei meiner Seel’, das ist ein Batzen Geld! 347

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Da schindet unsereiner sich bei Tag und Nacht die Haut vom Leib, wird krumm und bucklig von der Arbeit, vom Steineklauben, Fässerrollen, Traubenquetschen, und andre sind grad so wie wir mit einem nackten Arsch geboren und lüpfen nur den Zipfel hoch von einem hübschen Kleid und schon, schon regnet’s Gold und Silber. Hol’s der Schinder! Hol’s der Henker! Schluß mit dem Pfennigfuchsen! Bald bist du eine reiche Frau, und ich, ich, ich, ich werd’s dich lehren! Du wirst jetzt ohne Widerspruch den drei Halunken sagen lassen, dein Mann, der Esel, der sei über Nacht zu Pferd nach Hadersdorf, die Sache, sie verstehn schon, ließ sich machen, wenn es nur rasch und heimlich ginge. Sie sollten kommen, einer nach dem andern. Und jeder soll sich eine Kutte überziehn, damit man sie für Mönche hält und keinen Argwohn schöpft in unsrer Gassen. Geh jetzt und schick die Urschel aus. Sag ihr, sie soll nach ihrer letzten Botschaft nach Hause gehn, ins Dorf, nach Kocholz, in den Dunkelsteiner Wald zu ihren Füchsen. Und morgen hat sie einen freien Tag. Ich geh’ und richt’ die Stube her: Ein Faß voll Wein, halbvoll ist besser … und auf den Estrich frische Kräuter … und eine Waage, um das Geld zu wiegen … (Er geht ab und ruft dabei noch einmal:) Urschel!

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Odilia: Mit dem bin ich verheiratet! Der Mann ist nicht bei Trost, der ist verrückt, hat einen Sparren! Drei Männer … Mönche … um die Mitternacht … bis gegen Morgen … Kräuter … Blumensträuße … und eine Waage für das Geld … Haha! Ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht. He, Urschel, Urschel, kommst du endlich? Urschel (tritt auf ): Ja, gnä’ Frau. Odilia: Wie oft muß man dich rufen, faule Haut? Urschel: So lange, bis ich komm’, gnä’ Frau. Odilia: Arbeit gibt’s. Du mußt gleich aus dem Haus. Ich werd’ dir alles ganz genau erklären … (geht mit Urschel ab)

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Drittes Bild In Anselms Weinstube. Ein Tisch, darauf eine Silberwaage, ein halb mit Wein ge­­füll­­­tes Faß, einige Bänke oder Stühle. Zwei Türen. Die Fensterläden sind ge­schlossen. Anselm trifft die letzten Vorbereitungen und geht dann ab. Odilia schmückt sich für die erwarteten Besuche. (Der Goldschmied klopft von draußen an dieTür.) Odilia: Wer klopft? Der Goldschmied: Ich klopfe. Odilia: Und wer heißt ich? Der Goldschmied: Ich bin ich, das heißt: ich bin der Goldschmied. Odilia: Mein Mann ist unterwegs. Ich bin allein zu Haus. Ich lasse keine fremden Leute ein um diese späte Stunde. Bemüht Euch morgen wieder. Der Goldschmied: Verdammt! Wozu hab ich mich umgezogen? Odilia: Umgezogen? Wie? Der Goldschmied: In eine Kutte und in einen Strick. Odilia: Sonst habt Ihr nichts am Leib? Der Goldschmied: Ich steh’ so gut wie barfuß hier. Odilia: Ah! Dann seid Ihr gar kein Goldschmied. Ein Barfüßermönch seid Ihr. Heißt Ihr nicht Pater Coelestin? 350

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Der Goldschmied: Wenn Ihr nur endlich aufmacht, will ich Quasimodo heißen. Odilia (öffnet die Tür): Hereinspaziert, Hochwürden! Warum sagt Ihr nicht gleich, daß Ihr es seid. Für Euch bin ich zu Haus, für keinen sonst. Habt Ihr den Beutel mit dem Geld bei Euch? Der Goldschmied: Ja, keine Sorge. Odilia: Kommt weiter, aber tretet leise auf. Der Goldschmied: Ist Euer Mann nicht fort? Odilia: Ja doch, ja doch. Er fuhr grad eben mit dem Ochsenwagen nach Langenlois, um Wein zu holen. Der Goldschmied: Nach Langenlois? Das Mensch, das Ihr geschickt habt, hat behauptet, er sei nach Hadersdorf, und das zu Pferd. Odilia: Zu Pferd? Um Wein zu liefern? Der Goldschmied: Zu holen. Odilia: Wie? Der Goldschmied: Um Wein zu liefern, habt Ihr selbst gesagt. Odilia: Was weiß denn ich? Fragt nicht so viel. Beeilt Euch, zeigt das Geld! Der Goldschmied: Jetzt bin ich ganz verdattert. 351

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Vielleicht war mit den vierzig Mark das auch nicht richtig. Odilia: Doch! Macht keine Witze, Goldschmied. Legt den Beutel auf den Tisch. So dumm ist unsre Urschel wieder nicht. Der Goldschmied: Wo ist sie denn? Hört sie uns nicht? Odilia: Sie ist schon aus dem Haus. Sie schläft heut nacht in Kocholz. Der Goldschmied: In Kocholz. Odilia: Bei Verwandten. Der Goldschmied: Das ist vernünftig. Da ist das Geld, Ihr könnt es wiegen. Odilia: Tu ich auch. (wiegt das Geld) Zehn … zwanzig … dreißig … Sechsunddreißig … dreiundvierzig … ? Der Goldschmied: Ja, da staunt Ihr, was? Die drei darüber sind für ein kleines Extrawünschlein. Wenn es so weit ist, werd’ ich’s Euch verraten. Odilia: Da bin ich aber sehr gespannt. Und sagt: wo bleibt das gold’ne Kettlein? Der Goldschmied: Davon hat Eure Dienstmagd nichts gesagt. Odilia: Ich seh’, Ihr seid kein Kavalier. Habt Ihr mir’s selber nicht versprochen? 352

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Der Goldschmied: Ich bring’s Euch morgen, wenn ich heut zufrieden heimgeh’. Odilia: Ach! Ihr macht so gut wie alles falsch. Bis man mit Euch zur Sache kommt, ist einem schon die Lust vergangen. Am liebsten würd’ ich Euch jetzt gleich nach Hause schicken. Der Goldschmied: Ich bitt’, Euch, Frau Gevatterin, Ihr seid es selbst, die mich zum Narren macht. Jetzt wo ich schon so nah am Ziel bin, jetzt müßt Ihr’s nehmen, wie es kommt. Ich bin ein gut geübter Bolzenschütze und werd’ genau ins Schwarze treffen. Ihr werdet sehn, ich werde Euer Glück so sicher wie das meine machen. Odilia: Wenn Ihr nur nicht zuviel versprecht. Der Goldschmied: Ihr glaubt mir nicht? Ihr glaubt mir nicht? Ich will Euch schon bekehren. Das Glück, mein Kind, das Glück, das ist ein regenbogenfarbnes Fabelwesen, mit Flügeln, die so fein gesponnen sind, daß man’s nicht hört noch sieht, wenn es sich niederläßt. Wenn’s einer fangen will, muß er Leimruten überall auslegen, und muß, wenn’s auf den Leim geht, fest mit beiden Händen danach greifen. So und so und so und so und so! (Odilia haut ihm auf die ausgestreckten Pfoten.) 353

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Das Glück, mein Kind, das Glück, das ist buntschillernd, filigran und zierlich, daß es gar leicht in Stücke bricht, wenn einer allzu grob die Hände danach streckt. Doch wenn es einer faßt und hält, für den ist’s wonnig anzufühlen.– Gott verdamm mich! Haltet still! Odilia: Ich hol’ erst noch ein Fläschlein Wein. Der Goldschmied: Nein, sag’ ich, eines nach dem andern. Kommt her! Ich leid’s nicht länger! Odilia: He! Halt da! Hoppla! Hände weg! Zu Hilfe! Anselm (schlägt von draußen mit einem Prügel gegen die Türe): He da! He! Wer ruft um Hilfe? Ich bin’s, Anselm. Aufgemacht! Der Goldschmied: Was war denn das? Odilia: Ich weiß nicht. Ich hab’ nichts gehört. Anselm: He da! He! Warum ist denn die Tür verriegelt? Der Goldschmied: Hört Ihr das nicht? Odilia: Jetzt hör’ ich’s auch. Anselm: Odilia, mach auf! Odilia: Das ist mein Mann! Der Goldschmied: Kommt der so rasch zurück? Odilia: Er hat wohl niemand angetroffen dort in Zöbing.

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Der Goldschmied: In Zöbing? War er nicht in Langenlois? Odilia: Ist das nicht eins wie’s andre jetzt? Jetzt ist er hier, zum Teufel! Rasch, versteckt Euch! Der Goldschmied: Verstecken? Wo? Odilia: Fragt nicht so viel! Der Goldschmied: Nur eins: wohin? Odilia: Dort! Da hinein! Der Goldschmied: Ins Faß? Odilia: Ins Faß! Der Goldschmied: Ich? In das Faß? Odilia: Wer sonst. Der Goldschmied: Und wie? Odilia: Den Kopf voraus! Hinein mit Euch! (Der Goldschmied stürzt sich kopfüber in das Faß, gurgelt und ersäuft.) Anselm (an der Türe lärmend): He da! He da! Ich bin es! Aufgemacht! Odilia (öffnet die Tür und läßt ihren Mann eintreten): Schon gut, schon gut. Nicht gar so wild. Mach keinen solchen Höllenlärm. Komm jetzt herein und schau: da siehst du die Bescherung.

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Anselm (tritt ein und sieht den ertrunkenen Goldschmied im Faß stecken): Das war ein kleiner Fisch. Man sieht kaum mehr von ihm als die Sandalen. (Er zieht den Goldschmied heraus und legt ihn auf den Boden.) Hupps! – Setz dich nicht hin. Räum erst das Geld in die Lade. Odilia (räumt das Geld beiseite): Vierzig Mark. Die drei gehören mir. Anselm: So, nun pack ihn bei den Füßen. Odilia: Ach, ich bin noch ganz zittrig. (Die beiden tragen den toten Goldschmied im Mönchsge­wand durch den Hinterausgang aus der Stube. In diesem Augenblick klopft es an der vorderen Tür.) Anselm: Das ist der zweite. Rasch, beeil dich, öffne! – Nein, wisch erst den Boden auf. Odilia (wischt den Boden auf ): Wer klopft denn da? (Anselm geht gestikulierend ab durch die Hintertür.) Der Tierhändler (von draußen): Ich bin’s, der Pater Severin. Odilia: Ein Geistlicher? Um diese Zeit? Hier braucht man keine letzte Ölung. Der Tierhändler: Und sechzig Mark in Silber braucht man auch nicht? Odilia (öffnet, nachdem sie notdürftig Ordnung gemacht hat): Ah, Ihr seid das! Der fromme Pater Severin! Jetzt erst erkenn’ ich Euch. 356

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Kommt rein, mit eurem schönen Papagei. Gebt mir den Hut, macht’s Euch bequem. Der Tierhändler: Oh grand merci, liebwerte Frau. Das war ein langer Weg. Verzeiht, wenn ich mir die Sandalen auszieh’. Sie drücken mich da an der Ferse. Ich hab’ sie mir ausleihen müssen. Odilia: Das Silbergeld, habt Ihr das auch geliehen? Der Tierhändler: Nur keine Sorge. Da seht her. Voilà, voilà. Hört Ihr es klingeln? (Der Papagei wiederholt: Voilà, voilà!) Odilia: Wie? Habt Ihr das Geld ins Schnupftuch eingewickelt? Der Tierhändler: Wie sich’s für einen Bettelmönch gehört. Odilia: Gebt her, ich will es wiegen. Der Tierhändler: Laßt Euch nur Zeit. Und mir erlaubt, daß ich es mir gemütlich mache. So. – Vous permettez? Und wenn Ihr dann so gut sein wollt, dürft Ihr mir vorderhand ein Ferkel mit der Fülle braten … Odilia (wiegt das Silber): Zehn … fünfzehn … fünfundzwanzig … Der Tierhändler: … und einen safrangelben Kuchen backen. Hier eine Kanne Wein, da eine Kanne Honigbier …

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Odilia: … dreißig … vierzig … fünfundvierzig … Der Tierhändler: Brot, Käse, Obst, Konfekt und Nüsse und alles schön der Reihe nach und nach dem Augenmaß. Ich weiß, wovon ich rede. Odilia: … fünfundfünfzig … sechzig. Stimmt. Der Tierhändler: Ja, das will ich meinen. Denn wenn der Magen schwach ist, kann ich meinen Mann nicht stellen. Vous comprenez? Odilia: Wie? Was? (Der Papagei wiederholt: Vous comprenez?) Der Tierhändler: Wo bleibt das Ferkel? Odilia: Was hör’ ich da? Ein Ferkel? Der Tierhändler: Ein junges, wenn ich bitten darf, nicht über vier, fünf Pfund, mit Bärlauch und gebähtem Brot. Ich hab’ der Magd doch alles haarklein aufgetragen. Ruft nach ihr? Odilia: Die ist nicht da. Sie ist aufs Land zu ihrer kranken Tante. Ich hab’ rein nichts zur Hand, womit ich Euer Merkwürden nach dero Gusto dienen könnte. Ich bin untröstlich, das will sagen désolée und bitt’ geziemend um Pardon. 358

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Der Tierhändler: Oh, das ist jammerschade. Hätt’ ich das gewußt, hätt’ ich zwei, drei Kapaune selber mitgebracht. Es wird doch aber etwas Wein und Käs’ und zwei, drei Laugenbrezen geben, sonst müßt ich mir zehn Mark zurückerbitten. Odilia: Nichts da. Der Handel gilt. Der Tierhändler (auf ihren Busen deutend): Und was ist das? Das ist doch auch mit inbegriffen. Odilia: Finger weg! Der Tierhändler: Ich sehe da zwei Äpfel glänzen, für meine Hände grade groß genug, und werde wohl noch andre Leckerbissen finden. Odilia: Ihr seid zu gierig, Herr Monsieur. Zu Hilfe! Laßt mich los! Der Tierhändler: Kommt endlich her auf meine Knie und laßt mich degustieren. Odilia: Müßt Ihr dabei mit Eurer Zunge schnalzen? Der Tierhändler: Mir läuft das Wasser schon im Mund zusammen. Her mit Euch! Odilia: Freßt mich nicht auf mit Euren Augen! Zu Hilfe! Hört mich denn niemand? Ich muß um Haut und Haare fürchten! Anselm (schlägt von draußen an die hintere Tür): He da! He da! Ich bin es: Anselm! Aufgemacht! 359

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Der Tierhändler: Was war denn das? Odilia: Das war mein Mann! Hilf, Johann Nepomuk! Ich bin verloren! Der Tierhändler: Und ich? Und ich? Von mir spricht niemand. Wo ist ein Fenster, eine Truhe, eine Hintertür? Odilia: Zu spät, zu spät! Der Tierhändler: Der Kerl stößt an die Tür wie ein Pferd mit seinen Hufen! Weh, der Riegel bricht, die Füllung splittert! Oh, mon Dieu! (Papagei: Mon Dieu, mon Dieu!) Odilia: Versteckt Euch! Da hinein! Der Tierhändler: Ins Faß? Odilia: Ins Faß! Der Tierhändler: Bin ich ein Hering? Odilia: Ihr werdet gleich ein Hackfleisch sein! Ihr kennt nicht meinen Mann. Er spaltet Euch, er vierteilt Euch! Reißt Euch in tausend Stücke! Der Tierhändler: Dann lieber ganz gepökelt.

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Odilia: Den Kopf voran! Ich lüpf Euch an den Waden! (Der Tierhändler zwängt sich kopfüber in das Faß, gurgelt und ersäuft.) Hoho! Das war der zweite. Man gewöhnt sich. (Sie öffnet die Hintertür und läßt ihren Mann eintreten.) Anselm: Was für ein Prachtkerl ist das! Unser Tierhändler als coq au vin. Noch etwas fetter und er sprengt das Faß. Der gute Wein läuft über. Pfui! Eine Schande! Hilf ziehen! Er ist festgeklemmt. Horuck! (Sie ziehen den ertrunkenen Tierhändler aus dem Weinfaß.) Das ist ein kapitaler Karpfen. Hat er das Silber auf den Tisch gelegt? Odilia: Gezählt, gewogen und kassiert. Anselm: Gut, gut, du lernst das Handwerk. Jetzt hilf, jetzt hilf mir den da aus der Stube schleppen. Hab acht, hab acht, er hat Gewicht. Odilia: Oh, welche Last hat man mit diesen Männern! Anselm: Stöhn nicht, es hätte schlimmer kommen können. (Der Lautenmacher klopft an die vordere Tür.)

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Anselm: Hat es geklopft? Odilia: Es hat geklopft. Anselm: Ich hör’ nicht mehr so gut wie du. Wenn’s stimmt, ist es der dritte. Odilia (schiebt Anselm mitsamt der Leiche zur Hintertür hinaus): Du sagst es. Geh. Und ich, verflucht, ich kann mir nicht einmal die Haare richten. Der Lautenmacher (klopft ein zweites Mal und diesmal kräftiger an die Tür): He, Wirtin, mach die Türe auf   ! Odilia: Wer klopft denn da um diese Zeit, wenn alle frommen Menschen schlafen? (Sie öffnet die Tür.) Oh, Pater Peregrin! Welch eine Ehre! Der Lautenmacher: Laß sie die Ehre aus dem Spiel. Bin ich zu früh? Ich hab es eilig. Odilia: Nein, nein. Ich hab’ Euch schon erwartet. Der Lautenmacher: Dann ist es recht. Ich bin sehr ungeduldig. Laß uns nicht viele Wörter machen. Da ist das Geld. Da ist die Laute. Laß nur. Es stimmt. Du kannst es nachher wiegen. Jetzt kommen wir zur Sache, Frau. Wir zwei, wir werden keine Zeit vertrödeln. Halt nur den Mund und red mir nicht dawider. Wo ist das Bett? Der Strohsack? Wo? Ich sehe nichts dergleichen. Macht nichts. Wir zwei, wir brauchen keine Federkissen. Odilia: He, nicht so rasch, Herr Nachbar.

