Autobiographie und Photographie nach 1900: Proust, Benjamin, Brinkmann, Barthes, Sebald [1. Aufl.] 9783839417645

Die Photographie hat in der modernen Erinnerungskultur eine entscheidende Rolle gespielt. Wie hat sich die Autobiographi

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German Pages 316 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
1. Fragestellung
2. Über den Begriff der Autobiographie
3. Kommentar, Metapher, Montage und Theorie
4. Identität/Differenz: Sammlung/Zerstreuung
1. Photographische Recherchen von Proust
1.1 Das Photoporträt als Schauplatz von Identifizierung und Metamorphose
1.2 »Erotische Recherchen« und Zerstreuung
1.3 Photographische Ästhetik in der Recherche I: Technische Innovationen
1.4 Photographische Ästhetik in der Recherche II: Thanatographie
1.5 Die Photographie als Metapher für Gedächtnis und Erinnerung
1.6 Die mémoire involontaire als Wiederholung
2. Benjamins Album der Erinnerungsbilder
2.1 Kleine Geschichte der Photographie als Vorlage der Autobiographie
2.2 Unsinnliche Ähnlichkeit und Mimikry
2.3 Die mémoire involontaire als photographisches Erinnern
2.4 Photosammlung der Erinnerungsbilder
2.5 Zerstreuung auf den Film hin
3. Brinkmanns autobiographe Ruinen
3.1 Sammlung und Zerstreuung eines fahrenden Autobiographen
3.2 Photographien als Autobiographeme: Abfälle und Utopie
3.3 Mehrfache Ruinen
4. Barthes’ Autobiographien mit Blick auf die Photographie
4.1 Spiegelstadium in Roland Barthes par Roland Barthes
4.2 Zur Performanz des autobiographischen Fragmentarismus: das Schauspiel des Imaginariums
4.3 Die helle Kammer als phototheoretische Wiederholung der Recherche
4.4 Die phototheoretische Supplementierung der Autobiographie
4.5 Wahnsinn der Lichtschrift
5. Autobiographie als Archäologie der Lebensgeschichten: Sebalds Die Ausgewanderten
5.1 Biographik und Autobiographik Sebalds
5.2 (Auto-)Biographik mit Photoalben
5.3 Archäologische Erinnerung
5.4 Ästhetik des Unterwegs
Schlußbemerkung: Merkmale der Autobiographik mit Blick auf die Photographie
Zitierte und weiterführende Literatur
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Autobiographie und Photographie nach 1900: Proust, Benjamin, Brinkmann, Barthes, Sebald [1. Aufl.]
 9783839417645

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Kentaro Kawashima Autobiographie und Photographie nach 1900

Lettre

Kentaro Kawashima (Dr. phil.) lehrt Deutsch und deutsche Literatur an der Universität Meijigakuin in Tokio/Yokohama. Seine Forschungsschwerpunkte sind moderne Literatur und Medientheorie.

Kentaro Kawashima

Autobiographie und Photographie nach 1900 Proust, Benjamin, Brinkmann, Barthes, Sebald

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Jennifer Niediek, Bielefeld Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1764-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung | 7 1. 2. 3. 4.

Fragestellung | 7 Über den Begriff der Autobiographie | 13 Kommentar, Metapher, Montage und Theorie | 18 Identität/Differenz: Sammlung/Zerstreuung | 23

1. Photographische Recherchen von Proust | 37 1.1

Das Photoporträt als Schauplatz von Identifizierung und Metamorphose | 37 1.2 »Erotische Recherchen« und Zerstreuung | 49 1.3 Photographische Ästhetik in der Recherche I: Technische Innovationen | 55 1.4 Photographische Ästhetik in der Recherche II: Thanatographie | 62 1.5 Die Photographie als Metapher für Gedächtnis und Erinnerung | 71 1.6 Die mémoire involontaire als Wiederholung | 79

2. Benjamins Album der Erinnerungsbilder | 87 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

Kleine Geschichte der Photographie als Vorlage der Autobiographie | 87 Unsinnliche Ähnlichkeit und Mimikry | 94 Die mémoire involontaire als photographisches Erinnern | 104 Photosammlung der Erinnerungsbilder | 113 Zerstreuung auf den Film hin | 123

3. Brinkmanns autobiographe Ruinen | 137 3.1

Sammlung und Zerstreuung eines fahrenden Autobiographen | 137 3.2 Photographien als Autobiographeme: Abfälle und Utopie | 152 3.3 Mehrfache Ruinen | 166

4. Barthes’ Autobiographien mit Blick auf die Photographie | 183 4.1 Spiegelstadium in Roland Barthes par Roland Barthes | 183 4.2 Zur Performanz des autobiographischen Fragmentarismus: das Schauspiel des Imaginariums | 195 4.3 Die helle Kammer als phototheoretische Wiederholung der Recherche | 204 4.4 Die phototheoretische Supplementierung der Autobiographie | 215 4.5 Wahnsinn der Lichtschrift | 220

5. Autobiographie als Archäologie der Lebensgeschichten: Sebalds Die Ausgewanderten | 235 5.1 5.2 5.3 5.4

Biographik und Autobiographik Sebalds | 235 (Auto-)Biographik mit Photoalben | 244 Archäologische Erinnerung | 260 Ästhetik des Unterwegs | 270

Schlußbemerkung: Merkmale der Autobiographik mit Blick auf die Photographie | 281 Zitierte und weiterführende Literatur | 291

Einleitung »[…] Fotografie des Autors […] Zerreißung der Fotografie des Autors.« (Heiner Müller)

1. F R AGESTELLUNG Wie hat sich das autobiographische Schreiben seit dem Aufkommen der Photographie verändert? Als Johann Wolfgang von Goethe zwischen 1809 und 1831 sein autobiographisches Werk Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit verfaßte, war die Erfindung der Photographie noch nicht allgemein bekannt: Die photographiegeschichtlich älteste Aufnahme von Joseph Nicéphore Niépce, dem Erfinder der sogenannten Heliographie, datiert zwar auf das Jahr 1827. Die Daguerreotypie von Louis Jacques Mandé Daguerre, die die Photographie als neue Medientechnik weltweit bekannt machte, wurde aber erst 1839 veröffentlicht.1 Was Goethe Gedächtnis und Erinnerung vermittelt, war daher neben mündlichen Überlieferungen und manuell produzierten Bildern nicht zuletzt die Schrift. In der medialen Konstellation um 1800, wo die Schrift im Zug der allgemeinen Alphabetisierung das privilegierte Leitmedium zur Aufzeichnung und Übertragung von sinnlichen Daten aller Art war, waren für den Dichter schriftliche Dokumente das Gedächtnismedium schlechthin.2 Die Schrift als Gedächtnisträger war für ihn aber auch deshalb von großem Belang, weil seine Dichtung und Wahrheit es darauf absah, nicht nur seine eigene Lebensgeschichte als Bildung zum exemplarischen ›Autor‹ zu erzählen, sondern 1 | Zur Erfindungsgeschichte der Photographie vgl. Bernd Busch 1995, S. 178205. Beaumont Newhall 1998, S. 13-26. Bernd Stiegler 2006a, S. 15-45. 2 | Zum »Aufschreibesystem um 1800« vgl. Friedrich Kittler 1995, S. 9-220.

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auch ein kulturhistorisches Panorama der Epoche zu entfalten. Die Autobiographie war für Goethe keine private Angelegenheit. Wie er im Vorwort proklamierte, sah er »die Hauptaufgabe« der Selbstbiographie darin, »den Menschen in seinen Zeitverhältnissen«3 nachzuzeichnen. Was Goethes Rekurs auf Schriftdokumente anbelangt, belegt etwa der Ausleihkatalog der Weimarer Herzoglichen Bibliothek sein weitgreifendes Quellenstudium.4 Die in der deutschsprachigen Literatur kanonischste Autobiographie gehört also mediengeschichtlich zu dem Zeitalter der Schrift und Literatur, das von der photographischen Umwälzung der Erinnerungstechnik noch nicht getroffen wird. Um 1900 herrscht aber eine ganz andere gedächtnismediale Konstellation für die autobiographische Literatur. Hat sich doch damals die medienhistorische Revolution der Photographie, die in der Präzision und Bildauflösung in hohem Maß manuellen Bildmedien überlegen ist, längst verallgemeinert. In seiner zwar nicht literarischen, aber für das 20. Jahrhundert paradigmatischen Autobiographie, die Freud, Lacan, Canetti, Deleuze, Kittler und andere ausführlich kommentierten, hinterläßt der Dresdner Senatspräsident Daniel Paul Schreber eine Spur von der Begegnung mit der hohen Bildauflösung der Photographie. In den Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken (1903), die er in der Heilanstalt Sonnenstein bei Pirna verfaßte, spricht Schreber selbst von solch »plastischer Deutlichkeit und photographischer Treue« seiner nächtlichen Visionen: Daß ein nicht ganz ruhig schlafender Mensch Traumbilder zu sehen glaubt, die ihm sozusagen von seinen eigenen Nerven vorgegaukelt werden, ist eine so alltägliche Erscheinung, daß darüber an sich kein Wort zu verlieren wäre. Die Traumbilder der vorerwähnten Nacht und die früheren ähnlichen Visionen übertrafen aber an plastischer Deutlichkeit und photographischer Treue bei Weitem alles Dasjenige, was wenigstens ich in gesunden Tagen früher je erlebt habe. 5

Die Photographie dient in dieser Passage dazu, eine unglaubliche Wahrhaftigkeit der wahnhaften Halluzinationen zu unterstreichen, weil sie seit

3 | Johann Wolfgang von Goethe 1998, Bd. 9, S. 9. 4 | Vgl. Benedikt Jeßing 1997, S. 280f. 5 | Daniel Paul Schreber 2003, S. 49. Zu weiteren Photographiebezügen vgl. Daniel Paul Schreber 2003, S. 256, S. 295.

E INLEITUNG

ihrer Erfindung als wirklichkeitsgetreue Reproduktion gilt.6 Die Photographie nimmt, wie der Erfinder der Negativphotographie William Henry Fox Talbot 1844 für seine Kalotypie propagierte, schon in ihrer Inkunabel »eine Vielzahl kleinster Details« auf, die »die Wahrheit und Realitätsnähe der Darstellung steigern helfen und die kein Künstler so getreu in der Natur abkopieren würde«.7 Wenn die »Traumbilder« diese von keiner Künstlerhand erreichbare Auflösungsgenauigkeit und damit bedingte Wirklichkeitstreue aufweisen, dann geht es tatsächlich um ihre unwahrscheinliche Intensität. Die Photographie tritt hier als technisches, allgemeingültiges Maß der Repräsentation auf, anhand dessen der »Nervenkranke« die außerordentliche Realität seiner Halluzination behauptet. Die Medientechnik der Photographie ist mit allen ihrer technischen Entwicklungen seit der Erfindung spätestens um die Jahrhundertwende ein »historisches Apriori«8 für das autobiographische Schreiben, indem sie in nahezu alle Bereiche des modernen Lebens Eingang gefunden hat. »Fotografien sind«, so Vilém Flusser in Für eine Philosophie der Fotografie, »allgegenwärtig: in Alben, Zeitschriften, Büchern, Vitrinen, auf Plakaten, Einkaufstüten, Konservenbüchsen.«9 Ohne große Übertreibung könnte man sagen, daß die Photographie einen notwendigen Bestandteil moderner Institutionen wie etwa Familie, Bürokratie, Polizei, Wissenschaft, Massenmedien, Kunst usw. ausmacht. Im Zuge dieser Verallgemeinerung hat sich die Photographie nach und nach immer mehr an »dem Archiv«10 beteiligt, das den autobiographischen Diskurs reguliert. Die Regulierung des autobiographischen Diskurses durch das photographische Archiv vollzieht sich insbesondere dadurch, daß es präzise Gedächtnisbilder sammelt und aufbewahrt, daß es diese Bilder dem Erinnerungssubjekt je nach seinem Bedarf zur freien Verfügung stellt. Die Photographie der Familie, die das Subjekt zum autobiographischen Erzählen bringt, ist ein Paradebeispiel hierfür. In ihrer Autobiographie weiter leben (1992) kommt beispielsweise Ruth Klüger auf ein Photo des früh gestorbenen Vaters zu sprechen: 6 | Zur Diskursivierung der Photographie als wirklichkeitsgetreuer Wiedergabe im 19. Jahrhundert vgl. Gerhard Plumpe 1990; Bernd Stiegler 2001. 7 | William Henry Fox Talbot 2006, S. 62. 8 | Michel Foucault 1981, S. 184. 9 | Vilém Flusser 2006, S. 38. 10 | Michel Foucault 1981, S. 187. Zum philosophischen Begriff des Archivs im Singular vgl. auch Jacques Derrida 1997b.

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Ich habe zwei Photos von ihm, das eine ist auf seinem Studentenausweis, da sieht er jung und draufgängerisch aus. Das war die Zeit, als er um meine Mutter warb, er ein mittelloser Medizinstudent, in einer Stadt, wo es zu viele Ärzte gab, und sie die Tochter eines wohlhabenden Ingenieurs und Fabrikdirektors.11

Daß der Autobiographin nur zwei Photos vom Vater übrigbleiben,12 ist ein Teil ihrer Familiengeschichte, die in die nationalsozialistische Judenvernichtung verwickelt war. Klüger überlebte nämlich die Konzentrationslager Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau und Christianstadt, während der Vater wohl 1944 in Auschwitz vergast wurde. Wenn das alte Ausweisphoto sie vom Vater in der Jugend erzählen macht, den sie selbst nicht sah, dann deshalb, weil es sonst nicht die Möglichkeit gäbe, ihn sich auf eine so präzise Weise zu vergegenwärtigen. Monika Maron stößt auch auf die Problematik des PhotographieArchivs, das wesentlich vorgibt, was über die Biographie eines Subjekts gesagt werden kann. Wenn sie sich nämlich im Buch über ihre Familiengeschichte mit dem Titel Pawels Briefe (1999) bemüht, die Lebensgeschichten der Großeltern aus der tiefen Vergessenheit auszugraben, dann ist die Schriftstellerin gezwungen, sich wiederholt auf alte Photos zu beziehen. Hat sie doch keine eigene Erinnerung an ihre Großeltern, die am Anfang des 20. Jahrhunderts aus einem polnischen Dorf nach Berlin übersiedelten und 1942 getrennt voneinander sterben mußten: Pawel Iglarz im Vernichtungslager und seine Frau Josefa im Krankenhaus. Versucht die Schriftstellerin, die Leidensgeschichte der Großeltern zu rekonstruieren, dann bleibt ihr nur der Weg der sukzessiven Ekphrasis entlang ihrer alten Familienphotos, die sie teilweise auch ins Buch einmontiert. Daher ist es nicht verwunderlich, daß sie schreibt: »Das Bild, das ich mir von meinen Großeltern mache, ist schwarzweiß wie die Fotografien, von denen ich sie kenne.« 13 Wenn sich die Schriftstellerin ausschließlich anhand des pho11 | Ruth Klüger 1994, S. 20f. 12 | Genaugenommen besitzt die Schriftstellerin nur dieses Photo vom Vater, denn im »zweiten Photo« geht es um eine Photographie-Metapher für die Erinnerung: »Das ist das zweite Photo, das ich von ihm habe. Da sieht er so aus wie an dem letzten Abend, ernst, die Haare schon ein bißchen dünn, an den Schläfen Andeutungen einer Glatze, die er nicht mehr bekommen sollte. Ich hab ihn nicht wiedergesehen.« Ruth Klüger 1994, S. 32f. 13 | Monika Maron 2004, S. 18.

E INLEITUNG

tographischen »Archivs« die Großeltern vorstellen kann, dann wird der autobiographische Diskurs über die Familiengeschichte durch die photographische Gedächtnisordnung im vorhinein eingegrenzt und strukturiert.14 Die Photographie funktioniert in diesem Sinne nicht lediglich als Gedächtnisstütze, sondern als Formation des Gedächtnisses, welche die autobiographische Praxis mit bestimmt. Von hier aus läßt sich die Frage, die eingangs gestellt wurde, präzisieren: Auf welche Weise hat sich die autobiographische Literatur gemäß der Photographie als neuer Gedächtnisformation umorganisiert? Welche Grundzüge weist das autobiographische Schreiben auf, das für seine Möglichkeiten die Präzision des technischen Bildmediums voraussetzt? Bezüglich dieser Fragestellung stellt Manfred Schneiders diskurstheoretisches und medientheoretisches Buch Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert15 eine bahnbrechende Arbeit dar, an die die vorliegende Untersuchung anschließt. Schneider legt die autobiographischen Texte von Marcel Proust, Walter Benjamin, Jean-Paul Sartre und Michel Leiris jeweils im Verhältnis zu Photographie, Telephon, Kinematographie und Grammophon aus, wohingegen sich die vorliegende Arbeit nur auf autobiographische Texte im Verhältnis zu Photographie konzentriert: Es handelt sich hier um Texte, die für das autobiographische Schreiben mit Blick auf die Photographie exemplarisch zu sein scheinen: Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1913-27), Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert (1932-34/1938 entstanden), Rolf Dieter Brinkmanns Rom, Blicke (1973 entstanden, 1979 erschienen), Roland Barthes’ Roland Barthes par Roland Barthes (1975) sowie Die helle 14 | Als ein interessantes Beispiel hierfür in der zwar fiktionalen, doch biographischen bzw. Biographie simulierenden Literatur sei Marcel Beyers Roman Spione (2002) genannt. Dort rekonstruiert der Erzähler die Lebensgeschichte seines Großvaters anhand eines alten Photoalbums. Freilich beginnt die eigentliche Handlung des Romans bezeichnenderweise mit dem Verschwinden der Photos von der Großmutter, mit einer Lücke im Album, durch die hindurch die Lebensgeschichte der Großmutter ausspioniert wird. Das Photoalbum, dessen Prinzip variable Anordnung ist, setzt Selektion voraus. Dagegen setzt Beyers Roman damit ein, dieses mediale Verfahren des Ein- und Ausschlusses in Frage zu stellen. 15 | Manfred Schneider 1986; vgl. auch Manfred Schneider 1993. Zu Schneiders Theorie über die Autobiographie vgl. Martina Wagner-Egelhaaf 2000, S. 72-77.

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Kammer (1980) und schließlich W.G. Sebalds Die Ausgewanderten (1992). Diese autobiographischen Schriften zeichnen sich dadurch aus, daß sie eine Beschäftigung mit der Gedächtnisordnung Photographie als wesentliche Dimension implizieren. Sei es als Sammler (Proust, Brinkmann, Sebald), sei es als Rhetoriker bzw. Metaphoriker (Proust, Benjamin, Brinkmann, Barthes), sei es als Theoretiker (Benjamin, Barthes), sei es als Knipser (Brinkmann, Sebald), nehmen die Schriftsteller die Beschäftigung mit der Photographie in ihre autobiographische Praxis auf, um dadurch eine gründliche Transformation des autobiographischen Schreibens zu vollbringen. Hierin liegt der Grund, daß ihre Texte als exemplarisch für das autobiographische Schreiben nach 1900, das sich angesichts der Photographie umorganisiert hat, angesehen werden können. Es gilt nun zu beschreiben, wie sie von ihren – jeweils anders angesetzten – Beschäftigungen mit der Photographie ausgehend eine neuartige Autobiographik entwickeln. Die vorliegende Arbeit teilt sich dabei in fünf Kapitel, um in chronologischer Reihenfolge die autobiographischen Texte der genannten fünf Schriftsteller zu durchleuchten.16 Was die Textauswahl anbelangt, ist die vorliegende Untersuchung komplementär zur Dissertation von Susanne Blazejewski zu sehen, die sich, obgleich theoretisch grundverschieden, auf einem ähnlichen Forschungsfeld bewegt. In ihrem komparatistischen Buch Bild und Text – Photographie in autobiographischer Literatur beschreibt die Verfasserin Marguerite Duras’ Der Liebhaber und Michael Ondaatjes Es liegt in der Familie im Verhältnis zur Photographie.17 Abgesehen von dieser Nachbarschaft zu anderen literaturwissenschaftlichen Arbeiten bedarf die hier getroffene Textauswahl noch weiterer Explikationen, insofern auch Texte, die innerhalb der geläufigen Klassifikationen nicht als Autobiographien erscheinen, etwa Die helle Kammer und Die Ausgewanderten, einbezogen werden. Von daher gilt es nun, den Autobiographiebegriff zu skizzieren, der dieser Auswahl der Texte zugrundeliegt.

16 | Auch auf Vladimir Nabokovs Erinnerung, sprich. Wiedersehen mit einer Autobiographie (1951/1966) oder Marguerite Duras’ Der Liebhaber (1984) wird in einem angemessenen Kontext eingegangen. Zu Erinnerung, sprich vgl. 5.2 (Auto-)Biographik mit Photoalben. Zu Der Liebhaber vgl. 2.4 Photosammlung der Erinnerungsbilder und 4.5 Wahnsinn der Lichtschrift. 17 | Susanne Blazejewski 2002.

E INLEITUNG

2. Ü BER DEN B EGRIFF DER A UTOBIOGR APHIE Anders als Epos, Drama, Lyrik usw. ist die Autobiographie keine rein literarische Gattung. Sie ist bekanntlich nicht nur von Dichtern und Schriftstellern, sondern auch von Musikern, Filmstars, Politikern, Sportlern und anderen Personen des öffentlichen Lebens beansprucht worden. Diesbezüglich macht Manfred Schneider darauf aufmerksam, daß eine Unzahl von Autobiographien innerhalb verschiedener Institutionen wie etwa im Kloster und in religiöser Gemeinde, in Klinik und Anstalt, Schule und Erziehungsheim, im Gericht und Gefängnis verfaßt, gesammelt und archiviert worden ist: Die Autobiographie ist nicht lediglich ein literarisches Phänomen, sondern auch an die Institutionen der europäischen Kulturmächte gebunden, die das Subjekt über sich selbst erzählen lassen.18 So wird ab dem Mittelalter bis auf den heutigen Tag die Lebensgeschichte unablässig produziert und reproduziert: religiöse Berichte im Mittelalter, Memoiren und Biographien in der Renaissance, puritanistische und quietistische Geständnisse, pietistische Erweckungsgeschichten, Lebensbeschreibungen der paradigmatischen Menschen (z. B. Politiker, Künstler, Verbrecher, Kranke) vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Die Lebensgeschichte läßt sich als das Schreibformat fassen, demgemäß das Subjekt im Abendland, das Michel Foucault als »Geständnistier«19 bezeichnet, seine Wahrheit formuliert hat. Durch diese Wahrheitsproduktion im Schreibformat der Lebensgeschichte ist sich einerseits das »Geständnistier« selbst begegnet, während es sich andererseits einer institutionellen Norm unterworfen hat. Die lebensgeschichtliche Autobiographik funktioniert also als biopolitische Kulturtechnik, durch die sich der Mensch subjektiviert, individualisiert und normiert. Dieser diskurstheoretische Begriff der Autobiographie als Kulturtechnik richtet sich insbesondere gegen den Idealismus von Wilhelm Dilthey, der in seinem Buch Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1927) die »Selbstbiographie« als den »direktesten Ausdruck der Besinnung über das Leben« auffaßte.20 So bringt er dieses literarische Genre in einen systematischen Zusammenhang mit der hermeneutischen Kategorie des »Verstehens des Lebens«: »Die Selbstbiographie ist die 18 | Vgl. Manfred Schneider 1993. 19 | Michel Foucault 1983, S. 63. 20 | Wilhelm Dilthey 1981, S. 244.

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höchste und am meisten instruktive Form, in welcher uns das Verstehen des Lebens entgegentritt.«21 Dieser lebensphilosophische und hermeneutische Begriff der Autobiographie als unmittelbarer Ausdruck des Selbstbewußtseins dominierte in der Autobiographieforschung im 20. Jahrhundert. Davon zeugt namentlich die monumentale vierbändige Geschichte der Autobiographie des Dilthey-Schülers Georg Misch.22 Wie er im Vorwort expliziert, will er dort aufgrund einer umfassenden Darstellung der Autobiographiegeschichte von der Antike bis zum 19. Jahrhundert »die autobiographischen Schriften in den verschiedenen europäischen Sprachen als Zeugnisse für die Entwicklung des Persönlichkeitsbewußtseins der abendländischen Menschheit« behandeln.23 Es geht hier um ein hegelianisches Projekt, in der geschichtlichen Entwicklung der Autobiographie einen fortschreitenden Gang des menschlichen Selbstbewußtseins festzustellen.24 In dieser idealistischen Lesart der Autobiographiegeschichte erscheint jene Blüte der Lebensgeschichte im aufgeklärten 18. Jahrhundert, die lange aus dem Gesichtspunkt der »Säkularisation«25 der Bekenntnisliteratur betrachtet worden ist, als Ausdruck der unaufhaltsamen Bewußtwerdung des ›Individuums‹ und seiner zunehmenden Autonomie in der bürgerlichen Gesellschaft. Gegen diesen idealistischen Autobiographiebegriff der Geisteswissenschaften, der die philologische Autobiographieforschung des 20. Jahrhunderts grundierte, wendet sich Manfred Schneider, wenn er auf die institutionelle Funktion der Lebensgeschichte als »Test auf die ›Normalität‹«26 hinweist. Nicht zuletzt am Ein- und Ausgang verschiedener Institutionen muß das Subjekt gemäß dem Schreibformat der Lebensgeschichte seine Biographie kontinuierlich darstellen können. Eine kleine illustrative Szene hierzu befindet sich in Goethes Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre, der nicht nur die Bekenntnisse einer schönen Seele beinhaltet, sondern auch Grundzüge des »Institutionenromans«27 aufweist. Hier handelt es sich 21 | Wilhelm Dilthey 1981, S. 246. 22 | Vgl. hierzu Martina Wagner-Egelhaaf 2000, S. 23-26. 23 | Georg Misch 1998, S. 36. 24 | Georg Misch 1998, S. 42: »Die Geschichte der Autobiographie ist in einem gewissen Sinne eine Geschichte des menschlichen Selbstbewußtseins.« 25 | Günter Niggl 1998, S. 367-391; Klaus-Detlef Müller 1998. 26 | Manfred Schneider 1993, S. 259. 27 | Rüdiger Campe 2004, S. 207f.

E INLEITUNG

um eine fast an das polizeiliche Verhör erinnernde Befragung Wilhelms, die auf die Identifizierung Mignons zielt: »Wie nennest du dich?« fragte er [Wilhelm, K.K.]. – »Sie heißen mich Mignon.« – »Wieviel Jahre hast du?« – »Es hat sie niemand gezählt.« – »Wer war dein Vater?« – »Der große Teufel ist tot.« 28

Mignon besitzt keine von ihr selbst erzählbare Biographie, mit der man sie identifizieren könnte. Gerade deshalb bleibt sie »Rätsel«29 und Fremdkörper in der bürgerlichen Gesellschaft. Der Ausfall des biographischen Gedächtnisses kommt in der Diskursordnung nach 1800 Anomalität gleich.30 Lücken in der Lebensbeschreibung erwecken sogleich Verdacht. Der »Test« der Lebensgeschichte zielt also auf die Fähigkeit, ob man nach dem Prinzip des linearen Schriftmediums biographische Daten ordnen kann. Um seine Normalität zu beweisen, oder genauer: sie herzustellen, muß das Subjekt lernen, kontingente Lebensdata streng in die Ordnung der linearen Kontinuität der Schrift zu bringen. Es ist eben diese Normierungskraft der Autobiographie, die Dilthey entgeht, wenn er die Autobiographie als den direktesten Ausdruck des Selbstbewußtseins auffaßt. Aus der diskurs- und medientheoretischen Sicht erweist sich dagegen das ununterbrochene Bewußtsein als Produkt der normierenden Kraft der Lebensgeschichte, die Leben und Schrift in der Schrift synchronisiert. Die Kontinuität des Bewußtseins ist aus dieser Perspektive nichts anderes als »eine Dematerialisierung des Schrift-Kontinuums«.31 Die dauerhafte Bewußtseinseinheit, die man im 20. Jahrhundert die Identität nennt, ist solchermaßen mit einer Medienpolitik gekoppelt, bei der das Schreiben der Lebensgeschichte als Normierung des Subjekts fungiert. Parallel dazu, daß die Erfindung der Schrift vormals die Lasten von Gedächtnis und Erinnerung erleichterte, entlastet das Aufkommen der Photographie nunmehr bis zu einem gewissen Grad das autobiographische Schrifttum von seiner Gedächtnisfunktion. Denn das technische Medium vermag präzisere und detailreichere Gedächtnisbilder zu speichern als die

28 | Johann Wolfgang von Goethe 1998, Bd. 7, S. 98. 29 | Ebd. 30 | Vgl. Manfred Schneider 1993, S. 254. 31 | Manfred Schneider 1993, S. 265.

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Schrift. Diesbezüglich findet sich im Vortrag zu Hundert Jahre Photographie von Paul Valéry eine instruktive Beobachtung: Der Grad der Präzision, den die Sprache beanspruchen darf, wenn sie dazu eingesetzt wird, von einem Gegenstand visueller Wahrnehmungen eine Vorstellung zu geben, ist geradezu illusorisch. Wie ließe sich denn auch selbst bei größtem schriftstellerischem Geschick eine Landschaft oder ein Gesicht so schildern, daß das Geschriebene nicht ebenso viele verschiedene Vorstellungen hervorriefe, wie wir Leser haben? Man öffne einen Reisepaß, und die Frage ist sogleich entschieden: der mühselige Steckbrief hält keinen Vergleich aus mit dem daneben eingehefteten Konterfei. 32

Einer der scharfsinnigsten Schriftsteller am Anfang des 20. Jahrhunderts räumt ein, daß die Photographie ein exakteres Bild des Individuums repräsentieren kann als die geschriebene Personendarstellung. In der Tat übt die Photographie als Lichtbild im 20. Jahrhundert die Funktion des Identitätsnachweises aus, die der Lebensgeschichte um 1800 zukam. Wenn es sich so verhält, braucht der autobiographische Text nicht mehr so lükkenlos erzählt zu werden, wie man um 1800 forderte. Entsprechend dieser Gedächtnisentlastung durch die Photographie als Identitätsmaschine sehen die autobiographischen Texte, mit denen sich die vorliegende Untersuchung befaßt, keine Aufgabe mehr darin, eine Lebensgeschichte kontinuierlich zu erzählen. Proust, Benjamin, Brinkmann, Barthes und Sebald sind bei allen Unterschieden darin einig, daß sie aufgehört haben, nach dem kulturtechnischen Schreibformat der Lebensgeschichte ihre autobiographischen Texte zu verfassen. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Proust ist weit davon entfernt, eine kontinuierliche Lebensgeschichte zu erzählen. Dieser autobiographische Roman besteht vielmehr aus dem Nebeneinander unterschiedlicher Zeitebenen, das durch Unterbrechungen, Sprünge und Wiederholungen konstruiert wird. Bei Benjamin ist die diskontinuierliche Struktur des autobiographischen Textes noch augenfälliger. Daher ist es kein Wunder, daß Benjamin in der Berliner Chronik, die die Vorstufe zur Berliner Kindheit um neunzehnhundert darstellt, explizit schreibt, aus seinen Erinnerungstexten werde keine Autobiographie. Denn seine Kindheiterinnerungen haben es nicht mit »dem stetigen Fluß des Lebens« zu tun, sondern mit einem 32 | Paul Valéry 1995, S. 496.

E INLEITUNG

»Raum«, mit »Augenblicken« und mit dem »Unstetigen«.33 Brinkmanns Rom, Blicke macht hauptsächlich nur seinen zweijährigen Rom-Aufenthalt zum Gegenstand. Die Konzentration des reisenden Schriftstellers auf seine Gegenwart, das Hier und Jetzt des Schreibens, kontrastiert deutlich zur retrospektiven Haltung der Lebensgeschichte.34 Roland Barthes par Roland Barthes ist ein autobiographisches Buch, dessen Verfasser sich explizit von der Tradition der Bekenntnisse abgrenzt.35 Strukturell ist es eine Sammlung von Fragmenten, die weder chronologisch noch thematisch, sondern nach der alphabetischen Reihenfolge der Überschriften geordnet werden. Die helle Kammer von Roland Barthes wurde bisher meistens als theoretisches Buch über die Photographie gelesen.36 Nur durch eine sorgfältige Lektüre eröffnet sich die autobiographische Dimension dieses Buchs, das sowohl im Motiv der Trauer als auch in der Erzählstruktur Prousts Recherche wiederholt. Die Ausgewanderten von Sebald gehört nach der geläufigen Klassifikation nicht zur autobiographischen, sondern zur biographischen Literatur. Der Schriftsteller versteckt sein autobiographisches Projekt hinter der Konstruktion von Fremdbiographien. Aus welchem ästhetischen, poetologischen oder theoretischen Grund es auch gewesen sein mag, die Schriftsteller, die mit Blick auf die Photographie Autobiographien verfaßten, gehorchten nicht mehr dem kulturellen Imperativ, eine Lebensgeschichte zu erzählen. Statt dessen organisierten sie ihre Autobiographik 33 | Walter Benjamin 1972, Bd. IV, S. 488: »Denn die Autobiographie hat es mit der Zeit, dem Ablauf und mit dem zu tun, was den stetigen Fluß des Lebens ausmacht. Hier aber ist von einem Raum, von Augenblicken und vom Unstetigen die Rede.« 34 | Damit hängt es wahrscheinlich zusammen, daß Rom, Blicke in der Autobiographieforschung keine nennenswerte Rolle gespielt hat. Rom, Blicke wird sowohl in der Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung von Günter Niggl (1989) als auch in der Autobiographie von Wagner-Egelhaaf (2000) nicht erwähnt. In Michaela Holdenrieds Autobiographie wird zumindest der Titel des Buchs einmal genannt. Michaela Holdenried 2000, S. 251. 35 | Roland Barthes 1978, S. 131: »Dieses Buch ist keins von ›Bekenntnissen‹; nicht daß es unaufrichtig wäre, sondern weil wir heute ein von gestern verschiedenes Wissen haben; dieses Wissen kann so resümiert werden: was ich von mir schreibe, ist niemals das letzte Wort davon.« 36 | Die helle Kammer ist schon von Anselm Haverkamp (1993) und Doris Kolesch (1995) als autobiographischer Text gelesen worden.

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um, indem sie, wie es sich noch zeigen wird, jeweils von Bezügen auf die Photographie ausgingen. In der Epoche, wo die Photographie als effizienter Test auf die Identität des Subjekts funktioniert, hört die Literatur auf, unter dem Prinzip des Schrift-Kontinuums biographische Daten zu ordnen. An dieser Entfernung von der Lebensgeschichte als Kulturtechnik liegt es, wenn die hier ausgewählten Texte sich dem gängigen Autobiographiebegriff nicht mehr einpassen lassen.

3. K OMMENTAR , M E TAPHER , M ONTAGE UND THEORIE Es gibt mehrere Typen der autobiographischen Bezugnahme auf die Photographie. Prousts Rekurs auf die Photographie ist erstens kommentatorisch. Auf dem Weg der Recherche du temps perdu kommentiert Proust zahlreiche Photographien: Photoporträts, Ansichtskartenphotos, Architekturphotographien, Reproduktionen von Gemälden und andere Arten der Photographie werden von Proust kommentiert. Dadurch bezieht er detailreiche Gedächtnisbilder in sein Abenteuer der Suche in die verlorene Zeit mit ein. Das Kommentieren ist die elementarste Operation, mit der sich der autobiographische Text auf die Photographie bezieht. Kommentierend vermag er sich auf der Ebene der photographisch vermittelten Erinnerungen und Gedächtnisse zu bewegen. Zweitens dient Proust die Photographie als Metapher. Die photographische Metapher ist selbstredend keine Erfindung von Proust.37 Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bedient sich Carl Gustav Carus in seinen Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten (1865/66) der Photographie als Metapher für die Erinnerung. Dort schreibt der Dresdner Maler und Arzt, »daß die allerfrühesten Erinnerungen nie einen Gedanken, sondern immer nur eine oder die andere Sinnesvorstellung, welche gleichsam daguerreotypisch besonders fest sich eingeprägt hatte, zutage fördern werden«.38 Hier steht die Daguerreotypie für die Bildlichkeit vereinzelter Kindheitserinnerungen, die sich nicht zu einem »Gedanken« sammeln. »Zwar sagt man sich bald«, so fährt Carus fort, »daß es nicht füglich anders sein könne, da eben in erster Kindheit das Denken […] noch so unbehilflich und schwach ausgeübt wird. So also, wenn ich mich frage, zunächst wie weit ich mich in die Region der Kind37 | Zur mannigfaltigen Photographie-Metapher vgl. Bernd Stiegler 2006b. 38 | Zitiert nach Anton Philipp Knittel 1996, S. 545.

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heit hinein und was ich mir dort zumeist erinnern kann, so finde ich aus frühester Zeit durchaus nur einzelne Bilder vorhanden […].«39 Auch in der Recherche zeigen sich Photographie-Metaphern, die auf die Disparität pluraler Erinnerungsbilder bezogen sind. Aber anders als Carus trägt Proust dem neuen Zeitmodus Rechnung, der der drastischen Entwicklung der Photographietechnik am Ende des 19. Jahrhunderts entspricht: der Augenblicklichkeit, die es in der Daguerreotypie so noch nicht gab. Im Blick auf neue Photographietechniken wie Augenblicksphotographie oder Schnappschuß metaphorisiert Proust augenblickliche Wahrnehmungen und unwillkürliche Erinnerungen, auf die es ihm poetologisch sehr ankommt, anhand der Photographie. Die Photographie tritt also als ästhetisch entscheidende Metapher für die »Plötzlichkeit«40 auf, die den Ereignischarakter der authentischen Wahrnehmung und Erinnerung bezeichnet. Benjamin hat durch seine Schriften Kleine Geschichte der Photographie und Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit nicht nur einem medientheoretischen Denken Bahn gebrochen, sondern sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne Proust übersetzt. Die kommentatorischen und metaphorischen Bezüge auf die Photographie, die wesentliche Ebenen der Suche nach der verlorenen Zeit herstellen, nimmt Benjamin in seine Berliner Kindheit auf. Konstitutiv für Benjamins autobiographisches Schreiben ist vor allem die proustsche PhotographieMetapher für die unwillkürliche Erinnerung. Einzelne Stücke der Berliner Kindheit werden nämlich als Erinnerungsbilder konzipiert, die dem photographisch augenblicklichen Erinnern unbewußter Gedächtnisse entspringen. Darüber hinaus konstruiert sich Benjamins autobiographischer Text durch den Rekurs auf das Photoalbum: Er besteht aus einer Sammlung von photographisch erinnerten Gedächtnisbildern, die zusammenhangslos miteinander erscheinen. Die Berliner Kindheit ist also ein Paradebeispiel für die photographisch modellierte Strukturierung des autobiographischen Textes. Ein anderes Beispiel hierfür ist Michel Leiris’ Autobiographie Mannesalter (1939). Es lohnt sich, hier kurz darauf einzugehen. Leiris, der mehr als Benjamin dem Surrealismus nahesteht, expliziert in seinem 1945/1946 geschriebenen Vorwort seinen autobiographischen Text, »wo sich Kindheitserinnerungen, Erzählungen wirklicher Ereignisse, Träume und tatsächlich erlebte Eindrücke in einer Art von surrealistischer Colla39 | Ebd. Vgl. hierzu auch Aleida Assmann 1999, S. 220. 40 | Karl Heinz Bohrer 1981.

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ge überschneiden, oder vielmehr Photomontage, denn kein Element ist hier verwendet, das nicht von einer strengen Wahrhaftigkeit wäre oder dokumentarischen Wert hätte.«41 Die »Photomontage«, die zum einen von der Diversivität, zum anderen von der Authentizität des Materials gekennzeichnet ist, ist das Modell des autobiographischen Buchs von Leiris. Denn beim Schreiben eines Schriftstellers, der sich als literarischen »Stierkämpfer«42 begreift, handelt es sich um ein lebensgefährliches Spiel, alles aufrichtig zu gestehen, in keiner Weise die Geständnisse zu zensieren, für sich selbst ohne Verklärung oder Ästhetisierung zu zeugen.43 So schaltet er Erinnerungen, Fantasien und Fakten ohne Hierarchie nebeneinander, die Diskurselemente nämlich, die nach der Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft streng voneinander geschieden werden sollen. Sei es im Photoalbum bei Benjamin, sei es in der Photomontage bei Leiris, die Photographie-Metapher steht für die diskontinuierliche Struktur des autobiographischen Textes, der nicht von einer temporalen und kausalen Konsequenz der Lebensgeschichte, sondern von der Intensität einzelner Gedächtnisbilder lebt. Auch Brinkmann, Barthes und Sebald beziehen sich auf die Photographie kommentatorisch und metaphorisch. Von Proust und Benjamin unterscheiden sie sich aber insbesondere dadurch, daß sie Photos in den autobiographischen Text einmontieren. Zu Kommentar und Metapher kommt also die Montage als dritte Technik für den Photographiebezug hinzu. Montage bedeutet in diesem Kontext, daß die autobiographische Schrift und die Photographie visuell auf derselben Textoberfläche arrangiert werden. Der autobiographische Diskurs entfaltet sich damit im Blick auf die Ebene der eingelegten Photos. Brinkmann und Sebald differenzieren sich ferner von Barthes dadurch, daß sie selbst mit einer Handkamera für den autobiographischen Text photographieren: Sie sind photographierende Autobiographen. In Rom, Blicke montiert Brinkmann neben anderen zahlreichen Bildern und multimedialen Materialien Momentaufnah41 | Michel Leiris 1975, S. 14f. 42 | Michel Leiris 1975, S. 8. 43 | Freilich hatte Leiris selbst schon die Unmöglichkeit einer solchen heißen Bekenntnisliteratur erkannt, als er 1940 mit seinem autobiographischen Schreiben gemäß der anderen Spielregel einsetzte. Vgl. hierzu Manfred Schneider 1986, S. 199-253. Zur philologischen Beschreibung der Entwicklung von Leiris’ Autobiographik vgl. auch Philippe Lejeune 1994, S. 294-375.

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men ein, die er in Rom mit seiner Handkamera aufnahm: Schnappschüsse von der Dingwelt Roms und der anonymen Großstadtmasse, die die gesteigerte Aufmerksamkeit des flanierenden Schriftstellers auf seine Schreibgegenwart hervorheben. Diese Photos gehen Hand in Hand mit postalischen Schrifttexten, in denen er an seine Frau und an Freunde von seinen Rom-Wahrnehmungen in allen Details berichtet. Mit einer Medienallianz von Momentaufnahmen und Brieftexten experimentiert Brinkmann, um utopische »Augenblicke (Augen + Blicke)«44 zu fassen, epiphanische Momente, die durch den radikalen Bruch mit der fließenden Zeit definiert werden. Sebald ist genauso wie Brinkmann immer unterwegs. Für diese photographierenden Autobiographen ist das autobiographische Schreiben vom Unterwegs-Sein des auf der Suche seienden Subjekts untrennbar. Im Gegensatz zu Brinkmanns Fokussierung auf die Gegenwart steht aber Sebald mit seinen Ausgewanderten. Sebald dient die Photographie als Mittel einer literarischen Archäologie. Um verdrängte und vergessene Geschichten der »Ausgewanderten« auszugraben, bezieht sich der Schriftsteller wiederholt auf Photos, die als Fundstücke auch im Buch abgebildet werden. Die archäologische Arbeit an verschütteten Gedächtnissen, das mehr oder weniger von Zufällen abhängige Abenteuer praktiziert Sebald auch mit seinem eigenen Photographieren: Anhand der von ihm gemachten Photos rekonstruiert er seine Recherche und Forschungsreisen, weil vergebliche Suchen auch einen wesentlichen Teil der archäologischen Erinnerungsarbeit ausmachen. Erst durch diese Arbeit an den vergessenen Lebensgeschichten der anderen »Ausgewanderten« spricht der Schriftsteller über sich selbst, der 1970 in die ostenglische Stadt Norwich ausgewandert war. Anders als Brinkmann und Sebald photographiert Roland Barthes nicht. Er ist aber ein Photographietheoretiker. Sein autobiographisches Buch Roland Barthes par Roland Barthes ist vor allem deshalb interessant, weil Barthes Verfasser von zwei phototheoretischen Aufsätzen, Die Fotografie als Botschaft (1961) und Rhetorik des Bildes (1964), sowie des Standardwerks Die helle Kammer ist. Entsprechend diesen Reflexionen über die Photographie funktioniert in Roland Barthes par Roland Barthes die photographische Abbildung nicht einfach als biographisches Dokument, sondern auch als Zeichen, das gelesen werdern muß. Codiert sind die montierten Photos dabei als Imaginäres des autobiographischen Subjekts. Sie werden, mit anderen Worten, als photographische Variationen der Spie44 | Rolf Dieter Brinkmann 1979, S. 330.

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gelbilder präsentiert, die das Subjekt faszinieren. Die helle Kammer läßt sich als Fortsetzung der Autobiographie lesen. Die Trauer um den Tod der Mutter, mit deren Bild Roland Barthes par Roland Barthes einsetzt, ist die Grundsituation für Barthes’ Photographietheorie. Im zweiten Teil von Die helle Kammer bezieht sich Barthes dabei explizit auf die Trauer-Episode der »Arrhythmien des Herzens«45 in Prousts Recherche, in der die plötzliche Erinnerung an die verstorbene Großmutter eben mit ihrer Photographie kontrastiert wird. Damit schließt Barthes an Prousts Problematisierung der Photographie als autobiographisches Gedächtnismedium an. Im Gegensatz zu Proust steht es aber, wenn Barthes dann auf dem Wintergarten-Photo die Wahrheit der verstorbenen Mutter eben im Sinne Prousts »wiederfindet«.46 Gleichzeitig bezieht sich Barthes dabei auch auf Augustinus’ Trauer um die Mutter.47 Die Anspielung auf die Ostia-Szene in den Bekenntnissen lädt hier dazu ein, die neuplatonische Lichtmetapher des konvertierten Philosophen auf die Theorie der Photographie als Lichtschrift anzuwenden. So nimmt Barthes’ photographietheoretischer Diskurs den autobiographischen Diskurs über den Tod der Mutter in sich selbst hinein. Die helle Kammer ist also nicht einfach ein theoretisches Buch über die Photographie, sondern auch ein autobiographischer Text des anhand der Photographie trauerndern Sohns. Barthes hat gleichsam das letzte Kapitel von Roland Barthes par Roland Barthes dadurch geschrieben, daß er über die Photographie als das »historische Apriori« des autobiographischen Schreibens reflektiert. Der Name des Bezugs von autobiographischem Text auf Photographie ist hier Theorie. Befaßt sich die vorliegende Untersuchung mit den autobiographischen Texten von Proust, Benjamin, Brinkmann, Barthes und Sebald, dann evaluiert sie dadurch Kommentar, Metapher, Montage und Theorie als vier typische Bezüge auf die Photographie. Durch diese Photographiebezüge geschieht die Umorganisation der autobiographischen Literatur als eine gewisse Begleiterscheinung zum technischen Gedächtnismedium.48 Ereignet sich doch der autobiographische Diskurs nun nur noch auf der Ebene, die es ohne die Photographie nicht gäbe. In der Epoche, wo die Photographie »das Archiv« des autobiographischen Diskurses ausmacht, ist es für 45 | Marcel Proust 2004, Bd. IV, S. 224. 46 | Roland Barthes 1989, S. 74. 47 | Vgl. hierzu Anselm Haverkamp 1993. 48 | Manfred Schneider 1986, S. 253.

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die autobiographischen Texte, um die es hier geht, notwendig, sich durch parasitäre oder ergänzende Bezüge auf diesen neuen Gedächtnisträger zu entfalten, mit dessen Präzision und Bildauflösung, wie Valéry sagt, keine Schrift den Vergleich aushält. Inwiefern diese autobiographische Literatur dem Bezugspunkt Photographie gegenüber subversiv wirken kann, ist erst nachher zu explizieren. Festzuhalten ist aber schon eins: Das autobiographische Schreiben der hier ausgewählten Schriftsteller verhält sich epiphänomenal und supplementär zur Photographie, die in der modernen Gesellschaft individuelle und kollektive Gedächtnisse konstruiert. Es sind kommentatorische, metaphorische, montagetechnische und theoretische Supplementierungen der Photographie, durch die sich das autobiographische Schreiben umstrukturiert.49

4. I DENTITÄT/D IFFERENZ : S AMMLUNG /Z ERSTREUUNG Um die nach 1900 mit Blick auf die Photographie vollzogene Transformation und Umstrukturierung des autobiographischen Textes weiter zu befragen, bedarf es des kategorialen Begriffspaars von Identität und Differenz. Die Identität ist hier als Kontinuität des Bewußtseins aufgefaßt, stellt das Korrelat der Kulturtechnik der Lebensgeschichte als normierender Synchronisierung von Leben und Schrift dar. Es darf nicht vergessen werden, daß diese Schriftpolitik auch nach dem Aufkommen der Photographie ihre Geltung nicht verliert. Die Photographie macht die institutionelle Produktion und Reproduktion von Lebensgeschichten nicht überflüssig, sondern sie überlagert, wie die Funktion des Lichtbildes als Identitätsnachweis deutlich zeigt, die kulturtechnische Normierung durch die Lebensgeschichte. Als Mittel der Identifizierung steht sie auf der Seite der Identität. Darüber reflektiert z.B. Robert Walser in seinem 1909 erschienenen Roman Jakob von Gunten. Dieser Institutionenroman simuliert eine wenn nicht autobiographische, so doch diaristische Literatur, präsentiert sich, wie der Untertitel zeigt, als Tagebuch, das der Internatszögling Jakob führt. Gleich nach dem Eintritt ins Institut Benjamenta schreibt er, er müsse ins Warenhaus:

49 | Zum Begriff des Supplements vgl. Jacques Derrida 1983, S. 244-282.

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Ich lasse mich dort photographieren, Herr Benjamenta will eine Photographie von mir haben. Und dann muß ich einen kurz abzufassenden, wahrheitsgetreuen Lebenslauf schreiben.50

In seinem diaristischen Schreiben zeichnet Jakob auf, was die Institution von ihm verlangt: eine Photographie und eine Autobiographie. Es liegt auf der Hand, daß die Aufgabe der Photographie hier darin besteht, die Leistung der Lebensgeschichte als »Test« auf die Normalität zu steigern. Mit seiner hohen Auflösungsgenauigkeit, die für die Schrift auf immer unerreichbar ist, ergänzt das technische Bild den »wahrheitsgetreuen Lebenslauf«.51 Über die institutionelle Funktion der Photographie als Identitätsnachweis reflektiert auch Heiner Müller im Zusammenhang mit der Autobiographie. Sein Theaterstück Die Hamletmaschine (1977) ist zwar im Ganzen gewiss keine Autobiographie, auch kein autobiographisches Drama. Aber der Text bringt den autobiographischen Diskurs ins Spiel. Er beinhaltet nämlich ein literarisches Selbstporträt des Dramatikers, der unter der Aporie der Künstlerexistenz in der ehemaligen DDR leidet: In der Einsamkeit der Flughäfen Atme ich auf Ich bin Ein Privilegierter Mein Ekel Ist ein Privileg Beschirmt mit Mauer Stacheldraht Gefängnis Fotografie des Autors.52

Die »Fotografie des Autors« erscheint hier mit »Mauer«, »Stacheldraht« und »Gefängnis« metonymisch verbunden. Wenn die Photographie auf »Flughäfen« als Identitätsnachweis fungiert, dann stellt sie ein Geschenk der despotischen Politik dar, die den Schriftsteller zugleich privilegiert und einmauert. Kondensiert wird also in die »Fotografie des Autors« die Aporie des Schriftstellers. Müller fährt daher fort: 50 | Robert Walser 1985, S. 23. 51 | Zur Problematik des »Lebenslaufs« in Jakob von Gunten vgl. Rüdiger Campe 2004, S. 200f. 52 | Heiner Müller 1988, S. 96.

E INLEITUNG

Ich will nicht mehr essen trinken atmen eine Frau lieben einen Mann ein Tier. Ich will nicht mehr sterben. Ich will nicht mehr töten. Zerreißung der Fotografie des Autors.53

Das aporetische Geschenk der »Fotografie des Autors« nimmt dem Subjekt den Willen zum Leben weg. Wird das Bild zerrissen, dann geht es hier um eine Entscheidung des schreibenden Subjekts, sich selbst nicht mehr mit dem photographierten »Autor« gleichzusetzen, die photographisch nachgewiesene Identität mit sich selbst zu bezweifeln, sich von der Photographie als Identitätsmaschine abzusetzen: Seine Literatur soll auf der Seite der Differenz stehen. Angesichts der »Fotografie des Autors«, die die Identität des Subjekts festhält, verlegt das autobiographische Schreiben seinen Zuständigkeitsbereich in die Differenz: die »Zerreißung der Fotografie des Autors«. Die Metapher der »Zerreißung« verhält sich kritisch zum Identitätszwang des photographischen Porträts, eröffnet die hinter dem photographierten Gesicht des »Autors« befindliche Differenzzone. In Krieg ohne Schlacht (1994) von Heiner Müller wird das Autorphoto zwar nicht zerrissen, aber gleichfalls in Frage gestellt. Diese Autobiographie wird von zwei photographischen Autorporträts auf den Buchdeckeln gerahmt. Das autobiographische Subjekt erscheint im ersten Photo auf der Vorderseite des Buches mit seiner legendären Zigarre in der linken Hand, deren Rauch er im zweiten Photo auf der Rückseite ausbläst. Der autobiographische Schrifttext, dessen Inhalt die Transkription der Interviews über das Leben des Autors ist, situiert sich also nicht nur zwischen zwei Buchdekkeln, sondern auch im Zwischenraum von zwei Photos. Die Lebensschrift wird somit als Zug des ephemeren Rauches gegeben, der sich der photographischen Repräsentation entzieht: als Rauchzug des Nicht-Identischen, das die Photos nicht repräsentieren können, worauf ihre Konstellation nur indirekt hinweisen kann. Eine vergleichbare Problematisierung der photographischen Darstellbarkeit des autobiographischen Subjekts läßt sich schon bei Proust, Benjamin, Brinkmann, Barthes und Sebald entdecken. Die Lebensgeschichte, die die Institutionen für den »Test« auf die Normalität fordern, läßt keine Auslassungen zu. Lücken in ihr erweisen das Uneins-Sein des autobiographischen Subjekts mit sich selbst. Eine Menge von autobiographischen Büchern scheint bis auf den heutigen Tag gemäß dieser institutionellen Formation produziert und reproduziert zu werden. 53 | Ebd.

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Im 20. Jahrhundert aber, wo die Photographie mehr und mehr biographische Daten speichert, als Medium der Identitätsbildung fungiert und als Identitätsnachweis funktioniert, finden sich auch autobiographische Texte, deren Transformationen zum Format der Lebensgeschichte nicht passen wollen. Die Autoren beziehen sich kommentatorisch, metaphorisch, montierend, theoretisch auf photographische Erinnerungsbilder, deren Präzision und Detailreichtum ihr autobiographisches Schreiben von einer bestimmten Gedächtnisarbeit entlasten. Damit verändert sich die Struktur ihrer Texte. Sie werden so elliptisch, fragmentarisch, heterogen und intensiv, daß sie, statt durch das narrative Kontinuum die Ununterbrochenheit des Bewußtseins zu repräsentieren, die unreduzierbare Mannigfaltigkeit und Disparität des Subjekts hervorheben: Durch die Bezüge auf die Photographie als neues Medium der Identität arbeitet das schreibende Subjekt seine Nicht-Identität heraus. Mit der Verallgemeinerung der Photographie nach 1900 tritt also an die Stelle der geforderten Identität die gewünschte Differenz als leitende Kategorie für die literarische Autobiographie. Um diesen Kategorienwechsel zu beschreiben, bringt die vorliegende Arbeit eine Begriffsopposition ins Spiel: Sammlung und Zerstreuung. Wenn im 20. Jahrhundert, in dem sich die Photographie in nahezu allen Bereichen des Lebens zeigt, die Kategorie des autobiographischen Schreibens von der Identität zur Differenz übergeht, dann konkretisiert sich dieser Übergang im Zug der Vorrangstellung der Zerstreuung vor der Sammlung. Ohne das Sammeln gäbe es aber überhaupt keine Autobiographie, weil sie von Anfang an für das Archivieren der biographischen Daten und Fakten verfaßt wird. Proust und Benjamin sammeln Erinnerungen und Gedächtnisbilder für ihr autobiographisches Schreiben. Brinkmann, Barthes und Sebald sammeln zudem Photographien, Zeichnungen, Zeugen, Zitate usw. für die Montage. Das Sammeln ist in diesem empirischen Sinne eine unerläßliche Voraussetzung für das autobiographische Schreiben.54 Überdies gibt es aber die philosophische Tradition, die Sammlung als logos begreift. Kein geringerer als Augustinus, der am Ursprung der hermeneutisch verstandenen Selbstbiographie steht,55 schreibt in den Confessiones: 54 | Manfred Schneider 1986, S. 216f. Zur phänomenologischen Beschreibung des Sammelns vgl. Manfred Sommer 2002. 55 | Wilhelm Dilthey 1981, S. 244: »Ich blicke in die Selbstbiographien, welche der direkteste Ausdruck der Besinnung über das Leben sind. Augustin, Rousseau, Goethe zeigen ihre typischen geschichtlichen Formen.«

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Daher heißt denken, etwas gleichsam aus der Zerstreuung sammeln. Denn das Wort für denken, cogito, stammt von cogo, zusammenbringen […]. Doch hat der Geist dies Wort für sich allein in Anspruch genommen, so daß nur das, was im Geiste, nicht anderswo, gesammelt, zusammengebracht wird, denken heißt. 56

Denken ist ein Kampf gegen die Zerstreuung, die vergessen macht, ist eine Sammlung, die die Ordnung des Gedächtnisses stiftet und seine Verfügbarkeit herstellt. Der Philosoph Manfred Sommer formuliert lakonisch: »Sammeln ist rational, Streuung irrational.«57 Diese, wenn man will, ›geistige‹ Sammlung, die ihre Synonyme in der Aufmerksamkeit,58 in der Konzentration, in der Kontemplation und in der Selbstpräsenz findet, hat im philosophischen und kulturkritischen Diskurs von der Antike bis zur Gegenwart eine fundamentale Rolle gespielt. Nach der Namenliste, die Manfred Schneider in seinem Aufsatz Kollekten des Geistes aufstellte, plädieren für die Sammlung (und protestieren gegen die Zerstreuung) antike und moderne Philosophen wie Heraklit, Platon, Augustinus, Luther, Kant, Hegel, Heidegger, Adorno und andere, aber auch der Jurist Gracian, der Dichter Goethe, der nationalsozialistische Propagandaminister Joseph Goebbels oder der Medientheoretiker Vilém Flusser.59 Trotz ihrer epochalen, beruflichen, ideologischen Unterschiede sind sie darin einig, einen Gedankenkrieg gegen die Zerstreuung zu führen, gegen die »Dissemination«60, die durch Reizen der Sinne den Geist von seinem Sammeln ablenkt. An der Metaphysik des logos als dieser störungsfreien Sammlung des Geistes hat auch die Kulturtechnik der Lebensgeschichte teil, indem sie durch das Sammeln biographischer Daten und Fakten das Subjekt auf eine kontinuierliche Einheit des Bewußtseins ausrichtet. Die Bekenntnisse lassen sich als anschauliches Beispiel hierfür anführen. Augustinus wünscht sich die Gabe der »Enthaltsamkeit«. »Denn durch die Enthaltsamkeit werden wir gesammelt und zur Einheit zurückgebracht, von der wir in die

56 | Aurelius Augustinus 2000, S. 259. 57 | Manfred Sommer 2002, S. 119. 58 | Zur Aufmerksamkeit vgl. Jonathan Crary 2002 und Bernhard Waldenfels 2004. 59 | Manfred Schneider 1999a. 60 | Jacques Derrida 1995.

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Vielheit uns zerstreuten.«61 Augustinus weiß aus biographischen Gründen zur Genüge, daß die Sinne, die leicht verführt werden, das Subjekt zerstreuen. Das weltliche, gottferne Leben, das er bis zum Alter von 32 Jahren, da der Wendepunkt der Bekehrung kam, geführt hatte, die Kindheit und die Jugend in der römischen Lebenswelt, die Ausbildung zum Rhetoriklehrer, die Kommunikation mit Manichäern und Neuplatonikern erscheint im Rückblick des Kirchenvaters voll von Sinneslüsten. Es ist unschwer zu erkennen, daß die Linie der Lebensgeschichte von Augustinus mit der der allmählichen Konzentration auf den logos Gottes einhergeht. Das trifft mittels des Bekehrungsschemas aber fast auf jegliche religiöse Autobiographik zu. »In der Einsamkeit konnte ich«, so etwa die Bekenntnisse einer schönen Seele, »nicht immer bleiben, ob ich gleich in ihr das beste Mittel gegen die mir so eigene Zerstreuung der Gedanken fand.«62 Diese in den Institutionenroman Wilhelm Meisters Lehrjahre eingeschobene Autobiographie ist auch als Dokument eines Kampfs gegen »törichte Zerstreuung und Beschäftigung mit unwürdigen Sachen« zu lesen, die »die gerade Richtung« ihrer Seele zu Gott stören.63 Dagegen zeichnet sich die (hier betrachtete) autobiographische Literatur nach 1900, die die Photographie als historisches Apriori hat, dadurch aus, daß sie das Bewußtsein in seiner Zerstreuung läßt. Dort erweist sich immer wieder die Zerstreuung des Bewußtseins als unreduzierbar. Was Proust in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit erzählt, ist, wie Roland Barthes schreibt, »nicht sein Leben, sondern sein Wunsch zu schreiben«:64 der Schreibwunsch, der einerseits die gesamte Recherche durchzieht, von dem Marcel aber andererseits unablässig abgelenkt wird. Die autobiographische Erzählung vom Schreibenwollen konstruiert sich also durch multiple Ablenkungen des Zerstreuungsfreudigen vom Beruf zur Literatur. Aus dieser Sicht ist gar nicht zufällig, daß sich die unwillkürliche Erinnerung per Definition eben in selbstvergessenen, geistesabwesenden Augenblicken ereignet. Benjamin ist ein seltener Zerstreuungstheoretiker. In seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit stellt er Sammlung und Zerstreuung gegenüber, um den Unterschied zwischen der traditionellen und der reproduktionstechnischen Ästhetik herauszu61 | Aurelius Augustinus 2000, S. 277. 62 | Johann Wolfgang von Goethe 1998, Bd. 7, S. 390. 63 | Johann Wolfgang von Goethe 1998, Bd. 7, S. 377. 64 | Roland Barthes 2006, S. 313.

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arbeiten.65 Demnach wird der Film von der Rezeption in der Zerstreuung gekennzeichnet, während die unreproduzierbare, auratische Kunst die Sammlung des Rezipienten beansprucht. Dieser kinematographische Zerstreuungsraum für die anonyme Masse macht den Fluchtpunkt der Berliner Kindheit aus: Benjamins Sammlung seiner photographisch erinnerten Kindheitsbilder konvergiert im Schlußstück Das bucklichte Männlein mit dem Erinnerungsfilm. Brinkmanns Rom, Blicke entstand aus der Materialsammlung für den zweiten Roman, der nicht geschrieben wurde. Während des Rom-Aufenthalts von 1972/1973 schrieb er Briefe und Aufzeichnungen, in denen Gegenwartswahrnehmungen, Beobachtungen, Pläne, Gedanken und Träume mit einem exzessiven Detaillismus fixiert wurden. Zusammen mit diesen postalischen und diaristischen Texten werden in Rom, Blicke auch Zitate, Momentaufnahmen, Ansichtskarten, pornographische Bilder, Stadtpläne und andere Realitätszeugnisse eingelegt, die Brinkmann für den zu schreibenden Roman sammelte. Dieses autobiographische MontageBuch, das schon durch die Form des »scrapbook« das Unvollendet-Sein der Arbeit unterstreicht, präsentiert sich selbst als Ruine des gescheiterten Romanprojekts. Die extreme Fragmentarität und Disparität des autobiograpischen Textes stellt also die intensive Bewußtseins-Zerstreuung des Schriftstellers zur Schau. Die fragmentarische Grundstruktur des autobiographischen Textes trifft auch auf Roland Barthes par Roland Barthes zu. Der Schriftteil dieser Autobiographie besteht nicht aus der traditionellen Form der Lebensgeschichte, sondern aus der Sammlung der Fragmente. Die romantische Konzeption des Fragments stellt Spielräume der ironischen Selbstbeschreibung für Barthes bereit. Die helle Kammer ist dagegen keine Fragmente-Sammlung. Dort geht die Zerstreuung nicht die Baustruktur des autobiographischen Textes an, sondern die Figur des dionysischen Wahnsinns, in der die rauschhafte Selbstauflösung des Ich eine mythologische Darstellung gefunden hat. Bedeutet für das autobiographische Subjekt, das auf dem Wintergarten-Photo die verstorbene Mutter wiederfindet, die Photographie nichts anderes als »Emanation des Referenten«,66 dann gilt es für ihn, die »verrückte« Wahrheit der Photographie zu begrei65 | Walter Benjamin 1972, Bd. VII, S. 380f. Zur medientheoretischen Gegenüberstellung von Sammlung und Zerstreuung vgl. auch Jochen Hörisch 1999, S. 191-260. 66 | Roland Barthes 1989, S. 90.

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fen.67 In diese wahnsinnige Wahrheit der Lichtschrift löst sich das autobiographische Subjekt von Die helle Kammer auf. Sebalds biographische Erzählungen über Die Ausgewanderten haben die Diaspora als gemeinsames Thema. Vier Protagonisten haben es jeweils auf eine andere Weise mit dem jüdischen Schicksal der Heimatlosigkeit zu tun. Durch die Leidensgeschichten von den Zerstreuten erzählt Sebald von sich selbst, weil auch er zu den »Ausgewanderten« gehört. Während die Autobiographik vor dem Aufkommen der Photographie, vor Avantgarde und Modernismus auf die Sammlung des Geistes nach Maßgabe des logos zustrebt, ist es für die Autobiographik nach 1900, für die Bezüge auf die Photographie konstitutiv sind, charakteristisch, daß sie sich mit den Mächten der Zerstreuung befaßt. Wie sich die Dezentralisation des Bewußtseins im autobiographischen Text zeigt, ist je nach Schriftsteller unterschiedlich: die unablässige Ablenkung vom Beruf zur Literatur bei Proust, die kinematographische Zerstreuung bei Benjamin, die Ruine des gescheiterten Romanprojekts bei Brinkmann, das Recycling des romantischen Fragmentarismus und des dionysischen Wahnsinns bei Barthes, die schicksalhafte Diaspora bei Sebald. Es geht aber immer um eine radikale Umwertung des kulturkritischen Diskurses über die Zerstreuung als alogos, der die abendländische Metaphysik durchzieht. Proust, Benjamin, Brinkmann, Barthes und Sebald betrachten die Zerstreuung nicht mehr als Verfall des Bewußtseins. Für die Schriftsteller stellt die Zerstreuung vielmehr die Regel, nämlich eine noch nicht kanalisierte, ungebändigte und universale Kraft dar, als deren Ausnahme die Sammlung erscheint: Sie ist, mit anderen Worten, »der Urgrund von allem […], auf das man sich konzentrieren könnte«.68 Die entropische Zunahme der Komplexität von bewußten und unbewußten Bewegungen fasziniert die Schriftsteller nach 1900 mehr als die altabendländische ›geistige‹ Sammlung. Daraus resultiert die fragmentarische Textur ihres autobiographischen Textes, die sich der Linearität und Kontinuität der Lebensgeschichte grundsätzlich entgegenstellt. Es handelt sich hier um den Fragmentarismus des autobiographischen Schreibens, das allein durch Unterbrechungen, Sprünge, Wiederholungen und Variationen vonstatten geht. Denn nur diese Form kann der komplexen Zerstreuung, auf deren Reduzierung und Überwindung die traditionelle Lebensgeschichte zielte, gerecht werden. Die fragmentarische 67 | Roland Barthes 1989, S. 130. 68 | Peter Risthaus 2006, S. 79.

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Diskontinuität und Mannigfaltigkeit kennzeichnet die Struktur des autobiographischen Textes, der gleichsam auf eine andere Sammlung zustrebt: Aufzeichnungen des zerstreuten Bewußtseins (nicht nur Unterhaltungen und Divertissements, sondern auch Disseminationen von Unordnungen, Ruinen, Träumen, Rausch, Kontingenz, Wahnsinn, Heimatlosigkeit usw.), die sich dem Schreibformat der Lebensgeschichte nicht mehr anbequemen, indem sie sich zugleich einer anderen Aufmerksamkeit – Aufmerksamkeit in der Zerstreuung – verdanken. Eine derartige Umwertung des kulturkritischen Diskurses über die Zerstreuung setzte schon mit der romantischen Literatur ein, die die antiklassizistische Poetologie der freien Assoziation entdeckte. In der Kreisleriana Nr. 5. mit dem Titel Höchst zerstreute Gedanken, die in Fantasiestücke in Callot’s Manier enthalten ist, scheibt E. T. A. Hoffmann: Schon, als ich noch auf der Schule war, hatte ich die Gewohnheit, manches, was mir bei dem Lesen eines Buchs, bei dem Anhören einer Musik, bei dem Betrachten eines Gemäldes oder sonst gerade einfiel, oder auch was mir selbst merkwürdiges begegnet, aufzuschreiben. Ich hatte mir dazu ein kleines Buch binden lassen, und den Titel vorgesetzt: Zerstreute Gedanken. 69

Es geht um spontane, kaum selektive Aufschreibungen von Einfällen und Assoziationen eines möglichst naiven Herzens, die in ihrer intendierten Zensurlosigkeit und Exzentrizität als Vorschule der Psychoanalyse und der surrealistischen écriture automatique zu betrachten sind. Sigmund Freud hat zwar nicht Hoffmanns Höchst zerstreute Gedanken, aber einen damit vergleichbaren Text, nämlich den 1923 verfaßten Aufsatz Die Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden von Ludwig Börne, zur Vorgeschichte der psychoanalytischen Technik der »Einfallsverwertung« gezählt.70 Der Jean Paul-Verehrer Börne schreibt dort: Und hier folgt die versprochene Nutzanwendung. Nehmt einige Bogen Papier und schreibt drei Tage hintereinander, ohne Falsch und Heuchelei, alles nieder, was euch durch den Kopf geht. Schreibt, was ihr denkt von euch selbst, von euren Weibern, von dem Türkenkrieg, von Goethe, von Fonks Kriminalprozeß, vom 69 | E. T. A. Hoffmann 1993, S. 61f. 70 | Sigmund Freud 1999, Bd. XII, S. 312. Zur freien Assoziation vgl. auch Jean Laplanche/Jean-Bertrand Pontalis 1973, S. 77f.

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jüngsten Gericht, von euren Vorgesetzten – und nach Verlauf der drei Tage werdet ihr vor Verwunderung, was ihr für neue, unerhörte Gedanken gehabt, ganz außer euch kommen. Das ist die Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden!71

Börnes »Nutzanwendung« steht im Gegensatz zum Modell der Bildung als allmählicher Akkumulation des Wissens. Nicht einmal drei Jahre, sondern nur »drei Tage« braucht man, um »ein Originalschriftsteller zu werden«, denn es ist weder Bewußtsein noch Gedächtnis, sondern die Langeweile, Zerstreuung und Erschöpfung durch die Schreibarbeit von »drei Tagen hintereinander«, die die zensurlose, selektionslose Aufzeichnung von »allem«, was einem einfällt, ermöglicht. Freilich beruhen diese »drei Tage hintereinander« auf einem ganzen bzw. halben Leben der Erfahrung von Sehen und Hören, Lesen und Schreiben. »Neue, unerhörte Gedanken« jedenfalls eröffnen sich durch den Stillstand der bewußten Selbstkontrolle. Psychologen und Psychoanalytiker experimentierten um 1900 verschiedentlich mit der Methode der freien Assoziation. In Zur Psychotheraphie der Hysterie (1895) z.B. kommt Freud auf klinische Techniken zu sprechen, mit denen er den »›Assoziationswiderstande‹«72 des Patienten zu unterlaufen versucht. Ihm gilt es, »hiedurch die Aufmerksamkeit des Kranken von seinem bewußten Suchen und Nachdenken, kurz von alledem, woran sich sein Wille äußern kann, [zu] dissoziiere[n]«.73 Erst in zerstreuten Augenblicken sprechen geheime Begierde und Triebe. Die Zerstreuung, mit der die Romantik zugunsten ihrer exzentrischen Poetik zu operieren begann, tritt hier als Tor zum Unbewußten auf. Carl Gustav Jung reflektiert 1905 über die Psychopathologische Bedeutung des Assoziationsexperimentes. Es geht um experimentalpsychologische Untersuchungen von Reaktionen auf Reizworte, die konstatierten, daß die scheinbar schrankenlose Assoziation vom Konzentrationsvermögen abhängt. Wenn die Aufmerksamkeit nachläßt, etwa im geistesabwesenden Zustand der Ermüdung oder bei Geisteskranken, treten an die Stelle der inneren, semantisch hergestellten Assoziationen die äußeren »Klangassoziationen«.74 Die Assoziationen der Zerstreuten gehorchen nicht der Logik des Sinns, sondern 71 | Ludwig Börne 1964, Bd. 1, S. 743. 72 | Sigmund Freud 1999, Bd. I, S. 270. 73 | Sigmund Freud 1999, Bd. I, S. 271. 74 | Carl Gustav Jung 1979, S. 436f.