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Der Lautenmacher: Komm her, Weib, schweig, gehorche! Odilia: Das bin ich nicht gewöhnt, auf diese Art. Der Lautenmacher: Dann wirst du’s bei mir lernen. Odilia: Ihr nehmt das Maul recht voll, doch was den Beutel angeht, scheint mir der nicht ganz so prall gefüllt, wie es vereinbart war. Der Lautenmacher: Du wirst dich schon nicht zu beklagen haben. Laß mich nur erst dich aus den Kleidern wickeln. Ich muß nur wissen, wo ich anfang’, alles andre geht von selber. (sucht ihr das Kleid vom Leib zu ziehen) Odilia: Ihr riecht nach Wein. Mir scheint, Ihr habt Euch Mut getrunken, daß Ihr gar so wild seid. Wollt Ihr den Tisch umstürzen? Der Lautenmacher: Halt’s Maul! Red nicht so viel! Es geht dir nicht ans Leben. Doch beim Lebendigen will ich dich Luder schon erwischen. Ich muß an dir jetzt meinen Willen haben, und wenn’s im Bett nicht sein soll, leg ich dich auf den blanken Boden! Odilia: Ihr werft die Waage um! Die Becher springen durcheinander! Der Lautenmacher: Hör auf zu schwatzen, Weib, horch auf die Musik und laß geschehen, was geschehen muß! 363

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Ich kann’s dir nicht erlassen! (reißt ihr das Kleid in Fetzen) Odilia: Seid Ihr verrückt? Welch eine Rage! Mein schönes Kleid! Zu Hilfe! Zu Hilfe schrei’ ich! Hört mich niemand? Der Lautenmacher: Niemand hört dich. So ist’s recht. Trotz nur und strample, Weib! Ganz ohne Widerstand macht’s keine Freud’. Dein Mann, der Hornochs, ist heut’ unterwegs, die Dienstmagd Urschel ist im Dunkelsteiner Wald und ich, ich, ich bin da, bin da, bin da! Schrei wie du willst, ich werde dir schon den Teufel samt dem Beelzebuben aus deinem nackten Bauch austreiben, so daß du Hosianna singen sollst vor Lust und Seligkeit! Komm her, jetzt mußt du Bußgeld zahlen! Odilia: Ah …! Anselm (schlägt mit einem Prügel von außen gegen die Hintertür): He, Frau, was ist, was ist? Was geht da vor in unsrer guten Stube? Was soll denn das Geschrei bedeuten? Mach auf, ich komm’ zu Hilfe! Mach auf, mach auf! Muß ich die Riegel sprengen? Muß ich die Tür eintreten? Öffne! Verflucht! Vermaledeit! Verteufelt! Hört mich denn niemand drinnen? Wart, ich komm’ zu Hilfe! (Er bricht mit der Schulter die Tür auf und stürzt herein.)

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Odilia: Ah …! Es ist zu spät … Anselm: Wo ist der Hurenkerl, der Schuft? Was ist denn das? War das vereinbart? Grind, Pestilenz, Skorbut und Cholera! Muß ich den Kerl mit eigner Hand ersäufen! (Er packt den Lautenmacher bei der Kutte und steckt ihn kopfüber in das Weinfaß. Der zappelt, gurgelt und ertrinkt.) Odilia: Ah, weh mir, weh mir, mir armen Luder … Anselm: Was liegst du da, du Schlampe? Jammre nicht, steh auf und hilf mir endlich! Odilia: Hätt’st du nur mir geholfen. Jetzt spar dir deine Predigt. Anselm: Wer predigt? Fort, hinaus mit diesem Faun, mit diesem Bock im härenen Gewand! Soll ihn der Teufel holen und zerreißen! (Er schleppt den toten Lautenmacher hinaus, während Odilia auf den Boden kniend die Reste ihres zerrissenen Kleides zusammensucht.) Odilia: Mein schönes, schönes Kleid! Wie steh’ ich da. Wie seh’ ich aus. Wär’ diese Nacht nur schon zu Ende!

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Viertes Bild Im Hinterhof von Anselms Weinschenke, kurz vor Morgengrauen. Die Leiche des als Mönch verkleideten Goldschmieds liegt vor der Tür. Anselm und Odilia sitzen daneben auf den Stufen. Aus großer Ferne hört man das sich nähernde Grölen eines betrunkenen Flößers. Der Flößer: Ein Graus, ein Graus ist dieses Leben! Ich armer Hund verdurste schier. Kein Haus, kein Haus hat eine offne Tür. Ein Graus, ein Graus ist dieses Leben. Kein Wirt will mir zu trinken geben. Halb tot, halb tot muß ich mich laufen. Nur Wasser gibt’s in der Wachau, flußauf, flußab, soviel ich schau, nur Wasser gibt’s und nichts zu saufen. (Als der Flößer näher herankommt, verbirgt sich Odilia im Haus und Anselm winkt ihm mit der Hand.) Anselm: He, du! Der Flößer: Wer? Ich? Anselm: Ja, du. Wo rennst du hin? Der Flößer: Ich renn’ der Nase nach und zwischen den Ohren durch. Anselm: Da wirst du wohl im Kreis gehn müssen. Der Flößer: Ich? Im Kreis? Wieso?

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Anselm: Weil deine Nase krumm ist wie ein Enterhaken. Der Flößer: Krumm, kann sein. Das kommt vom Raufen. Aber tüchtig ist sie, geht voran als wie ein Spürhund. Sie hat so einen Wind bekommen, so eine Witterung von ausgeschüttetem Wachauer Wein. Anselm: Was Wind? Was Wein? Schlagseite hast du wie ein Kahn. Du rollst von einer Sohle auf die andre. Der Flößer: Ich bin stocknüchtern, meiner Seel’. Das schwör’ ich Euch mit Hand und Fuß. Anselm: Dann warst nicht du das, der gesungen hat? Der Flößer: Gesungen, ich? Ja, ja, ich hab so eine Stimme … (singt) Wenn mir der Wein im Bauche schwappt, hab ich noch nicht genug gehabt, dann zieh’ ich Strümpf ’ und Schuhe aus und wandre barfuß bis nach … Anselm: Hör auf zu grölen, Kerl! Der Flößer: Wenn Ihr so gut sein wollt: Nur einen Schoppen, bitt’ recht sehr. Ich hab’ so einen langen Weg vor mir. Ich muß noch donauaufwärts bis zum Lech Und dann lechaufwärts … Anselm: Aha! Ein Flößer bist du. 367

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Der Flößer: War ich. Jetzt bin ich ein Wandrer. Ich hab mein Floß verkauft, war gutes Holz aus den Tiroler Bergen. Anselm: Verkauft? Versoffen willst du sagen. Der Flößer: Und wenn ich nicht verdurste unterwegs, (singt) dann zieh’ ich Strümpf ’ und Schuhe aus und wandre barfuß bis nach Haus. Anselm: Zu trinken hab’ ich nichts mehr auszuschenken um diese Zeit, doch wenn du dir vier Pfennige für einen Rausch verdienen willst, dann kannst du mir den vollgesoffnen Klosterbruder packen und in die Donau schmeißen. Dort soll er Wasser schlucken, bis er nüchtern wird. Der Flößer: Fünf Pfennige. Anselm: Vier. Der Flößer: Grad habt Ihr sechs gesagt. Anselm: Gut, also fünf. Der Flößer: Eingeschlagen, sieben. Gilt’s? Anselm (schlägt ein): Es gilt. Der Flößer: Das nenn’ ich schnelles Geld verdienen. Her mit dem Kerl! Puah! Der stinkt nach Wein! Was ist das für ein Jahrgang? Selbstgefechst? Auf den könnt’ Ihr nicht stolz sein. 368

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Patschnaß ist er. Der muß nicht schlecht gebechert haben. Gleich bin ich wieder da. (Er trägt den toten Goldschmied auf der Schulter davon.) Anselm (winkt Odilia aus dem Haus): Komm, hilf mir, Frau! Pack an! Beeil dich, eh’ der Kerl zurückkommt! Odilia (auftretend): Was war das für ein Kerl? Anselm: Wirst ihn gleich sehen. Grad der Richtige. (Der Papagei fliegt durch die offen gelassene Türe mit lau­tem Gekrächze davon.) Was war denn das? Odilia: Der Papagei, den mir der Tierhändler geschenkt hat. Anselm: Der macht ja einen Lärm wie der Leibhaftige. Odilia: Jetzt fliegt er fort, die Donau abwärts gegen Wien. Anselm: Komm, träum nicht! Hol ihn der Teufel! Ich kauf ’ dir einen schönern. (Er trägt mit Odilias Hilfe den toten Tierhändler aus dem Haus und legt ihn vor die Tür.) Odilia: Uff! An dem brech’ ich mir alle Fingernägel! Der wollte noch in seiner letzten Stund’ ein Ferkel fressen samt der Fülle. 369

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Anselm: Die Hechte werden an dem Fettsack sich jetzt ein paar Tage delektieren. Odilia: Eine feine Mahlzeit. Anselm: Laß ihn liegen, wo er liegt, der Saufaus kommt schon wieder. (Odilia verbirgt sich im Hauseingang.) Der Flößer: So, das hätten wir. Her mit dem Geld. Anselm: Geld, wofür? Der Flößer: He, hoppla! Der Kerl liegt in der Donau. Er plumpste wie ein Mühlstein in das Wasser. Anselm: Und wer ist das hier? Der Flößer: Wer? Anselm: Der da. Mach deine Augen auf! Du willst mich wohl zum Narren halten. Der Flößer: Wer? Was? Wie ist das möglich? Der ist ja schneller wieder da als ich! Anselm: Erzähl mir nichts. Du hast ihn gar nicht fortgetragen. Der Flößer: Ich könnte schwören … Anselm: Ja, mit Hand und Fuß. Schluß! Schaff ihn fort, dann will ich es vergessen.

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Der Flößer: Her mit dem Schuft! Hoho! Schwer ist der wie ein Ochs. Jetzt hat er sich auch noch mit Donauwasser vollgesoffen. Fort mit ihm! (Er trägt den toten Tierhändler auf der Schulter davon.) Anselm: So ist es recht. Und jetzt den dritten … (Zusammen mit Odilia schleppt er den toten Lautenmacher vor die Haustür.) Odilia: Heut büß’ ich ohne Beichte alle Sünden. Anselm: So, da liegt er! Sieht so aus, als ob er um ein Stückel größer wär’ als wie die beiden andern. Odilia: Ach was, ’s ist einer wie der andre. Anselm: Sei’s drum. Hol ihn der Teufel! Odilia: Der Teufel, der ist auch ein Mannsbild. Anselm: Was red’st du da für Blödsinn? Rasch, hinein! Da kommt der Lümmel wieder. Odilia: Komm raus, geh rein! Das hört sich an, als ob ich keinen Anteil hätte an der Sache. Anselm: Hinein, sag’ ich! Odilia: Ich will nur sehn, wie er ihn hochstemmt auf die Schulter.

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Anselm: Muß ich dich an den Haaren fortziehn, Weib? (Odilia versteckt sich widerstrebend im Hauseingang.) Der Flößer (zurückkommend): So, das hätten wir. Wär’ doch gelacht. Diesmal versank er nicht. Er schwamm als wie ein hohler Kürbis. Doch dann gluckste es in seiner Kutte. – Weg war er. Her mit dem Geld! Anselm: Was schwatzt du da von einem Kürbis? Du solltest einen Mönch ins Wasser schmeißen. Der Flößer: Was tu ich denn die ganze Zeit? Verdammt! Anselm: Da liegt er doch, der Mönch, noch immer. Der Flößer: Hol ihn der Henker für den Galgen! Der Widersacher soll ihn fressen! Anselm: Du bist wohl voll bis an die Kiemen, daß du nicht weißt, was du davonträgst: Mühlsteine, Kürbisse! Für einen Mönch hab ich dir Geld versprochen! Jetzt reißt mir die Geduld, du Saufaus! Der Flößer: So wahr ich nüchtern bin: den hat der Böse eigenhändig wieder zurückgebracht, und wenn ich lüge, soll mich der Blitz zerspalten! Anselm: Schwätz nicht so viel! Pack zu! Einmal muß Schluß sein mit den blöden Witzen. Ab mit dir und ihm!

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Der Flößer: Dem werd’ ich’s zeigen! (Er trägt nun auch das dritte Opfer auf der Schulter davon.) Odilia (kommt aus ihrem Versteck hervor): Das ist ein Kerl! Hast du gesehn, wie er den nassen Mönch aufschultert, und der war auch kein Schwächling. Doch dieser Kerl da, der hat einen Nacken wie ein junger Stier. Anselm: Schon gut, schon gut. Dafür bezahlt man ihn. Odilia: Sieben Pfennig! Daß ich lache! Wenn ich vergleich’ … Anselm: Vergleich! Vergleich! Womit? Für einen Rausch genügt, was man ihm zahlt. Wenn man einem solchen Esel mehr gibt, fängt er an zu denken. Gib her das Geld! Odilia: Ich werd’s ihm selber geben. Anselm: Nichts da! Du gehst ins Haus! Gut’ Nacht! Odilia: Ich gehe nicht. Es ist schon heller Morgen. (Aus einiger Entfernung hört man plötzlich lautes Geschrei hinter der Szene.) Der Mönch: Zu Hilfe! Zu Hilfe! Laßt mich los! Seid Ihr nicht recht im Hirn?! Strauchdiebe! Räuber! Wegelagerer! Zu Hilfe! Nachbarn! Bürger! Christenmenschen! Anselm: Wer schreit da wie am Spieß? 373

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Was gibt’s? Will mich der Hurenkerl ruinieren? Der Mönch (kommt, vom Flößer verfolgt, hereingestürzt): Ich fleh’ Euch an beim heiligen Hippolyt: Schützt mich, errettet mich vor diesem Wilden! Was hab’ ich denn verbrochen? Was? Der Flößer: Schrei nicht, Halunke! Plärr nicht, Schuft! Jetzt tauche ich dich eigenhändig unter! Der Mönch: Zu Hilfe, Hilfe, fromme Leute! Anselm: Was ist denn jetzt schon wieder? Was sucht der hier, der Mönch? Ist das noch einer von den Böcken? Will der zu meiner Frau? Odilia: O Gott, bewahr mich vor der Sünde! Drei sind genug! Den kenn’ ich nicht! Den hab’ ich nie gesehen! Der Flößer: Hält mich der Braunrock da zum Narren? Ich hab’ ein gutes Herz, doch wenn der Spaß zu End’ ist, spei’ ich Feuer! Ich schlepp’ dich in die Donau diesmal, und wenn ich selber mit ins Wasser gehn muß! Der Mönch: Hört Ihr? Der ist verrückt! Bei dem hilft alles Bitten nichts und Beten. Ich komm’ ganz friedlich meines Wegs und will zur Mattutin um meiner Sünden willen. Da kommt der Kerl vom Fluß herauf und fällt mich an wie eine wilde Sau, packt mich, würgt mich, will mir den Garaus machen. 374

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Der Flößer: Was Garaus! Garaus! Wasser sollst du saufen! Schluß mit dem Geplärr! Komm! Was sein muß, das muß sein! Und was ich angefangen hab’, bring’ ich zu End’. Das Kratzen und das Beißen wird nichts nützen! Anselm: Laß gut sein, Bursch. Da, nimm das Geld. Nimm es, sei friedlich. Geh nach Haus und laß den armen Schlucker laufen. Der Flößer: Was heißt da: armer Schlucker? Der Kerl kann mehr vertragen als ihr schenken könnt. Der muß ins Wasser, ob Ihr wollt, ob nicht! Und Euer Geld behaltet! Da! Ich will nichts davon sehn, bei meiner Seel’. Euch hat der Teufel in die Hand geschissen. Ich will nur eines, eins: den tonsurierten Kerl ins Wasser schmeißen! Der Mönch: Erbarmen! Hilfe! Rettet mich! Ich kann nicht schwimmen … Ah! (Er rennt in Todesangst davon.) Der Flößer: Nicht schwimmen! Ha! Das sagst du mir und meinst, ich soll es glauben, Hundsfott! Das war jetzt deine letzte Lüge! (Er macht sich an die Verfolgung des Fliehenden.) Anselm: Der weckt die ganze Stadt. Die Fenster tun sich auf. Ich weiß von nichts. Ich geh’ ins Haus. Komm jetzt! Das war genug für heute. 375

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Odilia: Was für ein Mann! Anselm: Ein Ochs! Odilia: Ein Stier! Ein Büffel! Ich bin sprachlos! Pah! Anselm: Gut, dann komm hinein ins Haus. Für heute ist’s genug. Der Mönch: Ah …! (In der Ferne verliert sich das Jammergeschrei des um sein Leben laufenden Mönchs.)

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MAHAN Oper in sieben Bildern Text von Richard Bletschacher Musik von Francis Burt

Personen der Handlung Mahan, ein erfolgreicher junger Mann Tenor Callaghan, sein Jugendfreund Bariton Die Freundin Sprechrolle Der erste Freund Sprechrolle Der zweite Freund Sprechrolle Der alte Mann Baß Die alte Frau Mezzosopran Das junge Mädchen hoher Sopran Der Aufseher Baßbariton Der Türhüter Baß Die schlaflose Frau Alt Der Herr des Gartens Charaktertenor Das erste Mädchen Sopran Das zweite Mädchen Sopran Das dritte Mädchen Mezzosopran Der erste Hafenarbeiter Bariton Der zweite Hafenarbeiter Baß Acht Stimmen aus den Fenstern eines Zinshofes Sopran, Alt, Tenor, Baß Acht Stimmen aus dem Dunkeln Sopran, Alt, Tenor, Baß Lagerinsassen, Aufseher, Gehilfen, Dienerinnen und Partygäste. Statisterie

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Eine Gruppe von vier Sängern und vier Sängerinnen übernimmt die kleineren Gesangs- und Sprech­rollen (die Freundin, die beiden Freunde, die Huren, die Zuhälter, die Flücht­linge, der Aufseher, der Bote, die drei Mädchen des Gartens, der Diener, die beiden Ha­fenarbeiter). Auch die Statisterie kann auf einige wenige Männer und Frauen begrenzt werden, die verschiedene Rollen übernehmen.

Orte der Handlung l. Bild: 2. Bild: 3. Bild: 4. Bild: 5. Bild: 6. Bild: 7. Bild:

Im Hafen einer südlichen Stadt Auf einer Schutthalde unter Ruinen In einer Sackgasse zwischen verkommenen Zinshäusern In einem Barackenlager Im Schlafgemach einer schlaflosen Frau In einem herrschaftlichen Garten Auf einem freien Platz mit Blick auf das Meer

Zeit der Handlung Gegenwart

Eine Pause nach dem vierten Bild.

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Erstes Bild Eine lichtergeschmückte Luxusjacht liegt vor Anker am Kai einer südlichen Ha­fen­ stadt. Es ist Nacht, und rings um das erleuchtete Schiff herrscht Dunkelheit. Das Licht erhellt nur lang­sam den Raum. Unvermittelt wird eine Kajütentür aufgerissen. Lärmende Rock-Musik und Geläch­ter tönen aus dem Bauch des Schiffes. Mahan tritt auf Deck, holt tief Luft und lehnt sich dann gegen die Reling. Er trägt eine elegante, modische Seidenjacke, schwarze Hosen und Lackmokas­sins. Nach einigen Augenblicken wendet er sich irritiert zu­rück und schlägt die Kajütentür zu. Die Rock-Musik verstummt. Mahan tut ein paar Schritte. Eben als er halb seufzend, halb gäh­nend die Arme dehnt, trifft eine Stimme sein Ohr, die ihn aus dem Dunkel des Hafengeländes anruft. Die Stimme (Callaghan): Mahan! (Mahan wendet sich um und senkt die Arme.) Mahan! Hörst du mich, Mahan? Mahan (erkennt nun die Richtung, aus der die Stimme kommt, beugt sich über die Re­ling und späht ins Dunkel): Wer sind Sie? Woher kennen Sie mich? Die Stimme: Kennst du mich denn nicht, Mahan? Mahan: Es ist so dunkel dort unten. Warum kommen Sie nicht näher? (Nach und nach erkennt man die Silhouette des Rufenden. Er ist einige Jahre älter als Mahan und ziemlich verwahrlost gekleidet.) Die Stimme: Du bist halb blind vom Licht, Mahan. Steig nur herunter über deine Lichtleiter! Komm herunter zu mir, dann wirst du mich schon erkennen.