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der der Sinne. Daß die immer schon anfälligen Sinne sinnlos wahrnehmen und genießen können, lehrt insbesondere der Fall Daniel Paul Schreber. Er wird unaufhörlich von den Stimmen blödsinniger Vögel gestört, die sprechen, ohne daß er den Sinn der gesprochenen Worte verstehen könnte. Sie haben aber anscheinend »eine natürliche Empfänglichkeit für den Gleichklang der Laute«.75 Auf das Rauschen der Vogelstimmen reagiert der Paranoiker darum mit sinnlosen Reimen: »›Santiago‹« auf »›Carthago‹«, »›Chinesenthum‹« auf »›Jesum Christum‹« oder »›Abendroth‹« auf »›Athemnoth‹« usw.76 In der Zerstreuung sind die Sinne imstande, das Spiel der Signifikanten als Parodie auf den logos zu genießen. Es scheint kein Zufall zu sein, daß aus dem psychiatrischen Fall Schreber eine der interessantesten Autobiographien um 1900 geworden ist. Nach den psychologischen und psychoanalytischen Theorien um die Jahrhundertwende bildet das Subjekt keine Einheit mehr, sondern es ist in plurale Schichten und Triebe aufgespalten. Mit diesen neuen Ich-Theorien, die den genauen Gegensatz zur abendländischen Metaphysik des logos bilden, geht die literarische Autobiographie im 20. Jahrhundert Hand in Hand, wenn sie sich immer wieder mit dem zerstreuten Ich befaßt. André Bretons autobiographischer Bericht Nadja (1928), dessen Grundton von der leitmotivisch wiederkehrenden Frage: »Wer bin ich?«77 bestimmt ist, ist hierfür exemplarisch: Nach der 1962 geschriebenen Vor-Rede unterliegt dieser Text zwei »zentralen ›antiliterarischen‹ Geboten«.78 Das eine ist, sich »die medizinische und zumal neuropsychiatrische Krankengeschichte zum Vorbild« zu nehmen.79 Eine gewisse Kopplung an den medizinischen Diskurs über die psychische Nicht-Übereinstimmung mit sich selbst trifft auch auf die hier abgehandelten Autobiographen nach 1900 zu. Insbesondere bei Benjamin, Leiris, Barthes und Sebald ist der Rekurs auf die Psychoanalyse unverkennbar. Es scheint offensichtlich zu sein, daß ihr psychoanalytisches Wissen um die Spaltungen des Ich die fragmentarische Grundstruktur ihrer autobiographischen Texte mit bestimmt. Wenn das autobiographische Subjekt, um das es in dieser Publikation geht, nicht mit sich selbst identisch, sondern zerstreut erscheint, dann hat 75 | Daniel Paul Schreber 2003, S. 154. 76 | Ebd. 77 | André Breton 2002, S. 9. 78 | André Breton 2002, S. 7. 79 | André Breton 2002, S. 8.

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dies aber nicht nur mit dem medizinischen Diskurs über das gespaltete Ich, sondern auch mit der Photographie zu tun. Das andere »›antiliterarische‹ Gebot«, dem Nadja gehorcht, ist, daß »die reichhaltige fotografische Bebilderung jede Beschreibung unterbinden soll«.80 Das surrealistische Montage-Experiment Nadja, das die Autobiographik von Brinkmann und Sebald in gewisser Weise vorwegnimmt,81 geht davon aus, daß die Präzision und Detailgenauigkeit der Photographie das autobiographische Schreiben von seiner bisherigen Beschreibungs- und Gedächtnisarbeit entlastet. Die Entlastung bedeutet hier das Folgende: Die literarische Autobiographie nach 1900 überläßt der Photographie ihr herkömmliches Terrain, um ein neues zu besetzen. In Anbetracht dessen, daß in der modernen Gesellschaft die photographische Archivierung der Lebensdata, sei es durch die Identifizierung, sei es durch die Erinnerung an den Lebenslauf, dazu dient, die Identität des Subjekts festzumachen, verläßt die Autobiographie dieses Terrain, das sie als Kulturtechnik der Lebensgeschichte besetzt gehalten hat. Ihr neues Territorium ist die Zerstreuung. Die Dissemination des autobiographischen Subjekts, um die es in den hier kommentierten Texten geht, verhält sich also einerseits oppositionell zur Photographie als Identitätsmaschine. Aber andererseits ist für die Freisetzung der Zerstreuung eine parasitäre, ergänzende Bezugnahme auf die photographische Wahrnehmung und Erinnerung entscheidend. Die photographische Ästhetik der hohen Auflösungsgenauigkeit, der technischen Vervielfältigung und Archivierung, der Plötzlichkeit der Belichtung und des Verzugs der Entwicklung beschleunigt die Auflösung dessen, was bis dahin als Einheit gelten konnte: das Bewußtsein. Supplementäre Bezüge des autobiographischen Schreibens auf die Photographie implizieren in dieser Hinsicht eine Subversion: Der autobiographische Text als Supplement funktioniert seinen Bezugspunkt Photographie um. Dort, wo sich das autobiographische Schreiben auf die Photographie bezieht, hört sie auf, einfach eine Identitätsmaschine zu sein. Die vier Bezüge der autobiographischen Literatur auf die Photographie, das Kommentieren, das Metaphorisieren, das Montieren und das Theoretisieren, berauben sie ihrer dokumentarischen Eindeutigkeit. Der administrativen und polizeilichen Funktion des Lichtbildes als Subjekt-Erfassung arbeitet die autobiographische Schrift entgegen, indem sie an der photographischen Wahrnehmung und Erinnerung 80 | André Breton 2002, S. 7. 81 | Vgl. hierzu Thomas von Steinaecker 2007, S. 316-319.

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disseminierende Autobiographeme freisetzt. So vermag die Literatur mit Blick auf die Photographie die neue Vorrangstellung der Zerstreuung vor der Sammlung in Gang zu setzen. In diesem Zug reorganisiert sich der autobiographische Text, der nach 1800 als Test auf die Normalität und Identität des Subjekts fungiert hat, zu einem Raum der Differenz.

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1. Photographische Recherchen von Proust

1.1 D AS P HOTOPORTR ÄT ALS S CHAUPL AT Z VON I DENTIFIZIERUNG UND M E TAMORPHOSE »Das klingt ja nach Sherlock Holmes. Wofür halten Sie mich?« (Marcel Proust: Die Flüchtige)

Als Autobiograph beharrt Marcel Proust darauf, privilegierte Augenblicke zu fixieren. In seinem autobiographischen Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit gilt es, kostbare Ausnahmefälle, unvorhergesehene Zufälle, vereinzelte Momente, plötzliche Unterbrechungen der Wahrnehmung, blitzartige Erinnerungen usw. als Essenz des Lebens festzuhalten. Diese Ästhetik, die ihre Intensität jeweils aus dem Bruch mit einem Zeitfluß gewinnt, bringt aber ein für den Autobiographen grundsätzliches Problem mit sich: Die Lebensgeschichte als Format der traditionellen Autobiographie ist, da sie sich einzig und allein in einer fließenden Zeit entfalten kann, die denkbar schlechte Form für die proustsche Ästhetik des Augenblicks. Die These dieser Publikation lautet: Prousts Umorganisation des autobiographischen Schreibens, das sich aus der Auseinandersetzung mit diesem literaturästhetischen Problem ergibt, vollzieht sich im Rekurs auf die Photographie. Dieses moderne Gedächtnismedium, das eine technische Voraussetzung für die Suche nach der verlorenen Zeit darstellt, ist für Proust ein unersetzbarer Bezugspunkt, mit dem er sein autobiographisches Schreiben zugunsten der Ästhetik des Augenblicks umorganisiert. Bei Proust kommt die Photographie auf verschiedenen Ebenen ins Spiel. Dabei kommt dem Bezug auf das Photoporträt als Eingangstor in dieses thematische Feld Priorität zu. Über Prousts Leidenschaft für das

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photographische Porträt wurde bereits von seinen Biographen eingehend berichtet. Insbesondere Brassaï stellte, indem er viele Briefe und verschiedene Proust-Biographien zitierte, im ersten Teil seines Buches Proust und seine Liebe zur Photographie eine Art Anthologie zu diesem Thema zusammen.1 Es wird dort dokumentiert, wie Proust mit hartnäckigen Bitten um Photoporträts Bekannte und Vertraute belästigte, wie infolgedessen in seinem Apartment am Boulevard Haussmann Photos von ihm selbst und seiner Familie, Photos von Schauspielern, Schriftstellern, Künstlern, Adligen, Prostituierten und uniformierten Dienern etc. angehäuft wurden, wie er seine Gäste schließlich durch die endlose Zurschaustellung seiner PhotoKollektion langweilte. Beim Lesen dieser Dokumente kommt es einem so vor, als sei der Ausdruck »Liebe zur Photographie« ein Euphemismus. Es geht eher um ein Übermaß an Leidenschaft für Photoporträts, um eine Sammelmanie, die über jedes Verständnis von seiten der damaligen Pariser Gesellschaft hinausgeht. Im Blick auf eine solche Leidenschaft liegt die Annahme sehr nahe, daß das Photoporträt einen unentbehrlichen Schauplatz der Suche nach der verlorenen Zeit darstellt, daß es eine relevante Ebene bezeichnet, auf der sich Prousts autobiographische Untersuchung der eigenen Vergangenheit abspielt. In der Tat finden sich in diesem autobiographischen Roman zahlreiche Textstellen, in denen es sich um das photographische Bildnis dreht. Im Roman kommen zwar auch Photographien von anderen Genres wie etwa Landschaftsphotographie, Photographie als Reproduktion von Kunstwerken, Architekturphotographie, Röntgenphotographie ins Spiel. Daß das Photoporträt jedoch vor anderen photographischen Bildgenres in quantitativer Hinsicht großen Vorrang hat, ist allzu augenfällig. Worin besteht aber die Faszination des photographischen Bildes, in dessen Zentrum das Menschengesicht zu sehen ist? Was für eine Erscheinung oder was für ein Ereignis auf der Oberfläche des Photoporträts fasziniert Proust dermaßen, daß die Recherche so viele Photoporträt-Szenen beinhaltet? Welche Folgen stellen sich für die Autobiographik Prousts ein, wenn in sein autobiographisches Abenteuer so viele Photoporträts involviert sind? Zuallererst fällt auf, daß es im Roman eine Reihe von Photoporträts gibt, die im Zusammenhang mit der Frage nach der Identität der Roman1 | Brassaï 2001. Zum Bezug auf das Photoporträt auf der biographischen Ebene bei Proust vgl. auch William Howard Adams 1988 und Philippe Michel-Thiriet 1999, S. 11-17.

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figuren auftauchen. Dieser Aspekt verdient deshalb eine besondere Aufmerksamkeit, weil die Identität eine Kategorie ausmacht, die mit der autobiographischen Literatur wesentlich zusammenhängt. Ein exemplarisches Beispiel für die Photographie, die die Identität einer Person beweist bzw. beweisen sollte, gibt uns eine Episode aus dem Band Im Schatten junger Mädchenblüte. Eines Tages sieht der Erzähler »vor dem Hintergrund des Meeres« in Balbec einen »schönen Zug der jungen Mädchen« (II, 571)2 vorbeigehen. Die Erkundigungen über sie, die er bei Stammgästen des Grand-Hôtels anstellt, gehen leer aus. Die Leute, die jährlich an diesen Urlaubsort zurückkommen, wissen nichts über sie zu sagen: Später erklärte mir eine Photographie, weshalb. Wer nämlich hätte jetzt, da sie kaum, aber dennoch schon spürbar, einem Alter entwachsen waren, in dem man sich vollkommen wandelt, in ihnen die noch ganz amorphe, wiewohl bereits köstliche, jedenfalls noch ganz kindliche Masse kleiner Mädchen wiedererkannt, die man nur wenige Jahre zuvor im Kreise um ein Strandzelt herum im Sand sitzen sah. (Ebd.)

Die Mädchen haben sich also während einiger Jahre so »vollkommen [ge]wandelt«, daß sie von den Hotelgästen nicht mehr »wiedererkannt« werden konnten. Die Photographie legt an den Tag, daß sich die Wahrnehmung der Urlauber durch die drastische Veränderung leicht täuschen läßt, daß sie selbst kein ausreichendes Mittel ist, Menschen zu identifizieren. Aber sie gibt darüber hinaus eine Möglichkeit, die Kontinuität, die zwischen der »noch ganz kindlichen Masse kleiner Mädchen« und dem »schönen Zug der jungen Mädchen« besteht, zu befragen. Denn eine Seite später setzt der Erzähler fort: Auf einer alten Photographie von ihnen, die sie [die Mädchen, K.K.] mir später einmal schenkten und die ich aufbewahrt habe, zählt die Gruppe kleiner Kinder schon gleich viele Figurantinnen wie später der Zug junger Frauen; man spürt, daß sie bereits damals am Strand als ein Fleck besonderer Art die Blicke auf sich gezogen haben mußten, kann sie aber im einzelnen darin nur durch eine verstandesmäßige Rekonstruktion erkennen, indem man nämlich allen möglicherweise 2 | Marcel Proust 2004. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit wird im folgenden nach dieser Ausgabe durch Angabe des Bandes und der Seitenzahl im Text zitiert.

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in der Jugend eingetretenen Veränderungen so weit wie möglich Rechnung trägt: Verwandlungen, die während der Jugend bis zu dem Augenblick eintreten, in dem diese neu geschaffenen Formen Besitz von einer anderen Individualität ergreifen, die auch wieder zu identifizieren ist und bei der das schöne Antlitz wegen des gleichzeitigen Vorhandenseins einer großen Gestalt und gelockter Haare dann einige Chancen hat, früher einmal jene hutzelige Schrumpelgrimasse aus dem Photographiealbum gewesen zu sein. (II, 572f.)

Diese »alte« Photographie ist zwar strenggenommen kein photographisches Porträt, wenn man das Porträt als »Darstellung und Erinnerungsbild einer Person«3 versteht. Sie stellt vielmehr eine Gruppenaufnahme der betreffenden Mädchen dar. Aber dieser Punkt spielt hier gar keine große Rolle, solange sich die Aufmerksamkeit des Erzählers, genauso wie beim Anschauen eines Porträts, auf die Gesichter der Photographierten richtet. Und an den jeweiligen Gesichtszügen wird eine strenge »Rekonstruktion« unternommen, die versucht, durch das »Spurenlesen«4 die Mädchen trotz ihrer »Verwandlungen« erkennbar zu machen. Die Funktion, die dem Photo der Mädchengesichter zugeschrieben wird, ist die Identifizierung. In seinem berühmten Aufsatz Spurensicherung hat Carlo Ginzburg gezeigt, daß gegen Ende des 19. Jahrhunderts Spuren als neues Paradigma für Humanwissenschaften auftauchten. Es geht um kleinste Details, scheinbar nebensächliche Einzelheiten, die jedoch gerade wegen ihres Status des Sekundären Geheimes und Verborgenes erschließen können. Was unmittelbar nicht zu erfahren ist, kommt in Symptomen, Indizien und Details, die alle als Spuren zu fassen sind, zur Erscheinung. Ginzburg hat dabei den italienischen Kunsthistoriker Giovanni Morelli, den Detektiv Sherlock Holmes und den Psychoanalytiker Sigmund Freud als Repräsentanten für den Spurenleser betrachtet. Dabei hat er auch den Autor der Recherche dazu gezählt.5 Gar nicht zu Unrecht: Walter Benjamin schreibt schon 1929 in seinem Essay Zum Bilde Prousts: »Es war in Prousts Neugier

3 | Matthias Bickenbach 2001, S. 448. Zum Porträt vgl. auch Rudolf Preimesberger 1999. 4 | Carlo Ginzburg 1988, S. 88. 5 | Carlo Ginzburg 1988, S. 116: »Auch läßt sich leicht zeigen, daß der größte Roman unserer Zeit – La Recherche – nach einem konsequenten Indizienparadigma konstruiert ist.«

1. P HOTOGRAPHISCHE R ECHERCHEN VON P ROUST

ein detektivischer Einschlag.«6 Die neuere Proust-Forschung entwickelt diesen Gesichtspunkt weiter, verdeutlicht, daß ein gewisser kriminalistischer Code die gesamte Recherche durchzieht.7 Charlus beispielsweise engagiert ein »Detektivbüro«, das seinen Liebling Morel überwachen soll. (V, 307)8 Oder die große Thematik von »Sodom und Gomorrha« erschließt sich nicht zuletzt dadurch, daß der Erzähler, sei es in den Büschen der Anhöhe vor dem Haus der Vinteuils in Montjouvain (I, 233), sei es in dem mit einem Guckfenster versehenen Zimmer des Bordells in Paris (VII, 194), auf dem Posten ist und spioniert. Bemerkenswert sind insbesondere die langwierigen Ermittlungen des Ich-Erzählers, die Albertine und dem Verdacht ihres Lesbianismus gelten: In seiner detektivischen »Spurensicherung« kommt die photographische Fahndung in ihren verschiedenen Varianten ins Spiel, weil sich ein Detektiv bekanntlich schon seit Sherlock Holmes9 mit weitreichenden Wirkungen der Photographie gut auskennt: Die Photographie als detailreichste Repräsentation macht optimale Spuren aus. Der Erzähler übergibt zum Beispiel seinem Freund Saint-Loup ein Photoporträt der verschwundenen Albertine, damit dieser Geheimbote die »Flüchtige« verfolge. (VI, 34f.) Oder ein anderes Mal – im Band Die Gefangene – bittet er den alten Freund Bloch um ein Photo von seiner Cousine Esther. Da das sapphische Verhältnis dieser zu Albertine ihm beinahe außer Zweifel steht, schickt er das erworbene Photo an Aimé, den Oberkellner des Grand-Hôtels, der von Berufs wegen Augenzeuge der gehei6 | Walter Benjamin 1972, Bd. II, S. 318. 7 | Vgl. Armand Hoog 1967, Ursula Link-Heer 1983, Manfred Schneider 1986, S. 51ff. 8 | »Tatsächlich ließ Monsieur de Charlus, der es zufrieden war, ohne jede Scheu die Handlungen und Schritte Morels genau wie ein Ehemann oder ein Liebhaber durch ein Detektivbüro beobachten zu lassen, nicht davon ab, ein Auge auf andere junge Männer zu werfen. Die Überwachung, die er auf dem Weg über einen alten Bedienten durch ein solches Büro Morel angedeihen ließ, war so wenig diskret, daß seine persönlichen Diener sich bespitzelt glaubten und ein Zimmermädchen überhaupt kein normales Leben mehr zu führen oder auf die Straße zu gehen wagte, da sie meinte, unaufhörlich einen Detektiv auf den Fersen zu haben.« (V, 307) 9 | Vgl. hierzu Torsten Lorenzs Analyse von der Erzählung Ein Skandal in Böhmen. Torsten Lorenz 1987, S. 123ff. Den Zusammenhang von Photographie und Spionieren thematisiert Marcel Beyer in seinem Roman Spione (2002).

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men Liebschaft der Frauen sein müßte. (V, 117f.)10 Im weiteren Verlauf der Erzählung wendet er sich nun anhand dieses Photos direkt Albertine zu, um ein Geständnis von ihr zu erzwingen.11 Wenn in einer derartigen Recherche die Photographie als beliebtes Identifizierungsmittel auftaucht, dann erprobt Proust offensichtlich ein neues »Aufschreibesystem«12 in einem alten. Längst vorbei war die Zeit, da Georg Büchner die schriftliche Erfassung des Körpers dadurch lächerlich zu machen versuchte, einen parodistischen Steckbrief anzufertigen.13 Denn ein paar Jahre nach der Bekanntmachung der Daguerreotypie wurden bereits die ersten Photographien für polizeiliche Identifizierungszwecke in Dienst gestellt.14 Zwar stand die Verwendung der Photographie in diesem Feld um die Mitte des 19. Jahrhunderts noch auf einem primitiven Niveau. Aber spätestens ein Jahr vor dem Geburtsjahr Marcel Prousts, nämlich 1870, begann das Zeitalter der »Fotografischen Erfassung«15: Anhand Hunderter von Photographien wurden Teilnehmer an der Pariser Kommune von

10 | Im Band Die Gefangene wiederholt der Erzähler die photographische Spurensicherung Albertines, wobei es dort nicht ein Photoporträt, sondern Ansichtskarten sind, die als Spuren ihres Gangs gelesen werden. (V, 186) 11 | »Da ich spürte, daß sie nun sowieso böse auf mich war, benutzte ich die Gelegenheit, von Esther Lévy zu sprechen. ›Bloch hat mir gesagt‹ (das entsprach nicht der Wahrheit) ›Sie hätten seine Cousine Esther sehr gut gekannt.‹ – ›Ich würde sie nicht einmal wiedererkennen‹, erklärte Albertine mit undurchdringlicher Miene. ›Ich habe ihre Photographie gesehen‹, setzte ich zornig hinzu. Ich blickte Albertine bei diesen Worten nicht an und nahm infolgedessen den Ausdruck ihres Gesichts nicht wahr, der ihre einzige Antwort gewesen wäre, denn sie sagte nichts.« (V, 154) 12 | Friedrich Kittler 1995. 13 | Georg Büchner 1992, Bd. 1, S. 138: Es geht dabei um den »Steckbrief, das Signalement, das Certificat« im Entwurf fürs Lustspiel Leonce und Lena: Der von zwei Polizisten Verfolgte »geht auf 2 Füßen, hat zwei Arme, ferner einen Mund, eine Nase, zwei Augen, zwei Ohren. Besondere Kennzeichen: ist ein höchst gefährliches Individuum«. Siehe auch Kittlers Kommentar zu dieser Stelle: Friedrich Kittler 1993, S. 91f. 14 | Susanne Regener 1999, S. 28. 15 | Ebd. Zu diesem Thema vgl. auch Thorsten Lorenz 1987 und Allan Sekula 2003.

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Louis Adolphe Thiers Polizei identifiziert und auf der Stelle erschossen.16 In den 1880er Jahren entsteht nun eine durchweg polizeiliche Ästhetik im Medium Photograpie: Dafür steht der berühmte französische Kriminalist Alphonse Bertillon. Als Leiter des Erkennungsdienstes bei der Pariser Polizei strebte er als erklärtes Ziel an, den polizeilichen Umgang mit der kriminalistischen Photographie zu systematisieren.17 Eingedenk dieser Geschichte der kriminalistischen Spurensuche mittels der Photographie kommen wir nun nochmals auf das Photo der Mädchenschar zurück, um auf einen anderen Aspekt in dieser Passage hinzuweisen: Neben dem Akt der Identifizierung, den der Erzähler anhand des Photos als Spur anstellt, ist es dort bezeichnend, daß der Roman Prousts die photographische Identitätsfahndung zum Anlaß nimmt, eine andere Thematik in den Vordergrund zu rücken, nämlich die Metamorphose der Menschen in der Zeit. Das Werden des »schönen Zugs der jungen Mädchen« aus der »noch ganz kindlichen Masse kleiner Mädchen« ist den Hotelgästen in Balbec entgangen, während der Erzähler erst vermöge des 16 | Gisèle Freund 1979, S. 119. Auch der Autor von Die helle Kammer rekurriert auf das Ereignis. Vgl. Roland Barthes 1980, S. 19. 17 | Dazu bedurfte es zuallererst, das Einheitsmaß der Polizeiphotos zu bestimmen, dem jeder anhand der apparativen Hilfsmittel folgen kann: Die Brennweite, die Beleuchtung und der Abstand zwischen der Kamera und dem Modell waren zu standardisieren. Ein polizeilich Beschuldigter wurde auf diese Weise einmal frontal und einmal seitlich aufgenommen. Das war aber noch nicht alles. Bertillon kombinierte dieses Frontal- und Profilbild mit der anthropometrischen Vermessung von bestimmten Körperteilen mit den Notizen zu besonderen persönlichen Kennzeichen und der detaillierten Beschreibung des Gesichts (dem sogenannten portrait-parlé), die nach präzise vorgeschriebenen Termini zu erfolgen hatte. Diese Termini für das portrait-parlé wurden dabei für taxonomische Zwecke wiederum mit Photographien der einzelnen Gesichtsteile gekoppelt und »zu Lehrtafeln gestaltet, die in den anthropometrischen Aufnahmestellen der Polizeibehörden ausgehängt waren« (Susanne Regener 1999, S. 137). So entstand die sogenannte Bertillonage, die in revidierter Form bis heute im Gebrauch ist. Ein Verdächtiger konnte fortan mithilfe der hohen Bildauflösung der Photographie nicht nur einfach identifiziert, sondern diese erste, einfache Identifizierung auch durch die neue systematische Identifizierungsmethode, die die Verwendungsmöglichkeit des photographischen Mediums optimierte, noch bestätigt und abgesichert werden.

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Photos bemerkt, daß es sich vollzogen hat: »Später erklärte mir eine Photographie, weshalb.« Der Kommentar des Erzählers zu dieser »alten Photographie« präzisiert eben dieses »weshalb«: Das Erwachsenwerden der Mädchen ist kein linearer Vorgang, den man im nachhinein ohne weiteres nachvollziehen könnte. Ohne den starken Willen zur Identifizierung, der die mühsame Arbeit der »Rekonstruktion« durch das Spurenlesen nicht scheut, würde unbemerkt bleiben, daß ein Werden sich ereignet hat. In der Tat »kam es zuweilen vor,« so setzt der Erzähler fort, »daß sogar ihre besten Freundinnen auf dieser Photographie sie miteinander verwechselten«. (II, 573) Das Erwachsenwerden der Mädchen kann also als »diskontinuierliche Metamorphose«18 angesehen werden: Der Übergang von einer Phase zur anderen vollzieht sich wie die Entpuppung gewisser Insekten aus Larven so sprunghaft, daß zwischen beiden Phasen keine Art von Kontinuität mehr zu bestehen scheint. Es ist, so heißt es an einer anderen Stelle des Romans, »als könne das menschliche Wesen ebenso vollständige Metamorphosen durchmachen wie gewisse Insekten«. (VII, 341)19 Die Problematik einer derartigen Metamorphose entfaltet sich am Ende des Romans, im Band der Wiedergefundenen Zeit, als Apotheose des Zeit-Dramas in vollem Umfang. Sie überfällt den Erzähler, sobald er den Salon im Hause des Prinzen von Guermantes betritt. Er hatte eigentlich dort ein Wiedersehen mit früheren Bekannten aus der vornehmen Gesellschaft des Faubourg Saint-Germain erwartet. Aber dieser Erwartung entspricht nun überhaupt nichts, was ihm in die Augen springt:

18 | Michael Wetzel 1999, S. 135: In seinem Buch über Mignon unterscheidet Wetzel zwei Modelle der Metamorphose: »das botanische Paradigma einer sukzessiven Reifung der Pflanzen von der Knospe zur Blüte und Frucht sowie das entomologische Paradigma einer diskontinuierlichen Metamorphose der Insekten von Larve, Puppe (oder Nymphe) und Imago (das fertiggebildete, geschlechtsreife Insekt)«. 19 | Deleuze/Guattari entdecken in der Literatur Franz Kafkas einen Extremfall der Metamorphose. Interessant ist dabei, daß sie das »Tier-Werden« bei Kafka als eine Fluchtbewegung deuten; als eine »Deterritorialisierung« der ödipalen Ordnung, deren Medium »das Familienfoto« ist. Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari 1976, S. 7-23, S. 32, S. 50-52.

1. P HOTOGRAPHISCHE R ECHERCHEN VON P ROUST

Im ersten Augenblick begriff ich nicht, weshalb ich nur zögernd den Hausherrn und die Gäste wiedererkannte und weshalb jeder einzelne von ihnen eine Maske angelegt zu haben schien, durch starkes Pudern vor allem, das sie alle völlig veränderte. (VII, 337)

Die Matinee erweist sich nun als ein »Märchenspiel« (VII, 338), ein »Maskenball« (VII, 342), ein »Puppenspiel« (VII, 343), kurzum als ein unglaubliches Schauspiel, dessen Titel das Alt-Werden sein könnte. Dort wird dem Erzähler nachdrücklich zur Schau gestellt, wie die Jahre seiner Abwesenheit von Paris seine Bekannten und Freunde fast bis zur Unerkennbarkeit20 hin transformierten.21 Und eben damit ist die Erkenntnis der Zeit verbunden: Da bemerkte ich, der ich seit meiner Kindheit immer nur von einem Tag zu den anderen lebte und der ich mir von mir selbst und den anderen ein definitives Bild gemacht hatte, an den Metamorphosen, die sich an all diesen Leuten vollzogen hatten, zum erstenmal die Zeit, die für sie vergangen war; das aber trug mir die bestürzende Offenbarung ein, daß sie ebenso für mich vergangen war. (VII, 347)

Die Metamorphose annuliert auf einmal das »definitive Bild« des Menschen. Sie ist für den Roman Prousts eine so grundlegende Problematik, daß sie die thematische Endstation der Erzählung ausmacht. Eben diese Problematik scheint in der aus Mädchenblüte zitierten Photographie-Szene auf der Mikroebene durch. Prousts kommentierender Bezug auf die Photographie setzt also eine Doppelbewegung22 in Gang; die Identifizierung des Photographierten einerseits und seine Metamorphose andererseits. Wie können aber zwei durchaus gegensätzliche Bewegungen an demselben Photo sichtbar werden? Dadurch, daß die Photographie einen Augenblick exakt fixiert, 20 | Manfred Schneider 1986, S. 53. 21 | Beispielsweise heißt es über Monsieur d’Argencourt: »So sehr war er zu einer anderen Person geworden, daß es mir beim Anblick dieser unsagbar fratzenhaften, komischen weißen Gestalt, dieses Weihnachtsmanns, der einen kindisch gewordenen General Durakin spielte, vorkam, als könne das menschliche Wesen ebenso vollständige Metamorphosen durchmachen wie gewisse Insekten.« (VII, 341) 22 | Vgl. hierzu Elisabeth Strowick 1999.

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wird die Identifizierung ermöglicht. Die photographische »Stillegung der ZEIT«23 ist die elementarste Bedingung dafür, daß man zwei Phänomene von getrennten zeitlichen Punkten, einem vergangenen und dem gegenwärtigen, durch die Vermittlung ihrer Ähnlichkeiten auf eine Identität hin prüfen kann. Aber nicht auszuschließen ist die Möglichkeit, daß es sich ganz anders verhält. Wenn nämlich dem Photographierten in extremis nichts in der Gegenwart ähnelt, somit die Vermittlung überhaupt fehlt, kennzeichnet die Photographie nichts als die irreduzible Kluft der Zeit, die den gegenwärtigen vom vergangenen Punkt scheidet. Dieselbe Operation, die photographische Fixierung des Augenblicks, welche einmal die Identifizierung ermöglicht, macht also unter diesen Umständen die Kraft der Zeit kenntlich, die alles Dasein einer gewaltigen Veränderung unterzieht. Das gilt gerade für das fragliche Photo der Mädchenschar. Es stiftet keine Ähnlichkeit der Porträtierten von damals mit Personen aus der Gegenwart des Erzählens. Statt dessen unterstreicht es die Zeit, in der die Metamorphose eingetreten ist. Deshalb ist der Erzähler gezwungen, seine Spurensicherungstechnik mit größter Aufmerksamkeit auf die Details zu mobilisieren. Die Doppelbewegung von Identifizierung und Metamorphose kann somit an einem einzigen Bild ›sinnfällig‹ werden. Dort wird ein Paradox zur Schau gestellt: Die Mädchen sind ›andere‹ geworden. Dennoch sind sie dieselben Personen geblieben, für die etwa im bürgerlichen Leben gewöhnlich die nämlichen Namen stehen.24 Eine solche widersprüchliche Gleichzeitigkeit von Identität und Metamorphose taucht in einem anderen Kontext des Romans wieder auf, in dem auch das Photoporträt als Medium der Spuren auf eine entscheidende Weise ins Spiel kommt. Dem Erzähler gelingt es nämlich, erst anhand eines Photos festzustellen, daß Miss

23 | Roland Barthes 1989, S. 101. 24 | Proust formuliert diesen Sachverhalt in der Passage über die Matinee der Guermantes: »Jemanden ›wiederzuerkennen‹ und, mehr noch, ihn, den man nicht wiedererkennen kann, dennoch zu identifizieren, bedeutet, unter einer gleichen Benennung zwei konträre Dinge zu denken, das heißt einzusehen, daß das, was hier war, die Person nämlich, an die man sich erinnert, nicht mehr ist, und das, was hier ist, eine Person, die man nicht kannte; es bedeutet, daß man an ein fast ebenso verstörendes Geheimnis wie das des Todes denken muß, für das es im übrigen etwas wie eine Vorrede und eine Ankündigung ist.« (VII, 366f.)

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Sacripant, die ›Dame in Rosa‹ und Odette Swann ein und dieselbe Person sind.25 Neben der unhintergehbaren Kraft der Zeit, die den Menschen verändert, gibt es noch ein anderes Moment, das die photographische Identitätsfahndung unterlaufen kann. Es hängt mit der Geschichte der Photographie eng zusammen: Die Romanwelt Prousts fällt photographiegeschichtlich in die Epoche, in der »jene Ateliers mit ihren Draperien und Palmen, Gobelins und Staffeleien entstanden, die so zweideutig zwischen Exekution und Repräsentation, Folterkammer und Thronsaal schwankten«.26 In der Kleinen Geschichte der Photographie konstatiert Walter Benjamin mit Blick auf solche phantasmagorischen Inszenierungen im Photoatelier am Ende des 19. Jahrhunderts die »Verfallsperiode«27 der Photographie: Was er die »Aura« nennt, ist um so unwiderruflicher verlorengegangen, als das Finde-siècle-Porträt die Pseudo-Aura erkünstelte.28 Eben inmitten dieser »Verfallsperiode« erhebt sich bei Proust die unvergleichliche Bühne zum Spiel der Metamorphosen: In jenem Jahr hatten meine Eltern den Termin unserer Abreise nach Paris etwas vorverlegt; am Morgen des Aufbruchs hatte man mir, weil ich photographiert wer-

25 | In Balbec bat er schon früher einmal den Maler Elstir darum, ihm »eine Photographie von seinem kleinen Porträt der Miss Sacripant« (II, 625) zur Verfügung zu stellen, da er von der Identität der porträtierten Operettensängerin mit Madame Swann überzeugt war. Die gewünschte Photographie fällt ihm danach unversehens in die Hand, als sein Onkel Adolphe stirbt und ihm eine Sammlung von Photographien berühmter Schauspielerinnen und großer Kokotten hinterläßt. Hinzu kommt eine andere Entdeckung, daß nämlich Miss Sacripant jene Halbweltdame ist, die er als Kind einmal bei dem Onkel als die ›Dame in Rosa‹ kennengelernt hatte. So muß der Erzähler zum Schluß kommen: »Ich dachte […] an Madame Swann und suchte mir mit Staunen – so weit waren sie in meiner Erinnerung verschieden und entfernt voneinander – klarzumachen, daß ich sie fortan mit der ›Dame in Rosa‹ gleichsetzen müsse.« (III, 373) 26 | Walter Benjamin 1972, Bd. II, S. 375. 27 | Walter Benjamin 1972, Bd. II, S. 376. 28 | Zur Unterscheidung verschiedener Ebenen im Aura-Begriff vgl. Josef Fürnkäs 2000. Vgl. hierzu 2.1 Kleine Geschichte der Photographie als Vorlage der Autobiographie.

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den sollte, die Locken gewickelt, mir vorsichtig einen Hut darauf gesetzt, den ich noch nie getragen hatte, und einen Samtkittel angezogen […]. (I, 212)

Die Kamera zielt überhaupt nicht auf eine Ähnlichkeit des Knaben mit sich selbst, sondern auf sein »Prinz«-Werden.29 Das Photographieren im bürgerlichen Milieu bedeutete am Ende des 19. Jahrhunderts weniger ein Dokumentieren des Alltags als vielmehr ein Verkleidungsfest mit allen möglichen Requisiten im Atelier. Mehrere Beispiele für die Photographie als solche finden sich in William Howard Adams’ Buch.30 Die Photographie fungierte hier also keineswegs als Medium für die illusionsfreie Wiedergabe des Subjekts, auf die etwa die kriminalistische Photoästhetik zusteuerte. In einer anderen Szene verursacht eine theatralische Metamorphose vor der Kamera »eine kleine Enttäuschung« (I, 114): Der kleine Marcel hat zufällig die Gelegenheit, gleichsam hinter die Kulissen zu schauen. So heißt es von der ›Dame in Rosa‹, die er beim Onkel persönlich kennenlernt: Ich entdeckte nichts an ihr von der theatralischen Aufmachung, die ich auf den Photographien der Schauspielerinnen so sehr bewunderte, oder von irgendeinem diabolischen Ausdruck, der etwa mit ihrer mutmaßlichen Lebensführung hätte in Zusammenhang stehen können. Es fiel mir schwer zu glauben, daß dies eine Kokotte sei […]. (Ebd.)

Die Erkenntnis, daß der Theatralität der Atelierphotographie »nichts« in der Wirklichkeit entspricht, ist enttäuschend, zumal die reale Person nicht so bewunderungswert erscheint wie die photographierte. Bedenkt man aber, daß das Leben der ›Dame in Rosa‹ aus einer Reihe von soziokulturellen Metamorphosen besteht, dann ist das Theatralische an den Atelierphotos auch als Verweis auf ihren wiederholten Identitätswechsel zu be29 | »Hast du nicht«, sagt Céleste Albaret zu Marie Gineste an einer Stelle im Band Sodom und Gomorrha, »in seiner Schublade die Photographie gesehen, auf der er als Kind abgebildet ist? Er hat uns einreden wollen, er sei immer ganz einfach angezogen gewesen. Da aber sieht man ihn mit seinem kleinen Spazierstock, und alles ist nur Spitzen und Plüsch, wie kein Prinz es gehabt hat.« (IV, 365) 30 | William Howard Adams 1988.

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trachten. Die theatralischen Atelierphotos um 1900 sind in diesem Sinne Abbreviaturen ihres Lebens voll von Verwandlungen. Im Roman Prousts sind also zwei Arten der Metamorphose zu konstatieren, die anläßlich des Photoporträts thematisiert werden: die Metamorphose in der Zeit und die im Photoatelier. In dieser Hinsicht richtet sich Prousts Augenmerk auf den Augenblick, in dem sich zeigt, daß Photos als Spuren in einer trügerischen Relation zur photographierten Person stehen. Die Faszination der Photographie besteht für Proust in ihrer Trugbildlichkeit, die paradoxerweise auf einem technischen Abbildungsverfahren basiert. Mit anderen Worten: Wenn die Photographie in seinem Roman noch ihre altbekannte Aufgabe erfüllt, das Abbild des Photographierten zu verwirklichen, dann tut sie dies nur, um im weiteren Lauf der Erzählung diese Abbildung in Frage zu stellen. Denn die Photoporträts ähneln nicht ihren Referenten in einer anderen Gegenwart. Sei es durch die theatralische Inszenierung im Photoatelier, sei es durch die unhintergehbare Kraft der Zeit, in der das Dasein seine Gestalt unablässig wechselt, immer stiftet die Repräsentationsfunktion der Photographie Verwirrung. In diesen Wirrungen der photographischen Repräsentation zeigt Metamorphose sichtbar ihre unsichtbaren Spuren. Zwar kann die Photographie die dynamische Bewegung der Metamorphose nicht festhalten oder (re-)präsentieren. Im Zustand des »Trugbildes«31 im Sinne Gilles Deleuzes, das nichts mit der Ähnlichkeit zu tun hat, behält sie sich dennoch den Verweis auf das niemals identische Dasein vor.

1.2 »E ROTISCHE R ECHERCHEN « 32 UND Z ERSTREUUNG »Jahrtausendelang war der Mensch Jäger.« (Carlo Ginzburg)

Wann hält die Metamorphose ein und still? Wo hört der Mensch auf, ein Verwandlungstier zu sein? Wie läßt sich seine zeitlose Wahrheit denken und finden? Es sind diese Fragen, die im Roman vor allem die Liebenden – Swann und Marcel sind dafür exemplarisch – ständig stellen. Das bedeutet 31 | »Das Abbild ist ein mit Ähnlichkeit ausgestattetes Bild, das Trugbild ein Bild ohne Ähnlichkeit.« Gilles Deleuze 1993b, S. 315. 32 | Friedrich Balke 2003.

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nicht zuletzt, daß die Problematik von Identifizierung und Metamorphose unbesehen die Verbindung mit einem anderen Feld, nämlich dem Feld der »erotischen Recherchen«, unterhält. Denn wer sich im Roman einmal in eine andere oder einen anderen verliebt hat, ist immerfort Lügen und Verkleidungen, Listen und Maskierungen der Geliebten oder des Geliebten ausgesetzt. Von stürmischer Eifersucht getrieben, ist der liebende Mensch gezwungen, sich wie ein Jäger zu verhalten. Auf der Suche nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit der sich entziehenden Person geht er ihren Spuren nach.33 Vergleichsweise läßt sich sagen, daß er das Bewußtsein hat, eigentlich kein wahres Gesicht des Liebesobjekts zu kennen. Ein metaphorischer Ausdruck dafür findet sich im Roman selbst: »Das geliebte Modell […] bewegt sich; man erhält davon stets nur unscharfe Photographien.« (II, 92) Ein »deutliches Bild« (II, 91), das die Person definiert, entsteht nur dort, wo es keine Liebe gibt. Von derjenigen Person, deren Bild für das liebende Subjekt am kostbarsten wäre, gibt es keines. Das ist das Paradox, auf das die liebenden Romanfiguren immer wieder stoßen. Und wegen dieses Paradoxons wird eben das Photoporträt der Geliebten ein unersetzbares Medium, dessen Aufgabe darin liegt, ihre Bildlosigkeit zu Ende zu führen. Marcel versucht mehrmals, ein Photoporträt der geliebten Person als mediales Surrogat für ihr »Bild« in Besitz zu nehmen. Beispielsweise hascht er leidenschaftlich nach Abbildungen von Gilberte, die »unendlich viel kostbarer erschienen als eine von Blümchen aus Leonardos Hand!« (II, 111)34 Dann muß er sich lächerliche Vorwände ausdenken, um ein Photo von Madame de Guermantes zu erhalten. (III, 136) Die folgenden Zeilen machen jedoch den Grund für solche peinlichen Mühen verstehbar: Denn diese Photographie war wie eine weitere Begegnung, die noch zu jenen hinzutrat, die ich mit Madame de Guermantes bereits gehabt hatte; ja mehr noch, sie stellte eine ausgedehnte Begegnung dar, als wäre die Herzogin dank einem jähen Fortschritt in unseren Beziehungen im Gartenhut bei mir stehengeblieben und habe mir zum erstenmal Zeit gelassen, hier die Rundung der Wange, dort die Nackenlinie oder den Ansatz der Braue (alles Dinge, die mir bislang beim raschen Vorübergehen, im Überwältigtsein durch den momentanen Eindruck und durch die Lückenhaftigkeit der Erinnerung verborgen geblieben waren) in Ruhe anzu33 | Gilles Deleuze 1993a, S. 16ff. 34 | Zum biographischen Hintergrund für diese Episode vgl. Brassaï 2001, S. 59f.

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schauen; ihr Anblick aber, genauso wie der von Brust und Armen einer Frau, die ich sonst immer nur im hochgeschlossenen Kleid gesehen hätte, kam für mich einer berauschenden Entdeckung, ja einer Gunstbezeigung gleich. Diese Linien, deren Betrachtung mir beinahe unerlaubt erschien, könnte ich dort studieren wie in einer Abhandlung über die einzige Geometrie, die für mich Wert haben konnte. (III, 106f.)

Diese euphorische Sprache formuliert exakt die Zauberkraft der Photographie: Sie ist imstande, das Objekt des Begehrens, das normalerweise in steter Bewegung ist (II, 92), im Bild zu fixieren. Im photographischen Bildnis erscheint die sich metamorphosierende Geliebte, um Roland Barthes zu zitieren, als »betäubt und aufgespießt wie Schmetterlinge«.35 Erst dadurch können die Augen des liebenden Subjekts die Details des begehrten Körpers entdecken und genießen. Hier kann man die Verbindung der »erotischen Recherche« mit der Problematik der »Spurensicherung« konkret belegen. Denn die Wahrnehmung des liebenden Subjekts im Zitat ist tatsächlich mit der polizeilichen Identifizierung ganz verwandt, die Ginzburg für eine Variante der Indizienwissenschaft hält.36 Was im photographischen Bildnis gesucht wird, scheint nämlich in beiden Fällen dasselbe zu sein. Bertillon schreibt in Die gerichtliche Photographie: Aus diesen Thatsachen können wir den Schluss ziehen, dass das Wiedererkennen oder die Identificirung nur auf den anatomen Vergleich der Linien basirt werden kann und dass die Regeln des gerichtlichen Porträts betreffs Stellung, Beleuchtung, Wahl des Objectives etc. als ideales Ziel die Hervorhebung der Silhouetten und charakteristischen Linien haben soll, im Gegentheile zu den Porträten des Handels, deren Bemühungen eher dahin gehen, die Unregelmässigkeiten in dem Körperbau der betreffenden Person zu mildern. 37

Der »anatomische Vergleich der Linien«, auf den es bei dem Kriminalisten ankommt, kommt dem ganz gleich, was das begehrende Subjekt als einzigartige »Geometrie« bezeichnet. Diese »Linien« sind nichts anderes als Spuren, die das Medium Photoporträt allein mit seiner hohen Bild35 | Roland Barthes 1989, S. 66. 36 | Carlo Ginzburg 1988, S. 111. 37 | Alphonse Bertillon 1895, S. 14.

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auflösung freisetzt. Und das liebende Subjekt und der Kriminalist sind sich darin einig, daß sie entschlossen auf Gesichtszüge beharren, die ohne Photographie kaum wahrnehmbar wären. Denn sie nehmen an, daß diese Details ausschließlich der porträtierten Person eigen sind. Es sind diese unschätzbar wertvollen »Linien«, die ihnen ermöglichen sollen, das sich immerfort entziehende Dasein fehlerfrei zu erfassen. Die photographische Vergegenwärtigung der begehrten Person erlaubt dem Subjekt jedoch nur eine momentane Überwindung ihres Entzugs. In der oben angeführten Episode fällt das Photo von Madame de Guermantes schließlich nicht in die Hand des Erzählers. Die sogenannte »weitere Begegnung« geht also nicht darüber hinaus, den Leerlauf des Begehrens zu unterstreichen. Das gilt auch für die Episode über das Photoporträt von der Berma im Band Im Schatten junger Mädchenblüte, das sich Marcel an einem Verkaufsstand ersteht. (II, 87ff.) Anhand dieses Bildes vermag er zwar über das Gesicht des Idols seine gründlichen Studien zu betreiben. Aber nicht einmal die Betrachtung des gekauften Photos bei dunklem Kerzenlicht im Bettzimmer kann Marcel zu der Illusion motivieren, diese berühmte Schauspielerin allein zu besitzen. Vielmehr imaginiert er nur, daß er lediglich einer unter vielen Verehrern sei, die vor dieser erotischen Göttin knien. Die photographische Fixierung ermöglicht nicht nur das genaue physiognomische Studium, sondern sie veranlaßt, die Berma bis in metaphysische Höhen zu verklären. (II, 90) Diese Episode wird später in einem anderen Zusammenhang ausführlicher kommentiert.38 Hier gilt es eher, ein Gesetz dieser »erotischen Recherche« festzustellen: Wenn das Liebesobjekt einmal näher erscheint, dann steigert sich die Intensität seiner Metamorphose, und es entzieht sich. Wenn Marcel beispielsweise Albertine aus der ununterscheidbaren Mädchenschar als Liebesobjekt auswählt und individualisiert, nimmt er wahr, daß sich Albertine nicht nur in der Dauer verwandelt hat, sondern niemals identisch erscheint. Was also jenes alte Gruppenphoto bemerkbar machte, war nicht mehr als ein kleiner Teil der Metamorphosen Albertines: Genaugenommen müßte ich jedem einzelnen Ich, das künftighin an Albertine gedacht hat, einen von den anderen unterschiedenen, neuen Namen geben; noch mehr aber jeder der Albertinen, die – niemals einander ganz gleich – vor mir erschienen, genau wie das, was ich aus Bequemlichkeit einfach »das Meer« nannte 38 | Vgl. 1.4 Photographische Ästhetik in der Recherche II: Thanatographie.

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und was in Wirklichkeit viele verschiedene Meere waren, die einander folgten und vor denen Albertine sich wie eine weitere Nymphe abzeichnete. (II, 750)

Indem Liebe den Blick schärft, wird das Liebesobjekt in paradoxer Verkehrung weniger eindeutig erkannt, vielmehr in so zahlreiche Gestalten zerstreut, daß einzig die metaphorisch eingeführte Mythosfigur39 als vage Einheit auf das metonymische Verwandlungswesen bzw. -unwesen verweisen kann. Und dieser Vorgang wird unmittelbar mit dem Selbstverständnis des Ich-Erzählers vom autobiographischen Roman rückgekoppelt: Er begreift sich nämlich als Besitzer mehrerer neuer Namen. In dieser Passage aus Im Schatten junger Mädchenblüte kündigt sich unverkennbar die große Thematik des Romans an, die dann in den Bänden Die Gefangene und Die Flüchtige entwickelt wird: Kreisbewegungen von Jagen, Fangen und Entfliehen. Metamorphose, die die Unmöglichkeit unterstreicht, mit sich selbst identisch zu sein, bildet die einzige Konstante der Romanfiguren in der Recherche. Die hartnäckigen Spurensicherungen hinsichtlich der Identität des Anderen und des Selbst, die der Erzähler in denkbar vielen Bereichen der Menschenbeziehungen anstellt, bringen als ihr negatives Resultat erst diese Erkenntnis. Eine enorme Zeitvergeudung, die sich jedoch ganz und gar produktiv auswirkt. Denn dadurch gelingt es Proust, sich ins Feld des autobiographischen Diskurses einzuschreiben und diesen Diskurs im selben Zug, genauer: im selben Duktus des Schreibens zu problematisieren. Auf eine solche genuin dekonstruktive Doppelheit des autobiographischen Schreibens bei Proust weist Manfred Schneider hin: Der unbestreitbare autobiographische Gestus der Suche nach der verlorenen Zeit trägt einen Romandiskurs, der nicht nur die Vergeblichkeit jeder Bemühung erweist, eine Wahrheit des Subjekts zu erfassen, sondern der sich selbst, seine Medialität, seine Schrift als die Urkunde dieser Unerkennbarkeit offeriert. Unerkennbarkeit heißt die Unzugänglichkeit, die die Beziehung eines erzählenden Bewußtseins zu sich selbst und zu den anderen, die es benennt, ausmacht. 40

39 | Zur Metapher der Nymphe für die Metamorphose des Mädchens vgl. Michael Wetzel 1999, S. 127f. 40 | Manfred Schneider 1986, S. 54.

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Die »Unerkennbarkeit« des Menschen läßt sich dabei niemals auf die fehlende Sehschärfe des Erzählers zurückführen. Im Gegenteil, sei es durch die Photographie, sei es durch die Liebe, der geschärfte Blick zur Spurensicherung liefert diesen Befund. Der ›hochauflösende Blick‹ zerstreut die Lebensgeschichte.41 Der sprunghaft gesteigerte Exaktheitsgrad des Blickes, für den die Photographie das technische Maß darstellt, löst auf,42 was bis dahin als Einheit für die Autobiographie galt: Kontinuität des Bewußtseins in der Zeit. Dann ist das Autobiographische nur noch um den Preis von Brüchen, Sprüngen und Wiederholungen zu haben. Von daher spricht Georges Poulet mit Recht von einem »fragmentarischen« Schreiben Prousts, das unterschiedliche zeitliche Schichten »nebeneinander« stelle.43 Auch Roland Barthes spricht von einem »durchlöcherten Leben, so wie Proust es in sein Werk einfließen ließ«.44 Die Fragmentarität und Diskontinuität dieser Autobiographik ist dabei nicht eine bloße Frage des Stils oder der Narration, sondern sie korreliert mit der erhöhten Auflösungsgenauigkeit der photographischen Recherche: Sie dringt, ohne sich die Fiktion eines lückenlosen Bewußtseins noch länger gefallen zu lassen, ins alltägliche Reich der zerstreuten Bewußtseinszustände vor. Dies zeigt sich auch in der Basisstruktur des autobiographischen Romans. Was der autobiographischen Erzählung Prousts doch noch eine minimale Einheit verleiht, ist ausschließlich der Wunsch des Erzählers, Schriftsteller zu werden, von dem er aber unablässig abgelenkt wird. Der Einheit des Romanwerks liegt also eine Zerstreuung des autobiographischen Subjekts zugrunde, die an die Stelle eines romantischen Künstlerromans bzw. Bildungsromans eine grandiose Recherche in Gang setzt. Um diese Dissemination der Autobiographeme in alle Richtungen zu verfolgen, muß der Erzähler durch sieben Bände hindurch erzählen.

41 | Zur »Zerstreuung« bei Proust vgl. Manfred Schneider 1993, S. 263. 42 | Zu diesem Begriff der »Auflösung« vgl. Paul Virilio 1989a, S. 168. 43 | Georges Poulet 1966, S. 43. In Tagen der Freuden schreibt Proust bereits, daß sein Leben »eine von Lücken unterbrochene Folge« ist. Marcel Proust 1965, S. 166. Siehe auch Samuel Beckett 2001, S. 73 und Paul de Man 1988, S. 91. 44 | Roland Barthes 1986, S. 13.

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1.3 P HOTOGR APHISCHE Ä STHE TIK IN DER R ECHERCHE I: TECHNISCHE I NNOVATIONEN »Proust spaltet – und gibt uns den Eindruck, endlos spalten zu können – was die anderen Schriftsteller gewöhnlich überspringen.« (Paul Valéry)

Das photographische Porträt, um das es bisher hauptsächlich ging, wurde im 19. Jahrhundert von professionellen Photographen in ihren eigenen Ateliers aufgenommen. Daß um 1900 noch die Mehrheit der Photoporträts unter dieser Produktionsbedingung entstand, davon zeugt auch die Recherche in zahlreichen Passagen. Aber in der Zeit, in die eben die Kindheit Marcels fällt, in den 1880er Jahren nämlich,45 lassen sich bereits Ansätze zu Veränderungen beobachten: Eine neue Generation, die selbst photographierte, kam auf, und die Fachleute konnten allmählich kein Monopol mehr auf die Produktion des photographischen Porträts behaupten.46 Diesen Übergang von der Epoche der Atelierphotos zu der der Amateurphotos zeichnet die Recherche mit dem ihr eigenen Scharfsinn für Eigennamen auf. Der Erzähler wählt als seinen vertrauten Freund exemplarisch einen Knipser mit der damals mächtigsten Ausstattung aus. Robert Saint-Loup taucht nämlich an einer Stelle mit seiner »Kodak« (II, 514) auf, mit der er »Momentaufnahmen« (ebd.) von seiner Freundin Rachel aufnimmt und im weiteren Verlauf der Erzählung auch die Großmutter des Erzählers photographiert. Bekanntlich stellt die legendäre, 8 x 9 x 16 cm große »Kodak« mit Rollfilm aus Zelluloid, die 1888 von George Eastman auf den Markt gebracht wurde, eine symbolische Marke47 für die Verkleinerung und Vereinfachung des Photoapparates gegen Ende des 19. Jahrhunderts dar.48 45 | Willy Hachez datiert die Geburt des Erzählers der Recherche auf 1880, Gérard Genette auf 1878. Vgl. hierzu Philippe Michel-Thiriet 1999, S. 261 und Gérard Genette 1998, S. 65. 46 | Zu den »Photoamateuren« vgl. Gisèle Freund 1979, S. 217-227. 47 | Zur »Kodak« vgl. Bernd Busch 1995, S. 320-324 und Beaumont Newhall 1998, S. 132f. 48 | Dieser Photoapparat an sich hätte aber nicht ausgereicht, die KodakLegende zu begründen. Das Innovative bei Eastman lag eigentlich »nicht in der

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In ästhetischer Hinsicht wurde erst mit der handlichen Kleinkamera der Schnappschuß möglich: Der photographische Apparat erreichte endlich die Leichtigkeit, mit der er den Raum der karnevalesken Inszenierung namens Photoatelier verlassen konnte, um sich in alltägliche, private oder intime Szenen voller Kontingenz einzumischen und ihre Dokumente zu verfertigen. Eastman, der den Sinn der Sache gut verstanden hatte, nannte die Kodak »ein photographisches Notizbuch«.49 Selbstverständlich wurde dadurch das Inventar des photographischen Archivs weitgehend erweitert: Photoalben füllten sich von nun an mit selbstgemachten Photos. Proust zollt dieser folgenreichen technischen Evolution Respekt, indem er den Namen der Kamera in seinem Erinnerungsbuch registriert. In der Recherche werden auch andere Innovationen des photographischen Verfahrens um 1900 erwähnt: die 1896 von Wilhelm Conrad Röntgen bekanntgemachte Röntgenphotographie50 (III, 337; III, 381; VII, 38) und die 1878 veröffentlichte Serienaufnahme des galoppierenden Pferdes von Eadweard Muybridge (I, 12).51 Prousts mehr oder weniger deutliche Bezugnahmen auf solche neuen Aufnahmetechniken kann man nicht genug unterstreichen. Denn sie sind symptomatisch dafür, daß die Recherche vom herkömmlichen ästhetischen Diskurs über die Photographie abweicht. Neuere Forschungen sind sich darin einig, daß im 19. Jahrhundert, unabhängig vom Gegensatz zwischen realistischer und anti-realistischer Konstruktion dieser Kamera, sondern darin, daß er seinen Kunden einen PhotoService zur Verfügung stellte. Wenn man die Kamera kaufte, war sie mit einem Film für 100 Aufnahmen geladen; im Preis von 25 Dollar war das Entwickeln und die Herstellung von Abzügen inbegriffen.« (Beaumont Newhall 1998, S. 133) Der sogenannte »Kodak-Service« trennte also die Photopraxis von der Arbeit in der Dunkelkammer ab. In dieser Hinsicht wäre es entweder als (intendierter?) Widerspruch zu verstehen, daß die Recherche eine Szene enthält, in der Saint-Loup in der Dunkelkammer arbeitet; (IV, 394) oder die Szene ist auch einfach Symptom für die photographiegeschichtliche Übergangszeit. Vgl. hierzu auch William Howard Adams 1988, S. 30. 49 | Zitiert nach Beaumont Newhall 1998, S. 134. 50 | Zur Röntgenphotographie vgl. Bernd Stiegler 2001, S. 136-141. 51 | Vgl. Manfred Schneider 1997b, S. 133. Brassaï zufolge finden sich in der Recherche auch Anspielungen auf die Chronophotographie von Etienne Jules Marey. Vgl. auch Brassaï 2001, S. 115-118. Auf diesen Zusammenhang werden wir im Benjamin-Kapitel näher eingehen.

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Poetologie, die Photographie meistens als bloß mechanische »Repräsentation oder Wiedergabe der Wirklichkeit«52 diskursiviert wurde. Aufgrund dieses Diskurses versuchten sowohl Realisten und Naturalisten als auch Romantiker und Symbolisten, sich von der Photographie abzugrenzen, um sich als ›Kunst‹ zu legitimieren. Die Legitimierung der ›Kunst‹ in Abgrenzung zur ›niederen‹ Photographie erfolgte ausschließlich mithilfe des Diskurses, der die Photographie auf eine Technologie der »Repräsentation« reduzierte. Die am Ende des 19. Jahrhunderts bemerkbaren Innovationen der photographischen Technik gingen jedoch über diesen Begriff der Photographie weit hinaus: Sowohl die bewegungsanalytischen Bilder von Muybridge als auch die Bilder der von Röntgenstrahlen durchleuchteten Skelette erweiterten die Grenzen im Bereich des Sichtbaren. Das Naturbild wurde durch diese »Entdeckungsreise in die terra incognita des für das Auge Unsichtbaren«53 drastisch verändert. Dieses wissenschaftliche Abenteuer legte somit endgültig an den Tag, daß die Photographie auf keine bloße »Wiedergabe der Wirklichkeit« reduzierbar ist. Sie entwickelte ihre eigene Struktur der Wahrnehmung, die das Bild der Wirklichkeit, statt es einfach zu kopieren, grundlegend modifiziert. Diesen Vorgang stellt Proust ohne Zweifel in Rechnung. Dies zeigt sich nicht nur in den oben genannten Textstellen über die Serien- und die Röntgenphotographie.54 Als deutlicher Beleg dafür läßt sich auch die folgende Passage anführen. Darin wird die besondere Wahrnehmung des liebenden Subjekts im erotischen Augenblick mit den »neuesten Techniken der Photographie« in eine Parallele gesetzt: Die neuesten Techniken der Photographie – die einer Kathedrale alle Häuser zu Füße legen, die uns so oft aus der Nähe fast ebenso hoch wie die Türme vorgekommen waren, die dieselben Gebäude wie ein Regiment bald in Schützenlinie, bald im Schwarm oder in Blöcken aufmarschieren lassen, die eben noch so weit voneinander entfernten Säulen der Piazzetta dicht aneinanderrücken, die nahe 52 | Bernd Stiegler 2001, S. 146. Zu diesem Thema vgl. auch Erwin Koppen 1987 und Gerhard Plumpe 1990. 53 | Bernd Stiegler 2001, S. 97. 54 | Thomas Mann ist ein anderer Romancier, der sich auf beide photographischen Darstellungen des Unsichtbaren bezieht: die Serienaufnahme in Tonio Kröger und die Röntgenphotographie in Der Zauberberg. Hierzu vgl. Jochen Hörisch 2004, S. 231f. und 258f.

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gelegene S. Maria della Salute forttragen und es möglich machen, auf einem blassen und entfernten Hintergrund einen unermeßlichen Horizont unter einem Brückenbogen, in einer Fensteröffnung, zwischen den Blättern eines im Vordergrund stehenden und stärker hervortretenden Baumes unterzubringen, oder nacheinander derselben Kirche die Arkaden jeder beliebigen anderen als Rahmen zu geben – nur sie können in meinen Augen ebenso wie ein Kuß aus dem, was wir für ein Ding mit eindeutigem Aussehen gehalten haben, die tausend anderen erstehen lassen, die es ebenfalls ist, da jedes sich aus einer allen anderen gleichberechtigten Perspektive ergibt. (III, 511f.)

Es handelt sich hier um die Trickaufnahme, die mit den medialen Manipulationsspielräumen operiert. Das Trickhafte daran liegt darin, daß alle Bilder, die ein und dasselbe Objekt unterschiedlich zeigen, für »gleichberechtigt« gehalten werden müssen. Das heißt, daß es kein definitives Bild gibt, das vor anderen Bildern Vorrang hätte. Denn sie gehorchen alle den optischen Gesetzen der Perspektive. Damit divergiert das Objekt in zahlreiche Bilder hinein. Die Photographie wird hier offensichtlich nicht als eine Kopie dessen erfaßt, was immer schon gegeben wäre. Statt das Bekannte wiederzugeben, verändern »die neuesten Techniken der Photographie« das alte Bild. Die Trickaufnahme verweist hier als Figur auf die dynamische Wahrnehmung beim ersten Liebeskuß, auf den Marcel so lange warten mußte. Diese Wahrnehmung zeichnet sich durch Divergenz aus, die im genauen Gegensatz zur »Synthese« im Sinne Kants steht. Nach der »transzendentalen Logik« setzt jegliche Erkenntnis die gemäß reiner Verstandesbegriffe vollzogene »Synthese eines Mannigfaltigen« in der Anschauung voraus.55 Die mit der Trickaufnahme vergleichbare Wahrnehmung des liebenden Subjekts arbeitet genau in umgekehrter Richtung. Sie gibt dem, was bis dahin im Begriff zusammengebunden war, seine Mannigfaltigkeit zurück. Bemerkenswert ist dabei die Funktion der photographischen Figur, die sich auf die Problematik der Wahrnehmung bezieht, und nicht auf die der Kunst. Es gilt hier, eine ungewöhnliche Wahrnehmung des liebenden Subjekts dadurch zu markieren, daß auf die phototechnische Innovation um 1900 bezuggenommen wird. Dieser Blick auf die Photographie als Indikator der allgemeinen Wahrnehmungsproblematik unterscheidet den Autor der Recherche von Literaten und Künstlern des 19. Jahrhunderts, welche die 55 | Immanuel Kant 1974, S. 116.

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Photographie ausschließlich im Zusammenhang mit der schönen Kunst betrachteten. Wie später im berühmten Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit von Walter Benjamin kommt das technische Bildmedium bei Proust bereits als Problem der aisthesis, nämlich der »Lehre von der Wahrnehmung«, ins Spiel.56 Dafür gibt es ein anderes Beispiel. Der Erzähler kommt nach langer Abwesenheit unangemeldet aus der Garnisonsstadt Doncières nach Hause zurück und wird sich im Augenblick des Eintretens dessen gewahr, daß ihm nur in diesem exquisiten Moment eine unbekannte Wahrnehmung zustößt: Ich war da, oder vielmehr, ich war noch nicht da, denn sie wußte es ja nicht, und wie eine Frau, die man bei einer Handarbeit überrascht, die sie wegstecken wird, wenn man eintritt, war sie Gedanken hingegeben, die sie niemals mir gegenüber gezeigt hatte. Von meiner Person war – durch das wenig dauerhafte Privileg, das uns erlaubt, während des kurzen Augenblicks des Heimkommens überraschend unserer eigenen Abwesenheit beizuwohnen – nur der Zeuge, der Beobachter in Hut und Reisemantel, der Fremde da, der nicht zum Haus gehört, der Photograph, der kommt, um eine Aufnahme von Stätten zu machen, die man nicht wiedersehen wird. Was auf ganz mechanische Weise in diesem Moment in meinen Augen zustande kam, als ich meine Großmutter bemerkte, war wirklich eine Photographie. (III, 193)

Wie in der Passage über die Trickaufnahme markiert die photographische Figur auch hier eine ungewöhnliche Wahrnehmung, die dem Subjekt in einer besonderen Situation zukommt. Ersichtlich steht die Figur hier für eine überraschende Wahrnehmung von außen: Der Photograph ist »der Fremde«, ein Eindringling, »der nicht zum Haus gehört«. Auf der Schwelle des Heimkommens nimmt der Erzähler das Innen des Hauses, dem er als Sohn des Hauses eigentlich angehört, wie ein solcher Eindringling wahr. Siegfried Kracauer bringt daher, wenn er die zitierte Stelle in seinem Photographie-Aufsatz analysiert, den Begriff der »Entfremdung« ins Spiel.57 Die »Entfremdung« geht hier so weit, daß der Erzähler sei56 | Walter Benjamin 1972, Bd. VII, S. 381. Vgl. hierzu Norbert Bolz/Willem van Reijen 1991, S. 107-116. Zur Ästhetik als Wahrnehmungstheorie vgl. auch Karlheinz Barck/Peter Gente/Heidi Paris/Stefan Richter 1990, Ralf Schnell 2000. 57 | Siegfried Kracauer 2006, S. 161.

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ne Augen als einen Photoapparat versteht. Das eigene Gesichtsorgan ist eine Maschine, die »mechanisch« arbeitet. Daß diese Metapher in der Poetologie der Recherche ganz konsequent und konstitutiv wirkt, wird sich später zeigen. Hier geht es nur darum zu unterstreichen, daß die in der Maschine-Metapher lesbare »Entfremdung« eine produktive Negativität darstellt. Denn der Erzähler kommt dadurch zu einer Erkenntnis, die zwar schmerzvoll, aber zweifelsohne für den ganzen Roman relevant ist. Was hält denn das Kamera-Auge des Erzählers fest? Man liest eine Seite später: Festgehalten wird nämlich zum erstenmal und bloß sekundenlang, denn sie verschwand wieder schnell, auf dem Kanapee, unter der Lampe, rot, schwerfällig und gewöhnlich, kränkelnd, vor sich hinsinnierend und mit leicht irrem Blick ein Buch musternd, eine verzagte alte Frau, die ich nicht kannte. (III, 194f.)

Was der entfremdete Blick sieht, ist das Altern der lieben Großmutter, dessen sich der Erzähler bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht bewußt war. Es geht also um eine augenblickliche Eröffnung dessen, was bisher außerhalb des Bewußtseins lag.58 Gerade das Moment der Augenblicklichkeit, das im vorletzten Zitat ausdrücklich unterstrichen wurde (»das wenig dauerhafte Privileg«, »kurzer Augenblick«, »in diesem Moment«), motiviert die hier von Proust getroffene Wahl für die metaphorische Figur der Photographie. Zeichnet sich doch die Photographie – spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts – dadurch aus, daß sie einen bestimmten Augenblick ›augenblicklich‹ fixiert.59 Im Aufsatz Jenseits des Lustprinzips handelt Freud jene sogenannte »traumatische Neurose« ab, die als »die Folge eines ausgiebigen Durch58 | Karl Heinz Bohrer (1981) verfolgt die Problematik des Augenblicks in der modernen Literatur. 59 | Wobei nicht vergessen werden darf: Die Augenblicklichkeit des Photographierens gab es die meiste Zeit über im 19. Jahrhundert nicht, in dem noch die gegebenenfalls minutenlange Belichtungsdauer für den Porträtierten eine reine Qual darstellte. Sie ist also ganz historisch, und zwar auf das ausgehende 19. Jahrhundert datierbar, wo die neue Phototechnik (die erhöhte Lichtempfindlichkeit des Negativmaterials oder der Schlitzverschluß) eingeführt wurde: »Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren exakte Belichtungszeiten von 1/5000 Sekunde möglich.« (Beaumont Newhall 1998, S. 133)

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bruchs des Reizschutzes« aufzufassen sei.60 Der supponierte Reizschutz definiert sich dabei als eine dem Wahrnehmungsapparat innewohnende Funktion, die den Organismus gegen übermäßige Einwirkungen von außen schützt. Die traumatische Neurose wird nach Freud dadurch verursacht, daß diese Funktion durch »das Moment der Überraschung« oder durch den »Schreck«61 durchbrochen wird. Als Beispiele für entsprechende Anlässe führt der Psychoanalytiker etwa Eisenbahnunfälle oder Schlachtenerlebnisse des Ersten Weltkriegs an: Auf solche ungewöhnlichen Ereignisse konnte man kaum vorbereitet sein. Analog dazu ist die Erfahrung, die der Erzähler bei seiner unangemeldeten Heimkehr macht. Er ist auf eine Begegnung mit der Großmutter nicht vorbereitet, während diese auf seine Heimkehr nicht vorbereitet ist. Es handelt sich also um den Augenblick der verhängnisvollen Begegnung, in dem das WahrnehmungsBewußtsein im Sinne Freuds ohne schützende Schicht dem Ereignis ausgesetzt ist. Mit anderen Worten, es ist der Augenblick, in dem das Bewußtsein mit dem konfrontiert wird, was es normalerweise systematisch zu vermeiden sucht. Um einen derartigen Augenblick zu markieren, tritt die Figur der Photographie auf. Prousts Photographie-Metapher verweist auf eine Wahrnehmung im Nu, die ausnahmsweise unabhängig vom Bewußtsein arbeitet. Denn die photographische Kamera stellt einen bewußtseinslosen Automaten dar, der mechanisch funktioniert, um einen Augenblick augenblicklich, das heißt hier gedankenlos und willenlos, zu fixieren. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, die oft zitierten Zeilen Walter Benjamins doch noch einmal heranzuziehen: Es ist ja eine andere Natur, welche zur Kamera als welche zum Auge spricht; anders vor allem so, daß an die Stelle eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Raums ein unbewußt durchwirkter tritt. Ist es schon üblich, daß einer, beispielsweise, vom Gang der Leute, sei es auch nur im groben, sich Rechenschaft gibt, so weiß er bestimmt nichts mehr von ihrer Haltung im Sekundenbruchteil des »Ausschreitens«. Die Photographie mit ihren Hilfsmitteln: Zeitlupen, Vergrößerungen erschließt sie ihm. Von diesem Optisch-Unbewußten erfährt er erst durch sie, wie von dem Triebhaft-Unbewußten durch die Psychoanalyse.62 60 | Sigmund Freud 1999, Bd. XIII, S. 31. 61 | Sigmund Freud 1999, Bd. XIII, S. 10. 62 | Walter Benjamin 1972, Bd. II, S. 371.