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Mahan (unwillig): Und warum kommen Sie nicht herauf? Die Stimme: Nein, nein! Ihr feiert ein Fest, eins von den sieben Festen der Woche. Nein, da will ich nicht stören. Mahan (heftig): Dann lassen Sie mich in Frieden! Die Stimme (hinterlistig): Ist es für dich, das Fest? Hast du gute Geschäfte gemacht? Hast du eins von den Rennen gewonnen? Hast du dich wieder verlobt? Ach, Mahan, Mahan! Zum wievielten Male das alles? Mahan (beunruhigt): Wer sind Sie denn? Woher nehmen Sie das? Ich kenne niemanden hier. Die Stimme (belustigt): Doch, doch! Mich kennst du, Mahan. Mahan: Nein! Zum Teufel! Wie denn auch? Wir sind heute gekommen und morgen fahren wir weiter. Die Stimme: Weiter! (lacht) Weiter! Wohin? (immer leicht und spöttisch) Bist du jemals irgendwo angekommen, daß du immer nur weiterwillst? Hast du nicht deine vier Wände und deine sieben Sachen immerfort mit dir getragen, Mahan?

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Mahan (beginnt über den Steg vom Schiff zu klettern): Das ist doch nicht möglich … Die Stimme: So komm einmal herunter aus deiner Herrlichkeit! Mahan: Die Stimme … die Stimme … Die Stimme: Komm doch wenigstens einmal, ehe du weiterfährst, einmal an Land, du lieber, schöner, glücklicher Mahan! Mahan: Das ist doch … bist du’s? Callaghan! Du? Du? Du hier? Callaghan (trocken): Du siehst es. Mahan: Aber – wie kann ich es glauben? Nach so vielen Jahren! Callaghan! Warum die heimliche Art? Warum das Versteckspiel? Warum, zum Teufel, fällst du mir nicht um den Hals? (Er umarmt ihn lachend.) Heut ist ein seltsamer Tag, ein seltsamer Tag. Seltsam. Als wir einliefen in den Hafen, im ersten Licht, da wußt’ ich, es mußte heute etwas geschehn, ich wußte nur nicht, was. Nun weiß ich’s. Aber sag doch endlich: Wie um alles kommst du hierher? 381

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Lebst du denn hier? Tausend Fragen! Komm mit aufs Schiff! Die Antworten kannst du mir nicht im Stehen geben und ohne ein Glas in den Händen … Callaghan: Und ein Mädchen auf dem Knie, einen Joint zwischen den Zähnen und eure laute Rock-Musik in den Ohren. Nein, nein! Das ist nichts für mich. Setz dich zu mir, hier auf die Steine, oder besser noch – komm, tu ein paar Schritte mit mir. Mahan: Gern, Callaghan, gern. Nur nicht so ohne … (Er tastet an seine Taschen.) Callaghan: (unterbrechend) Was brauchst du denn? Geld? Wozu? Komm! Es ist doch eine herrliche Nacht, eine von denen, die es nur hier gibt. Mahan: Gut, Callaghan, gehen wir ein paar Schritte. Ich brenne darauf, daß du redest. Ich will nur das Schiff nicht aus den Augen verlieren. Callaghan: Das Schiff? Euer Schiff ist erleuchtet wie ein Luna-Park. Habt ihr denn Angst im Dunkeln hier zu liegen? Mahan: Angst? Wovor? 382

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(Callaghan lacht leise.) Mahan: Ach, du alter Landstreicher! Callaghan: Dann komm also, Mahan! Komm! Ich kenne jeden Stein in dieser Stadt. Wir werden schon nicht stolpern. (Sie gehen Arm in Arm ab.) (Nach einigen Augenblicken öffnet sich wiederum die Kajütentür. Zwei junge Män­ ner und eine junge Frau in modischen Kleidern erscheinen im Licht. Rock-Musik quillt aus dem Schiffsbauch.) Der 1. Freund (ruft): Mahan! – Mahan! (Er wendet sich zurück zu den anderen.) Ich hab’ ihn gesehen. Hier ging er hinaus. (Die Rock-Musik verstummt. Man hört jedoch weiterhin den ge­dämpften Lärm von Gesprächen und Gelächter aus dem Schiffs­inneren.) Der 2. Freund: Er wird wohl auf dem Hinterschiff sein. (wendet sich der jungen Frau zu) Ist dir kühl? Die Freundin: Nein. Ich fröstle ein wenig. Die Nacht ist so klar. Der 1. Freund (ruft): Mahan! Der 2. Freund: Komm, wir gehen wieder hinein. Du hast keinen Schal um die Schultern. Die Freundin: Unglaublich, dieser Himmel! Schau! Der 2. Freund: Der Himmel ist schon in Ordnung, 383

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Aber die Stadt … die Stadt ist mir nicht geheuer. Der 1. Freund (ruft): Mahan! Mahan! Die Freundin: Wo hat er sich nur verkrochen? Der 2. Freund: Von den Mädchen fehlt keines. Die Freundin: Kommt herein. Der 1. Freund: Geht nur, ich werde ihn schon finden. (Die junge Frau und der 2. Freund steigen zurück ins Schiffsinnere. Die Geräusche der Party verstummen, sobald sich die Türe schließt. Der 1. Freund geht weiter über das Deck der Jacht und ruft durch die vorgehaltenen Hände.) Der 1. Freund: Mahan! (schon hinter der Szene) Mahan!

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Zweites Bild Eine Schutthalde unter Ruinen. Halb verschüttete Gänge führen in die Tiefe. Es ist Nacht, aber ein Streifen des Mondlichts be­­rührt die Konturen der verfallenen Gebäude. Mahan (kommt außer Atem gelaufen, hält inne, blickt sich um und ruft): Callaghan! (Ein Echo aus den Ruinen antwortet ihm.) Callaghan! (Echo) Wo bist du, Callaghan? Hörst du mich? Callaghan, hörst du mich? Hörst du mich? Callaghan! Callaghan! Callaghan! (Er sucht sich einen Weg über einen der Schuttberge, gleitet aus und bleibt verletzt liegen.) Ach! (Er tastet nach seinem Bein.) Ach, mein Bein, mein Bein! Ah! Ach, verflucht! Ich glaube, ich blute. (plötzlich ausbrechend) Ich begreife das nicht. Bin ich blind? Bin ich von allen guten Geistern verlassen? Er war ganz dicht neben mir und auf einmal … weg … verschwunden … wie fortgeblasen! Ach! Das blutet, das blutet! (sich nur allmählich beruhigend) Ist das nicht ein seltsamer Tag. Callaghan … das Wiedersehn … die Freude … als wär’ ich rund um die Erde geirrt und käme nach Hause in meine Kinderzeit. 385

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Aber nein, er sucht mich unterwegs. Unvermutet trifft er mich hier. Oder hat er geahnt, daß ich komme? Hat er mich erwartet? Hat mich erwartet? Callaghan! Callaghan! Und ich dachte, er wäre gestorben. (vor sich hinbrütend) Nun hock’ ich hier. Es ist Nacht. Keine Seele unterwegs. Nichts als Schutt und Steine, soweit ich sehe. Was soll ich hier in dieser Öde? Nur ein paar Schritte, sagte er, ein paar Schritte, um Atem zu holen. Und jetzt, jetzt sind wir meilenweit vom Schiff. Wir? Wir? Wo ist er, zum Teufel! Wo ist er nur hingekommen? Es ist nicht zu fassen: Er muß mich doch hören, der Hurensohn! (Er richtet sich wieder auf und schreit vor Schmerz und Zorn.) Oh! Oh! Verflucht! Das schmerzt, das schmerzt, das schmerzt. (ausbrechend) Er kann aber nicht aus der Welt sein! (kehrt zu der Stelle zurück, in der ihm zu Beginn das Echo antwortete, und ruft) Callaghan! (Echo) Callaghan! Callaghan! (Er lauscht dem Echo. Da nähert sich aus einem der unterirdischen Gänge ein Geräusch, wie von Stöcken, die gegen die Mauern schla­gen. Mahan steht und lauscht ohne Bewegung. Bald darauf kom­men zwei Gestalten, ein alter Mann und eine alte Frau ans Licht. Mit ihren langen Stöcken beginnen sie im Schutt zu stochern und verstauen in

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Abständen irgendwelche Fundstücke in Sä­cken, die sie auf dem Rücken schleppen. Als sie Mahan gewahr werden, we­­­­­­ichen sie aus und entfernen sich.) Mahan: Hallo! Ihr! Ihr da! Warum lauft ihr davon? Habt ihr Angst vor mir? Der alte Mann (düster und unwirsch): Laß uns in Frieden. (zu seiner Frau:) Komm, Frau! (Die beiden entfernen sich stöckeklappernd.) Mahan: Seht ihr nicht, daß ich verletzt bin? ich bin gestürzt, hier in der verdammten Finsternis. Der alte Mann: Dann such dir einen Stock wie wir. Die alte Frau: Einen Stock, einen Stock. Die unseren brauchen wir selber. Mahan: Ich brauche keinen Stock. Ich will eine Auskunft. Habt ihr einen Mann gesehn, der eben hier vorbeikam? Groß und kräftig, ein wenig zerlumpt. Der alte Mann (finster): Wir kümmern uns nicht um andere Leute. Mahan: Habt ihr mich nicht rufen gehört? Der alte Mann: Was rufen? Was rufen? Die alte Frau: Die Eulen, die Eulen haben gerufen.

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Der alte Mann: Komm, Frau, wir gehen! Mahan: Wißt ihr, wohin dieser Weg führt? Der alte Mann: Wohin soll er führen? Zur Hölle, wie alle Wege. Mahan: Wo kommt ihr denn her? Der alte Mann: Was geht das dich an? Laß uns in Frieden! Komm, Frau! Die alte Frau: Komm, gehen wir ! Komm, gehen wir, gehen wir … gehen wir … ! (Sie entfernen sich.) Mahan (ruft ihnen nach): So wartet doch! Ich komme mit euch. Der alte Mann: Was willst du von uns? Wir haben nichts. Mahan: Ich … ich … ich brauche ein Tuch, um mich zu verbinden. Der alte Mann: Ein Tuch, von uns? Nimm doch dein Hemd. Mahan (eindringlich): Ihr sollt mir helfen! Ich bin fremd hier. Die alte Frau: Fremd hier, er ist fremd hier! Fremd, was ist das?

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Wer ist denn hier? Schau, schau, der hübsche Herr ! Der alte Mann: Geh hin, woher du kommst ! Geh nach Haus! Mahan: Ich kann nicht, ich kann nicht. Ich bin verletzt. Ich habe meinen Weg verloren. Nehmt mich mit euch! Nehmt mich mit euch ein Stück! Ich bitt’ euch. Ich bitt’ euch. Die alte Frau: Er bittet. Er bittet. Der alte Mann: Schon gut, schon gut. Ein paar Schritte, wenn’s sein muß. (Die beiden Alten nehmen den humpelnden Mahan in ihre Mitte und gehen mit ihm zusam­men langsam ab.)

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Drittes Bild Die drei erreichen eine schlecht beleuchtete Straße zwischen hohen, elenden Zinshäusern. Es ist tief in der Nacht. Mahan hat die Arme über die Schultern der beiden Alten gelegt und kommt nur müh­sam und widerwillig voran. Er hat offensichtlich Schmerzen. Mahan: Ich will nicht mehr. Bleibt endlich steh’n! Was soll ich hier, in diesem Labyrinth von Elend? Der alte Mann: Komm weiter! Gleich sind wir da. Komm weiter, komm weiter! Mahan: Man müßte doch endlich von irgendwo hinab auf den Hafen sehn. Man müßte es doch riechen, wenn es nah wäre, das Meer. Der alte Frau: Geh deinen Weg allein, wenn du nicht willst, daß wir dich führen! Mahan: Bringt mich doch wenigstens zu einem Hotel, einer Unterkunft oder zu einer Polizeistation. Die 1. Frau (aus einer Toreinfahrt): Die Polizei! Ha! Die Polizei kommt nicht in diese Gegend. Mahan (wendet sich um): Was war das? Was sagt die? He? Die alte Frau: Schrei nicht so laut! Die Leute hier, die haben einen leisen Schlaf. Der alte Mann: Komm weiter! Komm endlich weiter! 390

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Mahan (wütend): Ich will nicht, hab’ ich gesagt! Die 1. Frau: Einen schönen Fang habt ihr da gemacht. Wenn man die seidene Hemdbrust anschaut und die glänzenden Schuhe an dem, könnt’ einen der Neid fressen auf euch, ihr grindiges, blutsaugendes Greisengesindel. Der 1. Mann (aus der Toreinfahrt): Was maulst du denn da, alte Vettel? Mißgönnst einem jeden das Seine. Was geht es dich an, wenn andern auch einmal das Glück übern Weg läuft? Haben lange genug drauf gewartet. Der alte Mann: So komm doch! Komm! Fort von hier! Komm! Mahan (schreiend): Wer sind die? Was wollen die? Die alte Frau: Komm! Komm endlich weiter! Fort! Nur fort von hier! Der 1. Mann: Geht nur vorbei und schnell, wenn ihr etwas behalten wollt von eurem glücklichen Fischzug. (lacht) (Die beiden Alten suchen Mahan fortzuziehen, der aber reißt sich los.) Mahan: Laßt mich! Laßt mich! Weg mit den Krallen von mir! Der 2. Mann (aus einem Fenster, das zuerst erleuchtet und dann aufgerissen wird): Verdammter Lärm! Kann man nicht Ruhe haben um diese Zeit?! Die 2. Frau (aus einem anderen Fenster): Was ist los da? Was ist los? 391

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Der 2. Mann: Was sucht der seidenverpackte Muttersohn auf unserem Pflaster? Die 2. Frau: In dieser Sackgasse hier? (Lichter gehen an. Immer mehr Fenster werden aufgerissen.) Die 3. Frau (aus einem anderen Fenster): Und in diesem Kostüm? In diesem Kostüm? Die 2. Frau: Komm herauf, Bürschlein, komm herauf! Bei mir wirst du’s gut haben. Der 1. Mann (aus der Toreinfahrt): Du Hurenstück! Du Hurenstück! Willst du ihn dir schnappen? (lacht) Die 3. Frau: Du Hurenstück! Du Hurenstück! Die 4. Frau (aus einem anderen Fenster): Du Hurenstück! Du Hurenstück! Die 1. Frau: Du Hurenstück! Du Hurenstück! Der 3. Mann (aus einem Fenster): Was macht denn der hier? Der 2. Mann: In diesem Kostüm! Die 4. Frau: Kommt der aus dem Zirkus? Die 3. Frau: Will der uns zum Lachen bringen? Die 4. Frau: Der glänzt! Der glitzert! Vier Frauen und drei Männer: Der glänzt und glitzert und schillert und schimmert! Der glänzt und gleißt und glitzert!

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Der 4. Mann: In diesem Kostüm, in diesem feinen Kostüm! Vier Frauen und drei Männer: Das ist ein Goldkäfer, ist ein wahrer Goldkäfer! Der 4. Mann (tritt mit einigen anderen aus einer Toreinfahrt): Den teilen wir auf. Packt ihn! (Sie beginnen Mahan zu jagen.) Mahan: Hilfe! Hilfe! Die 3. Frau: Packt ihn! Die 4. Frau: Packt ihn! Der 2. Mann: Holt euch den Lümmel! Der 3. Mann: Schlagt ihn zusammen! Die 4. Frau: Schnell! Schnell! Die 2. Frau: Greift zu! Die 3. Frau: Greift zu! Der 1. Mann: Daß er nicht ausreißt! Der 4. Mann: Haltet ihn! Vier Frauen und vier Männer: Packt ihn! Schlagt ihn zusammen! Haltet ihn, daß er nicht ausreißt! Paßt auf! Schnell! Greift zu! Packt ihn! Schlagt ihn zusammen! Haltet ihn! Schnell! Mahan: Laßt mich los! (Mahan setzt sich mit einem den Alten entrissenen Stock zur Wehr. Ein junges Mädchen kommt im Vordergrund aus dem Dun­kel, faßt Mahan bei der Hand und zieht ihn hinter einen Mau­er­vorsprung.) Das junge Mädchen: Komm! (Die Zurückbleibenden schreien wild durcheinander.) 393

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Viertes Bild Das junge Mädchen hat Mahan in ein Barackenlager geführt. Im ersten Morgenlicht sieht sich Mahan inmitten unüberschaubaren Elends. Schlafende Gestalten liegen rings auf der Erde. Mahan (flüsternd): Hierher? Hierher führst du mich? Wohnst du denn hier? Das junge Mädchen: Ja, hier wohn’ ich. Mahan: Und welches ist … dein … ? Das junge Mädchen: Mein Haus? Mein Zimmer? (lacht) Das da. (Sie zeigt auf eine Baracke.) Und das, was dort liegt, das sind meine Eltern, meine Geschwister, die Kinder meiner Geschwister … Mahan: Leise, sie schlafen. Das junge Mädchen: Sie schlafen und schlafen auch nicht. Denen ist Tag und Nacht nicht verschieden. Mahan: Aber sie könnten uns hören. Das junge Mädchen: Vergiß sie, komm weiter! Mahan (schaut sich um): Ich kann es nicht glauben. Was soll ich hier? Ich will nur zurück zu meinem Schiff. Sag endlich: Was willst du von mir? Das junge Mädchen: Ich dachte, du warst es, 394

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der laut um Hilfe rief. Da zog ich dich fort. Und wen ich finde, glaub mir, der kann nicht verlorengehen. Ich kenne jede Stufe dieser hundert Treppen. Ich kenne alle Bretterzäune und Mauern, hab’ ich oft Kamillenblüten und Mohn aus ihren Ritzen gerupft, und aus allen Nischen und Toren hab’ ich die Fremden mit Blicken oder mit heimlichen Rufen verfolgt. (Sie lacht leise.) Es vergeht kaum eine Nacht, in der ich nicht wenigstens einen Verirrten finde hier oder dort. Mahan: Und wie kannst du ihm helfen? Das junge Mädchen: Helfen? Jeder hilft sich hier selbst. Ich helfe mir … und denen, die da liegen, so gut, wie ich kann. Mahan: Ich habe nichts bei mir. Nicht eine Münze. Schau. (Er wendet seine Rocktaschen nach außen.) Ich ahnte ja nicht … Das junge Mädchen: Laß mich nur suchen. Darf ich? Irgend etwas finde ich immer, das der Mühe wert ist. Die Uhr da zum Beispiel. Mahan: Die Uhr? Was willst du mit der? Willst du die Stunden zählen in dieser Jauchegrube von Unglück? 395

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Das junge Mädchen: Pha! Die Zeit, die kann mir gestohlen bleiben! Aber das Gold, das drum herum ist, das nehme ich mir, denn das zählt. Schenkst du sie mir? Mahan: Nimm sie. (Sie löst ihm die Uhr vom Handgelenk.) Das junge Mädchen: Und wenn ich – besonders – anschmiegsam bin, schenkst du mir dann vielleicht auch … Mahan: Was? Das junge Mädchen: Deine seidene Jacke? Mahan (erschrocken): Meine Jacke? Das junge Mädchen (schmeichelnd): Ja, die gefällt mir. Als ich die sah, wußte ich gleich: du würdest mich verstehen. Ich liebe so wie du solche Farben und solch ein feines, glänzendes Futter. Komm jetzt, komm jetzt mit mir. Ich wette, du wirst sie mir schenken, die Jacke, die Schuhe und noch viel mehr. (Sie sucht ihn fortzuziehen. Die am Boden liegenden Gestalten beginnen sich langsam zu erheben und mit unbeweglichen Augen auf Mahan zu blicken.) Mahan: Die vielen Augen ringsum! Wie die mich ansehen … anstarren! Das junge Mädchen: Vor denen brauchen wir uns nicht zu schämen. Die sehen die Menschen nicht mehr, die sehen 396

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nur noch die glänzenden Dinge. Komm weiter! Mahan: Wie sie auf der Erde kriechen! Warum stehen sie nicht aufrecht? Sie kommen näher heran! Was wollen sie? Sie fassen mich an! Sie tasten nach meinen Schuhen! Sie klammern sich an meine Kleider! Was wollen sie alle von mir? Das junge Mädchen (zu den Herandrängenden): Laßt ihn, ihr Verfluchten! Nehmt die Hände von ihm! Mir gehört er! Mir allein! (Sie tritt die Knieenden mit dem Fuß zurück und reißt Mahan auf die an­d­e­re Seite.) Mahan (entsetzt): Was tust du? Bist du besessen?! Das junge Mädchen: Die kennen es nicht anders, diese Hyänen! (Aus dem Hintergrund nähert sich ein Zug von elenden Gestalten, die schmutzige Bündel auf dem Rücken schleppen. Sie werden von Aufsehern bru­tal vorwärts getrieben. Ein großes, klagendes Stö­h­nen von Stimmen aus dem Dunkeln ertönt von verschiedenen Seiten. Eine trübe Dämmerung kün­digt den anbrechenden Tag an.) Mahan: Wer sind die dort? Wo bin ich? Warum klagen sie? Was geschieht? Ich habe noch nie soviel Jammer gesehen. Es ist um seine Augen und Ohren zu verwünschen! Das junge Mädchen: Komm! Was kümmern uns die? Mahan: Fortgetrieben werden sie mit Knüppeln, mit Knüppeln und Gummistöcken!? 397

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Das junge Mädchen: Komm, weg von hier! Mahan: Sie werden geschlagen! Warum? Hörst du das Stöhnen? Hörst du es nicht? Was haben die getan … verbrochen? Das junge Mädchen: Fremd sind sie so wie ich. Anders sind sie als ihre Peiniger. Sie glauben nicht die gleichen Worte. Es gibt zu viele von ihresgleichen. Nicht alle können am Leben bleiben. Nicht alle können glücklich sein. Aber wir, wir beide, wir könnten es sein, wenn du nur wolltest! Komm doch! Komm! (Als Mahan sich widersetzt, reißt sie ihm mit einem Schrei die Jacke vom Leib. In diesem Augenblick steht unvermittelt ein Aufseher vor Mahan. Das junge Mädchen ist verschwunden.) Der Aufseher: Halt, Sie da! Wer sind Sie? (Mahan versucht zu fliehen.) Der Aufseher (zieht die Pistole): Bleiben Sie stehen! Ich schieße. (Mahan bleibt stehen.) Der Aufseher: Wer sind Sie? Ihre Papiere! Mahan: Ich habe sie nicht bei mir. Ich bin fremd hier. Ich habe mich verirrt. Der Aufseher: Verirrt? Ha! Ausländer, wie?

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Und was treiben Sie hier? Ausgerechnet hier, unter denen? Wie kommen Sie in diese Gegend? Mahan: Ich war auf einem Schiff … auf dem Schiff meiner Freunde … Ich suche den Weg zurück. Der Aufseher: Kommen Sie mit! Mahan: Lassen Sie die Hände von mir! Bringen Sie mich auf meine Botschaft. Dort wird man Ihnen alles erklären. Der Aufseher: Ich brauche keine Erklärung. Ich habe Augen im Kopf. Kommen Sie mit! Der Türhüter (auftretend): Laß gut sein. Den nehmen wir. (Er winkt seinen Gehilfen. Die werfen Mahan ein schwarzes Tuch über den Kopf und führen ihn fort.) Pause

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Fünftes Bild Ein hohes, dunkles Gemach, dessen Fenster von schweren Vorhängen verhüllt sind. Auf einer Ottomane liegt eine üppige, alternde Frau, die von einigen stummen, verschleierten Die­ne­rin­nen umsorgt wird. Wenn später die größeren Lichter angezündet werden, erkennt man überdies ein mit Tep­pichen und Kissen überladenes Bett, so­wie auf einer Anrichte verteilte Räu­cher­pfannen, Getränke, Süßspeisen und Früch­te. Die schlaflose Frau: Ach, wie lang muß ich warten. Und die Nacht geht vorüber und keiner kommt und vertreibt mir die Stunden! Sind die Straßen denn leer heute abend? (zu den Dienerinnen) Ah, das tut wohl! Greif fester zu. Nicht du mit deinen bäurischen Händen. – Du, ja, du kannst es besser. – Ha! Da ist er! Hört ihr nichts? … Nein. – Ah, mein armer, gepeinigter Rücken! Wie lang werd’ ich Unglückliche das alles hier noch ertragen und euch dazu, Quälgeister ihr! (Mahan wird vom Türhüter und zweien seiner Gehilfen ins Zim­mer geführt. Er ist gefesselt und trägt einen schwarzen Sack über Kopf und Oberkörper gebunden.) Die schlaflose Frau: Ah! Hab’ ich es nicht gesagt? Meine Ohren sind gut und immer noch besser als es die euren sind. Da ist er! Da ist er endlich! (Zu den Dienerinnen:) Genug jetzt. Helft mir aufstehn. (Zum Türhüter:) Laß sehen! Bring ihn hierher! Ich will ihn mir näher beschauen. 400

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Weh euch, wenn er mir nicht gefällt! Nehmt ihm den Sack vom Kopf! Der Türhüter (zieht ihm den schwarzen Sack vom Kopf und stößt ihn weiter ins Zim­mer): Beweg dich! (Die beiden Gehilfen führen den widerstrebenden Mahan vor die Ottomane, auf welcher die schlaflose Frau ruht.) Die schlaflose Frau: Ziemlich verwahrlost, aber nicht schlecht. Die Schuhe sind schmutzig. Das Hemd ist zerrissen. Haben sie dich geschlagen? Mahan: Was will man von mir? Wer sind Sie? Und wer sind die da? Die schlaflose Frau: Laß dich ansehen. Was wendest du dich zur Seite? Du mußt dich nicht schämen. Du bist doch ein ganz passabel aussehender Bursche. Ein Amulett um den Hals? Wie hübsch! Damit das Kind nicht verlorengeht. Hab’ ich recht? Mahan (wütend): Gibt man mir Antwort!? Die schlaflose Frau: Nein. Man gibt dir nicht Antwort. (zum Türhüter) Wo habt ihr ihn aufgegabelt? In einer Bar? Im Yachtklub? In einem Hurenhaus? Nein, laßt! Ich will es nicht wissen. 401

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Es ist ein asiger Geruch an ihm. (zu ihren Dienerinnen) Zieht ihm das Hemd aus! Gießt ihm Rosenwasser über die Schultern! Nein, wascht ihn! Er stinkt! Mahan: Weg die Hände von mir! Faßt mich nicht an! Wer seid ihr, daß ihr es wagt? Bin ich hier auf dem Sklavenmarkt? Wo bin ich? Was hab’ ich getan? Man schleppt mich her mit Gewalt. Nach welchem Recht? Auf wessen Befehl? Ich will meinen Botschafter sprechen! Was hier geschieht, ist gegen jedes internationale Gesetz. Die schlaflose Frau: Ein Ausländer? Ein Fremder? Er schwätzt wie ein Zeitungskorrespondent. Mahan: Ich war ein freier Mann bis zur Stunde. Und was bin ich jetzt? Hält man mich fest? Bin ich gefangen hier? Der Türhüter: Schweig und stell keine Fragen, sonst wird dich die Antwort nicht freuen! Die schlaflose Frau: Laß ihn und geh! Wir wissen schon, was zu tun ist. Der Türhüter: Ich hüte die Tür und bin rasch bei der Hand. (beiseite zu Mahan) 402

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Ich rate dir, füge dich und sei der Dame zu Willen, dann fällt etwas ab für dich: ein hübsches, kleines Geschenk, je nachdem, was du taugst. (Er geht zusammen mit den beiden Gehilfen ab.) Die schlaflose Frau (zu ihren Dienerinnen): Zündet die Lichter an! Nicht die vorlauten, grellen! Wollt ihr mich blenden? Verfluchtes, hirnloses Pack! Sanftes, verhängtes Licht, Milchlicht, süß wie aus Honigwaben. Meine Augen hassen die Sonne, und die Sonne haßt meine Augen. Ich bin eine schlaflose Frau. Manchmal wollt’ ich, ich wäre blind. Ich habe genug gesehn von der Welt. Doch dann wär’ ich euch ausgeliefert, ihr Schlangengezücht, und ihr seid ohne Erbarmen. Tut, was ich euch sage, aber behutsam. Der junge Herr ist, wie man sieht, aus gutem Haus und trägt feine Wäsche. Mahan: Was sind das für Wesen? Sie gehn durch die Wände. Die schlaflose Frau: Kümmre dich nicht um sie! Hände sind sie, Hände und Ohren. Und manchmal auch zischelnde Zungen. Ich weiß nichts von ihnen und will auch nichts wissen, solange sie tun, was ich wünsche. (Die Dienerinnen tun, was ihre Herrin befiehlt.) 403

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Gibst du mir nun dein Hemd? Sie werden es flicken und dir unterdessen einen seidenen Mantel geben. (Mahan läßt es widerwillig geschehen.) Sie mischen Wasser und Öle zum Bad, sie mischen Wein, Tee und Gewürze, sie zünden Zigaretten, Opium oder Räucherwerk an. Sie bringen mich auch zu Bett mitten am Tag. Sie streicheln mir sanft Hals, Rücken und Hüften. Sie walken mir Arme und Schenkel. Sie decken mich zu und löschen das Licht. Sie können viel, sie können fast alles, nur Schlaf, Schlaf, Schlaf können sie mir nicht geben. Kaum nehmen sie die Hände von mir, und lassen mich los, schon bin wieder hellwach, stütze mich auf, verlasse das Bett und stehe schwankend auf meinen Beinen. Ich bin allein, allein, und kann doch nicht allein sein. Komm her, komm her zu mir, Fremder. (Die Dienerinnen führen den gereinigten und umgekleideten Mahan zu dem Bett, auf dem sich die schlaflose Frau niederge­lassen hat, und ziehen sich dann zurück.) Mahan: Was verlangt man von mir? Wo bin ich? Wer sind Sie? Was wollen Sie? Die schlaflose Frau: Wer ich bin, das wirst du nie erfahren. Und wenn du es erführest, dann müßte ich Sorge tragen, 404

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daß du’s nicht ausplauderst, unbedacht. Was ich will von dir, das werd’ ich dir sagen, wenn du zu dumm bist es zu erraten. Was man von einem jungen Hahn verlangt, das verlang’ ich von dir. Treten sollst du. Mahan: Treten? Die schlaflose Frau: Ja, essen und trinken, soviel du nur willst, und dann treten, so gut als du nur kannst. So sagt man doch von den Hähnen, die sonst für nichts zu gebrauchen sind. Und der Hahn tritt seine Henne, so oft und so gut er nur kann, denn er weiß, daß man ihn schlachten wird, wenn er umfällt. – Wein und Pistazzien! – Da, trink, wenn du Mut brauchst! Mahan: Wenn’s weiter nichts ist. Ich brauch’ keinen Wein. Wen soll ich treten? Dich oder eine von denen? Die schlaflose Frau (lacht): Frech bist du, Unverschämter, frech. Das gefällt mir. (zu den Dienerinnen) Verschwindet, ihr da! Hinaus! Heut fällt nichts ab für euch. (zu Mahan) Und du komm her, komm her, Namenloser! Sag nicht, wer du bist! Sag nicht, woher du kommst! Vielleicht verstehst du nicht, was ich rede. Vielleicht hast du Lepra oder 405

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die venezianische Krankheit. Ich schere mich wenig darum. Du riechst nach Jugend, nach Leben, nach Schlaf. Komm! - Bist du durstig? (zu den Dienerinnen, die sofort wieder da sind) Wo bleibt der Wein? Konfekt, Pistazzien und Nüsse! Wozu füttert man euch, Faulenzerinnen?! Wenn euer Herr kommt, und einmal muß er ja kommen, wird er euch peitschen lassen. Aber er kommt nicht … oder doch? – Hör’ ich nicht einen Wagen? Scharren die Räder nicht auf dem Kies? … Nein, nein. Laßt den Vorhang geschlossen! Ein Hubschrauber ist es. Er rudert über den Himmel, Er bewacht, belauert die Stadt, die Insel, die Buchten, das Meer. Es ist alles, wie es auch gestern war. Und ich dachte, du könntest mir helfen. Du bist jung. Leg dich zu mir. (Sie zieht Mahan in ihr Bett.) Komm, komm! Ich weiß, ich gefalle dir nicht. Aber ich bin eine Frau, eine leidenschaftliche, eine verzehrende Frau. Und wenn du ein Mann bist. dann gib mir, was du zu geben hast, du mußt es mir nicht mit ranzigen Lügen kredenzen. Wirf es mir hin wie einer Hündin. Ich bin nicht stolz. Ich bin hungrig und durstig! 406

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Ich habe genug von den faltigen Männern, den Obristen mit ihren mächtigen Bäuchen, den rülpsenden Generaldirektoren. Ich will einen Mann ohne Titel und Orden, mit harten Armen und gierigen Lippen. Ich werde mich dankbar erzeigen. Du kannst alles haben: Wein oder Whiskey, Geld oder Seidengewänder oder auch ein paar rote Striemen über den Rücken, je nach Verdienst. Komm! Ich sehe dich nicht! Meine Augen sind nur mehr zwei schmale, bebende Schlitze. Kein Lichtstrahl sickert in den Brunnenschacht meines Leibes. Ich will deinen Namen nicht wissen! Ich will meine Muttersprache verlernen! Ich will all meine Sinne vergeuden! Erst wenn ich nichts mehr weiß von dir und auch von mir, erst dann werde ich schlafen, vergessen und schlafen, wie der schwarze Tang schläft in der Tiefe des Meeres … Mahan: Wenn geschehen soll, was du willst, dann zerr’ nicht an mir, sondern schweig. Und wenn dies der Preis für meine Freiheit ist, dann werd’ ich ihn zahlen. Komm her! Du sollst haben, was dir gebührt! (Er wirft sie aufs Bett und stürzt sich über sie.) (Von draußen dringen Geräusche durch die Fenster wie von Moto­renlärm, Schritten und Rufen. Die schlaflose Frau stößt Mahan von sich. Die Dienerinnen ziehen ihn ins Dunkel.)

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Die schlaflose Frau: Ah! …Was war das? … War das nicht ein Wagen? Es ist Tag! Es ist Tag! Die Zündschnur des Lichts zuckt unterm Vorhang herein! Er ist’s! Weh mir! Schnell, löscht die Kerzen! (Ein Mann in einem Ledermantel tritt ins Zimmer, gefolgt vom Türhüter.) Die schlaflose Frau: Ein Bote? Sein Fahrer? Was sagt er? Was sagt er? Der Türhüter: Heut abend, sagt er, heut abend bittet der Herr, ihn zu empfangen. Die schlaflose Frau: Er kommt? Kommt er allein? Heut abend? Wann? Bleibt er über Nacht? Weiß er nicht mehr? Heut abend erst? Und jetzt ist kaum Morgen! (Der Bote geht ab, gefolgt vom Türhüter.) Ah! Heute abend! Endlich! Endlich! Öffnet die Fenster! Treibt die schwülen, scheußlichen Dünste ins Freie! (Die Dienerinnen befolgen ihre Befehle. Grelles Tageslicht dringt durch die geöffneten Fenster in den Raum.) Die schlaflose Frau (zu Mahan): Wie? Wer bist du? Was machst du noch hier? Mein Herr wird dich töten! 408

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Und recht geschieht dir! Wozu brauche ich dich! Du bist der namenlose Niemand aus einer finsteren Gasse! Ein Landfremder! Dich wird niemand vermissen. Wer weiß, ob du ein Mann bist. Ich weiß es nicht und will es nicht wissen. Mein Herr kommt, er hat viele Arme und Beine! Er ist der Gouverneur dieser Stadt! Mein Herr ist stark! Seine Zunge ist das Gesetz! (Der Türhüter und seine beiden Gehilfen treten hastig ins Zimmer.) Die schlaflose Frau: Türhüter, he! Packt den hergelaufenen Strolch! Schmeißt ihn hinaus mitsamt seinen Schuhen und Kleidern! Schont eure Fäuste nicht! Zuerst aber stülpt ihm den schwarzen Sack übern Kopf und führt ihn, wohin ihr wollt, nur fort, weit fort von mir und meinem Haus! Und dann reinigt den Boden, streut Sand und heilende Kräuter, daß nichts mich mehr mahnt an den Auswurf der Gosse! (Sie bricht in ein schrilles Gelächter aus, während der Türhüter und seine Gehilfen Mahan den seidenen Mantel vom Leib reißen, ihm seine Kleider und Schuhe in die Arme drücken und ihn mit verhülltem Kopf wieder aus dem Zimmer schleppen.) Der Türhüter: Zur Hölle, du Bastard, mit dir! Zur Hölle! 409

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(Er und seine beiden Gehilfen, und endlich auch die Dienerin­nen, stimmen ein in das höhnische Gelächter der schlaflosen Frau.) Lauf! Lauf! Lauf!!!