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Das Beispiel für das »Optisch-Unbewußte«, das in der Kleinen Geschichte der Photographie angeführt wird, ist der »Gang der Leute«. Zweifelsohne verweist Benjamin dabei auf die Serienphotographie Muybridges oder die Chronophotographie Mareys, die jeweils eine Bewegung in »Sekundenbruchteile« auflösten. Weniger der Film als vielmehr diese Augenblicksphotographien sind es, mit denen Benjamin zum erstenmal den Begriff des »Optisch-Unbewußten« inauguriert. Das ist nicht nur deswegen interessant, weil Proust bereits die animal locomotion im Roman erwähnte, sondern auch, weil er schon der Photographie, wie gesehen, eine augenblickliche Wahrnehmung zuschrieb, die aufgrund des Bruchs mit dem Bewußtsein etwas zum Vorschein bringen kann, das jenes überrumpelt und überrascht. Diese Befunde anhand der Recherche lassen es müßig erscheinen, Proust durch Benjamin theoretisch zu explizieren. Die berühmte These des Theoretikers der technischen Reproduktion und des Proust-Übersetzers zugleich, daß die Kamera es mit dem »unbewußt durchwirkten Raum« zu tun habe, kann von Proust selbst ausgehend entwickelt werden.

1.4 P HOTOGR APHISCHE Ä STHE TIK IN DER R ECHERCHE II: THANATOGR APHIE 63 Im Modus der photographischen Augenblicklichkeit wird etwas erkannt, was der Erzähler bis dahin nicht ins Auge fassen konnte: das Altern der lieben Großmutter. Die Erkenntnis geht also das unumkehrbare Vergehen der Zeit an. Die Zeit gilt zwar seit Kant als das Unwahrnehmbare schlechthin, doch schreibt sie sich unaufhörlich in das Dasein ein: als das AltWerden, dem kein Wille widerstehen kann. Was Beckett in seinem ProustEssay den »Stempel der Zeit«64 nannte, nimmt Marcel durch die mit der Photographie verglichene Wahrnehmung erstmalig zur Kenntnis. Und wenn man ferner in Betracht zieht, daß das Vergehen der Zeit in einem metonymischen Verhältnis zum Tod steht, dann läßt sich sagen, daß die photographische Ästhetik hier als Vorbote des Todes fungiert. Marcel antizipiert mit seinem Kamera-Auge den Tod der Großmutter.

63 | Zum »photo comme thanatographie« vgl. Philippe Dubois 1983, S. 160ff. 64 | Samuel Beckett 2001, S. 10.

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Hinsichtlich des Bezugs der Photographie auf den Tod bei Proust kann eine Episode über die Berma im Band Im Schatten junger Mädchenblüte als interessantes Pendant zur bisher kommentierten Passage über das Altern der Großmutter gelesen werden. Die Episode wird dadurch eingeleitet, daß sich Marcel zusammen mit Françoise an einem Verkaufsstand in der Nähe der Champs-Elysées ein Photoporträt der Berma kauft. (II, 87) Während ihm die Star-Schauspielerin bis dahin eine buchstäblich ferne Erscheinung war, ist er nun imstande, sie auf dem Photo bei sich zu Hause im Bett zu betrachten. Dieser imaginäre Akt der erotischen Eroberung führt jedoch in eine Sackgasse, die medientechnisch prädestiniert zu sein scheint. Marcel wird nämlich von dem Gedanken beunruhigt, daß es [ihr Gesicht, K.K.] gewiß in diesem Augenblick von Männern liebkost wurde, die ich nicht daran hindern konnte, der Berma übermenschliche, dunkle Freuden zu schenken und solche von ihr zu empfangen. (II, 90)

Das Photo, um das es hier geht, ist eine »Albumpostkarte« (II, 88) bzw. »carte-album«,65 also ein Visitenkartenphoto66 des Formats von ca. 6 x 9 cm, das 1854 von Adolphe-Eugène Disdèri patentiert wurde. Mit dem Verfahren der Bildmultipulikation um den Faktor 8 gelang es dem französischen Erfinder, ein System der kostengünstigen Massenproduktion von Porträtbildern zu etablieren. Die Folge war ein wahrer Boom des photographischen Porträts. Gesichter berühmter Zeitgenossen wurden in großem Ausmaß durch das Kleinformat des Visitenkartenphotos zu Handelsgegenständen. Anhand des Schauspielerinphotos als solchem, das in allen Winkeln Paris’ zu kaufen ist, gerät Marcel zwangsläufig in Rivalität zu den tausenden »Männern«, die unsichtbar und anonym bleiben. Also verschafft sich die medial vorgeschriebene Position des begehrenden Subjekts in seiner vom Photoporträt erweckten Imagination im dunklen Schlafzimmer Geltung: Da er ahnt, daß er die Photographierte nicht einmal imaginär für sich allein haben kann, verklärt sie Marcel im Gegenzug zu einer Göttin des Eros, die zugleich Subjekt und Objekt der »übermenschlichen« Lust ist. Anhand des Photoporträts vermag er die Schauspielerin, diese Expertin der Verwandlung, für sich weiter in die Unsterbliche zu verwandeln. 65 | Marcel Proust 1987-1989, Bd. I, S. 476. 66 | Vgl. zum Verfahren der carte de visite Gisèle Freund 1979, S. 67-71, Beaumont Newhall 1998, S. 66f. Matthias Bickenbach 2001, S. 94f.

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Damit ist die Episode noch nicht abgeschlossen. Marcel sieht im nachhinein selbst ein, daß die anhand des Photos angestellte Vergöttlichung der Schauspielerin nur eine (Selbst-)Täuschung war. Dieses Photo wird nämlich erstaunlicherweise in der Wiedergefundenen Zeit in Erinnerung zurückgerufen: Über den Abstand von fast 3500 Seiten (in der deutschen Ausgabe) hinweg taucht die Erinnerung an die erotische Göttin auf dem Photo wieder auf, um das genaue Gegenteil der ehemaligen Imagination zu bestätigen: die Vergänglichkeit: Nichts in den Zügen der Berma erinnerte noch an das Gesicht, dessen Photographie mich an einem Mittfastenabend so sehr beunruhigt hatte. Der Berma stand, wie das Volk sagt, der Tod ins Antlitz geschrieben. (VII, 453)

Im Licht der Erinnerung an das Photoporträt der Schauspielerin in ihrer Blütezeit konstatiert der Erzähler nun das ihr ins Antlitz eingravierte Todeszeichen. Diese Episode steht ganz parallel zu der, in der der Erzähler den nahen Tod der Großmutter zum erstenmal durch die photographische Wahrnehmung erkennt. Bei allen unterschiedlichen Aspekten (öffentlich/ privat, Medium/Metapher, Dauer/Augenblick, Erinnerung/Antizipation) spiegeln sich zwei Episoden ineinander. Denn es ist beidemal das Photographische, das die stets dem Bewußtsein entzogene Zeit in ihrer Temporalität des Vergehens wahrnehmbar macht. Zweimal geschieht es, daß die Photographie der unfaßbaren Zeit jene Sichtbarkeit und Lesbarkeit verleiht, deren Signifikat der Tod ist. Im Band Die wiedergefundene Zeit wird der – beinahe an die Götterdämmerung erinnernde – Untergang der Berma in- und außerhalb der Familie erzählt, um ihre letzte, nicht mehr theatralische Metamorphose zur Toten zu verfolgen. Der Stellenwert dieser Episode ist bemerkenswert. Denn sie ist in die lange Maskenball-Szene bei den Guermantes eingeschachtelt. Dabei gehorcht die Rollenbesetzung der Romanfiguren durchaus der Kombinatorik des Chiasmus: Die Herren und Damen der Pariser Gesellschaft kommen nur im Licht des Theatralischen ins Finale des Romans, wohingegen nun die Berma als verratene Mutter bar aller Spielmomente ganz allein ihr Leben beenden muß. Den einsamen Tod der ehemals prominenten Schauspielerin hebt ihr über das Intervall der riesigen Seitenmasse hinweg ins Gedächtnis zurückgerufene Photoporträt kontrastiv hervor. Die Implikationen dieses Kontrasts erhellen Matthias Bickenbachs Erläuterungen über die soziale Funktion der Photographie seit der zweiten Hälfte des

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19. Jahrhunderts. Er begreift die Sammlung der Photographie als moderne »Mutation des Pantheons«: Das antike Gedächtnismodell Ruhmestempel wird radikal transformiert, indem die Photographie namentlich seit dem Visitenkartenphoto »das Prinzip des kulturellen Gedächtnisses von seiner in der rhetorischen Mnemotechnik vorgegebenen Topik der Kombination von loci und imagines auf eine Form um[schlägt], die Zirkulation heißt«.67 Die Photographie-Sammlung fungiert als Ort des kulturellen Gedächtnisses, das ohne feste Lokalität auskommt. Sie setzt vielmehr die zerstreuende »Zirkulation« der technischen Bilder voraus. Das bedeutet: Das Recht auf Eingang ins mobile Pantheon der Moderne wird denjenigen gegeben, denen das Privileg zuteil geworden ist, einmal in der Form der carte de visite zu zirkulieren. Diese Betrachtungsweise wirft ein neues Licht auf die Episode der »Albumpostkarte« von der Berma. Mit vollem Recht verehrte Marcel die Berma als Göttin des Eros, als er sich ihr Photoporträt im dunklen Schlafzimmer unter der Lampe ansah. Denn sie war schon zu ihren Lebzeiten ein Bewohner des modernen Pantheons. Wie immer die Berma symbolisch erhöht sein mag, es bleibt dennoch ihr zweiter Körper als Rest, der einen anderen als symbolischen Tod sterben muß.68 Was am Ende der Wiedergefundenen Zeit als grausamer Kontrast zu der vom Photoporträt erweckten Imagination hervorgehoben wird, ist dies: Auf die Berma wartet der zweite, ganz unmetaphysische, schlicht physische Tod. In seinem Buch Die helle Kammer erhob Roland Barthes den Bezug auf den Tod zur kardinalen Problematik in der Photographietheorie. Die theoretische Vorgeschichte dazu beginnt aber bereits mit André Bazins einfallsreichem Essay von 1945.69 Dort heißt es: Die ägyptische Religion, die vollkommen gegen den Tod gerichtet war, machte das Überleben abhängig von der materiellen Unvergänglichkeit des Körpers. Sie befriedigte damit ein fundamentales Bedürfnis der menschlichen Psyche: Schutz 67 | Matthias Bickenbach 2001, S. 88 und S. 90f. Zum Photoalbum als Gedächtnismedium vgl. auch Nicolas Pethes/Jens Ruchatz 2001, S. 177f. Zum Ruhmestempel als Gedächtnismodell vgl. auch Aleida Assmann 1996, S. 18f. 68 | Zur variierenden Entfaltung der Theorie Ernst Kantorowiczs vom zweifachen Körper des Königs vgl. Michel Foucault 1994, S. 40ff., Manfred Schneider 1997a, S. 237ff., Giorgio Agamben 2002, S. 101-113. 69 | Zum phototheoretischen Zusammenhang zwischen Bazin und Barthes vgl. Anselm Haverkamp 1993, S. 54.

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gegen den Ablauf der Zeit. Der Tod ist nichts anderes als der Sieg der Zeit. Die fleischliche Gestalt des Menschen künstlich erhalten, heißt ihn aus dem Strom der Zeit herausreißen.70

Es geht hier zwar nicht um die römische, sondern um die ägyptische Grabkultur. In diesem »›Komplex‹ der Mumien«71 verortet Bazin die Photographie. Dem Proust-Leser kommt jedoch auch diese medienanthropologische Spekulation ganz vertraut vor. Die Recherche enthält nämlich zumindest zwei grandiose Episoden, in denen die Mumifizierung des Menschen durch die Photographie ins Spiel kommt.72 Die eine ist jene eindrucksvolle Szene von Montjouvain im Combray-Teil, in der Mademoiselle Vinteuil und ihre Freundin das Andenken an den verstorbenen Monsieur Vinteuil dadurch profanieren, daß sie ihre sapphische Zeremonie vorsätzlich vor seinem Photo vollziehen. (I, 235f.) Das Photo von Vinteuil, das »aus dem Strom der Zeit« herausgerissene Bild des Komponisten, steht den Frauen zu Diensten, um die Anwesenheit des – biologischen und symbolischen – ›Vaters‹ zu inszenieren. Die photographische Mumifizierung rückt hier also ins Zentrum eines paradoxalen Totenkultes, der in einem pathetischen Ausdruck von Haßliebe kulminiert: dem Bespucken des Photos. Das Geheimnis der Homosexualität offenbart sich dem Kind Marcel also mithilfe der Photographie, deren »irrationale Kraft«, so Bazin, in der Moderne noch »unseren Glauben besitzt«.73 Die andere Episode der photographischen Mumifizierung – die auch einen gewissen Offenbarungscharakter hat – bezieht sich nochmals auf die Großmutter. Um den Tod der Großmutter herum, vor und nach ihrem Tod nämlich, werden zwei weitere (nicht-metaphorische) PhotographieSzenen angesiedelt. Und diese stehen offensichtlich zu der oben erörterten Passage über den Kamera-Blick des Heimkehrenden in einem Verhältnis des wechselseitigen Verweises. Die Figur der photographischen Wahrnehmung, die ihren Tod antizipiert, erscheint also nicht isoliert, sondern im 70 | André Bazin 2006, S. 59. 71 | Ebd. 72 | Manfred Schneider hat bereits die Ästhetik der Mumifizierung in der Recherche mit den Begriffen »Arretierung«, »Mortifizierung« und »Präparierung« eingehend bearbeitet, und zwar unter Berücksichtigung der fundamentalen Rolle des Mediums Photographie. Vgl. Manfred Schneider 1986, S. 66-75. 73 | André Bazin 2006, S. 62.

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Zusammenhang mit zwei Photographie-Szenen, die sich miteinander verknüpfen und eine Episode bilden. Die erste Photographie-Szene ist im Band Im Schatten junger Mädchenblüte enthalten. Dort wird von einem Plan Saint-Loups erzählt, die Großmutter zu photographieren. Allerdings ist nicht klar, was den Knipser mit der Kodak dazu bewegt. Dem Erzähler mißfällt immerhin nicht wenig, »daß sie hierfür ihre schönste Toilette angelegt hatte und nur noch zwischen den verschiedenen Kopfbedeckungen schwankte« (II, 518). Angesichts dieser bei der sonst stets so würdevollen Großmutter ganz unerwarteten »Kinderrei« und »Koketterie« (ebd.) kann er sich einer spöttischen Bemerkung nicht enthalten, ohne zu ahnen, was hinter diesem Photo-Termin steckt. Es dauert viele Tage (und viele Textseiten), bis sich das Geheimnis während des zweiten Aufenthaltes in Balbec enthüllt, in der sogenannten Episode der »Arrhythmien des Herzens« (IV, 224), die der Band Sodom und Gomorrha enthält. Das ist die zweite Photographie-Szene. Hier wird das Geheimnis gleichsam nach langer Latenzperiode entwickelt. Anschließend an Michael Wetzels Theorie, die die »Zeitlichkeit der Photographie« als »Verschränkung der Zeit der Belichtung und der Zeit der Entwicklung«74 begreift, läßt sich sagen: In der Recherche findet sich nicht nur eine Bezugnahme auf die »Zeit der Belichtung«, für die die Augenblicklichkeit steht, sondern auch auf die »Zeit der Entwicklung«, welche »die virtuellen oder latenten Spuren in einen manifesten Ausdruck« transformiert.75 Denn der Gehalt der Photo-Sitzung der Großmutter bleibt längere Zeit dunkel, das heißt virtuell oder latent, bis zum Zeitpunkt, in dem das Thema später wieder aufgegriffen wird, um das Geheimnis ans volle Tageslicht kommen zu lassen. Anders formuliert, diese Photographie-Episode wird geradezu in der photographischen Temporalität des »Verzugs«76 erzählt, den der Entwicklungsprozeß darstellt. Wie geschieht das? Nachdem der Erzähler länger als ein Jahr seit der Beerdigung der Großmutter ohne Trauergefühl gelebt hat, sucht ihn eine »unbekannte, göttliche Gegenwart« (IV, 231) plötzlich heim, in dem Augenblick, in dem 74 | Vgl. Michael Wetzel 1990, S. 268. 75 | Ebd. Hierzu vgl. auch 1.5 Die unwillkürliche Erinnerung als Wiederholung in diesem Band. 76 | Michael Wetzel 1990, S. 274. Zum Begriff »Verzug« als photographischer Zeitlichkeit vgl. auch Jacques Derrida/Marie-Françoise Plissart 1997, S. II und S. IV.

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er sich beugt, um seine Schuhe auszuziehen. Diese augenblickliche und »vollständige« (IV, 232) Erinnerung an die Großmutter verhilft ihm auf einmal zur wahren Erkenntnis ihres Todes. Die bis dahin aufgeschobene Zeit der Trauer beginnt von diesem Augenblick an. Der Erzähler quält sich, indem er seine eigene spöttische Bemerkung bei der photographischen Sitzung in Erinnerung ruft. Eben in diesem Moment kommt die Offenbarung aus Françoises Mund: daß die Großmutter, die damals schon ihren Tod nahen fühlte, Saint-Loup geradezu um eine photographische Aufnahme bat, die sie dem Enkel hinterlassen wollte (IV, 261): Sie ließ sich photographisch mumifizieren, um nach dem Tod beim Enkel bleiben zu können.77 Der geheime Sinn des Photo-Termins, die Mumifizierung für die Erinnerung in der Zukunft, wird somit in einem durchaus unzeitgemäßen Augenblick entwickelt. Diese Lesart legitimiert sich nicht zuletzt dadurch, daß die Dunkelkammer bei Proust auch in anderen Episoden einen Ort des Geheimnisses darstellt. Ein Informant Marcels, Aimé, teilt ihm mit, daß Saint-Loup versuchte, sein homosexuelles Verhältnis mit dem Liftboy gerade in der Dunkelkammer voranzubringen, und zwar »unter dem Vorwand […], er müsse Photographien von der Frau Großmutter von Monsieur entwickeln« (VI, 394). Dies wird jedoch erst im Band Die Flüchtige erzählt. Das geheime Unternehmen Saint-Loups kommt also im Verzug ans Licht. Das heißt, daß diese Dunkelkammer-Episode selbst die Temporalität der photographischen Entwicklung reflektiert. Die Entwicklung ist

77 | Zum biographischen Hintergrund dieser Episode vgl. George Painter 1968, S. 80: »Sie verweigerte«, so Painter über die letzten Tage von Prousts Mutter in Evian, »das Essen und wollte weder zugeben, daß sie krank war, noch daß ihr Urin untersucht würde, wodurch ihr Zustand offenbar geworden wäre. Proust rief Mme Catusse, die in der Nähe weilte, telefonisch herbei; aber sehr zu seinem Kummer bat die kranke Dame ihre alte Freundin nur darum, eine Photographie von ihr zu machen. Einst sehr viel später konnte er diese ihre seltsame Mischung aus Begier, Koketterie und Zögern verstehen, wenn er fünf Jahre danach an Mme Catusse schreibt: ›Sie, von der sie an dem Tage, als Sie nach Evian kamen, photographiert und auch nicht photographiert sein wollte, in dem Wunsche, mir ein letztes Bild zu hinterlassen, und aus Furcht, es möchte zu traurig aussehen.‹ In seinem Roman wird dieselbe Begebenheit der Großmutter des Erzählers in Balbec zugeschrieben, die Saint-Loup um eine Photographie von sich bittet und vom Erzähler grausam verspottet wird.«

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bei Proust das Ans-Licht-Kommen des Dunklen mit einer Verspätung, die unzeitige Offenbarung dessen, was verborgen bleiben sollte. Was die Aufnahme der Großmutter durch Saint-Loup anbelangt, gibt es innerhalb der Arrhythmien des Herzens insgesamt drei Stellen (zweimal vor und einmal nach der Offenbarung der Françoise), in denen dieses Photo vom Erzähler betrachtet wird. (IV, 236, 260, 266) Die wiederholte Betrachtung des Photos der Verstorbenen skandiert nachgerade den Takt der Trauerarbeit. Dabei ist bemerkenswert, daß dem Trauernden das Photo niemals die Illusion der Anwesenheit und Nähe der Großmutter gewährt, wie es diese Frau eigentlich gewünscht hatte.78 Beispielsweise heißt es: Der jeweilige Ausdruck ihres Gesichts schien mir in einer Sprache eingezeichnet, die nur für mich bestimmt war. Sie war alles in meinem Leben, die anderen existierten nur im Hinblick auf sie, auf das Urteil, mit dem sie sich zu mir über sie äußerte; doch nein, unsere Beziehungen sind zu flüchtig gewesen, um mehr als bloß das Korrelat eines Zufalls zu sein. Sie kennt mich nicht mehr, ich werde sie auch niemals wiedersehen. Wir waren nicht einzig füreinander geschaffen, sie war eine Fremde. Diese Fremde nun betrachtete ich gerade auf Saint-Loups Photographie. (IV, 260)

Vergleicht man diese Betrachtung des Photos mit jener plötzlichen Erinnerung beim Anziehen der Schuhe, dann ist der Kontrast augenfällig: Überfällt den Erzähler anläßlich der augenblicklichen Erinnerung die »göttliche Gegenwart« und »lebendige Realität« (II, 256) der Großmutter, nimmt er sie beim Anblick des Photos nur noch als eine »Fremde« wahr. Die Photographie verbindet sich hier mit der rückblickenden Enttäuschung, daß die ehemalige intime Beziehung mit der Verstorbenen wohl eine Täuschung war. Diese Kontrastierung von Photo-Betrachtung und Erinnerung weist eine Parallele zu der berühmten Gegenüberstellung von willkürlicher und unwillkürlicher Erinnerung bei Proust auf. Sie hängt also mit einer grundlegenden Problematik der Erinnerungspoetik bei Proust zusammen. Dieser Zusammenhang soll unten ausführlich befragt werden. Hier gilt es vielmehr, uns von einer Lesart abzusetzen, die aus der betreffenden 78 | Bruges-la-Morte (1892), Georges Rodenbachs Roman mit 35 photographischen Illustrationen, rückt diesen Aspekt der Photographie ins thematische Zentrum. Vgl. Bernd Stiegler 2001, S. 312-316.

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Photographie-Episode (oder auch aus der Recherche überhaupt) ausschließlich die »Skepsis«79 gegenüber der Photographie herausliest. Diese Lesart findet in der Recherche eine bloße Fortsetzung des Photographie-Diskurses im 19. Jahrhundert vor, der die Photographie auf eine mechanische und tote Wiedergabe der Wirklichkeit reduziert und also herabsetzt, um die etablierten Künste als einbildungsreiche und lebendige ›Kunst‹ zu legitimieren. Dagegen sprechen nicht nur photographische Figuren im Roman, die für ungewöhnliche Wahrnehmungen in je besonderen Momenten stehen. Die Kontrastierung von Photo-Betrachtung und Erinnerung ist nicht eindeutig, bedenkt man den Kontext der Erzählung, den wir bereits im Hinblick auf die Problematik der Entwicklung besprachen. Der Zeitpunkt der eigentlichen Bewußtwerdung des Todes wird um mehr als ein Jahr gegenüber dem Sterben der Großmutter verschoben. Und keine intensive Trauerarbeit, sondern eine Vergeudung der Zeit geht bei Marcel seiner »vollständigen Erinnerung« (II, 256) voran. Und diese vergeudete Zeit stellt eine Latenz des Gedächtnisses bereit, die gerade die Voraussetzung für die Zeit der Entwicklung ist. In dieser Hinsicht konvergiert die »vollständige Erinnerung«, die den Erzähler aufgrund der zufällig eingenommenen Körperhaltung des Bückens auf einmal heimsucht, mit der Zeitlichkeit der photographischen Entwicklung. Der Kontrast von Photo und Erinnerung ist in diesem Sinne weit entfernt von einem starren Gegensatz. Beide »kontaminieren«80 einander. Die Entwicklung der Sichtbarkeit des Ereignisses nach der Latenzzeit, die Mumifizierung des Menschen, die Augenblicklichkeit der Wahrnehmung und die trickphotographische Divergenz des Wahrgenommenen sind die Momente, die hier als photographische Ästhetik in der Recherche herausgearbeitet werden. Jedes Moment enthält dabei mehr als eine mechanische Repräsentation, als die die Photographie im 19. Jahrhundert diskursiviert wurde. Auf dieses »mehr« kommt es an. Denn weil die Photographie bei Proust nicht reduzierbar ist auf die Wiedergabe dessen, was immer schon bekannt ist, kann sie für die Begegnung im emphatischen Sinne81 stehen, sei es auf der Ebene der Figur, sei es auf der der Episode. Die Photographie kommt bei Proust – zwar nicht immer, aber auch nicht selten – ins Spiel, wenn das Subjekt der Recherche auf irgendetwas stößt, 79 | Walburga Hülk 2003, S. 133. 80 | Jacques Derrida 1995, S. 121. 81 | Jacques Lacan 1987, S. 58, S. 60f.

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das es nicht erwartet hat bzw. auf das es nicht vorbereitet war. Die photographische Ästhetik in Prousts Roman ist in dieser Hinsicht genauso ein Abenteuer wie die Photographie selbst um 1900. Wenn man dieses abenteuerliche Moment nicht sieht, dann liest man in der Recherche nur noch das Wiederkäuen des photographischen Diskurses seit dem 19. Jahrhundert, das zugegebenermaßen tatsächlich zu finden ist. Freilich würde man leicht zeigen können, daß dieser Diskurs hauptsächlich von Romanfiguren wie der Großmutter oder dem Baron Charlus getragen wird, die selber im 19. Jahrhundert tief wurzeln. (I, 60, II, 486f.)

1.5 D IE P HOTOGR APHIE ALS M E TAPHER FÜR G EDÄCHTNIS UND E RINNERUNG »Was geschieht mit der Metapher? Nun ja, alles, es gibt nichts, was nicht mit der Metapher und durch die Metapher geschähe.« (Jacques Derrida) »[…] sans métonymie, pas d’enchaînement de souvenirs, pas d’histoire, pas de roman.« (Gérard Genette)

Die Photographie taucht in der Recherche nicht nur als Medium, sondern auch als Metapher auf. Bisher ging es um photographische Figuren, die für ungewöhnliche Wahrnehmungsarten des autobiographischen Subjektes stehen. Im Roman Prousts findet sich darüber hinaus eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Photo-Metaphern für das Phänomen Memoria. Und das würde schon viel bedeuten, wenn man daran denkt, daß die ganze Recherche (der Inszenierung Prousts zufolge) auf dem Vermögen der Erinnerung basiert: Die autobiographische Erinnerung entfaltet sich nicht nur, indem sie auf dieses technische Bildmedium bezugnimmt, sondern auch, indem sie sich selbst mit diesem Medium metaphorisch vergleicht. Von der griechischen Antike bis in die heutigen Tage hinein sind es immer wieder Medien, die metaphorisiert worden sind, um den Mechanismus von Gedächtnis und Erinnerung zu erklären: Wachstafel, Magazin, Tempel, Buch, Theater, Bibliothek, Palimpsest, Photographie, Phonographie, Kinematographie, Computer u.a. haben in diesem Kontext meta-

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phorische Bedeutung erlangt.82 Das Funktionieren von Gedächtnis und Erinnerung verständlicher zu machen, ist sicherlich auch die Aufgabe der photographischen Metaphern in der Recherche. Weil sie jedoch die Memoria-Praxis des Ich-Erzählers in unterschiedlichen Situationen angehen, sind sie überhaupt nicht eindeutig. Es kann sogar, wie sich noch zeigen wird, geschehen, daß sie – zumindest auf den ersten Blick – eine je nach dem Kontext gegensätzliche Semantik aufweisen. Nur unter Berücksichtigung des Stellenwerts innerhalb der Erzählung können sie daher gemäß der ihnen eigenen Komplexität gelesen werden. Mit anderen Worten: Sie zählen zu den »diegetischen Metaphern«,83 die sich nicht auf den allgemeinen Begriff, sondern auf die metonymische Ordnung der Dinge innerhalb der Erzählung begründen. Anhand dieses Terminus unterscheidet Gérard Genette in seinem Aufsatz Métonymie chez Proust die proustsche Metaphorik von der traditionellen Metaphorik, das heißt von dem, was die klassische Rhetorik die ›Metapher‹ nennt.84 Es gilt dementsprechend, im folgenden metaphorische und metonymische Verschiebungen in Rechnung zu stellen. 82 | Vgl. hierzu Harald Weinrich 1964, Aleida Assmann 1996, Douwe Draaisma 1999. 83 | Gérard Genette 1972, S. 47f. 84 | In den »diegetischen Metaphern« wird die Wahl der Bilder durch ein Kontiguität-Verhältnis motiviert, das der Erzählkontext konstruiert. Was also Prousts photographische Metaphern für Gedächtnis und Erinnerung anbelangt, gehören sowohl der Kontext im engen Sinne als auch einzelne Photographie-Episoden innerhalb der Recherche zur Basis der Metaphorik. Und in diesen Episoden fungiert die Photographie, wofür die Aufnahme der Großmutter charakteristisch ist, eben als Gedächtnismedium, das sich also wiederum metonymisch zu Gedächtnis und Erinnerung verhält. Sie ist daher für das Erinnerungswerk Prousts Metapher und Medium (das Nicht-Metaphorische schlechthin) bzw. Metonymie zugleich. Ohne diese fast unüberschaubare Kette der innerhalb des Romans hergestellten Beziehungen würden auch Prousts photographische Metaphern zu jener rhetorischen Figur erstarren, die aufgrund des Prinzips der Ähnlichkeit auf den allgemeinen Begriff der Photographie als außer-textuelle Referenz verweist. Zur Metonymie bei Proust vgl. auch Paul de Man 1988. Serge Doubrovsky (1980) hebt dagegen aus der psychoanalytischen Perspektive die Bedeutung der Metapher in der Recherche hervor. Zur weiteren Debatte über die »Metapher« vgl. Anselm Haverkamp 1983, Anselm Haverkamp 1998 und Jacques Derrida 1999, S. 229-290.

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Als Eingang ins Problemfeld wird eine Passage aus dem zweiten Teil des Bandes Im Schatten junger Mädchenblüte ausgewählt. Dort wird eine eigenartige Funktionsweise des Gedächtnisses anhand der Photographie metaphorisiert. Es liegt auf der Hand, daß diese Passage in gewisser Hinsicht an die schon erörterte Figur der Trickaufnahme anknüpft. Stand dort die photographische Figur für die Divergenz der wahrgenommenen Albertine, steht sie hier für ihre Disparität in der »Erinnerung«. Es sind photographische Figuren, die die divergierende Wahrnehmung und das disparate Gedächtnis im Ausnahmezustand der Liebe konsequent zum Ausdruck bringen: Da außerdem die Erinnerung sogleich beginnt, Aufnahmen herzustellen, die unabhängig voneinander bestehen, und jede Verbindung, jede fortschreitende Ordnung zwischen den vorgestellten Szenen zu verhindern weiß, hebt innerhalb der Sammlung, die sie uns vorlegt, die letzte nicht notwendigerweise die vorhergehenden auf. Gegenüber der unbedeutenden und rührenden Albertine, mit der ich gesprochen hatte, sah ich die geheimnisvolle vor dem Meer als Hintergrund. (II, 646) 85

Die Eigentümlichkeit der »mémoire«,86 die den Ich-Erzähler verwundert, liegt darin, daß sie ohne Anteil des Bewußtseins selbständig funktioniert. 85 | Im Original heißt es: »Et puis comme la mémoire commence tout de suite à prendre des clichés indépendants les uns des autres, supprime tout lien, tout progrès, entre les scènes qui y sont figurées, dans la collection de ceux qu’elle expose, le dernier ne détruit pas forcément les précédents. En face de la médiocre et touchante Albertine à qui j’avais parlé, je voyais la mystérieuse Albertine en face de la mer.« (Marcel Proust 1987-1989, Bd. II, S. 230) 86 | Vgl. Marcel Proust 1987-1989, Bd. II, S. 230. Eva Rechel-Mertens’ Übersetzung, auf die sich auch die neue Frankfurter Ausgabe beruft, gibt die mémoire bei Proust je nach dem Kontext entweder als Gedächtnis oder als Erinnerung wieder. Wie die üblich gewordene Übersetzung der »mémoire involontaire« als »unwillkürliche Erinnerung« schon besagt, weigert sich Prousts Begriff der mémoire, einfach durch das deutsche Wort »Gedächtnis« wiedergegeben zu werden, wobei für die zitierte Stelle die Übersetzung durch »Gedächtnis« angemessener zu sein scheint. Dieser Schwierigkeit in der deutschsprachigen Übersetzungspraxis der Recherche entspricht genau die »Doppelheit« des Phänomens Memoria. Diesbezüglich orientiert sich unsere Terminologie an Aleida Assmanns Aufsatz Zur

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Das Bewußtsein ist dem Gedächtnis gegenüber überhaupt nicht souverän, insofern es keinen Einfluß auf die Arbeit des Gedächtnisses ausüben kann. Es nimmt umgekehrt sogar bloß hin, was das Gedächtnis auf diese Weise herstellt. Es ist diese Passivität des Bewußtseins gegenüber dem Gedächtnis, die verursacht, daß das Bewußtsein angesichts der Gedächtnisbilder weder (ihr) System noch (ihre) Ordnung vorfindet. Diese Bilder sind also so beschaffen, daß sie dem Bewußtsein zusammenhangslos erscheinen.87 Die mit der Photographie verglichene Eigenständigkeit der Gedächtnisfunktion wird dann auch im nächsten Zitat aus der Wiedergefundenen Zeit vorausgesetzt. Aber sie hat nun nichts mehr mit dem liebenden Subjekt zu tun. Hier wird sie bemerkenswerterweise in Zusammenhang mit der Unterscheidung von willkürlicher und unwillkürlicher Erinnerung gebracht: Ich versuchte jetzt aus meinem Gedächtnis andere Momentaufnahmen hervorzuholen, besonders Momentaufnahmen, die es in Venedig aufgenommen hatte, doch schon dieses Wort allein ließ mir die Stadt langweilig erscheinen wie eine Ausstellung von Photographien. (VII, 256)

Es geht um das Gedächtnis, das photographiert. Und die willkürliche Erinnerung, die der Erzähler durch das eigene Bewußtsein anstellt, ist das Anschauen der Photos, die das Gedächtnis »aufgenommen hatte«. Wenn es darum geht, daß das Bewußtsein die Gedächtnisbilder willentlich »hervorzuholen« hat, das heißt, über sie verfügen soll, ist dies erst unter der Bedingung möglich, daß das Gedächtnis vorher unabhängig vom Bewußtsein gearbeitet hat. Deshalb ist das Ich als Instanz des Urteils mit den Gedächtnisbildern gar nicht unmittelbar verbunden. Folglich ist es fast unMetaphorik der Erinnerung: Die Autorin schlägt vor, »statt ›Gedächtnis und Erinnerung‹ als Begriffsopposition zu definieren«, »sie vielmehr als Begriffspaar, als komplementäre Aspekte eines Zusammenhangs« aufzufassen. Aleida Assmann 1996, S. 17. Vgl. auch Nicolas Pethes/Jens Ruchatz 2001. 87 | In demselben Band findet sich noch eine weitere photographische Metapher. Sie markiert wieder die eigenständige Gedächtnisarbeit, die das liebende Subjekt verwundert. Etwa 20 Seiten nach dem letzten Zitat heißt es: »Unser Gedächtnis gleicht den Geschäften, die im Schaufenster einmal die eine und einmal die andere Photographie der gleichen Person ausstellen. Gewöhnlich bleibt dann für einige Zeit nur die letzte im Blickfeld der Betrachtung.« (II, 668)

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vermeidlich, daß ihm die Bilder des Gedächtnisses langweilig erscheinen. Diese Passage befindet sich nur eine Seite vor der berühmten Szene auf dem Hof des Palais der Guermantes, in der den Erzähler beim Stolpern über unebene Pflastersteine eine ähnlich intensive, unwillkürliche Erinnerung heimsucht wie beim Schmecken der Madeleine. Somit wird auch im letzten Band des Romans jene Gegenüberstellung von Photographie und Erinnerung wiederholt, die schon die Arrhythmien des Herzens demonstrieren.88 Daß Proust in der oben zitierten Passage die Photographie und die damit gleichgesetzte mémoire volontaire herabsetzt, bedeutet keineswegs, daß er die Bedeutung dieses Gedächtnismediums geringschätzt, wie Susan Sontag annimmt.89 Spricht doch Proust von der mémoire volontaire sowieso immer im herabsetzenden Ton. Denn seine poetologischen Strategien sind darauf aus, den Kurs der mémoire involontaire zu steigern. Das Entscheidende ist vielmehr das folgende: Die eigenständige Gedächtnisfunktion, die mit der Photographie verglichen wird, ist nichts anderes als ein notwendiges Erfordernis für die mémoire involontaire. Daß das Gedächtnis unabhängig vom Bewußtsein arbeitet, daß es sich ihm nicht ganz erschließt, daß es infolgedessen ein unbewußtes Gedächtnis gibt, ist nämlich davon untrennbar, daß das bisher nie Erinnerte plötzlich in der Erinnerung wachgerufen werden kann. Insofern eine solche Eigenständigkeit der Gedächtnisarbeit bei Proust mit einer photographischen Metaphorik assoziiert wird, kann es nicht verwundern, daß die Photographie auch mit dem Konzept der mémoire involontaire in Beziehung tritt. Und dies belegt in der Tat das nächste Zitat, das sich nur etwa 50 Seiten nach dem letzten Zitat findet. Inzwischen, das heißt im Raum dieser 50 Seiten, fanden in der Bibliothek der Princesse de Guermantes letzte Offenbarungen der mémoire involontaire statt, aus denen der Erzähler nun die Bilanz zu ziehen versucht. Die folgende Passage, in der der Erzähler aus der Position des 88 | Und eine Seite nach der Szene auf dem Hof des Palais findet sich die folgende Passage, in der diese Gegenüberstellung nochmals unterstrichen wird: »Hasche mich, wenn du die Kraft in dir hast, und versuche das Rätsel des Glücks, das ich dir aufgebe, zu lösen. Und beinahe gleichzeitig erkannte ich sie: Es war Venedig, über das mir die Bemühungen, es zu beschreiben, und die sogenannten Momentaufnahmen meines Gedächtnisses nie irgend etwas hatten sagen könnten.« (VII, 259) 89 | Susan Sontag 1980, S. 156.

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Erleuchteten spricht, zeigt in aller Deutlichkeit: Die Photographie ist imstande, nicht nur die willkürliche Erinnerung, sondern zumindest auch einen der wichtigsten Aspekte der unwillkürlichen Erinnerung zu metaphorisieren: Das wahre Leben, das endlich entdeckte und erhellte, das einzige infolgedessen von uns wahrhaft gelebte Leben ist die Literatur: jenes Leben, das in gewissem Sinn jederzeit allen Menschen so gut wie dem Künstler innewohnt. Sie sehen es aber nicht, weil sie es nicht zu erhellen versuchen. Infolgedessen ist ihre Vergangenheit von unzähligen Photonegativen angefüllt, die ganz ungenutzt bleiben, da der Verstand sie nicht »entwickelt« hat. Unser Leben; und auch das Leben der anderen; denn der Stil ist für den Schriftsteller wie die Farbe für den Maler nicht eine Frage der Technik, sondern der Anschauung. Er bedeutete die durch direkte und bewußte Mittel unmöglich zu erlangende Offenbarung der qualitativen Verschiedenheit der Weise, wie uns die Welt erscheint, einer Verschiedenheit, die ohne die Kunst das ewige Geheimnis jedes einzelnen bliebe. (VII, 301)

In dieser höchst bedeutsamen Passage läßt sich noch einmal eine Kontinuität der Metaphorik bei Proust feststellen: Das Dasein wird gleichsam von einer Kamera mit einem pausenlos arbeitenden Selbstauslöser begleitet. Der Verstand allein, mithin der moderne Bürger, kann jedoch über diese latenten Gedächtnisbilder nie ganz verfügen. Nur der Künstler bzw. sein paradoxer »unwillkürlicher Verstand«90 vermag diese »unzähligen Photonegative« zu »entwickeln«. Keine andere Passage als diese zeigt expliziter die grundlegende Wende der Autobiographik bei Proust, die Manfred Schneider in die prägnate Formel brachte: »Herzensphotos statt Herzensschrift«.91 Und eine Seite später heißt es noch einmal: Gewiß, was ich in jenen Stunden der Liebe empfunden hatte, empfinden alle anderen Menschen auch. Man empfindet etwas, doch was man empfunden hat, gleicht gewissen Negativen, die nur schwarz wirken, solange man sie nicht in die Nähe einer Lampe bringt, und die man auch von der Rückseite ansehen muß; man weiß nicht, was es ist, solange man es nicht dem Licht des Verstandes nähert. (VII, 302f.)

90 | Gilles Deleuze 1993a, S. 81. 91 | Manfred Schneider 1986, S. 103.

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Bei beiden Photographie-Metaphern, die fast unmittelbar nach der letzten Erfahrung der unwillkürlichen Erinnerung im Roman auftauchen, geht es nicht mehr um photographische Bilder als fertige Produkte, sondern um latente Gedächtnisbilder, die auf die »Zeit der Entwicklung« warten. Die Analyse der Trauer-Szene der Arrhythmien des Herzens führte zum Befund, daß das Gedächtnismedium Photographie und die plötzliche Erinnerung einerseits kontrastiert, andererseits kontaminiert erscheinen. Diese Paradoxie wiederholt sich in der Wiedergefundenen Zeit: Die Photographie wird einerseits als Metapher der willkürlichen Erinnerung durch den syntaktischen Zusammenhang nahezu ostentativ in Opposition zur unwillkürlichen Erinnerung gesetzt. Gleich danach tritt sie aber andererseits in eine wesentliche Beziehung zu der unwillkürlichen Erinnerung: Die photonegative Latenz in Hinsicht auf die spätere Entwicklung metaphorisiert die Virtualität des unbewußten Gedächtnisses, die die Bedingung für die Möglichkeit der mémoire involontaire darstellt. Und diesen Paradoxien liegt, wie gesagt, die Eigenständigkeit der Gedächtnisarbeit zugrunde. Die autonome Gedächtnisfunktion verwundert und irritiert den Erzähler als liebendes Subjekt, langweilt ihn als Erinnerungssubjekt. Aber von ihr allein hängt es ab, daß es so viele negative »Herzensphotos« gibt. Sieht der Erzähler nun nach der letzten Erleuchtung der mémoire involontaire die Aufgabe des kommenden Schreibens und der zukünftigen Literatur in der Entwicklung jener Negative, dann stellt dieses Photographische den Schauplatz der Recherche überhaupt dar. Aus dem erinnerungspoetologischen Konzept der »Herzensphotos«, das Prousts Autobiographik zugrundeliegt, kann eine weitere Konsequenz gezogen werden. Wenn die mémoire involontaire diesen unbewußten Gedächtnisbildern entspringt, dann ist es ganz logisch, daß sie mit der Sammlung des autobiographischen Erinnerungssubjekts nichts zu tun hat. Darauf weist bereits Samuel Beckett in seinem Proust-Essay hin: Genaugenommen können wir uns nur an das erinnern, was durch unsere äußerste Unaufmerksamkeit registriert und in jenem fernsten und unzugänglichen Verlies unseres Seins aufbewahrt worden ist, zu dem die Gewohnheit den Schlüssel nicht besitzt und ihn auch nicht braucht. 92 92 | Samuel Beckett 2001, S. 27. Zum Verhältnis Becketts zu Proust vgl. HansHagen Hildebrandt 1980. Zur Ästhetik der Zerstreuung bei Beckett vgl. Peter Risthaus 2006.

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Die »äußerste Unaufmerksamkeit«, die das genaue Gegenteil zur Sammlung als unermüdlicher Arbeit des Bewußtseins darstellt und dem Vergessen zum Verwechseln nah ist, organisiert den Raum der Gedächtnisse. Daher ist es auch keineswegs ein Zufall, daß sich dieser Raum nur in den Augenblicken erschließt, in denen sich das Subjekt in einem zerstreuten Zustand befindet: z.B. beim Schmecken der in Tee getauchten Madeleine, beim Bücken zum Ausziehen der Schuhe oder beim Stolpern auf unebenen Pflastersteinen. So heißt es in der Wiedergefundenen Zeit: Versunken noch in die trübseligen Gedanken […], war ich in den Hof des Guermantesschen Palais eingetreten und hatte in meiner Zerstreuung nicht bemerkt, daß ein Wagen sich näherte; beim Ruf des Chauffeurs hatte ich gerade noch Zeit, rasch zur Seite zu springen. Ich wich so weit zurück, daß ich unwillkürlich auf die ziemlich schlecht behauenen Pflastersteine trat, hinter denen eine Remise lag. In dem Augenblick aber, als ich wieder Halt fand und meinen Fuß auf einen Stein setzte, der etwas weniger hoch war als der vorige, schwand meine ganze Mutlosigkeit vor dem gleichen Glücksgefühl, das mir zu verschiedenen Epochen meines Lebens einmal der Anblick von Bäumen geschenkt hatte, die ich auf einer Wagenfahrt in der Nähe von Balbec wiederzuerkennen gemeint hatte, ein andermal der Anblick der Kirchentürme von Martinville oder der Geschmack einer Madeleine, die in Tee getaucht war, sowie noch viele andere Empfindungen, von denen ich gesprochen habe und die mir in den letzten Werken Vinteuils zu einer Synthese miteinander verschmolzen schienen. (VII, 257f.)

Zur Galerie der kostbarsten Augenblicke in seinem Leben kommt der Erzähler dank eines Zwischenfalls, der der »Zerstreuung« folgt. Erst durch die Geistesabwesenheit und den damit zusammenhängenden Verlust des körperlichen Gleichgewichts erschließt sich die geheime Organisation der fragmentarischen Lebensaugenblicke: Von der Zerstreutheit des Bewußtseins wachgerufen, tauchen nun unter dem Zeichen des »Glücksgefühls« verschiedene momentane, aber intensive Eindrücke auf, deren »Synthese« die Kunst zu sein scheint.93 Wenn die Erzählung des Romans im ganzen 93 | Allerdings dürfte es nicht um die kantsche Synthese durch reine Verstandesbegriffe, nicht um die »Synthese eines Mannigfaltigen« an der Wahrnehmung gehen. Denn in Vinteuils testamentarischem Werk, in seinem Septett hatte der Erzähler nichts anderes als die Ahnung von der »Welt der Unterschiede« jenseits von angleichender Wahrnehmung vernommen: »Wie die Welt der Unterschie-

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nur darin konsequent ist, Linien des unablässigen Abgelenkt-Seins des Ich-Erzählers von seinem eigentlichen Beruf nachzuzeichnen, dann ist diese narrative Struktur innig mit der Erinnerungsästhetik Prousts verbunden; sie holt Schätze der Mnemosyne durch die Hintertür ans Licht, die nicht durch die Augen des Bewußtseins überwacht werden. Der Name der Hintertür ist Zerstreuung.

1.6 D IE MÉMOIRE INVOLONTAIRE ALS W IEDERHOLUNG »Denn hier spielt für den erinnernden Autor die Hauptrolle gar nicht, was er erlebt hat, sondern das Weben seiner Erinnerung, die Penelopearbeit des Eingedenkens.« (Walter Benjamin)

Walter Benjamin schreibt in seinem Pariser Tagebuch, daß Freuds Jenseits des Lustprinzips von 1925 als der »grundlegende Proust-Kommentar« zu lesen sei.94 Der Autor der Berliner Kindheit um neunzehnhundert hatte also bereits am Anfang der 1930er Jahre die Idee, daß die psychoanalytische Hypothese der systematischen Unverträglichkeit von Gedächtnis und Bewußtsein auch für die autobiographische Erinnerungspoetik der Recherche Geltung beanspruchen könne. Und in der Tat handelte Benjamin in seinem Aufsatz Über einige Motive bei Baudelaire von 1939 Prousts Erinnerungspoetik anhand von Freuds Gedächtnistheorie ab.95 Es gilt nun, diesen im Pariser Tagebuch notierten Einfall ernstzunehmen und ihn von de inmitten aller Länder, die unsere Wahrnehmung einander angleicht, auf der Erdoberfläche nicht existiert, existiert sie erst recht nicht in der Welt der Gesellschaft. Existiert sie im übrigen überhaupt irgendwo? Vinteuils Septett schien diese Frage für mich bejaht zu haben.« (V, 394) Bei der synthetischen Kunst geht es vielmehr um das, was Gilles Deleuze als die »Transversalität« in Prousts Werk bezeichnet, nämlich um Resonanzen des Unkommunizierbaren. Gilles Deleuze 1993a, S. 134. 94 | Walter Benjamin 1972, Bd. IV, S. 580. 95 | Walter Benjamin 1972, Bd. I, S. 605-653. Verwiesen sei unsererseits auf die folgende Stelle aus Sodom und Gomorrha: »Wir behalten alle unsere Erinnerungen, wenn auch nicht die Fähigkeit, sie uns zurückzurufen, sagt in Anlehnung

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unserem Kontext her weiter zu entfalten. Denn seit Jacques Derridas Aufsatz Freud und der Schauplatz der Schrift und der daran anschließenden Arbeit von Sarah Kofman weiß man, daß sich auch Freud mehr als einmal der photographischen Metaphorik bedient, um die nur schwer zu fassende Bewußtwerdung des Unbewußten zu erklären.96 Funktionieren Freuds Schriften dann auch bezüglich der Photographie-Metapher als »grundlegender Proust-Kommentar«? Es ist dabei bemerkenswert, daß weniger das photographische Bild selbst als vielmehr dessen Entwicklungsprozeß dem Psychoanalytiker, genauso wie dem Autor der Recherche, das Denkmodell der eigentümlichen, das heißt von dem Bewußtsein unabhängigen Erinnerungsarbeit liefert. Als konkretes Beispiel läßt sich die folgende Stelle in Der Mann Moses und die monotheistische Religion anführen. Im Kapitel über die »Wiederkehr des Verdrängten« heißt es: Daß »die stärkste zwangsartige Beeinflussung von jenen Eindrücken herrührt, die das Kind zu einer Zeit treffen, da wir seinen psychischen Apparat für noch nicht vollkommen aufnahmefähig halten müssen«, sei verständlich »durch den Vergleich mit einer photographischen Aufnahme […], die nach einem beliebigen Aufschub entwickelt und in ein Bild verwandelt werden mag«.97 Was vom Kind nicht verstanden, aber aufgenommen wurde, kehrt zu irgendeiner späteren Zeit wieder. Um von der nachträglichen Arbeit des psychischen Apparates, durch die ein unbewußt aufgenommenes Kindererlebnis »zwangsartig« wiederkehrt, eine anschauliche Schilderung zu geben, bedient sich Freud des Modells der photographischen Entwicklung.98 Denn das Photo-Negativ bleibt ebenfalls ohne die nachträgliche Arbeit in der Dunkelkammer nichts anderes als an Bergson der große norwegische Philosoph […]: aber was ist schon eine Erinnerung, die man sich nicht zurückrufen kann?« (IV, 563) 96 | Jacques Derrida 1976, S. 329f. und Sarah Kofman 2002. 97 | Sigmund Freud 1999, Bd. XVI, S. 234. 98 | Ein anderes Beispiel findet sich in Einige Bemerkungen über den Begriff des Unbewußten in der Psychoanalyse von 1913: »Eine grobe, aber ziemlich angemessene Analogie dieses supponierten Verhältnisses der bewußten Tätigkeit zur unbewußten bietet das Gebiet der gewöhnlichen Photographie. Das erste Stadium der Photographie ist das Negativ; jedes photographische Bild muß den ›Negativprozeß‹ durchmachen, und einige dieser Negative, die in der Prüfung gut bestanden haben, werden zu einem ›Positivprozeß‹ zugelassen, der mit dem Bild endigt.« Sigmund Freud 1999, Bd. VIII, S. 436.

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ein schwarzes, verkehrtes Gedächtnisindiz bzw. ein unbewußtes Gedächtnisbild. Dies impliziert dabei, daß der Übergang vom Negativ zum Positiv nicht einen immer schon gegebenen Gedächtnisinhalt wachruft, sondern eine Erinnerung hervorbringt, die als solche nie existiert hat. Wenn das für die Funktionsweise des psychischen Apparates auch zutrifft, dann muß eben der psychischen Nachträglichkeit die entscheidende Bedeutung für die zwangsartige Wiederkehr des Kindererlebnisses zukommen. Die von der Romantik noch mythologisierte Ursprünglichkeit der Kindheit wird folglich in Frage gestellt. »Es gibt«, so kommentiert Sarah Kofman in ihrem Aufsatz Freud – Der Fotoapparat, »den Wiederholungszwang, weil der volle Sinn nie vorhanden war. Die Wiederholung ist ursprünglich.«99 Die Wiederholung darf nicht mehr als nur so etwas wie eine Kopie verstanden werden. Statt das Selbe wiederkehren zu lassen, bringt die Wiederholung Differenz hervor.100 So betrachtet, fordert die psychoanalytische Gedächtnistheorie mit dem photographischen Modell dazu auf, an den Wiederholungscharakter der mémorie involontaire zu denken: An die berühmteste der unwillkürli99 | Sarah Kofman 2002, S. 65. Vgl. hierzu auch Jacques Derrida 1976, S. 302-350. 100 | Kofmans Freud-Lektüre gehört zu jenen theoretischen Ansätzen, die insbesondere im Rekurs auf Kierkegaard, Nietzsche und Freud eine fundamentale Umwertung des Wiederholungsbegriffes unternehmen. In unserem Kontext ist vor allem Gilles Deleuzes Denken relevant: Er ist nicht nur der Autor der Monographie Proust und die Zeichen, auf die sich die vorliegende Untersuchung mehrfach beruft. Auch in seinem philosophischen Hauptwerk Differenz und Wiederholung (1968) faßt er die Recherche als eine der wichtigen Referenzen ins Auge. Deleuze konstatiert dabei in der abendländischen Philosophie seit Platon wieder und wieder eine Unterwerfung der Wiederholung unter das Identitätsprinzip, die mit dem Begriff der materiellen Wiederholung, in der das Selbe sich wiederholt, einhergeht. Demgegenüber konzipiert er eine Philosophie der tieferreichenden Wiederholung, nämlich der Wiederholung der Differenz, als deren Effekt die materielle Wiederholung angesehen wird. In dieser tiefergreifenden Wiederholung, die Deleuze in Nietzsches Philosophie gipfeln sieht, geht es um »exzessive Systeme, die das Differente ans Differente binden, das Viele ans Viele, das Zufällige ans Zufällige«. Gilles Deleuze 1997, S. 153. Vgl. zur Unterscheidung von zwei Wiederholungstypen S. 37ff. Allerdings weist Deleuze nicht selten auf Freuds Hang zur negativen unproduktiven Interpretation der Wiederholung hin. Vgl. zu seiner Kritik an Freud und zur Umschreibung der Theorie des Unbewußten S. 31f., 130ff.

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chen Erinnerungen, ausgelöst durch die in eine Tasse Tee getauchte Madeleine, schließen sich mehrere vergleichbare Erfahrungen an: Anlässe stiften so der Anblick der drei Bäume in der Nähe von Balbec, das Vernehmen der petite phrase von Vinteuil, das Bücken zum Öffnen seiner Schuhe, bis schließlich in der Wiedergefundenen Zeit durch unebene Pflastersteine im Hof des Palais de Guermantes unwillentlich eine intensive Erinnerung an Venedig provoziert wird. Gleich danach ereignet sich zudem in der Bibliothek der Princesse de Guermantes – wieder anläßlich zufälliger Begegnungen mit unscheinbaren Dingen wie einem Löffel und einem Teller, einer Serviette, einem Exemplar von George Sands François le Champi – eine unwillkürliche Erinnerung nach der anderen. Diese wie Meereswellen aufeinanderfolgenden Erinnerungen bringen dem Erzähler seinen Glauben an die Literatur zurück und machen ihm seine Berufung zum Schriftsteller deutlich. Anders als bei dem von Freud beobachteten Wiederholungszwang dreht sich Prousts unwillkürliche Erinnerung nicht um eine einzige traumatische Erfahrung. Aber genau wie bei den psychoanalytischen Fällen kehrt die unwillkürliche Erinnerung unabhängig vom Bewußtsein mehrmals wieder, ohne das ihr eigene Geheimnis zu verraten: Bis zum letzten Augenblick der Wiedergefundenen Zeit bleibt die Botschaft des unwillkürlichen Gedächtnisses unklar, seine Sprache unentzifferbar, sein Ort unlokalisierbar. Darüber hinaus ist, wenn man auf den zweiten, mit dem psychoanalytischen Wiederholungsphänomen gemeinsamen Aspekt hinweist, die Wiederholung der mémoire involontaire auch eine ursprüngliche im Sinne Sarah Kofmans: Combray wird zum Beispiel nicht erinnert, wie es gewesen ist. Sowohl Gilles Deleuze als auch Gérard Genette haben darauf aufmerksam gemacht: Während der Geschmack der Madeleine mit Combray als Ort der Kindheit nur metonymisch verbunden ist, umfaßt er in der mémoire involontaire den ganzen Lebenszusammenhang Combrays.101 Erst 101 | Gilles Deleuze 1993a, S. 51. Gérard Genette 1972, S. 57f.: »le vrai miracle proustien, ce n’est pas qu’une madeleine trempée dans du thé ait le même goût qu’une autre madeleine trempée dans du thé, et en réveille le souvenir; c’est plutôt que cette seconde madeleine ressuscite avec elle une chambre, une maison, une ville entière, et que ce lieu ancien puisse, l’espace d’une seconde, ›ébranler la solidité‹ du lieu actuel, forcer ses portes et faire vaciller ses meubles. Or, il se trouve que c’est ce miracle-là […] qui fond, disons mieux, qui constitue l’ ›immense édifice‹ du récit proustien.«

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die unwillkürliche Erinnerung als Wiederholung konstruiert den vollen Sinn Combrays, den es nie gegeben hat. So ist Proust mit Freud nicht nur darin einig, die photographische Entwicklung als Metapher für die Erinnerung zu verwenden, sondern auch darin, die Erinnerung als Wiederholung zu denken.102 Andererseits werden, indem wir die Erinnerungsästhetik der Recherche auf die psychoanalytische Theoretisierung des Gedächtnisses beziehen, auch Unterschiede auffällig. Bei Proust ist die Wiederholung kein psychischer Zwang. Die unwillkürliche Erinnerung als Wiederholung bringt, ganz im Gegenteil, jeweils mit sich eine außergewöhnliche, überirdische Freude. In dieser Hinsicht steht Proust einem anderen Theoretiker der Wiederholung bzw. einem experimentierfreudigen »Meister der Wiederholung«103 näher: Sören Kierkegaard, der 1843 Die Wiederholung – Ein Versuch in der experimentierenden Psychologie veröffentlichte. Er plädiert dort dafür, die Wiederholung als »moderne« bzw. »neue Kategorie«104 zu entdecken, um sie der antiken Konzeption der Erinnerung entgegenzustellen. Es gilt, die Wiederholung als Erinnerung »in entgegengesetzter Richtung« zu begreifen und diese Erinnerung »in Richtung nach vorn«105 für eine Philosophie der Zukunft zu gewinnen. Das führt dazu, daß das, was im geschichtsphilosophischen Denken Hegels als Erinnerung verstanden wird, nämlich die Vermittlung von der Position der Eule der Minerva her, durch die Kategorie der Wiederholung ersetzt wird. Die Wiederholung, wie sie in Kierkegaards Text aus einem Experiment nach dem anderen mit der Wiederholung hervorbricht, ist ein augenblicklicher Sprung, der ohne vermittelnde Arbeit des Begriffs vollzogen werden muß, damit die Existenz ihre eigene Grenze überschreite. Was Kierkegaard unter dem bedeutsam repetitiven Pseudonym Constantin Constantius als ein immer wieder 102 | Wenn man diesen Wiederholungscharakter der unwillkürlichen Erinnerung nicht sieht, der aus sich heraus die Differenz produziert, dann reduziert man sie auf »den Anachronismus einer um 1900 entstandenen poetologischen Reflexion […], die Erinnerung als Überwindung von Diskontinuität feiert […], dabei aber noch hinter Hegel zurückfällt in eine romantische Tiefenmetaphorik, die ihr Allgemeines nur in pseudoreligiöser Begrifflichkeit formulieren kann«. Rainer Warning 1993, S. 165. 103 | Gilles Deleuze 1997, S. 128. 104 | Sören Kierkegaard 1955, S. 21f. 105 | Ebd., S. 3.

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von neuem beginnendes Abenteuer der Wiederholung inszeniert, ist also eine singuläre Bewegung der Ausnahme, die der begrifflich vermittelten Allgemeinheit des dialektischen Denkens widersteht. Genauso ist die unwillkürliche Erinnerung die abenteuerliche Wiederholung im Augenblick. Bei Proust wird der Gegensatz von unbewußtem Gedächtnis und gedächtnislosem Bewußtsein keineswegs durch die Vermittlung des Begriffs dialektisch versöhnt. Die Wiederkehr der unwillkürlichen Erinnerung ist vollkommen asymmetrisch. Die unwillkürliche Erinnerung kehrt dem Bewußtsein dermaßen unvermittelt, plötzlich und ohne verstandesmäßig erkennbare Gründe wieder, daß nur die religiöse Metapher der »Offenbarung« (VII, 301) seine Glückseligkeit zum Ausdruck bringen kann. Der taumelnde Exzeß des Glücksgefühls, der die unwillkürliche Erinnerung begleitet, ist also die Freude an der blitzartigen Wiederkehr im Jenseits des Begriffs. Was sich als derartige Offenbarung wiederholt, ist die Differenz, die sich niemals dem Prinzip der Repräsentation unterwirft. Die Repräsentation gibt ein immer schon gegebenes Gedächtnis wieder, indem sie Vergangenheit und Gegenwart unter der Kategorie der Ähnlichkeit oder Identität vermittelt. Von dieser Vermittlung im Dienst der Identität befreit, kommt die unwillkürliche Erinnerung als die nicht reduzierbare Differenz wieder, die einzig in sich selbst ihren Grund hat. Die Differenz und der Bezug des Differenten auf das Differente verallgemeinern sich. Deshalb taucht nicht nur das so glanzvolle Combray auf, das so niemals gegeben war, sondern im intensivsten Augenblick der Wiedergefundenen Zeit sind auch der »Stil«, die Vision des Schriftstellers und die »qualitative Verschiedenheit« der Welt in einem Atemzug mit gegeben. Im Hinblick auf diese Gabe des Augenblicks vergleicht Manfred Schneider die Recherche mit den Bekenntnissen des Augustinus: Liest Augustinus die aufs Geratewohl aufgeschlagene Seite der Bibel, dann geht ihm Gottes Wahrheit auf einmal auf. In der Bibliothek der Princesse de Guermantes bringt dagegen die unwillkürliche Erinnerung Marcel den Glauben an die Literatur zurück. 106 Allerdings handelt es sich offensichtlich nicht mehr um die realistische Literatur des 19. Jahrhunderts, die angeblich die Wirklichkeit so repräsentiert, wie sie wirklich ist. Wie gründlich die »bloß aufzeichnende Literatur« den Ich-Erzähler enttäuscht, so daß er an der Möglichkeit der Literatur überhaupt zu zweifeln anfängt, wird am Anfang der Wiedergefundenen Zeit 106 | Vgl. Manfred Schneider 1997, S. 128f.

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durch das großartige Pastiche zum Tagebuch der Brüder Goncourt demonstriert.107 Statt dessen setzt nun der erleuchtete Erzähler auf eine Literatur an, die die Differenz von innen heraus hervorbringt: Wie könnte die bloß aufzeichnende Literatur irgendeinen Wert haben, wo doch die Wirklichkeit sich gerade unter solchen kleinen Dingen, wie sie sie notiert, verbirgt (Größe in dem fernen Geräusch eines Aeroplans oder in der Linienführung des Kirchturms von Saint-Hilaire, die Vergangenheit im Geschmack einer Madeleine usw.), jene aber an sich ohne Bedeutung bleiben, solange man diese Wirklichkeit nicht aus ihnen herauslöst?« (VII, 300)

Wenn man diese Zeilen zusammen mit dem Konzept der »Herzensphotos« liest, dann läßt sich das Programm der Literatur, zu dem der Erzähler erst dank der Offenbarung der mémoire involontaire vorstößt, so resümieren: Materialien für die zu schreibende Literatur sind zwar schon überall da, aber ihre Aufzeichnung reicht nicht aus. Denn die Materialien bleiben »an sich ohne Bedeutung«, bis ihre Latenz und Virtualität aufgedeckt wird. Beim Schreiben gilt es, aus dem negativen Zustand das Positiv zu entwikkeln, das heißt, durch die Wiederholung hindurch die Ordnung der Dinge offenzulegen. Das ist eben die Herauslösung der »Wirklichkeit« aus den immer schon gegebenen Materialien. Das »Wiederfinden« als im Titel des letzten Bandes der Recherche implizierter Bezug auf die Wiederholung ist so zu verstehen. Und mit diesem Programm ist eine Definition der neuen Autobiographik Prousts auch schon gegeben. Sie verabschiedet sich systematisch von der Repräsentation; damit zugleich vom Realismus, von der Wiedergabe der Lebensgeschichte, von der willkürlichen Erinnerung und der Photographie im Sinne des ästhetischen Diskurses des 19. Jahrhunderts. Dadurch verschreibt sie sich nun dem Abenteuer der Wiederholung zur Entwicklung der Erinnerungsbilder, das daraus besteht, unermüdlich zu ergänzen, endlos nachzuschreiben und immer wieder umzuschreiben. Legendär ist Prousts autobiographische Praxis im Dunkel des verkorkten Pariser Zimmers. Einzig aufgrund einer solchen schreibenden Verausgabung in Nachtschichten, aufgrund der Schreibarbeit in ungezählten stillen Stunden, wo sich nach Homer auch die listenreiche Frau des Odysseus ih107 | Zum Verhältnis der Frères Goncourt zur Photographie vgl. Bernd Stiegler 2001, S. 365-372.

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rer Wiederholungsarbeit am Text/Gewebten widmete,108 gelingt Proust die Herstellung seines autobiographischen Romans, der sich nicht auf eine Einheit des Bewußtseins gründet, sondern diese umgekehrt in den textuellen Raum aus dem Gewebe von Metaphern und Metonymien zerstreut. Das Ich-Bewußtsein des autobiographischen Subjekts ist, weil es selbst diesen Textraum nicht beherrschen kann, keine Wahrheitsinstanz mehr. Das Wahre und Authentische an der proustschen Autobiographie liegt vielmehr darin, diese alte Instanz in die intensive Bewegung des Textes aufzulösen: »Das wahre Leben, das endlich entdeckte und erhellte, das einzige infolgedessen von uns wahrhaft gelebte Leben ist die Literatur.« (VII, 301)

108 | Bei Proust aber »löst der Tag auf, was die Nacht webte«. Walter Benjamin 1972, Bd. II, S. 331. Zum Verhältnis von Texttheorie und Penelope vgl. Michel Serres 1980, Manfred Schneider 1992, S. 99-109.

2. Benjamins Album der Erinnerungsbilder

2.1 K LEINE G ESCHICHTE DER P HOTOGRAPHIE ALS V ORL AGE DER A UTOBIOGR APHIE »Als Erstgeborener bin ich viel photographiert worden und es gibt also eine große Reihenfolge der Verwandlungen. Von jetzt an wird es in jedem Bild ärger […] Gleich im nächsten Bild trete ich schon als Affe meiner Eltern auf.« (Franz Kafka)

Dem autobiographischen Unternehmen Walter Benjamins geht zeitlich seine Arbeit an der Kleinen Geschichte der Photographie voraus, die im September und im Oktober 1931 in der Literarischen Welt erschien. Beinahe unmittelbar nach der Veröffentlichung des Photographie-Essays, nämlich Ende des Jahres 1931, begann Benjamin mit der Niederschrift der Berliner Chronik.1 Diese autobiographischen Aufzeichnungen, die er von April bis 1 | Zu dieser Datierung vgl. Bernd Witte 1984, S. 571f. Uwe Steiner datiert dagegen den Anfang der autobiographischen Arbeit auf Februar 1932. Vgl. Uwe Steiner 2004, S. 147. Veranlaßt wurde diese autobiographische Arbeit – darin sind Witte und Steiner sich einig – von dem im Oktober 1931 geschlossenen Vertrag mit der Literarischen Welt (!), dem zufolge Benjamin »bis März 1832 im Zeitraum je eines Vierteljahres viermal eine Berliner Chronik von je 200 bis 300 Zeilen« liefern sollte; Walter Benjamin 1972, Bd. VI, S. 799. Zu den weiteren Aspekten der Textgenese und Editionsgeschichte der Berliner Kindheit um neunzehnhundert vgl. Bernd Witte 1984 und Rolf Tiedemanns Nachwort zur Gießener Fassung der Berliner Kindheit in: Walter Benjamin 2000, S. 115-126.

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Juli 1932 auf Ibiza fortsetzte, stellen die Vorstufe zu seinem vom Herbst 1932 bis zum April 1934 und auch im Jahr 1938 erarbeiteten autobiographischen Text Berliner Kindheit um neunzehnhundert dar. Diese zeitliche Nachbarschaft legitimiert den Versuch, Benjamins Autobiographie vor dem Hintergrund seines Photographie-Essays zu lesen. Dieser Essay zeigt, daß Benjamin nicht nur einer unter vielen Photographie-Interessierten ist. Trotz ihrer Kürze traf seine Kleine Geschichte der Photographie schon Grundzüge des Photographie-Diskurses im 19. Jahrhundert, die in jüngerer Zeit etwa von Gerhard Plumpe oder von Bernd Stiegler ausführlich behandelt wurden: Benjamin sammelte und problematisierte exemplarische Reden über das neue Medium bei Antoine Wiertz, Charles Baudelaire, François Arago, Karl Dauthendey und anderen. Außerdem wurden Aussagen über die Photographie von Siegfried Kracauer, Tristan Tzara, Sascha Stone, Lazlo Moholy-Nagy, Bertolt Brecht, Alfred Döblin u.a. zitiert, um die »jüngste Photographenschule«2 darzustellen.3 Damit gelang es dem Verfasser des Essays, die Diskontinuität des photographischen Diskurses zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert hervorzuheben. Welch anderer Schriftsteller bis zu den 1930er Jahren wäre zu nennen, der sich so sachkundig und so souverän wie Benjamin in diesem Feld bewegen konnte? Nun stellt sich die Frage: Wie schreibt jemand, der sich in der Photographiegeschichte so auskennt wie Benjamin, über sich selbst? Welche Form nimmt die Berliner Kindheit um neunzehnhundert an als autobiographisches Schrifttum aus der Hand, die kurz zuvor den Aufsatz Kleine Geschichte der Photographie (und später auch Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit) schrieb?4 2 | Walter Benjamin 1972, Bd. II, S. 378. Benjamins Texte werden im folgenden aus den Gesammelten Schriften von 1972 durch Angabe des Bandes und der Seitenzahl im Text zitiert. 3 | Vgl. hierzu Rolf H. Krauss 1998, S. 14-20. 4 | Aufgrund dieser Art der Fragestellung rekurrieren wir hauptsächlich auf die sogenannte Adorno-Rexroth-Ausgabe der Berliner Kindheit um neunzehnhundert, die im IV. Band der Gesammelten Schriften enthalten ist. Wir ignorieren zwar die 1981 entdeckte und nun im Band VII abgedruckte, sogenannte Fassung letzter Hand nicht. Diese Fassung steht jedoch am Rande unseres Interesses, denn sie streicht – worauf Manfred Schneider hingewiesen hat – ganz systematisch Bezüge auf technische Bildmedien, die sich unseres Erachtens im früheren Stadium der Berliner Kindheit konstitutiv auswirkten. Die systematische Strei-

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Der relevanteste Knotenpunkt zwischen der Kleinen Geschichte der Photographie und der Berliner Kindheit findet sich in der Szene des Photoateliers um 1900. Zitiert wird hier eine Stelle im Photographie-Essay: Damals sind jene Ateliers mit ihren Draperien und Palmen, Gobelins und Staffeleien entstanden, die so zweideutig zwischen Exekution und Repräsentation, Folterkammer und Thronsaal schwankten und aus denen ein erschütterndes Zeugnis ein frühes Bildnis von Kafka bringt. Da steht in einem engen, gleichsam demütigenden, mit Postamenten überladenen Kinderanzug der ungefähr sechsjährige Knabe in einer Art von Wintergartenlandschaft. Palmenwedel starren im Hintergrund. Und als gelte es, diese gepolsterten Tropen noch stickiger und schwüler zu machen, trägt das Modell in der Linken einen unmäßig großen Hut mit breiter Krempe, wie ihn Spanier haben. Gewiß, daß es in diesem Arrangement verschwände, wenn nicht die unermeßlich traurigen Augen diese ihnen vorbestimmte Landschaft beherrschen würden. (II, 375) 5

Das Photoatelier am Jahrhundertende, das über denkbar üppige Requisiten verfügt, stellt bei Benjamin etwas ganz anderes als bei Proust zur Schau. Was dieses Theater der übermäßig inszenierten, künstlichen Natur aufführt, ist keine Metamorphose, sondern der »Verfall«6 dessen, was Benjamin die »Aura« (II, 376) nennt: Jenes »sonderbare […] Gespinst von Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie auch sein mag« (II, 378), hat in dem phantasmagorischen Inszenierungsraum des Photoateliers um 1900, in dem die »stickige und schwüle« Luft schwebt, ihre Authentizität verloren. chung der Bezüge auf Photographie und Film geht mit der grundlegenden Akzentverschiebung von der photographischen »Visualität« zur telephonischen »Akustik« in der benjaminschen Autobiographik einher. Vgl. hierzu Manfred Schneider 1986, S. 105-149, hier S. 123. Unser Augenmerk richtet sich insbesondere auf das Stadium vor dieser Akzentverschiebung. 5 | Dieses Photo Kafkas ist als Abbildung 24 im Band VII/1 der Gesammelten Schriften Walter Benjamins abgedruckt. 6 | In der Kleinen Geschichte der Photographie spricht Benjamin nur vom »Verfall der Photographie« (II, 368) und vom »Verfall des Geschmacks« in der Photographie um 1900. Aber im Kunstwerk-Aufsatz taucht die Formel »Verfall der Aura in den Werken der Kunst » (VII, 369) bzw. »gegenwärtiger Verfall der Aura« (I, 479) auf.

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Zu beachten ist dabei, daß Benjamin von einem frühen Photoporträt Kafkas ausgehend, das heißt, vom Bild der verfallenen »Aura« her, diesen Begriff in seinen Diskurs einführt. Die »Aura« ist für ihn etwas, das erst von ihrem Verlust her ins theoretische Feld gerückt werden kann, genauso wie Traum und Rausch vom Wachzustand.7 Und Kafka mit den »unermeßlich traurigen Augen« auf dem Kindheitsphoto ist ein »Zeuge« dieses Verlusts. Das Photo verweist auf etwas, das nie mehr unmittelbar begriffen werden kann. An das genannte Zitat schließt sich die folgende Passage an: Das Bild in seiner uferlosen Trauer ist ein Pendant der frühen Photographie, auf welcher die Menschen noch nicht abgesprengt und gottverloren in die Welt sahen wie hier der Knabe. Es war eine Aura um sie, ein Medium, das ihrem Blick, indem er es durchdringt, die Fülle und die Sicherheit gibt. (II, 376)

Somit wird die »Aura« im Photographie-Essay, ehe sie sich der schon zitierten raumzeitlichen Bestimmung der einmaligen unnahbaren Ferne unterzieht, auf den »Blick« bezogen. Der Blick, dessen historische Untersuchung auch der Autor von Die helle Kammer für ein Desiderat hält,8 taucht hier als Behausung der »Aura« auf. Woher kommt aber dieser mit »Aura« gefüllte »Blick« der ersten photographierten Menschen, der einen starken Kontrast zur Traurigkeit der Augen des Knaben bildet? Benjamins Argumentation über die Anwesenheit der »Aura« in der frühen Photographie und ihren Verlust am Jahrhundertende verläuft kompliziert. Damit sich Benjamin gegen den »fetischistischen, von Grund auf antitechnischen Begriff von Kunst« (II, 368) wendet, mit dem man fast 100 Jahre lang die Photographie kritisierte, macht er konsequent auf das technische Moment des Mediums Photographie aufmerksam. Beispielsweise weist er darauf hin, daß daguerreotypische Bilder »unica« (II, 370), also keine vervielfältigungsfähigen Gebilde waren. Die technisch vorgegebene Einmaligkeit der Daguerreotypie reicht aber für Benjamin noch nicht aus, um die auratische Erscheinung in der Frühzeit der Photographie zu erklären. Bei ihm geht es vielmehr um ein bestimmtes Verhältnis von Mensch und Technik: In der vorindustriellen Frühzeit der Photographie, in der ein Photograph ein tastend arbeitender, experimentierfreudiger Techniker des neugeborenen Apparates war, wurden die Modelle, die noch »eine gewis7 | Vgl. Josef Fürnkäs 2000, S. 104-141. 8 | Roland Barthes 1989, S. 21.

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se Scheu vor dem Apparat« (II, 372) behielten, durch geringere »Lichtempfindlichkeit der frühen Platten« (II, 373) und die damit einhergehende »lange Expositionsdauer« dazu veranlaßt, sich auf den »Augenblick« (ebd.) des Photographierens hin zu konzentrieren. Entscheidend ist also die Koinzidenz des Standes der photographischen Technik mit dem der photographierenden und photographierten Menschen. Weil damals alle drei Elemente, die das Photographieren ausmachen, nämlich Photograph, Kamera und Modell, in keiner Hinsicht automatisiert waren, vereinten sie sich im »Augenblick« des Photographierens. Dieses nie wiedergekommene Zusammentreffen von Techniker, Technik und Objekt verlieh der frühen Photographie eine auratische Erscheinung. Benjamin zufolge verging diese Konstellation aber bald darauf. In dem Maße, in dem sich die Photographie als Broterwerb etablierte, war sie bereit, mithilfe der Evolution der Phototechnik phantasmagorische Bilder zu produzieren: Bald nämlich verfügte eine fortgeschrittene Optik über Instrumente, die das Dunkel ganz überwanden und die Erscheinungen spiegelhaft aufzeichneten. Die Photographen jedoch sahen in der Zeit nach 1880 ihre Aufgabe vielmehr darin, die Aura, die von Hause aus mit der Verdrängung des Dunkels durch lichtstärkere Objektive aus dem Bilde genau so verdrängt wurde wie durch die zunehmende Entartung des imperialistischen Bürgertums aus der Wirklichkeit – sie sahen es als ihre Aufgabe an, diese Aura durch alle Künste der Retusche, insbesondere jedoch durch sogenannte Gummidrucke vorzutäuschen. (II, 376f.)

Die neue Konstellation seit 1880, die auf den »Verfall der Aura« verweist, besteht erstens aus der Nicht-Entsprechung von Technik und Photograph. Was die technische Entwicklung der Photographie ermöglichte, wurde von den Photographen nach 1880 nicht nur nicht ausgenutzt. Vielmehr wurden genausolche Bilder produziert, die der phototechnischen Entwicklung zur immer präziseren Fixierung des Objekts entgegenlaufen. Hinzu kommt zweitens die Nicht-Entsprechung von Technik und Modell, die sich in einer als Größenwahn zu bezeichnenden Tendenz des Bürgertums um 1900 zeigt. Das Bürgertum war in der Frühzeit der Photographie eine »im Aufstieg befindliche Klasse mit einer Aura, die bis in die Falten des Bürgerrocks oder der Lavallière sich eingenistet hatte« (II, 376). Die zunehmende Entartung der »Klasse«, historisch im Begriff des Imperialismus festgehalten, drückt sich photographisch darin aus, daß sie sich größer

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zu präsentieren versucht, als sie ist. Dieser identifikatorischen Einfühlung in die Größe kann der Photograph nur dadurch entsprechen, daß er die technische Potenz der Photographie verrät. Deshalb jene Ambivalenz von »Exekution und Repräsentation, Folterkammer und Thronsaal«, die das Photo Kafkas mit den »unermeßlich traurigen Augen« in den StudioTropen ausdrückt. Das Photo ist also eine räumliche Präsentation dieser »Verfallsperiode« (II, 378), in der die »Aura« verlorengegangen ist, in dem Maße, in dem man sie inszeniert. Interessanterweise findet sich eine ganz ähnliche Szene des Photoateliers auch in Benjamins Erinnerung an seine Berliner Kindheit um 1900, nämlich in dem Stück, das Benjamin selbst einmal im Brief an Gretel Karplus als »photographisches« »Selbstporträt« (IV, 966)9 bezeichnete. Die programmatische Bedeutung des Stücks kann außerdem daraus geschlossen werden, daß es in der vermutlich zwischen Dezember 1932 und Januar 1933 entstandenen, sogenannten Gießener Fassung der Berliner Kindheit10 als Eröffnungsstück des geplanten autobiographischen Buchs vorgesehen war: Die Mummerehlen. Wohin ich blickte, sah ich mich umstellt von Leinwandschirmen, Polstern, Sokkeln, die nach meinem Bilde gierten wie die Schatten des Hades nach dem Blut des Opfertieres. Am Ende brachte man mich einem roh gepinselten Prospekt der Alpen dar, und meine Rechte, die ein Gemsbarthütlein erheben mußte, legte auf die Wolken und Firnen der Bespannung ihren Schatten. Doch das gequälte Lächeln um den Mund des kleinen Älplers ist nicht so betrübend wie der Blick, der aus dem Kinderantlitz, das im Schatten der Zimmerpalme liegt, sich in mich senkt. Sie stammt aus einem jener Ateliers, welche mit ihren Schemeln und Stativen, Gobelins und Staffeleien etwas vom Boudoir und von der Folterkammer ha9 | Das vollständige Zitat aus dem Brief vom 12. 8. 1933 lautet: »Bevor ich ganz in dieser Lektüre verschwinde, hoffe ich aber noch ein weiteres Stück der ›Berliner Kindheit‹ abzuschließen, das ›Der Mond‹ heißt. Die Ähnlichkeit, welche Du zwischen den ›Loggien‹ und dem ›Fieber‹ bemerkt hast, besteht natürlich. Mir selber aber stehen die beiden Stücke sehr unterschiedlich nah; weit näher als das frühere das erstgenannte, in dem ich eine Art von Selbstporträt erblicke. Wahrscheinlich werde ich es anstelle jenes photographischen, das in der ›Mummerehlen‹ enthalten ist, an die erste Stelle des Buches setzen.« (Walter Benjamin 1998, S. 275) 10 | Walter Benjamin 2000.

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ben. Ich stehe barhaupt da; in meiner Linken einen gewaltsamen Sombrero, den ich mit einstudierter Grazie hängen lasse. Die Rechte ist mit einem Stock befaßt, dessen gesenkter Knauf im Vordergrund zu sehen ist, indessen sich sein Ende in einem Büschel von Pleureusen birgt, die sich von einem Gartentisch ergießen.« (IV, 261)

Zu bemerken ist, daß es sich hier um zwei Atelierphotos handelt: ein Photo vor »einem roh gepinselten Prospekt der Alpen« und ein anderes Photo des »Kinderantlitzes, das im Schatten der Zimmerpalme liegt«. Der »betrübende« »Blick« des Kindes scheint hier zwei Photos zu verbinden. Eindeutig liegt dem ersten Photo in dieser Passage eine tatsächlich vorhandene Aufnahme zugrunde, die im Ausstellungskatalog des TheodorW.-Adorno-Archivs in Verbindung mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach als »Walter und Georg in Schreiberhau« betitelt wird.11 In dieser auf ca. 1902 datierten Aufnahme zeigt sich der ungefähr zehnjährige Walter als ein »kleiner Älpler« vor dem Hintergrund einer gemalten Gebirgslandschaft. Das autobiographische Schreiben Benjamins folgt hier dem photographischen Gedächtnis als Vorlage.12 Jedoch geht es in den Mummerehlen überhaupt nicht darum, die photographische Vorlage bloß sprachlich wiederzugeben. Das zeigt schon der Umstand, daß es hier keine Erwähnung des Bruders Georg gibt. Die (bereits in der Berliner Chronik festgestellte) im Vorwort zur Fassung letzter Hand explizit gemachte Regel der paradoxen Autobiographie, daß Benjamins biographische Daten in bezug auf die Familie und die Freunde in seiner Berliner Kindheit nicht exponiert werden dürfen,13 gilt sowohl für die Mummerehlen als auch für andere Stücke dieses autobiographischen Textes. Das »Gemsbarthütlein«, das im Zitat der kleine Walter in der Rechten hält, ist wohl ein einziger versteckter

11 | Rolf Tiedemann, Christoph Gödde und Heiri Lonitz 1991, S. 15. 12 | Dies war bereits bei Proust der Fall. Vgl. William Howard Adams 1988, S. 32: »Proust benutzt zweifelsohne seine Sammlung von Photographien, um sich bei der Arbeit an seinem Roman die Bilder gewisser Personen oder die Details irgendeines Kleidungsstücks oder Federbuschs in Erinnerung zu rufen.« 13 | »Das hat es mit sich gebracht, daß die biographischen Züge, die eher in der Kontinuität als in der Tiefe der Erfahrung sich abzeichnen, in diesen Versuchen ganz zurücktreten. Mit ihnen die Physiognomien – die meiner Familie wie die meiner Kameraden.« (VII, S. 385) Vgl. hierzu weiter unten.

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Verweis auf die Erinnerung an den drei Jahre jüngeren Bruder, da dieser auf dem Ausstellungsphoto eben diesen Hut trägt. Wie steht es jedoch mit dem zweiten Photo, in dem das photographierte Kind einen »Sombrero« in der linken Hand hat? Es basiert ebenfalls auf einer photographischen Vorlage, und zwar auf jenem Photo Kafkas als Kind, von dem die Kleine Geschichte der Photographie spricht. Dort hat er nämlich »in der Linken einen unmäßig großen Hut mit breiter Krempe«. Und wenn man sich diese Aufnahme anschaut, die als Abbildung 24 im Band VII/1 der Gesammelten Schriften Benjamins zu sehen ist, dann ist es evident: Die in den Mummerehlen beschriebene Position der »Rechte[n]«, die »mit einem Stock befaßt [ist], dessen gesenkter Knauf im Vordergrund zu sehen ist, indessen sich sein Ende in einem Büschel von Pleureusen birgt, die sich von einem Gartentisch ergießen«, entspricht bis ins kleinste Detail genau der Pose, die der kleine Kafka mit den »unermeßlich traurigen Augen« auf dem Photo einnimmt. Benjamin erzählt hier also in der autobiographischen Ich-Form (»Ich stehe barhaupt da«), das heißt als eigene Erfahrung das Porträt Kafkas, das er in seinem Photographie-Essay als Beweis für den Verfall der »Aura« behandelt hat. In dieser Hinsicht schreibt Bernd Witte als Benjamin-Biograph bezüglich der PhotoatelierSzene in den Mummerehlen: »Das ungekennzeichnete Selbstzitat verdeckt und enthüllt zugleich die Identifikation Benjamins mit dem Prager Autor.«14 Was ist aber diese »Identifikation«?

2.2 U NSINNLICHE Ä HNLICHKEIT UND M IMIKRY »Verwandlungen zur Flucht, um einem Feinde zu entkommen, sind allgemein. Man findet sie in Mythen und Märchen, die über die ganze Erde verbreitet sind.« (Elias Canetti)

Benjamins »Identifikation« mit Kafka muß zuallererst im Zusammenhang mit dem Problemfeld der »Ähnlichkeit« betrachtet werden, auf das in Die Mummerehlen selbst thematisch bezuggenommen wird. Der Titel dieses Stücks verweist auf ein »Mißverstehen« (IV, 260) des Kindes, das 14 | Bernd Witte 1985, S. 9.

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unter der »Muhme Rehlen« in einem alten Kindervers wegen der Unbekanntheit der beiden Wörter ein geistliches Wesen namens »Mummerehlen« versteht.15 Um welche Art von »Ähnlichkeit« geht es jedoch hier? Es heißt in der Passage, die der oben zitierten Photoatelier-Szene unmittelbar vorangeht: So wollte der Zufall, daß in meinem Beisein einmal von Kupferstichen war gesprochen worden. Am Tag darauf steckte ich unterm Stuhl den Kopf hervor: das war ein »Kopf-verstich«. Wenn ich dabei mich und das Wort entstellte, tat ich nur, was ich tun mußte, um im Leben Fuß zu fassen. Beizeiten lernte ich es, in die Worte, die eigentlich Wolken waren, mich zu mummen. Die Gabe, Ähnlichkeit zu erkennen, ist ja nichts als ein schwaches Überbleibsel des alten Zwangs, ähnlich zu werden und sich zu verhalten. Den aber übten Worte auf mich aus. Nicht solche, die mich Mustern der Gesittung, sondern Wohnungen, Möbeln, Kleidern ähnlich machten. Nur meinem eigenen Bilde nie. Und darum wurde ich so ratlos, wenn man Ähnlichkeit mit mir selbst von mir verlangte. Das war beim Photographieren. (IV, 261)

Das hier ins Spiel gebrachte Konzept der »Ähnlichkeit« ist für Benjamins theoretisches Denken von fundamentaler Bedeutung: Die Texte Lehre vom Ähnlichen und Über das mimetische Vermögen, die Benjamin 1933 (also fast gleichzeitig mit dem Stück Die Mummerehlen) verfaßte,16 behandeln Sprache und Schrift als »das vollkommenste Archiv der unsinnlichen Ähnlichkeit« (II, 209).17 Das Bemerkernswerte an dieser Lehre liegt darin, daß sie eine Ähnlichkeit zu denken versucht, die für die »Merkwelt des modernen Menschen« (II, 206) unwahrnehmbar ist. Benjamins Spekulation geht über den »geläufigen (sinnlichen) Bereich der Ähnlichkeit« (II, 207) 15 | Benjamin zeichnet in seinem autobiographischen Text unermüdlich solche Neuschöpfungen des Kindes auf. Um einige davon zu nennen: »Mark-Thalle« (IV, 252) in Markthalle Magdeburger Platz, »Blume-zoof« (IV, 257) für den Blumeshof, »Näh-Frau« statt »gnädige Frau« (IV, 289) im Nähkasten. 16 | Zum Verhältnis beider Texte zu Die Mummerehlen vgl. Uwe Steiner 2004, S. 150ff. 17 | Zum Unterschied beider Texte, die für zwei Varianten derselben Theorie gehalten werden können, vgl. Winfried Menninghaus 1995, S. 60f. und Michael Opitz 2000, S. 22f. Im folgenden rekurrieren wir hauptsächlich auf die Lehre vom Ähnlichen, die eine gewagtere Fassung zu sein scheint.

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hinaus, um die »unsinnliche Ähnlichkeit«, die etwa der archaischen Astrologie und ihrer Deutung der Sternkonstellation zugrundelag, auf ihr historisches Geschick hin zu befragen. Benjamins These ist, daß eine derartige Erfahrung der heute außerhalb der Wahrnehmungsschwelle liegenden »unsinnlichen Ähnlichkeit« in Sprache und Schrift gespeichert worden ist. Daher ist in dem Zitat die Rede vom »alten Zwang, ähnlich zu werden und sich zu verhalten«, den »Worte« auf das Kind ausüben. Wie die Lehre von der für den modernen Menschen unwahrnehmbar gewordenen Ähnlichkeit handelt, handelt Die Mummerehlen von einer Ähnlichkeit, die sich der Wahrnehmung des Erwachsenen entzieht: Die vom Kind vermittels der Entstellung des Wortes und seines Körpers generierte Ähnlichkeit ist dem Erwachsenen unsinnlich bzw. unsinnig, wie die archaische Korrespondenz des Mikro- und Makrokosmos dem modernen Menschen.18 Insofern das Kind hier über »ein schwaches Überbleibsel« der uralten »Gabe« des mimetischen Vermögens verfügt, läßt sich Die Mummerehlen als eine ontogenetische Version des sprachphilosophischen und wahrnehmungstheoretischen Programms der Lehre vom Ähnlichen betrachten. Auf die politische Implikation dieser höchst spekulativen Texte, deren Ausarbeitung genau in den Beginn der faschistischen Zeit in Deutschland fällt, weist Michael Opitz hin: Benjamins Theorie der »unsinnlichen Ähnlichkeit« ist »mit einer Auffassung von Mimesis unvereinbar, die nach übereinstimmender ›Ähnlichkeit‹ sucht und eine aus politischen Vorstellungen abgeleitete Idealität zum Kriterium der Nachbildung erhebt«.19 Ganz logisch ist daher, daß das Kind in der Berliner Kindheit nicht mit »Mustern der Gesittung«, sondern mit den es umgebenden »Wohnungen, Möbeln, Kleidern« die Ähnlichkeit herstellt. Außerdem impliziert Benjamins Lehre vom Ähnlichen eine Dimension, die in der klassischen Philosophie und Theorie der Mimesis unterschätzt wurde: das dynamische Moment, das in der »Mimikry« enthalten ist. Das Mimesis-Buch von Gunter Gebauer und Christoph Wulf etwa verliert, abgesehen von den Kapiteln über Benjamin und Adorno, fast kein Wort über die Mimikry. Denn den Autoren zufolge ist die Mimesis »in wesentlichen

18 | Zum Versuch, die »entstellte« und die »unsinnliche« Ähnlichkeit zu differenzieren, vgl. Sigrid Weigel 1997, S. 10f. 19 | Michael Opitz 2000, S. 25. Zum Überblick über die Geschichte der Mimesistheorie vgl. Gunter Gebauer/Christoph Wulf 1992.

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Merkmalen von Mimikry [zu] unterscheiden«.20 Dagegen wird bei Benjamin schon im Eingang der Lehre vom Ähnlichen gesagt: Die Natur erzeugt Ähnlichkeiten; man braucht nur an die Mimikry zu denken. Die allerhöchste Fähigkeit im Produzieren von Ähnlichkeit aber hat der Mensch. (II, 204)

Bereits diese kurze Passage macht deutlich, daß es sich bei Benjamin nicht lediglich um die Entsprechung von zwei gegebenen Formen handelt. Bevor sie der Repräsentation die Möglichkeit gibt, muß die Ähnlichkeit in erster Linie »erzeugt« und »produziert« werden. Exemplarisch dafür ist die Mimikry, eine tarnende Verwandlung, die von sich aus die Ähnlichkeit herstellt, und zwar um den Preis der Selbstidentität. Ähnlichkeit erschöpft sich bei Benjamin nicht in einer formalen Analogie, sondern ist auf eine Produktion bezogen, in deren unablässigem Strom sowohl die Natur als auch der Mensch einziehen. Auch die archaische Erfahrung der Korrespondenz von Mikro- und Makrokosmos, auf die Benjamin in der Lehre vom Ähnlichen großen Wert legt, findet in diesem Produktionswirbel statt, in dem zahlreiche Ähnlichkeiten der Natur und des Menschen schlagartig entstehen und entschwinden. René Schérer weist eben in diesem Sinne auf die konzeptionelle Nähe der »unsinnlichen Ähnlichkeit« bei Benjamin zur Philosophie des »devenir« in den Tausend Plateaus von Deleuze und Guattari hin.21 Auch in der Berliner Kindheit findet sich eine Episode, die vor allem mit dem Kapitel »1730 – Intensiv-Werden, Tier-Werden, Un-

20 | Gunter Gebauer/Christoph Wulf 1992, S. 435. 21 | René Schérer 1998, S. 51: »Le devenir échappe à la ressemblance; il retient des traits, un esprit, comme l’écrit Logique de la sensation. Ou alors, s’agitil de cette »ressemblance non sensible« (unsinnliche Aehnlichkeit) dont parle W. Benjamin dans un des ses essais, qui, tout en relevant d’une méthode très différente de celle de Mille plateaux, apparemment aux antipodes de sa conceptualisation, ne sont pas sans rapport, sont même en convergence avec elle./Car, si Benjamin reste pris dans l’horizon de la mimésis, il lui impose une variation, une généralisation où elle semble se dissoudre dans les devenirs. En effet, dans ce texte inspiré, l’imitation ne se rapporte pas aux formes visibles, ni même à la vie organique, mais concerne les phénomènes célestes, les étoiles, les planètes, les correspondances astrologiques.«

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wahrnehmbar-Werden«22 in Tausend Plateaus vergleichbar ist: Die Schmetterlingsjagd, in der das Kind »ohnmächtig der Verschwörung von Wind und Düften, Laub und Sonne gegenüberstand, die dem Flug der Schmetterlinge gebieten möchten«. (IV, 244) Einige Zeilen später heißt es: Wenn so ein Fuchs oder Ligusterschwärmer, den ich gemächlich hätte überholen können, durch Zögern, Schwanken und Verweilen mich zum Narren machte, dann hätte ich gewünscht, in Licht und Luft mich aufzulösen, nur um ungemerkt der Beute mich zu nähern und sie überwältigen zu können. Und so weit ging der Wunsch mir in Erfüllung, daß jedes Schwingen oder Wiegen der Flügel, in die ich vergafft war, mich selbst anwehte oder überrieselte. Es begann die alte Jägersatzung zwischen uns zu herrschen: je mehr ich selbst in allen Fibern mich dem Tier anschmiegte, je falterhafter ich im Innern wurde, desto mehr nahm dieser Schmetterling in Tun und Lassen die Farbe menschlicher Entschließung an, und endlich war es, als ob sein Fang der Preis sei, um den einzig ich meines Menschendaseins wieder habhaft werden könne. (IV, 244)

Das Kind macht ein allmähliches Verwandeln in den Falter »in allen Fibern« durch, um sich eigene Unwahrnehmbarkeit zu verschaffen. Dabei wird dieses Schmetterling-Werden nicht als Ziel, vielmehr als ein Kompromiß angesehen, und zwar als Zwischenstation zur Auflösung in die formlosen Elemente »Licht und Luft«, wie in den Tausend Plateaus das »Tier-Werden« zu einem »Molekular-Werden« übergeht.23 Nicht nur bei Deleuze/Guattari, sondern auch bei Benjamin sind also sowohl das Werden zum A-Personalen und Unwahrnehmbaren hin als auch die stufenweise Intensitätssteigerung des endlosen Werdens mitgedacht. Bei allen Unterschieden zwischen den Pariser Denkern und Benjamin soll dieser Punkt unterstrichen werden, um die eigentümliche Ähnlichkeitstheorie aus dem Jahre 1933 nicht auf die traditionelle Mimesis zu reduzieren: Die Ähnlichkeit ruft für Benjamin eine gewisse Selbstauflösung des Daseins zugunsten des inkognitiven Werdens hervor, im genauen Gegensatz zur Konstitution des Subjekts durch die »Identifikation« bzw. »Identifizierung« etwa im Sinne der Psychoanalyse.24 22 | Gilles Deleuze/Félix Guattari 1997, S. 317-422. 23 | Gilles Deleuze/Félix Guattari 1997, S. 371. 24 | Jean Laplanche/Jean-Bertrand Pontalis 1973, S. 220: »Der Begriff der Identifizierung erhielt in Freuds Werk zunehmend zentrale Bedeutung; dadurch

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Von hier aus kommen wir noch einmal auf das Zitat aus Die Mummerehlen zurück. Die Entstellung, sei es die des Wortes, sei es die des Kinderkörpers, ist sicherlich eine Differenzkraft, die in der üblichen Mimesistheorie keine Rolle spielt. Sie ist aber für das Kind durchaus nicht entbehrlich, da erst sie einen dem Erwachsenen entzogenen und unwahrnehmbaren Spielraum der Ähnlichkeit eröffnet. In diesem Raum der »entstellten Ähnlichkeit« ereignet sich seine Mimikry an die Berliner Dingwelt um 1900, die im gleichen Zug sein »Mummen« in die wolkigen Worte ist. Die Verbindung von Ding und Wort stellt das Kind her, indem es selbst durch seine tarnende Verwandlung hindurch dahin verschwindet. In der Berliner Kindheit steht dabei als Paradigma der »unsinnlichen Ähnlichkeit« nicht die astrologische Magie im Vordergrund, sondern das Märchen. Denn die Kunst von Verwandlung, Mimikry und »Mummen« steht im Zeichen des Geistes »Mummerehlen«, der dem alten Reich des Märchens entspringt: »Ich will dir was erzählen von der Mummerehlen.« (IV, 262) Anna Stüssis Kommentar hierzu ist interessant. Sie zitiert das Wundergarten betitelte Gedicht, das eben mit dieser Zeile beginnt, doch mit einem »dürren Moralspruch«25 schließt. Mit Recht bemerkt sie: »Kein Wunder, daß das Kind ihn vergißt«.26 Das Gedicht endet nämlich mit den Zeilen: »Auf dem Tischchen lag ein Buch,/Und das war ein Wunderbuch,/In dem Buche stand geschrieben:/›Du sollst deine Eltern lieben!‹«27 Statt die Liebe zu den Eltern aus dem Gedicht zu lernen, dringt das Kind mit seinem weichen Körper und auf Flügeln der elastischen Sprache der Mündlichkeit ins zauberhafte Reich des permanent mummenden und tarnenden Wesens vor. Somit kann man feststellen, daß Benjamins Autobiographik auch in sich enthält, was die vorliegende Publikation im Proust-Kapitel die Metamorphose nannte: Wie sich Prousts Figuren anhand der Metamorphose der Identifizierung entziehen, so verhält sich auch das Kind Benjamins. Denn es verschwindet, die bürgerliche Ordnung der Dinge verlassend, ins Märchenreich. Das Kind in Die Mummerehlen geriet aber im Photoatelier in Verlegenheit, weil ihm die Bewegungen für sein Ähnlich-Werden verboten sind. wurde er mehr als nur ein psychischer Mechanismus unter anderen, nämlich der Vorgang, durch den das menschliche Subjekt sich konstituiert.« 25 | Anna Stüssi 1977, S. 268. 26 | Ebd. 27 | Anna Stüssi 1977, S. 269.

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Ihm wird vielmehr sozusagen ein Passiv-Werden geboten. Dieser Imperativ, vor der Kamera in einem durchwegs inszenierten Raum unbeweglich zu bleiben und ihr Gegenstand zu sein, der Posebefehl verlangt vom Kind etwas Fatales: sich selbst ähnlich zu sein, statt Dingen und Worten ähnlich zu werden. Die peinliche Ratlosigkeit des Kindes im Photoatelier resultiert also aus dem Befehl zum unmöglichen Sich-Selbst-Ähnlich-Sein, dessen Kehrseite das Verbot des dynamischen Anders-Werdens darstellt. Wozu diese Ähnlichkeit mit sich selbst verlangt wird, liegt auf der Hand: um das Kind als ein (bürgerliches) Subjekt erfaßbar zu machen. Die »photographische Erfassung« in der bürgerlichen Variation zielt ja darauf, das Subjekt auf seine Selbstidentität einzustellen. Weil diese neue Einstellung, vom Kind aus gesehen, mit dem Tod gleichgesetzt wird, assoziiert sich das Photoatelier mit »Hades nach dem Blut des Opfertieres«: Die Photographie erscheint dem Kind als moderne Inkarnation des antiken Verwalters des Totenreichs, da sie ihm den Halt seines Werdens und die Ähnlichkeit mit sich selbst abverlangt, die es nicht kennt. Die Entgegenstellung von Märchen und Mythos durchzieht Benjamins geschichtsphilosophisches Denken.28 Demzufolge ist das Märchen die Überlieferung des Sieges über mythische Gewalten. (II, 415) Benjamin liebte »kleine Literatur«29 von Franz Kafka (und Robert Walser), da er darin »Finten« (ebd.) des Märchens wiederfand, mit denen es den Mythos überlistet. Im Stück Die Mummerehlen verhält sich jedoch die Sache genau umgekehrt. Hier blockiert die Photographie mit mythischen Zügen jene Mimikry des Kindes, die im Zeichen der märchenhaften »Mummerehlen« steht. Im Bannkreis der mythischen Kräfte muß sich das Kind exponieren, statt sich zu vermummen, zu verwandeln und zu verbergen: Ohne über »Finten« zu verfügen, liefert es sich der Situation aus, sei es mit dem »gequälten Lächeln«, sei es mit dem betrübten »Blick«. Die Folge davon ist: Ich aber bin entstellt vor Ähnlichkeit mit allem, was hier um mich ist. Ich hauste so wie ein Weichtier in der Muschel haust im neunzehnten Jahrhundert, das nun hohl wie eine leere Muschel vor mir liegt. Ich halte sie ans Ohr. (IV, 261) 30

28 | Vgl. Winfried Menninghaus 1986 und Günter Hartung 2000. 29 | Gilles Deleuze/Félix Guattari 1976. 30 | In der Fassung letzter Hand heißt es: »Ich war entstellt von Ähnlichkeit mit allem, was um mich war.« (VII, S. 417)

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Das Kind ist also nicht nur Subjekt, sondern auch Objekt der Entstellung. Die Weichheit des Kinderkörpers erlaubt dem Kind nicht nur das ÄhnlichWerden vermittels der »entstellten Worte«, sie bedingt auch das ÄhnlichSein vermittels des »entstellten« »Ich«. Als doppelsinniges Subjekt ist das Kind daher der Entstellung unterworfen. Mit anderen Worten: Benjamin präsentiert im Stück Die Mummerehlen den infantilen Körper als Schreiboberfläche von Märchen und Mythos als zwei Entstellungskräfte, die miteinander kämpfen. Betrachtet man nun erneut die von Bernd Witte konstatierte »Identifikation Benjamins mit dem Prager Autor«, dann läßt sie sich als Mimikry des Schreibenden, als eine unsinnliche Verwandlung des Autobiographen in den Autor der Verwandlung lesen. Schildert doch dieses autobiographische Subjekt sein »photographisches« »Selbstporträt« (IV, 966) anhand der Vorlage von Kafkas Photo, als ob die Ähnlichkeit mit sich selbst kein autobiographisches Problem mehr sei. Die Außerordentlichkeit, daß ein Autobiograph das Photo eines Anderen benutzt, um sich selbst darzustellen, erklärt sich nur daraus, daß es sich bei Benjamin einzig um die »unsinnliche Ähnlichkeit« handelt, die den Entzug der (bürgerlichen) Selbstidentität voraussetzt, wie eben in der Mimikry. Während die um 1900 abgelichteten Kinder vor dem modernen »Hades« zum Stillstand gebracht wurden, schlüpft der Autobiograph aus dem photographischen Dispositiv, indem er sich selbst so listenreich wie eine Märchenfigur benimmt: Eine detektivische Lektüre seiner autobiographischen Schrift, wie die vorliegende Publikation sie oben versuchte, stößt auf ein anderes Subjekt als den Autobiographen. Das Unwahrnehmbar-Werden der Mimikry, deren Kunst unter dem Namen der märchenhaften Zauberin »Mummerehlen« in den Erinnerungstext Benjamins eingeführt wurde, wird von seiner Autobiographik selbst in die Praxis umgesetzt. Diese autobiographische Technik, den Autor unwahrnehmbar zu machen, bezeichnet Manfred Schneider als »autobiographisches Inkognito«31 Walter Benjamins. Was der poetologischen Strategie der »Unerkennbarkeit« in der Recherche entspricht, ist mithin das »Inkognito« des Autobiographen in der Berliner Kindheit. Die proustsche »Unerkennbarkeit« und das benjaminsche »Inkognito« verhalten sich wie die Metamorphose und die Mimikry.

31 | Manfred Schneider 1986, S. 105, 116f. Zum »Inkognito« bei Benjamin vgl. auch Josef Fürnkäs 1998.

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Dabei läßt sich ohne weiteres zeigen, daß Benjamin nicht minder als Proust die »photographische Erfassung« im Sinne Susanne Regeners in die Augen faßte. Im Essay Das Paris des Second Empire bei Baudelaire von 1936 heißt es: Technische Maßnahmen mußten dem administrativen Kontrollprozeß zu Hilfe kommen. Am Anfang des Identifikationsverfahrens, dessen derzeitiger Standard durch die Bertillonsche Methode gegeben ist, steht die Personalbestimmung durch Unterschrift. In der Geschichte dieses Verfahrens stellt die Erfindung der Photographie einen Einschnitt dar. Sie bedeutet für die Kriminalistik nicht weniger als die des Buchdrucks für das Schrifttum bedeutet hat. Die Photographie ermöglicht zum ersten Mal, für die Dauer und eindeutig Spuren von einem Menschen festzuhalten. Die Detektivgeschichte entsteht in dem Augenblick, da diese einschneidendste aller Eroberungen über das Inkognito des Menschen gesichert war. Seither ist kein Ende der Bemühungen abzusehen, ihn dingfest im Reden und Tun zu machen. (I, 550)

Den Begriff »Inkognito« entnahm Benjamin dem Prosagedicht Perte d’auréole von Charles Baudelaire, um die Poetologie des Pariser Dichters zu charakterisieren. Das Zitat zeigt nun in aller Deutlichkeit, daß Benjamin dabei die Bedeutung der Photographie für die kriminalistische Identifizierung und ihre »Eroberungen über das Inkognito des Menschen« zugunsten der Verwaltung ganz bewußt durchschaute. Seine Mimikry an Kafka muß auch in diesem Kontext betrachtet werden: In Benjamins Tarnung steckt sein Bewußtsein darüber, daß er in einer Zeit lebt, in der die Photographie wie der mythologische König des Schattenreichs auf die verhängnisvolle Arretierung des Subjekts zusteuert. Zwar ist ein schriftliches Signalement allein, als das die autobiographische Selbstdarstellung fungieren kann, zur Identifizierung nichts weniger als effizient, wie Georg Büchner in Leonce und Lena parodierte. Durchaus vorsichtig muß man jedoch sein, wenn sie auf Photos, »die einschneidendste aller Eroberungen über das Inkognito des Menschen«, basiert. Erinnert sei an die Bertillonage, die Benjamin auch erwähnt: Sie koppelt Photos mit dem portraitparlé. In diesem Gesichtspunkt folgt Benjamin in seiner Beschreibung der Photoatelier-Episode der von ihm hochgeschätzten Vorschrift von Bertolt Brecht: »Verwisch die Spuren!« (II, 555) Das Stück Die Mummerehlen wurde in der Gießener Fassung nicht ohne Grund an den Anfang des Buchs gestellt: Es ist insofern programmatisch

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für die gesamte Berliner Kindheit um neunzehnhundert, als die Kunst des tarnenden Vermummens für das Inkognito des Subjekts das Gesetz von Benjamins Autobiographik darstellt. Das Fehlen biographischer Daten charakterisiert in der Tat die Schrift der Berliner Kindheit im allgemeinen. In der Berliner Chronik wurden zwar noch mehrere Freunde und Bekannte aus der Zeit der Jugendbewegung bzw. aus der Studentenzeit beim Namen genannt. Aber in der literarischen Umarbeitung dieser Vorstufe zu den einzelnen Stücken der Berliner Kindheit beschränkte Benjamin seine Autobiographie strategisch auf die Kinderzeit um 1900. An diese Beschränkung schließt sich die andere an, daß der Autor nämlich weder den Geburtstag noch Namen und Zahl der Familienmitglieder verriet. Etwa über die Geschwister, Georg und Dora Benjamin, wurde darin fast nichts gesagt.32 Die Eltern treten als namenlose Figuren ohne jede individuelle Persönlichkeit auf. Kurzum, die Familie, das Thema der Autobiographie im 19. Jahrhundert, gemäß dem die Psychoanalyse noch im 20. Jahrhundert die Familienromantheorie des ödipalen Dreiecks aufbaute,33 bleibt bei Benjamin durchweg physiognomielos.34 Die Geheimhaltung der privaten und familiären Daten, die das autobiographische Subjekt außerhalb der Wiedererkennbarkeit rückt, korrespondiert dabei mit dem persönlichen Schicksal des Autors.35 Das Inkognito Benjamins in seiner Autobiographie ist nämlich, wie das Vorwort zur Fassung letzter Hand explizit macht, mit der Schreibgegenwart im »Exil« (VII, 385) verbunden. Der Aufenthalt auf Ibiza im Jahr 1932, wo die Erinnerungsarbeit gezielt einsetzte, war für Benjamin bereits »so etwas wie ein freiwillig vorweggenommenes Exil«.36 Im Brief an Scholem vom 10. Mai 1932 schrieb er, daß es ihm als ein »Gebot der Vernuft« erschien, »die Eröffnungsfeierlichkeiten des Dritten Reichs 32 | Eine Ausnahme ist das Stück Der Mond, in dem einmal der Name der Schwester »Dora« auftaucht. (IV, 302) 33 | Manfred Schneider 1993, S. 263f. Zum Verhältnis von Psychoanalyse und Autobiographie vgl. auch Martina Wagner-Egelhaaf 2000, S. 32-39. 34 | Im Vorwort zur Fassung letzter Hand schreibt Benjamin selbst, »daß die biographischen Züge […] in diesen Versuchen ganz zurücktreten. Mit ihnen die Physiognomien – die meiner Familie wie die meiner Kameraden. Dagegen habe ich mich bemüht, der Bilder habhaft zu werden, in denen die Erfahrung der Großstadt in einem Kinde der Bürgerklasse sich niederschlägt.« (VII, 385) 35 | Vgl. hierzu Manfred Schneider 1986, S. 117. 36 | Bernd Witte 1984, S. 572.

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durch Abwesenheit zu ehren«.37 Während er in seinem Zufluchtsort eine gespenstische Existenz führte, sammelte der Exilant inkognito Erinnerungsbilder im kritischen Augenblick. In der Berliner Kindheit um neunzehnhundert, die neben der Briefsammlung Deutsche Menschen von 1936 eindeutig zur Exilliteratur gehört,38 ist das inkognitive Schreiben eine »notwendige Verhüllung«39 des deutsch-jüdischen Schriftstellers gegenüber dem Faschismus. Die unregelmäßige Veröffentlichung der einzelnen Texte in Zeitungen unter Pseudonymen, die der Autor zu Lebzeiten als »Geschick«40 hinnehmen mußte, unterstreicht diesen Aspekt. In dieser Hinsicht ist Benjamins Inkognito eine Fluchtbewegung mit der Verwandlung.

2.3 D IE MÉMOIRE INVOLONTAIRE ALS PHOTOGR APHISCHES E RINNERN Die Bilder eines Menschen von der Wiege an, in seiner aufsteigenden Entwicklung und dann in seinem Verfall bis ins Greisenalter in wenigen Secunden so vorgeführt, müssten ästhetisch und ethisch grossartig wirken. (Ernst Mach)

Es war nicht nur die Kleine Geschichte der Photographie, sondern es waren auch die Proust-Übersetzungen sowie der Essay Zum Bilde Prousts (1929), die dem autobiographischen Projekt Walter Benjamins vorausgingen. Er hat in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre mit Franz Hessel zwei Bände der Recherche übersetzt.41 Daß der Proust-Übersetzer nun seit dem Be37 | Walter Benjamin 1998, S. 91. 38 | Vgl. ausführlich hierzu Chryssoula Kambas 1983. Vgl. auch Markus Bauer 1999. 39 | Benjamin 1998, S. 276. 40 | Ebd. 41 | Es handelt sich um die Übersetzungen von A l’ombre des jeunes filles en fleurs und Le côté de Guermantes, die in den Supplement-Bänden der Gesammelten Schriften Benjamins erschienen. Benjamin 1972, Supplement 2 u. 3. Das Manuskript der Übersetzung von Sodome et Gomorrhe ist verschollen. Zur

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ginn seines autobiographischen Schreibens immer wieder an den Autor der Recherche denken mußte, versteht sich fast von selbst. Am 5. Juni 1932 schrieb Benjamin aus Ibiza an Gershom Scholem, daß er »zum erstenmal seit fünf oder sechs Jahren«42 wieder begann, Proust zu lesen. Die Relektüre der Recherche im Sommer 1932, in dem die Berliner Chronik entstand, hinterließ eine höchst bedeutsame Spur, die im Nachlaß zu finden ist: Ein Fragment mit dem Titel Aus einer kleinen Rede über Proust, an meinem vierzigsten Geburtstag gehalten. Diese kleine Notiz, die er für seinen »vierzigsten Geburtstag« im Juni 1932 schrieb, zeigt als erste, daß der Autor der Kleinen Geschichte der Photographie von 1931 nun die Bedeutung dieses technischen Gedächtnismediums für das Erinnerungswerk Prousts in Betracht zog. Denn er erläutert darin den Begriff der mémoire involontaire anhand einer photographischen Metapher: ein Versuch, den er in seinem zwei Jahre vor dem Photographie-Essay geschriebenen Text Zum Bilde Prousts noch nicht gemacht hatte: Zur Kenntnis der mémoire involontaire: ihre Bilder kommen nicht allein ungerufen, es handelt sich vielmehr in ihr um Bilder, die wir nie sahen, ehe wir uns ihrer erinnerten. Am deutlichsten ist das bei jenen Bildern, auf welchen wir – genau wie in manchen Träumen – selber zu sehen sind. Wir stehen vor uns, wie wir wohl in Urvergangenheit einst irgendwo, doch nie vor unserm Blick gestanden haben. Und gerade die wichtigsten – die in der Dunkelkammer des gelebten Augenblicks entwickelten – Bilder sind es, welche wir zu sehen bekommen. Man könnte sagen, daß unsern tiefsten Augenblicken gleich jenen Päckchenzigaretten – ein kleines Bildchen, ein Photo unsrer selbst – ist mitgegeben worden. Und jenes »ganze Leben« das, wie wir oft hören, an Sterbenden oder an Menschen, die in Gefahr zu sterben schweben, vorüberzieht, setzt sich genau aus diesen kleinen Bildchen zusammen. Sie stellen einen schnellen Ablauf dar wie jene Hefte, die Vorläufer des Kinematographen, auf denen wir als Kinder einen Boxer, einen Schwimmer oder Tennisspieler bei seinen Künsten bewundern konnten. (II, 1064)

Benjamin trifft den Wiederholungscharakter der unwillkürlichen Erinnerung ganz genau: Die »Bilder, die wir nie sahen«, kommen in der mémoire Proust-Übersetzung von Benjamin vgl. Barbara Kleiner 1980 und Roger W. Müller Farguell 2001. Zu Benjamins Auseinandersetzung mit der Erinnerungspoetik Prousts vgl. Peter Szondi 1978 und Henning Teschke 2000. 42 | Benjamin 1998, S. 108f.

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involontaire plötzlich zurück. Diese Erinnerung ist also keine Wiedergabe dessen, was für das Bewußtsein immer schon bekannt ist. Wenn Benjamin diese Wiederkehr der unbewußten Erinnerungsbilder nun mit der Photographie vergleicht, dann muß man sich nochmals an jenen Begriff der Kamera erinnern, den die Kleine Geschichte der Photographie formulierte: Die Kamera registriert den »unbewußt durchwirkten« (II, 371) Raum, der sich dem mit dem Bewußtsein gekoppelten Auge entzieht. Eben diesen Kamerabegriff setzt die Logik der Metaphorisierung im Zitat voraus: Weil ein Photoapparat ohne Filter des Bewußtseins funktioniert, kann seine Wahrnehmung unbewußte Bilder bewahren, die nachher – in einem kritischen Augenblick »entwickelt« – unversehens in die Erinnerung zurückkommen. Die mémoire involontaire ist für Benjamin ein photographisches Erinnern. Es ist sinnvoll, diese Photographie-Metapher für die unwillkürliche Erinnerung mit dem »Analogieschluß« von Gedächtnis und Phonograph (1880) bei Jean Marie Guyau zu vergleichen.43 Guyau bemerkt in diesem Text, daß der Phonograph als Speicher unbewußter Gedächtnisse zu verstehen ist. Aber die Unbewußtheit der Maschine wird von diesem französischen Philosophen lediglich als Mangel verstanden. Er kann nicht umhin, sich einen mit Bewußtsein ausgestatteten Phonographen vorzustellen, der ihm zufolge das menschliche Gehirn ist: »Daß Guyau am Aufsatzende«, so Friedrich Kittler, »dem vollmechanischen Apparat noch einen Menschen entgegenstellt, der die unbewußten Gedächtnisleistungen des Phonographen mit bewußten krönen oder überbieten würde, geschieht nur, weil kein Philosoph, auch wenn er zu den Psychophysikern übergelaufen ist, seinem professionellen Wahn ganz beschwören kann.«44 Benjamin ist dagegen dank der Psychoanalyse von diesem »Wahn« befreit. Statt die Maschine zu vermenschlichen und von der bewußten Kamera zu träumen, nimmt Benjamin ihre Unbewußtheit ernst. Denn nur diese kann die Voraussetzung der geheimnisvollen Wiederholung der unwillkürlichen Erinnerung metaphorisieren. Wie verhält sich aber die mémoire involontaire als photographisches Erinnern zu »jenem ›ganzen Leben‹«, das vor dem Sterbenden wie kinematographische Bilder vorbeizieht? Einzelne photographische Erinnerungsbilder der mémoire involontaire werden vor dem sterbenden Subjekt 43 | Vgl. Friedrich Kittler 1986, S. 49-56. 44 | Friedrich Kittler 1986, S. 55.

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in die Ordnung der Serie gebracht und als Film seines »ganzen Lebens« in Bewegung gesetzt. Das Fragment der Kleinen Rede über Proust bezieht sich in dieser Hinsicht offensichtlich auf die medienhistorische Evolution von der Photographie zum Film, die sich namentlich mit Eadweard Muybridge und Etienne-Jules Marey verbindet. Die legendäre Reihenphotographie des galoppierenden Pferdes von Muybridge und die physiologische Chronophotographie von Marey waren zunächst photographische Wahrnehmungssensationen, die die Trägheit des menschlichen Auges ans Licht brachten. Darauf bezieht sich Benjamin in seinem Photographie-Essay, wenn er ein Beispiel für das »Optisch-Unbewußte« angeben will.45 Außerdem stellen diese photographischen Experimente eine Frühform des Films dar. Bernd Busch schreibt: Muybridge empfahl, um dem Vorwurf der Unglaublichkeit seiner fotografischen Versuchsergebnisse zu entgehen, die anschauliche Rekonstruktion der Bewegungsevidenz. Mit Hilfe der »Wundertrommel«, auf deren Innenwand die zerlegten Bewegungsmomente gemäß ihrer Abfolge befestigt wurden, sollte die anschaubare Rekonstruktion möglich sein: in Bewegung versetzt, bot die Wundertrommel die kinematografische Montage der Momente zum Kontinuitätseindruck dar. 46

Muybridge löste nicht nur eine Bewegung in die Serie der stillgehaltenen Bilder auf, sondern er wußte auch, wie daraus die Bewegung technisch rekonstruiert werden konnte. Von dieser durch die Wundertrommel verwirklichten Rekonstruktion zum Film sind es nur wenige Schritte. Und genau diese in animal locomotion implizierte Möglichkeit der experimentellen Rückwendung des Optisch-Diskontinuierlichen auf das OptischKontinuierliche hin ist es, auf die Benjamins Kleine Rede über Proust anspielt. Es geht um den medienhistorischen Übergang von der Photographie zum Film, der eben am Ende des 19. Jahrhunderts mittels der Serienphotographie stattfand. Diese Passage gehört mit Sicherheit auch zur »Schwellenkunde«47 Walter Benjamins.

45 | Vgl. 2.3 Photographische Ästhetik in der Recherche I: Technische Innovationen. 46 | Bernd Busch 1995, S. 371. Vgl. hierzu auch Bernd Stiegler 2001, S. 103ff. 47 | Winfried Menninghaus 1986. In dieser Veröffentlichung bleibt allerdings die medientechnische Schwelle unberücksichtigt.

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Nun muß man Auf der Suche nach der verlorenen Zeit erneut aufschlagen. Denn in diesem Zusammenhang darf nicht vergessen werden, daß eben Proust den epochalen Medienübergang an der Jahrhundertschwelle bereits in seine Recherche einbezog. Es ist kaum anzunehmen, daß Benjamin die folgenden Zeilen in der berühmten Eröffnungsszene des Romans entgingen: Diese verworrenen, ineinanderkreisenden Erinnerungsbilder hielten jeweils nur ein paar Sekunden an; meine kurze Unsicherheit über den Ort, an dem ich mich befand, unterschied ebensowenig die einzelnen Vermutungen, aus der sie bestand, wie wir die einander ablösenden Stellungen eines laufenden Pferdes isolieren, die das Kinetoskop uns zeigt. (I, 12f.)

Die Erinnerungsbilder des auf dem Bett liegenden Erzählers serialisieren und kinematographieren sich im Zeichen des »laufenden Pferdes«, und zwar auf der Schwelle von Traum und Wachzustand. Entscheidend ist also an dieser Stelle, daß sich der Medienübergang von der Photographie zur Kinematographie um 1900 auf den Zwischenzustand von Träumen und Wachen des sich erinnernden Subjekts verlagert. Auf diese Passage rekurriert Benjamin in seiner Kleinen Rede über Proust, und zwar mit einer gewagten Verschiebung auf der metonymischen Achse: Die Metonymie von Liegen und Sterben bzw. Schlaf und Tod dient Benjamin dazu, anstelle der Schwelle von Traum und Wachzustand die von Leben und Tod als topographische Bedingung für die Entstehung des selbstbiographischen Films aus den unbewußten Erinnerungsbildern zu bestimmen: Die Schwelle von Schlafen und Wachen, von der die ganze Recherche Prousts ausgeht, verschiebt er also zu der von Leben und Tod. Um die Bedeutung dieser Verschiebung zu erhellen, muß die Idee des »vollkommensten Archivs« in der Lehre vom Ähnlichen berücksichtigt werden. Denn die Ganzheit der Bilder eines Lebens, die vor dem Eingangstor zum Totenreich wie ein Film ablaufen sollen, entsprechen genau jener Vollkommenheit der seit Urzeit in Sprache und Schrift archivierten »unsinnlichen Ähnlichkeit«. In der profanen Moderne gibt es jedoch Benjamin zufolge ein gewisses »Zeitmaß«, in dem erst die »unsinnlichen Ähnlichkeiten« aktualisiert werden können. Das Tempo aber, jene Schnelligkeit im Lesen oder Schreiben, welche von diesem Vorgang sich kaum trennen läßt, wäre dann gleichsam das Bemühen, die Gabe,

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den Geist an jenem Zeitmaß teilnehmen zu lassen, in welchem Ähnlichkeiten, flüchtig und um sogleich wieder zu versinken, aus dem Fluß der Dinge hervorblitzen. So teilt noch das profane Lesen – will es nicht schlechterdings um das Verstehen kommen – mit jenem magischen dies. Daß es einem notwendigen Tempo oder vielmehr einem kritischen Augenblicke untersteht, welchen der Lesende um keinen Preis vergessen darf, will er nicht leer ausgehen. (II, 209f.)

Die Temposteigerung wird dazu benötigt, aus der profanen Lektüre des arbiträren Zeichens die Sprachmagie der »unsinnlichen Ähnlichkeit« hervortreten zu lassen. Denn erst diese Beschleunigung erlangt jenes »Zeitmaß«, in dem keine Muße mehr zugelassen wird, das Zeichen auf das Signifikat hin zu hermeneutisieren: Es geht nicht um das »Verstehen«. Und das »notwendige Tempo« für die magische Lektüre ist im Zitat durch das Bindewort »oder« mit »einem kritischen Augenblicke« gekoppelt, der ja für das Subjekt eben im Augenblick des Sterbens gipfelt. Benjamins Verschiebung der Schwelle geht demzufolge mit der sprach- und wahrnehmungstheoretischen Lehre des Ähnlichen einher, derzufolge die Krise als Beschleuniger fungiert. Die Steigerung des Lesetempos, die aus der Diskontinuität der arbiträren Zeichen den universalen Strom der »unsinnlichen Ähnlichkeit« herstellt, hat eine technische Entsprechung im Film: ein Medium, in dem die Geschwindigkeit der laufenden Bilder die Fähigkeit des menschlichen Auges so übersteigt, daß es kein einzelnes Bild mehr unterscheiden kann.48 Das »Hervorblitzen« der »unsinnlichen Ähnlichkeit« findet ihre moderne Entsprechung also in dem »Vorüberziehen« der seriellen Bilder, das aus dieser Diskontinuität ein augenblickliches Kontinuum des Films produziert. Die Kinematographie ist mithin als technisches Äquivalent der magischen Sprache zu betrachten. Nur deshalb vermögen im Fragment der Kleinen Rede über Proust kinematographierte Erinnerungsbilder für das »ganze Leben« zu stehen, das der kritische Augenblick des Sterbens dem Subjekt zu sehen gibt. Die Rede vom Augenblick der Krise muß darüber hinaus auf die Biographie Benjamins bezogen werden. Der Exilant Benjamin war buchstäblich »in Gefahr zu sterben«, als er die Kleine Rede über Proust, an meinem vierzigsten Geburtstag gehalten niederschrieb: Daß er Ende Juli 1932, also kurz nach seinem 40. Geburtstag, an Selbstmord dachte und Testamen-

48 | Vgl. Manfred Schneider 1986, S. 133f.

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te schrieb, wird von seinen Biographen berichtet.49 Vor diesem biographischen Hintergrund spricht er in der Kleinen Rede über Proust über die Schwelle von Leben und Tod. In dem Proust-Fragment schließen sich daher die Ästhetik der archaischen Ähnlichkeit, die des modernen Massenmediums und die Biographie des Kommentators kurz: Eine Korrespondenz der kollektiven mit der individuellen Vergangenheit, die Benjamin zufolge die »Erfahrung im strikten Sinne« (I, 611)50 definiert. Die Implikationen dieses kurzen Fragments wären nicht so eingehend erörtert worden, wenn sie keine Spuren in den autobiographischen Texten Benjamins hinterlassen hätten. Sie spielen unseres Erachtens sogar eine fundamentale Rolle für die Autobiographik Benjamins. Zunächst gilt es, zu konstatieren, daß der Gedanke, die mémoire involontaire sei ein photographisches Erinnern, bereits in einer erinnerungsästhetischen Reflexion der Berliner Chronik (also vor dem 40. Geburtstag Benjamins) aufgenommen wurde: Es ist also durchaus nicht immer die Schuld einer allzukurzen Belichtungsdauer, wenn auf der Platte des Erinnerns kein Bild erscheint. Häufiger sind vielleicht die Fälle, wo die Dämmerung der Gewohnheit der Platte jahrelang das nötige Licht versagt, bis dieses eines Tages aus fremden Quellen wie aus entzündetem Magnesiumpulver aufschießt und nun im Bilde einer Momentaufnahme den Raum auf die Platte bannt. Im Mittelpunkt dieser seltenen Bilder aber stehen stets wir selbst. Und das ist nicht so rätselhaft, weil solche Augenblicke plötzlicher Belichtung gleichzeitig Augenblicke des Außer-uns-seins sind und während unser waches, gewohntes, taggerechtes Ich sich handelnd oder leidend ins Geschehen mischt, ruht unser tieferes an anderer Stelle und wird vom Chock betroffen wie das Häufchen Magnesiumpulver von der Streichholzflamme. Dies Opfer unseres tiefsten Ichs im Chock ist es, dem unsere Erinnerung ihre unzerstörbarsten Bilder zu danken hat. (VI, 516)

Die Metaphorik einer augenblicklichen Entwicklung, die im temporalen Modus des Verzugs latente Gedächtnisbilder ans Licht kommen läßt, macht sich der Proust-Übersetzer zu eigen, wenn er mit seinem eigenen 49 | Vgl. hierzu Gershom Scholem 1975, 232ff. und Bernd Witte 1984, S. 572. 50 | Das vollständige Zitat lautet: »Wo Erfahrung im strikten Sinne obwaltet, treten im Gedächtnis gewisse Inhalte der individuellen Vergangenheit mit solchen der kollektiven in Konjunktion.«

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autobiographischen Schreiben beginnt. Diese photographische Erinnerungsmetapher dient dabei, wie schon bei Proust, dazu, »unser waches, gewohntes, taggerechtes Ich« zu unterlaufen und eine andere Schicht des Subjekts zum Gedächtnis-Schauplatz zu machen. Da diese Schicht »tiefer« liegt, ist es nicht verwunderlich, daß Benjamin in einer anderen erinnerungsästhetischen Reflexion das Modell der Archäologie heranzieht: Wer sich der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muß sich verhalten wie ein Mann, der gräbt. Das bestimmt den Ton, die Haltung echter Erinnerungen. Sie dürfen sich nicht scheuen, immer wieder auf einen und denselben Sachverhalt zurückzukommen; ihn auszustreuen wie man Erde ausstreut, ihn umzuwühlen wie man Erdreich umwühlt. Denn Sachverhalte sind nur Lagerungen, Schichten, die erst der sorgsamsten Durchforschung das ausliefern, was die wahren Werte, die im Erdinnern stecken, ausmacht: die Bilder, die aus allen früheren Zusammenhängen losgebrochen als Kostbarkeiten in den nüchternen Gemächern unserer späten Einsicht – wie Trümmer oder Torsi in der Galerie des Sammlers – stehen. (VI, 486)

Die archäologisch arbeitende Erinnerung, die von der Hartnäckigkeit geprägt ist, nach »demselben Sachverhalt« unermüdlich in immer tieferen Schichten zu graben, unterwirft sich einer ganz anderen Temporalität als die Augenblicklichkeit der photographischen Erinnerung. Beide Modelle des Erinnerns sind jedoch erstens darin einig, die »Bilder«, die aus einem bestimmten Kontext gerissen werden, ins Visier zu nehmen. Zweitens ist ihnen der Bezug auf das psychoanalytische Denken gemeinsam: Freud bedient sich bekanntlich auch der archäologischen Metapher für das Gedächtnis, das im Zustand der Vergessenheit tief unter dem Bewußtsein verborgen liegt.51 Als Paradebeispiel hierfür läßt sich eine Stelle in Unbehagen in der Kultur anführen, in der Freud die unbewußte Schicht des Gedächtnisses mit der Ruine der Stadt Rom vergleicht.52 Wenn man sich nun die Unermüdlichkeit vergegenwärtigt, mit der Benjamin die Berliner 51 | Vgl. Nicolas Pethes/Jens Ruchatz 2001, S. 49f. 52 | Sigmund Freud 1999, XIV, S. 427: »Nun machen wir die phantastische Annahme, Rom sei nicht eine menschliche Wohnstätte, sondern ein psychisches Wesen von ähnlich langer und reichhaltiger Vergangenheit, in dem also nichts, was einmal zustande gekommen war, untergegangen ist, in dem neben der letzten Entwicklungsphase auch alle früheren noch fortbestehen.« Zum Verhältnis

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Kindheit von 1932 bis 1938 wiederholt bearbeitete, dann liegt einerseits die Annahme sehr nahe, daß das archäologische Erinnern tatsächlich in seiner Autobiographik praktiziert wurde. Andererseits läßt sich aber sagen, daß Benjamin die mémoire involontaire als photographisches Erinnern, von der er in der Berliner Chronik und in der Kleinen Rede über Proust spricht, konsequent in der Berliner Kindheit um neunzehnhundert in die Praxis umsetzte. Dies belegt dieser autobiographische Text selbst eindeutig: Er besteht aus einer Sammlung von nicht miteinander zusammenhängenden, kontextlosen »Bildern«, die im letzten Stück des Bucklichten Männleins wie folgt im Zeichen des Films konvergieren: Ich denke mir, daß jenes »ganze Leben«, von dem man sich erzählt, daß es vorm Blick der Sterbenden vorbeizieht, aus solchen Bildern sich zusammensetzt, wie sie das Männlein von uns allen hat. Sie flitzen rasch vorbei wie jene Blätter der straff gebundenen Büchlein, die einmal Vorläufer unserer Kinematographen waren. Mit leisem Druck bewegte sich der Daumen an ihrer Schnittfläche entlang; dann wurden sekundenweise Bilder sichtbar, die sich voneinander fast nicht unterschieden. In ihrem flüchtigen Ablauf ließen sie den Boxer bei der Arbeit und den Schwimmer, wie er mit seinen Wellen kämpft, erkennen. Das Männlein hat die Bilder auch von mir. Es sah mich im Versteck und vor dem Zwinger des Fischotters, am Wintermorgen und vor dem Telephon im Hinterflur, am Brauhausberge mit den Faltern und auf meiner Eisbahn bei der Blechmusik, vorm Nähkasten und über meinem Schubfach, im Blumeshof und wenn ich krank zu Bett lag, in Glienicke und auf der Bahnstation. Jetzt hat es seine Arbeit hinter sich. Doch seine Stimme, welche an das Summen des Gasstrumpfs anklingt, wispert über die Jahrhundertschwelle mir die Worte nach: »Liebes Kindlein, ach, ich bitt,/Bet fürs bucklicht Männlein mit.« (IV, 304)

Diese Kinematographie des »ganzen Lebens« ist, so könnte man sagen, ein großartiger Trick, der selbst in der langen Geschichte der abendländischen Autobiographie beispiellos zu sein scheint: Das »bucklichte Männlein« läßt vor den Augen des Sterbenden jene an Eadwerd Muybridges Reihenphotographie erinnernden Bilder des »ganzen Lebens« wie einen Film vorbeiflitzen. Dabei besteht dieser (auto-)biographische Film offensichtlich aus einzelnen Stücken der Berliner Kindheit, die der mémoire invon Benjamins Gedächtniskonzept und Freuds Psychoanalyse vgl. Sigrid Weigel 1997, S. 27-51 und Jutta Wiegmann 1989.

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volontaire als photographischer Erinnerung entspringen. Die im Zitat enthaltene Liste der Bilder »von mir« bezieht sich nämlich auf die Titel bzw. Themen der Stücke der Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Das heißt: Einzelne Texte der Berliner Kindheit stellen sich am Ende als diejenigen Bilder heraus, die der Zwerg vom autobiographischen Subjekt hatte. Benjamins Kindheitserinnerungen verdanken sich also der geheimen Archivarbeit des »bucklichten Männleins«, das im letzten Augenblick des Lebens als Filmvorführer auftritt. Daß die Vorstufe zu dieser autobiographischen Apotheose jenes Fragment über Proust ist, das Benjamin, an den geplanten Selbstmord denkend, im 40. Lebensjahr schrieb, liegt auf der Hand.53 Die Berliner Kindheit ist sozusagen eine andere Recherche-Übersetzung Benjamins.

2.4 P HOTOSAMMLUNG DER E RINNERUNGSBILDER Susanne Blazejewski schlägt vor, L’Amant von Marguerite Duras als »Photographie-Album«54 zu lesen. Wenn sich in diesem autobiographischen Buch von 1984 viele Photographie-Episoden finden, dann deshalb, weil es eine besondere Entstehungsgeschichte hat: Der Text ist dem Plan der Autorin entsprungen, private Photographien mit Kommentaren zu versehen und in Buchform zu veröffentlichen. Daraus ergibt sich aber auch eine eigentümliche Struktur des Buchs, die mit der eines Photoalbums verwandt ist: Duras erzählt ihre Lebensgeschichte nicht in chronologischer, linearer Ordnung, sondern anhand von kurzen, im Druck durch deutliche Abzüge voneinander geschiedenen Text-Bildern. Die Autobiographie erscheint ausdrücklich als Sammlung von Fragmenten, die durch oft scharfe Schnitte voneinander getrennt werden und keinerlei Kontinuität ihrer Lebenserfahrung zu vermitteln suchen. 55

Diese Beschreibung läßt sich problemlos auf die Berliner Kindheit anwenden: Auch Benjamins autobiographischer Text zeichnet sich durch eine 53 | Zum Verhältnis der beiden Texte vgl. Irving Wohlfarth 1988, S. 142. 54 | Susanne Blazejewski 2002, S. 172. 55 | Susanne Blazejewski 2002, S. 172f. Vgl. hierzu auch Doris Kolesch 1995, S. 191.

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Nicht-Chronologie, A-Linearität und Diskontinuität aus. Er besteht aus einer Sammlung von fragmentarischen Erinnerungsbildern, die »wie Trümmer oder Torsi« (VI, 486) in sich geschlossen sind.56 In dieser Hinsicht war sich Benjamin über den radikalen Bruch mit der klassischen Darstellungsform der Autobiographie ganz bewußt. In der Berliner Chronik spricht er ausdrücklich darüber: Erinnerungen, selbst wenn sie ins Breite gehen, stellen nicht immer eine Autobiographie dar. Und dieses hier ist ganz gewiß keine, auch nicht für die Berliner Jahre, von denen hier ja einig die Rede ist. Denn die Autobiographie hat es mit der Zeit, dem Ablauf und mit dem zu tun, was den stetigen Fluß des Lebens ausmacht. Hier aber ist von einem Raum, von Augenblicken und vom Unstetigen die Rede. Denn wenn auch Monate und Jahre hier auftauchen, so ist es in der Gestalt, die sie im Augenblick des Eingedenkens haben. Diese seltsame Gestalt – man mag sie flüchtig oder ewig nennen – in keinem Falle ist der Stoff, aus welchem sie gemacht wird, der des Lebens. (VI, 488)

Die bewußte Distanzierung von der kontinuierlichen Darstellung des Lebens, die um 1800 institutionell zum einzig möglichen Format der Autobiographie gemacht wurde, wird hier am deutlichsten zum Ausdruck gebracht: Benjamin stellt in Abrede, daß seine Berliner Kindheit zur Gattung Autobiographie gehört. Denn er handelt »von einem Raum, von Augenblicken und dem Unstetigen«, also von Phänomenen, die erinnerungsbildlich fixiert, aber nicht erzählerisch dargestellt werden können.

56 | Freilich gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen diesen beiden autobiographischen Texten. L’Amant entfaltet sich so lückenvoll und sprunghaft, daß der Leser nur assoziativ Zusammenhänge der »Fragmente« rekonstruieren kann. Das bedeutet aber auch, daß der Text mit einem kleinen Rest dessen versehen ist, was man die Handlung nennt: den zeitlichen Ablauf von der Mekong-Überquerung, bei der die Erzählerin dem Chinesen begegnet, mit dem sie erste sexuelle Erfahrungen macht, bis zur Schiffahrt gen Heimat, die mit dem Abschied von ihm verbunden ist. Aufgrund dieser rekonstruierbaren Handlung konnte der Text, um den großen Preis seiner Komplexität, 1992 von Jean-Jacques Annaud verfilmt werden. Dies ist jedoch im Falle der Berliner Kindheit keineswegs möglich. Zu der Verfilmung von Annaud, die den Roman »entschärft und trivialisiert«, vgl. Doris Kolesch 1995, S. 198.

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Es geht hier um die Darstellungsproblematik im autobiographischen Schreiben, die mit der bereits beschriebenen Erinnerungsästhetik Benjamins wesentlich zusammenhängt. Die Einführung der Photographie-Metapher für den besonderen Modus der mémoire involontaire führt zu einer neuen Baustruktur des Erinnerungsbuchs. Weil das Leben photographisch erinnert wird, kann die Autobiographie nur als Sammlung photographischer Erinnerungsbilder strukturiert werden, wenn diese auch am Ende des (geplanten) Buchs unter dem Zeichen des Märchenzaubers vom bucklichten Männlein schlagartig in den Film konvergieren. Proust dekonstruierte bereits die Lebensgeschichte als traditionelle Darstellungsform der Autobiographie dadurch, die Suche nach der Identität immer wieder leer ausgehen zu lassen. Bei Benjamin zerfällt diese Form nun in nicht miteinander zusammenhängende »Bilder« (IIV, 385), die keineswegs durch ein narratives Band gebunden werden. Statt dessen unterwerfen sich die Bilder des Eingedenkens dem Prinzip des Photoalbums von »losen Kopplungen« und »variablen Anordnungen«.57 Nur deshalb war es Benjamin möglich, in zwei Versionen für die Zusammenstellung der Erinnerungsbilder zum Buch, nämlich in der Gießener Fassung und in der Fassung letzter Hand, eine unterschiedliche Reihenfolge der einzelnen Stücke zu versuchen. Allerdings mußte das letzte Stück in beiden Fällen Das bucklichte Männlein sein.58 Benjamin wechselte das Arrangement der Texte so, wie man den Platz der Photos im Album wechselt. Berliner Kindheit enthält

57 | Matthias Bickenbach 2001, S. 101. 58 | Der Bezug auf den Film wird jedoch in Das bucklichte Männlein von der Fassung letzter Hand gestrichen. Das entspricht genau der Positionsänderung des Stückes Die Mummerehlen im Buch: Dieses Stück verläßt in der Fassung letzter Hand seinen bisherigen privilegierten Ort als das erste Stück des Buchs und wird zum einundzwanzigsten. Überdies verschwindet aus Die Mummerehlen nun die Szene des Photoateliers. Benjamins Überarbeitung für die Fassung letzter Hand von 1938 ist systematisch so angelegt, daß der Bezug auf die technischen Bilder, der vorher konstitutiv für das autobiographische Konzept der Berliner Kindheit war, zurückgenommen wird. Aber diese Systematik der konsequenten Streichungen verweist andererseits auf das Vorhandensein des Konzepts in früheren Fassungen, das die vorliegende Untersuchung beschreiben will. Hierzu siehe auch die Anmerkung 5 des Subkapitels 2.1 Kleine Geschichte der Photographie als Vorlage der Autobiographie.