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Sechstes Bild Man hört einen Schuß, dann noch zwei Schüsse kurz hintereinander. Durch einen Sprung von einer hohen Mauer bringt sich Mahan in Sicherheit. Er ist auf der Flucht, barfuß, mit zerrissenen Kleidern. Als er sich umblickt, findet er sich in einem Garten von atemberaubender Pracht auf der Erde liegen. Helle Nach­­mi­tt­ ags­sonne b­ linkt durch die Zweige. Als er das erste Staunen überwunden hat, entdeckt er ganz nahe vor sich einen Brunnen, kriecht darauf zu und wäscht sich darin langsam aufatmend das Gesicht. Wie er den Kopf hebt, sieht er im Schatten eines hohen Baumes einen alten Herrn in einem Rollstuhl sitzen und ihn lächelnd be­obachten. Mahan (erschrocken): Wer sind Sie? Der Herr des Gartens (leise lächelnd): Ich? Wer ich bin? Sie kommen daher, wie aus dem Himmel geworfen, fallen in meinen Garten und verwüsten mir meine Blumenbeete. Sollte ich da nicht eher Sie fragen, wer Sie sind, junger Freund, und was Sie hier suchen? Mahan (erregt): Was ich suche? Ich? Was geht Sie das an? Lassen Sie mich in Ruhe! Der Herr des Gartens: Ich sehe da etwas Rotes an Ihrem Bein. Blut? – Sind Sie verletzt? Mahan: Das ist nichts … Lassen Sie mich! Der Herr des Gartens: Es ist zwar nicht mein Blut, aber doch meine Wiese. 411

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Mahan (erschöpft): Lassen Sie mich … nur einen Augenblick … um Atem zu holen. Sie haben nichts zu befürchten. Der Herr des Gartens: Ich weiß. (lacht leise) Ich weiß. Aber Sie? Mahan (ausbrechend): Warum muß ich mich fürchten? Warum jagt man mich? Warum lockt man mich in die Irre? Warum beraubt man mich, nimmt mich gefangen, tut mir Gewalt an, warum schießt man auf mich? Was verlangt man von mir? Was hab ich getan? Wem hab ich etwas genommen? Ich habe nichts mehr als nur mein nacktes Leben. Ich war jung und arglos. Ich kannte nur Freunde. Wir fingen die Mädchen oder ließen sie laufen, lachten, tranken Whiskey auf Eis und schwangen leichtsinnige Reden. Und auf einmal: ringsum bin ich von Feinden umlauert. Haß glotzt mich an, Neid, Mordlust, Gewalt! Wofür soll ich haften? Bin ich schuldig am Elend der Welt? Für welche Tat, welches Verbrechen? Ich will nichts als zurück auf mein Schiff, zurück in mein Land, meine Stadt, zurück dahin, woher ich komme! Warum finde ich nirgends Hilfe? Der Herr des Gartens (lacht leise): Hilfe! Was gibst du dafür? 412

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Nur deine schönen Augen? Vielleicht versuchst du es und hilfst dir selbst, ehe sie dich ganz totbeißen, mein Sohn. Mahan: Ich bin nicht Ihr Sohn! Der Herr des Gartens: In der Tat, das bist du nicht. Obgleich auch du einen Vater hast oder gute Freunde, die dich, wenn ich richtig vermute, in einem schwimmenden Glashaus, zu allen Sehenswürdigkeiten der Welt spazieren führen. Ist es nicht so, mein Freund, oder wie soll ich dich nennen, da du den Namen nicht sagen willst? Mahan: Meinen Namen? Was wissen Sie, wenn Sie den Namen wissen? Wenn ich mich rufen hörte bei meinem Namen, hob ich den Kopf, blieb stehen, gab Antwort. Heut würde ich den Kopf dafür nicht über die Schulter wenden. Der Herr des Gartens: Ein Name, junger Freund, ist nichts, was man geschenkt erhält. Einen Namen muß man sich schaffen. Auch ich war einmal nur einer unter den Namenlosen, und heute trägt alles, was ich besitze, auch meinen Namen. Dieser Garten zum Beispiel, in dem ich meinen Frieden genieße, den Frieden, den ich teuer erkauft 413

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und errauft habe. Sündteuer sogar. Hat von deinen vielen Freunden, dir keiner erzählt, wie schwer man die andern Kreaturen dazu bewegt, für einen Fremden ein Schiff zu bauen so wie das deine oder solch einen Garten zu pflanzen? Keiner tut das aus freien Stücken. Ich wollt’, ich könnte hier ohne Hunde leben und ohne Mauern. Aber wie wehrt man sich gegen die Wölfe? Lassen wir das. – Wenn du willst, ruh dich aus. Ich werde sorgen, daß jemand kommt, nach dir zu sehen … Mahan: Kann ich Ihnen vertrauen? Der Herr des Gartens (lacht leise): Vertrauen? Du mir? – Ich dir? Haben wir eine Wahl? Wer vertraut, wird betrogen. Wer nicht vertraut, betrügt sich selbst. Doch – fast hätt’ ich’s vergessen – heut Abend erwarte ich Gäste. Mahan: Gäste? – Ich werde nicht stören. Der Herr des Gartens: Mich störst du nicht. Ich liebe junges Blut. Es sind Leute, wie du: aus dem Yachtclub, Sportsleute, Diplomaten, Sänger, Flugkapitäne, Leute, die sich an die Spielregeln halten. (Er bewegt seinen Rollstuhl mit den Händen voran. Mahan macht eine Geste, als wolle er helfen, doch der alte Herr wehrt ab.)

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Der Herr des Gartens: O nein! Nur keine Hilfe! Es geht noch immer recht gut allein. (Er entfernt sich langsam in seinem Rollstuhl. Mahan blickt ihm nach. Da ertönt aus dem Gebüsch ringsum leises, helles Geläch­ter. Mahan wendet sich nach der einen Richtung, da e­r­klingt es aus der andern. Verwirrt bleibt er stehen. Ein buntgekleidetes Mädchen tritt hinter einem Baum hervor.) Mahan: Ach! Sie waren das? Und ich dachte, das Lachen käme von dort. Das erste Mädchen (lachend): Dachten Sie das? Und täuschen Sie sich nicht zuweilen? Mahan: Mehr als mir lieb ist. Das erste Mädchen: Das sieht man auf einen Blick. Mahan: Worüber lachen Sie? Das erste Mädchen: Hab ich gelacht? Mahan: Waren nicht Sie es? Das erste Mädchen: Warum sollte ich lachen, bei dieser Hitze? (Sie lacht. Und wieder kommt Gelächter von mehreren Seiten. Mahan wen­det sich um und sieht ein zweites Mädchen aus den Büschen treten.) Das zweite Mädchen: Ah! Schau nur diesen seltsamen Vogel! Womit hast du den nur gefangen? Das erste Mädchen: Gefällt er dir? Ich fürchte, 415

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der ist einem anderen Fallensteller in die Fußangel getreten. Das zweite Mädchen: Oho! Wir kommen immer zu spät. Schad um den hübschen, schwarzäugigen Bengel! Das erste Mädchen: Sieht er nicht sehr verwirrt und abgehetzt drein? Als hätt’ ihn der Alte hypnotisiert. (Die beiden Mädchen beginnen wieder zu lachen, und plötzlich tritt ein drittes Mädchen, ebenfalls lachend, aus seinem Ve­rsteck.) Das dritte Mädchen: Lacht nur. Ich aber wette, man kann ihn wiederbeleben. Wenn auch das Gift ihn schon etwas lähmt, ist er noch nicht ganz hinüber. (Sie lacht, und die andern lachen mit ihr.) Mahan: Lacht nur, Mädchen. Ihr lacht so leicht. Das erinnert mich an mein eigenes Lachen. Der Schmutz auf der Straße hat mich gefreut, der Regen auf der Windschutzscheibe. Jedes zerschmissene Glas hat mich glücklich gemacht. Das erste Mädchen: Und jetzt? Das zweite Mädchen: Jetzt? Das dritte Mädchen: Jetzt? Mahan: Jetzt ist alles anders geworden. Es ist, als hätte die Welt sich verwandelt. Das erste Mädchen: Jetzt also philosophiert man über den Sinn der Welt mit einem rührseligen Knabenfreund, Das zweite Mädchen: einem fleischfressenden Scheckbuchhalter. Das dritte Mädchen:  einem sabbernden Lustgreis auf Rädern. 416

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Mahan: Von wem redet ihr Lästermäuler? Vom Herrn dieses Gartens? Kennt ihr ihn denn? Das erste Mädchen: Ob wir ihn kennen, fragt er! Ob wir ihn kennen! Den armen … Das zweite Mädchen: … armen … Das dritte Mädchen: … reichen Mann! Mahan: Und ihr? Ihr? Wer seid denn ihr? Was treibt ihr in seinem Garten? Das erste Mädchen (lachend): Wir? Das zweite Mädchen (lachend): Wir? Das dritte Mädchen (lachend): Wir? Das erste Mädchen: Wir stellen die Eiskübel in den Schatten. Das zweite Mädchen: Wir breiten die Decken auf die Erde. Das dritte Mädchen: Wir legen die Polster darauf. Das erste Mädchen: Wir hängen die Zieraffen … Das zweite Mädchen: … und ausgestopften Papageien … Das dritte Mädchen: … in die Zweige der Bäume. Das erste Mädchen: Wir schwimmen. Das zweite Mädchen: Wir sonnen uns. Das dritte Mädchen: Wir spielen Ping-Pong. Das erste Mädchen: Wir trinken seinen Gin-Fizz … Das zweite Mädchen: … schnabulieren seine Forellen … Das dritte Mädchen: … verwöhnen seine Geschäftsfreunde … Das erste Mädchen: … und lachen. Das zweite Mädchen: … und lachen. Das dritte Mädchen: … und lachen. Mahan: Über ihn? – Über mich? Das erste Mädchen: Mag sein? – Vielleicht über uns. Schön, wundersam schön ist unser Garten. Und es wird immer Gärten geben wie diesen, 417

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meinst du nicht auch? Einmal gehören sie dem, einmal jenem. Das ist ganz ohne Bedeutung. Die Gärten aber blühen nicht für Hundeführer, Wächter, Verwalter, für Rosen- oder Zwiebelzüchter. Nein. Sie blühen für uns. Vielleicht auch für dich. Komm mit! Komm mit! Du wirst staunen. (Sie faßt ihn am Arm.) Mahan (zurückweichend): Laßt mich. Ich habe versprochen … Das erste Mädchen (hält plötzlich inne und betrachtet ihre Hand): Wovon sind meine Finger so rot? – Er blutet! Er blutet! Das zweite Mädchen: Wo? Das dritte Mädchen: Wo? Das erste Mädchen: Hier am Arm. Das zweite Mädchen: Wie ist das geschehen? Das dritte Mädchen: Ach, und wir lachen! Das erste Mädchen: Still! Nicht bewegen! Das dritte Mädchen: Er ist verwundet! Das zweite Mädchen: Ein Stich! Ein Stich! Das erste Mädchen: Nein, ein Schuß! Das zweite Mädchen: Da, hier ist Wasser. Das kühlt. Das erste Mädchen: Vorsicht! Es schmerzt. Mahan: Nein, nicht so sehr. Beinah hätt’ ich’s vergessen. Das zweite Mädchen: Hier leg dich nieder! Das dritte Mädchen: Wie ihn verbinden? Das zweite Mädchen: Da, nimm mein Kleid. Das dritte Mädchen: Nein, besser das meine. Das erste Mädchen: Sein Hemd! Es ist Seide. Das zweite Mädchen: Es ist schmutzig. Das dritte Mädchen: Ein Streifen genügt. 418

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Mahan: He, Mädchen, laßt mich! Was tut ihr? Ich will nicht! Das zweite Mädchen: Da! Und das Bein! Das dritte Mädchen: Er ist gefallen! Das zweite Mädchen: Gestürzt! Das erste Mädchen: Helft mir zerreißen! Das dritte Mädchen: Du hörst doch: er will nicht. Das erste Mädchen: Mein Kleid könnt ihr zerreißen. (Sie haben Mahan am Rande des Brunnens auf die Erde ge­zwungen und reißen nun einen breiten Streifen aus einem ih­rer Kleider, um da­mit sei­nen Arm zu verbinden. Sie öffnen eine Ho­sennaht, um auch die Wunde an seinem Bein zu reinigen. Mahan setzt sich zur Wehr.) Mahan: He! Spielt nicht mit mir! Ich warne euch, Mädchen. Ich bin nur verletzt und bin noch keine gefangene Beute. Das erste Mädchen: Nicht soviel reden, mein Lieber! Das zweite Mädchen: Hier, leg mir den Kopf in den Schoß! Das dritte Mädchen: Nimm meinen Rock und wisch dir die Stirn! Das zweite Mädchen: Ach, die erstaunten Augen! Das dritte Mädchen: Schmerzt es noch sehr? Das zweite Mädchen: Tut es noch weh? Das erste Mädchen: Spürst du noch etwas? Mahan: Ja, zum Teufel! Ich spür’ es. Ist es Zorn? Sind es Schmerzen? Laßt mich los! Nehmt euch in acht! Das dritte Mädchen: Sag uns, was hast du für Wünsche! Das zweite Mädchen: Liegst du nicht weich auf meinen Beinen? Das erste Mädchen: Willst du noch sanftere Polster? Das zweite Mädchen: Riechwasser? Salben? Eau de Cologne? Das dritte Mädchen: Was können wir noch für dich tun? 419

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Mahan: Verflixte Biester! Ich hab euch gewarnt! Das erste Mädchen: Oh! Erträgst du keine Liebkosung? Das dritte Mädchen: Ha! Er zerreißt mir das Kleid! Das zweite Mädchen: Er schlägt um sich wie ein Fohlen! Das erste Mädchen: Au weh! Er führt sich auf wie ein Dschin! Das dritte Mädchen: Vorsicht! Er beißt! Das zweite Mädchen: Er tut mir weh! Das erste Mädchen: Nicht doch! Nein! Nein! Bist du denn ganz von Sinnen? Das zweite Mädchen: Was tust du? Bist du verrückt? Das dritte Mädchen: Helft mir! Er würgt mich! Er tut mir weh! Mahan: Ich hab euch gewarnt, ihr Schlangen! Viperngezücht! Glitzerndes Teufelsgesindel! Wehrlos ergeb’ ich mich nicht! (Er wälzt sich mit den Mädchen voll Wut und Wollust auf der Erde. Da werden im Hintergrund Lampions angezündet, die an Kabeln zwischen den Bäumen hängen.) Mahan (erschrickt): Ah! –Was ist das? Was soll das bedeuten? Das erste Mädchen: Das Fest! Das sind die Diener. Sie haben die ersten Lampions angezündet. Das zweite Mädchen: Wie seh ich aus! Das dritte Mädchen: Mein Kleid hängt in Fetzen! Mahan: Und wer ist der dort? Der dort? Das erste Mädchen: Wer? Mahan: Dort sitzt er und schaut auf uns her. (Im Licht der künstlichen Beleuchtung sieht man den Herrn des Gartens in seinem Rollstuhl versteckt unter den Bäumen si­t­zen.) 420

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Das dritte Mädchen: Er ist’s! Das zweite Mädchen: Er hat uns belauscht! Das erste Mädchen: Immer hockt er versteckt irgendwo! Das dritte Mädchen: Dieser hinterhältige Satyr! Das zweite Mädchen: Dieser verfluchte Lüstling! Das erste Mädchen: Dieser gelähmte Voyeur! Der Herr des Gartens (indem er sich unerwartet schnell mit seinem Rollstuhl auf Mahan und die Mädchen zu bewegt): Holla! Wie seht ihr denn aus? Ihr mannstollen Bestien! Die Kleider aufgeschlitzt, nackt die Schenkel und Bäuche, die Haare verwüstet! Sind das die Vorbereitungen für mein Fest? Hab’ ich euch dafür bezahlt? Auspeitschen laß ich euch Huren! Hinauswerfen laß ich euch, wie ihr es verdient! (zu Mahan) Und du, mein Freund, ganz so war es nicht ausgemacht zwischen uns. Ich dachte, du hältst dich an unsere Regeln. Aber wie es beliebt. Du kannst es auch anders bekommen. Das dritte Mädchen: Das sieht ihm ähnlich. Das zweite Mädchen: Jetzt lernst du ihn kennen. Das erste Mädchen: Jetzt lüpft er die Maske. Der Herr des Gartens (richtet sich auf und ruft um Hilfe): Ich lasse mir meine Feste nicht stören! Niemand, solang ich mich noch zu wehren vermag, verletzt mir den Frieden dieses Gartens. Niemand widersetzt sich hier meinem Willen! Mir gehört, was ich halte! Mir, mir allein, solange ich lebe! Das dritte Mädchen: Der soignierte Verbrecher! 421

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Das zweite Mädchen: Der perverse Blutsauger! Der erste Mädchen: Der Menschenschinder! Alle drei: Der geile Vampir! Das dritte Mädchen: Stopft ihm das Maul! Das zweite Mädchen: Zerquetscht ihm die Augen! Das erste Mädchen: Zerrt ihn aus seinem Leibstuhl! Alle drei: Zahlt es ihm heim! (Sie stürzen sich auf den Herrn des Gartens, zerren seinen Rollstuhl hinter sich her, um­kreisen wild durcheinanderschreiend den Brun­nen.) Mahan: Was tut ihr? He! Laßt ihn! Laßt ihn! Was ist in euch gefahren? Ihr bringt ihn um! Der Herr des Gartens (in höchster Bedrängnis): Seid ihr verrückt, ihr Sirenen! Zu Hilfe! Zu Hilfe! Lakaien! Die Hunde! Alarm! Zu Hilfe! Zu Hilfe! (Tiefstrahler schütten Ströme von Licht über die Szene, die sich mit einem Mal in eine gespenstische Kulisse verwandelt. Die Mädchen rennen aufschreiend durcheinander. Im Hintergrund sieht man die ersten Gäs­te des angekündigten Festes auf eine erleuchtete Terrasse treten, Cock­tailgläser in den Händen. Die Mädchen stürzen den Alten aus dem Rollstuhl. Er greift sich ans Herz, röchelt und stirbt. Lakaien und Parkwächter eilen zu Hilfe. Unter die Gäste auf der Terrasse treten nun auch die beiden Freunde und die Freundin Mahans und blicken auf die grell beleuchtete Szene.) Ein Lakai: Packt den Mann! Die Freundin: Mahan! (Mahan blickt auf, erkennt seine Freunde, zögert einen kurzen Augenblick und stürzt dann wortlos davon.) Die Freundin: War das nicht Mahan? War das nicht Ma …? Erkennt er uns denn nicht mehr? 422

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Siebtes Bild Ein hochgelegener, freier Platz mit Blick auf das nahe Meer, über welchem noch die Morgen­nebel lagern. Es ist die Stunde vor Sonnenaufgang. Mahan liegt erschöpft und zerschla­gen auf der Erde. Abseits davon kommen die beiden Freunde und die Freundin auf ihrem Rück­weg zum Hafen vor­über, ohne ihn zu sehen. Erster Freund: Am besten wir laufen beim ersten Licht aus, eh’ sie uns abfangen und uns befragen. Die Freundin: Und Mahan? Erster Freund: Mahan! Mahan! Jeder muß sehn, wo er bleibt. Die Freundin: Ich fürchte mich hier. Und weiß nicht, wovor. Erster Freund: Unsinn. Komm weiter. Auf dem Schiff bist du sicher. (Sie wenden sich zum Gehen. Die Freundin stolpert beim Abstieg, der zweite Freund fängt sie auf.) Zweiter Freund: Es ist dunkel. Gib acht, wo du hintrittst. (Die drei gehen ab.) Mahan: Tot! Er ist tot! Und ich, ich bin schuld. Callaghan! Ach, Callaghan! Callaghan! Wo bist du jetzt? Wohin hast du mich gelockt? 423

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Fort aus meinen vier Wänden, fort von meinen Siebensachen. Und wo bin ich nun angekommen? Wie war es mir möglich – noch vor wenigen Stunden –, blind und glücklich zu sein, die Hände voll Geld, den Mund voll Lachen! Und nun hab’ ich gesehen die nächtliche Seite der Welt, nun lieg’ ich verirrt, beschmutzt, verlassen, in der Asche meiner Verzweiflung. O Callaghan! Callaghan! Hast du mich geweckt aus dem Traum? War da kein anderer Weg als der, den du mich wiesest aus der Irrsal meines Lebens? (Zwei Hafenarbeiter, auf dem Weg zur Arbeit, kommen vorüber. Als sie Mahan liegen sehen, bleiben sie stehen.) Der erste Hafenarbeiter: Da liegt einer. Der zweite Hafenarbeiter: Laß ihn liegen. Der erste Hafenarbeiter: Vielleicht fehlt ihm etwas. Der zweite Hafenarbeiter: Besoffen ist er. Der erste Hafenarbeiter: Sieht nicht so aus. Der zweite Hafenarbeiter: Ein Rauschgiftler. Laß ihn und komm! An den Docks gehn schon die Lichter an. Der erste Hafenarbeiter (nähert sich Mahan): He da, Sie! Fehlt Ihnen etwas? Er ist verwundet … Der zweite Hafenarbeiter: Komm weiter! Der erste Hafenarbeiter: Sein Hemd ist zerrissen, und auch die Hosen. (Er tastet den Liegenden ab.) 424

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Geld hat er keins … aber … Was glänzt da? Ein Amulett! Ein Halskettlein hat er, aus Gold! Der zweite Hafenarbeiter: Nimm dir’s und komm! (Der erste Hafenarbeiter reißt Mahan das Amulett vom Hals.) Mahan (richtet sich halb auf und ruft): Hilfe! Hilfe! Der zweite Hafenarbeiter: Er rührt sich! Gib acht! Der ist gar nicht tot! Der erste Hafenarbeiter: Verdammt! Der zweite Hafenarbeiter: Gib ihm das Messer! Mahan: Hilfe! Mörder! Zu Hilfe! Der zweite Hafenarbeiter: Um Hilfe schreit er. Ich lache. Hast du je einem geholfen? Der erste Hafenarbeiter (stößt zu): Da hast du’s, du Scheißkerl! Da hast du’s! Mahan: Ah! (röchelnd) Zu Hilfe … Der zweite Hafenarbeiter: Komm! Laß ihn jetzt! Er hat genug. Der erste Hafenarbeiter (wischt das Messer an Mahans Hemd ab und steckt es ein): Pfui Teufel! Der blutet! Der zweite Hafenarbeiter: Komm weiter! – Zeig her! War es der Mühe wert? Der erste Hafenarbeiter (im Abgehen): Nicht wirklich. Aber schad ist es auch nicht um ihn. Von der Sorte gibt es mehr als genug. (Sie gehen ab. Der Morgen dämmert langsam herauf. Mahan hebt den Kopf und versucht sich ein wenig auf­zurichten.) Mahan: Was war das? Wer hat mich geweckt? 425

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Hab’ ich geschlafen, geträumt? War dies alles Trug, war es Schein? Wo bin ich? – Ah! – Dort ist das Meer! Die ganze Zeit über war es mir doch, als hätt’ ich die Nähe des Meeres gerochen. Die Morgennebel lösen sich auf. Dort unten … dort liegt mein Schiff, weiß und schlank, als stäch’ es zum ersten Male in See. Alle Wimpel hat es gesetzt. Bald hat es das trübe Wasser des Hafens weit hinter sich – und schwimmt auf dem blauen Spiegelbild des Himmels, weißen Schaum um die Flanken, als weiße Totenbahre meines Jugendglücks, meiner irrfahrenden Träume, hinaus aufs offene Meer. Leb wohl, mein Schiff, du trägst all meine abgelebten Wünsche davon, all meine verirrten Träume. Callaghans Stimme: Mahan! – Mahan! Mahan: Callaghan? (Er versucht vergeblich sich zu erheben.) Ah! – Ich bin schwach … Warum nur? Warum? Callaghans Stimme: Mahan! Mahan: Warum wollen die Füße mir den Dienst nicht mehr tun? Callaghans Stimme: Mahan! – Komm! 426

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Komm endlich! – Komm! Mahan: Nein. – Nein. Ich gehe meinen Weg allein. (Er blickt hinaus aufs Meer. Dann fällt er zu Boden und stirbt.) Ende

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Gesualdo Oper in sieben Bildern, einem Prolog und einen Epilog von Richard Bletschacher Musik von Alfred Schnittke Geschrieben im Sommer 1991, komponiert im Frühjahr 1993.

Personen der Handlung Don Carlo Gesualdo, Fürst von Venosa Donna Maria Gesualdo, geborene d‘Avalos, seine Gattin Don Fabrizio Caraffa, Herzog von Andria Donna Maddalena Caraffa, seine Gattin Kardinal Alfonso Gesualdo Don Giulio Gesualdo Donna Sveva d’Avalos, geborene Gesualdo, Marias Mutter Donna Maria Caracciolo, Marchesa von Vico, geborene Gesualdo Don Garzia de Toledo, Vizekönig von Neapel Der Graf von Ruo, Fabrizios Großvater Silvana Albano, Marias Kammermädchen Die Frau des Gärtners von Chiaia Pietro Bardotti, Don Carlos Kammerdiener Ascanio, Jäger Francesco, Jäger Don Raffaello, ein junger Priester und Lautenist

Bariton Mezzosopran  Tenor Sopran Baß Bariton  Alt Sopran  Tenor Bariton Sopran Mezzosopran  Tenor Baß Baß stumme Rolle

Madrigalisten, Musiker, Festgäste, Tänzer, Jäger, Mönche, Diener und Dienerinnen Die Handlung spielt in der Stadt und im Königreich Neapel während der Jahre 1586 bis 1590. Pause nach dem 4. Bild 429

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Prolog Fünf Madrigalisten: Neapel, du Stadt der Feste und der Lieder, du Stadt des Spottes, der Scherze und der Spiele, wie schämst du dich nun deiner machtlosen Wundertäter und hockst, in schwarze Tücher geschlungen, in Asche klagend am Thyrrenischen Meer. Dein kostbares Blut müssen die Dienerinnen weinend von Dielen und Fliesen waschen. Der bittre Geruch der Myrrhen weht durch die Zimmer. Erloschen sind die Lichter in Gesualdos fürstlichem Haus. Verklungen sind in Gemächern und Stuben Plaudereien, Gebete und Schlummergesänge, verklungen in den Sälen das Lachen der Frauen, der Klang von Madrigalen und tanzenden Füßen, verklungen im Hof das Hundegebell und das Gekreisch der Falken. Auf die Dächer schreibt seine trostlose Botschaft der Regen. Doch unauslöschlich haftet die Tat, die dich zur Trauerstätte machte, dir im Gedächtnis. Denn das Schreckliche ist aus dem Schönen entsprungen und der Tod aus der Fülle des Lebens.

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Erstes Bild Die Hochzeit von San Domenico Maggiore 1. Szene In der Kirche San Domenico Maggiore in Neapel wird die Hochzeit des Fürsten Carlo Ge­­­sualdo da Venosa mit Maria d’Avalos, Marchesa von Montesarchio, zelebriert. Unter den Klängen einer lateinischen Messe werden Braut und Bräutigam zum Altar geleitet, wo der Kardinal sie erwartet. Chor: Gloria in excelsis Deo. Et in terra pax hominibus bonae voluntatis. Laudamus te. Benedicimus te. Glorificamus te. Gratias agimus tibi propter magnam gloriam tuam. Domine Deus, Rex caelestis, Deus Pater omnipotens. Tu solus sanctus, tu solus Dominus. Tu solus altissimus, Jesu Christe. Cum Sancto Spiritu, in gloria Dei Patris …

2. Szene In einem Kabinett ihres Familienpalastes halten die vier Geschwister Gesualdo Familien­­rat: der Kardinal Alfonso, Vorsitzender des römischen Kardinalskollegiums und de­­ signierter Erzbischof von Neapel, sein jüngerer Bruder Giulio, seine Schwestern Ma­ ria, verehelichte Caraccciolo, Marchesa von Vico, und Sveva, verehelichte d’Ava­los, die Mutter der Braut. Sie verhandeln die Bedingungen des Ehevertrages zwischen ihrem Neffen Carlo und seiner Cousine Maria. Don Giulio: Warum muß es gerade Carlo sein? Warum dieser wehrlose Träumer? Gäbe es nicht eine endlose Reihe von adligen 431

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Taugenichtsen, die dieses Abenteuer mit unserer schönen Nichte Maria mit todesverachtendem Vergnügen wagen würden, und um die es, wenn sie es nicht überlebten, nicht schade wäre? Warum muß es Carlo sein? Donna Sveva: Deine Scherze habe ich nie leiden können, Giulio. Ganz und gar unerträglich sind sie mir aber, wenn sie meine Tochter betreffen. Die Marchesa von Vico (zu ihren beiden Brüdern): Da ihr beide, wie ich annehmen muß, kinderlos bleibt und der arme Luigi zu unserem Unglück gestorben ist, muß Carlo das Blut der Gesualdo bewahren. Don Giulio: Nun, versickern wird es nicht in Marias Schoß. Sie hat alle Zeichen von Fruchtbarkeit gegeben. Aber Carlo hat die Ohren voll von Musik und den Kopf in den Wolken. Die Marchesa von Vico: Doch seine Cousine und unser aller Augapfel Maria ist eine junge Frau, die vermöchte auch einen dürren Strauch zum Blühen zu bringen. Don Giulio: Das Blühn ist mitunter gefährlich! Zwei Ehemänner haben sich in ihrem Bett schon zu Tode geblüht. Donna Sveva: So spricht der alte Neid des kranken Weiberhelden. Die Marchesa von Vico: Laß ihn spotten, Sveva! Erreg dich nicht! Don Giulio: Schön ist sie, schöner als schön. Das zu bestreiten, wär’ ich der letzte. Schön, aber gefräßig. Um den kleinen 432

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Sizilianer war es nicht schade. Der Marchese von Giulianova hat Söhne mehr als Finger und Zehen. Aber Federigo Caraffa, der war doch aus einer der ersten Familien Neapels, den kann man nicht so einfach vergessen. Donna Sveva: Wer sagt dir, daß sie ihn vergessen hat? Immerhin hat sie zwei Kinder von ihm. Don Giulio: Die Zeichen der Fruchtbarkeit! Das war der eine Punkt. Der andere betrifft die Mitgift. Donna Sveva: Wer fragt nach Mitgift bei der Enkelin des Generals d’Avalos und der Vittoria Colonna? Don Giulio: Ich, ich frage in aller Bescheidenheit für meinen Neffen. Die Insel Ischia und der Palazzo in Pescara gehören ihm. Donna Sveva: Und wovon soll ich leben? Don Giulio: Carlo hat teure Liebhabereien. Die Falken, die Hunde, die Pferde, die Pfeifer, Sänger, Lautenzupfer, und vor allem die Bauleute in Gesualdo wollen bezahlt sein. Euer Liebden werden sich mit den Häusern in Neapel und den Ländereien in der Lucania und im Cilento bescheiden müssen. Donna Sveva: Nein, Bruderherz! Da hat der Spott ein Ende! Der Kardinal: Ehen, dacht’ ich, würden im Himmel geschlossen.

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Donna Sveva: Das mag wohl sein, Herr Kardinal. Das müßt Ihr wissen. Ich weiß nur eins: sie werden ausgehandelt an einem Tisch wie diesem, mit vier Beinen. Die Marchesa von Vico: Muß man die Kinder nicht zusammenführen? Sie haben sich seit Jahren nicht gesehen. Don Giulio: Und sind seitdem auch keine Kinder mehr. Der Kardinal: Warum auf einmal diese Eile, Sveva? Donna Sveva: Warum? Warum? Die Jugend flieht. Wenn du’s nicht glauben magst, Alfonso, schau uns an. (Sie erhebt sich und singt.) Des Menschen Leben ist wie ein Licht: man zündet es an, und der Wind bläst es aus. Des Menschen Leben ist wie ein Rauch: er trübt uns das Aug’ und weht aus dem Haus. Des Menschen Leben ist wie ein Glas: man trinkt daraus, und schon ist es zersprungen. Des Menschen Leben ist wie ein Lautenklang: man lauscht noch dem Lied, und schon ist es verklungen. (Auch die anderen haben sich erhoben. Der Familienrat ist be­endet.)

3. Szene In der Kirche von San Domenico Maggiore werden am Altar die Ringe getauscht. Chor: Sanctus, sanctus, sanctus Dominus Deus Sabaoth. 434

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Pleni sunt caeli et terra gloria tua. Hosanna in excelsis. Benedictus qui venit in nomine Domini, Hosanna in excelsis. Der Kardinal (legt die Hände des Paares ineinander): So gebe ich euch zusammen als Mann und Frau, Donna Maria Gesualdo, Fürstin von Venosa, Gräfin von Consa, mögest du deinem Gatten anhängen in Liebe und Gehorsam und ihn nicht verlassen im Unglück, bis daß der Tod euch scheidet. Donna Maria: Bis daß der Tod uns scheidet. Der Kardinal: Don Carlo Gesualdo, Fürst von Venosa, Graf von Consa, mögest du deine Gattin schützen und bewahren in Liebe und Fürsorge und sie nicht verlassen im Unglück, bis daß der Tod euch scheidet. Don Carlo: Bis daß der Tod uns scheidet. Donna Maria und Don Carlo: Bis daß der Tod uns scheidet. Der Kardinal: Amen.

4. Szene Im Palazzo San Severo führt Don Carlo seine Braut durch die zahllosen, lange nicht mehr betretenen Räume. Don Carlo: Hier hat Isabella mit ihren schrecklichen Kindern gewohnt, 435

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wenn sie in Neapel war. Aber war sie denn je in Neapel? Donna Maria (lacht): O ja, ich erinnere mich. Don Carlo: Und hier Eleonora. Ich habe nichts gehört von all dem Lärm. Der Palast hat so viele Zimmer. Donna Maria: Ja. Ich bin müde vom Schauen. Don Carlo: Verzeih’! Die Möbel sind zugedeckt, die Läden sind geschlossen wegen der Hitze. Es ist August. Soll ich ein Fenster öffnen? (Er öffnet ein Fenster. Sonnenlicht dringt in das Zimmer.) Donna Maria: Ah! Das Licht! Don Carlo: Blendet es dich? Donna Maria: Es ist ein wolkenlos strahlender, unerträglicher Tag. Don Carlo: Bleib stehen! Geh nicht zurück in den Schatten! Donna Maria: Ich würde stolpern und fallen. Meine Augen sind blind. Ich kann nichts sehen. Don Carlo: Aber ich, ich sehe dich. Du bist schön, Maria, du bist schön. Donna Maria: Ich bin voll Staub. Das Kleid ist abscheulich. (Sie entzieht sich seinem scheuen Versuch, sie zu umarmen, tritt ans Fen­s­­ter und blickt hinaus.)

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Ah! Von hier heroben sieht man das Meer! Wie es glänzt! Wie es leuchtet! Der Himmel darüber ist vom Meer nicht zu unterscheiden. Man sieht nicht die Grenze, an der sie sich berühren. Und Schiffe liegen an der Mole. Das Castel Nuovo dort und davor die Türme von San Giovanni, San Marcellino und San Pietro Martire! Die Dächer schimmern im Licht! Und die Glocken, die Glocken von San Domenico Maggiore sind so nah, daß man meint, man könnte sie mit einem Steinwurf zum Ertönen bringen. Neapel! Neapel! Mir ist, als wär’ es gestern gewesen. Don Carlo: Erinnerst du dich? Donna Maria: Ich erinnere mich. Mein Herr Cousin, der düstre Träumer. Soll ich das Fenster schließen? Don Carlo: Laß! Komm weiter! Es gibt noch siebenundzwanzig andere Räume zu sehen. Donna Maria (steht vor einer Schaukel, die an der Decke aufgehängt ist): Oh! Was ist das? Don Carlo: Weißt du’s nicht mehr? Donna Maria: Was soll ich wissen? Don Carlo: Das ist unsere Schaukel. Donna Maria: Sie hängt so still. Es ist, 437

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als hätte seit zwanzig Jahren keine Hand sie mehr bewegt. Sie hat mich erschreckt. Don Carlo: Setz dich hinein!. Donna Maria: Nein, laß! Nein, nein. Ich will nicht. Komm weiter! (Sie gehen ab.)

5. Szene In der Kirche von San Domenico Maggiore gehen die Hochzeitsfeierlichkeiten zu Ende. Die Tore werden geöffnet. Ein Blumenregen umhüllt den Bräutigam und die Braut. Sie treten ins Freie. Glockengeläut empfängt sie auf den Stufen. Chor: Tollite portas, principes, vestras, et elevamini portas aeternales, et introibit Rex gloriae. Alleluja. Alleluja. Alleluja.

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Zweites Bild Die Gärten von Chiaia 1. Szene Der Vizekönig von Neapel, Don Garzia de Toledo, empfängt die Gäste seines Früh­lings­ festes in den Gärten von Chiaia. Im Hintergrund erblickt man das Meer. Musiker auf der Bühne spielen zum Tanz. Don Garzia: Donna Sveva, meine alte Liebe! Küßt mich und laßt mich Euch küssen, dann ist die Zeit, die wir uns nun schon kennen, wie ausgelöscht! Don Carlo läßt sich wieder einmal entschuldigen. Hab ich’s erraten? Aber wäre es nicht ein Jammer gewesen, wenn wir Donna Maria heut hätten entbehren müssen? Er hat sie den ganzen Winter über vor uns verborgen gehalten. Donna Maria: Aber nun ist es Frühling geworden, Don Garzia, und Eure sagenhaften Gärten blühen. Don Garzia: Ihr seid wieder bei uns. Donna Maria: Ihr seid zu gütig, Exzellenz. Das Fest in den Gärten von Chiaia hab’ ich noch nie versäumt, seit mir erlaubt ist zu tanzen. Don Garzia: Tanzt nun, mein Kind, Ihr seid die Freude unsrer alten Augen! 439

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Was sind die schönsten Gärten ohne schöne Frauen? Donna Sveva: Exzellenz. (Sie verneigt sich und führt ihre Tochter beiseite, während der Vize­könig andere Gäste begrüßt.) Donna Maria: Da ist er. Donna Sveva: Wer? Donna Maria: Wie könnt Ihr nur fragen? Donna Sveva: Wer, Maria? Donna Maria: Fabrizio, Fabrizio Caraffa. Macht ihm ein Zeichen. Donna Sveva: Ich? Donna Maria: Ihr, Mutter! Nickt ihm zu. Donna Sveva: Er grüßt. Er kommt. Ich fleh’ dich an, Maria …! Donna Maria: Fleht mich nicht an. Helft mir, Mutter, wenn Ihr mich lieb habt! Helft mir! Don Fabrizio (begrüßt die Damen): Welch eine Freude, Donna Sveva, Donna Maria, welche Ehre … Donna Maria: Ehre oder Freude? Ihr müßt Euch für eines entscheiden. Don Giulio (hinzutretend): Darf ich um diesen Tanz ersuchen? 440

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Donna Maria: Euer Gnaden befehlen. Don Garzia (führt Fabrizio beiseite): Fabrizio, Euch zu sehen freut mich immer. Don Fabrizio: Euer Herrlichkeit. Don Giulio (indem er Maria zum Tanz führt): Leichtfertig ist Carlo, wenn er Euch in solch einem Kleid aus dem Haus läßt. Ich muß doch ein Auge auf die jungen Greifvögel haben, die hier nach der schönsten Beute ausspähen.

2. Szene In einem entlegenen Teil des Gartens steht hinter Gebüschen und Zypressen ver­borgen das Haus des Gärtners. Don Fabrizio hat die Frau des Gärtners überredet, ihm darin für eine Stunde Unterkunft zu geben. Don Fabrizio: Da nimm, das ist fürs erste! Wenn alles zum Wohlgefallen der Dame ausfällt, werd’ ich mich noch erkenntlicher zeigen. Die Frau des Gärtners: Oh, vier Dublonen! Ihr seid allzu gütig. Don Farbrizio: Du lüftest das Zimmer. Die Frau des Gärtners: Zimmer, Euer Gnaden? Da drinnen ist nur eine dunkle, schäbige Stube. Don Farbrizio: Du hältst mir deinen Mann vom Leib. Die Frau des Gärtners: Mein Mann? Wo denkt Ihr hin, Euer Gnaden? 441

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Don Fabrizio: Daß er mir nicht auf dreihundert Schritt in die Nähe kommt. Die Frau des Gärtners: Mit seidenen Kissen kann ich Euch nicht dienen. Da ist der Schlüssel. Don Fabrizio: Blumen wirst du doch haben, Frau? Die Frau des Gärtners: Blumen? Blumen gibt es hier in Fülle. Don Fabrizio: Iris, Narzissen, Goldlack und Tulpen, Veilchen, Flieder, Verbenen, Jasmin! Blumen, Blumen, soviel du tragen kannst! Du füllst sie in deine Schürze, du trägst sie ins Haus und schüttest sie auf den Boden. Ich will die Stube voll von Blumen sehen! Ich werd’ dir die Hände mit Goldstücken füllen, mit König Philipps Kopf darauf. Doch wehe, wenn du spionierst oder gar plauderst! So nagle ich dir die Zunge an die Tür. So! – Jetzt kannst du wählen.