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also nicht nur motivische Bezüge auf die Photographie. Darüber hinaus ist der Text strukturell als Sammlung von Erinnerungsphotos zu betrachten. Dieses Erinnerungsphotoalbum ist allerdings ungewöhnlich: Die Menschen darin erscheinen nur »schattenhaftig« und »geisterhaft«, während sie normalerweise den Hauptgegenstand eines Photoalbums darstellen. Benjamins Bekannte, Freunde und Familienmitglieder treten hier nicht als lebende Wesen auf: Die Luft der Stadt, die hier beschworen wird, gönnt ihnen nur ein kurzes, schattenhaftes Dasein. Sie stehlen sich an ihren Mauern hin wie Bettler, tauchen in ihren Fenstern geisterhaft empor, um zu verschwinden, wittern um Schwellen wie ein Genius loci und wenn sie selbst ganze Viertel mit ihren Namen erfüllen so ist es auf die Art, wie der des Toten den Denkstein auf seinem Grabe. (VI, 488f.)

Diese Passage erinnert an den Pariser Photographen Atget, den Benjamin sehr schätzte. Dessen menschenleere, an »Tatorte« (II, 385) erinnernde Photos der Pariser Straßen reinigten dem Autor der Kleinen Geschichte der Photographie zufolge um 1900 »die stickige Atmosphäre, die die konventionelle Porträtphotographie der Verfallsepoche verbreitet hat« (II, 378). Damit gelang Atget »die Befreiung des Objekts von der Aura«. Benjamins photographische Erinnerung zielt gleichfalls nicht auf die auratisierten Menschen ab, sondern sie plädiert für ihre »geisterhaftige« Abwesenheit zugunsten der »Luft der Stadt«. Benjamins Erinnerungswerk als Photoalbum ist also von einem sentimentalen Archiv der privaten Vergangenheit weit entfernt. Es ist keinerlei »Familienalbum«59, wenn auch seine Struktur von diesem Medium modelliert wird. Die Nähe der Berliner Kindheit um neunzehnhundert zur Ästhetik Atgets und ihre Ferne vom Familienphotoalbum sind die zwei Seiten einer Medaille. Denn für beide ist Benjamins kritischer Blick auf den »Verfall« der Atelierphotos um 1900 bestimmend: Die phantasmagorische Inszenierung endet nicht im Photoatelier, sondern sie lebt im Inneren der bürgerlichen Wohnung fort, und zwar in den »Photographiealben« kondensiert und konserviert: Das war die Zeit, da die Photographiealben sich zu füllen begannen. An den frostigsten Stellen der Wohnung, auf Konsolen oder Gueridons im Besuchszimmer, 59 | Susanne Blazejewski 2002, S. 174.

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fanden sie sich am liebsten: Lederschwarten mit abstoßenden Metallbeschlägen und den fingerdicken goldumrandeten Blättern, auf denen närrisch drapierte oder verschnürte Figuren – Onkel Alex und Tante Riekchen, Trudchen wie sie noch klein war, Papa im ersten Semester – verteilt waren und endlich, um die Schande voll zu machen, wir selbst: als Salontiroler, jodelnd, den Hut gegen gepinselte Firnen schwingend, oder als adretter Matrose, Standbein und Spielbein, wie es sich gehört, gegen einen polierten Pfosten gelehnt. (II, 374f.)

Die im Familienphotoalbum gesammelten Photos sind für Benjamin nichts anderes als eine »Schande«. Dort erkennt er seine Familie und die Verwandten lediglich als Zusammenkunft schlechter Schauspieler in einer falschen Inszenierung wieder. Die Berliner Kindheit versucht dagegen, sich als ein ganz anderes Photoalbum zu präsentieren, indem sie sich vom Familienphotoalbum als Akkumulation der »Schande« möglichst entfernt. Das Stück Die Mummerehlen ist daher auch in dem Sinne programmatisch, daß es den Topos markiert, aus dem sich dieser autobiographische Text zu entfernen versucht. Dieser Kontext verleiht der »Identifikation Benjamins mit dem Prager Autor« eine weitere Lesbarkeit. In dem von Benjamin 1934 geschriebenen Essay Franz Kafka findet sich ein Abschnitt mit der Überschrift Ein Kinderbild. Evoziert wird hier wiederum jenes Kindheitsphoto Kafkas, das in fast gleichem Wortlaut wie in der Kleinen Geschichte der Photographie und in den Mummerehlen beschrieben wird.60 Interessanterweise deutet Benjamin an, daß die große Traurigkeit des inmitten künstlicher Tropen im engen Kinderanzug photographierten Knaben als Quelle der Begierde nach frischem und freiem Raum zu begreifen ist. Die »stickige« und »schwüle« Luft des »in einer 60 | »Es gibt ein Kinderbild von Kafka, selten ist die ›arme kurze Kindheit‹ ergreifender Bild geworden. Es stammt wohl aus einem jener Ateliers des neunzehnten Jahrhunderts, die mit ihren Draperien und Palmen, Gobelins und Staffeleien so zweideutig zwischen Folterkammer und Thronsaal standen. Da stellt sich in einem engen, gleichsam demütigenden, mit Posamenten überladenen Kinderanzug der ungefähr sechsjährige Knabe in einer Art von Wintergartenlandschaft dar. Palmenwedel starren im Hintergrund. Und als gelte es, diese gepolsterten Tropen noch stickiger und schwüler zu machen, trägt das Modell in der Linken einen übermäßig großen Hut mit breiter Krempe, wie ihn Spanier haben. Unermeßlich traurige Augen beherrschen die ihnen vorbestimmte Landschaft, in die die Muschel eines großen Ohrs hineinhorcht.« (II, 416)

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Art von Wintergartenlandschaft« (II, 416) aufgenommenen Photos wird nämlich mit der Romanwelt von Der Verschollene, vor allem mit dem Naturtheater von Oklahoma kontrastiert. Dabei weist Benjamin darauf hin, daß dieses Theater der Gestik und Akrobatik im Freien eben auf dem »Rennplatz« (II, 417) Neulinge wirbt, worauf der Held namens Karl Roßman eingeht. Aus dem alten Kontinent und seiner gesellschaftlichen Matrix der Familie vertrieben, landet der Roß-Man auf der Rennbahn, um seine letzte Hoffnung auf das Glück zu prüfen. Es ist, als ob auf dem Rücken des Pferdes die seit der Kindheit unerfüllten Wünsche getragen würden. So zitiert Benjamin den aus einem einzigen Satz bestehenden Text Kafkas, Wunsch, Indianer zu werden, um seinen diskursiven Fokus auf das Pferd unter amerikanischem Himmel zu bestärken: Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.61

Das »rennende« Tier, dessen Serienphotographien die medientechnische Schwelle von Photographie und Film markierten, erscheint hier als Träger des Wunsches danach, anders zu werden; anders als das, zu dem das Kind im Photoatelier verurteilt wird. In Opposition zum PhotographiertWerden steht die Bewegung des anhaltenden Werdens, für das sogar »das rennende Pferd« zu langsam zu sein scheint.62 Deleuze/Guattari als Autoren eines Kafka-Buchs würden bestimmt eine derartige Lesart Benjamins unterstützen. Denn sie lesen Photos, die bekanntlich in den Texten Kafkas nicht selten auftauchen, als Ausdrucksform des ödipalen Verhältnisses, das Wünsche und Verlangen neutralisiert, territorialisiert und von allen Verbindungsmöglichkeiten abschneidet.63 So heißt es in ihrem Kafka-Buch: »was die Libido des Kindes seit dem ersten Tage besetzt: hinter dem Fami-

61 | Franz Kafka 2002, S. 7. 62 | So kommentiert auch Balke das Indianer-Stück Kafkas zur Erläuterung des Begriffs »Wunschmaschine« von Deleuze/Guattari. Vgl. Friedrich Balke 1998, S. 133. 63 | Gilles Deleuze/Félix Guattari 1976, S. 85.

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lienfoto eine ganze Weltkarte«.64 Und auch Benjamin nahm hinter jenen »unermeßlich traurigen Augen« des photographierten Knaben eben den »Wunsch, Indianer zu werden« wahr. Durch den Wunsch nach Metamorphose verbrüdert Benjamin sich mit Kafka: Was Bernd Witte die »Identifikation mit dem Prager Autor« nannte, ist aus dieser Sicht Benjamins Versuch, sich der Reihe der kafkaschen Verwandelten anzuschließen. Diese Publikation hat die Berliner Kindheit um neunzehnhundert als einen experimentellen Text beschrieben, der den autobiographischen Schriftraum anhand des Modells des Photoalbums reorganisiert. Dabei gibt es einen Kontext, der ein derartiges Experiment zur Erneuerung der Schriftkultur postuliert. Benjamin verkündete nämlich in seinem 1928 erschienenen, surrealistischen (Anti-)Buch Einbahnstraße entschlossen, daß das Zeitalter des Buchs vorbei sei, indem er den Blick auf die moderne Großstadt richtete. Sei es Paris, sei es Berlin, die Großstadt ist in seinen Augen ein neuer Schauplatz der Schrift, auf dem Buchstaben und Lettern wie ein »dichtes Gestöber« (IV, 103) toben. Es geht um Reklame, Filme und illustrierte Zeitungen, also moderne Massenmedien, deren Wahrnehmungsästhetik von der Geschwindigkeit und der Zerstreuung geprägt ist. Die kontemplative Versenkung und Sammlung in der »archaischen Stille des Buches« (ebd.) ist dadurch schwer aufrechtzuerhalten. Mit dem Satz im Stück Vereidigter Bücherrevisor, »daß das Buch in dieser überkommenen Gestalt seinem Ende entgegengeht« (IV, 102), nimmt Benjamin die medientheoretische These vom »Ende der Gutenberg-Galaxis« vorweg.65 Folgerichtig bricht der Autor der Einbahnstraße mit der von Robert Curtius und Hans Blumenberg bearbeiteten, großen Tradition der BuchMetaphorik,66 und er konzipiert sein (Anti-)Buch als eine moderne Straße, die sich der neuartigen Massenkommunikation öffnet: Die Einbahnstraße besteht aus einer Montage von Aphorismen und Kurzprosatexten, die jeweils mit Reklameschildern und Anzeigen, wie auf der Straße in einer Großstadt zu sehen, als Überschriften ausgestattet sind. Das gesteigerte Wahrnehmungstempo und die zerstreuten Rezeptionsmodi von Medien wie Reklame, Film und illustrierter Zeitung werden dadurch experimentell in die Texträume übernommen. Es geht darum, den Begriff des Buchs als privilegierten Raum der Schrift zu problematisieren, um sie im neu64 | Gilles Deleuze/Félix Guattari 1976, S. 17. 65 | Norbert Bolz 1993. 66 | Vgl. hierzu Josef Fürnkäs 1988, S. 223-252.

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en Medienspielraum der Großstadt zu zerstreuen. »Die Straße kann«, so schreibt Josef Fürnkäs, »Bücher und Bibliotheken ersetzen, das Buch selbst definiert sich mit Rücksichten auf die Straße.«67 Die Berliner Kindheit steht ohne Zweifel im selben Kontext wie dieses avantgardistische Buch, das sich angesichts der Krise der abendländischen Buchkultur durch einen spielerischen Rekurs auf moderne Medienverhältnisse umorganisiert. Das zeigt sich schon in der folgenden Tatsache deutlich: Sechs Kindheitsbilder, die unter dem Titel Vergrößerungen bereits einmal auf der Einbahnstraße zur Schau gestellt wurden (IV, 113-116), hat Benjamin, ein wenig verändert, in die Berliner Kindheit aufgenommen.68 Dieser Erinnerungstext entspringt also einem Schreibexperiment, das Medium Schrift vom Format des Buchs zu entkoppeln. So erscheint es fast als schicksalhaft, daß die Berliner Kindheit zu Lebzeiten des Autors nicht als Buch veröffentlicht werden konnte.69 Statt für seine Autobiographie das Buch als Einheitsmaß vorauszusetzen, ließ Benjamin einzelne Stücke getrennt in Zeitungen erscheinen. Aus dieser – dem Exilierten aufgezwungenen – Publikationsweise ergibt sich jedoch eine neue Strukturierung der Autobiographie, die durch das mediale Prinzip des Photoalbums modelliert wird. An die Stelle der Kontinuität, der Linearität und der Homogenität der gedruckten Lettern, die die Gutenberg-Galaxis prägen,70 tritt bei Benjamin eine diskontinuierliche, heterogene und immer einer Veränderung offene Ordnung der Sammlung von den technischen Bildern als Konstruktionsprinzip der Autobiographie. Mit dieser Lesart läßt sich auch das emblematische Motto der Berliner Kindheit: »O braungebackne Siegessäule/mit Winterzucker aus den Kindertagen« (IV, 236) kommentieren. Diese Verse stammen aus Benjamins Drogenexperimenten im Zuge des Surrealismus.71 Darin erscheint das am Großstern inmitten des Berliner Tiergartens stehende Denkmal, das zum Andenken an die siegreichen Kriege vom preußischen Deutschland 67 | Josef Fürnkäs 1988, S. 235. 68 | Es handelt sich um die sechs Stücke Schmöker, Zu spät gekommen, Das Karussell, Verstecke, Speisekammer und Schränke in der Berliner Kindheit. 69 | Dieser Text lief schließlich auf eines seiner »zerschlagnen Bücher« hinaus, wie Benjamin selbst 1935 nach dem mehrfachen Scheitern von Publikationsplänen konstatierte. Walter Benjamin 1999, S. 189. 70 | Marshall McLuhan 1995. 71 | Vgl. hierzu Protokolle zu Drogenversuchen. (VI, 558-618)

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des 19. Jahrhunderts gebaut wurde, in einem märchenhaften Licht. Jener Bezug auf das Märchen, der sowohl Die Mummerehlen als auch Das bucklichte Männlein grundiert, zeigt sich auch in dem Motto deutlich. Denn durch den Haschischrausch wird das nationale Kriegsdenkmal darin in ein appetitliches Gebäude aus Süßigkeit als »Gegenbrot«72 verwandelt. Damit kündigt das Motto die ästhetische Perspektive dieses autobiographischen Textes an: Es gilt, die Großstadtkindheit durch die Wahrnehmung des infantilen Körpers hindurch lesbar zu machen. Als Benjamin die Berliner Kindheit schrieb, war er noch weit entfernt von einem »Greis, der zurückschaut«,73 wie es Wilhelm Dilthey zufolge der Autor von Dichtung und Wahrheit war. Die Souveränität des alten Weimarer Klassikers, mit der dieser auf sein gelungenes Leben zurückblickt, ist der denkbar schärfste Gegensatz zu jener Unverborgenheit, der sich der exilierte Autobiograph aussetzte. Im Stück Wintermorgen nimmt der Autor der Berliner Kindheit selbst einen selbstironischen Bezug auf das der Lebensgeschichte Goethes zugrundeliegende »Konzept von Bildung und Entwicklung«:74 Die Fee, bei der er einen Wunsch frei hat, gibt es für jeden. Allein nur wenige wissen sich des Wunsches zu entsinnen, den sie taten; nur wenige erkennen darum später im eignen Leben die Erfüllung wieder. Ich weiß den, der mir in Erfüllung ging, und will nicht sagen, daß er klüger gewesen ist als der der Märchenkinder. (IV, 247)

Ohne Anführungszeichen zitiert Benjamin hier den Spruch: »Was man in der Jugend wünscht, hat man im Alter die Fülle«,75 der dem zweiten Teil von Dichtung und Wahrheit vorangestellt ist. Er ermißt damit den Abstand von der klassischen Autobiographik. Denn der Wunsch des Kindes, den es am kalten Wintermorgen zunächst im Bett hegte und danach in der Schule wiederholen mußte, wurde erfüllt, und zwar als Folge der Unanpassung in der Bildungsinstitution. Den Wunsch in der Kindheit, »ausschlafen zu können« (IV, 248), sieht der Autobiograph nämlich darin erfüllt, daß bei ihm die Hoffnung auf »ein sicheres Brot« (ebd.) immer umsonst war. Benjamin äußert nicht nur im Motto und in Wintermorgen, sondern auch 72 | Roland Barthes 1986, S. 134. 73 | Wilhelm Dilthey 1981, S. 245. 74 | Martina Wagner-Egelhaaf 2000, S. 165. 75 | Johann Wolfgang von Goethe 1998, Bd. 9, S. 217.

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in anderen Stücken der Berliner Kindheit – wie etwa in Zwei Rätselbildern, Schülerbibliothek oder Zu spät gekommen – die Abneigung gegen die Schule und das bürgerliche Arbeitsethos. Dementspechend erzählt Benjamin keinen entlang der Linie von »Bildung und Entwicklung« gehenden Lebenslauf. Statt dessen fixiert er ephemere Glücksmomente, die die empfindlichen Sinne des Kinderkörpers vibrierten. In Wintermorgen kontrastiert mit dem Unglück im Klassenzimmer das Aroma des im Ofen gebratenen Apfels, in dem das Kind eine geheime »flüchtige Kunde« (IV, 248) spürt. Das Märchenmotiv im Motto, die »braungebackne Siegessäule«, scheint sich darüber hinaus, genauso wie in Die Mummerehlen und in Das bucklichte Männlein, auf eine gewisse Ästhetik der technischen Bilder zu beziehen. Es handelt sich um die Ansichtspostkarte in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, die aus heutiger Sicht surrealistische Bildtechniken und sogar die Ästhetik des frühen Films vorwegnahm.76 Dieser Zusammenhang ist bemerkenswert, wenn man insbesondere bedenkt, daß in der 1928 veröffentlichten Originalausgabe der Einbahnstraße eine Photomontage von Sascha Stone den Einband bildete, und daß Ernst Bloch in seiner Erbschaft dieser Zeit die Struktur dieses Anti-Buchs als »Photomontage«77 bezeichnete. Denn der autobiographische Text Benjamins entsprang, wie bereits bemerkt wurde, diesem surrealistischen Projekt der schriftlichen »Photomontage«. Daraus ergibt sich eine neue Lesbarkeit des Mottos der Berliner Kindheit. Das in einem Drogenexperiment entstandene Motto evoziert in seinen surrealistischen Zügen die »Vorform« der avantgardistischen Bildtechnik, nämlich die (jetzt vergilbte) Ansichtskarte der Siegessäule. Benjamin präsentiert in seiner Autobiographie das Kind als einen Sammler verschiedener Objekte wie Blumen, Schmetterlinge, Zigaretten76 | Paul Virilio 1989b, S. 30: »Nach dem Krieg von 1870/71 begann die Postkartenindustrie damit, die Photographie in den Verkehr einzubringen – mittelbare Bilder, keine direkten, meist anonyme, billige, populäre Bilder. Sie waren sentimental oder erotisch, oft nur Reklame, aber außerdem häufig auch Mittel nationalistischer und revanchistischer Propaganda, für Geburtensteigerung und Wissenschaftlichkeit. Viele wirkten wie Vorformen surrealistischer Collagen, Photomontagen, die reale Landschaften, gezeichnete Requisiten, Phantasiefahrzeuge, groteske Figuren mischen – eine Ästhetik, die der der späteren Filme von Méliès und Zecca verwandt ist.« 77 | Ernst Bloch 1962, S. 369.

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kästen, Briefmarken und Postkarten.78 Die Ansichtspostkarte ist demnach eines der Sammelobjekte des Kindes in der Berliner Kindheit (IV, 254, 280, 288). Wenn das Motto nun auf die Ansichtspostkarte als solche rekurriert, dann verweist es metonymisch auf die gesamten Sammlungen, denen das Kind huldigte. Die Sammelobjekte des Kindes fungieren dabei – trotz ihrer praktischen und semantischen Leerheit – als Behälter der kindlichen Wahrnehmung der Berliner Dingwelt um 1900. Sie erscheinen deswegen für das autobiographische Subjekt appetitlich (»braungebackn«). Darüber hinaus ist das Sammeln auch für das autobiographische Schreiben Benjamins unerläßlich: Seine Autobiographik besteht in der Sammlung der photographischen Erinnerungsbilder. Bekanntlich war Benjamin ein leidenschaftlicher Sammler.79 Daß sein Schreiben nicht ohne manische Sammeltätigkeit auskommt, zeigt exemplarisch das Passagen-Werk, die Sammlung der Zitate und Notizen für das künftige Lebenswerk. Der Aufsatz Eduard Fuchs, der Sammler und Historiker von 1937 impliziert ferner Benjamins Theorie der Sammlung als materialistischer Geschichtsauffassung. So betrachtet, scheint das Motto der Berliner Kindheit, indem es auf das alte Sammelobjekt anspielt, diesen Zusammenhang von Sammeln, Erinnern und Schreiben zu emblematisieren.

2.5 Z ERSTREUUNG AUF DEN F ILM HIN Für die hier vorgeschlagene Lesart der Berliner Kindheit um neunzehnhundert bietet Benjamins Essay Der Erzähler von 1936 einen ebenso relevanten Referenzpunkt wie Einbahnstraße an. Diesem Essay liegt die Diagnose zugrunde, in der Moderne neige die Erzählkunst sich ihrem Ende zu. (II, 442) Dabei weist der Autor auf den Autoritätsverlust des Todes als ein Moment unter anderen hin, das mit dieser Krise des Erzählens wesentlich zusammenhängt: War der Tod früher eine einzigartige Instanz, aus der man seine Erfahrung durch das Erzählen tradierbar machte, wurde er in der modernen Gesellschaft so weit degradiert, daß kein Sterbender mehr seine Lebenserfahrungen mündlich überliefern kann. So wird der Untergang der Erzählkunst mit der im Lauf der Modernisierung veränderten gesellschaftlichen Verortung des Todes in Verbindung gebracht: 78 | Manfred Schneider 1986, S. 139 und Josef Fürnkäs 1999. 79 | Eckhardt Köhn 2000, S. 695-724.

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Und im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts hat die bürgerliche Gesellschaft mit hygienischen und sozialen, privaten und öffentlichen Veranstaltungen einen Nebeneffekt verwirklicht, der vielleicht ihr unterbewußter Hauptzweck gewesen ist: den Leuten die Möglichkeit zu verschaffen, sich dem Anblick von Sterbenden zu entziehen. Sterben, einstmals ein öffentlicher Vorgang im Leben des Einzelnen und ein höchst exemplarischer […] – sterben wird im Verlauf der Neuzeit aus der Merkwelt der Lebenden immer weiter herausgedrängt. […] Nun ist es aber an dem, daß nicht etwa nur das Wissen oder die Weisheit des Menschen sondern vor allem sein gelebtes Leben – und das ist der Stoff, aus dem die Geschichten werden – tradierbare Form am ersten am Sterbenden annimmt. So wie im Innern des Menschen mit dem Ablauf des Lebens eine Folge von Bildern sich in Bewegung gesetzt – bestehend aus den Ansichten der eigenen Person, unter denen er, ohne es inne zu werden, sich selber begegnet ist –, so geht mit einem Mal in seinen Mienen und Blicken das Unvergeßliche auf und teilt allem, was ihn betraf, die Autorität mit, die auch der ärmste Schächer im Sterben für die Lebenden um ihn her besitzt. Am Ursprung des Erzählten steht diese Autorität. (II, 449f.)

Aus der Sicht der vorliegenden Untersuchung ist es fast unmöglich, diese Passage auf das Finale der Berliner Kindheit, das Stück Das bucklichte Männlein, unbezogen bleiben zu lassen, das mit dem kinematographischen Vorbeiflitzen der Bilder vom »gelebten Leben« vor den Augen des Sterbenden schließt. Insbesondere macht sie einen weiteren Grund dafür erkennbar, daß Benjamin auf die Lebensgeschichte als traditionelle Darstellungsform der Autobiographie verzichtete: In den Augen dieses Autobiographen gibt es seit dem 19. Jahrhundert, als die neue Politik für die Organisation des Lebens die »Autorität« des Todes zunichte machte, keine Chance mehr, das »gelebte Leben« durch das Erzählen der Lebensgeschichte überliefern zu können. Aus demselben Grund findet aber auch der Rekurs auf den Film in Das bucklichte Männlein statt. Angesichts der Krise des Erzählens als Kanal, durch den die Erfahrung von Generation zu Generation überliefert und damit das kollektive Gedächtnis akkumuliert wurde, beruft sich Benjamin auf das moderne Massenmedium Film, um seine Gedächtnisbilder doch noch tradierbar zu machen.80 An die Stelle der Erzählung, durch die die Erfahrung von namenlosen Personen überliefert wurde, tritt

80 | Zum Begriff der »Masse« bei Benjamin vgl. Norbert Bolz/Willem van Reijen 1991, S. 95-100.

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bei Benjamin der Film, da er ein modernes Massenmedium, das Medium für die anonyme Großstadtmasse, darstellt. Diese Lesart legitimiert sich nicht zuletzt durch eine Notiz zu dem Erzähler-Essay: »Der Unsinn der kritischen Prognosen. Film statt Erzählung«. (II, 1282)81 Der Film scheint hier als Alternativmedium nach dem »Ende« der Erzählkunst gedacht zu sein. Bedenkt man nun, daß die Berliner Kindheit nicht aus einer Erzählung, sondern aus der Sammlung photographischer Erinnerungsbilder besteht, die am Ende durch den Auftritt des »bucklichten Männleins« nach dem Prinzip des Films konvergieren, dann basiert Benjamins autobiographische Schrift auf dem Gedanken, der sich in der thesenhaft formulierten Notiz »Film statt Erzählung« ausdrückt. Bei genauem Besehen scheint der Stand der Dinge allerdings noch komplizierter zu sein: Wenn es auch Benjamin zufolge mit der Kunst des Erzählens in der Moderne allmählich zu Ende geht, ist es doch eben die Figur aus der Märchenwelt, die den Film in das autobiographische Schrifttum der Berliner Kindheit einführt. Ins Spiel kommt der Film dort einzig aufgrund des Märchenzaubers. Es kommt daher keineswegs auf den Medienwechsel als bloße Substitution an. Was im »statt« in der besagten Notitz verborgen bleibt, muß anhand der weiteren Lektüre des Schlußstücks befragt werden. Das »bucklichte Männlein«, eine Figur aus der romantischen Volksliedersammlung Des Knaben Wunderhorn, wird von Benjamin als ein Geselle jenes Geschlechts im Märchenland evoziert, das »auf Schaden und Schabernack versessen war«. (IV, 303) Das Kind bekam freilich den Zwerg niemals zu Gesicht, noch kam es mit ihm ins Gespräch. »Erst heute« nimmt das autobiographische Subjekt zur Kenntnis, daß der Zwerg es immer angeblickt hatte, wenn es nicht »achtgab«: Erst heute weiß ich, wie er geheißen hat. Meine Mutter verriet mir’s ohne es zu wissen. »Ungeschickt läßt grüßen«, sagte sie mir immer, wenn ich etwas zerbrochen hatte oder hingefallen war. Und nun verstehe ich, wovon sie sprach. Sie sprach vom bucklichten Männlein, welches mich angesehen hatte. Wen dieses Männlein ansieht, gibt nicht acht. Nicht auf sich selbst und auf das Männlein auch nicht. Er steht verstört vor einem Scherbenhaufen: »Will ich in mein Küchel gehn,/Will mein Süpplein kochen;/Steht ein bucklicht Männlein da,/Hat mein Töpflein brochen.« (IV, 303) 81 | Vgl. hierzu Jochen Hörisch 1999, S. 259.

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Die Märchenfigur steht für eine dem Kind innewohnende Unaufmerksamkeit und Zerstreutheit, die allerlei »Ungeschick« herbeiführt. Daraus zieht Benjamin eine weitere Semantik, die der Figur zukommen soll. Das »bucklichte Männlein« geht nämlich, weil sein Blick die Geistesabwesenheit verursacht, mit der Vergessenheit eine Verbindung ein. Das Männlein wird somit in dem auf das Zitat folgenden Absatz als »grauer Vogt« bezeichnet, der »den Halbpart des Vergessens« (IV, 303) eintreibt.82 Vom Zwerg personifiziert wird also nicht nur die Selbstvergessenheit der Zerstreuung, sondern auch die Unerinnerbarkeit der eigenen Vergangenheit. Es gilt nun, aufs neue an Benjamins Proust-Rezeption zu denken. Wie bereits angemerkt wurde, entstand die letzte Passage des Stücks Das bucklichte Männlein vermittels der Umschreibung des Fragments Aus einer kleinen Rede über Proust, an meinem vierzigsten Geburtstag gehalten. Hinter dem Stück Das bucklichte Männlein verbirgt sich also die Poetologie der mémoire involontaire. Zu dem, was Benjamin aus Proust übernimmt, zählt dabei die Einsicht in die paradoxe Nähe des Vergessens zur intensiven Erinnerung. Im Proust-Essay schreibt Benjamin, daß die »mémoire involontaire dem Vergessen viel näher [steht] als dem was meist Erinnerung genannt wird« (II, 311). Und in der Berliner Kindheit ist allein der Zwerg, der die vergessene Vergangenheit des Subjekts verwaltet, imstande, die unwillkürliche Erinnerung in Gang zu setzen. In dem Maße, in dem er für das Reich des Vergessenen zuständig ist, verfügt er über unbewußte Gedächtnisse, die nur unwillkürlich erinnert werden können.83 Die paradoxe Verbindung bzw. Zusammenarbeit von Vergessen und Erinnern wird von der Figur des 82 | Auch im Kafka-Essay Benjamins kommt diese Märchenfigur in Erscheinung, und zwar wiederum im Zusammenhang mit der »Vergessenheit«: »Odradek ist die Form, die die Dinge in der Vergessenheit annehmen. Sie sind entstellt. Entstellt ist die ›Sorge des Hausvaters‹, von der niemand weiß, was sie ist, entstellt das Ungeziefer, von dem wir nur allzu gut wissen, daß es den Gregor Samsa darstellt, entstellt das große Tier, halb Lamm halb Kätzchen, für das vielleicht ›das Messer des Fleischers eine Erlösung‹ wäre. Diese Figuren Kafkas aber sind durch eine lange Reihe von Gestalten verbunden mit dem Urbild der Entstellung, dem Buckligen.« (II, 431) 83 | Es gibt auch eine andere denkbare Referenz, auf die wir hier nicht eingehen können: Friedrich Nietzsches Unzeitgemäße Betrachtungen. Wie Detlev Schöttker schreibt, übernahm Benjamin die »positive Sicht des Vergessens« aus Nietzsches Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, die auch

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»bucklichten Männleins« vertreten. Und diese Doppeldeutigkeit korreliert wohl mit der Ambiguität des Status vom »bucklichten Männlein« selbst, das gleichzeitig eine Märchenfigur und einen Filmvorführer darstellt. Die Ambiguität des »bucklichten Männleins« läßt sich aus medienhistorischer Hinsicht folgendermaßen beschreiben. Diese Märchenfigur wohnte seit Brentanos und Arnims Sammlung deutscher Volkslieder nicht mehr in der unablässigen Kette der mündlichen Überlieferung, sondern im Buch. Das Männlein zog um 1800 in den neuzeitlichen Raum der Bücherwelt um. Benjamin begegnete als Knabe in der Tat, so liest man im Text, dem »bucklichten Männlein« im Deutschen Kinderbuch von Georg Scherer. (VI, 303) Der Autor der Einbahnstraße kündigte jedoch im Blick auf die Medienverhältnisse in der modernen Großstadt das »Ende« des Buchs an: Angesichts des gewitterhaften Tobens der technischen Bilder und der vom Format des Buchs entkoppelten Schrift in der Reklame, in illustrierten Zeitungen, Zeitschriften und Filmen ist die »archaische Stille des Buches« schwer aufrechtzuerhalten. Daher folgt das »bucklichte Männlein«, wenn es als Gedächtnisarchivar arbeitet, nicht mehr dem Gesetz der Gutenberg-Galaxis. Der Zwerg hat das neuzeitliche Universum der linearen Kontinuität der Lettern und Zeilen verlassen, um sich die photographische Augenblicklichkeit als modernen Modus der Gedächtnisarbeit zu eigen zu machen. Die vom Zwerg verwalteten Bilder, »die sich von einander fast nicht unterscheiden«, sind daher durchaus mit den von Muybridge und Marey hergestellten Momentphotographien für die Bewegungsanalyse verwandt. Diese Photo-Experimente mit dem »Optisch-Unbewußten« wurden aber im »denkwürdigen«84 Jahr 1892 von der Geburt in Über den Begriff der Geschichte als Motto zitiert wird. Vgl. Detlev Schöttker 1999, S. 241. 84 | Gerhard Wagner 1992, S. 7: Am »20. August 1892 drehte der in BerlinPankow ansässige Schausteller Max Skladanowsky mit einer selbstgebauten Rollfilmkamera seine ersten ›lebenden Bilder‹. Drei Wochen vor dieser denkwürdigen Tat des deutschen Filmpioniers, am 15. Juli 1892, war in Berlin-Tiergarten Walter Benjamin geboren worden.« Benjamin ist, um einen Ausdruck in der Berliner Kindheit zu verwenden, ein »Zwillingsbruder« (IV, 242) des Films. Wenn er daher auf den Film als das Medium rekurriert, das seinen Kindheitserinnerungen eine Struktur gibt, dann bedeutet dieser Rekurs nichts anderes als eine Solidaritätserklärung mit dem »Zwillingsbruder«, mit dem er Träume der Kindheit geteilt hat. Benjamins Bezug auf den Film impliziert also einen Aspekt der Frage der

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der sogenannten »lebenden Bilder« in einem gewissen Sinne überholt. Dies mußte das »bucklichte Männlein«, auf der Schwelle der Jahrhundertwende stehend, beobachtet haben, denn es verlegt sein Revier in den Film: In der letzten Passage der Berliner Kindheit bindet der Zwerg die Bilder der photographisch einzelnen Erinnerungsstücke mittels des kinematographischen Prinzips. Das Kino erscheint somit als das letzte Refugium der Märchenfigur, die für ihr Überleben den Umzug von der Mündlichkeit über den Buchdruck bis zur Photographie hinter sich hatte. Im Nachwort zu der von ihm selbst herausgegebenen Erstausgabe der Berliner Kindheit bezeichnete Theodor W. Adorno Benjamins Erinnerungsprosa als »Märchenphotographien«.85 Sie konvergieren jedoch schließlich, indem der Zwerg als Filmmeister auftritt, mit dem Film. Es handelt sich bei Benjamin um das Denken eines eigentümlichen Medienübergangs. In der Moderne, die mit einer »Einbahnstraße« vergleichbar ist, wird der Übergang zunächst als eine unumkehrbare Bewegung verstanden. Dies artikuliert sich eben im Umzug des Männleins. Sein Wechsel des Wohnraums widerspricht auch nicht der Notiz »Film statt Erzählung«. Dieser Umzug impliziert aber einen anderen Aspekt: In der ›Passage‹ der Moderne, obwohl sie keinen Rückweg mehr gestattet, wird der uralten Überlieferung des Märchens und seines Zaubers Asyl gewährt. Als eine kleine, häßliche Figur, deren Schrumpfform für das Inkognito günstig ist, wird das »bucklichte Männlein« am Ende im kinematographischen Bildraum seßhaft, damit es wie ein Exilierter überlebt und unter der Hand wirken kann. Aus dieser Bewegung des Exils folgt die Ambiguität des »bucklichten Männleins«. Diese Lesart legitimiert sich auch im Hinblick auf jene Temposteigerung des Lesens in der Lehre des Ähnlichen, mit der erst die magische Kraft der »unsinnlichen Ähnlichkeit« ins profane Reich des Sprachzeichens wiederkehrt. Ist das technische Maß dieses »notwendigen Tempos« eben der Film, in dem vereinzelte Bilder in ein augenblickliches Kontinuum übergehen, dann ist es durchaus logisch, daß das Männlein darin sein Exil findet. Daraus läßt sich schließen, daß die unsichtbare, geheime Arbeit des Männleins genau dem Inkognito des

»Mediengenerationen«. Zum Begriff der Mediengenerationen vgl. Jochen Hörisch 1997. Zur theoretischen Implikation des Begriffs »Zwillingsbruder« für die Autobiographik Benjamins vgl. Manfred Schneider 1986, S. 108. 85 | Theodor W. Adorno 1990, S. 76.

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autobiographischen Subjekts selbst entspricht.86 Die Entsprechung der kollektiven und individuellen Gedächtnisse, die Benjamin für die »Erfahrung im strikten Sinne« (I, 611) voraussetzt, ereignet sich also exemplarisch im Schlußabsatz über den Film des »ganzen Lebens«. In der zweiten Fassung des Aufsatzes Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit87 finden sich einige Stellen, die den Gedanken nahelegen, Benjamin begreife den Film als das moderne Märchen. Dort beschreibt er den Film als jene »zweite« Technik, die es nicht auf »Beherrschung der Natur«, sondern auf »ein Zusammenspiel zwischen der Natur und der Menschheit« (VII, 319) anlegt. Beim Film handelt es sich nicht um ein gewaltiges und unterdrückendes, sondern um ein spielerisches und familiäres Verhältnis des Menschen zur Natur. Was also Benjamin in anderem Kontext im Anschluß an Baudelaire als »Korrespondenz« bezeichnet, kehrt im Film wieder. Hier geht es in der Tat um eine Wiederkehr, denn ein solches »Zusammenspiel« ist Benjamin zufolge eben die uralte »Kunde« (II, 458) des Märchens. Im Erzähler-Essay heißt es: Der befreiende Zauber, über den das Märchen verfügt, bringt nicht auf mythische Art die Natur ins Spiel, sondern ist die Hindeutung auf ihre Komplizität mit dem befreiten Menschen. Diese Komplizität empfindet der reife Mensch nur bisweilen, nämlich im Glück; dem Kind aber tritt sie zuerst im Märchen entgegen und stimmt es glücklich. (II, 458)

Eine komplexe Verflechtung von Mensch und Natur ist die Botschaft des Mediums Märchen, in dem keine Kommunikationsbarriere zwischen humanem und tierischem Wesen errichtet wird. Das derartige utopische Moment des Märchens kann eben im Film wiederkehren, wenn dieses technische Medium auf ein »Zusammenspiel von der Natur und der Menschheit« abzielt. Benjamins spontane Liebe zu Mickey-Maus (VII, 377)88 und den 86 | Anna Stüssi 1977, S. 60. 87 | Diese von Ende 1935 bis Anfang Februar 1936 entstandene Fassung, die lange Zeit als vermißt galt, stellt, wie der Herausgeber der Nachtragsbände schreibt, die »erste definitive« (VII, 661) dar. Dieser »Urtext« (ebd.) des Kunstwerk-Aufsatzes ist, so auch Steiner, »die Fassung, in der Benjamin seinen Text ursprünglich gedruckt sehen wollte«. Uwe Steiner 2004, S. 128. 88 | Micky-Maus taucht bei Benjamin nicht nur im Kunstwerk-Aufsatz, sondern auch in Erfahrung und Armut auf. Im notizhaften Text Zu Micky-Maus spricht Ben-

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Slapstick-Märchen Chaplins89 leuchtet nur in diesem Kontext ein: Diese Filmhelden, die trotz (oder wegen) ihrer Unreife in der hochtechnisierten Umwelt schließlich ihr Glück finden, sind als Inkarnation der Märchenfigur unter der Bedingung der modernen Medienwälder zu verstehen.90 Mangelt es in Benjamins Theorie des Films als Märchen nun jedoch an einer Unterscheidung zwischen Märchen und Film? Diese Frage kann eindeutig verneint werden, wenn man den Kunstwerk-Aufsatz im Kontext mit anderen Schriften im Umkreis des Passagen-Werks liest. Nichts wird, ohne daß es sich irreversibel verändert, in das technische Bildmedium übersetzt. Diese Einsicht zeigt sich insbesondere in der Metapher des »Blicks«, mit der Benjamin seine Wahrnehmungstheorie entfaltet. Auf das Gedicht der correspondances aus den Fleurs du mal bezogen, heißt es im Aufsatz Über einige Motive bei Baudelaire:

jamin ausdrücklich von der »Ähnlichkeit mit dem Märchen« (VI, 145). Zu MickyMaus als »humoristisches Lehrbeispiel des anthropologischen Materialismus« vgl. Norbert Bolz/Willem van Reijen 1991, S. 93. 89 | Chaplins Name bzw. sein Film wird in der zweiten Fassung des KunstwerkAufsatzes viermal erwähnt (VII, 362, 363, 374, 378), während andere weltberühmte Filmemacher dieser Zeit durchweg unberücksichtigt bleiben (Abel Gance ist die einzige Ausnahme). Es ist, als ob Chaplin für Benjamin der Filmregisseur wäre. Vgl. auch Benjamins Artikel Rückblick auf Chaplin (III, 157-159). Benjamin kannte sich offensichtlich etwas mit sowjetischen Filmen aus, da er einen kleinen Bericht Zur Lage der russischen Filmkunst (II, 747-751) schrieb. Aber wie Gerhard Wagner erwähnt, scheinen Benjamins Film-Kenntnisse relativ lückenhaft gewesen zu sein: Benjamin wurde nämlich »bei seiner Auseinandersetzung mit dem Massenmedium Film vom zeitgenössischen deutschen Filmschaffen der zwanziger und dreißiger Jahre, seinen filmerzählerischen und -theoretischen Konzeptionsbildungen kaum unmittelbar berührt«. Gerhard Wagner 1992, S. 105. 90 | Im Film nehmen wohl auch die »Unfertigen und Ungeschickten« (II, 415) in Kafkas Texten, wie etwa die Gehilfen im Schloß-Roman, ihren rechten Platz ein: Benjamin begreift Kafkas Texte als »Märchen für Dialektiker« (II, 415), die »die letzten Verbindungstexte zum stummen Film« (II, 1257) sind. Im Essay Franz Kafka heißt es: »Im Film erkennt der Mensch den eigenen Gang nicht, im Grammophon nicht die eigene Stimme. Experimente beweisen das. Die Lage der Versuchsperson in diesen Experimenten ist Kafkas Lage.« (II, 435) Zur Relation von Kafka und Kino vgl. Hanns Zischler 1996 und W.G. Sebald 2006b, S. 193-209.

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Dem Blick wohnt aber die Erwartung inne, von dem erwidert zu werden, dem er sich schenkt. Wo diese Erwartung erwidert wird (die ebensowohl, im Denken, an einen intentionalen Blick der Aufmerksamkeit sich heften kann wie an einen Blick im schlichten Wortsinn), da fällt ihm die Erfahrung der Aura in ihrer Fülle zu. »Die Wahrnehmbarkeit«, so urteilt Novalis, ist »eine Aufmerksamkeit.« Die Wahrnehmbarkeit, von welcher er derart spricht, ist keine andere als die der Aura. Die Erfahrung der Aura beruht also auf der Übertragung einer in der menschlichen Gesellschaft geläufigen Reaktionsform auf das Verhältnis des Unbelebten oder der Natur zum Menschen. Der Angesehene oder angesehen sich Glaubende schlägt den Blick auf. Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt, sie mit dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen. (I, 646f.)

Das Novalis-Zitat macht deutlich, daß sich die Definition der »Aura« als Erfahrung der Blickerwiderung seitens »des Unbelebten oder der Natur« insbesondere auf die Romantik bezieht. Die romantische Vorstellung, derzufolge der Mensch den Blick der Natur wahrnimmt, das heißt auf die Beziehung der »Korrespondenz« mit ihr eingeht, ist die Referenz des Aurabegriffs. Dazu kann nun der romantisch-auratische Blick im BaudelaireAufsatz als Kontrapunkt zum Kamera-Auge in Betracht gezogen werden. Unmittelbar vor der oben angeführten Stelle merkt Benjamin an: Was an der Daguerreotypie als das Unmenschliche, man könnte sagen, Tödliche mußte empfunden werden, war das (übrigens anhaltende) Hereinblicken in den Apparat, da doch der Apparat das Bild des Menschen aufnimmt, ohne ihm dessen Blick zurückzugeben. (I, 646)

Die These, daß die Reproduktionstechnik seit der Photographie am Verfall der »Aura« teilhat, expliziert Benjamin hier anhand der Metapher des technischen »Blicks«, der auf den menschlichen nicht antwortet. Dem Autor des Kunstwerk-Aufsatzes ermöglicht der Film mit dem derartig unauratischen Kamera-Auge bzw. dem »blicklosen Auge« (I, 649) doch noch jenes »Zusammenspiel der Natur und der Menschheit«. Hier sieht man sich mit der Paradoxie konfrontiert, auf die Josef Fürnkäs am Ende seines AuraAufsatzes anhand der hypothetischen Annahme von »einer Aura ohne Aura«91 verweist. Der Film als die »zweite« Technik steht für das Medium »einer Aura ohne Aura«, mit dem das »Zusammenspiel von der Natur und 91 | Josef Fürnkäs 2000, S. 143.

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der Menschheit« zustande kommen kann, ohne sich auf die Blickerwiderung zu begründen. Darin unterscheidet sich der Film vom Märchen, wenn auch dieses moderne Massenmedium für Benjamin die Erbschaft der kollektiven Gedächtnisse angetreten hat. Auf diese diskontinuierliche Kontinuität von Märchen und Film muß auch der eigentümliche Blick des »bucklichten Männleins« bezogen werden. Der Zwerg blickt nämlich das ungeschickte Kind an, ohne gesehen zu werden. Er wird immer erst nachträglich spürbar, und zwar nachdem das Kind unaufmerksam war. Sein Blick bleibt, während er wie eine Kamera zahlreiche Bilder der Kindheit fixiert und speichert, unwahrnehmbar. Obgleich der Zwerg als Märchenfigur der romantischen Tradition entstammt, hat er mit der auratischen Reziprozität der Blicke nichts zu tun. Er entzieht sich der »Wahrnehmbarkeit« als »Aufmerksamkeit« im Sinne Novalis’.92 Diese Opposition von Aufmerksamkeit und Unaufmerksamkeit, Geistesgegenwärtigkeit und Geistesabwesenheit theoretisiert nun der Kunstwerk-Aufsatz aufs neue mittels des Begriffspaars von »Sammlung« und »Zerstreuung«: Zerstreuung und Sammlung stehen in einem Gegensatz, der folgende Formulierung erlaubt: Der vor dem Kunstwerk sich Sammelnde versenkt sich darein; er geht in dieses Werk ein, wie die Legende es von einem chinesischen Maler beim Anblick seines vollendeten Bildes erzählt. Dagegen versenkt die zerstreute Masse ihrerseits das Kunstwerk in sich; sie umspielt es mit ihrem Wellenschlag, sie umfängt es in ihrer Flut. (VII, 380)

Die »Sammlung« vor der Kunst wird von der »Legende eines chinesischen Malers« illustriert, die in Die Mummerehlen auch erzählt wird.93 Sie bezieht 92 | Irving Wohlfarth 1988, S. 138: »Das bucklicht Männlein scheint also die Gegenprobe auf Benjamins Theorie der Aura darzustellen. Es strahlt eine negative Aura aus. Die Wechselwirkung von Aufmerksamkeit und Wahrnehmbarkeit, welche die Dialektik der Aura ausmacht, verkehrt sich in ihr Gegenteil.« 93 | »Von allem aber, was ich wiedergab, war mir das China-Porzellan am liebsten. Ein bunter Schorf bedeckte jene Vasen, Gefäße, Teller, Dosen, die gewiß nur billige Exportartikel waren. Mich fesselten sie dennoch so, als hätte ich damals die Geschichte schon gekannt, die mich nach so viel Jahren noch einmal zum Werk der Mummerehlen hingeleitet. Sie stammt aus China und erzählt von einem alten Maler, der den Freunden sein neuestes Bild zu sehen gab. Ein Park

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sich auf das Individuum, sei es den Künstler, sei es den Kunstliebhaber. Dazu kontrastiert die zerstreute Rezeption der großstädtischen Masse: Diese kennt keine Konzentration auf die Kunst, da sie wie ein »Wellenschlag« beweglich, kontingent und unkontrollierbar ist. Exemplarisch für die »zerstreute Masse« ist dabei der Kinozuschauer: Die Rezeption in der Zerstreuung, die sich mit wachsendem Nachdruck auf allen Gebieten der Kunst bemerkbar macht und das Symptom von tiefgreifenden Veränderungen der Apperzeption ist, hat am Film ihr eigentliches Übungsinstrument. (I, 505, VII, 381)

Im Kino trainiert sich das großstädtische Kollektiv für die Ästhetik der Zerstreuung. In ihrem elastischen und dynamischen Verhältnis zum Film reagiert die zerstreute Masse spielerisch auf »Chocks«, die insbesondere Filme in ihrer Frühzeit auszeichneten. Erst in diesem »taktischen« (VII, 381) Spiel, das mit der kultischen »Andacht« vor dem Kunstwerk nichts zu tun hat, werden von modernen Großstadtbewohnern »unter der Hand« gewichtige »Aufgaben« bewältigt, »welche in geschichtlichen Wendezeiten dem menschlichen Wahrnehmungsapparat gestellt werden« (VII, 381): Gewöhnung an unaufhörliche Reize, aus denen die modernen Lebenszusammenhänge bestehen. Das Kino wird demzufolge als Exerzierfeld für die Wahrnehmungsorgane begriffen, die sich an neuartige »Chocks« und »Reize« im modernen Großstadtleben, an das, was Benjamin »Filmwirklichkeit« (V, 1026) nennt, gewöhnen müssen. Benjamin sieht also hinter der »Zerstreuung« eine List verborgen, die für das Überleben der Großstädter unerläßlich ist. Er beginnt damit mit der »Umwertung« jener »Zerstreuung«94, die kulturkritische Diskurse im Abendland immer wieder verdammten. Ein Vorläufer dieser »Umwertung« ist für Benjamin sein Freund Siegfried Kracauer. Im Essay Kult der Zerstreuung von 1926 schreibt er bereits, daß die Kritik an der »Zerstreuungssucht« des Berliner Kinopublikums »kleinbürgerlich« ist, insofern war darauf dargestellt, ein schmaler Weg am Wasser und durch einen Baumschlag hin, der lief vor einer kleinen Türe aus, die hinten in ein Häuschen Einlaß bot. Wie sich die Freunde aber nach dem Maler umsahen, war der fort und in dem Bild. Da wandelte er auf dem schmalen Weg zur Tür, stand vor ihr still, kehrte sich um, lächelte und verschwand in ihrem Spalt.« (IV, 262f.) 94 | Gerhard Wagner 1992, S. 103.

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die Zerstreuungsfreudigen auf ihre Weise den Bruch mit den »irreal gewordenen« Kulturgütern ans Licht bringen.95 So sieht Kracauer die Zerstreuung als Ausdruck des Kulturzerfalls und »als Abbild des unbeherrschten Durcheinanders unserer Welt«.96 Dieser Blick auf die »Zerstreuung« als ein kulturrevolutionäres Moment wird etwa zehn Jahre später von Benjamin aufgenommen. In dieser Hinsicht weist Manfred Schneider darauf hin, daß Benjamins Theorie der Film-Zerstreuung eben zu der Zeit entstand, als er als Exilierter an die jüdische Diaspora denken mußte, während Joseph Goebbels durch den Rundfunk die Sammlung des Volks im Dritten Reich ausrief.97 Denn die Zerstreuung ist, wie die Bibel berichtet, keine einfache mentale, sondern auch eine topologische Verfassung.98 Daß dies aber auch für die Sammlung gilt, muß Benjamin als Praktiker und Theoretiker des Sammelns sehr genau gewußt haben. Setzt dieser manische Sammler nun auf die filmästhetische Zerstreuung, dann ist dies bis zu einem gewissen Grad als Wette des Verzweifelten im Exil zu begreifen, der aus Not auf den märchenhaften Umschlag hoffen muß. Heimlich hält diese Hoffnung auf die List der Zerstreuung auch Einzug in die Berliner Kindheit, und zwar mit der Figur des »bucklichten Männleins«, das sich in den Filmvorführer verwandelt, um zu überleben. Denn Benjamin schickt seine Erinnerungsbilder in einen Zerstreuungsraum, indem er sie ins Daumenkino des »bucklichten Männleins« konvergieren läßt.99 Dadurch läßt Benjamin sein autobiographisches Subjekt 95 | Siegfried Kracauer 1977, S. 313f. Vgl. hierzu Daniela Kloock/Angela Spahr 2000, S. 32. 96 | Siegfried Kracauer 1977, S. 316. 97 | Vgl. hierzu Manfred Schneider 1999a, S. 50-53. Vgl. auch Markus Bauer 1999, S. 1582. 98 | So auch Bernd Hüppauf 1999, S. 1598: »Zerstreuung wäre dann nicht allein im Sinn einer mentalen Verfassung, sondern auch im räumlichen Sinn zu lesen, nach dem Modell der Bibel: der einen Sprache und dem himmelhohen Turm von Babel stehen die Sprachvielfalt und die Zerstreuung der Völker in alle Länder, der Sammlung der Juden um den Tempel steht ihre Zerstreuung in alle Welt gegenüber.« 99 | Wenn die sogenannte Fassung letzter Hand der Berliner Kindheit von 1938 dann die Intention auf den Film dadurch gänzlich verleugnet, daß sie fast jeden Bezug auf die Photographie streicht, dann gesteht Benjamin angesichts des Siegeszugs des Nationalsozialismus in der Begleitstimme aus dem Rundfunk ein,

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in die anonyme Masse der Zerstreuten verschwinden. Wie Baudelaires Dichter ohne »Aureole« (I, 651) im Pariser Gedränge, so schmuggelt sich Benjamins »Ich« ins Kino hinein, um das autobiographische Inkognito im kinematographischen Zerstreuungsraum zu perfektionieren. Das Verschwinden des Subjekts hinein ins Kino ist ohne Zweifel das Korrelat jener »Legende« vom chinesischen Maler in den Mummerehlen, mit der die Sammlung vor der Kunst symbolisiert wird. Proust hat, unermüdlich Erinnerungen sammelnd, die Lebensgeschichte in zahlreiche Episoden der Unerkennbarkeit hin zerstreut. Benjamins Autobiographik richtet sich am Ende auf die zerstreute Masse in der Dunkelheit des Kinos aus. Sowohl bei Proust als auch bei Benjamin läuft die Sammlung der Erinnerungen für das autobiographische Schreiben auf die Zerstreuung hinaus. Ihre Autobiographik bejaht diese Selbstvergessenheit, die traditionell (und bis heute) der Gegenstand der Kulturkritik gewesen ist. Daher vermögen die Autobiographen ihre Schriften als chiasmatisches Gedächtnis ihres eigenen Verschwindens in das Rauschen der Differenzen hinein darzubieten. Sie befreien sich somit von dem Zwang, der bis dahin die Gattung Autobiographie definierte: dem Zwang, die Ähnlichkeit der Schrift mit dem Referenten zu simulieren.

seine Wette auf den Film verloren zu haben. Statt des Märchens des Films tritt in Über den Begriff der Geschichte von 1940 das Märchen der Theologie in der Gestalt des »bucklichigen Zwergs« (I, 693) auf.

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3. Brinkmanns autobiographe Ruinen

3.1 S AMMLUNG UND Z ERSTREUUNG EINES FAHRENDEN A UTOBIOGR APHEN »Schnelligkeit bestimmt heute die Qualität.« (Ivan Goll)

Am Anfang von Rom, Blicke steigt Rolf Dieter Brinkmann in einen Zug ein: »Freitag, 14. Oktober, Köln Hbf 0 Uhr 12, der Zug fährt an.«1 So heißt die erste Eintragung seines 1979 postum erschienenen autobiographischen Reisebuchs, das, von montierten Bildern und Dokumenten abgesehen, aus Briefen und tagebuchartigen Notizen besteht. Es geht um die Abfahrtzeit eines Nachtzugs, mit dem der Schriftsteller 1972 zur Reise nach Rom aufbricht. An die Stelle der Datenangabe, die üblicherweise diaristischen oder reiseliterarischen Texten vorangestellt wird, tritt also eine Fahrplanzeit: Die temporale Einheit ist hier weder Tag noch Stunde, sondern die Minute. Und der erste, an die Ehefrau Maleen adressierte Brief stellt folgerichtig eine sehr ausführliche, wenn man so sagen darf, minütlich-minutiöse Beschreibung der Eisenbahnfahrt nach Rom dar. Die Beschreibung der Bahnreise erinnert durch ihre extreme Ausführlichkeit beinahe an das Protokoll eines wissenschaftlichen Experiments. Ihre thematische Besonderheit ist schwer anzugeben. Es fällt jedoch auf, daß diese Beschreibung durchaus »exhaustiv«2 ist. Brinkmann will an1 | Rolf Dieter Brinkmann 1979, S. 6. Im folgenden wird dieser Text mit dem Sigel RB und der Seitenzahl zitiert. 2 | Friedrich Kittler 1995, S. 415. Mit diesem Begriff charakterisiert Kittler den eigentümlichen Schreibduktus der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge: »Die grundsätzliche Unvorstellbarkeit von Realem erzwingt Autopsien, die seine

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scheinend auch kleine Begebenheiten während der Bahnfahrt nicht unkommentiert lassen: die Struktur des Schlafwagenabteils, das Rattern des Zugs, den engen Sitz sowie mehrere Nachbarn im Zugabteil, ihr Kommen und Gehen, das Schweizerdeutsch, die Stimmen italienischer Mitfahrer, fliegende Vögel, das Frühstück und das Mittagessen, eine Paßkontrolle, Signale auf den Bahnhöfen, Polizisten und Soldaten, seine Gedanken, Empfindungen und Assoziationen usw. Größte Aufmerksamkeit gilt aber der durchreisten Landschaft bis in kleinste Details. Es ist nicht so, daß die Landschaft den Schriftsteller anzöge. »Die Schweiz ist«, so schreibt er, »gar nicht so viel Schönes für das Auge.« (RB, 10) Statt sich aber mit der Lektüre einer Zeitung oder eines Krimis zu zerstreuen, konzentriert sich der Schriftsteller entschlossen auf seine Fahrt und insbesondere auf die Augenblick für Augenblick wechselnde Landschaft. So zeichnet er Fensterausblicke von Basel über Olten, Luzern, Bellinzona, Mailand, Piacenza bis Rom minütlich-minutiös auf, und zwar jeweils mit genauen Zeitangaben versehen: Wiesen und Hänge, mannigfaltige Gebirgs- und Wasserlandschaften, die Brinkmann doch pauschal als »Postkartenkulisse« (RB, 13) bezeichnet, wechselnde Wetterlagen und verschiedene Lichtverhältnisse, Häuser, Mietskasernen mit zahllosen TV-Antennen und verwahrloste Höfe, einzelne Bahnhöfe, komplexe Schienenkonstruktionen und andere Gegenstände, die man aus dem Zugfenster sieht. All dies wird in diesem Brief weniger erzählt als vielmehr aufgezählt. Eine intensive Aufzählung, zu der Hermann Peter Piwitt 1979 in seiner Spiegel-Rezension, auf das ausführliche Protokoll der Eisenbahnreise bezogen, bemerkt: »Brinkmann schreibt, als reiste er zum erstenmal per Bahn.«3 In der Tat scheint es für ihn nichts Selbstverständliches auf der Bahnreise zu geben. Es ist, als ob einfach alles, was seine Augen sehen, aufzeichnungswert wäre. Das »inventarisierende Erzählen«, das, wie Michael Zeller schreibt, »der junge Brinkmann dem nouveau roman abgeschaut hat«,4 kommt also hier auch ins Spiel, wo es nicht um stillstehende Gegenstände, sondern diskreten Elemente eins nach dem anderen verzeichnen. Genau das tut Brigge, wenn er alle ärztlichen Eingriffe am Leichnam seines Vaters aufzählt. Genau das tut Brigge aber auch in Paris, wenn er (unter Umgehung des Pantheons) abgerissene Häuser, blinde Zeitungsverkäufer, Krankenhauswartezimmer und Moribunde zur Sache eines Schreibens macht, das exhaustiv wie die Medien vorgeht.« 3 | Hermann Peter Piwitt 1979, S. 252. 4 | Michael Zeller 1980, S. 390.

3. B RINKMANNS AUTOBIOGRAPHE R UINEN

– wie im Kinofilm – um fließende Landschaftsbilder geht. Die manische Detailhaftigkeit der Aufzeichnungen läßt sich also zunächst einmal im Hinblick auf einen literaturhistorischen Zusammenhang begreifen: Brinkmann, Schriftsteller aus dem Umkreis der sogenannten »Kölner Schule«, steht der französischen Romantheorie und -praxis von Alain Robbe-Grillet, Nathalie Sarraute, Michel Butor oder Claude Simon nahe.5 Dazu sollte noch Brinkmanns Blick auf die technischen Bedingungen seiner eigenen Reisebewegung, nämlich die Eisenbahn und ihre Geschwindigkeit, in Betracht gezogen werden. Was beim Reisen erfahren wird, veränderte sich seit dem Aufkommen der Eisenbahn im 19. Jahrhundert von Grund auf: Spätestens für die Vormärz-Generation war die Epoche einer synästhetisch erfahrbaren Reise zu Ende, bei der man, sei es zu Fuß, sei es in der Kutsche, die frische Luft einatmen, die Landschaft betrachten, Vogelstimmen hören und frisches Grün riechen konnte.6 Denn die Geschwindigkeit, durch die sich dieses moderne Fahrzeug auszeichnet, ließ den Reiseraum irreversibel schrumpfen und abstrakt werden. Die Reise drohte, sich auf eine zwar kurze und zielstrebige, doch gleichzeitig auch monotone, geradlinige Bewegung zwischen Start und Ziel zu reduzieren, und das Dazwischen war schwierig zu er-fahren.7 Dies triftt insbesondere auf die Landschaftserfahrung aus dem Zugfenster zu. Wolfgang Schivelbusch stellt fest: »Die Schwierigkeit, überhaupt noch etwas in der durchreisten Landschaft zu erkennen außer den gröbsten Umrissen, spricht aus allen

5 | Zur »Kölner Schule« und deren Orientierung am nouveau roman vgl. Ralf Schnell 2003, S. 330f. Zu Brinkmanns Verhältnis zum nouveau roman vgl. Sibylle Späth 1989, S. 34f. und Michael Strauch 1998, S. 35-41. 6 | Wolfgang Schivelbusch 2000, S. 53. Vgl. hierzu auch Paul Virilio 1990, Götz Großklaus 1995, S. 72-81. 7 | Darauf deutet Brinkmann selber mit einer Montage von Schrift und Photo hin: Auf der Seite nach dem ersten Schriftblock des Buchs, also der Seite, die man gleichzeitig sehen müßte, wenn man die eingangs zitierte erste Eintragung liest, findet sich eine Photomontage, die ein Photo des Hauptbahnhofs von Rom mit dem Spruch »What are you waiting for?« (RB, 7) koppelt. So demonstriert Brinkmann, daß er schon im voraus bzw. vor der Abfahrt weiß, was er am Reiseziel sehen wird. Er präsentiert sich somit als desillusionierter Reisender, der auf der Reise keinerlei Abenteuer erwartet. Diese Desillusion grundiert seine protokollhafte Beschreibung der Fahrt nach Rom.

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frühen Beschreibungen von Bahnreisen.«8 Schwierig wahrnehmbar ist die Landschaft nicht, weil es nichts zu sehen gäbe, sondern im Gegenteil: Die Geschwindigkeit der Zugfahrt erhöht auf einmal die Menge der visuellen Informationen bis zu einem Grad, der dem Auge die Verarbeitung beinahe versagt. Die perspektivische »Rahmenschau«9 der Landschaft, die sie im 18. Jahrhundert als etwas »Schönes für das Auge« genießbar machte, wird zersprengt, und zu viele bruchstückhafte »Fetzen der Landschaft« strömen auf das Auge ein. Brinkmann schreibt: [I]mmer waren nur Fetzen der Landschaft draußen zu sehen, runde, ovale, übergroße Felsbrocken, Abhänge, steinige Rinnsale, die Farben wechselten oder gingen übereinander von hellem, verwaschenem Grau in ein dunkles Grau – bis dann der Gotthard-Tunnel kam – ein feuchter, von kaltem Nebel beschlagener Bahnhof, lichtlos, nur die nassen Schienen und nassen stehenden Wagen und Züge – kein lebhaftes Rangieren – eine auffällige Stille, die einfach nur leer war – große rundbogige Löcher in einer Felswand und auf dem Nebengeleise ein stillstehender, wartender Güterzug […]. (RB, 10)

Hier wird nicht erzählt, sondern aufgezählt, weil für den Betrachter am Zugfenster die Geschwindigkeit die Landschaft fortgesetzt in zahlreiche Bruchstücke zerlegt. Demgemäß wird der Satz im Zitat in Adjektive und Substantive zerlegt, die sich immer weiter anhäufen und zur Aufzählung führen. Die Minutiösität der aufzählenden Aufschreibung sollte also der Geschwindigkeit des modernen Verkehrsmittels entsprechen. So betrachtet ist hier offensichtlich ein gewisser Imperativ am Werk, den ein mit der Bahn fahrender Autobiograph befolgen muß. Wenn er nicht leer ausgehen will, muß er vorbeischießende Landschaftsbilder, die sich ihm nur einen Augenblick lang darbieten, doch noch unterscheidend wahrnehmen und möglichst präzis aufzeichnen. Und selbstverständlich verlangt dieses Geschäft ununterbrochene Geistesgegenwart. Der Imperativ heißt also aufmerksam sein. Er ist dabei, wie Jonathan Crary vermerkt, als die »Grundvoraussetzung«10 der experimentellen Psychologie anzusehen. 8 | Wolfgang Schivelbusch 2000, S. 54. 9 | August Langen 1965, Bernd Busch 1995, S. 112f., Manfred Schneider 1998, S. 211f. 10 | Jonathan Crary 2002, S. 30: »Die Aufmerksamkeit ist nämlich nicht bloß einer der vielen von der Psychologie des späten neunzehnten Jahrhunderts ex-

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Wenn Brinkmanns Aufzeichnungen der Eisenbahnreise nun an ein Protokoll irgendeines psychologischen bzw. psychophysischen Experiments erinnern,11 dann liegt der Grund wohl hierin: Der Schriftsteller soll im Zug so aufmerksam sein wie eine Versuchsperson im geschlossenen Labor, die von ihrem Willen unabhängig einer Menge von Informationen und Reizen ausgesetzt ist. Wie ein Proband muß sich Brinkmann sammeln, um vereinzelte Bilder im Nu empfangen und darauf reagieren zu können, obgleich sie nicht der Bewegung seines eigenen Körpers entsprechen, sondern mit der Fahrt der Eisenbahn gleichursprünglich sind: […] denn die Landschaften vermengten sich andauernd, die einzelnen Eindrücke reihten sich in mir immer weiter auf – man selber bleibt ja praktisch immer auf derselben Stelle und die Außenwelt summiert sich. (RB, 9)

Der bahnfahrende Autobiograph bleibt durchaus passiv gegenüber den Reizen, die er aufzeichnet: Obwohl er sich im Zug nicht bewegt, »ja praktisch« stillsteht bzw. -sitzt, empfängt er immer weiter zunehmende Eindrücke. Den Autor von Rom, Blicke kennzeichnet diese Passivität des Wahrnehmungssubjekts. Die radikale Exponiertheit des hilflosen Körpers in der modernen Großstadt wird dem Schriftsteller im Fortgang des Textes zur Einfühlung in einen häretischen Märtyrer, den in Rom als Ketzer verbrannten Neoplatoniker Giordano Bruno, verhelfen. (RB, 68, 129-133) Bevor er aber noch in dieser Stadt ankommt, hat der Aufmerksamkeitsund Sammlungs-Imperativ im Zug den Autobiographen schon vorher in einen solch leidenschaftlich wahrnehmenden Körper im »Empfinden des Ausgeliefertseins« (RB, 10) verwandelt.12 perimentell erforschten Topoi, sondern sie ist die Grundvoraussetzung ihres Wissens.« Vgl. auch Nicolas Pethes/Jens Ruchatz 2001, S. 59f. 11 | Brinkmanns Prosatext Flickermaschine ist buchstäblich aus »Selbstexperimenten durch Schlafentzug und Tabletteneinnahme« entstanden, um die Reaktionen des Nervensystems zu untersuchen. Sibylle Späth 1989, S. 66. Diesem Versuch liegt das Buch des amerikanischen Neurophysiologen William Grey Walter, Das lebende Gehirn, zugrunde. Vgl. hierzu Thomas Bauer 2002, S. 98. 12 | Diesen Aspekt erläutert Uwe Schweikert auf eine psychologisierende Weise: »Daß er, was ihm widerfährt, in einer Flucht historischer Vorbilder – Gescheiterter und Ketzer wie er – von Giordano Bruno bis Hans Henny Jahnn (dessen Fluß ohne Ufer er in Rom liest) gespiegelt sieht, verweist viel eher auf eine

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Brinkmanns Sammlung am Zugfenster geht Hand in Hand mit dem protokollierenden Schreiben. Ergebnis ist eine Autobiographik, die auf eine aufzählende Sammlung bruchstückhafter Eindrücke hinausläuft. Wie bereits bei Proust und Benjamin geht es also um Sammlung in der doppelten Hinsicht von Konzentration und Kollektion. Von ihnen grenzt sich Brinkmann jedoch deutlich dadurch ab, daß seine Sammlung nicht primär auf Kindheitserinnerungen zielt. In seiner eigentümlichen Autobiographik, die nicht die Kindheit, sondern die Gegenwart privilegiert, gilt es, Daten und Fakten aus der jüngsten Vergangenheit so genau wie möglich zu registrieren. Das kommt auch daher, daß Brinkmann diese Reise als Vorbereitung für seinen geplanten zweiten Roman sieht: Nach seinem ersten Roman Keiner weiß mehr (1969) arbeitete er intensiv an einer Materialsammlung für einen zweiten, der aber niemals entstanden ist. Statt dessen stellte er daraus eine Reihe von scrapbooks zusammen. Neben Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Reise Zeit Magazin (1987) und Schnitte (1988) gehört Rom, Blicke dazu. Das scrapbook ist dabei ein von William S. Burroughs entlehntes Format für ein literarisches Experiment,13 bei dem eigene Notizen und fragmentarische Aufzeichnungen assoziativ mit verschiedenen Bild- und Textmaterialien in Verbindung gebracht werden: So hat Brinkmann in Rom, Blicke etwa Photos, Ansichtskarten, pornographische Bilder, Comics, Fahrscheine, Fahrpläne, Quittungen, Stadtpläne, Landkarten, Zitate und photokopierte Texte anderer Autoren, die er gerade gelesen hat, mit seinen eigenen Texten, mit Briefen und tagebuchartigen Notizen montiert. In diesem autobiographischen Buch wurde auf diese Weise eine gigantische Menge von Daten und Fakten aus seinem Lebensmilieu gesammelt, und zwar als eine Art von ›Übung‹ für den geplanten Roman. Die Versammlung diverser Ansätze,

Leidensfähigkeit, eine Leidenswollust auch auf eine Wüste psychischer Art, die in masochistische Identifikation umschlägt.« Uwe Schweikert 1981, S. 85. 13 | In diesem Zusammenhang darf Burroughs’ Text Rückkehr nach St. Louis nicht unerwähnt bleiben. Der Text ist in der von Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla herausgegebenen Anthologie Acid erschienen, und Burroughs berichtet dort über eine Zugfahrt, während der er schreibt und auch photographiert. Bemerkenswerterweise wird er einmal auch in Rom, Blicke erwähnt. (RB, 374) Hierzu vgl. Andreas Kramer 1995, S. 160. Zu Brinkmanns Rekurs auf Burroughs vgl. auch Thomas Bauer 2002, S. 91-102.

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die später entwickelt werden sollten, macht eine grundlegende Schicht der Autobiographik Brinkmanns aus. Dieser Aspekt bringt eine funktionelle Eigenschaft der Photographie in Rom, Blicke ans Licht. Bereits in dem diskutierten Brief fügt Brinkmann seiner schriftlich angestellten Sammlung von visuellen Eindrücken zahlreiche Photos hinzu, die er selbst am Zugfenster aufgenommen hat. Um die augenblicklich ›vorüberfliegende‹ Landschaft zu registrieren, bediente er sich seiner Handkamera »Instamatic« (RB, 124). Daß diese Photos in Verbindung mit den schriftlichen Skizzen und Notizen für die Arbeit an dem zukünftigen Roman nützlich sein sollten, versteht sich fast von selbst. Sie kommen hier also nicht in der Funktion eines Erinnerungsmediums ins Spiel, das mehr oder weniger alte bzw. vergessene Erinnerungen zurückriefe. Sie sind vielmehr das Medium für das Festhalten des »Kurz-ZeitGedächnisses«14 bzw. für das Nicht-Vergessen der jüngsten Vergangenheit. Die Kompaktkamera fungiert bei Brinkmann, um noch einmal George Eastman zu zitieren, als »ein photographisches Notizbuch«.15 So gesehen ist Brinkmanns Kamera nicht ohne Grund die »Instamatic«, da sie ein in den 1960er Jahren weit verbreitetes Handkamera-Modell eben der Firma Eastman Kodak darstellt. Und darin ist auch ein »Kodak-Film« (RB, 111) installiert. Der Vorzug dieses »Notizbuchs« liegt in diesem Kontext auf der Hand: Damit geschieht eine Einschreibung fast ohne Verzug. Sie erlaubt Brinkmann, sich mit der Geschwindigkeit der Eisenbahn auseinanderzusetzen, der er mit seiner notierenden Hand allein nicht gewachsen wäre. Mehr als 30 Aufnahmen, die er so am Zugfenster machte, werden in das Buch montiert. (RB, 11, 12, 15, 17, 19) Einige davon heben dabei durch Unschärfe die Geschwindigkeit des Zugs hervor. Motivisch beziehen sie sich meist auf die oben angeführten landschaftlichen Elemente, die der Schriftsteller im Brieftext beschreibt. Daher kann man zunächst einmal grob formulieren: Was er schreibt, zeigt Brinkmann auch durch die Photographie. Durch dieses Verfahren der Wiederholung und des Medienwechsels 14 | Dieses Begriffs bedient sich Brinkmann selbst in seinem programmatischen Essay Der Film in Worten, um die Poetologie der amerikanischen PopLiteratur zu kennzeichnen: »Die Beschränkung auf die Oberfläche führt zum Gebrauch der Oberfläche und zu einer Ästhetik, die alltäglich wird. Das Kurz-ZeitGedächtnis wird bevorzugt.« Rolf Dieter Brinkmann 1982, S. 233. 15 | Vgl. hierzu 1.3 Photographische Ästhetik in der Recherche I: Technische Innovationen.

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erhöht sich die Präzision des Reiseprotokolls. Die Präzisionssteigerung der Aufzeichnung, die der Text ohnehin intendiert, wird durch den Einsatz der technischen Bilder potenziert. Diese Montage demonstriert aber darüber hinaus, indem sie die Form des »scrapbook« annimmt, das Unvollendet-Sein bzw. das Auf-dem-Weg-Sein der Arbeit. Insofern ist Brinkmanns schriftliche und photographische Sammlung von ›Aufnahmen‹ der »Kurz-Zeit-Gedächtnisse« nicht von geschlossener Natur. Weil sie sich als Probearbeit bzw. Vorbereitung für den kommenden Roman präsentiert, stellt sie ihre Offenheit auf die Zukunft hin zur Schau.16 Nicht umsonst ist ja Brinkmann nach Rom unterwegs. Das bedeutet: Was Brinkmann als Autobiographie darbietet, ist keineswegs gelebtes Leben, das dem Schreiben vorausginge, sondern das eigene Leben ›unterwegs‹ mit schriftstellerischer Arbeit, die noch im Gang ist.17 Diese Autobiographik ist also radikal gegenwartsbezogen. Trotz dieser Eigenart läßt sich eine weitere Anschlußlinie finden, die sie mit der von Proust und Benjamin verbindet. Als Brinkmann am Anfang des an seine Frau adressierten, ersten Briefs über die Bahnreise von Köln nach Rom berichten will, resümiert er sie folgendermaßen: Die Fahrt ohne Aufenthalt war recht anstrengend. 6 Stunden durch Deutschland bis Basel, 6 Stunden durch die Schweiz, 8 Stunden durch Italien, etwa 1100 Kilometer, und am Schluß kam es mir vor wie ein Delirium, denn die Landschaften vermengten sich andauernd, die einzelnen Eindrücke reihten sich in mir immer weiter auf – man selber bleibt ja praktisch immer auf derselben Stelle und die Außenwelt summiert sich. (RB, 9)

Sobald Brinkmann eine Bilanz aus der zwanzigstündigen Zugfahrt zu ziehen versucht, kommt ihm schon das Wort »Delirium« in die Feder. Seine Sammlung der immerwährend zunehmenden »einzelnen Eindrücke« läßt 16 | »Einen 379 Seiten-Roman schreiben, fein und genau, exakt und radikal, in einem Block gebunden, nicht runder Rücken: das wärs, was ich möchte und will.« (RB, 414) Vgl. hierzu auch Brinkmanns Notizen und Beobachtungen vor dem Schreiben eines zweiten Romans. 1970/74. In: Rolf Dieter Brinkmann 1982, S. 275-295. 17 | Auf »das absolute Gesetz der Selbstreferenz: ich schreibe, daß ich schreibe« seit der Autobiographik Prousts weist Manfred Schneider hin. Manfred Schneider 1986, S. 75.

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den Schriftsteller am Zugfenster schließlich in psychische Grenzzustände geraten. Seine intensive Sammelarbeit führt, wie er später in demselben Brief noch einmal betont, »zu einer Art Delirium« (RB, 14), das heißt zu einer grenzwertigen Zerstreuung des Bewußtseins. Die Zerstreuung hat bei Brinkmann also nichts mit der »Reiselektüre« zu tun, die so alt wie die Eisenbahnreise selbst ist.18 Sie ist keineswegs auf ein Divertissement reduzierbar. Sie ereignet sich vielmehr aufgrund einer intensiven Auseinandersetzung mit der Fahrtbewegung bzw. Lokomotion, aufgrund einer extremen Anstrengung der Augen im Dienst einer Sammlung der Landschaftsbilder. Die Zerstreuung ist der Autobiographik Brinkmanns, wie schon bei Proust und Benjamin – wenn auch anders –, nicht äußerlich. Sie entspringt unmittelbar der Konzentration und Kollektion, ohne die eine Autobiographie sowohl im landläufigen Sinne als auch im Sinne Brinkmanns nicht zu schreiben ist. Doch woran liegt es, daß die Zerstreuung bei Brinkmann zuerst die (Un-)Form des »Deliriums« annimmt? Was dem bahnfahrenden Autobiographen Brinkmann widerfährt, ist offensichtlich keine futuristische Trance aufgrund der hohen Geschwindigkeit, obwohl Hermann Peter Piwitt – einer der Adressaten von Brinkmanns Briefen aus Rom (RB, 260-279) – den Autor von Rom, Blicke tadelnd als »D’Annunzio aus Vechta/Oldenburg«19 bezeichnete. Und es geht auch nicht um einen Kurzschluß der Geschwindigkeit mit dem uralten Rausch dionysischer Erotik, den Gottfried Benn – der Dichter, den Brinkmann zeitlebens hochschätzte und auch in Rom, Blicke mehrmals erwähnt – in seinem Gedicht D-Zug anstellte: »Darin ist Süden, Hirt und Meer.«20 Bei Brinkmann zerrt die Geschwindigkeit eher Angstvorstellungen herbei: Das Flitzen und Rumpeln war regelrecht wüst, und ich hatte den Eindruck, daß der Lokführer kräftig in die Pedale tritt, um rauszuholen, was an Geschwindigkeit möglich war. Zwischendurch wieder das Empfinden, daß der Zug vor lauter verrückter Geschwindigkeit aus den Schienen springen müßte. – Die Landschaft zerfetzt, öde, kaputt. (RB, 13)

Die Geschwindigkeit evoziert metonymisch einen Zugunfall. Und diese Katastrophenvorstellung verbindet sich wiederum metonymisch mit je18 | Wolfgang Schivelbusch 2000, S. 62-66. 19 | Hermann Peter Piwitt 1979, S. 252. 20 | Gottfried Benn 1986, Bd. I, S. 24.

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nem »Delirium« am Ende der Fahrt. Denn diese Bewußtseins-Zerstreuung ergibt sich gleichfalls aus der Geschwindigkeit und den überbordenden »Fetzen der Landschaft« (RB, 10). Sowohl die Auflösung des Bewußtseins als auch die Katastrophe folgen also aus der Schnelligkeit des Zugs. Wenn die Zerstreuung bei Brinkmann ein »Delirium« ist, dann deshalb, weil sie ihren Grund eben in »lauter verrückter Geschwindigkeit« hat, deren Endstation, so Brinkmanns Imagination, eine Katastrophe sein müßte.21 Roma Terminal! Der Zugunfall findet nicht statt, aber mit einer anderen Katastrophe sieht sich Brinkmann konfrontiert, als er in Rom ankommt, nämlich mit dem Verfall der Weltstadt Rom. Das Motto der Italienischen Reise evozierend, schreibt er über die ersten Eindrücke am Ankunftstag: »Auch ich in Arkadien!« hat Göthe geschrieben, als er nach Italien fuhr. Inzwischen ist dieses Arkadien ganz schön runtergekommen und zu einer Art Vorhölle geworden. (RB, 16)

Dieser Passage, die im ersten, an Maleen Brinkmann adressierten Brieftext enthalten ist, kommt programmatische Bedeutung zu: Brinkmann artikuliert seine Wahrnehmungsperspektive bereits am Ankunftstag in Opposition zum kanonischen Klassiker der deutschen Institution der Bildungsreise nach Italien, den er absichtlich in der abweichenden Form »Göthe« schreibt. Der spätestens seit Nicolas Poussin klassizistische Züge tragende Topos von Arkadien, dem gemäß noch Goethe Italien idealisierend wahrnehmen konnte, ist zur bloßen Bildungsreminiszenz verkommen und ›im Leben‹ außer Geltung geraten.22 Brinkmann unternimmt es daher, seinen als Stipendiat der Berliner Akademie der Künste in der Villa Massimo verbrachten Rom-Aufenthalt von 1972/73 als das genaue Gegenteil einer Reise nach »Arkadien«, nämlich als einen grausamen Besuch in der »Vorhölle« zu präsentieren. Anstelle von Lebensfreude, Liebe und Naturnähe, die um 1800 aus Italien das Reich der Poesie machten, nimmt er dort immer wieder Verstümmelungen des Lebens, Verwüstungen der Sinnlichkeit, chaoti21 | Übrigens ist das Zitat auch geschichtsphilosophisch zu lesen, da ein apokalyptischer Grundton den gesamten Text Rom, Blicke wie ein Leitmotiv durchzieht. Vgl. auch Brinkmanns Photomontage Aus dem Notizbuch 1972, 1973 Rom Worlds End, Text & Bilder. Rolf Dieter Brinkmann 1982, S. 95-120. 22 | Zur Geschichte des Arkadien-Topos und zu seiner »Destruktion« durch Brinkmann vgl. Wolfgang Adam 1989.

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sche Turbulenzen der Großstadt und eine charakteristische Ubiquität der Todessymptome wahr.23 Nach dem imaginierten Zugunfall überfällt den Autobiographen also die Katastrophe der modernen Großstadt. Die absichtliche Entstellung der Schreibweise des allzu bekannten Eigennamens ist ein kleines Emblem, das den Wunsch des Schriftstellers markiert, den kanonischsten Autobiographen der deutschen Literatur polemisch zu überbieten bzw. zu unterbieten.24 In der Tat macht sich Brinkmann im weiteren Verlauf des Textes daran, das Motto der Italienischen Reise als eine leer und absurd gewordene Phrase erscheinen zu lassen, indem er es mehr als einmal gerade in Kontexten zitiert oder kommentiert, die das Feindbild »Göthe« aufbauen. (RB, 34, 47, 79) Die ostentative Aversion gegen Goethe gipfelt in der sarkastischen Passage: Man müßte es wie Göthe machen, der Idiot: alles und jedes gut finden/was der für eine permanente Selbststeigerung gemacht hat, ist unglaublich, sobald man das italienische Tagebuch liest: jeden kleinen Katzenschiß bewundert der und bringt sich damit ins Gerede. (Ich hab mal aus Neugierde hineingeschaut gestern Nacht, vor allem aber deswegen, um zu sehen, was er über Karl Philip Moritz geschrieben hat, den er hier in Rom traf und der einen Reisebericht der ihm vom Verleger vorgeschossen worden ist, über Rom zu schreiben/daraus ist bei Moritz nichts geworden, er brach sich zuerst mal einen Arm, als er auf einem Pferd ritt, und dann wurde er noch überwältigt durch das Gerümpel, etwa 1783?))/ (RB, 115)

23 | Vgl. hierzu auch Hermann Rasche 1995. 24 | Dieser Aspekt könnte auch erklären, warum die zwei für das moderne Reisen charakteristischen Hilfsmittel, Eisenbahn und Photographie, Brinkmanns autobiographische Berichte über die Italienreise eröffnen. Eisenbahn und Photographie sind nämlich technische Reisebedingungen, die Goethes Italienische Reise noch nicht bestimmt hatten: Der Dichter reiste in der Kutsche und zeichnete zum Memorieren »schöner Gegenstände« diese von Hand ab. Es heißt etwa in seinem Brief vom 16. Juli 1787 aus Rom: »Gezeichnet und illuminiert wird auch fleißig. Man kann nicht aus dem Hause gehn, nicht die kleinste Promenade machen, ohne die würdigsten Gegenstände zu treffen. Meine Vorstellung, mein Gedächtnis füllt sich voll unendlich schöner Gegenstände.« (Johann Wolfgang von Goethe 1998, S. 369) Zu den bildlichen Aufzeichnungen Goethes auf der Reise vgl. Bernd Busch 1996.

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Hinter der Pose der Respektlosigkeit, die der ehemalige Popliterat annimmt,25 verbirgt sich eine bestimmte Literaturpolitik: Es geht darum, die institutionalisierte Bildungsreise des deutschen Künstlers nach Italien lächerlich zu machen, die Brinkmann selbst wohl oder übel auf sich genommen hat. Der Bruch mit dem deutschen Klassiker bräuchte nicht so radikal inszeniert zu werden, wenn diese literarische Institution Brinkmanns Schreibgegenwart in Rom nicht wesentlich bestimmen würde. Im klaren Bewußtsein dieser Bindung nennt Brinkmann die Villa Massimo, in der er mit anderen Stipendiaten zusammen wohnt, ein »Künstler-TierGehege des Staates« (RB, 278, 343). Es gibt aber einen weiteren Punkt, der Brinkmann an den Autor der Italienischen Reise bindet: Brinkmann ist damals, genau wie Goethe fast 200 Jahre zuvor, als Italien-Reisender an einem literarischen Wendepunkt: Die revolutionäre Zeit der Popliteratur ist schon vorbei, als Brinkmann 1972 zu der Reise aufbricht. Die Innovation der literarischen Sprache durch die Hinwendung zur subkulturellen Oberflächenästhetik und Popular-Mythologie, jene rebellische Provokation eines jungen Schriftstellers, die nicht bloß zeitlich mit der Studentenbewegung von 1968 korrespondiert, ist ihrer Natur nach auf Dauer kaum durchzuhalten. Der popliterarische Revolutionskalender zählt nur drei Jahre, wenn man Brinkmann dabei durch die von ihm herausgegebene Anthologie amerikanischer Gedichte unter dem Titel Acid (1969) sowie durch seine Gedichtbände Godzilla (1968), Die Piloten (1968) und Gras (1970) exemplarisch vertreten sieht. Brinkmann ist 1972 nun auf der Suche nach einem Neueinsatz, wie Goethe 1786 beim Aufbruch nach Italien vor dem Beginn der sogenannten Weimarer Klassik. In der zitierten Passage verhöhnt Brinkmann also gezielt Goethe als Vorläufer, dessen Reise er in mehrfacher Hinsicht wiederholen muß.26 Aber wie die affektvollen Angriffe auf »Göthe« sind auch die Sympathien für Moritz als Moment einer literaturpolitischen Strategie anzusehen. Moritz als Autor des autobiographischen Romans Anton Reiser und 25 | In Rom, Blicke stellt Brinkmann ausdrücklich fest, »daß die Intensität der Aufnahme abgenommen habe seit dem ganzen Kram von Revolution und Pop und Links und Drogen«. (RB, 76) Zu Brinkmann als Schriftsteller der Popliteratur vgl. Jörgen Schäfer 1997 und Ralf Bentz 1999. 26 | Es ist beispielsweise ein bezeichnendes Wiederholungsmoment, daß Brinkmann in Rom kaum weniger emsig photographiert, als Goethe in Italien zeichnete. Vgl. hierzu Irmgard Egger 2006, S. 103f.

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des allegorischen Romans Andreas Hartknopf wurde bekanntlich von Arno Schmidt aus der literaturhistorischen Vergessenheit geholt.27 Brinkmann geht dem Weg nach, den Schmidt als literarischer Alleingänger gegenläufig zur akademischen Literaturgeschichtsschreibung entdeckte.28 Interessant ist, daß sich auch Peter Handke, ein anderer ehemaliger Popliterat, in seinem Reiseroman Der kurze Brief zum langen Abschied von 1972 auf Moritz bezieht: Den zwei Teilen, aus denen der Roman besteht, sind jeweils Anton-Reiser-Zitate vorangestellt.29 Moritz taucht als gemeinsamer Bezugspunkt auf, wenn Brinkmann und Handke am Anfang der 1970er Jahre von der Popästhetik zur autobiographischen Literatur übergehen. Dieser Übergang korrespondiert genau mit dem, was die Literaturgeschichte normalerweise als Aufkommen der ›Neuen Subjektivität‹ begreift: als Trend der – meistens mehr oder weniger autobiographisch dargestellten – Suche nach der Subjektivierung und Individualisierung in den 1970er Jahren, die auf die Epoche der Politisierung der Literatur folgte.30 Exemplarisch hierfür ist etwa Nicolas Borns Roman Die erdabgewandte Seite der Geschichte. Es ist in dieser Hinsicht wohl nicht ganz zufällig, daß Brinkmann in der Villa Massimo neben dem ebenfalls aus dem Umkreis des Kölner Realismus stammenden Schriftsteller Born wohnt. Betrachtet man nun die textinterne Logik von Rom, Blicke, dann geht es in Brinkmanns Bezugnahme auf Moritz um das Mit-Leiden mit einem unglücklichen Reisenden, dem Italien statt einer »wahren Wiedergeburt«,31 von der der Autor der Italienischen Reise spricht, einen gebrochenen Arm bescherte. In Rom, Blicke kommt eine derartige Parteinahme für die Leidenden leitmotivisch vor. In affektvollem Duktus schreibt Brinkmann über »Lessings unaufhaltsamen Fall« (RB, 18), über den in Rom als Ketzer verbrannten Philosophen Giordano Bruno (RB, 68, 129-133, 264), über die »Ruinen« (RB, 429f.) der Romantiker, über den Expressionisten Hans 27 | Arno Schmidt stellt in Rom, Blicke neben Gottfried Benn, Hans Henny Jahnn und William S. Burroughs eine wichtige Referenz für das autobiographische Subjekt dar. Montiert werden darin etwa einige Seiten aus Massenbach von Arno Schmidt, die Brinkmann in Rom liest. (RB, 159, 161) 28 | Zu Arno Schmidt als Stifter des Gegen-Kanons vgl. etwa Achim Hölter 1998. 29 | Peter Handke 1972, S. 5, S. 106. 30 | Vgl. Ralf Schnell 2003, S. 372f. Vgl. auch Heinz Forster/Paul Riegel 2004, S. 106f. 31 | Johann Wolfgang von Goethe 1989, Bd. 11, S. 147.

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Henny Jahnn, dessen Worte »Träume, diese Blutergüsse der Seele« (RB, 5) als Motto des Buchs firmieren, über Wilhelm Reich, der in einem amerikanischen »Irrenhaus« (RB, 68) einen tragischen Tod sterben mußte. Durch diese schreibende Einfühlung in die psychischen und physischen Schmerzen von Leidenden bringt Brinkmann auch seine von der Großstadt zerstückelten Sinne zum Sprechen: Was Brinkmann, sobald er in Rom angekommen ist, in die Augen springt und in die Ohren drängt, ist weder Form noch Farbe im starken Licht der italienischen Sonne. Die Stadt durchfährt ihn wie »ein durchgehender Non-Stop-Horror-Film der Sinne und Empfindungen« (RB, 34). Der Autor des Passagen-Werks, Walter Benjamin, hatte bereits von der »Filmwirklichkeit«32 der modernen Großstadt gesprochen, die eine endlose Kette der Schockerfahrungen hervorbringe. Das Kinematographische der Großstadt eskaliert bei Brinkmann, bis es nichts anderes als die Katastrophe der Sinneswahrnehmungen sein kann. Diese Film-Metaphorik, die eingeführt wird, sobald Brinkmann in Rom ankommt, scheint bemerkenswert, insbesondere wenn man die folgende Verteilung der Medien im ersten Brief aus Rom betrachtet: Nach der Eisenbahnfahrt, die ihm genügend Zeit für die Rahmenschau der Landschaft versagte, weshalb als Notwehrmaßnahme der Photoapparat ins Spiel kam, steigt Brinkmann nun in einer Großstadt aus, die ihn als permanenter Katastrophenfilm umgeben wird. Dabei fällt auf, daß der Blick aus dem Fenster des fahrenden Zugs und der Blick auf die Großstadt als »Non-Stop-Horror-Film« nicht nur durch die metonymische Kontiguität, sondern auch durch die wahrnehmungsästhetische Struktur miteinander verbunden sind: Beide Blicke bleiben völlig passiv den schnell laufenden Bildern gegenüber. Sie sind visuellen Eindrücken ausgeliefert, die sich ihnen aufdrängen, während sich der photographische Kamera-Blick relativ willkürlich bewegt. Paul Virilio, Theoretiker der Geschwindigkeit, bietet uns hier eine interessante Perspektive an, die dieser Konstellation Lesbarkeit verleiht. Er begreift nämlich autovisuelle Medien seit dem Film als neue (und letzte) Fahrzeuge für eine »Ortsveränderung auf der Stelle, die wie eine Trägheit erscheint, bei der die durchmessene Landschaft der ›BildEinstellung‹ im Film gleichkommt«.33 Dieser Theorie zufolge folgen also auf dynamische Fahrzeuge, wie sie die Eisenbahn oder das Auto darstellen,

32 | Walter Benjamin 1972, Bd. V, S. 1026. 33 | Paul Virilio 1990, S. 266f.

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»statische Fahrzeuge des Autovisuellen«.34 Bewußt oder unbewußt arbeitet Brinkmann diesen Zusammenhang heraus. Denn die Wahrnehmung am Zugfenster kommentiert er, um das Zitat noch einmal zu wiederholen, folgendermaßen: » [M]an selber bleibt ja praktisch immer auf derselben Stelle und die Außenwelt summiert sich.« (RB, 9) Kaum ist er dann dem Zug entstiegen, greift er angesichts des rasenden Großstadtverkehrs die Metapher des Films auf. Brinkmanns Reise nach Rom scheint also als Übergang vom dynamischen Fahrzeug der Eisenbahn zum »statischen Fahrzeug« des Films konstruiert, wobei sich der Blick jeweils mit zahllosen augenblicklich fließenden Bildern konfrontiert sieht. Und wie bereits die Eisenbahnfahrt ein alptraumhaftes »Delirium« verursacht, wirkt sich das ortsveränderungslose Fahrzeug des Films auf »Sinne und Empfindungen« katastrophal aus. So schreibt Brinkmann, daß »der Blick, das heißt mein Vorhaben, weshalb ich dort war, plötzlich zerrissen« (RB, 29) ist. Der filmischen Zerstreuung ist kein utopischer Sinn abzugewinnen wie bei Benjamin. Sie trägt bei Brinkmann eindeutig destruktive Züge. So präsentiert sich Brinkmann im ersten Brief des Buchs als einen Blinden, der wegen des Übermaßes an visuellen Informationen nichts mehr sieht. Weitere Aufzeichnungen und Briefe von Rom, Blicke lassen sich als Streben nach dem Zurückgewinnen des Blicks lesen. In diesem Kontext rückt die photographische Wahrnehmung in den Vordergrund, die im Gegensatz zur filmischen über einen relativ willkürlichen Freiraum des Blicks verfügt.

34 | Ebd., S. 270. Diese Theorie erscheint freilich am plausibelsten erst in bezug auf Computer und Internet, die eine illusionäre Weltreise im Nu ermöglichen.

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3.2 P HOTOGR APHIEN ALS A UTOBIOGR APHEME : A BFÄLLE UND U TOPIE »Methode dieser Arbeit; literarische Montage. Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen. Ich werde nichts Wertvolles entwenden und mir keine geistvollen Formulierungen aneignen. Aber die Lumpen, den Abfall: die will ich nicht inventarisieren sondern sie auf die einzig mögliche Weise zu ihrem Rechte kommen lassen: sie verwenden.« (Walter Benjamin)

Daß Brinkmann mit seiner Handkamera nicht allein aus dem Zugfenster, sondern während des ganzen Rom-Aufenthalts photographiert, läßt sich aus vielen Brieftexten35 ablesen. In Rom, Blicke tritt der Schriftsteller immer wieder als Photographierender auf die Bühne des Textes. Der Leser liest und sieht es zugleich: Mehr als 200 Photos dieses photographierenden Schriftstellers sind als autobiographische Daten in Rom, Blikke eingelegt. Möglicherweise hat kein deutscher Autobiograph so viele eigene bzw. selbst aufgenommene Photos in sein Buch einmontiert wie Rolf Dieter Brinkmann. Bekanntlich verwendet zum Beispiel bereits der Surrealist André Breton 44 Photographien für seinen autobiographischen Erfahrungsbericht Nadja: Sie »bestätigen«36 als authentische Bilder das schriftlich beschriebene Abenteuer des Ich-Erzählers. Was Brinkmann hinsichtlich der Photo-Montage von Breton unterscheidet, liegt dabei auf 35 | Etwa im Schreiben an Maleen vom 2. Dezember heißt es: »Heute holte ich die gestern zum Entwickeln gebrachten Filme aus dem Geschäft wieder ab, es sind immerhin 14 Stücke, seitdem ich die Reise hierher antrat, und sie müssen mal entwickelt und abgezogen werden – sonst häuft sich das, auch Graz-Impressionen sind dabei – sie haben hier alle verschiedene Formate, nun muß ich ein Format 9 mal 10 nehmen, statt 9 mal 9, denn das kostet 70 Lire pro Abzug, während 9 mal 10 nur 40 Lire kostet, und da spare ich bei über 200 Abzügen eine Menge […]«. (RB, 283) 36 | Michel Beaujour 1982, S. 179. Zur Photo-Montage in Nadja vgl. auch Erwin Koppen 1987, S. 210-216; Thomas von Steinaecker 2007, S. 40-53.

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der Hand: Breton photographiert nicht, Brinkmann dagegen tut es. Rom, Blicke ist interessant, weil dieses autobiographische Buch zahlreiche, vom Autor selbst aufgenommene Photos beinhaltet, weil es von einem Schriftsteller mit der Kamera in der Hand stammt, der folgerichtig nicht nur mit seiner Schrift, sondern auch mit seinen Photos sich selbst darstellt: Die Photos sind Brinkmanns Autobiographeme. Nun muß gefragt werden, welche Photos hier zum Zweck der autobiographischen Selbstdarstellung ins Spiel gebracht werden. Es gibt in Rom, Blicke einige Regeln der Bildauswahl. Es ist nämlich augenfällig, daß Rom, Blicke bestimmte photographische Bildgattungen systematisch ausschließt. Der erste Ausschluß bezieht sich auf das Familienphoto. In Rom, Blicke ist kein einziges Familienphoto zu sehen: Zweifelsohne ein bezeichnender Aspekt dieses autobiographischen Buchs, wenn man an die übliche Memoirenliteratur denkt, die nicht selten eine mit Familienfotos bebilderte Lebensgeschichte zu bevorzugen scheint. Obwohl Brinkmann in den Briefen an Maleen sein Ehe- und Familienleben intensiv thematisiert, werden photographische Bilder der Familie aus Rom, Blikke rigoros ausgeschlossen. Ein Grund dafür läßt sich aus einer Textstelle erschließen: Familienphotos dienen, so Brinkmann, nur zur Ausstattung eines »Gespensterkabinetts« (RB, 193). Er berichtet hier von der Wohnung seines Schriftstellerkollegen Peter Otto Chotjewitz in Rom: [D]a in dem kleinen Durchgangszimmer hingen mindestens 100 gerahmte Fotografien, alles alte zum Teil schon tote Leute, »Die Gespenster – Die Vergangenheit«, grinsten steif und starr, waren fein angezogen, oder Schnapp-Schüsse wie »Schnapp-Schüsse«. (Chotjewitz setzt sich mit der Vergangenheit eben auseinander!) (RB, 193)

Brinkmann verachtet Familienphotos als Instrument des Totenkults. In seinen Augen stellt die Totenverehrung mit photographischen Bildern die private Form eines christlichen »Todesfetischismus« (RB, 249) dar, der sich ihm überall in der »Toten-Stadt« (RB, 69) Rom zeigt. Das Zitat macht auch deutlich, daß Brinkmann in diesem »Gespensterkabinett« eine exakte Entsprechung zu der schriftstellerischen Arbeit Chotjewitzs an der »Vergangenheit« zu erkennen glaubt. Brinkmann hebt in Rom, Blicke wiederholt hervor, daß er selbst geradezu im Gegensinn arbeitet. Es heißt an einer Stelle: »Die Gegenwart, in der man lebt, muß man sich sehr wohl deutlich machen&bewußt.« (RB, 229) Oder an einer anderen Stelle: »Und

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was nützen mir historische Ruinen?: Ich möchte mehr Gegenwart!« (RB, 145) Und gerade für die Auseinandersetzung mit der »Gegenwart, in der man lebt«, bedient er sich – wie bereits auf der Zugfahrt von Köln nach Rom – der Kompaktkamera. Demgemäß lassen sich die in Rom, Blicke abgedruckten Photos Brinkmanns fast ausnahmslos als Momentaufnahme klassifizieren. Aus diesem Zusammenhang ergibt sich eine semantische Opposition von Familienphotos als Bild der »toten« »Vergangenheit« und Momentaufnahmen als Bild der »Gegenwart, in der man lebt«. Die Momentaufnahmen als Arbeit an der »Gegenwart« ersetzen bei Brinkmann als autobiographisches Medium das Archiv der »steifen« und »starren« Familienphotos. Der konsequente Ausschluß der Familienphotos, dessen Kehrseite die Privilegierung der Momentaufnahme darstellt, verbindet sich mit einem weiteren Ausschluß. Dieser bezieht sich auf das photographische Selbstporträt. Unter den zahlreichen Kompaktkamera-Photos findet sich nur eines, das den Autor selbst zeigt; eine Aufnahme in der Halbtotale, die Brinkmann im Anzug auf einer unbekannten Straße Roms präsentiert. (RB, 227) Das Bild ist klein, unauffällig und fast verborgen unter 15 anderen Photos auf den sich gegenüberliegenden Seiten 226 und 227. Es scheint, als verstecke sich der Schriftsteller durch dieses Arrangement. Dies ist um so bemerkenswerter, als Brinkmann sich in seinen detailreichen Brieftexten rücksichtslos zu entblößen scheint. Sein Gesicht ist auf dieser Momentaufnahme nicht genau erkennbar. Aber das genaue Gegenteil gilt, wenn es um montierte Passphotos (RB, 190) geht. Auf diesen zwei gleichen Lichtbildern einer Serie, die vermutlich von einem Photoautomaten aufgenommen wurden, wirkt Brinkmann – fast erwartungsgemäß – wie ein Verbrecher.37 Die Montage präsentiert, indem sie eine institutionelle Objektivierung des Subjekts durch das photographische Dispositiv ostentativ zur Schau stellt,38 Brinkmanns Gesichtszüge als »Organisation 37 | Friedrich Kittler 1986, S. 226. 38 | In einem in Westwärts 1&2 (1975) enthaltenen Gedicht heißt es auch: »Ich müßte so identifizierbar und abgestempelt sein wie ein Paßfoto.« (Rolf Dieter Brinkmann 1999a, S. 181) Vgl. auch folgende Zeilen des Gedichts Westwärts, Teil 2: »Ich ließ mich/in der Paß & Zollkontrolle/abtasten. Ich ließ sie/abtasten. Ich ließ/sie auf das Foto/schauen. Ich ließ/sie in mein Gesicht/schauen. Ich ließ sie/nachblättern, in einem/Land, wo jeder verdächtig//ist, der ankommt, der abfliegt.« (Rolf Dieter Brinkmann 1999a, S. 50)

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von Macht«.39 Dadurch wird hier die Möglichkeit ausdrücklich in Abrede gestellt, daß das photographierte Gesicht eine Ausdrucksebene der inneren Wahrheit des Subjekts sein kann.40 Es ist daher keineswegs Zufall, daß Brinkmanns Kamera keine Nahaufnahme des Menschen kennt, geschweige denn eine Großaufnahme. Sie richtet sich höchstens manchmal auf anonyme Großstädter als Masse, hauptsächlich aber auf die Dingwelt Roms. Die Ausschlüsse des Familienphotos und des Selbstporträts belegen deutlich, daß der Autor von Rom, Blicke, der so viele Photos in den Text einlegt, der Authentizität der photographischen Abbildung nicht naiv Glauben schenkt. Er erlaubt nur einer photographischen Bildgattung, seine autobiographischen Daten darzustellen: der Momentaufnahme als Bild seiner »Gegenwart«. Die montierten Momentaufnahmen Brinkmanns dokumentieren sein römisches Lebensmilieu. In dieser Funktion dienen sie dazu, die äußerst detailreiche, exhaustive Aufzeichnung seines ›Hier und Jetzt‹ in den Brief- und Tagebuchtexten zu ergänzen, und zwar mithilfe eines Medienwechsels von der Schrift zum technischen Bild. Brinkmanns Wille zur Präzisierung begnügt sich nicht mit der schriftlichen Selbstdarstellung, sondern er bedarf der photographischen Visualität und Detailgenauigkeit, um sein Leben bzw. seine Umgebung zu dokumentieren. Allerdings muß unterstrichen werden, daß die Momentaufnahmen Brinkmanns keineswegs einfache Dokumente sind, daß sie kein bloßes Analogon sind, das in der Aufzeichnung und Darstellung des Referenten aufgeht. Die vom Autor selbst aufgenommenen Photos verdoppeln sich, sobald sie in seinem autobiographischen Text abgedruckt werden. Denn in dieser Rahmung durch den Text beginnen sie, als Zeichen aus zwei Ebenen der »Denotation« und »Konnotation« zu fungieren.41 Wenn man nämlich nicht nur eine vertikale Beziehung der Photos zu dem Referenten, sondern auch ihre horizontale Beziehung innerhalb des Buchs, den Kontext, in dem sie stehen, in Betracht zieht, dann müssen sie als Zeichen gelesen werden, die auch auf etwas anderes als sich selbst verweisen. Die Photos werden also in dem Kontext, den der Schrifttext und die anderen montierten Materialien herstellen, semiotisiert und semantisiert. Im Verhält39 | Gilles Deleuze/Félix Guattari 1997, S. 241. Vgl. auch Petra Löffler/Leander Scholz 2004. 40 | Zur Physiognomik im Zeitalter der Photographie vgl. etwa Sabine Hake 1996 und Andreas Käuser 2005. 41 | Vgl. hierzu Roland Barthes 1990, S. 11-46.

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nis zum Text verliert das Medium Photographie somit seine scheinbare Transparenz bzw. Neutralität, die sowohl in der Natur- und Humanwissenschaft als auch in den Massenmedien immer noch vorausgesetzt zu werden scheint. Unvermeidlich resultiert daraus: Genauso wie die Buchstabenschrift muß die Photographie in Rom, Blicke als Lichtschrift gelesen werden. Brinkmanns Photos sind Autobiographeme. So liest etwa Sibylle Späth, wenn sie vorschlägt, Brinkmanns Photos in Rom, Blicke als semantische »Kehrseite« der ins Buch eingelegten Ansichtskartenphotos zu begreifen. Ihre Lektüre liegt dabei darin, aus der Opposition zu den Postkartenphotos eine Semantik der vom Autor aufgenommenen Photos herauszuarbeiten. Die Opposition der Momentaufnahmen Brinkmanns zu Familienphotos und Photoporträts wurde bereits herausgearbeitet. Hierzu kommt nun eine andere Opposition, die eine neue semantische Schicht der Momentaufnahmen hervorbringt: Während die Postkarten das Außergewöhnliche, das Einmalige, die Superlative des Ortes, eine fiktive Realität zeichnen, verweisen die Photographien [von Brinkmannm, K.K.] auf diejenigen Realitätsbezirke, die von der offiziellen Repräsentation ausgeschlossen werden. Im Alltäglichen, scheinbar Banalen und dem Häßlichen findet sie ihre Gegenstände. Die Photographie bildet so die Kehrseite der Postkarte, wenn sie das aus den konventionellen Wahrnehmungserwartungen Ausgegrenzte, Verdrängte, die Abweichungen von dem offiziellen Bild des Ortes in den Blick faßt. Postkarte und Photographie stehen so stellvertretend für diametral entgegengesetzte Wahrnehmungsmuster. Während in der Postkarte noch einmal die gesellschaftliche Norm zu symbolischen Bildern gerinnt, materialisiert sich in der Photographie der radikal subjektive Blick des einzelnen auf seine Umwelt. 42

Postkartenphotos haben Anteil an der Normierung des Blicks auf eine Stadt, indem sie sogenannte Sehenswürdigkeiten als »symbolische Bilder« festigen. Aufgrund der Operation der Auswahl und Verdrängung stellen sie für einen Reisenden »50-Lire-Postkarten-Empfindungen« (RB, 228) bereit. Dagegen leisten Brinkmanns Blicke Widerstand, deren Spuren die montierten Momentaufahmen sind. Aus ihnen liest man ab, daß er immer wieder »alltägliche«, »scheinbar banale« und »häßliche« Dinge in Rom photographiert. Dafür sind etwa Photos der Villa Massimo und ihrer 42 | Sibylle Späth 1989, S. 108.

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Umgebung exemplarisch: Sie zeigen beispielsweise das Badezimmer, verschiedene Bäume im Garten, streunende Katzen, undefinierbare Abfälle auf der Straße, halb zerbröckelte Statuen (RB, 19, 20, 23, 28, 31). Andere Beispiele sind Photos von Baustellen bzw. Schutt (RB, 222) oder Photos von in einer Mauer eingelassenen Gräbern (RB, 291). Brinkmann photographiert mit seiner »Instamatic« gleichsam kulturelle »Abfälle«43 , etwas, was von der »oberflächlichen sight-seeing-tour« (RB, 163) als vorprogrammierter Wallfahrt zu den Sehenswürdigkeiten systematisch vermieden wird. Wenn Brinkmanns Photos nun, wie Erwin Koppen anmerkt, einen gewissen Eindruck der »Nachlässigkeit«44 vermitteln, dann liegt es wohl daran, daß sie den Ansichtskartenphotos nicht nur motivisch, sondern auch photoästhetisch entgegenarbeiten: Brinkmann schiebt aufgrund der Bildqualität der relativ preisgünstigen »Instamatic« als Massenprodukt der Firma Kodak jedwede Verklärung des Gegenstandes beiseite. Die konnotative Semantik seiner Momentaufnahmen ist daher in dieser Hinsicht als Suche nach dem Ausweg aus einer kulturellen Regulierung, Normierung und – kulturpolitisch allzu naiven – Ästhetisierung der Blicke zu bestimmen, wie sie die Postkartenphotographie maßgeblich darstellt. Ob es dem Schriftsteller, dessen Sehfähigkeit in der rasenden Leere und Turbulenz der modernen Großstadt Rom verloren gegangen ist, gelingt, seine Augen aufs neue aufzuschlagen, hängt von diesem photographischen Abenteuer mit absichtlich amateurhaften snap-shots ab. Diese Lesart der Momentaufnahmen in Rom, Blicke legitimiert sich, insbesondere wenn man auf den für Brinkmanns Poetik programmatischen Text Notiz zurückgreift, der dem popliterarischen Gedichtband Die Piloten von 1968 als Vorwort vorangestellt ist. Hier steht die photographische Technik des Schnappschusses für »das genaue Hinsehen« im »Augenblick«: Ich bin keineswegs der gängigen Ansicht, daß das Gedicht heute nur noch ein Abfallprodukt sein kann, wenn es auch meiner Ansicht nach nur das an Material aufnehmen kann, was wirklich alltäglich abfällt. Ich denke, daß das Gedicht die geeignetste Form ist, spontan erfaßte Vorgänge und Bewegungen, eine nur in einem Augenblick sich deutlich zeigende Empfindlichkeit konkret als snap-shot festzuhalten. Jeder kennt das, wenn zwischen Tür und Angel, wie man so sagt, das, was man in dem Augenblick zufällig vor sich hat, zu einem sehr präzisen, fe43 | Siegfried Kracauer 1977, S. 25. Vgl. hierzu weiter unten. 44 | Erwin Koppen 1987, S. 235.

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sten, zugleich aber auch sehr durchsichtigen Bild wird, hinter dem nichts steht als scheinbar isolierte Schnittpunkte. Da geht es nicht mehr um die Quadratur des Kreises, da geht es um das genaue Hinsehen […]. 45

Das Gedicht ist kein »Abfallprodukt«, wenn es festhalten kann, »was wirklich alltäglich abfällt«. Entsprechend dieser Neubestimmung der Aufgabe des Gedichts bedarf es einer Präzisierung des Sehens, die nur durch die zeitliche Diskontinuität des »Augenblicks« bewerkstelligt werden kann. Was der momentan geschärfte Blick blitzartig erfaßt, dies allein ist kostbar für die Lyrik. Die Metapher »snap-shot« steht hier für die augenblickliche Wahrnehmung, die, wie bereits bei Proust und Benjamin, aufgrund des Bruchs mit der Wahrnehmung im Zeitfluß etwas bis dahin Verborgenes zutage bringt. Gerade diese poetologische Metapher stellt die Kamerapraxis in Rom, Blicke bereit, die mittels Momentaufnahmen das kulturell Abfallende zu fixieren trachtet. Zweifelsohne bringt Brinkmann dabei den Begriff Abfall bewußt ins Spiel. Er stammt aus Siegfried Kracauers erstem Essay über Die Photographie (1927), auf den Brinkmann in Film in Worten mehrfach rekurriert.46 Kracauer nimmt sich darin vor, Wesenszüge der Photographie dadurch nachzuzeichnen, daß er sie »Gedächtnisbildern«47 gegenüberstellt: Im Gegensatz zu dem Gedächtnis, das zugunsten der Konstruktion des »Sinns«48 selektiv arbeite, fehle es bei der Photographie an dieser sinngerichteten Selektion. Anders als Gedächtnisbilder erscheine die Photographie daher »als ein Gemenge, das sich zum Teil aus Abfällen zusammensetzt«.49 In dieser medientheoretischen Überlegung sieht Brinkmann als Popliterat einen hinreichenden Grund, eindeutig für die Photographie zu plädieren. Denn ihm scheinen eben alltägliche »Abfälle« poesiewürdiger zu sein als alle altehrwürdigen Sinnzusammenhänge der abendländischen Kulturtradition: Die einzigartige Chance des zeitgenössischen Gedichts besteht darin, die von Kultur systematisch ausgeschlossenen »Abfälle« im Alltag »spontan«, das heißt ohne Filterung durch das Bewußtsein festzuhalten, genau so wie die Handkamera es tut. Indem er sich an der photographi45 | Rolf Dieter Brinkmann 1980, S. 185. 46 | Zu diesem Zusammenhang vgl. Burglind Urbe 1985, S. 23-26. 47 | Siegfried Kracauer 1977, S. 25. 48 | Ebd. 49 | Ebd.

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schen Wahrnehmung orientiert, versucht Brinkmann also, sinnferne »Abfälle« als lyrischen Schatz zu erschließen. Um Film in Worten zu zitieren: Es geht um »Zufälligkeiten, Kombinationen aus dem Augenblick, Abfall, Gelegenheiten«.50 In Rom, Blicke wiederholt Brinkmann dieses Programm: Sein autobiographischer Prosatext wird immer wieder photographisch metaphorisiert, wenn er das bei der touristischen Wahrnehmung regelmäßig Abfallende weniger erzählerisch sammelt als vielmehr in der fragmentarischen Form von »Notizen« oder »Skizzen«: (Es sind wohl eher Notizen, die ich Dir schicke, Maleen.)/(Skizzen? Fotos! Schnapp-Schüsse! Keine Schüsse, nein.) (RB, 374)

Ähnliche Aussagen lassen sich an zahlreichen Stellen in Rom, Blicke finden: Brinkmann unternimmt immer wieder eine metaphorische Modellierung des autobiographischen Schreibens durch die Photographie.51 Unverkennbar ist dabei, daß diese im autobiographischen Text vollzogene Wiederholung des popliterarischen Programms eine Radikalisierung impliziert. Denn in seinem scrapbook von Rom, Blicke sammelt er abfallartige Wahrnehmungsbruchstücke nicht allein mit dem photographisch metaphorisierten Schrifttext, sondern auch buchstäblich mit den von ihm selbst aufgenommenen Momentaufnahmen. Die Photographie ist hier also die Metapher und das Medium zugleich für die Autobiographik als Sammlung von »Abfällen«: Brinkmann schreibt so, wie er photographiert und photographiert gleichzeitig so, wie er immer schon schreibt. Entspringt doch das Konzept, mithilfe des augenblicklichen Bruchs der fließenden Zeit das

50 | Rolf Dieter Brinkmann 1982, S. 238. Zu Film in Worten als poetologisches Programm Brinkmanns vgl. Gerhart Pickerodt 1991. Ich verzichte darauf, auf diese kinematographische Problematik bei Brinkmann weiter einzugehen, da sie einen ganz anderen theoretischen Rahmen beansprucht. 51 | »Also einige Blitzaufnahmen aus der unmittelbaren Umgebung: zuerst, nach der Ankunft, […]« (RB, 63); »Foto: Ich blicke vom Tisch, von der Schreibmaschine durch die geöffnete Tür in die Schwärze, und da hockt blaß weiß und schwarz ein Tierleben, unten vor den Stufen« (RB, 93); »Nun weiter Einzelheiten, Fotos, aus Rom: […]« (RB, 186); »Lieber Hermut: noch einige Momentaufnahmen« (RB, 220); »Das war eine Blitzaufnahme aus Rom, Vorweihnachtszeit.« (RB, 437)

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alltäglich Abfallende zu fixieren, wie bereits gesehen, der poetologischen Überlegung für die Erneuerung der Lyrik.52 Brinkmanns Abfall-Sammlung im Zeichen des »snap-shot« zielt auf eine avantgardistische Umwertung der Werte. Sie verknüpft sich in dieser Hinsicht etwa mit der dadaistischen Poetologie, die von Funken beim sensationellen Zusammenprall mit dem bürgerlichen Kunst- und Kulturverständnis lebt. Wenn Burglind Urbe Brinkmanns Lyrik als »post-auratische« Kunst aus einer Kettte von »Chocks« versteht, dann geht es um ihr provokatorisch-avantgardistisches Moment.53 Die Poetik der AbfallSammlung mit der Handkamera-Wahrnehmung beinhaltet in sich jedoch gleichzeitig auch ein utopisches Moment (das allerdings, wie immer in der modernen Literatur, nur gebrochen auftaucht). Es handelt sich dabei um die »Utopie des ›Augenblicks‹«,54 die Karl Heinz Bohrer namentlich an Beispielen von Proust, Benjamin, Joyce und Musil darlegt: Das Utopische dieser Literatur der Moderne liegt demnach in einem ekstatischen Augenblick, der durch »das Fehlen traditioneller utopischer Gehalte«55 charakterisiert wird. Weil der Augenblick, um den es hier geht, eine homogene, linearlaufende Zeit plötzlich unterbricht und weder Zuvor noch Danach kennt, verzehrt er sich rein in seiner eigenen Intensität ohne jene Antizipation, die die geläufige Konzeption der Utopie wesentlich kennzeichnet. Ein derartig utopischer Augenblick kommt in Rom, Blicke im Zusammenhang mit dem Photographieren und Knipsen des Autors zur Geltung: Treten, Schritte, Sehen: krack, ein Foto!: Gegenwart, eingefroren. (RB, 139)

Das Knipsen stellt eine augenblickliche Erfassung der »Gegenwart« dar, die dem Gehen und dem Sehen folgt. Sie ist also mit dem Spaziergang verbunden, aber zugleich durch einen Doppelpunkt und den »krack« davon abgetrennt. Eine solche durch abrupte Unterbrechung vollzogene Arbeit an der »Gegenwart« kommt dabei nicht ohne Rückwirkung auf die Wahr52 | Thomas Bauer 2002, S. 68: »Fotografie, poetischen Schrifttext und unmögliche Sexualität – immer wieder wird Brinkmann sie aufeinander verweisen lassen, sie adressieren, sie verdoppeln und verheimlichen. Die Fotografie ist – als Objekt und als Zeichen – von Anfang an im Spiel.« 53 | Burglind Urbe 1985, S. 51, S. 181. 54 | Karl Heinz Bohrer 1981, S. 180-218. 55 | Karl Heinz Bohrer 1981, S. 203.

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nehmung des Subjekts aus. Einige Seiten zuvor heißt es über denselben Rom-Spaziergang mit der Handkamera: Zu einer kleinen Brücke: (Foto/: und das gelegentliche Fotografieren macht wach und aufmerksam), Ponte sisto – wenig befahren und schmal. (RB, 135)

Das Photographieren aktiviert das autobiographische Subjekt in seiner Flaneurie: Es wird durch den momentanen Stillstand der Gangbewegung aus seiner Zerstreuung inmitten der Metropole Rom wachgerüttelt. Durch das Photographieren wird der Flaneur Brinkmann »wach und aufmerksam« gegenüber seiner Umgebung und sich selbst: »Bewegung! Achtung! Aufnahme! Aktivierung!« (RB, S. 163) Die Photographie ist also das Synonym einer plötzlichen Geistesgegenwärtigkeit als Konzentration auf seine »eigene Anwesenheit jetzt hier« (RB, 58). Sie ist bei Brinkmann das Medium sowohl der Kollektion als auch der Konzentration schlechthin. Euphorisch formuliert er selbst diesen Zusammenhang. Die folgenden Zeilen beziehen sich noch einmal auf denselben Spaziergang mit der Handkamera: Also sanfte weiche und zart-gefilterte Nachmittagshelligkeit, in der ich dort ging, für mich, hellwach, sehr bewußt, (: verdammtnochmal, warum ist das eingerissen, daß verträumt abwesend bedeutet?), (verträumt hellwach und tagträumerisch, das heißt doch: gesteigertes Bewußtsein, denn nun ist eine andere Qualität des Daseins, des bewußten Zustandes hinzugekommen das verträumte Hellwachsein des Tagtraums!), (: oh nee, ich meine nicht hostorische [sic!] Reminiszenzen, ich meine nicht einen abrufbaren Wissenskatalog, ich meine: Achtung, Aufnahme, Foto, innen!), und weiter durch das zarte Nachmittagslicht in kleinen engen vergammelten Straßen mit erbärmlichen Fiats, mit Gurkendosen, in denen Blumen stehen, an abblätternden Mauern entlang, hellwach-verträumt. (Das kann man sogar bei exakten wissenschaftlichen Arbeiten behalten, denn die Exaktheit ist gesteigerte Anwesenheit und keine philologische Einstellung! Verdammt, verdammt, was sind wir verrrottet!) (RB, 134)

Der photographierend spazierende Autobiograph erzählt von einem ekstatischen Eintreten in »gesteigertes Bewußtsein«, in dem Traum und Wachsein, Phantasie und Genauigkeit nicht mehr unverträglich zu sein scheinen. In diesem Augenblick zählt weder Geschichte noch Wissen, sondern eine damit gebrochene Gegenwart. Dabei läßt sich mit Bohrer nochmals feststellen: Es gibt hier keinen konkreten, positiv aufzählbaren Gehalt, der

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auf die Utopie als Antizipation der idealen Zukunft verweist. Die utopische Ekstase ist also intensiv und leer zugleich, da sie von einer radikalen Beziehungslosigkeit mit dem Zuvor und dem Danach gekennzeichnet wird. Oder sie ist, wie es an einer anderen Stelle in ähnlichem Kontext heißt, »komprimiert« und »rauschhaft« (RB, 62).56 Außerdem zeigt das Zitat deutlich, daß sich das Photographieren bei Brinkmann in die moderne utopische Eigenlogik der von Semantik befreiten, intensiven »Augenblikke (Augen + Blicke)« (S. 330) einbettet. Daraus resultiert der Sonderstatus des Mediums Photographie in Rom, Blicke: Das autobiographische Subjekt kann sehr wohl »ohne TV, ohne Zeitung« leben. Nicht nur Hollywoodfilme, sondern auch klassische Filme und Undergroundfilme sagen ihm nichts mehr. Es hat »kein Radio hier, keinen Schallplattenspieler« (RB, 274).57 Aber offensichtlich begleitet die »Instamatic« als Ausnahme diesen Medienasketiker bis zum Ende seines autobiographischen Abenteuers in Rom. Denn bei allen technischen Medien ermöglicht nur sie abrupte Unterbrechungen als »Durchbrechen von Zeit« (RB, 417), die dem autobiographischen Subjekt die Leerheit und Intensität des ›Hier und Jetzt‹ eröffnen. Momentaufnahmen und »Blitzaufnahmen« (RB, 63) sind für Brinkmann jedesmal Chancen der reinen Selbstvergegenwärtigung. Es gilt, diese dem Photographieren des Autors zugeschriebene Semantik der augenblicklichen Unsemantik vor einem Hintergrund zu betrachten, der sein autobiographisches Schreiben unmittelbar betrifft: vor dem Hin-

56 | »Ich dachte, daß ich immer bislang nach Augenblicken gesucht habe, die komprimiert sind, meinetwegen auch rauschhaft, meinetwegen auch verrückt gegenüber dem Wertmaßstab der cleveren Geschäftsleute, die jedes nur nach dem Verhökerungwert bemessen, also gesteigerte Augenblicke, nicht extensive, unhistorische, nicht logisch-geschichtliche Wirklichkeit also, wie man vom Orientalen sagt, als Verdichtung in einem ewigen Augenblick, und nicht Wirklichkeit als Ausdehnung der Zeit ins Unendliche.« (RB, 62f.) 57 | »Ich lebe hier ohne TV, ohne Zeitungen, einmal sah ich flüchtig in eine Zeitung, sie liegen oben im Bibliotheksraum aus, und schon beim Anlesen bekam ich einen flauen, ekligen Stoß ins Gemüt, da legte ich sie wieder weg, ins Kino gehe ich bisher selten, meist wird großkotziger bunter amerikanischer Mist gegeben oder alte Flimmerfilme oder entleerter Untergrund, das sagt mir nichts mehr. […] Ich habe kein Radio hier, keinen Schallplattenspieler, ich vermisse es nicht. So lebe ich für mich.« (RB, 274)

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tergrund der Sprachskepsis Brinkmanns.58 Die mit der Handkamera vollzogene Suche nach der »Utopie des Augenblicks« ist nicht denkbar ohne Verbindung zu der Sprachskepsis und Sprachkritik, die die Schreibarbeit des Schriftstellers im ganzen gefährdet.59 Diesbezüglich ist Brinkmanns Text Spiritual Addiction. Zu William Seward Burroughs’ Roman Nova Express (1970) aufschlußreich. Dort steht ein eigentümlicher Sprachbegriff Burroughs’ im Zentrum der Überlegungen: Die Sprache funktioniert demnach wie »Viren«, die durch Reizsignale durch die Nerven hindurch das Denken, Vorstellen und Verhalten steuern.60 So wird der Mensch durch die Sprache im physiologischen Reiz-Reaktionsverhältnis konditioniert. Diese quasi-behaviouristisch verstandene Steuerung durch geheime Aktivitäten der virenhaften Sprache entgeht jeder Bewußtwerdung, sofern man nicht aufhört zu sprechen, das heißt durch das Sprechen auf Reize und Befehle zu reagieren. Daher sieht Burroughs – und dieser Punkt ist für Brinkmann folgenreich – die Aufgabe der Literatur darin, die »Fähigkeit zur Stille« bzw. zu »einem wortlosen Zustand«61 wiederherzustellen, und zwar anhand einer regelmäßigen Unterbrechung der sogenannten cut-ups, durch die der von der Sprache vorgeprägte Gang der Assoziationen zum Halt kommen soll. Burroughs’ physiologisch konzipierte Poetologie zur Überwindung der Virengewalt der Sprache liegt Brinkmanns »Cut-upBüchern im reinsten Sinne«, nämlich Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand, Rom, Blicke und Schnitte, mehr oder weniger zugrunde.62 Brinkmann beruft sich dabei auf Burroughs’ Theorie nicht nur auf der Ebene der Schreibmethode, sondern auch auf der des Diskurses. So heißt es beispielsweise: Wörtern sind wir aufgesessen statt Leben, Begriffen statt Lebendigkeit, sollte es wundern, wenn wir erstickt werden von Wörtern und Begriffen? (RB, 139)

58 | Michael Strauchs Dissertation versucht, das gesamte Montage-Experiment Brinkmanns vor diesem Hintergrund zu beschreiben. Vgl. Michael Strauch 1998. 59 | Die literarische Hinwendung zu technischen Bildmedien ist bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts von einer Sprachkrise nicht zu trennen. Vgl. hierzu Ralf Schnell 2000, 145f., 167f. 60 | Rolf Dieter Brinkmann 1982, S. 203-206. 61 | Rolf Dieter Brinkmann 1982, S. 204. 62 | Vgl. hierzu Andreas Kramer 1995, S. 161.

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Wörter und Begriffe sind lebensbedrohend, da sie im geheimen bzw. über das Bewußtsein hinweg als »Viren« (RB, 255) arbeiten, um uns zwangsläufig zum Sprechen zu bringen und somit aus dem Menschen einen pausenlos redenden »Automaten« (RB, 80, 205) zu machen.63 Ähnliche Zeilen, in denen die Sprache, das Darstellungsmedium des Autobiographen, in Opposition zum »Leben« gestellt wird, finden sich immer wieder in Rom, Blicke.64 Die Funktion solcher Passagen besteht wohl darin, dem Leser zu verstehen zu geben, warum der Schriftsteller nicht mehr der Sprache allein seine autobiographischen Daten anvertraut: Die Sprache, mit der er sein Leben darstellen soll, erscheint ihm als ein antibiotisches Medium, weshalb er gezwungen ist, eine Fülle von Momentaufnahmen (und andere Bildmaterialien) zu montieren. Diese im Anschluß an Burroughs physiologisch konzipierte Sprachkritik macht den Hintergrund aus, auf dem die selbst aufgenommenen Photos des Schriftstellers ihre Bedeutung gewinnen: als sprachlose Erfassung seiner »Gegenwart«. Für Brinkmann ist die Photographie das einzige Medium, das seiner »Sehnsucht nach sprachloser Kommunikation«65 bzw. nach dem »wortlosen Begreifen« (RB, 415) genau entsprechen kann. Seine Momentaufnahmen stehen daher semantisch in Opposition nicht allein zu Familienphotos als toten Bildern der Vergangenheit oder zu den Ansichtskartenphotos als normierten Blicken, sondern auch zu den verhängnisvollen »Viren« der »Wörter und Begriffe« überhaupt. Die Momentaufnahme, die metaphorisch begriffen wird als »spontan erfaßte Vorgänge und Bewegungen, eine nur in einem Augenblick sich deutlich zeigende Empfindlichkeit«, oder wenn wir eine andere Formulierung zitieren, als »die sinnliche Erfahrung als Blitzaufnahme«,66 tritt als ein autobiographisches Medium auf, mit dem der Schriftsteller gegen die Gewalt der Sprache kämpft. Denn die Spontaneität, die Augenblicklichkeit und die Blitzhaftigkeit der photographischen Wahrnehmung kommt der virenartigen Arbeit der »Wörter 63 | Brinkmanns Kritik an den links orientierten Intellektuellen und Schriftstellern der damaligen Zeit wie Nicolas Born oder Hermann Peter Piwitt gründet sich auf dasselbe Argument: Ihm kommen sie vor wie »ein Wrack, das ganz von Wörtern und Begriffen innen in seinem Empfinden zerfressen war«. (RB, 334) Vgl. hierzu Gerhard Pickerodt 1991, S. 1037. 64 | Vgl. etwa RB, 141; RB, 142; RB, 273; RB, 326. 65 | Rolf Dieter Brinkmann 1987, S. 28. 66 | Rolf Dieter Brinkmann 1982, S. 249.

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und Begriffe« zuvor. Es handelt sich dabei um die Geschwindigkeit der Wahrnehmung, die bereits auf der Zugfahrt Brinkmanns von Köln nach Rom deutlich wurde. Die blitzartige Kamera-Wahrnehmung allein vermag eine lebendige Sinnlichkeit als wahres autobiographisches Moment zu erfassen, bevor sie durch die verallgemeinernde Abstraktion der Sprache vernichtet wird: »[V]or den Wörtern stecken die primären Erfahrungen!« (RB, 271) Das Vordringen in das noch sprachlich unverarbeitete, vom ReizReaktionsverhältnis noch nicht beherrschte Feld der Sinnlichkeit hängt von der Geschwindigkeit der photographischen Wahrnehmung ab. Die »Utopie des Augenblicks« wird in Rom, Blicke im Vorfeld der Verbalisierung der Wirklichkeit gesucht. Daraus erklärt sich auch, daß das Buch zahlreiche Momentaufnahmen enthält, deren ›Sinn‹ zu interpretieren mit Bestimmtheit auf Unsinn hinausläuft. Wenn man sich angesichts dieser Photos immer wieder fragen muß, worum es geht, dann deshalb, weil ihre Semantik eben in der Verweigerung des Sinns und im Plädoyer für die Sinnlichkeit der sinnfernen Leere von »Abfällen« liegt. Allerdings soll noch einmal betont werden, daß diese sprachkritische Semantik der Photos, ihre Verweigerung des Sinns, ausschließlich durch den Schrifttext, den wir bisher kommentiert haben, bereitgestellt wird. Es darf, mit anderen Worten, ein Paradox nicht außer acht gelassen werden: Der Text allein macht lesbar, daß diese Momentaufnahmen des Schriftstellers sprachkritisch angelegt sind, daß sie seine Suche nach der Sinnlichkeit im Vorfeld der sprachlichen Abstraktion darstellen. Das besagt nichts anderes, als daß die Photographie Brinkmanns ohne diesen sprachlich hergestellten Hintergrund keine Darstellung eines autobiographischen Abenteuers sein kann. Wie Roland Barthes am Beispiel der Pressephotographie beschreibt, unterwirft sich die Photographie, obwohl oder gerade weil sie eine »Botschaft ohne Code« ist, immer einem Konnotationsverfahren, das sich auf der Ebene der Sprache abspielt. 67 Die Photographie kann sich in diesem Sinne nur innerhalb des Rahmens der sprachlichen Codierung bewegen.68 Erscheint sie in Rom, Blicke als autobiographisches Medium abgedruckt, 67 | Roland Barthes 1990, S. 24. 68 | Vgl. hierzu Ralf Schnells Kommentar zur Photo-Montage in Rom, Blicke: »Doch diese Erweiterung öffnet den Textbegriff, sie verändert ihn nicht, schon gar nicht setzt sie ihn außer Kraft. Der Grund hierfür ist die einfache Tatsache, daß die assemblierten Materialien, die für sich genommen einer ästhetisch homogenen Sphäre, der des Bildes entstammen, nicht transformiert, sondern nur

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dann kann sie, Brinkmanns Intention zum Trotz, kein Außen der Sprache sein, in dem das Subjekt sich selbst jenseits verbaler Codierung unmittelbar begegnen kann. Sie verweist vielmehr als ein Zeichen auf das unerreichbare Außen der Sprache. Das Moment der Selbstpräsenz des autobiographischen Subjekts, das der Selbstfindung Goethes entsprechen würde,69 entzieht sich bei Brinkmann immer weiter.

3.3 M EHRFACHE R UINEN »Also der Große Schrott der Abendländischen Geschichte erwartet Dich hier.« (RB, 39)

Das utopische Moment der Abfallsammlung, das Brinkmann bereits als Poplyriker in seine Literatur einführte, taucht in Rom, Blicke auf, und es verschwindet. Es verschwindet, weil eine andere Bedeutungsschicht des Abfalls immer wieder in den Vordergrund rückt: des Abfalls nämlich im ganz banalen, nicht-utopischen Sinne. Notierend und photographierend sieht Brinkmann überall in Rom solchen Abfall: »Wind treibt Abfälle über Ruinen, Wind treibt Abfälle über Straßenkreuzungen der Gegenwart.« (RB, 274) »Abfälle« und »Ruinen«, die metonymisch miteinander verbunden sind, scheinen in Rom, Blicke fast synonym zu sein. Das ist durchaus logisch, denn die »Abfälle«, die sich auf die »Ruinen« häufen, tragen nur dazu bei, den »Großen Schrott der Abendländischen Geschichte« zu vergrößern: Leben ist ganz wild durcheinander/Wohin? Weiter!/Das Viertel rundum leblos, lungernde Jugendliche, umgekippte schwarze Plastiksäcke voll Abfälle/genaugenommen stolpert man durch nichts als Ruinen, und zwischen diesen Ruinen scharrt das alltägliche Leben zwischen den Abfällen nach einigen lebenswerten

transferiert werden. Sie erscheinen in neuer Umgebung, und sie unterliegen deren ästhetischer Gesetzlichkeit.« (Ralf Schnell 2000, S. 163) 69 | Johann Wolfgang von Goethe 1998, Bd. 11, S. 530: »In Rom hab’ ich mich selbst zuerst gefunden, ich bin zuerst übereinstimmend mit mir selbst glücklich und vernünftig geworden.«

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Brocken – sobald man dieses alltägliche Leben auch nur etwas wichtig nimmt – ein Leben in staubigen Resten der abendländischen Geschichte (RB, 30)

Diese Art abschätziger Beschreibung der italienischen Metropole wird in Rom, Blicke immer wieder variiert. Die Ewige Stadt, die der Begründer der Weimarer Klassik um 1800 zur »Hauptstadt der Welt«70 erhoben hatte, erscheint 1972 nur noch wie eine Ansammlung von »Ruinen«. Brinkmann kommt beinahe obsessiv auf dieses Motiv zurück, so daß es geradezu refrainhaft den Grundton des Textes bestimmt: […] und eigentlich sind das hier Ruinen, denke ich, und nach dem kurzen Aufenthalt hier in Italien und dem, was ich sah, den Resten der Vergangenheit (Ruinen) und Fragmenten der Gegenwart (Ruinen), von Straßen, Häusern, Geschäften, Autos, Menschengesichtern, begreife ich, wie überaltert real, konkret nachprüfbar, Europa ist, der Erdteil, in dem wir geboren sind und leben, überaltert an Mythen, überaltert an Ideen, überaltert an Lebensformen und überaltert an Werten, überaltert im Denken und Verbinden einzelner Fakten. (RB, 379)

Die Figur der Ruine ist hier nicht allein auf architektonische »Reste der Vergangenheit« bezogen, die, um Georg Simmels Essay über die traditionelle Ästhetik der Ruine zu zitieren, vom Sieg der »Naturkräfte« über das Menschenwerk zeugen.71 Sie bezieht sich gleichzeitig auf »Fragmente« des modernen Lebens. Beide Zeitebenen – die Gegenwart und die Vergangenheit – verschränken sich dadurch im Zeichen des Zerfalls. Die Ruinenfigur verweist somit emblematisch auf die sich verallgemeinernde Zerfallsgeschichte, in der sich alte und neue Dinge im Status des Abgenutzten, Verbrauchten und Fragmentierten miteinander verbinden. Eben auf diesem Trümmerhaufen bewegt sich der Schriftsteller mit der Kamera als Sammler von Abfällen. Nicht nur Brinkmann schwebt jedoch Rom als Ruinen vor. Bereits den humanistischen Gelehrten der Renaissance zeigte sich diese weltgeschichtliche Stadt als Ruinenlandschaft. Diese stellte aber damals, um den Begriff der Memoria-Expertin Aleida Assmann zu gebrauchen, einen ein-

70 | Johann Wolfgang von Goethe 1998, Bd. 11, S. 125. 71 | Georg Simmel 1996, S. 289.

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zigartigen, unverzichtbaren »Gedenkort«72 dar. Denn sie war ein mnemotechnischer Ort schlechthin, ohne den der Mechanismus der Einnerung nicht in Gang gesetzt wird. Gerade weil Roms Ruinen das Altertum und das Urchristentum topologisch in sich vereinigten, konnten sie die Bühne einer Wiedergeburt der Antike aus dem erinnernden Geist der Humanisten sein. Zweifelsohne war Goethe um 1800 imstande, sich diesen Vorgang zu vergegenwärtigen. Er wiederholt nämlich vollkommen bewußt den Erinnerungs- und Bildungsgang der Renaissance, wie es schon das Motto der Italienischen Reise zeigt, das ein Zitat ist73 und ein weiteres Wiederholungsmoment (»Auch«) enthält. Hier geht es aber nicht um eine bloße Anspielung. Erfährt doch Goethe in Rom tatsächlich, so formuliert er explizit am 3. Dezember 1786, eine »wahre Wiedergeburt«.74 Es ist daher kein leeres Wortspiel, wenn man von Goethe sagt, er wiederhole die Wiederholung namens Renaissance. Bemerkenswert ist dabei die konstitutive Funktion der genetischen Metapher der »Wiedergeburt«, die die Wiederholung im Namen der Natur neutralisiert. Denn mit dieser Figur schreibt sich Goethe in die humanistische Tradition ein, die, wie Hans Robert Jauß formuliert, »den Gegensatz von antiqui und moderni, vorbildhafter Antike und selbstbewußter Neuzeit im Schema einer zyklischen Periodik der Wiederkehr«75 vermittelt. Eben diese periodische Wiederholung der Geschichte zerbricht aber, wenn Brinkmann fast 200 Jahre später den die Renaissance wiederholenden Goethe wiederholt. Die römischen Ruinen verlieren für Brinkmann ihren – humanistischen – Gedächtniswert und sie funktionieren nicht mehr als mnemotechnischer Ort, auf dem ein Schriftsteller mit Erinnerungen wiedergeboren wird. Denn sie erscheinen nun von der Turbulenz der modernen Großstadt überlagert: der Lärm des Verkehrs, das Rauschen der Masse, die Schocks von Ereignissen, die Überflutung durch Zeichen, 72 | Aleida Assmann 1999, S. 308-314. Vgl. auch Nicolas Pethes/Jens Ruchatz 2001, S. 509-511. 73 | Zur philologischen Erläuterung des Mottos der Italienischen Reise vgl. Anmerkungen von Herbert von Einem. In: Johann Wolfgang von Goethe 1998, Bd. 11, S. 582f. 74 | Johann Wolfgang von Goethe 1998, Bd. 11, S. 147: »[D]enn an diesen Ort knüpft sich die ganze Geschichte der Welt an, und ich zähle einen zweiten Geburtstag, eine wahre Wiedergeburt, von dem Tage da ich Rom betrat.« 75 | Hans Robert Jauß 1970, S. 26.