3. Szene Donna Maddalena Caraffa, schwangeren Leibes, irrt durch die Reihen der Tänzer und sucht ihren Gatten Fabrizio. Don Garzia: Schon müde vom Tanzen, Monna Maddalena? Donna Maddalena: Ich suche den Herzog von Andria 442

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und kann ihn nicht finden. Exzellenz verzeihen! Don Garzia: Oh, ich bitt’ Euch, mein Kind. Aber Fabrizio Caraffa, war mir nicht, als wär’ er eben noch hier gewesen? Donna Maddalena: Ich bin noch ein wenig schwach auf den Beinen. Exzellenz wissen, warum. Es wäre mir lieb, wenn er mich nach Hause brächte. Wenn Exzellenz die Güte hätten, ihn wissen zu lassen, daß er mich dort im Schatten findet. (geht ab)

4. Szene Don Fabrizio und Donna Maria tanzen vorüber. Die Musiker spielen eine Taran­tella. Don Fabrizio: Monna Marì, niemand faßt beim Tanz so gelassen den Rock, niemand setzt so sicher die Füße. (leise) Und ich dachte schon, Ihr würdet nicht kommen. Donna Maria: Don Fabrì, mein höflicher Herr. Niemand weiß so wie Ihr, die Lügen zu flechten. (leise) Was ich verspreche, hab’ ich noch immer gehalten. Don Fabrizio: Monna Marì, Monna Marì, Monna Marì, könnt’ ich Euer perlendurchflochtenes Haar aus Netzen und Spangen lösen! Wie lange, wie lange hab’ ich Euch nicht gesehen! 443

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Donna Maria: Don Fabrì, Don Fabrì, mein leichtentzündlicher Herr. (leise) Und ich fürchtete schon, Ihr wär’t nicht allein. Don Fabrizio: Monna Marì, Monna Marì, Monna Marì, vergeßt die Welt, solang wir tanzen! Donna Maria: Ihr wißt nicht, was Ihr redet, Don Fabrì. (leise) Ich bin vor Sehnsucht fast gestorben. Don Fabrizio: Marì, ich werde Euch mit Blumenblättern ganz bedecken. Im Haus der Gärtnerin erwart’ ich Euch. Donna Maria: Fabrizio! Don Fabrizio: Ich bitt’ Euch! Laßt mich nicht warten … (Er zieht sie beiseite. Tänzer drängen auf die Bühne.)



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Drittes Bild Die Wolfsjagd von Astruni 1. Szene Don Carlo Gesualdo betritt in großer Eile den Hof seines Palastes. Er ist zur Jagd ge­kleidet. Don Carlo: Die Pferde gesattelt! Bardotti: Die Pferde? Um diese Stunde? Don Carlo: Die Pferde gesattelt! Den Schwarzen für mich! Bardotti: Abruzzese, wo bleibst du? Don Carlo: Drei Pferde! Das ist mehr als genug. Francesco, Ascanio, ihr kommt mit mir! Ascanio: Wohin geht es heut nacht? Don Carlo: Zur Jagd! Francesco: Zur Jagd? Don Carlo: Zur Jagd! Zur Wolfsjagd nach Astruni! Ascanio: Die Hunde! Die Waffen! Don Carlo: Zu Pferd! Ascanio: Zu Pferd! (Lärmender Aufbruch. Nur Bardotti bleibt kopfschüttelnd zurück.) 445

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2. Szene Maddalena Caraffa sucht in ihrer Verzweiflung Hilfe beim alten Grafen von Ruo, dem Großvater Don Fabrizios. Maddalena: Euer Liebden verzeihen! Der Graf: Was ist geschehen, Maddalè? Maddalena: Fabrizio! Der Graf: Was ist mit Fabrizio? Maddalena: Ich habe Angst um ihn! Der Graf: Um Fabrizio Angst? Maddalena: Todesangst! Der Graf: Hat der verrückte Hitzkopf im Jähzorn wieder einmal Streit vom Zaun gebrochen? Maddalena: Streit? Ach, es gibt Schlimmeres als Streit, Großvater. Der Graf: Schlimmeres? Maddalena: Weit Schlimmeres. Der Graf: Setz dich. Erzähl. Maddalena: Fabrizio liebt Maria. Der Graf: Maria? Wer ist Maria?

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Maddalena: Wer ist Maria? Maria! Maria! Maria d’Avalos! Der Graf: Gesualdo? Mein Gott! Er ist nicht bei Trost! Und seit wann? Maddalena: Seit wann? Seit wann? Vielleicht seit eh und je. Der Graf: Nein! Sie war mit Federigo glücklich … allzusehr. Maddalena: Nun ist sie’s mit Fabrizio. Der Graf: Woher kannst du es wissen? Maddalena: Er liebt sie. Ich weiß es. Ist das nicht genug? Ich hab’ es gefühlt, ich wußt’ nicht warum. Und nun weiß ich’s gewiß. Es ist ihnen auf die Stirnen geschrieben. Und wenn ich die Augen zumache, seh’ ich die beiden vor mir, so als stünd’ ich daneben. Weh seinem Kind in meinem Schoß! Weh ihm und ihr und uns allen! Ich kann kein Gebet mehr vollenden! Mitten im Ave-Maria unterbricht’s mich, schnürt mir den Hals zu, fährt mir so vor die Augen: Siehst du sie nicht, du Närrin? Maria selbst ist die Schlange! (Sie wirft sich schluchzend zu Boden.) Der Graf: Maddalè … Maddalè … 447

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3. Szene In einem Wald im Gebirge von Astruni begegnen einander Gesualdos Jäger, Ascanio und Francesco, auf der Suche nach ihrem Herrn. Ascanio: Wo ist der Herr? Hast du ihn gesehen? Francesco: Ich komme vom Berg herab. Ich dachte, du seist bei ihm. Ascanio: Das war ich, das war ich. Wir waren beisammen bis kurz vor der Schlucht. Ich hab’ eine schweißende Spur verfolgt. Ich dachte, ich hätte die Bestie getroffen. Dann kam sie mir aus den Augen. Und als ich ihn rief und zurückging und wieder rief, fand ich ihn nicht mehr. Francesco: Ich hab’ dich nicht rufen gehört. Ascanio: Ich hab’ gerufen, vergebens. Dacht’ mir dann, er sei bei den Pferden. Francesco: Dort war ich zuerst. Dort ist er nicht. Ascanio: Verdammter Eigensinn! Francesco: Verdammte Jagd!

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4. Szene In ihrem Haus empfängt die Marchesa von Vico ihren Bruder Giulio Gesualdo. Der betritt in Eile das Zimmer und wirft einem Diener Hut und Mantel zu. Don Giulio: Was steht zu Diensten, Schwesterherz? Die Marchesa: Der Herzog von Andria trifft sich mit der Fürstin von Venosa. Don Giulio: Ihr beliebt zu scherzen. Die Marchesa: Man kennt die Orte … man kennt die Stunden … doch erst, wenn es geschehen ist. Don Giulio: Was sagt Ihr da? Donna Maria? Die Marchesa: Donna Maria und Don Fabrizio Caraffa! Ihr wißt, daß das nicht dauern kann. Don Giulio: Bin ich denn blind? Die Marchesa: Es muß ein Ende haben! Don Giulio: Er muß sie töten! Er muß sie töten! Es gibt keine Wahl mehr für Carlo! Die Marchesa: Weh dem, der’s ihm verrät. Und jetzt entschuldigt mich: die Gäste warten. (geht ab) Don Giulio: Engelsangesicht! Goldhaarige, verfluchte Hure! Dein Leintuch ist durch keine Sühne reinzuwaschen! Ich hab’s geahnt und habe nichts gesehen. 449

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Und doch hätt’ man’s mit Händen greifen können! Das Weib hat einen süßen, gelben Honigduft nach Lust und Unzucht auf dem Leib! Sie ist dafür und für nichts anderes geboren. Und ich, ich hab’s geschehen lassen unter meinen Augen! Oh, ich Narr! Ich Narr! (Er stürzt aus dem Zimmer.)

5. Szene In einer Schlucht des Waldes von Astruni haben die Jäger ihren verwundeten Herrn en­t­deckt. Francesco: Da liegt er! Ascanio: Wo? Francesco: Da. Komm und hilf! Ascanio: Dort unten in der Schlucht! Rührt er sich noch? Kann er uns hören? Francesco: Euer Hoheit, hört Ihr mich? Er ist ohne Besinnung. Ascanio: Verflucht! Wie konnte das geschehen? Francesco: Das war kein Unfall. Ascanio: Wie? Was meinst du …? Ach, du bist verrückt! Wer sollt’ ihm nach dem Leben trachten? Francesco: Komm, hilf mir tragen! 450

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Ascanio: Wir müssen ein paar Äste schneiden. Francesco: Nein, laß! Heb ihn mir auf den Rücken! Und trag du seine Beine! Ascanio: Ich hab’ die Hände voll von Blut. Francesco: Laß ihn nicht los! Ascanio: Das Schwerste an ihm sind die Stiefel. Vielleicht überlebt er’s. Francesco: Hol ihn der Teufel! Ascanio: Weh uns, wenn er krepiert! (Sie schleppen den Verwundeten ab.)

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Viertes Bild Das Konzert 1. Szene Carlo Gesualdo, sichtbar noch an den Folgen seines Sturzes leidend, sitzt in seinem Ka­binett im Palazzo San Severo am Schreibtisch. Er komponiert, und während er die No­ten niederschreibt, liest er, sich unterbrechend und wiederholend, das Gedicht, das er vertont. Fünf Madrigalisten singen zu gleicher Zeit die fertige Komposition aus ihren No­­tenblättern. Abseits sitzt ein junger Priester und greift einige Akkorde auf einer Theor­be. Don Carlo und die fünf Madrigalisten: Hast du ein einziges Mal nur, ach, nur so lang, als ein Kuß währt, die Freuden der Liebe genossen, so bist du für immer verwandelt. Du weißt, was die andern nicht wissen: die Tage, die Nächte, die Stunden, die man an die Liebe nicht wendet, sind alle vertan und vergeudet. Getränke und köstliche Speisen, die Jagden, die Tänze, die Spiele, sie sind nur schale Vergnügen. Glückselig macht einzig die Liebe.

2. Szene Fabrizio Caraffa sitzt in seinem Zimmer und schreibt einen Brief an Maria Gesualdo. Ma­ria Gesualdo sitzt in ihrem Zimmer und schreibt einen Brief an Fabrizio Caraffa. Don Fabrizio: Don Carlo weiß alles. 452

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Don Giulio hat uns verraten. Alle Welt kennt unser Geheimnis. Dein Leben steht auf dem Spiel. Ich schreibe, um dich zu warnen … Donna Maria: Wenn dein Herz nun in Furcht ist, dann hättest du dich nicht als Edelmann gebärden und deine Hände nicht zu mir erheben sollen. Es komme, was immer kommen mag. Überlaß du dich deiner Furcht und mich meinem Schicksal. Den Abschied geb’ ich dir gern. Verschon mich mit weiteren Liebesschwüren und erscheine nie mehr vor meinen Augen.

3. Szene Don Carlo, der die Komposition beendet hat, verabschiedet die Madrigalisten. Don Raffaello präludiert auf der Theorbe. Don Carlo: Ich dank euch. Laßt mich nun allein! (Die Madrigalisten gehen ab.) Wenn die Musik nicht wär’, wär‘ mir das Leben wie ein wüster Traum, aus dem ich nicht und nicht erwache. Müd wär’ mein Mut, welk meine Hoffnung und ohne Ziel die schweifenden Gedanken. Wenn die Musik nicht wär’, würd’ mir die Einsamkeit die Seele bald zernagen, und ihrer Fäule Bitternis würd’ sich 453

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aus meinem Innern, wo sie stirbt, mir auf die Lippen gießen. So aber ist Musik um mich, und ich hab’ Trost und Labsal, wenn sie tönt und Stern und Stern in meinem Trauerhimmel mir entzündet. Sie stillt mein Herz, und ich horch’ weit hinaus, weit über dieses arme Leben.

4. Szene Fabrizio Caraffa sitzt in seinem Zimmer und schreibt einen Brief an Maria Gesualdo. Ma­ria Gesualdo sitzt in ihrem Zimmer und schreibt einen Brief an Fabrizio Caraffa. Don Fabrizio: Schönste Frau, du willst, daß ich sterbe? Dann laß mich sterben. Oftmals hab’ ich bei Nacht auf der Gasse die fremde Hand auf der Schulter schon zu spüren vermeint. Es war nicht die Furcht um mein Leben, sondern um das deine, die mich zum Feigling gemacht hat. Gib mir Gewißheit, daß ich allein das Opfer sein werde, und ich will den tödlichen Biß eines Schwertes ohne Wehklagen dulden. Donna Maria: Mein Herr und Herzog, tödlicher als alle Tode ist für mich jeder Tag, den du fern bist von mir. Zu lange schon währt meine Qual.

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Ist es uns an keinem Ort vergönnt, beisammenzuliegen, so sei’s im Grab. Nicht mit schwarzer Tinte sollst du mir deine Liebe beweisen. Komm in dein Eigentum und nimm Besitz von dem, was dir gehört und keinem sonst! Gehorche deiner Dienerin! Ich will es und befehl’ es und will keine Widerrede mehr hören!

5. Szene Don Fabrizio und Donna Maria erheben sich, eilen aufeinander zu und versinken in stürmischer Umarmung. Don Carlo wirft sich in Verzweiflung zur Erde. Donna Maria: Wie lange, Geliebter, hab ich dich entbehren müssen! Don Farbrizio: Wie sehnte, wie sehnt’ ich mich, Liebste, nach deinen Küssen! Donna Maria: Nun sprich mir nicht mehr von wohlerwogenen Gründen. Don Farizio: Und ist es der Tod, so will ich ihn gern erleiden! Beide: Glückseliger kann man im Paradies nicht werden! Don Carlo: Versunken ist meiner Sonne Glanz, vergiftet die Quelle des Lebens, verraten der Schwur, zertreten der Kranz und alles Hoffen vergebens. Donna Maria und Don Fabrizio: So wird die Liebe uns zum Geschick. Wie jubelt mir die Seele in unauslöschlich leuchtendem Glück! 455

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Don Carlo: Zu Ende ist nun mein irdisches Glück, verfinstert ist mir die Seele. In meinen Händen erstirbt die Musik, und das Lied zerbricht in der Kehle.

Pause

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Fünftes Bild Die Nacht 1. Szene Donna Maria wartet in ihrem Schlafzimmer voll Unruhe auf ihren Geliebten. Silvana, ihr Kammermädchen, bereitet das Bett für die Nacht. Silvana: Ich hab’ von einem Mädchen erzählen gehört, aus Roccarainola, das einen jungen Mann so heftig liebte, daß es vor Sehnsucht schier ums Leben kam. Die Eltern holten eine weise Frau, die kam und segnete ein Stücklein Brot … Donna Maria: Das ist von deinen Bauernmärchen eins … Die Wahrheit ist: die Liebe kann man nicht heilen. Und wär’ es anders, so wollt’ ich eher, das Brot wär’ vergiftet als gesegnet. Silvana: Ich wüßte auch ein besseres Mittel dagegen: man hätte sie verheiraten sollen. (Ein Stein wird ans Fenster geworfen.) Donna Maria (schrickt auf ): War das nicht ein Stein am Fenster? Silvana (blickt hinaus): Nein, es ist niemand auf der Straße. Donna Maria: Geh, Silvana. Ich bin unruhig. Nimm den Schlüssel und warte unten am Tor.

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(Ein zweiter Stein wird ans Fenster geworfen.) Silvana: Doch. Ihr habt recht. Jetzt hör’ ich’s auch. Er ist es! Gott beschütz Euch. (Geht eilig ab.) Donna Maria: Niemand wird uns beschützen. Gott im Himmel nicht und nicht die Menschen auf der Erde. Niemand … niemand …

2. Szene Don Carlo speist in seinem Zimmer in der unteren Etage des Palazzo San Severo, auf dem Bett ruhend, zu Abend. Sein Diener Pietro Bardotti serviert. Auf einem Betstuhl knieend betet der junge Priester Don Raffaelo, schweigend über seine Hände geneigt. Bardotti: Noch etwas Wein? Don Carlo: Was sagst du? Bardotti: Noch etwas Wein, Euer Hoheit? Don Carlo: Wein? Ja. Einen Schluck noch. Schenk ein! Um diese Zeit des Jahres ernten sie die letzten, süßesten Trauben. Schön und schmerzvoll ist das Leben. Manch einer trinkt keinen Wein mehr im kommenden Jahr. Zwischen zwei Schlucken Wein sagt man die seltsamsten Dinge. Genug! Ich will bei klaren Sinnen bleiben.

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Bei klaren Sinnen? (Er lauscht.) Man öffnet ein Fenster. Wie spät ist’s? Blick hinaus, Bardotti, aber beweg die Vorhänge nicht. Was siehst du? Bardotti: Nichts. Es ist still auf der Gasse. Don Carlo: Wie spät ist’s? Bardotti: Die vierte Stunde der Nacht ist vorüber. Don Carlo: Geduld, Geduld. Bardotti: Noch etwas Wein? Don Carlo: Es ist genug. Geh in den Hof und schöpfe mir einen Krug mit frischem Wasser aus dem Brunnen! Bardotti: Euer Hoheit sind unruhig. Don Carlo: Mag sein, mag sein. Geh jetzt, das heißt … Nein, geh! Und beeil dich nicht! Wir haben viel Zeit heute Nacht, viel Zeit … (Bardotti geht ab.) Weh der Lust, die mich gezeugt! Weh der Scham, die mich empfangen!

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3. Szene Maria und Fabrizio liegen umschlungen auf dem Bett in Marias Schlafge­mach. Donna Maria: Woran denkst du, Fabrizio? Don Fabrizio: An nichts, an nichts, Maria. Donna Maria: Was ist das: nichts? Don Fabrizio: Das Ende der Worte. Donna Maria: Was kommt danach? Don Fabrizio: Das Ende der Furcht … das Ende der Hoffnung … das Ende … das Ende … Donna Maria: Das Ende der Liebe? Don Fabrizio: Ach, Maria, Maria, Marì! Ist es nicht gut und gerecht, daß alle Welt von dieser Liebe erfahren hat? Mag sein, mag sein, daß ich sterbe. Aber die Liebe, die ich durch dich empfangen habe, wird nicht mit mir vergessen werden. Ach, Maria, Maria! Du süßes, sanftes, trauriges, beglückendes Weib! Ich habe dich in diesen allzu kurzen, seligen Stunden so oft und doch zu selten umarmt. Ach, Marì, wo sind deine Augen, daß sie das furchtbare Bild nicht erkennen, das schon so nah vor uns steht?

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Donna Maria: Wo meine Augen sind, fragst du? Sie sind in den deinen, mein Liebster. Laß uns schweigen, laß uns schweigen. Don Fabrizio: Der Tod, Marì, der Tod löscht auch das Licht deiner Augen. Donna Maria: Der Tod, der Tod, wo ist er, solange wir leben? Und wenn er gekommen ist, wo sind dann wir?