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Bilder und Medien, die als ein unerhörter »Non-Stop-Horror-Film« die Sinne des Reisenden verstört und zerstreut. Es ist dem Autor von Rom, Blicke, als würde er »bombardiert von den winzigen aber unzähligen Reizen, die alle leer sind« (RB, 442). Solcherart kopflos kann er nur noch bruchstückhafte Eindrücke der Gegenwart, denen er ausgeliefert ist, einsammeln: »So bin ich hier, füge den Materialalben etwas hinzu, sehe mir eine weitere sterbende europäische Hauptstadt an, mache Notizen, sammele.« (RB, 274) Die Sammlung und Konzentration des Schriftstellers auf sein jeweiliges ›Hier und Jetzt‹ in Rom, die seine Aufzeichnungen und Momentaufnahmen durchzieht, zeugt in diesem Kontext ex negativo eben von der kinematographischen Zerstreuungskraft der moderen Großstadt, die er – wie bereits im Zug von Köln nach Rom – durch das Sammlung erstrebende Schreiben und Photographieren gerade abwehren will. Nirgendwo gibt es einen ›freien‹ Spielraum mehr für die – im Sinne von Benjamins Kunstwerk-Aufsatz – »kontemplative« Erinnerungsarbeit am altehrwürdigen »Gedenkort«, wenn die Stadt nicht mehr allein im humanistischen Sinne Ruine ist, sondern darüber hinaus auch auf die Sinne des Wahrnehmungssubjektes schockierend und ruinierend wirkt: Tagtäglich erfahre ich körperlich und peinigend den weiter und weiter werdenden Zwiespalt, den verschärften Konflikt zwischen mir als Einzelnem und den Vielen in Form des Verkehrs, der Wagengeräusche. (RB, 264)

Die erinnerungslosen Ruinen der Großstadt Rom sind erfüllt von katastrophaler Wahrnehmung. Darauf steht nun Brinkmann ganz allein als leidender Held. Immerwährende, unaufhörlich zunehmende Empfindungen isolieren ihn als Leidenden bis zum Rand des Wahnsinns. Folgerichtig findet das autobiographische Subjekt von Rom, Blicke keine Muße zu seiner Erinnerung und Bildung mehr, sondern es kümmert sich einzig und allein um sein Überleben in der »weiter sterbende[n] europäische[n] Hauptstadt« (RB, 274). Dies gilt insbesondere für die Flaneurie Brinkmanns mit der Handkamera, die seine schriftstellerische Haupttätigkeit in Rom darstellt. Wiederholt streift er – scheinbar planlos – durch die Stadt. Hinter der Nonchalance der Spaziergänge, mit der Brinkmann recht systematisch an Monumenten und Museen in Rom vorbeiläuft, versteckt sich jedoch sein strenger Wille zur Selbstkontrolle: Er notiert eifrig, photographiert emsig und kartographiert wie besessen. Dadurch versucht er, sich »eine Klarheit und Genau-

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igkeit« (RB, 264) über Lebenszusammenhänge, Bilder, Eindrücke und Reize zu verschaffen, denen sein Körper ausgeliefert ist.76 Diese Stadtexpeditionen, aus denen manisch detailreiche, exhaustive Aufzeichnungen und photographische Momentaufnahmen der römischen Umgebung entstehen, erscheinen in diesem Kontext als riskante Form der Vorwärtsverteidigung im Überlebenskampf des Schriftstellers. Wie Walter Benjamin beschreibt, ist der Flaneur bereits bei Charles Baudelaire eine »Maske«, hinter der der Dichter »inkognito« sein heroisches Dasein durchspielt. Denn »[d]er Heros ist das wahre Subjekt der modernité. Das will besagen – um die Moderne zu leben, bedarf es einer heroischen Verfassung.«77 Der Dichter der Fleurs du mal hat also Benjamin zufolge die Wiederkehr des antiken Heroismus im Auge, den die Erfahrung der modernen Großstadt herbeizitiert. Auch Brinkmanns Flanieren ist ein heroischer Kampf um das Überleben, betrachtet der Schriftsteller doch das unkontrollierte Andrängen all der Reize und Eindrücke, die für das großstädtische Leben – aber auch für die Eisenbahnfahrt – charakteristisch sind, als lebensgefährlich: [I]ch denke, daß die Durchschnittsmenschen dermaßen zu sind (»geschlossen«), daß sie gar nicht sehen, wo, in welcher Welt, welcher Zeit, an welchem Ort sie leben & was für Bilder, Eindrücke, die im abwesenden Zustand, während ihre Gedanken woanders sind, in sie eindringen wie Viren & sie zerfressen. (RB, 255)

Um zu überleben, darf man in einer modernen Großstadt keineswegs zerstreut sein. Im »abwesenden Zustand« steuern die »Viren« im Sinne Burroughs’ in ihrer geheimen Aktivität durch Reizsignale das Dasein. »Bilder, Eindrücke« (und, wie im letzten Subkapitel dargelegt, auch Wörter) sind solche gefährlichen Reizsignale, die das Nervenzentrum unmittelbar affizieren. Es handelt sich hier um eine Variante der physiologischen Ästhetik seit Friedrich Nietzsche, die dem Denken und Sprechen amorphe Ströme von Nervenreizen vorausgehen sieht.78 Das nahezu kybernetische Schreibprogramm der Berechnungen von Arno Schmidt, auf das sich Brinkmann 76 | »Also, eine Klarheit und Genauigkeit in meinen Tag zu bringen, und nicht das Ausufernde, das mich umgibt und dem ich nachgebe. Das verwirrt mich selber – so stecke ich jetzt wieder in einem Zwiespalt.« (RB, 441) 77 | Walter Benjamin 1972, Bd. I, S. 577. 78 | Vgl. hierzu Friedrich Kittler 1995, S. 231-237. Vgl. auch Pierre Klossowskis Hinweis auf Nietzsches »Analyse, die das rationale Denken auf Triebkräfte

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in Rom, Blicke explizit bezieht (RB, 448), gehört auch dazu.79 Die Ästhetik als »eine angewandte Physiologie«80 übernimmt Brinkmann aber hauptsächlich aus Schriften Burroughs’, der ein Nietzsche-Leser ist.81 Konstruiert er sein autobiographisches Reisebuch mithilfe einer Montagetechnik, die Ansichtskarten, pornographische Bilder, Comicbilder und andere massenmediale Bilder in den Text einlegt, dann versucht er dadurch, der Ubiquität der »Viren« Sichtbarkeit zu verleihen: Die Text-Bild-Kombination von Rom, Blicke dient als Waffe des kämpfenden Schriftstellers dazu, die Allgegenwärtigkeit der virenhaften Gewalt, die Zeichen, Bilder und Wörter am Bewußtsein vorbei in der Großstadt auf die Subjekte ausüben, dem Tageslicht auszusetzen. In seinem medienanthropologischen Aufsatz Regeln für den Menschenpark entdeckt Peter Sloterdijk die Urszene des Humanismus im Widerstand der gelehrten Römer gegen die Massenkultur, die von den grausamen Theatern der kämpfenden Helden vertreten wird. Der römische Humanismus der Stoiker, Epikureer, Skeptiker und Eklektiker bezeichnet aus dieser Sicht die Entscheidung für das Medium Schrift, das den Menschen aus seiner Tendenz zur »Bestialisierung«82 zurückholen sollte. Sloterdijk sieht die amphitheatralischen Sensationen der Masse in die (post-) moderne Gesellschaft zurückgekehrt, die nun aber nicht mehr lokal, sondern multi- und massenmedial organisiert werden: Diese Wiederkehr zersprenge das humanistische, das heißt auf dem Schriftmonopol basierende Programm der »Zähmung« des Menschen durch die »Erziehung des Menschengeschlechts«.83 Der Aufstieg einer sensationslüsternen, sich bestialisierenden Massengesellschaft und der Niedergang des nur schriftlich tradierbaren Humanismus sind zwei Seiten einer modernen Medienfrage. Folgerichtig ist aus dieser Perspektive, daß die von Brinkmann zurückführt und diesen Triebkräften authentische Existenz zuspricht«. Pierre Klossowski 2003, S. 34. 79 | Zu Brinkmanns Bezug auf Arno Schmidt vgl. Thomas Bauer 2002, S. 70f. 80 | Friedrich Nietzsche 1999, Bd. 6, S. 418: »Ästhetik ist ja nichts als eine angewandte Physiologie.« 81 | Vgl. Andreas Kramer 1995, S. 153. 82 | Peter Sloterdijk 2001, S. 310. 83 | Peter Sloterdijk 2001, S. 319. Zu Sloterdijks Begriff der »Medienmasse« im Unterschied zur Masse als »Menschenschwärze« bei Elias Canetti vgl. auch Peter Sloterdijk 2000, S. 16-25.

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mit einer multimedialen Montage rekonstruierte Großstadt Rom »posthumanistisch«84 schlechthin erscheint. Dort werden nämlich Handlungen weniger durch Bewußtsein als vielmehr durch Physiologie und tierische Triebkräfte beherrscht. Grobheit, Grausamkeit, Unbewußtheit, Geilheit, Mediensucht sind in der Tat Kennzeichen der Römer, wie Brinkmann sie beschreibt. Um nur eine Belegstelle zu zitieren: Die männlichen Italiener kratzen sich ständig am Sack. Sie verschieben ihre Schwengel ungeniert an jeder Stelle und jedem Ort zu jeder Zeit in den engen Hosen, und zwar auf eine klotzige Art etwa so wie jemand klotzig in der Nase popelt, egal wo. 85

Die römische Masse, von der er so spöttisch spricht, erscheint Brinkmann aber zugleich durch das Wirken der »Viren« domestiziert. Es fällt deutlich auf, daß das zoologische Paradigma in Rom, Blicke dominiert: Brinkmann versteht nicht nur die Villa Massimo ausdrücklich als ein »Künstler-Tier-Gehege«, sondern er führt dazu noch aus, »daß die Bedingungen alltäglichen menschlichen Lebens sehr den Zoo-Bedingungen ähneln«. (RB, 288)86 Im Gegensatz zu Sloterdijk braucht Brinkmann freilich in den 1970er Jahren noch keinen Gedanken an die »Anthropotechniken«87 zu verschwenden. Denn er supponiert die »Viren«, die, sei es durch die Sprache, sei es durch Bilder, die Menschen an ihrem Bewußtsein vorbei kontrollieren. Sie determinieren bereits das ganze Tun und Treiben im »Menschenpark«, der hier Rom heißt. Brinkmanns autobiographisches Montagealbum, in dem die momentan gängigen »Viren« verzeichnet werden, ist auch als Suche nach Auswegen zu fassen, die aus dem Gehege herausführen könnten. Bezüglich der Massenverachtung, die in Rom, Blicke überall zum Vorschein kommt, weist der Schriftsteller Hermann Peter Piwitt 1979 empört darauf hin, daß Brinkmann immer noch von Nietzsche inspiriert gewesen sei.88 Sein humanistisches Gewissen hindert Piwitt daran, die Frage zu stellen, worauf gewisse nietzscheanische Züge in Brieftexten von 84 | Peter Sloterdijk 2001, S. 310. 85 | Vgl. auch RB, 51, 73, 75, 152, 397, 437. 86 | Vgl. auch RB, 72, 117. 87 | Peter Sloterdijk 2001, S. 326, S. 330. 88 | Hermann Peter Piwitt 1979, S. 252: »Ich dachte, mit Nietzsche müsse man bis spätestens zwanzig durch sein. Und nun dieser Haß auf die ›viel zu vielen‹,

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Rom, Blicke beruhen. Brinkmann geht es darum, eine heroische Schreibweise aus dem tiefsten Abgrund des Herzens zu erringen, um damit der »post-humanistisch« umorganisierten Ordnung gewachsen zu sein. Er visiert eine Überbietung der humanistisch kultivierten Schreibweise an, die dem Toben der physiologischen Antriebe gegenüber ohnmächtig ist. Dazu bedarf er einer erniedrigenden, beschimpfenden und schreienden Affektsprache, die die Nerven affiziert, statt vom Bewußtsein verstanden zu werden. Dieser affektive Sprachgestus erinnert deutlich an Punks89: Sie bringen in den 1970er Jahren in London die Figur des »Barbaren«90 wieder auf die Bühne, während Brinkmann 1972 geradezu auf den Ruinen Roms steht, die hinsichtlich dieses antizivilisatorischen Emblems viel traditionsreicher als London sind: Die Stadt Rom hat seit ihrer Gründung regelmäßig »Barbaren« auftauchen und verschwinden sehen, so etwa die Germanen, von denen Tacitus sprach, oder romantische Helden, die die Ruinen behausten.91 Der Autor von Rom, Blicke schreibt sich entschlossen in diese Tradition ein, indem er sich den Römern gegenüber selbst als einen Barbaren aus Deutschland inszeniert. […] durch das Gebüsch schrie ich einige wilde deutsche Flüche auf die tief gelegene Straße, wo Italiener ihre Scheißkarre anließen – und das muß ein seltsamer Augenblick gewesen sein, plötzlich nachts aus dem verwilderten hochgelegenen Gebüsch heraus über sich eine Stimme wilde fremde Verwünschungen ausstoßen zu hören. (RB, 26)

Brinkmann versucht seine »wilde« Differenz zu unterstreichen, indem er ostentativ Kommunikation und Anpassung verweigert. So überlegt er auch, kein Italienisch zu lernen, um »nicht jeden Mist zu verstehen«. (RB, 22) Die Ruinen Roms, auf denen Brinkmann sich selbst als Barbaren inszeniert, stellen keinen »Gedenkort« der glorreichen Vergangenheit des Abendlandes mehr dar, sondern einen kolosseumhaften Schauplatz heroischer Überlebenskämpfe. Auf dieser radikal transformierten Topoloden ›Durchschnitt‹, das ›schlechte Humane‹, die ›Demokratie‹, die ›Gleichmacherei‹, das ›Historische‹ bei Brinkmann in ›Rom, Blicke‹!« 89 | Vgl. Ralf Bentz 1999, S. 183. 90 | Zu Punks als »Barbaren« vgl. Manfred Schneider 1997, S. 260-266. 91 | Vgl. Manfred Schneider 1997, S. 41-58, S. 128-132.

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gie der Ruinen ist das Erinnerungsvermögen für das Subjekt nur noch störend. Daher wird die Erinnerung, ohne die das autobiographische Schreiben normalerweise nicht auskommt, bei Brinkmann durch die schreibende und photographierende Abfallsammlung ersetzt. Betrachtet man sein autobiographisches Format scrapbook in diesem Kontext der erinnerungslosen Ruinen aufs neue, so ist seine Zweideutigkeit augenfällig. Als transitorischer Speicher für das kommende Romanwerk impliziert es Offenheit auf die Zukunft hin. Zu dieser zeitlichen Offenheit kommt die systematische hinzu. In seinem Text Ein unkontrolliertes Nachwort schreibt Brinkmann: Die fragmentarische Form, die ich verschiedentlich benutzt habe, ist für mich eine Möglichkeit gewesen, dem Zwang, jede Einzelheit, jedes Wort, jeden Satz hintereinander zu lesen, und damit auch logische Abfolge zu machen, wenigstens für einen Moment nicht zu folgen. 92

In der Fragmentarität, von der auch das scrapbook gekennzeichnet ist, sieht Brinkmann die ästhetische »Möglichkeit«, dem »Zwang« der schriftlichen Linearität zu entgehen. Dieser Offenheit und Freiheit entspringt die faszinierende Unstabilität der fragmentarischen Literatur, die definitionsgemäß nirgendwo zum Stillstand kommt. Novalis gibt dieser unaufhörlichen Bewegung und Zerstreuung des Fragments den schönen Titel Blümenstaub. Eine solche Faszination der Dissemination kippt jedoch schnell in Verunsicherung um: Ich sammele weiter Material, manchmal zerfällt es mir zu sinnfälligen Munstern, öfter ist es ganz disparat, und ich kann – ganz im Gegenteil zu Deiner Annahme, ich besäße eine Modellvorstellung, nach der ich ordnen könnte – vieles gar nicht in eine einheitliche Gesamt-Vorstellung bringen. (RB, 273)

Diese Zeilen geben zu verstehen, daß die Fragmentarität der schriftstellerischen Arbeit für Brinkmann auch beunruhigend erscheint. Aufgrund der Disparität und Uneinheitlichkeit kann das scrapbook eine Sammlung von Texten und Bildern tatsächlicher Abfälle sein: Gemeint ist hier nun Abfall in der Gestalt von diversen fragmentarischen Materialien, die der Schriftsteller in dieser Form für unnütz gehalten und weggeworfen hat. Das Format 92 | Rolf Dieter Brinkmann 1976, S. 234f.

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scrapbook steht in diesem Sinne dafür, daß Brinkmann durch die Sammlung abfallartiger Materialien die Niederschrift seines zweiten Romans immer wieder aufschieben mußte. Rom, Blicke bietet sich in dieser Hinsicht als Trümmerfeld des geplanten, aber nicht geschriebenen zweiten Romans dar. Diesen Aspekt läßt Brinkmann im Fortgang seines Schreibens immer mehr in den Vordergrund treten, nicht zuletzt am Ende des Buches, wenn in den Briefen an Maleen um den Jahreswechsel 1972/1973 herum ein »Zögern«, eine mit einem »Labyrinth« (RB, 443) verglichene Orientierungslosigkeit, Unzufriedenheit mit sich selbst und eine ungewisse Ausweglosigkeit geäußert werden: Für mich ist das Jahr 72 zu überblicken in den einzelnen Details, da sind die einzelnen Notizen, in dem Notizbuch, aber dieser Zeitabschnitt endet mit einem Zögern bei mir, und einer Unsicherheit […]: unsicher, mit Furchtsamkeit garniert, durchsetzt, was? Wohin? Viel gelesen, viel mir angeschaut, Verschollenes, Bilder, Musik, Notizen, durch eine Anzahl von Orten gegangen, ziemlich belastet mit dem Blick, mit mir selber dem Zögern, wohin? Das Verwerfen, das Neu-Orientieren, das Tasten nach einem neuen Anfang, in welcher Richtung? (RB, 424)

Dies sind keineswegs rhetorische Fragen. Der gesamte Verlauf der Reise in Rom, Blicke, während der nirgendwo gute Aussichten in die Zukunft keimen, zeigt deutlich, daß Brinkmann selbst keine Antwort darauf weiß.93 Auch in dieser Hinsicht kontrastiert seine Autobiographik stark mit der des Weimarer Klassikers. Wenn Goethes autobiographisches Schrifttum Aus meinem Leben, zu dem ursprünglich auch die Italienische Reise gehörte, davon erzählt, wie der Autor zu dem geworden ist, was er ist, nämlich Autor, dann stellt Rom, Blicke zur Schau, wie Brinkmann immer wieder daran scheitert, Autor zu werden. In Verbindung mit dem literarischen Fiasko steht auch die Figur der Ruine: Sie bezieht sich bei Brinkmann nicht allein auf Rom in der Einheit von antiker Hauptstadt und moderner Großstadt, sondern sie verweist darüber hinaus auf seinen autobiographischen Text selbst, der gleichzeitig die Trümmer des gescheiterten Romans darstellt. Das Scheitern des Romanautors in der Form eines literarischen Selbstporträts zu präsentieren, darin liegt die Strategie des autobiographischen Tex-

93 | Vgl. auch RB, 386.

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tes Rom, Blicke. Es gilt nun, die Implikationen dieser gewagten Strategie genauer zu befragen. Bekannt ist der poetologische Einfluß von Schriftstellern des nouveau roman, namentlich von Alain Robbe-Grillet, auf Brinkmann. Das präzis aufzählende, detailbesessene Erzählen, das gegen die sprachlich vorstrukturierte Ordnung der Dinge Widerstand leistet, kennzeichnet auch Rom, Blicke. Darüber hinaus wohnt nun diesem autobiographischen Text noch etwas inne, das zu der zeitgenössischen Texttheorie in Frankreich um 1970 parallel läuft: die Problematisierung des hermeneutischen Begriffs des ›Autors‹. Roland Barthes hat in seinem Text Der Tod des Autors von 1968 den Begriff der Autorschaft, der um 1800 – also gerade in der sogenannten Goethe-Zeit – institutionalisiert wurde, nachhaltig in Frage gestellt.94 Auf dem Wege der Suspendierung des Begriffskorrelats von ›Werk‹ und ›Autor‹, auf das sich die hermeneutische Literaturforschung seit dem 19. Jahrhundert verpflichtet zu haben schien, eröffnet Barthes einen unbegrenzten Raum des Textes als »ein Gefecht von Zitaten, die aus den tausend Brennpunkten der Kultur stammen«.95 Parallel dazu geht Brinkmann vor, wenn er aus der Totgeburt seines zweiten Romans einen originellen autobiographischen Text hervorbringt. Der autobiographische ›Text‹ entsteht als Ruine des eigentlichen ›Werks‹, das geschrieben hätte werden sollen. Der Wille zum Romanwerk – die »Vorbereitung des Romans«96 bei Roland Barthes – erscheint aufgeschoben und auf die Ebene des autobiographischen Textes verschoben, indem Brinkmann das Schreiben selber pointiert. Bei diesem Schreiben, dessen Intensität sich weder mit der alten Einheitlichkeit des ›Werks‹ noch mit der Form des Romans verträgt, handelt es sich komplementär um die Kehrseite jenes intensiven Lesens, dessen Produktivität die Texttheorie des Literaturkritikers Barthes herausgestellt hat: Beide, Schreiben und Lesen, rücken also jeweils auf eigene Art und Weise die unbegrenzte Textualität vor dem Werkcharakter in den Vordergrund. Dazu kommen noch die schicksalhaft zu nennenden editorischen Umstände, nämlich daß Rom, Blicke tatsächlich kein abgeschlossenes Werk Brinkmanns ist, sondern seine Veröffentlichung als Buch der 94 | Zur »Theorie der Autorschaft« vgl. Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matias Martinez/Simone Winko 2000. 95 | Roland Barthes 2006, S. 61. 96 | Roland Barthes 2008. Vgl. hierzu das Barthes-Kapitel der vorliegenden Untersuchung.

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Ehefrau Maleen verdankt, die nach Brinkmanns Unfalltod (nicht in Rom, sondern in London am 23. April 1975!) den Nachlaß herausgab und teilweise sogar an der Montage der Bilder beteiligt war. (RB, 451) Diese Konstruktion des originellen autobiographischen Textes als Ruine seines zweiten Romans vollzieht sich freilich bei Brinkmann in einer paradoxen Wiederholung. In Rom, Blicke werden die literarischen Formen der Innerlichkeit seit dem 18. Jahrhundert – Brief, Tagebuch und Autobiographie – gezielt ins Spiel gebracht. Diese postalischen, diaristischen und autobiographischen Formen funktionieren, indem sie den Schreibenden zu einem angeblich fiktionslosen Sprechen bringen, als Quellen der authentischen ›Stimme‹ des ›Autors‹. Ohne sie wäre, wie Friedrich Kittler und Bernhard Siegert dargelegt haben, die hermeneutische Figur des ›Autors‹ um 1800 schlicht undenkbar gewesen.97 Während er in Rom, Blicke auf diese ›authentischen‹ Literaturformen des 18. Jahrhunderts zurückgreift, praktiziert Brinkmann, wie im vorhergehenden Subkapitel erwähnt, eine strenge Medienaskese. Es scheint, als wolle er in die Zeit des Schriftmonopols um 1800 zurückgehen, um selbst wieder ›Autor‹ zu werden. Die Restauration des ›Autors‹ geht mit einem bilderstürmerischen Leben ohne moderne Medien einher: »[D]a merkte ich, daß ich nichts dieser kleinen Geräte vermisse, kein Radio, keinen Transistor, kein TV-Gerät, keine Illustrierten, keinen Film.« (RB, 283)98 Brinkmann sieht vor, abgesehen von Maschinen zur Textproduktion wie der Schreibmaschine und der »Instamatic«, technische Medien aus seinem Leben auszuschalten. Die derartige Medienaskese des ehemaligen Popschriftstellers gipfelt in seinem Aufenthalt in Olevano Romano vom 21. Dezember 1972 bis zum 1. Januar 1973. Aus der modernen Großstadt in dieses romantische Dorf zurückgezogen, entdeckt Brinkmann in der deutschen Romantik einen Vorläufer der modernen Ruinenästhetik wieder.99 In seinen Briefen aus Olevano liest man deutlich, wie sich dem Schriftsteller von Rom, Blicke die Aktualität der romantischen Poetik aufdrängt. Und es wird offensichtlich, daß 97 | Friedrich Kittler 2000, S. 68f. Bernhard Siegert 1999, S. 84. 98 | Vgl. auch RB, 284, 308. 99 | Über die romantischen Maler schreibt Brinkmann wie folgt: »[S]ie haben gesehen, wie weit der Zerfall war, daß sie in mehr oder weniger großen Ruinen lebten, und die Landschaft hat ihnen auch nicht geantwortet – bei C. D. Friedrich: das Verharren der Menschen, ihre Passivität inmitten einer Umweltkulisse.« (RB, 430)

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das unzeitgemäße, an die Stelle von Telefonaten gesetzte Briefschreiben an die Frau100 eine unerläßliche Voraussetzung für das ganze Projekt von Rom, Blicke ist: Nicht nur in quantitativer Hinsicht ist Maleen Brinkmann die Hauptadressatin seines postalischen Schreibens aus Italien. Nur sie erlaubt ihm nämlich, eine eigentümlich intime und unmittelbare Herzenssprache freizusetzen: »Das kommt mir alles bald wie ein riesiger Liebesbrief vor.« (RB, 412) Schreibt Brinkmann so durch die die ›Stimme‹ des ›Autors‹ simulierenden Literaturformen hindurch die Schrifttexte von Rom, Blicke, dann experimentiert er dadurch zugleich mit einer – seiner – Wiederherstellung der Autorschaft. Dieser Versuch der Wiederherstellung ist allerdings weit entfernt von einem klassizistischen Unternehmen. Er läßt sich als heroische Wiederholung begreifen: Brinkmanns wilde und rauhe ›Stimmen‹, die sich in den literarischen Innerlichkeitsformen äußern, sprechen ungebändigt von Haß, Enttäuschung, Verachtung, Ekel, Verzweiflung, Begierde, Selbststeigerung. Sie sprechen von unkontrollierbaren Affekten, die den schreibenden Heros im Überlebenskampf ergreifen. Heroische Wiederholung, statt mit einem naturhaft periodischen Kreislauf der Geschichte zu rechnen, gründet sich hier einzig auf ein Abenteuer, wodurch das autobiographische Subjekt den entscheidenden Sprung auf Leben und Tod zu vollziehen sucht. Es geht also um eine völlig andere Wiederholungsstruktur als bei der periodischen Wiederkehr, die der genetischen Metapher der Renaissance zugrundeliegt. Heroische Wiederholung setzt sich in einer singulären Bewegung des Experiments durch, wie schon bei Sören Kierkegaard in seiner – so lautet der Nebentitel des philosophischen Textes Die Wiederholung – »experimentierenden Psychologie«, der im ersten Kapitel der vorliegenden Publikation für die Analyse der mémoire involontaire bei Proust herangezogen wurde.101 Im Namen von Constantin Constantius als dem iterativen Decknamen, der die Identität des Subjekts problematisiert, wird die Wiederholung bei Kierkegaard als umgekehrte Erinnerung defi-

100 | Im zweiten Brief an Maleen verspricht Brinkmann, sie nicht mehr anzurufen. Denn »Telefongespräche dienen offensichtlich ebenso sehr schierem Geschäft und der Übermittlung von zu erledigenden Problemen und nicht sehr privaten, sensiblen, wie ich mir vorgestellt haben mag, oder bloß ausgedacht und geträumt habe.« (RB, 40) 101 | Vgl. 1.6 Die mémoire involontaire als Wiederholung.

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niert: Ihm gilt es, für eine kommende bzw. »moderne«102 Philosophie die Wiederholung als eine solche Grundkategorie zu gewinnen, wie es die Erinnerung für die antike Philosophie (und für Hegel) war. Zu diesem Zweck beschreibt er ein immer wieder gescheitertes Experiment mit der Wiederholung, bis sich diese dann schließlich – durch die irritierend repetitive Erfahrung von der »Unmöglichkeit der Wiederholung«103 hindurch – als augenblickliche Grenzüberschreitung ereignet. Brinkmanns heroische Wiederholung zeichnet diese »moderne« Wiederholungsstruktur geradezu nach: Sie beruft sich nicht auf die autoritative Allgemeinheit des akkumulierten Wissens namens Humanismus, sondern einzig und allein auf die jeweils aufs neue begonnenen Experimente der Literatur in der Offenheit von vermittlungslosen Ausnahmen. Sei es in der Wiederherstellung der Autorschaft, sei es im Rückgriff auf die Innerlichkeitsformen des 18. Jahrhunderts, geht es bei Brinkmann als wiederholender Schriftsteller um ein heroisches Abenteuer, in dem er untergehen könnte.104 Auf einen deutlichen Unterschied zwischen Kierkegaard und Brinkmann soll hier jedoch ebenfalls eingegangen werden. Brinkmanns Wiederholung erreicht nirgendwo in Rom, Blicke jenen entscheidenden, mit Euphorie erfüllten Augenblick, der Kierkegaard überfällt – und später Nietzsche als heroischen Philosophen der ewigen Wiederkehr ebenso wie Proust als Abenteurer ins Reich der unwillkürlichen Erinnerung. Ungeachtet des wiederholten Experimentierens mit photographischen Momentaufnahmen und augenblicklichen Wahrnehmungen in der Hoffnung auf utopisches ›Hier und Jetzt‹ trägt sich bei Brinkmann kein augenblickli102 | Sören Kierkegaard 1955, S. 21. 103 | Sören Kierkegaard 1955, S. 44. 104 | Der Philosoph Gilles Deleuze schreibt in der Einleitung zu Differenz und Wiederholung: »Die Wiederholung ist nicht die Allgemeinheit« (Gilles Deleuze 1997, S. 15). Damit beabsichtigt er, diese Grundkategorie von einem Joch zu befreien, das ihr die abendländische Philosophie seit Platon auferlegt hat: vom Identitätsprinzip, das die Wiederholung auf eine bloße Wiederkehr desselben reduziert, um diese zum eigenen Vorteil zu nutzen. Die wahre, tiefer reichende Wiederholung, als deren Effekt die Wiederkehr desselben wie etwa der Zirkel der Jahreszeiten oder die Kopie zu denken ist, betrifft die Differenz als »eine untauschbare, unersetzbare Singularität« (ebd.). Diese moderne Wiederholung, für die exemplarisch Kierkegaard und Nietzsche stehen, liegt auch der Autobiographik Prousts und Brinkmanns zugrunde.

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cher Sprung zu. Das oben erörterte Scheitern, auf das die Figur der Ruine verweist, rückt erst in diesem Kontext ins rechte Licht: In Brinkmanns Wiederholungsexperimenten ereignet sich – anders als bei Kierkegaard – keine plötzliche, schwindelerregende Grenzüberschreitung. Anstelle des augenblicklichen Sprungs, der ein außerordentliches Glücksgefühl nach sich zieht, manifestiert sich in der heroischen Wiederholung Brinkmanns ein gründliches Paradox. Seine heroische Wiederholung ist paradox, denn gerade jene die Literatur des 18. Jahrhunderts kennzeichnenden Formen, die es Brinkmann ermöglichen, affektvoll zu schreiben, seine inneren Gefühle spontan zu entblößen und Gedanken ohne Rücksicht auf die Öffentlichkeit zu formulieren, lassen seine Subjektivität immer disparater erscheinen: »Ich bin gewiß schwach im Denken. ›Ich, ich, ich, ich, ich‹.« (RB, 185) Das Ich-sagende Subjekt pluralisiert und zerstreut sich in Rom, Blicke eben dadurch, daß es sich in der Innerlichkeitsform des Briefes und des Tagebuchs vergeblich selbst darzustellen versucht. In einem diaristischen Text in Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand heißt es auch: »Ich sind Viele und so gehe Ich durch viele Ichs und merke, wie verwüstet die Gegend ist.«105 Nicht nur während der Zugfahrt, bei der Brinkmann aufgrund seiner Sammlung der vorbeiziehenden Landschaften ins »Delirium« gerät, sucht ihn die Kraft der Zestreuung heim, sondern auch der Versuch, sich durch postalisches und diaristisches Schreiben als einmaliges, individualisiertes und subjektiviertes »Ich« darzustellen, setzt paradoxerweise diese exzentrische Kraft in Gang. Die Zerstreuung macht sich in diesem Sinne nachgerade im Kern des autobiographischen Schreibens Brinkmanns geltend. Das Zerfallen des »Ich« in die stotternde Wiederholung von »Ich, ich, ich, ich, ich« faßt den gesamten Prozeß des autobiographischen Texts Rom, Blicke auf der Mikroebene zusammen: Die ruinenhafte Fragmentarität und Disparatheit, die das scrapbook in seiner Gesamtheit kennzeichnet, entspricht genau der Zerstreuung des autobiographischen Subjekts. Das scrapbook als schriftliche und photographische Sammlung von Abfällen ist, mit anderen Worten, die Ruine des »Ich«, das sich unweigerlich in die Vielheit auflöst. In der Diskursformation um 1800, die die kontinuierliche Lebensgeschichte als Testat eines Bürgers postulierte,106 wäre Brinkmanns autobiographischer Text voll von Zerstreuung nur Beweis für den Wahn105 | Rolf Dieter Brinkmann 1987, S. 100. 106 | Vgl. hierzu Manfred Schneider 1993, S. 249-265.

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sinn seines Schreibers gewesen: Bei Brinkmann werden klassische Themen der Selbstbiographie – Kindheit, Familie, Heimat, Lektüre, Jugend, Liebe – nicht entlang einer chronologischen Linie erzählt, sondern sie tauchen ausschließlich in einer radikal gegenwartsbezogenen Perspektive als jeweils zerstückelte Scherben des katastrophalen Lebens und Erlebens auf. Diese autobiographische Diskontinuität und Disparität, die mit starken Auslassungen und Selektionen einerseits, mit materieller Vielfältigkeit und ausufernder Sammlungsintensität andererseits einhergeht, ist jedoch nicht bloßer Mangel. Denn gerade dadurch reiht sich Brinkmann – bewußt oder unbewußt – unter die alternativen Autobiographen des 20. Jahrhunderts ein, die der klassischen Autobiographik des Abendlandes entgegenschreiben. Gemeint sind Marcel Proust und Walter Benjamin, die angesichts der zunehmenden Verwaltung der Lebensdata durch Photographien und andere technische Medien begonnen haben, die eigene Autobiographik auf die »Unerkennbarkeit« bzw. das »autobiographische Inkognito« hin umzuorganisieren.107 Die Makrostruktur von Rom, Blicke gibt zu verstehen, daß die Zerstreuung des autobiographischen Subjekts eine unaufhaltsame, unumkehrbare Bewegung ist. Die Reise des jungen deutschen Schriftstellers nach Italien beginnt nämlich nicht nur mit einem Delirium als Folge der Geschwindigkeit der Eisenbahn, und er setzt sich nicht allein, statt »Arkadien« wiederzufinden, horrorfilmischen Wahrnehmungskatastrophen der modernen Metropole aus; sondern nach unzähligem Experimentieren des »Ich, ich, ich, ich, ich« schließt der Bericht seines Rom-Aufenthalts auch noch ohne jede semantische Rundung oder Konvergenz. Er hört mit einem brieflichen Streit mit Maleen einfach auf. Im vorletzten Brief des Buchs heißt es: [V]iel später, und nach dem ganzen Hin und Her der Telefonate, kann ich nur sagen, daß ich keinen Sinn mehr darin sehe, Dir länger etwas aufzuschreiben und zu berichten. Wozu? Und was hilft es? Und wem? Dir? Mir? Dieser lange Brief ist ebenso überflüssig wie das meiste andere. Ich gebs hier auf. (RB, 445)

Die Erklärung der Unsinnigkeit von weiteren, aber auch der bisherigen Briefe, aus denen der größte Teil von Rom, Blicke besteht, kündigt eher das bloße Ende als den Abschluß des Buchs an. Die letztliche Zwietracht mit der Ehefrau, die als einzigartige Adressatin der intimen Briefe, als Archi107 | So sieht es auch Thomas Bauer 2002, S. 79.

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varin und Herausgeberin der Texte Brinkmanns fungiert, fügt nicht allein seiner römischen Ruinen-Erfahrung einen neuen Aspekt hinzu. Die RomReise scheint nicht nur ohne Ziel und Ergebnis, ihr ist auch keine glückliche Wiederkehr beschieden. Für das gescheiterte Subjekt von Rom, Blicke gibt es keinen Rückweg zur Familie, zur Kölner Literaturszene und nicht zuletzt auch kein Zurück zum ›Autor‹. Erzählt Brinkmann nichts von seiner Rückreise, dann wohl auch deshalb, weil er in Rom – den wiedergeborenen »Göthe« anbrüllend – als ›Autor‹ gestorben ist. Seine Wiederholung der Italienischen Reise und der literarischen Innerlichkeitsformen des 18. Jahrhunderts, die auf eine anti-klassizistische und heroische Wiederherstellung des ›Autors‹ zuzusteuern schien, beschleunigt paradoxerweise den Tod der eigenen Autorschaft. Denn die radikale Wiederholung legt, statt zur Restauration alter Einheiten in der Institution der Literatur zu führen, nur noch Kräfte der Zerstreuung an den Tag. Brinkmanns ItalienReise, die mit einer Eisenbahnfahrt beginnt, läuft letzten Endes auf einen Einbahnverkehr hinaus wie die Einbahnstraße der Moderne selbst. Rasend dringt das autobiographische Subjekt von Rom, Blicke in mehrfache Ruinen vor, um sich darin zu zerstreuen: »Wohin raste dieser Zug?: Auf das Verlöschen des Ich, in den kollektiven allgemeinen Wahn.« (RB, 427)

4. Barthes’ Autobiographien mit Blick auf die Photographie

4.1 S PIEGELSTADIUM IN R OLAND B ARTHES PAR R OLAND B ARTHES Roland Barthes par Roland Barthes (dt.: Über mich selbst1) wird eine Photographie vorangestellt. Ein Schnappschuß, auf dem sich eine jugendlich wirkende, sommerlich gekleidete und am Strand spazierende Frau zeigt, steht noch vor dem Titelblatt dieses autobiographischen Buchs von 1975. Ihr Gesicht ist auf diesem alten, ziemlich unscharfen Photo schlecht zu erkennen. Aber als Quellenangabe heißt es: »Biscarosse, Landes, um 1932. Die Mutter des Erzählers«. (ÜMS, 203) Also geht es um Henriette Barthes. Bemerkenswert ist das Arrangement des Photos: Der alten Photographie der Mutter wird in dieser Autobiographie Roland Barthes’, wie Ottmar Ette zutreffend schreibt, ein »(paratextueller) Ehrenplatz«2 zuerkannt. Das Mutterbild steht nämlich buchstäblich vor all dem, was der Schriftsteller über sich selbst schreibt. Was besagt diese Voranstellung des Mutterphotos, wenn man sie nicht als sentimentale Dekoration, sondern als wesentlichen Teil der autobiographischen Darstellung faßt? Im folgenden wird versucht, Barthes’ Autobiographik bis zu dem Punkt zu erhellen, von dem aus die Notwendigkeit des allem vorangehenden Mutterphotos einleuchtet. Schon fünf Jahre vor diesem autobiographischen Buch erschien Barthes’ eigentümliches Reise-Buch, das ebenfalls aus einer Kombination von Bild und Text besteht: Das Reich der Zeichen. Am Anfang des Buchs 1 | Roland Barthes 1978. Im folgenden wird dieser Text durch das Sigel ÜMS mit der Angabe der Seitenzahl zitiert. 2 | Ottmar Ette 1998, S. 392.

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expliziert Barthes, wie er in Japan reiste: »Der Autor hat nie und in keinem Sinne Japan photographiert.«3 Barthes ist kein Knipser, und dieses JapanBuch, das voll von Photos verschiedener Art ist, enthält auch kein von ihm aufgenommenes Photo. In Roland Barthes par Roland Barthes bleibt er diesem Vorgehen treu. Photos sind zwar Autobiographeme, die er in die autobiographische Selbstdarstellung mit einbezieht. Anders als in Brinkmanns Rom, Blicke geht es aber hierin nicht um Photos, die der Schriftsteller selbst aufgenommen hat. Bezüglich der Autobiographik anhand einer photographischen Bebilderung gehorcht Barthes vielmehr Spielregeln, die ihm die Reihe Ecrivains de toujours des Verlags Seuil vorschreibt. In dieser biographischen Reihe werden klassische Autoren – unter dem Titel ›X par lui-même‹ – anhand von schriftlichen Selbstzeugnissen, Photographien und anderen Bildmaterialien vorgestellt. Hierin veröffentlichte Barthes bereits 1954 Michelet par lui-même. Als erster Schriftsteller verfaßt er nun in diesem editorischen Rahmen 1975 statt einer Biographie eine Autobiographie: Roland Barthes par Roland Barthes.4 Die hier reproduzierten Photos, die beispielsweise die Heimatstadt Bayonne, den Vater, die Mutter, den Bruder, die Großeltern, das autobiographische Subjekt in unterschiedlichen Lebensjahren und -situationen zeigen, fungieren – zumindest auf den ersten Blick – als authentische Dokumente des dargestellten Lebens. Die photographischen Abbildungen, die insgesamt 41 sind, spielen also hier genau diejenige Rolle, die ihnen von der positivistischen Konzeption der Reihe Ecrivains de toujours zugeteilt wird. Sie erscheinen als bildliche Dokumente, als transparente Informationsquellen über die Vergangenheit, deren Zeugenschaft durchaus glaubwürdig ist. Aber Barthes gelingt es zugleich, mit der editorischen Vorschrift spielerisch umzugehen. Er fügt sich ihr bald schmiegsam, um ihr bald sacht auszuweichen: Seine Photos, als authentische Bilddokumente präsentiert, können im gleichen Zug als mehrdeutige, interpretationsbedürftige Zeichen wirken. Denn Barthes semantisiert die Photos, indem er sie zur autobiographischen Selbstdarstellung auswählt, arrangiert und kommentiert. Genau so wie bei Brinkmann funktioniert also die Photographie bei Barthes auch als eine Art von Zeichen, das konnotativ auf etwas anderes als sich selbst verweist. Diese Semiotik der Photos impliziert eine gewisse Kritik. Sie entspricht nämlich kritischen Befunden über dieses moderne 3 | Roland Barthes 1981, S. 14. 4 | Vgl. hierzu Ottmar Ette 1998, S. 380.

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Bildmedium, zu denen Barthes in seinen semiologischen Aufsätzen Die Fotografie als Botschaft (1961) und Rhetorik des Bildes (1964) gelangte: Die Photographie definiert sich demnach als Paradox der »Botschaft ohne Code«.5 In dieser berühmt gewordenen Formel geht es um das paradoxe Fehlen des diskontinuierlichen Codes, das die Künstlichkeit und Rhetorizität der Photographie auf ihre Evidenz hin naturalisiert. Aus dem Fehlen des für die Sprache wesentlichen Binärcodes resultieren, um einen Ausdruck in Mythen des Alltags (1957) zu zitieren, »falsche Augenscheinlichkeiten«6 des technischen Bildmediums. Der Photographie ist für Barthes eine solche Naturalisierung des Kulturellen immanent, die insbesondere für die Pressephotographie grundlegend ist. Diese Naturalisierung zugunsten der photographischen Evidenz ist aber auch eine Voraussetzung für das positivistische Projekt der biographischen Serie Ecrivains de toujours. Eben dies problematisiert Barthes nun als Autobiograph dadurch, daß er die Photos, die ihn angehen, nicht nur als authentische Bilddokumente, sondern auch als mehrdeutige Zeichen, Indizien und Symptome funktionieren läßt. Wenn er die Photos, sei es durch Kommentar, sei es durch Montage, in einen semantischen Prozeß hineinzieht, dann entnaturalisiert er sie zugleich. Denn ihre »falsche« Evidenz muß in dem Moment verloren gehen, in dem sie als Zeichen zum Vorschein kommen, die gelesen und gedeutet werden wollen. Ein Paradebeispiel hierfür, das sich in Roland Barthes par Roland Barthes findet, ist das in ein Oval eingerahmte Photo, auf dem Barthes als Säugling auf dem Arm der Mutter zu sehen ist. Mit aufgeschlagenen Augen sieht er direkt in die Kamera hinein. Die Funktion des Photos geht hier weit darüber hinaus, das autobiographische Subjekt im Säuglingsalter zu dokumentieren. Denn hier wird das Photo dadurch semantisiert und semiotisiert, daß Barthes’ Kommentar, der als Bildunterschrift dient, das Bild in einen expliziten Zusammenhang mit der psychoanalytischen Subjekttheorie von Jacques Lacan bringt: Das Spiegelstadium: »Das bist du.« (ÜMS, 25)

5 | Roland Barthes 1990, S. 40. 6 | Roland Barthes 1964, S. 7.

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Diese Bildunterschrift bestimmt das Photo als ein Bild, das den Schriftsteller im »Spiegelstadium« – zwischen dem sechsten und dem achtzehnten Monat – zeigt.7 Es handelt sich hier um das autobiographische Subjekt in seiner anfänglichen Phase, in der es in einem Spiegelbild zum erstenmal sein eigenes Bild als solches identifiziert und durch diese »Identifikation«8 die Einheit seines Körpers imaginär vorwegnimmt. Die Mutter scheint einerseits, indem sie zum Baby sagt: »Das bist du«, ihm bei seiner spiegelbildlichen Identifikation Beistand zu leisten: Sie steht also hier nicht auf der Seite der Realität oder der Wahrheit, sondern auf der Seite einer bestimmten Verkennung des autobiographischen Subjekts, ohne die sein Ich nicht entstehen würde. Andererseits führt die Mutter aber das Kind, indem sie ihm seine Identifikation sprachlich bestätigt, eben in die symbolische Dimension ein: Eine zweite Entfremdung der Einführung in die Ordnung des Anderen, die der ursprünglichen Entfremdung der Geburt als Trennung von und mit der Mutter folgt.9 In dieser Hinsicht suggeriert das Bild den genauen Gegensatz zu dem, was das traditionelle Motiv des Mutter-Kind-Bildes repräsentiert: Verkennung und Entfremdung, die der Genese der Subjektivität zugrunde liegt. Man sollte zwar bedenken, daß die psychoanalytische Begrifflichkeit bei Barthes hier wie dort nicht »ganz der Lacanschen Orthodoxie folgt«,10 daß der psychoanalytische Diskurs bei ihm eher in einem anti-dogmatischen Gestus spielerisch und verschiebend eingesetzt wird.11 Aber eins steht schon fest: Die minimale Operation der Bildunterschrift nimmt dem Photo seine konventionelle repräsentationsmediale Transparenz, bringt es in semantischen Zusammenhang mit der Theorie des Spiegelstadiums. Damit wird das photographische MutterKind-Bild in die zeichenökonomische Mitte dieses autobiographischen Buchs gerückt. Denn das Imaginäre, die zentrale Kategorie bei der Theorie 7 | Jacques Lacan 1996, S. 63. Zur Theorie des Spiegelstadiums vgl. auch Dylan Evans 2002, S. 277-279; Elisabeth Roudinesco/Michel Plon 2004, S. 964-966. 8 | Jacques Lacan 1996, S. 64. 9 | Zur symbolischen Dimension im Spiegelstadium vgl. Dylan Evans 2002, S. 279; vgl. auch Daniela Langer 2005, S. 263. 10 | Bettina Lindorfer 1998, S. 75. 11 | Im Fragment namens Verhältnis zur Psychoanalyse in Roland Barthes par Roland Barthes heißt es: »Er hat kein gewissenhaftes Verhältnis zur Psychoanalyse (dennoch kann er für sich keine Kritik an ihr, keine Ablehnung in Anspruch nehmen). Es ist ein unentschiedenes Verhältnis.« (ÜMS, 163)

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des Spiegelstadiums, macht, wie es sich unten allmählich zeigen wird, einen Schlüsselbegriff der Autobiographie von Barthes aus. Das Imaginäre, sei es im Sinne Lacans, sei es im davon abgeleiteten, erweiterten12 oder »deformierten« (ÜMS, 137)13 Sinne, spielt auch dann eine wesentliche Rolle, wenn Barthes selbst den Status der photographischen Abbildungen in Roland Barthes par Roland Barthes expliziert. Im ersten, auf ein Photo von Bayonne bezogenen bildkommentatorischen Text erklärt er, was es mit den hier gesammelten Bildern auf sich hat. Zu beachten ist, daß hier schon im ersten Abschnitt das Adjektiv »imaginär« zum Vorschein kommt: Zu Anfang einige Bilder: sie gehören zu dem Vergnügen, das der Autor sich selbst gewährt, wenn er sein Buch beendet. Ein Vergnügen aus Faszination (und von daher sehr egoistisch). Ich habe nur die Bilder ausgewählt, die mich wie versteinert ließen, ohne daß ich wüßte warum (diese Unwissenheit ist das Eigentümliche der Faszination, und was ich von jedem Bild sage, ist immer nur imaginär). (ÜMS, 7)

Selektiert wurden also die Photos, die für das autobiographische Subjekt nicht einfache, sondern faszinierende Dokumente darstellen. Sie sind mithin nicht nur auf die Vergangenheit, sondern auch auf die Gegenwart des Subjekts und seinen Selbstbezug bezogen. Die »Faszination« ist dabei im ganz emphatischen Sinne begriffen, und zwar als Erfahrung, gebannt zu werden, als abgründige Bezauberung, bei der man sich wie »versteinert« fühlt. Diese Beschreibung erinnert sogleich an die Konzeption des Spiegelstadiums, in dem das Subjekt von seinem eigenen Bild eben wie gebannt angezogen wird.14 Die hier präsentierten Photos sind also quasi magische Bilder,15 das Faszinosum, von dem das Subjekt erfaßt und unbeweglich gemacht wird, über das es »immer nur imaginär« aussagen kann. Konkre12 | »Das Lacansche ›Imaginäre‹ reicht bis hin zu der klassischen ›Eigenliebe‹.« (ÜMS, 81) 13 | Das vollständige Zitat lautet: »imaginär ist 1963 nur ein vager Ausdruck nach Bachelard (EC, 214); doch 1970 (S/Z, 17) wurde er neugetauft und ging ganz zum Lacanschen (auch deformierten) Sinn über.« (ÜMS, 137) 14 | Vgl. hierzu Gabriele Röttger-Denker 1997, S. 131. 15 | Zur Raumzeit des Bildes als »Welt der Magie«, die kontrastiert zur »historischen Linearität, in welcher sich nichts wiederholt und in der alles Ursachen hat und Folgen haben wird«, vgl. Vilém Flusser 2006, S. 9.

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tisiert Barthes im übernächsten Abschnitt diesen Sachverhalt, dann handhabt er zugleich deutlicher seine psychoanalytische Begrifflichkeit: Die Bilderreihe wirkt wie ein Medium und bringt mich in Beziehung zu dem »Es« meines Körpers; sie weckt in mir so etwas wie einen dumpfen Traum, dessen Einheiten die Zähne sind, die Haare, eine Nase, Magerkeit, Beine mit Kniestrümpfen, die nicht zu mir und doch niemandem anders als mir gehören: so befinde ich mich nun in einem Zustand beunruhigender Vertautheit: ich sehe den Riß des Subjekts (eben das, wovon er nichts sagen kann). (ÜMS, 7)

Die hier reproduzierten Bilder, die das autobiographische Subjekt in ihren Bann schlagen, haben es weniger mit dem bewußten Betrachten als vielmehr mit einem gewissen »dumpfen Traum« vom früheren »Körper« zu tun. Als Körperbilder sind sie also Autobiographeme, die nicht dem Selbstbewußtsein, sondern dem Unbewußten entsprechen. Von daher ist es nicht zu verwundern, wenn das Subjekt schreibt, daß es in ihnen etwas gibt, »wovon er nichts sagen kann«. Barthes vermag, obgleich es hier um seine Photos geht, über sie nicht zu verfügen, sondern nur »imaginär« auszusagen. Die montierten Bilder, die das autobiographische Subjekt halluzinatorisch von seinem eigenen jungen Körper träumen lassen, werden also als Indizien präsentiert, die auf einzelne Aspekte des Imaginären verweisen. Im letzten Abschnitt des zur Debatte stehenden Textes heißt es schließlich über das »Imaginäre« und das »Imaginarium«, dessen Entfaltung als »die Absicht dieses Buchs« erklärt wird: Das Imaginäre von Bildern wird also an der Schwelle zum produktiven Leben (für mich war das, als ich das Sanatorium verließ) zum Stillstand gebracht. Ein anderes Imaginarium tritt dann nach vorn: das des Schreibens. Und damit dieses Imaginarium sich entfalten kann (denn das ist die Absicht dieses Buches), ohne jemals von der Darstellung eines standesamtlich bestimmten Individuums zurückgehalten, sichergestellt und gerechtfertigt zu sein, damit es von seinen eigenen, niemals figurativen Zeichen frei sei, kommt danach der Text ohne Bilder, außer denen der Hand, die die Spuren einträgt. (ÜMS, 8)16 16 | Im Original heißt es: »L’imaginaire d’images sera donc arrêté à l’entrée dans la vie productive (qui fut pour moi la sortie du sanatorium). Un autre imaginaire s’avancera alors: celui de l’écriture. Et pour que cet imaginaire-là puisse

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Bemerkenswerterweise macht Barthes schon am Anfang des Buchs klar und deutlich: Seine Autobiographie gibt nicht, was ein Text von dieser Art normalerweise verspricht − die lebensgeschichtliche Realität eines Individuums. Statt dessen bietet er zuerst das »Imaginäre von Bildern«, dem dann das »Imaginarium« des Schreibens folgt. Das »Imaginarium« ist dabei zwar imaginär, aber nicht aus Bildern, sondern aus der Schrift gemacht. Bezieht sich nämlich das »Imaginäre von Bildern« auf den kindlichen und jugendlichen Körper, dann geht das »Imaginarium« des Schreibens hauptsächlich die Fiktion des ›Autors‹ an. Denn gemäß dem Konzept der Reihe Ecrivains de toujours schreibt Barthes über sich selbst, als ob er der Autor wäre, die für die Institution der modernen Literatur konstitutive Figur, deren texttheoretischen »Tod« aber kein geringerer als er selbst postulierte: Dort, so Barthes im Aufsatz Der Tod des Autors, wo der ›Autor‹ stirbt, beginnt die Schrift (écriture), die »Zerstörung jeder Stimme, jedes Ursprungs« ist.17 Das »Imaginarium« des Schreibens ist es also, wenn Barthes vom »Schriftsteller-Phantasma« (ÜMS, 138) spricht, davon, jener ›Autor‹ zu sein, der von seinem Leben und Werk Rechenschaft geben kann. Zum Zitat ist noch anzumerken, daß sowohl das »Imaginäre« als auch das »Imaginarium« die Übersetzung des Term »(l’) imaginaire« im Original darstellt. Mit dieser Unterscheidung macht der Übersetzer darauf aufmerksam, daß Barthes’ Begriffsverwendung in bestimmten Momenten von der psychoanalytischen Bestimmung des Imaginären abweicht. Folgt das »Imaginarium« des Schreibens dem »Imaginären von Bildern«, dann geht Barthes damit über die visuelle Dimension der narzißtischen Selbstreflexion hinaus, und zwar gerade durch die schriftliche, das heißt schreibende Entfaltung des »Imaginariums«. Anders als das Gebannt-Werden beim Anblick des visuellen Faszinosums der alten Photos eröffnet das Schreiben des »Imaginariums«, daß ich ›Autor‹ bin, von sich aus einen Spielraum des Textes, in dem das autobiographische Subjekt ein Gesicht nach dem anderen zeigt.18 se déployer (car telle est l’intention de ce livre) sans être jamais retenu, assuré, justifié par la représentation d’un individu civil, pour qu’ il soit libre de ses signes propres, jamais figuratifs, le texte suivra sans images, sinon celles de la main qui trace.« (Roland Barthes 2002, Bd. IV, S. 582) 17 | Roland Barthes 2006, S. 57. 18 | Von daher schreibt Barthes einmal explizit über das Schreiben über sich selbst als Differenzproduktion: »Mich kommentieren? Wie langweilig! Ich hatte

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Obgleich der Autobiograph sein Buch in zwei Teile, nämlich das bildliche »Imaginäre« und das schriftliche »Imaginarium« teilt, scheint diese Separation keine rigorose zu sein. Eigentlich finden immerfort innere Querverbindungen statt. Als Beispiel hierfür verdienen insbesondere zwei Photos Beachtung. Das imposante, »Der Liebesanspruch« (ÜMS, 9) betitelte Photo läßt sich als ein Pendant zum Spiegelstadium-Photo lesen, insofern es das Kind auf den Armen der Mutter darstellt. Es zeigt Barthes als einen Knaben, der sich nun ängstlich an die Mutter klammert. Verleugnet der Knabe so eifrig die (immer schon stattgefundene) Trennung von der Mutter, dann ergeht es ihm nicht anders als dem Ich-Erzähler von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, der als kleiner, nervöser Junge von der Mutter danach verlangt, daß sie in seinem Kinderzimmer – gegen patriarchalisch geprägte Gesetze der Familie – eine Nacht verbringe. Und einen gewissen biographischen Parallelismus mit Proust scheint Barthes selbst anhand eines Photos aus seiner Kindheit anzudeuten, auf dem er sich in Mädchenkleidung zeigt. Denn er kommentiert das Photo: »Zeitgenosse? Ich begann zu laufen. Proust lebte noch und beendete die Recherche.« (ÜMS, 27) Spielt Barthes mit dieser Bildunterschrift auf eine bestimmte Verbindung mit Proust an, dann ist es ganz folgerichtig, daß Barthes’ autobiographischer Text nicht aus der realen Lebensgeschichte, sondern aus dem »Imaginarium« des Schreibens gemacht wird. Denn in Gang setzt sich die Recherche eben mit dem Protagonisten, der wünscht, Schriftsteller zu werden, und immer wieder daran scheitert. Parallel zu diesem Schreibenwollen verhält sich das »Imaginarium« des Autor-Seins, das den autobiographischen Diskurs von Roland Barthes par Roland Barthes in Gang setzt. In seinem 1978 gehaltenen Vortrag »Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen« bemerkt Barthes selbst: »Proust ist nun der bevorzugte Ort dieser besonderen Identifizierung, ist doch die Recherche die Erzählung eines Schreibwunsches.« 19 In den beiden letzten Vorlesungen am Collège de France, die er von 1978 bis 1980 unter dem Titel Die Vorbereitung des Romans hielt,20 setzt Barthes dann diese »Identifikation« in eine gewisnur eine Lösung: mich neu-schreiben – von weitem, von sehr weit weg – von jetzt: den Büchern, Themen, Erinnerungen, Texten eine andere Art des Aussagens hinzufügen, ohne daß ich jemals wüßte, ob ich von meiner Vergangenheit oder von meiner Gegenwart spreche.« (ÜMS, 155) 19 | Roland Barthes 2006, S. 307. 20 | Roland Barthes 2008.

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se theoretische Praxis um: Dort geht es um den Versuch, fern aller literaturtheoretischen Systeme die Literatur neu zu denken, indem sich das Subjekt mit dem starken Willen zum Schreiben selber simuliert. Durch die Simulation des Subjekts, das begehrt, einen Roman zu schreiben, erforscht Barthes das literarische Schreiben. Die Themen, mit denen er sich in den 1970er Jahren befaßte, greift er in diesem Kontext wieder auf: die Subjektivität und die Individualisierung, das autobiographische Schreiben, die romantische Literatur, epiphanische Augenblicke, tagebuchartige Aufzeichnungen von Begebenheiten, den Fragmentarismus usw. In dieser Erforschung des literarischen Schreibens tauchen Werk und Leben von Proust, dem Schriftsteller, der der Schreibarbeit einen absoluten Charakter verleiht, als privilegierte Subtexte auf. Barthes spricht hierzu explizit von einer »Rückkehr zur Biographie«,21 die sich seiner eigenen These vom »Tod des Autors« entgegensetzt. Diese identifizierende Bezugnahme auf Proust wird, wie sich noch zeigen wird, eben für das autobiographische Photographie-Buch Die helle Kammer strukturbildend.22 Hier mag aber der Hinweis genügen, daß Die helle Kammer im Frühjahr 1979, eben in der Mitte von den Vorlesungen Die Vorbereitung des Romans geschrieben wurde. In Roland Barthes par Roland Barthes ist dagegen der Rekurs auf die Recherche noch beschränkt. Der schriftliche Teil dieses autobiographischen Buchs besteht aus einer Sammlung fragmentarischer Texte, die durch kein narratives Band verbunden sind. Einzelne Fragmente sind betitelt, und sie werden in einer alphabetischen Reihenfolge geordnet, die an die Stelle der chronologischen Ordnung der Lebensgeschichte tritt. Hinsichtlich des Themas sind sie ganz unterschiedlich. Um einige Beispiele zu nennen: die Reflexion auf bisherige Schriften, die Erläuterung seiner Theorien, methodische Überlegungen über das autobiographische Schreiben, die Bestimmung der Beziehung zur Literatur, etwas über Kindheitserinnerung, Gedanken und Einfälle, etwas zu Geschmack, Hobby, Ideosynkrasie, Politik. Darunter gibt es ein programmatisches Fragment, das sich zum Spiegelstadium-Photo korrelativ verhält. Dieses als Der Rückschritt überschriebene Fragment bestimmt nämlich das autobiographische Schreiben als Beschäftigung mit dem »Imaginären«:

21 | Roland Barthes 2008, S. 321. 22 | Vgl. 4.3 Die helle Kammer als phototheoretische Wiederholung der Recherche.

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Der Titel dieser Sammlung (X über sich selbst) hat eine analytische Tragweite: ich durch mich? Aber das ist doch gerade das Programm des Imaginären! Wie können die Strahlen des Spiegels ihr Licht auf mich zurückwerfen und widerhallen? Jenseits dieser Zone der Diffraktion – die einzige, auf die ich einen Blick werfen kann, ohne jedoch jemals denjenigen daraus ausschließen zu können, der davon sprechen wird – ist die Wirklichkeit, und noch das Symbolische. Für dieses trage ich keinerlei Verantwortung (ich habe schon mit meinem Imaginären genug zu tun!): es liegt beim Andern, bei der Übertragung und demnach beim Leser. Und all das geschieht, das ist klar, durch die MUT TER, die neben dem SPIEGEL anwesend ist. (ÜMS, 166)

Gegen die Regeln der Gattung proklamiert Barthes, daß er sich nicht um die »Wirklichkeit« kümmerte. Die Autobiographie ist ihm zufolge strukturell zur Entfaltung des Imaginären vorprogrammiert. Denn der Selbstbezug des »über sich selbst« zeichnet die Struktur des Spiegels nach. Der Titel der Autobiographie soll daher nicht einfach »Barthes par lui-même« sein, obgleich diese Form zur Vorschrift der Serie Ecrivains de toujours passen würde. Sie muß geradezu »Roland Barthes par Roland Barthes« heißen, um durch die Verdoppelung des Eigennamens die für die autobiographische Schrift konstitutive Spiegelstruktur anzudeuten. Wenn es aber im autobiographischen Schreiben notwendigerweise eine Dimension des Spiegelstadiums gibt, dann ist die großgeschriebene Mutter für das Subjekt die notwendige Instanz, die seine um den Preis der Verkennung und der Entfremdung vollzogene Selbstthematisierung anerkennt. In dieser Hinsicht liest sich jenes Photo, auf dem die Mutter vor dem Spiegel anwesend ist, wie ein selbstironisches Emblem für Barthes’ Autobiographik: So selbstironisch wie die Aussage in der zitierten Passage »Ich habe schon mit meinem Imaginären genug zu tun!« Das Photo der jungen Mutter am Strand, das vor dem Titelblatt steht, läßt sich auch in diesem Kontext erwähnen. Das Photo scheint nämlich für diejenige Instanz zu stehen, die »neben dem SPIEGEL« der autobiographischen Verdoppelung von Roland Barthes par Roland Barthes anwesend sein muß, um die Identifikation des Subjekts mit seinem eigenen Bild zu bestätigen. Man kann jedoch nicht genug betonen, daß das autobiographische Schreiben bei Barthes keineswegs auf eine Identitätsbildung des schreibenden Ich hinausläuft. Die neu zu schreibende Verdoppelung des imaginären Selbstbildes, die schriftliche Wiederholung dessen, was das Subjekt imaginär konstruiert, nämlich die Fiktion des ›Autors‹, produziert notwendigerweise die Differenz. Sie im-

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pliziert nämlich eine Distanznahme vom Imaginären/Imaginarium, das wiederholt wird. Daraus geht eben die Ironie im barthesschen Schreibduktus hervor, die sowohl für die zitierte Stelle als auch für den gesamten Text von Roland Barthes par Roland Barthes charakteristisch ist. Die schreibende Entfaltung des Imaginariums ist auf eine ironische Markierung des imaginären Moments aus. Es gilt bei Barthes, »sein Imaginäres zu signieren« (ÜMS, 115). Gemäß diesem ironischen Umgang mit dem Imaginären finden sich in Roland Barthes par Roland Barthes Beispiele für Photos, die den narzißtisch imaginären Bezug des autobiographischen Subjekts zum Ich stören. Es geht um zwei Photoporträts des Autobiographen (ÜMS, 41), ein altes (1942) und ein relativ neues (1970). Auf beiden Photos findet Barthes sich selbst nicht wieder: Aber so habe ich doch nie ausgesehen! – Woher wissen Sie das? Was ist dieses »Sie«, dem Sie ähnlich sehen oder nicht? Wo soll man es finden? An welchem morphologischen oder expressiven Maß? Wo ist Ihr Wahrheitskörper? Sie allein können sich immer nur als Bild sehen, niemals sehen Sie Ihre Augen, es sei denn verdummt durch den Blick, den Sie auf den Spiegel oder das Objektiv richten (mich würde nur interessieren, meine Augen zu sehen, wenn sie dich ansehen): sogar und vor allem für Ihren Körper sind Sie zum Imaginären verurteilt. (ÜMS, 40)

Auch hier bringt Barthes seine Photos vermittels einer Kommentierung in Zusammenhang mit der psychoanalytischen Subjekttheorie. Die Theorie des Spiegelstadiums kompliziert sich aber nun dadurch, daß sie die Photographie zu berücksichtigen hat. Im Gegensatz zur spiegelbildlichen Identifikation, die das Spiegelstadium-Photo zeigt, geht es hier nämlich um die Störung der Identifikation mit dem Selbstbild durch das Photoporträt. Das photographische Selbstbild ist kein solcher »Spiegel mit dem Gedächtnis«,23 wie man die Photographie im 19. Jahrhundert begriff. Im Spiegel stehen das Bewußtsein und das Bild in einem Rückkoppelungsverhältnis zueinander, wohingegen die Photographie eben dieses Verhältnis unmöglich machen kann: Das photographische Bildnis verhindert den narzißtischen Selbstbezug, indem es stillsteht und nicht mit der Bewegung des Bewußtseins synchronisiert erscheint. Eben deshalb ist die Tech23 | Oliver Wendell Holmes 2006, S. 116.

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nik der Retusche fast so alt wie die Geschichte der Photographie selbst.24 An der zitierten Stelle problematisiert Barthes eben diese Störung des Narzißmus, die von der medialen Struktur des Photoporträts bedingt ist. Während die Photographie in der modernen Gesellschaft als Mittel zum Identitätsbeweis fungiert, richtet Barthes sein Augenmerk auf die gerade von ihr in Gang gesetzte Dissonanz des Selbstbewußtseins. In diesem Kontext ist auch der Fall Jacques Derrida interessant. Er verbot jede Veröffentlichung eigener Photographien bis zum Jahr 1979.25 Wenn er in einem Interview von 1986 sein Verbot eigener Photographien explizierte, bewegte er sich, wie der Titel des Interviews »Es gibt nicht den Narzißmus« (Autobiophotographien) ankündigt, offensichtlich in dem Problemfeld von Photoporträt und Narzißmus.26 In dem Maße, in dem die anderen über mein photographisches Bild verfügen, wird das »Recht auf das eigene Bild«27 in Frage gestellt. Derrida erschien nämlich »der Kode, der zugleich die Produktion dieser Bilder, den Bildausschnitt, unter den man ihn zwingt, und die sozialen Auswirkungen (den Kopf des Schriftstellers zu zeigen, ihn vor seinen Büchern zu posieren, das heißt diese ganze Szenographie) bestimmt, zunächst schrecklich langweilig« und dem »entgegengesetzt«, was er »zu schreiben und zu erarbeiten versuchte«.28 »Es ist möglich«, so fügt Derrida hinzu, »daß meine Beziehung zu meinem eigenen Bild ausreichend kompliziert ist, um die Gewalt des Verlangens

24 | Diese Technik war bereits bei Berufsphotographen um 1850 »eine Routinesache, denn nun verlangten die Kunden, daß die oft gefühllos direkten Aufnahmen ihrer Züge abgemildert, kleine Verunzierungen im Gesicht beseitigt und Altersfalten geglättet werden sollten.« (Beaumont Newhall 1998, S. 73) Die Problematik von Photoporträt und Selbstbewußtsein theoretisiert Barthes selbst fünf Jahre später in seinem Photographie-Buch Die helle Kammer: »Das PHOTOGRAPHISCHE PORTRÄT ist ein geschlossenes Kräftefeld. Vier imaginäre Größen überschneiden sich hier, stoßen aufeinander, verformen sich. Vor dem Objektiv bin ich zugleich der, für den ich mich halte, der, für den ich gehalten werden möchte, der, für den der Photograph mich hält, und der, dessen er sich bedient, um sein Können vorzuzeigen.« (Roland Barthes 1989, S. 22) 25 | Geoffrey Bennington/Jacques Derrida 1994, S. 339. 26 | Jacques Derrida 1998, S. 209-227. 27 | Peter Risthaus 2001, S. 84. 28 | Jacques Derrida 1998, S. 210.

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zugleich zu bremsen, zu durchkreuzen und sich ihr entgegenzusetzen.«29 Derridas Aussage legt den Verdacht nahe, daß man im Zeitalter der Photographie kein Bild mehr beanspruchen kann, auf dem man mit sich selbst identisch wäre. Oder ist es möglich, ein photographisches Selbstbildnis zu haben, durch das man sich mit sich selbst identifizieren könnte? Auf diese Frage würde Thomas Pynchon zum Beispiel entschlossen mit Nein antworten. Er bleibt darum bis heute noch ein Autor, der sich nicht photographieren läßt. Die Sache von Photographie und Narzißmus, mit der sich Barthes in Roland Barthes par Roland Barthes befaßt, betrifft also die Frage der Bilderpolitik von Schriftstellern.

4.2 Z UR P ERFORMANZ DES AUTOBIOGR APHISCHEN F R AGMENTARISMUS : DAS S CHAUSPIEL DES I MAGINARIUMS »Wie könnte ich es wagen mich anzusehen, wenn ich nicht entweder eine Maske oder eine formverändernde Brille trüge.« (Michel Leiris)

Insistiert Barthes auf dem »Imaginären« und dem »Imaginarium« als dem zentralen Problem des autobiographischen Schreibens, dann ist dies für ihn keine einfache theoretische Angelegenheit. Er argumentiert auch mit einem biographischen Faktor: Er hatte nämlich nie einen Vater, der die symbolische Ordnung verkörpert hätte, die ihn von der Mutter hätte ablösen können. Denn der Vater Louis Barthes fiel in einer Seeschlacht schon 1916, als Roland noch kein Jahr alt war.30 Im Fragment An der Tafel erinnert sich Barthes an sein kinderzeitliches »Zuhause ohne soziale Verankerung: kein Vater, der zu töten, keine Familie, die zu hassen, keine Umwelt, die zu verwerfen wäre: eine große ödipale Frustrierung«. (ÜMS, 49) So stellt Barthes sich selbst als ein Subjekt dar, das als vaterloses Kind aufgewachsen ist und niemals vom väterlichen Gesetz gelernt hat, auf die Mutter zu verzichten. Bemerkenswert ist die spielerische Konsequenz, mit der Barthes sogar die Struktur seines autobiographischen Buchs mit der Vaterlosigkeit in 29 | Ebd. 30 | ÜMS, 197. Vgl. auch Louis-Jean Calvet 1993, S. 31.