4. Szene Pietro Bardotti kehrt mit einer Karaffe Wasser zurück in das Zimmer Carlo Gesualdos und findet dort seinen Herrn in Gesellschaft der beiden Jäger Ascanio und Francesco. Diese sind mit Hellebarden, Arkebusen und Dolchen bewaffnet. Bardotti: Das Wasser, Euer Hoheit, frisch aus dem Brunnen. (Als er die Karaffe auf den Tisch stellt, bemerkt er die beiden Jäger.) Ihr da …? Zu nachtschlafender Stund’? Was gibt’s für euch zu tun um diese Zeit? Don Raffaello ist gegangen? Don Carlo: Ich hab’ gesagt, er soll uns seinen Bruder schicken. Bardotti: Bruder? Euer Hoheit scherzen. Don Carlo: Asrael heißt er. Asrael. Bardotti: Von dem weiß ich nichts.

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Don Carlo: Wirst ihn schon kennenlernen. Bardotti: Und die: Ascanio und Francesco, was tun sie hier? Geht’s auf die Jagd heut’ nacht so spät? Don Carlo: Ja, auf die Jagd. Doch was für eine Jagd, das wirst du bald mit eignen Augen sehen. Bardotti: Da steht das Wasser. Frisch und kalt ist es. Soll ich einschenken? Don Carlo: Laß steh’n und geh! Bardotti: Das Tor im Hof ist unverschlossen. Habt Ihr den Schlüssel? Don Carlo: Ich habe ihn. Bardotti: Mir war, als hätt’ ich die Albano auf dem Flur gesehen. Sie hat getan, als wollt’ sie nicht gesehen werden. Sie hat versucht, die Tür am End’ des Ganges abzusperren. Das Schloß ist hin. Ich werde sehn, ob ich es richten kann. Don Carlo: Heut nicht mehr. Morgen … morgen …

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5. Szene Maria und Fabrizio liegen umschlungen auf dem Bett in Marias Schlafgemach. Donna Maria: Ich bin bei dir. Don Fabrizio: Du bist bei mir. Donna Maria: Du bist bei mir. Don Fabrizio: Ich bin bei dir. Beide: Kein Schwert, kein Messer kann uns trennen. Donna Maria: Wie gern wollt’ ich in einem Grabe mit dir liegen, verflochten Hand in Hand, bis unser Staub sich mischt, ununterscheidbar, ungetrennt, bis in die fernste Ewigkeit. Sie aber werden bald schon kommen und unsre Hände auseinanderflechten und jeden von uns in das Haus, in dem er einst geboren wurde, tragen. Sie werden unsre Leiber in Särge aus Blei, aus Bronze und aus Stein verschließen. Doch unsre Seelen werden sie mit ihren Händen nicht auseinanderzwingen. Was hier zerbrochen wird, das wird in einem andern Leben sich verbinden, und was getrennt wird, wird sich wiederfinden. Don Fabrizio: Hörst du das Hufgetrappel, Liebste? Donna Maria: Nein, ich höre nichts. 463

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Don Fabrizio: Die Reiter kommen zurück von der Falkenjagd! Donna Maria: Ich höre nichts. Don Fabrizio: Nein, das sind keine Pferde. Das sind Menschenfüße … auf der Treppe! Er ist im Haus! Er war nicht auf der Jagd! Donna Maria: Ich höre nichts! Ich höre nichts! Don Fabrizio: Wo ist mein Degen? Donna Maria: Küß mich! Küß mich! Halt mich fest umfangen! Don Fabrizio: Maria! Donna Maria: Halt mich!

6. Szene Don Carlo und seine beiden bewaffneten Knechte erbrechen die Türe des Schlafge­machs und töten Maria Gesualdo und Fabrizio Caraffa. Silvana Albano läuft mit dem Kind Don­na Marias auf den Armen schreiend durch die Gänge des Palastes. Silvana: Monna Maria! Monna Maria! Ah! Zu Hilfe! Zu Hilfe! Tut dem Kind nichts zuleide! Ah! Ah! Monna Maria! Ich kann’s nicht mit ansehen, ich kann’s nicht mit ansehen! Don Carlo: Ist sie nun tot, die Hexe? Ist sie nun tot? Ich kann es nicht glauben! 464

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Noch einmal! Friß dieses Eisen! Friß dieses Eisen! Noch einmal! In den Hals! In die Brust! In den Schoß! In das Leben! Ich kann es nicht glauben, daß sie nun tot ist! Schleppt sie hinaus an den Füßen! Sie und ihn und ihn und sie! Werft das blutige Knäuel auf die Treppe! Ein jeder soll sehn in Neapel, daß Gesualdo getan hat, was geschehen mußte vor Gott und der Welt!

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Sechstes Bild Die Glocken von Neapel 1. Szene Nacht im Palast des Herzogs von Andria. Donna Maddalena erhebt sich von ihren Knien und läutet den Dienerinnen. Donna Maddalena: Etwas Furchtbares ist geschehen heute nacht. Fragt nicht danach. Ich weiß es. Ihr werdet’s von andern erfahren. (da eine der Dienerinnen Anstalten macht, den Herzog zu rufen) Der Herzog ist nicht in seinen Zimmern. Weckt den Grafen von Ruo und sagt, ich lass’ ihn bitten, den Herzog heimzuholen in sein Haus, sobald der Tag anbricht. (Der Graf von Ruo erscheint im Nachtgewand auf der Schwelle.) Bringt mir das Trauerkleid und schweigt, so wie ich schweige …! (sie geht ab)

2. Szene Bei Tagesanbruch wird laut und ungeduldig an das Tor des Kardinalspalastes geschlagen. Der Kardinal, im Morgenmantel, tritt aus der Tür seines Zimmers. Der Kardinal: Was war das? Pocht da nicht einer ans Tor? Hört ihr? Noch einmal. Schlaft ihr noch alle? 466

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(Diener laufen herbei.) Wie spät ist’s? Geht und fragt, wer da lärmt! Um diese Zeit kommt keine gute Nachricht. Bardotti (tritt auf ): Verzeiht mir, Euer Eminenz! Der Kardinal: Bardotti! Zu so früher Stunde? Bardotti: Seine fürstliche Hoheit sendet mich mit dem Degen des Herzogs von Andria. Der Kardinal: Was mußte geschehen? Bardotti: Seine fürstliche Hoheit ist zu Pferd nach Gesualdo. Der Kardinal: Und der Herzog? Bardotti: Der Herzog ist tot. Der Kardinal: Und … und sonst ist weiter nichts zu melden? Bardotti: Nichts, was die Welt ein Anrecht hätte zu erfahren. Der Kardinal: Nehmt ihm den Degen ab! (Bardotti übergibt den Dienern den Degen.) Bringt mir den Mantel! Weckt das Haus! Ich muß in dieser Stunde noch zum Vizekönig. Er soll der Richter sein in dieser Sache. Der König selber in Madrid muß es erfahren. Man muß noch heute früh nach Spanien schreiben. Unglücksbote! Unglücksnacht! 467

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Was sagst du: eine Ehrensache, die geschehen mußte? Sind nun die Hände blutig und die Ehre reingewaschen? Ach, der Herzog! Und mit ihm, wer starb mit ihm? Oh, wüßt’ ich es nicht! müßt’ ich es nie erfahren! Ach, zu spät! Das Unfaßbare, Scheckliche, Nichtwiedergutzumachende ist schon geschehen. Kein Richter straft solch eine Tat hier in Neapel.

3. Szene In den Verließen des königlichen Schlosses werden die Zeugen, derer man habhaft wurde, unter Androhung der Folter befragt. Dem Vizekönig, dem Kardinal und Don Giulio Gesu­al­do werden der Kammerdiener Pietro Bardotti, der Priester Don Raffaello und die Frau des Gärtners von Chiaia vorgeführt. Don Garzia: Wir werden euch die Zähne brechen, bis ihr ausspuckt, was ihr noch verschweigt, und sei es mit dem letzten Atemzug! Führt sie zur Folter! Fort mit ihnen! Die Frau des Gärtners: Santa Maria, Santa Lucia, Santa Giustina, Santa Caterì … Don Garzia: Und wer ist die dort, die nicht aufhört, mir mit ihrer Litanei die Ohren zu zermartern? Don Giulio: Die Frau des Gärtners, Euer Hoheit. Don Garzia: Welches Gärtners? 468

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Die Frau des Gärtners: Des Gärtners von Chiaia, Euer Herrlichkeit. Ich hab Euch oft gedient mit Blumen. Don Garzia: Ich kenn’ sie nicht. Die Frau des Gärtners: Ich schwör’s bei allen Heiligen Neapels. Don Giulio: Sie hat in ihrer Hütte dem Herzog Unterschlupf gewährt. Don Garzia: Fabrizio? Don Giulio: Und mit ihm einer unbekannten Dame. Don Garzia: In Chiaia? Die Frau des Gärtners: Erbarmen, Euer Herrlichkeit! Ich bin da ganz unschuldig … Don Garzia: Schweig endlich, Kupplerin! Ich werde dich mit deinem Mann aus dieser Stadt vertreiben und aus den Gärten, die ihr schlecht behütet habt! Die Frau des Gärtners: Es steht in Eurer Herrlichkeit Belieben, auch Schuldlose zu strafen.

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4. Szene Auf den Treppen des Palazzo San Severo kniet Donna Sveva an der Leiche ihrer Toch­ ter. Der Graf von Ruo läßt den Körper Don Fabrizios auf eine Bahre legen. Man hört von allen Seiten die Glocken Neapels dröhnen. Donna Sveva: Die Glocken! Die Glocken überall! Neapel weint! Mein Kind! Mein Kind!

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Siebtes Bild De profundis 1. Szene In seinem Studierzimmer im Castell Gesualdo befiehlt Don Carlo seinen Knechten, ihn zu geißeln. Don Carlo: Niemand soll diese Tat je vergessen! Ich werde eine Kirche bauen in Gesualdo, So nah, daß mir die Glocken schwarzdröhnend in das Fenster schlagen, tagein, tagaus. Schlagt mich! Geißelt mich! Es gibt kein Glück als nur den Dämon des Schmerzes! (Ascanio und Francesco geißeln ihren Herrn.)

2. Szene In der Kirche Santa Maria delle Grazie in Gesualdo beten die Mönche für das Seelenheil des Mörders und seiner Opfer. Chor: De profundis clamavi ad te, Domine: Domine, exaudi vocem meam. Fiant aures tuae intendentes in orationem servi tui. Ne memineris iniquitatum meorum. Adjuva me, Domine.

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3. Szene In einem Raum des Schlosses von Gesualdo hat die Amme Silvana Donna Marias Kind in eine Schaukel gesetzt, deren Seile an der Decke befestigt sind. Sie wiegt es leise hin und her, um sein Weinen zu besänftigen. Don Carlo erscheint in blutbeflecktem Büßer­hemd auf der Schwelle. Don Carlo: Immerfort weint das Kind, immerfort. Silvana: Es wird sich beruhigen. Nicht weinen! Nicht weinen! Don Carlo: Immerfort weint es. Ich kann keinen Gedanken mehr fassen, keine Note mehr schreiben. Das Weinen muß ein Ende haben. Silvana: Ich trag’ es hinaus. Don Carlo: Hinaus? Wohin? Ich hör’ es weinen durch alle Wände. Ich werde es schaukeln. (Er beginnt das Kind zu schaukeln.) Silvana: Seid sanft zu ihm, Herr ! Don Carlo: Leg du dich nieder! Es ist schon spät. Du hast getan, was man von dir erwarten konnte. Jetzt bist du müd’, hast hohle Augen. Das Kind hat dich ganz krank gemacht. Silvana: Behutsam, Herr ! Das Kind ist nicht an Euch gewöhnt. Es weint.

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Don Carlo: Es weint, es weint … Wonach? Nach seiner Mutter? Und schreit es einmal auch nach seinem Vater? Silvana: Sein Vater ist bei ihm, die Mutter nicht. Don Carlo (er schaukelt heftiger): Wo ist die Mutter denn? Silvana: Ihr dürft es nicht erschrecken, Herr! Don Carlo: Erschrickt es denn, wenn es dem Vater ins Gesicht schaut? Kennt es ihn? Kennt es ihn nicht? Hat’s einen andern Vater sich erwartet? Silvana: Gebt mir das Kind! Don Carlo: Bringt sie hinaus! Schafft sie mir fort! Ist nicht genug Geschrei im Haus? Silvana: Was tut Ihr, Herr? Es ist genug! Francesco (auftretend): Was geht hier vor? Silvana: Ihr quält das Kind! Don Carlo: Quält es mich nicht mit seinem Anblick? Ascanio (auftretend): Genug! Genug! Francesco: Genug! Es wird Euch reuen! Don Carlo: Seht nur die frechen, lästerlichen Augen! Seine Augen sind es: Caraffas Augen! 473

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Ascanio: Herr, laßt es gut sein! Haltet ein! Wollt Ihr das Kind entgelten lassen, woran es keine Schuld hat? Don Carlo: Schweigt! Soll denn ein Bastard meinen Namen tragen? Gesualdo! Gesualdo! Francesco: Euer Hoheit, mäßigt Euch! Silvana: Gesualdo? Den Namen trägt auch schon ein Mörder! Mörder! Mörder! Don Carlo: Schafft mir das Weib vom Hals! Befreit mich von dem Anblick dieses Hurenkindes! Verflucht sei es. Weh mir ! Find’ ich denn niemals Frieden …? (Ascanio hält die Schaukel an.) Silvana (nimmt das Kind an sich): Das Kind hat ausgelitten. Gesualdo … Gesualdo … Don Carlo: Niemals … niemals … Frieden …

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Epilog Fünf Madrigalisten: O Gesualdo, lieblicher Hügel, aus fruchtbaren Wiesen weich emporgehoben, bekrönt mit glatt behau’nen Steinen, die Schultern bestreut mit Blumen, deren Vater das Sonnenlicht ist. In den schattigen Mulden der Flanken entspringt dir das heitere Wasser der Quellen. Nun aber hüllet Trauer dich ein. Die Menschen kehren sich ab, wenn sie von weitem, verirrt, dich erkennen. In deinen Mauern wächst Klagemusik, biegt die singenden Kehlen aufwärts gegen die Sterne. Vergeblich lauscht die gemarterte Stirne auf Antwort. Vom Echo der eigenen Rufe muß sich der Einsame nähren, ohne Trost für die unstillbar blutende Wunde.

Ende

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RICHARD BLETSCHACHER

ESSAYS ZU MUSIK UND MUSIKTHEATER

Richard Bletschacher wurde mit dreiundzwanzig Jahren von Herbert von Karajan an die Wiener Staatsoper engagiert und hatte dort neben diesem vor allem in Günther Rennert, Wieland Wagner und Lucchino Visconti seine ersten Lehrmeister. 37 Jahre bleibt er dem Haus treu. Neben seinen Funktionen als Regisseur und Chefdramaturg der Staatsoper inszeniert er auch an zahlreichen renommierten Bühnen im In- und Ausland, gestaltet Rundfunksendungen und unterrichtet an der Opernklasse der Hochschule für Musik und am Max-Reinhardt-Seminar. Als Autor von Theaterstücken, Romanen, Erzählungen, Gedichten und als Übersetzer von zwei Dutzend Opern (u. a. von Mozart und Puccini) sowie von Theaterstücken und Gedichten aus sechs Sprachen hat er sich einen literarischen Namen gemacht. Der Autor zeichnet in diesem Band Porträts von Sängern und Komponisten, die ihn auf seinem Lebensweg begleiteten. 2008. 290 S. GB. MIT SU 11 S/W-ABB. 155 X 235 MM. ISBN 978-3-205-78114-1 PRESSESPIEGEL

„Jeder der Essays [...] vermag bereits nach wenigen Zeilen in den Bann zu ziehen. Immer wieder blitzt der gesunde Humor Bletschachers durch, der selbst in ironischen Passagen nie verletzend wird und nicht die Hochachtung vor dem behandelten Gegenstand vergisst.“ (Österreichische Musikzeitschrift) böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, 1010 wien. t : + 43(0)1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau.at | wien köln weimar

RICHARD BLETSCHACHER

AUSFLÜGE EINUNDZWANZIG ESSAYS, DIE GESCHICHTE, DIE LITER ATUR UND DIE BILDENDE KUNST BETREFFEND

21 unkonventionelle Essays des Autors und Musikwissenschafters Richard Bletschacher zu Themen wie u. a.: Versuch über den Esel; Der Bau der Pyramiden des Alten Reiches; Anaximandros und die milesische Philosophie; Der Evangelist Johannes; Dichtung, was ist das?; Von der Kunst des Zeichnens; Shakespeares Sonette; Die Kunst der Darstellung auf dem Elisabethanischen Theater; Engel; Putten; Carlo Goldoni, zur 300. Wiederkehr seines Geburtstages; Georg Forster, Seefahrer, Weltbürger und Schriftsteller; Schillers Fragment „Demetrius“; Die Farbe Schwarz; Georges Rouault, der Maler; Über das Sammeln und Bewahren; Erinnerungen an Leopold Pötzlberger; Von der Schönheit; Das Theater des Albert Camus; Vom Träumen; Die ewigen Fragen und die neuesten Nachrichten. 2010, 301 S. GB. MIT SU. 155 X 235 MM. ISBN 978-3-205-78475-3

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Sven Oliver Müller, PhiliPP Ther, JuT Ta TOelle, GeSa zur nieden (hG.)

Oper im Wandel der Gesellschaft Kulturtransfers und netz werKe des MusiKtheaters iM Modernen europa die GeSellSchafT der OPer. MuSikkulTur eurOPäiScher MeTrOPOlen iM 19. und 20. JahrhunderT Bd. 4

Die Oper ist heute vermehrt als Ort nicht nur künstlerischer, sondern auch politischer, sozialer und vor allem kulturgeschichtlicher Prozesse ins Blickfeld geraten. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Historikern und Musikwissenschaftlern ist daher ergiebig. Der Band gründet sich auf der Erkenntnis, dass eine Geschichte Europas ohne die Geschichte der Musik nicht auskommt. Die kulturelle Landkarte des europäischen Musiktheaters zeigt geographische und gesellschaftliche Dynamiken einer Kunstform, die im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts alle Teile Europas und sehr unterschiedliche soziale Schichten erfasste. 2010. 331 s. br. 210 x 148 MM. iSBn 978-3-205-78491-3 (a) iSBn 978-3-486-59236-8 (d)

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Sar ah Zalfen

Sta atS-Opern? Der WanDel vOn Sta atlichkeit unD Die OpernkriSen in Berlin, lOnDOn unD pariS am enDe DeS 20. JahrhunDertS Die GeSellSchaft Der Oper. muSikkultur eurOpäiScher metrOpOlen im 19. unD 20. JahrhunDert, BanD 7

Im 20. Jahrhundert wurden europaweit aus Hofopern, Bürgeropern und kommerziellen Opernunternehmen Staatsopern. Sie waren subventionierte und institutionalisierte Teile staatlicher Strukturen, staatlich verantwortetes kulturelles Gemeingut und Symbole des Staates. In ihrem exemplarischen Vergleich von drei Opernkrisen und -reformen zeigt Sarah Zalfen, wie sich mit der Rolle des Staates in den jüngster Zeit auch ›seine‹ Opern wandeln: Zeiten knapper Kassen zwingen die Opernhäuser zu Einsparungen, lösen sie aber auch aus ihrer institutionellen Abhängigkeit. Die ausdifferenzierten kulturellen Bedürfnisse heutiger Gesellschaften unterminieren eine Setzung, welche Kultur wertvoll und förderungswürdig ist. Hoheitliche Repräsentationszeremonien verlieren in der medienvermittelten Gegenwart ihre Eindeutigkeit. 2011. 452 S. Br. 148 x 210 mm. ISBN 978-3-205-78650-4 [A], ISBN 978-3-486-70397-9 [D]

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