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Zusammenhang bringt. Wenn nämlich Roland Barthes par Roland Barthes nicht aus einer chronologisch dargestellten Lebenserzählung, sondern aus einer Sammlung disparater Fragmente besteht, dann deshalb, weil das autobiographische Subjekt, um das es hier geht, kein »Ödipus« ist: Das Verhältnis zur Erzählung (zur Darstellung, zur Mimesis) stellt sich über den Ödipus her, das ist bekannt. Doch in unseren Massengesellschaften geschieht das auch im Verhältnis zur Heirat. […] Die Heirat schafft somit große kollektive Erregungen: würde man den Ödipus und die Heirat beseitigen, was bliebe uns dann noch zu erzählen übrig? (ÜMS, 132)

Barthes’ Autobiographie kann nicht durchs Erzählen der Lebensgeschichte verwirklicht werden, da sie aus zwei Gründen unerzählbar ist. Erstens hat er nicht geheiratet. Zweitens kennt er kein Familiendrama, das aus dem ödipalen Dreieck herkommt: »Wenn es«, so heißt es auch in Die Lust am Text, »keinen VATER gibt, wozu dann Geschichten erzählen?«31 Daher ersetzt Barthes die Lebensgeschichte als traditionelle Darstellungsform der Autobiographie durch die Ansammlung der fragmentarischen Texte. In der essayistischen Kleinform des Fragments, die er seit Mythen des Alltags favorisiert, entfaltet er Stück für Stück das »Imaginarium«: Die lebenswichtige Anstrengung dieses Buchs besteht darin, daß ein Imaginarium inszeniert wird. ›Inszenieren‹ heißt: Kulissenstützen staffeln, Rollen verteilen, Stufen festlegen und am Ende gar aus der Rampe ein ungewisses Trennzeichen machen. Es ist also wichtig, daß das Imaginarium nach Abstufungen behandelt wird […], und es gibt im Verlauf dieser Fragmente mehrere Abstufungen des Imaginariums. (ÜMS, 115)

Das »Imaginarium«, um das es dem ödipusfreien Schriftsteller Barthes zu tun ist, ist nicht einfach, sondern es besteht aus »mehreren Abstufungen«. Daraus resultiert zum einen, daß das »Imaginarium« nicht so leicht 31 | Roland Barthes 1974, S. 70: »Der Tod des VATERS wird der Literatur viel von ihrer Lust nehmen. Wenn es keinen VATER gibt, wozu dann Geschichten erzählen? Geht denn nicht jede Erzählung auf Ödipus zurück? Heißt erzählen denn nicht immer, nach seinem Ursprung forschen, seine Händel mit dem Gesetz sagen, in die Dialektik von Rührung und Haß eintreten? Heute wirft man auf einen Schlag Ödipus und die Erzählung weg.«

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vertrieben oder erledigt werden kann, daß es sich verschiedentlich, ohne sich etwas anmerken zu lassen, in einen autobiographischen Diskurs einschleicht.32 Es kann zum anderen wegen seiner »mehreren Abstufungen« nicht in einem Zug zum Vorschein kommen. Seiner Pluralität entsprechend muß man mannigfaltige Ansätze versuchen. Aus diesen Gründen weist Barthes’ Autobiographie gleichsam eine kaleidoskopische Struktur auf, in der in der nicht-hierarchischen Aufeinanderfolge der Fragmente eine Seite des »Imaginariums« nach der anderen in Erscheinung tritt: Unterschiedliche »Abstufungen« des »Imaginariums« lassen sich ihrer Natur nach nur diskontinuierlich und in Facetten zeigen. Zudem ist an der zitierten Passage noch augenfällig, daß für diese Beschäftigung mit dem »Imaginarium« das theatralische Paradigma wesentlich ist. Das »Imaginarium«, das nicht substantiell festzumachen ist, kann weder analysiert noch beschrieben, sondern nur »inszeniert« und auf die Bühne des Textes gebracht werden. Die Auseinandersetzung des schreibenden Subjekts mit seinem eigenen »Imaginarium« geht, mit anderen Worten, nicht konstativ, sondern performativ vonstatten.33 Eben diese Performanz34 macht Roland Barthes par Roland Barthes spannend: Der autobiographische Text versteht sich nicht als getreue Wiedergabe eines gelebten Lebens oder einer realen Lebensgeschichte, zu der auch die Photographie als Reproduktionsmedium beitragen könnte, sondern er konstruiert sich als Schauplatz dramatischer Szenen, in denen sich der Schreibende mit seinem Ich auseinandersetzt.35 Der Text ist, mit anderen Worten, der einzigartige Ort, an dem sich das Autobiographische abspielt. Seine Radikalität besteht darin, daß er als Drama des »Imaginariums« keinen Bezug auf

32 | Barthes schreibt, daß »sehr oft das Imaginäre verstohlen einherkommt, sanft in einer Vergangenheitsform, einem Pronomen, einer Erinnerung sich einstellt, kurz mit allem, was sich unter dem Spruch des Spiegels und seines Bildes versammelt. Ich selbst.« (ÜMS, 115) 33 | »Am Kreuzweg eines jeden Werkes steht vielleicht das THEATER: keiner seiner Texte, der in Wirklichkeit nicht von einem gewissen Theater handelt, und das Spektakulum ist die universelle Kategorie, in der die Welt gesehen wird.« (ÜMS, 192) 34 | Zur Tragweite dieses Begriffs vgl. Uwe Wirth 2007. 35 | Zu Barthes’ Text als »Ort der Auseinandersetzung des Ich mit sich selbst« vgl. Peter Bürger/Christa Bürger 2001, S. 213.

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die Ebene des Referenten in der Wirklichkeit voraussetzt. Er verlegt somit seinen Bereich in eine Dimension, die die Photographie nicht erreicht. Im Hinblick auf Barthes’ drei Bücher in den 1970er Jahren – Die Lust am Text (1973), Roland Barthes par Roland Barthes (1975), Fragmente einer Sprache der Liebe (1977) – weist Doris Kolesch darauf hin, daß sie als Erneuerung der romantischen Konzeption des Fragments zu fassen sind, das man »als ein niemals vollständiges oder vollendbares Gebilde durch Selbstreflexion ins Unendliche fortschreiben sollte« und das »somit die Freiheit und Agilität des Geistes repräsentierte«.36 Den genannten drei Büchern sind mindestens zwei Punkte gemeinsam: Erstens folgen sie alle dem Prinzip der alphabetischen Reihenfolge der Fragmente, die »eine absolut bedeutungslose Gliederung«37 zur Schau stellt. Die (paradoxerweise systematische) Anti-Systematik des fragmentarischen Schreibens ist Bedingung für die Erweiterung der Spielräume, in denen sich die Ironie bewegt. Durch unaufhörliche Bewegungen und Brechungen der entfesselten Ironie potenzieren und relativieren sich Reflexionen, die niemals zum Stillstand kommen. Barthes steigert diese Ironie in einem Fragment von Roland Barthes par Roland Barthes bis zum Punkt der Selbstnegation. Der Text heißt Das Fragment als Illusion: Es ist meine Illusion zu glauben, daß, wenn ich meinen Diskurs breche, ich aufhöre imaginär über mich selbst zu reden, daß ich die Gefahr der Transzendenz abschwäche; da jedoch das Fragment (der Haiku, die Maxime, der Gedanke, der Zeitungsausschnitt) schließlich eine rhetorische Gattung ist und da die Rhetorik jene Schicht der Sprache ist, die sich am besten der Interpretation anbietet, kehre ich nur, indem ich mich zu zerstreuen glaube, in das Bett des Imaginariums zurück. (ÜMS, 104)

36 | Doris Kolesch 1997, S. 85. Zu Barthes’ Fragmentarismus vgl. auch Serge Doubrovsky 1988; Gabriele Röttger-Denker 1997, S. 124-127. 37 | Roland Barthes 1988b, S. 21: »Um verständlich zu machen, daß es sich hier nicht um eine Liebesgeschichte (oder um die Geschichte einer Liebe) gehandelt hat, um der Versuchung des Sinnes zu widerstehen, war es erforderlich, eine absolut bedeutungslose Gliederung zu wählen. Die Abfolge der Figuren (die unvermeidlich ist, weil das Buch seinem Wesen nach zum Fortgang genötigt ist) ist also zwei miteinander gepaarten Willkürakten unterworfen worden: dem der Benennung und dem des Alphabets.«

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Schreibt Barthes seine Autobiographie in Fragmenten, so beabsichtigt er damit, den Bruch mit der Illusion in Schrift zu setzen, daß das autobiographische Subjekt über sich selbst allwissend sei. Es gilt, durch das diskontinuierliche, immer wieder neu einsetzende Schreiben die Selbsttäuschung des Bewußtseins je zu verhindern, daß es in sich keine Lücken habe. Das bedeutet nicht zuletzt, daß die fragmentarische Autobiographik auf die Zerstreuung des Ichs aus ist.38 Aber im gleichen Zug räumt Barthes selbstironisch ein, daß die Strategie des Fragments allein zur intendierten Zerstreuung nicht ausreiche. Das »Imaginarium«, wenn es auch einmal unterbrochen worden ist, schmuggelt sich wieder in den autobiographischen Diskurs, ohne daß das Subjekt es merkt. Insofern der Fragmentarismus spätestens seit der deutschen Frühromantik, vorher bereits bei Pascal, La Rochefoucauld, La Bruyère, später auch bei Nietzsche, Canetti, Brinkmann u.a., als reflektierte literarische Technik etabliert ist, kann er eine gewisse Ambivalenz gegenüber der Autorfunktion auch kaum verleugnen. Deren Pole sind Selbstverleugnung und Selbstauslöschung einerseits, Selbstermächtigung und Selbstinszenierung andererseits. Die zweite Gemeinsamkeit der drei Fragmente-Bücher liegt darin, daß sie strategisch die Figur des Subjekts einführen, das in der ersten Person Singular spricht. Nach dem Aufsatz Der Tod des Autors von 1968 versucht Barthes in den 1970er Jahren, doch noch einmal das ich-sagende Subjekt in den Raum des Textes »zurückkehren« zu lassen, und zwar als »Fiktion«. In einem Fragment aus Die Lust am Text schreibt er: Vielleicht kehrt nun das Subjekt nicht als Illusion, sondern als Fiktion zurück. Eine gewisse Lust gewinnt man aus einer bestimmten Art, sich als Individuum vorzustellen, eine letzte Fiktion seltenster Art zu erfinden: das Fiktive der Identität. Diese Fiktion ist nicht mehr die Illusion einer Einheit; sie ist im Gegenteil das Gesellschaftsschauspiel, in dem wir unseren Plural auftreten lassen: unsere Lust ist individuell – aber nicht personal.

Von einer hedonistischen Position her, die zur Askese der Wissenschaft und zur Verbotsästhetik des Avantgardismus in Opposition steht, wird hier die Möglichkeit einer Wiederkehr des Subjekts auf der Bühne des Textes in Betracht gezogen. Die zitierte Stelle aus Die Lust am Text ist beinahe als Ankündigung von Roland Barthes par Roland Barthes zu lesen: Trotz des 38 | Vgl. Serge Doubrovsky 1988, S. 167.

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theoretisch postulierten »Todes des Autors« kann eine Autobiographie von Roland Barthes entworfen werden, in der es sich aber nicht um den Autor als reale, sondern als fiktionale Person handelt. Denn eine außertextuelle Referenz muß in dem Augenblick suspendiert werden, in dem ein Text als »ein Geflecht von Zitaten«39 in den Vordergrund rückt. Daher bezeichnet Peter Bürger Roland Barthes par Roland Barthes als »Autobiographie, die das autobiographische Apriori leugnet, demzufolge das Ich des Textes einen identischen Referenten in der Wirklichkeit hat«.40 Roland Barthes par Roland Barthes impliziert also ein durchaus strategisches Zurück zum ›Autor‹, das nach dem »Tod des Autors« stattfindet: keine einfache Restauration des ›Autors‹, sondern eine schauspielerische Inszenierung des ›Autors‹ Roland Barthes als »Fiktion«. Denn erst mit diesem theatralischen Arrangement vermag der Text, »unserem Plural« gerecht zu werden. So wird ein strategischer »Rückschritt« zur Figur des ›Autors‹ vollzogen, der texttheoretisch einmal schon zu Grabe getragen ward. Auch in dieser literaturtheoretischen Problematik der Autorfiktion liegt ein Grund, weshalb Barthes als Autobiograph unablässig den Begriff des Imaginären/Imaginariums unterstreicht. Das »Imaginarium«, auf dessen Inszenierung alles gesetzt wird (ÜMS, 115), ist nämlich per definitionem fiktional. Dementsprechend begreift sich Roland Barthes par Roland Barthes, wenn nicht als Roman, so doch als »Romanhaftes« (ÜMS, 99): All dies muß als etwas betrachtet werden, was von einer Romanperson gesagt wird – oder vielmehr von mehreren. Denn das Imaginäre, unabwendbare Materie des Romans und Labyrinth der Vorsprünge, in denen derjenige abirrt, der von sich selbst spricht, wird von mehreren Masken (personae) aufgenommen, die je nach der Tiefe der Szene abgestuft sind (und doch ist keine Person dahinter). Das Buch trifft keine Wahl, es funktioniert im Wechselspiel, es nimmt seinen Fortgang über Anflüge des einfach Imaginären und kritischer Anwandlungen, doch sind diese selber immer nur Wirkungen eines Nachklangs […]. Die Substanz dieses Buches ist letztlich also ganz und gar romanhaft. (ÜMS, 130f.)

Es ist klar, daß hier nicht die geläufige Unterscheidung von Autobiographie und autobiographischem Roman zur Diskussion steht. Barthes bringt vielmehr eine neue Qualität unter einer alten Bezeichnung: »ro39 | Roland Barthes 2006, S. 61. 40 | Peter Bürger/Christa Bürger 2001, S. 211.

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manhaft« (»romanesque«) ins Spiel.41 Demnach ist seine Autobiographie als »romanhaft« zu bezeichnen, nicht nur weil sie mit der Fiktion in wesentlicher Relation steht, sondern auch weil sie mehrere »Masken (personae)« zu Wort kommen läßt. Sie zeichnet sich in der Tat durch den wechselnden Gebrauch (»Wechselspiel«) der Rede in der ersten und in der dritten Person aus. Die Rede in der dritten Person differenziert sich aber ferner: Roland Barthes wird mal als »er«, mal als »R. B.« bezeichnet. Zudem werden ab und zu auch die Personalpronomen »wir« und »Sie« gebraucht.42 Barthes’ Autobiographie ist also ein extremes »Maskenspiel«43: Diese pluralen Masken verbergen nichts Geheimes, sondern sie dienen dazu, jeweils aus differenten Perspektiven das Imaginäre und das Imaginarium des autobiographischen Subjekts zum Sprechen zu bringen. Eine derartige Mehrstimmigkeit des autobiographischen Textes, die sich durch Fragmente realisiert, widersteht jener apriorischen Reduzierung der Komplexität, die der monologisch erzählten Lebensgeschichte immanent ist. Der traditionellen Autobiographik widersetzt sich Roland Barthes par Roland Barthes aber nicht allein auf der Makroebene der fragmentarischen Baustruktur, die gemäß »unterschiedlichen Abstufungen« des Imaginariums plurale Gesichter des autobiographischen Subjekts in Erscheinung treten läßt, sondern auch in der poetologischen Grundkonzeption. Die imaginäre Fiktionalität der barthesschen Autobiographie ist eine ungleich verschärfte gegenüber jener der klassischen Autobiographie von Goethe. Für den Weimarer Dichter, der in Dichtung und Wahrheit »Bruchstücke einer großen Konfession«44 sieht, ist die literarische Fiktionalität ein Umweg zu einer (nicht faktisch verifizierbaren, höheren) Wahrheit.45 Dagegen 41 | Vgl. auch die folgende Stelle in Die Lust am Text: »Die ideologischen Systeme sind Fiktionen (Idole des Theaters, würde Bacon sagen), Romane – aber klassische Romane mit Intrigen, Krisen, guten und bösen Personen (das Romaneske ist etwas ganz andres: eine bloße, unstrukturierte Aufgliederung, eine Dissemination von Formen: die Maja).« (Roland Barthes 1974, S. 44) 42 | Vgl. Daniela Langer 2005, S. 277-287. 43 | Paul de Man 1993. Zur Theorie über die Autobiographie als Maskenspiel vgl. Martina Wagner-Egelhaaf 2000, S. 79-82. 44 | Johann Wolfgang von Goethe 1998, Bd. 9, S. 283. 45 | Zur Debatte über das Verhältnis von Fiktion und Autobiographie vgl. Martina Wagner-Egelhaaf 2000, S. 2-5, S. 161f.; Michaela Holdenried 2000, S. 3844, S. 210-213.

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ist die Fiktionalität von Roland Barthes par Roland Barthes vom Bezug zur Wahrheit befreit. Sie gründet sich vielmehr explizit auf die Unmöglichkeit von »Bekenntnissen«: Dieses Buch ist keins von »Bekenntnissen«; nicht daß es unaufrichtig wäre, sondern weil wir heute ein von gestern verschiedenes Wissen haben; dieses Wissen kann so resümiert werden: was ich von mir schreibe, ist niemals das letzte Wort davon. (ÜMS, 131)

Ohne Zweifel gehört Barthes’ Autobiographie zur »erkalteten Herzensschrift«. Sie geht von dem kalten Grundsatz aus, daß das Subjekt über sich selbst keine endgültige Wahrheit sagen kann. Nach dem Stand des heutigen »Wissens«, an dem die Psychoanalyse nicht wenigen Anteil hat, verfängt sich das Subjekt durch Selbstreflexion unausweichlich in Narzißmus.46 Und dies hat nichts mit der Unaufrichtigkeit eines einzelnen Bekenners zu tun, sondern liegt an der Struktur der spiegelhaften Selbstbeziehung, der jedes Bekenntnissubjekt unterworfen ist. Barthes’ Autobiographie wendet sich gegen die illusorische Annahme der heißen Bekenntnisliteratur, das Subjekt könne, wenn es nur aufrichtig sei, wahre Aussagen über sich selbst anstellen. Der Begründer der Psychoanalyse interessierte sich, wie seine Analysen autobiographischer Texte etwa von Johann Wolfgang von Goethe und Daniel Paul Schreber zeigen, für die Autobiographie. Dieses Interesse kann nicht verwundern, wenn man bedenkt, daß die Psychoanalyse ein wichtiges Prinzip aus der Tradition der Konfessionen ererbt hat. Sie ist nämlich als eine neue Institution zu fassen, in der das Subjekt über sich selbst vor der autoritären Instanz des Arztes, wie früher als bekennender Sünder vor dem christlichen Seelsorger, »alles sagen« soll.47 Manfred Schneider schreibt hierzu: »Die Konzeption der Psychoanalyse läßt sich auf die Formel bringen, daß sie Gesundheit als vollständige Verfügbarkeit

46 | Jean Laplanche/Jean-Bertrand Pontalis 1973, S. 462: »Freuds Einschränkungen gelten der Selbstanalyse, soweit sie beansprucht, eine Psychoanalyse zu ersetzen. Im allgemeinen hält man die Selbstanalyse für eine besondere Form des Widerstands gegen die Psychoanalyse, die dem Narzißmus schmeichelt und den wesentlichen Teil der Behandlung ausschaltet, nämlich der Übertragung.« 47 | Contardo Calligaris 1978. Vgl. auch Bettina Lindorfer 1998, S. 246.

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der Lebensgeschichte betrachtet.«48 Folgerichtig kommt die Psychoanalyse nicht ohne Akkumulation und Archivierung von Krankenheitsgeschichten, Lebensgeschichten, Bekenntnissen und Autobiographien aus. Eine derartige Komplizenschaft von Psychoanalyse und Bekenntnisliteratur verstärkt sich noch einmal dadurch, daß der namhafte Autobiographieforscher Philippe Lejeune in sein Buch L’Autobiographie en France von 1971 psychoanalytische Texte aufnimmt.49 Zu beachten ist aber, daß eben ein derartiges psychoanalytisches »Wissen« Barthes die Rechtfertigung dafür gibt, mit der Tradition der Bekenntnisse zu brechen: Statt vor der autoritären Instanz die lebensgeschichtliche Wahrheit zu entblößen, nämlich unbekannte Episoden, seltene Erfahrungen, persönliche Leidenschaften, geheime Begierden und andere Intimitäten, präsentiert sich Roland Barthes par Roland Barthes als Schauspiel, in dem eine unermüdliche Auseinandersetzung mit dem narzißtisch-imaginären Diskurs über sich selbst durchgespielt wird. Die Einsicht in die Notwendigkeit der imaginären Identifikation, Verkennung und Entfremdung, ohne die keine Subjektkonstruktion sich vollzieht, ist eine nüchterne Grundlage, die den Neueinsatz der bekenntnislosen Autobiographik von Roland Barthes ermöglicht. Ironie, Theatralität und Fragmentarismus sind dabei die literarischen Mittel, die einzelne Momente markieren, in denen das Imaginäre am Werk ist. So geht Barthes von dem Vater-Sohn-Modell, das sowohl der Psychoanalyse als auch der Bekenntnisliteratur zugrunde liegt, zum Mutter-Sohn-Modell über: Demnach besteht die Aufgabe des autobiographischen Schreibens darin, das Imaginarium durch mehrere »Masken« zum Reden zu bringen, es auf die Bühne des mehrstimmigen Textes zu bringen, um in diese Pluralität das schreibende Subjekt und seine fiktionale Autorschaft zu zerstreuen. Die imaginäre Selbstinszenierung als Autor geht also paradoxerweise mit der Zerstreuung des Subjekts in den fragmentarischen Text einher. Diese paradoxe Doppelbewegung des autobiographischen Textes steht in Opposition zur Referentialität des photographischen Mediums: Während die Photographie im editorischen Rahmen der Reihe Ecrivains de toujours referentiell auf das autobiographische Subjekt verweisen soll, um dieses dokumentarisch zu erfassen, insistiert der 48 | Manfred Schneider 1993, S. 258. 49 | Es handelt sich um Schriften von Sigmund Freud, Jean Laplanche/JeanBertrand Pontalis, Didier Anzieu, Bernard Pingaud. Vgl. Philippe Lejeune 1971, S. 246-262. Vgl. hierzu auch Martina Wagner-Egelhaaf 2000, S. 33-39.

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Text von Roland Barthes par Roland Barthes auf seiner eigenen Textualität, in der das Subjekt, unabhängig von der Ebene des Referenten, erscheint und verschwindet: Der autobiographische Text führt sich nur als Theater des Imaginären/Imaginariums auf, das das Reale nur berührt, indem es ihm kontingent bzw. benachbart ist. Die Mutter, deren Photographie schon vor bzw. neben dem Titelblatt von Roland Barthes par Roland Barthes sich findet, steht emblematisch für diese neue Autobiographik. Nach dem Tod der Mutter kann Barthes’ Autobiographie daher nur auf eine ganz andere Weise fortgesetzt werden: als Theorie der Photographie.

4.3 D IE HELLE K AMMER ALS PHOTOTHEORE TISCHE W IEDERHOLUNG DER R ECHERCHE » Ich will nichts als die Photographie, nur die Photographie.« (Franz Kafka)

In seinem letzten Buch La chambre claire. Note sur la photographie (dt.: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie50) von 1980 tritt Roland Barthes als Ich-Erzähler auf. Ein narratives Moment, das seine Fragmente-Bücher sonst konsequent vermeiden, ist hier augenfällig:51 Eines Tages, vor sehr langer Zeit, stieß ich auf eine Photographie des jüngsten Bruders von Napoleon, Jérôme (1852). Damals sagte ich mir, mit einem Erstaunen, das ich seitdem nicht mehr vermindern konnte: »Ich sehe die Augen, die den Kaiser gesehen haben.« Manchmal sprach ich von diesem Erstaunen, da aber niemand es zu teilen, ja nicht einmal zu verstehen schien (so besteht das Leben aus kleinen Einsamkeiten), vergaß ich es wieder. (HK, 11)

Motivisch analysiert, geht es hier um Geschichte und Photographie, um eine zufällige Begegnung und einen Affekt, einen photographisch vermittelten Blickkontakt von zeitlich getrennten Subjekten, um eine mißlungene Kommunikation und ein einsames Subjekt. All diese Motive werden 50 | Roland Barthes 1989. Im folgenden wird dieser Text durch das Sigel HK mit der Angabe der Seitenzahl zitiert. 51 | Herta Wolf 2002, S. 89. Margaret Iversen 2002, S. 108.

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im Fortgang des Textes weiter entwickelt.52 Mehrere Momente der phototheoretischen Reflexion erscheinen also in den Anfangszeilen dicht komprimiert, in denen ein beiläufiger, vom Ich-Erzähler persönlich erlebter Vorfall erzählt wird. Offensichtlich kündigt sich in diesem Einsatz Barthes’ Taktik an, immer vom Subjekt ausgehend allgemeine Grundzüge der Photographie nachzuzeichnen. Barthes’ frühere Texte über die Photographie waren ganz anders beschaffen. Die Fotografie als Botschaft (1961) und Rhetorik des Bildes (1964) präsentierten sich nämlich als semiologische Aufsätze mit wissenschaftlichem Anspruch, in denen die Subjektivität des Verfassers gar keine Rolle spielte. Dagegen taucht in Die helle Kammer das Subjekt, das in der ersten Person Singular spricht, als Ausgangspunkt der Photographietheorie auf: Ich übernahm mithin die Rolle eines Vermittlers der PHOTOGRAPHIE in ihrer Gesamtheit: ich würde den Versuch wagen, auf der Basis von ein paar persönlichen Gefühlen die Grundzüge, das Universale, ohne das es keine PHOTOGRAPHIE gäbe, zu formulieren. (HK, 16f.)

Gilt es für Barthes, einmalige, unersetzbare Affekte des Subjekts zur Grundlage universeller Erkenntnisse zu machen, dann unternimmt er das Experiment, die Singularität des Subjekts und die Universalität der Theorie im Medium des Affekts kurzzuschließen. Diese Methode für die geträumte »mathesis singularis« (HK, 16) erweist sich allmählich als Vorbereitung dafür, daß der Text über die Photographie – so ist die These, die im folgenden verfolgt wird – nach und nach eine autobiographische Erzählung wird. Die helle Kammer ist, anders ausgedrückt, keineswegs auf eine bloße Theorie der Photographie zu reduzieren. Dieses Buch, das bisher meistens als Standardwerk der Phototheorie verstanden, zitiert und diskutiert worden ist, muß doch auch als autobiographische Erzählliteratur gelesen werden. Aus dieser Sicht fällt sogleich auf, daß sich Die helle Kammer in einigen Hinsichten an Prousts autobiographischen Roman anschließt. Dabei geschieht dieser Anschluß auf eine ganz konstitutive Weise. Insbesondere der Aufbau dieses Photographie-Buchs scheint den der Recherche nachzuzeichnen.53 In seinem Essay Proust et les noms (1967) beschreibt Barthes 52 | Vgl. Ottmar Ette 1998, S. 462. 53 | Mehrere Kommentatoren haben bereits auf Proust als Referenz für den Autor von Die helle Kammer aufmerksam gemacht, aber sie entwickeln, so scheint

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die Erzählung des Romans Auf der Suche nach der verlorenen Zeit als Mysterienspiel in drei Akten: »le désir«, »l’échec« und »l’assomption« sind die drei Momente der Initiation, durch die der Ich-Erzähler der Recherche ins Geheimnis der écriture eingeht.54 Und eben aus diesen drei Momenten besteht auch Die helle Kammer. Daß Barthes’ Ich-Erzähler im Laufe des Textes durch die drei Momente »le désir«, »l’échec« und »l’assomption« hindurchgeht, zeigt sich deutlich, wenn man seine Makrostruktur verfolgt. Nicht ohne Grund spricht Barthes in dem im Oktober 1978 (also etwa ein halbes Jahr vor der Niederschrift von Die helle Kammer) am Collège de France gehaltenen Vortrag »Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen« von seiner »Identifizierung« mit dem Autor der Recherche als »Erzählung eines Schreibwunsches«.55 Die helle Kammer ist als eine Sammlung von nummerierten und jeweils betitelten Kurzprosa-Texten konstruiert. Dabei weist das Buch einen symmetrischen Aufbau von zwei Teilen auf: Der erste bis 24. Text machen den ersten Teil aus, der 25. bis 48. Text den zweiten. Bereits im ersten, Besonderheit des Photos titulierten Text äußert Barthes in der Ich-Form seinen »Wunsch« (»désir«) herauszufinden, was die Wesensart der Photographie ausmacht: Was die PHOTOGRAPHIE anlangte, so hielt mich ein »ontologischer« Wunsch gefangen: ich wollte unbedingt wissen, was sie »an sich« war, durch welches Wesensmerkmal sie sich von der Gemeinschaft der Bilder unterschied. (HK, 11)

es, den Gedanken nicht systematisch genug. Anselm Haverkamp 1993, S. 47; Gabriele Röttger-Denker 1997, S. 106f.; Ronald Berg 2001, S. 250f. 54 | Roland Barthes 2002, Bd. IV, S. 67: »L’histoire qui est racontée par le narrateur a donc tous les caractères dramatiques d’une initiation; il s’agit d’une véritable mystagogie, articulée en trois moments dialectiques: le désir (le mystagogue postule une révélation), l’échec (il assume les dangers, la nuit, le néant), l’assomption (c’est au comble de l’echec qu’il trouve la victoire).« 55 | Roland Barthes 2006, S. 307. Der Vortrag »Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen« ist offensichtlich eine Vorbereitung auf Barthes’ letztes Projekt Die Vorbereitung des Romans, die posthum 2003 veröffentlicht wurde. Die helle Kammer wurde vom 15.4. bis zum 3. 6. 1979 geschrieben, und zwar eben zwischen der Préparation du Roman I und II. Auch aus diesem Entstehungszusammenhang heraus scheint Die helle Kammer eben Barthes’ Recherche zu sein.

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Hier spricht ein theoretisch unbewaffnetes Subjekt, das fast wie ein Kind darauf begierig ist, zu erfahren, was die Photographie »an sich« ist. Die helle Kammer wird also erzählt von einem Subjekt mit dem unstillbaren »Wunsch« zu wissen, genau so wie die Recherche von einem Subjekt mit dem Wunsch zu schreiben. Denn nur ein derartiges Subjekt mit »ontologisch« tiefwurzelndem Begehren ist bereit, sich auf das Abenteuer zur Ergründung von Grundzügen der Photographie einzulassen, ohne sie von irgendeinem bereits gesicherten Wissenssystem ausgehend zu begreifen. Parallel zu Italo Calvinos Erzählung Abenteuer eines Photographen (HK, 133) entscheidet sich Barthes für ein Abenteuer im Feld der Photographie.56 Es geht um den Versuch eines Denkens ohne gesicherten Ort, eine unermüdliche Wiederholung des Experiments, oder, um den programmatischen Text Das semiologische Abenteuer von 1974 zu zitieren, um »ein Abenteuer, das heißt, etwas, was mir zustößt«.57 Der erste Teil entfaltet sich also als abenteuerliche Suche nach Wesenszügen der Photographie, bis genau zur Hälfte des Buchs, das heißt zum 24. Text namens Palinodie, wo ihr Scheitern (»l’échec«) eingeräumt wird. Wie geschieht das konkret? Im ersten Teil wird ein aus dem Lateinischen abgeleitetes Begriffspaar eingeführt, um zwei gegensätzliche Elemente der Photographie zu benennen: das »studium« und das »punctum«. (HK, 33f.)58 Das »studium« ist ein kulturell codiertes Element der Photographie, das Botschaften eines photographischen Bilds lesbar macht. Dieses Element ermöglicht also die Informationsübertragung im Medium der Photographie, die Barthes unter den Rubriken von »Informieren« (HK, 38), »Malen« (HK, 40), »Überraschen« (HK, 41), »Bedeuten« (HK, 44) und »Verlocken« (HK, 49) abhandelt. Dagegen ist das »punctum« ein uncodierbares Element der Photographie, das das »studium« skandiert: Dies zweite Element, welches das studium aus dem Gleichgewicht bringt, möchte ich daher punctum nennen; denn punctum, das meint auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt – und: Wurf der Würfel. Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft). (HK, 36)

56 | Italo Calvino 1991. 57 | Roland Barthes 1988a, S. 8. 58 | Vgl. hierzu etwa Helmut Lethen 1996, S. 211-218.

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Das »punctum« wird als kontingentes Moment der Photographie definiert, das den Betrachter plötzlich »wie ein Pfeil« (HK, 35) »besticht«. Es ist oft ein »Detail« (HK, 59) auf einem photographischen Bild, aber nicht selten unlokalisierbar und immer unbenennbar. Es handelt sich hier um ein ästhetisches Ereignis im Modus der »Plötzlichkeit« im Sinne Karl Heinz Bohrers: Das »punctum« tritt »blitzartig« (ebd.) hervor, affiziert die Affektlage des Betrachters (und nicht sein Bewußtsein). Die Gegenüberstellung von »studium« und »punctum« ist mit der des semiologischen Begriffspaars von »Konnotation« und »Denotation« vergleichbar, die schon in Die Fotografie als Botschaft und in Rhetorik des Bildes ins Spiel gebracht worden ist. Beidemal geht es darum, aufgrund der Opposition von zwei Begriffen die Photographie als Medium von zweipoliger Spannung zu begreifen. Was bei Barthes unverändert bleibt, ist der Photographiebegriff als paradoxes Medium. Was sich dagegen seit der neuen Begriffsopposition von »studium« und »punctum« verändert hat, wird nun in dem folgenden Punkt ersichtlich: Die Differenzierung von Konnotation und Denotation findet vermittels eines semiologischen Wissens statt, wohingegen sich »studium« und »punctum« aufgrund von »Affekten« differenzieren. So schreibt Barthes im dritten Text namens Das Gefühl als Ausgangsbasis: [D]er Affekt war die Größe, die ich nicht reduzieren wollte; […] Als spectator interessierte ich mich für die PHOTOGRAPHIE nur »aus Gefühl«; ich wollte mich in sie vertiefen, nicht wie in ein Problem (ein Thema), sondern wie in eine Wunde: ich sehe, ich fühle, also bemerke ich, ich betrachte und ich denke. (HK, 30)

Barthes’ Untersuchung der Photographie – die er selber eine »nachlässige Phänomenologie« (HK, 29) nennt59 – geht nicht vom Bewußtsein, sondern von Affekten aus. Das »punctum«, das den Betrachter plötzlich »besticht« und »verwundet«, ist seiner Definition gemäß nicht von »Wunde«, Schmerz und Leiden (und im weiteren Verlauf des Textes von der Trauer) abzutrennen, während sich das »studium« als kulturelle Regulierung und Stabilisierung der Bildinformation mit »einem durchschnittlichen Affekt« (HK, 35) verbindet. Festzuhalten ist schon hier, daß das »punctum« in diesem Bezug auf die »Wunde« notwendigerweise ein autobiographisches 59 | Zu Barthes’ Verhältnis zur Phänomemologie vgl. etwa Ronald Berg 2001, S. 228f.

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Moment impliziert. Denn das »punctum« ist die Erfahrung einer Einmaligkeit, die sich einzig und allein an mich wendet.60 Es lohnt sich bestimmt, darauf hinzuweisen, daß das Begriffspaar von »studium« und »punctum« als Neubearbeitung der in Die Lust am Text eingeführten Begriffsopposition von »Lust« und »Wollust« zu betrachten ist.61 Diese begriffliche Opposition von plaisir/jouissance, die aus Lacans Freud-Lektüre im Zusammenhang mit der Eros-Theorie Georges Batailles stammt, kann seinerseits auf das ökonomische Modell von »Lustprinzip« und »Todesprinzip« in Jenseits des Lustprinzips von Freud zurückgeführt werden.62 Das »studium« als Kulturelles entspricht der »Lust« bzw. dem »Lustprinzip«, wohingegen das »punctum« als Kontingentes und Uncodierbares der »Wollust« bzw. dem »Todesprinzip« anzunähern wäre. Im ersten Teil von Die helle Kammer entwickelt Barthes nun das begriffliche Paar von »studium« und »punctum« an Beispielen von Photos, die ihn als wahrnehmungsästhetisches Lustsubjekt anziehen. Dazu werden photographische Bilder von mehreren (meistens weltberühmten) Photographen, die im Buch abgedruckt sind, als Bezugspunkte herangezogen. Barthes vermerkt aber am Ende des ersten Teils, daß er mit dem Ergebnis seines phototheoretischen Unternehmens am Leitfaden des Begriffspaars unzufrieden ist. Im als Palinodie bezeichneten Text, der den ersten Teil abschließt, heißt es: Auf dem Weg von einem Photo zum anderen (bisher waren es freilich lauter öffentliche Photos) hatte ich vielleicht erfahren, welchen Gesetzen mein Verlangen folgte, doch die Natur (das eidos) der PHOTOGRAPHIE hatte ich nicht entdeckt. Ich mußte mir eingestehen, daß meine Lust ein unvollkommener Mittler war und daß eine auf ihr hedonistisches Ziel beschränkte Subjektivität das Universale 60 | Margaret Iversen weist darauf hin, daß das punctum der Begegnung mit dem »Realen« bei Jacques Lacan entspricht. Der Autor von Die helle Kammer zitiert in der Tat den Begriff Tyche aus Vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. (HK, 12) Vgl. Margaret Iversen 2002, S. 110f. Berg weist darauf hin, daß der punctum-Begriff mit dem der »Aura« bei Benjamin vergleichbar ist. Ronald Berg 2001, S. 246. 61 | Roland Barthes 1974, S. 22: »[…] es [das Subjekt, K. K.] genießt die Beständigkeit seines Ich (das ist seine Lust) und sucht seinen Verlust (das ist seine Wollust). Das ist ein zweifach gespaltenes, zweifach perverses Subjekt.« 62 | Vgl. Margaret Iversen 2002, S. 110f.

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nicht zu erkennen vermochte. Ich mußte tiefer in mich selbst eindringen, um die Evidenz der PHOTOGRAPHIE zu finden […]. Ich mußte meine Einstellung ändern. (HK, 70)

Barthes räumt ein, daß seine abenteuerliche Suche nach dem Wesen der Photographie, die er anhand des Begriffspaars von »studium« und »punctum« unternommen hatte, gescheitert ist. Dieses Scheitern entspricht eben in der Recherche dem »échec« von Marcel mit dem Wunsch, Schriftsteller zu werden. Bemerkenswert ist aber, daß Barthes nun zur Fortsetzung seiner Untersuchung »tiefer« in sich selbst »eindringen« zu müssen glaubt: Um den Weg zum »Universalen« der Photographie zu finden, reicht es nicht aus, von Affekten auszugehen, die sich nach der Ökonomie des Lustprinzips bewegen. Es bedarf einer weiteren Verinnerlichung des Subjekts, die mit dem Verzicht auf das »hedonistische« Prinzip Hand in Hand geht. Was im Innern des Subjekts jedoch zur Erkenntnis der Photographie verhilft, wird erst im zweiten Teil des Buchs erzählt, in dem sich endlich »l’assomption«, gleichsam als Umschlag und »Himmelfahrt« von Barthes, zuträgt. Der zweite Teil von Die helle Kammer beginnt unvermittelt mit der Beschreibung einer ganz bestimmten Trauersituation: »An einem Novemberabend, kurz nach dem Tod meiner Mutter, ordnete ich Photos.« (HK, 73) Der Ich-Erzähler des Photographie-Buchs verbirgt nun nicht mehr, daß er gleichzeitig autobiographisches Subjekt ist. Barthes erzählt hier vom Tod seiner Mutter Henriette im Oktober 1977,63 und zwar in einem direkten Rekurs auf Prousts Recherche: An einem Novemberabend, kurz nach dem Tod meiner Mutter, ordnete ich Photos. Ich hoffte nicht, sie »wiederzufinden«, ich versprach mir nichts von »diesen Photographien einer Person, durch deren Anblick man sich weniger an diese erinnert fühlt, als wenn man nur an sie denkt« (Proust). Ich wußte wohl, daß ich aufgrund dieses verhängnisvollen Umstands, der zu den schrecklichsten Aspekten der Trauer gehört, vergebens die Bilder befragen würde – nie mehr würde ich mich an ihre Züge erinnern (sie in ihrer Gesamtheit mir ins Gedächtnis rufen) können. (HK, 73)

63 | Vgl. Louis-Jean Calvet 1993, S. 309f.

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Das Proust-Zitat, mithilfe dessen Barthes seine Unzufriedenheit mit den Photoporträts der Mutter kundtut, stammt aus dem Band Die wiedergefundene Zeit. Dort wird die Photographie wiederholt mit der mémoire volontaire gleichgesetzt (bis schließlich die mémoire involontaire nach einem bestimmten Modus der photographischen Entwicklung Evidenz gewinnt).64 Eben auf diesen photographiekritischen Diskurs in der Recherche deutet Barthes hin, wenn er beschreibt, wie er vergebens nach einem Photo sucht, auf dem die Einzigartigkeit der Mutter »wiederzufinden« wäre. In Die helle Kammer gibt es aber noch ein anderes Proust-Zitat, das sich einige Seiten später findet. Dieses Zitat aus dem Band Sodome und Gomorrha macht deutlich: Die Situation der Trauer vor und mit den Photos der verstorbenen Mutter, mit der der zweite Teil von Die helle Kammer einsetzt, zeigt sich als Variation zum entsprechenden Aufenthalt des proustschen Erzählers in Balbec. Es geht also bei Barthes um eine Wiederholung der Episode der »Arrhythmien des Herzens«: Dieses eine Mal gab mir die Photographie ein ebensostarkes Gefühl der Gewißheit wie die Erinnerung, so wie es Proust empfand, als er eines Tages, während er sich bückte, um die Schuhe auszuziehen, plötzlich in seinem Gedächtnis das wahre Gesicht seiner Großmutter entdeckte, »deren lebendige Realität sich zum erstenmal in einer unwillkürlichen und vollständigen Erinnerung wiederfand«. (HK, 80)

Barthes’ Wiederholung bringt eine Differenz zu Proust hervor. Bei Proust verhält sich die plötzliche »Erinnerung« an die Großmutter zum Gedächtnismedium Photographie zunächst einmal wie die mémoire involontaire zur mémoire volontaire. Einer ausführlichen Analyse der Episode der »Arrhythmien des Herzens« zufolge erweist sich jedoch die Gegenüberstellung von Erinnerung und Photographie als nur eine Seite des Problems. Die andere Seite, die noch komplexer und tiefer reicht, liegt in einer Kontamination von Erinnerung und Photographie, die sich in den »Arrhythmien des Herzens« zeigt: Es ist hier die photographische Temporalität des Verzugs am Werk, ohne die das Negativ nicht entwickelt werden kann. Die »vollständige« Erinnerung an die Großmutter ereignet sich nämlich erst mehr als ein Jahr nach ihrem Tod. Ihr »wahres Gesicht« kommt erst nach einer be64 | Vgl. hierzu 1.5 Die Photographie als Metapher für Gedächtnis und Erinnerung.

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stimmten Latenzzeit, und zwar dann plötzlich, in die Erinnerung zurück. Der wiedergefundenen »lebendigen Realität« der gestorbenen Großmutter geht also eine Virtualität des Gedächtnisses nach Art des Photonegativs voran, über die das Bewußtsein nicht verfügen kann. Diese Kontamination von Erinnerung und Photographie wird von Barthes durchaus ernstgenommen und darüber hinaus so radikalisiert, daß in Die helle Kammer etwas passiert, das sich in der Recherche nie zuträgt: Das bestimmte Photo der Mutter erreicht für Barthes nur »dieses eine Mal« die Intensität der proustschen Erinnerung. Die Differenz zu Proust als Folge der radikalisierenden Wiederholung liegt also darin, daß es Barthes einmalig gelingt, die Mutter auf einem Photo »wiederzufinden«, und zwar genau auf einer Aufnahme der Mutter als Kind. Es geht um »die PHOTOGRAPHIE aus dem Wintergarten« (HK, 80), eine alte Aufnahme aus dem Jahr 1898, auf der sich die Mutter als fünfjähriges Kind zusammen mit ihrem Bruder zeigt. Dieses einmalige Wiederfinden der geliebten Mutter auf dem Photo ist für den Erzähler von Die helle Kammer mit dem »désir«, Wesenszüge der Photographie in Erfahrung zu bringen, nichts anderes als Offenbarung. Es kommt eben der »assomption« in der Recherche gleich, die darin besteht, daß der Erzähler im Band Die wiedergefundene Zeit durch eine Reihe distinkter Erfahrungen der unwillkürlichen Erinnerung seinen Beruf zur Literatur erkennt. Denn Die helle Kammer ist so konzipiert, daß allein dieses singuläre Ereignis des Wiederfindens Barthes erlaubt, eine photographische Evidenz zu ergründen. Nach dem »échec« des photographischen Abenteuers, das im ersten Teil von einem dem »hedonistischen Prinzip« verpflichteten Subjekt unternommen wird, erlangt Barthes im zweiten Teil dadurch jene »assomption«, daß er die Position des trauernden Sohns einnimmt. So entnimmt Die helle Kammer aus der Recherche sowohl die Makrostruktur des Textes als auch die Erzählposition des um die (Groß-) Mutter trauernden Sohns. Außerdem sind auch der photographiekritische Diskurs und die Kontamination von Erinnerung und Photographie – zwei gegensätzliche, unvereinbare Einschätzungen der Photographie als Gedächtnismedium – bereits in der Recherche vorgeschrieben. Ohne große Übertreibung läßt sich also sagen, daß Die helle Kammer ihre phototheoretischen Reflexionen dadurch entfaltet, daß sie den autobiographischen Roman Prousts in bestimmter Weise wiederholt. Daher ist es auch kein Wunder, wenn Die helle Kammer auch die Innovation der Erinnerungsästhetik in der Recherche auf sich nimmt: die unwillkürliche Erinnerung als produktive Wiederholung, die von einer bloßen Kopie weit entfernt ist. Die

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mémoire involontaire gibt, wie bereits gesehen, nicht einfach wieder, was es immer schon gibt. Vielmehr ruft sie die niemals gegebene Ganzheit Combrays in die Erinnerung zurück: Sie ist Wiederholung ohne Ursprung. So verhält es sich nun auch mit Barthes’ Wiederfinden der Mutter auf dem Wintergartenphoto. Weil der Sohn die Mutter als fünfjähriges Kind selbstredend nie kennen konnte, kann dieses Wiederfinden auch keine einfache Wiedererkennung sein, keine Repräsentation eines immer schon Gegebenen aufgrund eines Prinzips der Ähnlichkeit. Es ist eben eine ursprungslose Wiederholung, die für die mémoire involontaire charakteristisch ist.65 Weil der Roman Prousts selbst zahlreiche Photographie-Episoden und Photographie-Metaphern enthält, ist es keineswegs verwunderlich, wenn er in einem theoretischen Text über die Photographie abgehandelt wird: Beispielsweise beziehen sich Siegfried Kracauers zweiter PhotographieAufsatz Das ästhetische Grundprinzip der Fotografie (1960) und Susan Sontags Photographie-Essay Die Bilderwelt (1977) auf die Recherche.66 Aber es ist durchaus beispiellos, daß sich ein phototheoretischer Text dadurch konstruiert, daß er in mehrfacher Hinsicht die Recherche wiederholt. Ein Grund für diese einzigartige Konstruktion der autobiographischen Photographietheorie läßt sich an den Vorlesungen Die Vorbereitung des Romans ablesen, mit denen Die helle Kammer sowohl entstehungszeitlich als auch motivisch untrennbar verbunden ist. Dort handelt es sich um eine Phantasie der »Vita Nova (Dante) oder Vita Nuova (Michelet)«,67 die in der Mitte des Lebenswegs beginne, die sich beim Schriftsteller Barthes in einer neuen Schreibweise realisiere: im Schreiben eines Romans. Dabei rekurriert Barthes immer wieder auf Proust, der vier Jahre nach dem Tod der Mutter, nämlich 1909, den autobiographischen Roman startete: »Das biographische Fundament der Suche nach der verlorenen Zeit ist, denke ich, der Tod der Mutter (1905).«68 Es scheint offensichtlich zu sein, daß sich Barthes, der ein Jahr vor dem Beginn der Vorlesung, im Oktober 1977, seine Mutter verlor, mit Proust als trauerndem Sohn identifiziert: In der Nachfolge Prousts, der auf dem Fundament des Tods der Mutter sein autobiographisches Lebenswerk verfaßte, wollte Barthes ein »romanhaftes« 65 | Bettina Lindorfer widmet der Problematik der Wiederholung ein Kapitel ihrer Barthes-Monographie. Vgl. Bettina Lindorfer 1998, S. 37-97. 66 | Siegfried Kracauer 2006, S. 160-165. Susan Sontag 1980, S. 156f. 67 | Roland Barthes 2008, S. 32. 68 | Roland Barthes 2008, S. 173.

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Werk schreiben: Entstanden ist so das autobiographische PhotographieBuch Die helle Kammer. In diesem Zusammenhang ist noch hinzuzufügen, daß Barthes im Jahre 1980, in dem Die helle Kammer erschien, vorhatte, im Anschluß an die Vorlesung Die Vorbereitung des Romans ein Seminar mit dem Titel Proust und die Photographie. Durchsicht eines wenig bekannten photographischen Archivs am Collège de France zu veranstalten,69 was durch seinen Unfalltod am 26. März 1980 verhindert werden sollte. Dabei sollte es hauptsächlich um Paul Nadars Photoportraits von Leuten gehen, die das Leben des Schriftstellers Proust umgaben. Offensichtlich suchte Barthes die ›Schlüssel‹ für die Suche nach der verlorenen Zeit eben dort. Diese Photographien sollten im geplanten Seminar mit dem Diaprojektor vorgeführt und dabei kommentiert werden: Ich habe bereits auf die Entstehung eines besonderen Interesses an der Zivilperson Prousts hingewiesen: sein Leben, seine Freunde, seine Spleens: der Marcellismus ˆ Dies Seminar wendet sich an die Marcellisten ˆ Ich werde sagen, wie es in einschlägigen Kleinanzeigen heißt: »Nicht-Marcellisten unerwünscht [»nonmarcelliens s’abstenir«].«

Die »Rückkehr zur Biographie«, die Barthes in Die Vorbereitung des Romans proklamiert, um über seine eigene These vom »Tod des Autors« hinauszugreifen, konkretisiert sich in dem Interesse, das er nicht an dem Schriftsteller Proust als literaturgeschichtlicher Figur, sondern »an der Zivilperson Prousts« hat. Was hier zurückkommt, ist also nicht die »äußere Biographie«70 bzw. »die Lebensbeschreibung«71 im hermeneutischen Sinne, sondern Subjektivität und »Affektivität«72 als Intensitäten des Biographischen, die der »Zerlegung, Fragmentierung, ja sogar Pulverisierung des Subjekts«73 entspringen. Dieses Interesse an bestimmten biographischen Momenten kristallisiert sich bei Barthes in der geplanten Projektion von Photographien aus der konkreten Lebenswelt Prousts.

69 | Roland Barthes 2008, S. 457-539. 70 | Roland Barthes 2008, S. 320. 71 | Roland Barthes 2008, S. 324. 72 | Roland Barthes 2008, S. 321. 73 | Roland Barthes 2008, S. 320.

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4.4 D IE PHOTOTHEORE TISCHE S UPPLEMENTIERUNG DER A UTOBIOGR APHIE Freilich gibt es noch einen anderen autobiographischen Text, der für Barthes’ Buch über die Photographie besondere Bedeutung hat. Hinsichtlich der Position des Erzählers, der als Sohn die Mutter betrauert, bezieht sich Die helle Kammer nicht nur auf Marcel Proust, sondern auch auf Aurelius Augustinus. Das Mutter-Sohn-Verhältnis, das in der kanonischen Autobiographie Confessiones geschildert wird, ist – wie Anselm Haverkamp darlegt – ein relevanter Referenzpunkt für Barthes’ Buch über die Photographie.74 Wie bereits gesehen, wehrt sich Barthes in Roland Barthes par Roland Barthes ausdrücklich dagegen, daß sein autobiographischer Diskurs nach dem Muster der Bekenntnisse klassifiziert wird. Aber um den Tod der Mutter autobiographisch bearbeiten zu können, den Tod jener einzigartigen, unersetzlichen Mutter, die sein Imaginäres lange Zeit gestützt und legitimiert hatte, schließt sich nun Barthes in Die helle Kammer an den ursprünglichsten Text in der abendländischen Bekenntnisliteratur an.75 Allerdings geht es bei Barthes nicht um Augustinus’ Bekenntnisse als ganze, sondern nur um ein einziges Moment in ihnen. Das achte Buch der Bekenntnisse berichtet von der Bekehrung des Rhetoriklehrers Augustinus zum Christentum. Danach wird im neunten Buch auf ein Gespräch zurückgeblickt, das der ›Neugeborene‹ mit der Mutter Monika direkt vor ihrem Tod führte. Der Dialog, der in Ostia – auf dem Heimweg von Italien nach Afrika – stattfindet, bedeutet für die Seele sowohl des Sohns als auch der Mutter eine gewisse Versöhnung, denn die Mutter hatte als fromme Christin schon lange auf die Konversion des verlorenen Sohns gewartet. Das Gespräch erhitzt sich bis zur Erleuchtung einer Vision des ewigen Lebens nach dem Tod, die in einer neuplatonischen Begrifflichkeit mitsamt ihrer Metaphorik des Lichts geschildert wird.76 Diese Szene und die sie be74 | Anselm Haverkamp 1993, S. 59-62. 75 | Auch in dieser Hinsicht ist Proust ein Vorläufer Barthes’. In der Erleuchtungsszene im Band Die wiedergefundene Zeit sind Anspielungen auf die Bekenntnisse von Augustinus enthalten. Vgl. hierzu Manfred Schneider 1997b, S. 128f. 76 | Aurelius Augustinus 2000, S. 236: »Wir durchwanderten von Stufe zu Stufe die ganze Körperwelt und auch den Himmel, von dem Sonne, Mond und Sterne auf die Erde niederscheinen. Bald in stillem Sinnen, bald Worte wechselnd und

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gleitende Lichtmetapher werden in Die helle Kammer zitiert bzw. neu belebt, um Barthes’ Konversion zum Wesen der Photographie zu inszenieren.77 Wenn Barthes das »Noema« der Photographie als »Es-ist-so-gewesen« benennt (HK, 87), handelt es sich dabei um den Begriff der Photographie als Gedächtnismedium: »[I]n der alltäglichen Bilderflut«, welche Werbungen, Zeitungen, Zeitschriften und andere Massenmedien produzieren, wird die Photographie nicht als Gedächtnismedium, sondern als Übertragungsmedium erfahren. In einer modernen Informations- und Kommunikationsgesellschaft wird also das Wesentliche der Photographie »einer gewissen Indifferenz« ausgeliefert. (Ebd.) »Aus dieser Indifferenz hatte mich«, so Barthes, »die PHOTOGRAPHIE aus dem Wintergarten geweckt.« (Ebd.)78 Barthes’ Erweckung geht als Konversion Hand in Hand mit einer verinnerlichenden Sammlung des trauernden Subjekts. Es schließt sich vom gesellschaftlichen Treiben und Zerstreuen ab, um nur noch Photos der Verstorbenen anzusehen. Diese verinnerlichende Sammlung des Eingedenkens an die Tote rückt den kommunikativen Aspekt der Photographie in den Hintergrund, den Barthes’ frühere Semiologie am Beispiel von Werbephotos und Pressephotos analysiert hatte. Den Raum des inneren Schauens füllt nun die Photographie als Gedächtnismedium aus. Auch in dieser Hinsicht wiederholt Barthes den antiken Kirchenlehrer. Denn die Bekehrung des Augustinus impliziert bereits die konzentrische Bewegung der Seele nach Innen: Wovon er sich abwendet, dem er den Rücken kehrt, ist die antike Kommunikationstheorie der Rhetorik, deren Praxis intersubjektive Aktivität setzt. Und aus dieser Äußerlichkeit der Zungenkunst erwacht er nun, um sich zur kontemplativen Innerlichkeit der christlichen Seele zu bekehren. Mit anderen Worten: Er entscheidet sich als Konvertit für die Selbstsorgetechnik der »Enthaltsamkeit«, durch die, so Augustinus,

deine Werke bewundernd, stiegen wir weiter empor und kamen in das Reich unserer Seelen.« 77 | Anselm Haverkamp 1993, S. 61: »Das neoplatonische Idiom, das Augustins Rhetorik zum glücklichen Ergebnis gegenseitiger Erhebung verhilft, dominiert Barthes’ Diskurs bis in die Konstruktion der camera lucida.« 78 | Vgl. hierzu Ronald Berg 2001, S. 313: »Die helle Kammer ist ein Trauerbuch. Die Photographie taucht hier weniger als Medium der Kommunikation auf, denn als Mittel der Beschwörung des Vergangenen und Verlorenen.«

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»wir gesammelt und zur Einheit zurückgebracht [werden], von der wir in die Vielheit uns zerstreuen«.79 So stellt Die helle Kammer durch die Figur des trauernden Sohns hindurch eine Beziehung zu Augustinus und Proust her, um zwei entscheidende Augenblicke aus ihren autobiographischen Texten zu zitieren: die lichtvolle Vision des ewigen Lebens nach dem Tod einerseits, die vollständige Präsenz der verstorbenen Großmutter in einer plötzlichen Erinnerung andererseits. Beidesmal geht es um Erleuchtungsaugenblicke, in denen die Grenze des Todes in einem Nu überschritten und eine gewisse Verbindung mit der (Groß-)Mutter hergestellt wird. Barthes’ Photographietheorie in Die helle Kammer vermag sich auf diese Weise erst durch Bezüge auf Wahrheitsmomente in der autobiographischen Erinnerungsliteratur zu entfalten. Dies bedeutet aber keineswegs, daß Barthes Photographie und Erinnerung nicht zu differenzieren wüßte. Daß Barthes im zweiten Teil von Die helle Kammer ganz bewußt den photographiekritischen Diskurs aus der Recherche zitiert, darauf wurde bereits hingewiesen. Wenn er allgemein die Photographie als Gedächtnismedium thematisiert, erscheint sie mit der Erinnerung unverträglich: Nicht nur ist das PHOTO seinem Wesen nach niemals Erinnerung […], es blockiert sie vielmehr, wird sehr schnell Gegen-Erinnerung. Einmal sprachen Freunde über die Kindheitserinnerungen; sie besaßen solche; ich aber hatte gerade meine alten Photos angesehen und besaß keine mehr. (HK, 102).

Die Photographie ist für Barthes nicht nur Nicht-Erinnerung, sondern vor allem »Gegen-Erinnerung«. Bemerkenswert ist nun, daß Barthes’ Autobiographik untrennbar mit diesem Begriff der Photographie als »Gegen-Erinnerung« verbunden scheint. Sei es in Roland Barthes par Roland Barthes, sei es in Die helle Kammer, jeweils setzt Barthes’ autobiographisches Schreiben einen Begriff der Photographie voraus, die die Erinnerung nicht nur ergänzt, sondern auch ersetzt. In Roland Barthes par Roland Barthes werden Photos zur autobiographischen Selbstdarstellung montiert: Barthes zeigt mehrere Photos aus Kindheit und Jugend, statt Erinnerungen umständlich aufzuzeichnen. Es gibt zwar in diesem Buch ein kleines Fragment, das Eine Kindheitserinne79 | Aurelius Augustinus 2000, S. 277.

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rung (ÜMS, 132) heißt. Aber sonst spielt die narrative Vergegenwärtigung der Kindheit – wenn man insbesondere an die Recherche denkt – so gut wie kaum eine Rolle. In der Autobiographik Barthes’ ergänzen also nicht nur, sondern ersetzen geradezu Photos als »Gegen-Erinnerungen« die ausführliche Erzählung von Kindheitserinnerungen. Die Photographie funktioniert in Roland Barthes par Roland Barthes als Gedächtnismedium, das die Erinnerung supplementiert. Dabei ist augenfällig, daß diese photographische Supplementierung nicht umhin kann, die Art und Weise der Erinnerung selbst zu verändern. Exemplarisch hierfür erscheinen Barthes’ schriftliche Erinnerungen, die unter dem Titel Pause: Anamnesen (ÜMS, 117f.) gesammelt sind: Sie verhalten sich zueinander wie nebeneinander liegende Photos. Dieses Fragment besteht selber wiederum aus 17 kleinen, miteinander unzusammenhängenden Erinnerungsfragmenten (»Anamnesen«) und zwei metatextuellen Kommentaren. Die ersten zwei Anamnesen lauten wie folgt: Zur Vesperzeit kalte Milch mit Zucker. In der alten weißen Schale war unten ein Fehler im Ton; man wußte nicht, ob der Löffel beim Umrühren diese fehlerhafte Stelle oder ein Plättchen Zucker berührte, der nicht ganz aufgelöst oder schlecht abgewaschen war. In der Straßenbahn am Sonntag abend vom Besuch bei den Großeltern. Es wurde im Zimmer zu Abend gegessen, am Kaminfeuer, Bouillon und geröstetes Brot. (ÜMS, 117)

Diese Erinnerungsfetzen befinden sich in einem semantisch vagen, instabilen Zustand. Wegen der Sparsamkeit der räumlichen und zeitlichen Angaben erscheinen sie kontextlos und isoliert: Ihre Bedeutsamkeit läßt sich nicht genauer bestimmen. Bemerkenswert ist jedoch, daß Barthes im metatextuellen Selbstkommentar diese kleinen Erinnerungsfragmente als »Haikus« (ÜMS, 120) bezeichnet. Denn nicht nur in Das Reich der Zeichen, sondern auch in Die helle Kammer vergleicht Barthes die Ästhetik der Knappheit, die er dem japanischen dreizeiligen Gedicht »Haiku« zuspricht, mit der der Photographie.80 Das besagt, daß die spezifisch japanische Gedichtform des Haiku, die Photographie und die eigenen Anamne80 | »Darin ähnelt die PHOTOGRAPHIE dem HAIKU, denn auch die Niederschrift eines Haiku läßt sich nicht entwickeln: alles ist bereits da, ohne daß das Verlan-

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sen für Barthes eine ästhetisch verwandte Struktur aufweisen.81 Und in der Tat schreibt Barthes selbst diesen »Anamnesen« metaphorisch eine photographische Qualität zu, nämlich »matt«: »Diese wenigen Anamnesen sind mehr oder weniger matt (bedeutungslos: des Sinns enthoben).« (Ebd.) Daß die eigene Erinnerungskurzprosa vom Zwang zum (konventionellen) Sinn befreit ist, darauf deutet Barthes’ Verwendung der Photographie-Metapher hin. Während in Roland Barthes par Roland Barthes die Erzählung der Kindheit und Jugend durch Photo-Montagen ersetzt wird, werden gleichzeitig Erinnerungsfetzen, die ohne jedes narrative Band ihr Privileg der Bedeutungslosigkeit genießen, noch photographisch metaphorisiert. Diese Kontamination von Photographie und Erinnerung ist ein wesentlicher Aspekt der photographischen Supplementierung des Memorierens. Eine derartige Supplementierung geschieht auch in Die helle Kammer, und zwar an einer entscheidenden Stelle des Textes. Es handelt sich um jene bereits erörterte Textstelle, in der Barthes seine Variation zur Episode der »Arrhythmien des Herzens« liefert. Der proustsche Erzähler erinnert sich plötzlich an die verstorbene Großmutter, als er sich bückte, um sich die Schuhe auszuziehen. Das Photo, das sie dem Enkelkind hinterlassen hatte, erweist sich als dieser plötzlichen Erinnerung weit unterlegen. Die Trauerarbeit des Enkelsohns funktioniert nicht mit der Photographie. In Die helle Kammer heißt es dagegen: »Dieses eine Mal gab mir«, so Barthes im Hinblick auf das Photo vom Wintergarten, »die Photographie ein ebenso starkes Gefühl der Gewißheit wie die Erinnerung, so wie es Proust empfand.« (HK, 80) »Findet« Barthes so auf dem Photo die verstorbene Mutter »wieder«, dann geht es um ein einmaliges Ereignis, das der Photographie erlaubt, die Intensität der Erinnerung zu erreichen und diese hier zu ersetzen. Dies bedeutet nichts anderes, als daß Barthes seine Photoerfahrung – punktuell – mit einem autobiographischen Wahrheitsmoment der Recherche gleichsetzt. Wenn es sich aber bei ihm so verhält, dann lohnt es gen nach einer rhetorischen Expansion oder auch nur die Möglichkeit einer solchen hervorgerufen würde.« (HK, 59) 81 | In den Vorlesungen Die Vorbereitung des Romans, die in der Zeit der Niederschrift von Die helle Kammer gehalten wurden, befaßt sich Barthes intensiv mit dem Haiku als literarischer Aufzeichnungsform. In der Sitzung vom 17. Februar 1979 greift Barthes den Vergleich von Photographie und Haiku auf: »Ich behaupte nun, daß das Haiku dem Noema der Photographie sehr nahekommt.« (Roland Barthes 2008, S. 129)

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für ihn kaum mehr der Mühe, eigene autobiographische Erinnerungen aufzuschreiben. Wenn ein Photo die Erinnerung supplementieren kann, dann scheint es vielmehr ›autobiographischer‹ im Sinne authentischer Autobiographie, daß man die Photographie als historisches Apriori des autobiographischen Schreibens untersucht. So kann verständlich werden, warum Barthes das Photographie-Buch als »etwas wie ein zweites Über mich selbst«82 geschrieben hat. Die helle Kammer ist so angelegt, daß die Phototheorie in dem Maße an die Stelle der Autobiographie tritt, in dem die Photographie beim Autor selbst die Erinnerung supplementiert. Im nächsten Subkapitel gilt es, dem Gang des zweiten Teils von Die helle Kammer weiter nachzugehen. Denn es muß verfolgt werden, wie sich die autobiographische Photographietheorie nach jenem Umschlag entfaltet, den das Photo vom Wintergarten bewirkt hat.

4.5 W AHNSINN DER L ICHTSCHRIF T »Das PHOTO aus dem Wintergarten war meine Ariadne.« (HK, 83) Damit meint Barthes die eigene methodische Entscheidung, »die ganze PHOTOGRAPHIE (ihre ›Natur‹) aus dem einzigen Photo ›hervorzuholen‹, das für mich mit Bestimmtheit existierte« (ebd.), nämlich aus dem WintergartenPhoto, auf dem allein er die geliebte Mutter wiederfinden kann. So berichtet Barthes im Rekurs auf die Ariadne-Figur, wie er im zweiten Teil von Die helle Kammer das Abenteuer fortsetzt und das Geheimnis im »LABYRINTH« (ebd.) der Photographie erforscht: Das PHOTO aus dem Wintergarten war meine Ariadne, nicht weil es mich etwas Geheimes (ein Ungeheuer oder einen Schatz) entdecken ließe, sondern weil es mir sagen würde, woraus der Faden gesponnen war, der mich zur PHOTOGRAPHIE hinzog. Ich hatte begriffen, daß ich von nun an die Evidenz der PHOTOGRAPHIE nicht unter dem Gesichtspunkt des Vergnügens, sondern im Hinblick darauf befragen mußte, was man romantischerweise Liebe und Tod nennen könnte. (Ebd.)

An die Stelle des Lustprinzips tritt nun das romantische Prinzip von »Liebe und Tod«. Diese methodische Wende innerhalb des Photographie-Buchs entspricht Barthes’ theoretischer Entwicklung bzw. der Verschiebung von 82 | Herta Wolf 2002, S. 107.

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der hedonistischen Textlehre in Die Lust am Text zu den romantischen Fragmenten einer Sprache der Liebe: In diesem einzigen »Bestseller«83 von Barthes wird eine Vielzahl von Figuren der Liebessprache seit Die Leiden des jungen Werthers herausgearbeitet. In dieser Sammlung der intimen Herzenssprache geht es um eine unglückliche, verrückte Liebe, die die leidenschaftlich Liebenden – symbolisch oder nicht – aus der bürgerlich vernünftigen Welt scheiden läßt.84 In dieser Sicht sind »Liebe und Tod« fast Synonyme füreinander. Von ebendiesem Standpunkt aus befragt Barthes nun die Photographie. Anders als in Fragmente einer Sprache der Liebe tritt Barthes jedoch hier in Die helle Kammer als autobiographisches Subjekt auf, das um die Mutter trauert und eben vor dem Hintergrund dieses Todes die Photographie erforscht. Nun kann der trauernde Sohn aber nicht umhin zu konstatieren, daß die »Natur« der Photographie selbst überhaupt nicht romantisch ist: Sie ist »schlicht, banal, hat keine Tiefe«. (HK, 126) Das WintergartenPhoto, auf dem allein er die Mutter »wiederfinden« kann, ist bereits als bildliche Oberfläche in sich abgeschlossen. Auf diesem Bild gibt es nichts mehr zu hermeneutisieren. Genau »in dieser Interpretationssperre« liegt jedoch Barthes zufolge »die Gewißheit des PHOTOS«. (HK, 117) Die Photographie wird auf diese Weise in Opposition zu einem Text gesetzt, dessen Spielräume für die Lektüre prinzipiell unendlich sind. In der Tat bleibt Barthes angesichts des Wintergarten-Photos nur noch ein »Schrei« übrig, der den Bildinhalt vorbehaltlos bestätigt: So ging ich die Photos meiner Mutter durch, einer Spur folgend, die in diesen Schrei mündet, mit dem jede Sprache endet: ›Das ist es!‹ (HK, 119)

Die Wiedergabe der vergangenen Wirklichkeit im Photo kommt Barthes tatsächlich und wahrhaftig so vor, daß er sie nur mit einer deiktischen Sprache verifizieren kann.85 Aus dieser unvergleichbaren Evidenzkraft, die die photographische Referenz besitzt, folgert er: »Der Name des No83 | Louis-Jean Calvet 1993, S. 305. 84 | Roland Barthes 1988b, S. 246: »Immer die gleiche Umkehrung: was die Welt für ›objektiv‹ hält, halte ich selbst für eingebildet, und was sie für Narrheit, Illusion, Irrtum hält, halte ich für Wahrheit. Im innersten Kern der Illusion nistet sich bizarrerweise das Wahrheitsgefühl ein.« 85 | Zur Problematik der Deixis bei Barthes vgl. Bettina Lindorfer 1998, S. 220f.

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emas der PHOTOGRAPHIE sei also: ›Es-ist-so-gewesen‹.« (HK, 87) Diese Erleuchtung erweckt jedoch gleichzeitig Schmerz. Denn für das trauernde Subjekt ist nichts unerträglicher als »daß es nichts zu sagen gibt über den Tod des Menschen, den ich am meisten liebe, nichts über sein Photo, das ich betrachte« (HK, 103). Angesichts der unerschütterlichen Gewißheit der photographischen Referenz versiegen alle Worte über die Tote. Von daher ist Barthes nicht imstande zu wiederholen, was Augustinus als Neugeborener zum Gedenken der verstorbenen Mutter tat: durchs Erzählen ihrer Lebensgeschichte dem Leben irgendeinen Sinn zu geben. Trotz der Aphasie angesichts des Wintergarten-Photos kommentiert Barthes unermüdlich dieses einzigartige Bild aus verschiedenen Gesichtspunkten. Oder vielmehr kommentiert er eben diese Aphasie, als ob dies die einzige Möglichkeit für die Trauerarbeit im Zeitalter der Photographie wäre. Der Titel des Selbstporträts von Barthes, das er ins Photographie-Buch einläßt, ist also Der Trauernde.86 Die berühmte Formel für die Photographie als »Wiederkehr des Toten« (HK, 17) kommt bereits im ersten Teil von Die helle Kammer zum Vorschein: Dort steht die Beziehung zwischen Photographie und Tod schon explizit zur Diskussion. Im zweiten Teil konzentriert sich Barthes auf diesen Aspekt. Dabei wird die Debatte dadurch konkretisiert, daß Barthes selbst als autobiographisches Subjekt auftritt, das um die Mutter trauert. Gerade in diesem Zusammenhang mit der Trauersituation werden die Implikationen des Begriffs »punctum« weitgehend entfaltet. Das »punctum« ist bisher als Sammelbegriff für uncodierbare, zufällige Details in Opposition zum »studium« vorgestellt worden. Der punctum-Begriff wird nun jedoch im Zusammenhang von »Liebe und Tod« betrachtet. So kommt zur synchronen Binärstruktur des Begriffspaars von »punctum« und »studium« noch die Dimension der Zeit hinzu. In diesem Sinne wird das »punctum« in der folgenden, pathetisch formulierten Passage auf die »ZEIT« bezogen: Nun weiß ich, daß es noch ein anderes punctum (ein anderes »Stigma«) gibt als das des »Details«. Dieses neue punctum, nicht mehr eines der Form, sondern der

86 | Journal de deuil, das Barthes vom 26. Oktober 1977, dem nächsten Tag vom Tod der Mutter, bis zum 15. September 1979 schrieb, ist im Februar 2009 erschienen. Dieses Buch konnte leider nicht mehr eingearbeitet werden.

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Dichte, ist die ZEIT, ist die erschütternde Emphase des Noemas (›Es-ist-so-gewesen‹), seine reine Abbildung. (HK, 105)

Zwei Grundbegriffe der barthesschen Phototheorie begegnen sich hier. Das »punctum« stellt demnach nichts anderes als die photographische Zeit des ›Es-ist-so-gewesen‹ dar. Erst aus diesem Zusammenhang wird ersichtlich, warum das »punctum« den Betrachter Barthes verletzt und verwundet: Das »punctum« affiziert ihn schmerzlich, weil es die Zeit darstellt, und zwar keine wie auch immer abstrakte Zeit, sondern die Zeit, in der die Mutter gestorben ist. Die affektive Erschütterung des »punctums« rührt von der Zeit her, in der für das trauernde Subjekt der Tod haust. Genauso wie für den Autor von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist die Photographie auch für Barthes »thanatographie«.87 Susan Sontag weist schon in ihrem Photographie-Buch, das sich auch im Quellenverzeichnis von Die helle Kammer findet, darauf hin, daß jedem photographischen Bild das »memento mori« innewohne.88 Barthes übernimmt diese Betrachtungsweise, die er aber noch komplexer zu fassen weiß. Denn er hebt hervor, daß sich mit dem Aufkommen der Photographie der Begriff des Todes selbst grundlegend verändert hat: […] [I]ch für mein Teil fände es sinnvoller, man würde sich, […] auch über die anthropologische Beziehung zwischen dem TOD und dem neuen Bild Gedanken machen. Denn in einer Gesellschaft muß der TOD irgendwo zu finden sein; wenn nicht mehr (oder in geringerem Maße) in der religiösen Sphäre, dann anderswo; vielleicht in diesem Bild, das den TOD hervorbringt, indem es das Leben aufbewahren will. Die PHOTOGRAPHIE könnte als Erscheinung, die mit dem Schwinden der Riten einhergeht, vielleicht mit dem Vordringen eines asymbolischen TODES in unserer modernen Gesellschaft korrespondieren, eines TODES außerhalb von Religion und Ritual, eine Art von plötzlichem Eintauchen in den buchstäblichen TOD. […]

87 | Philippe Dubois 1983, S. 160ff. 88 | Susan Sontag 1980, S. 21: »Jede Fotografie ist eine Art memento mori. Fotografieren bedeutet teilnehmen an der Sterblichkeit, Verletzlichkeit und Wandelbarkeit anderer Menschen (oder Dinge). Eben dadurch, daß sie diesen einen Moment herausgreifen und erstarren lassen, bezeugen alle Fotografien das unerbittliche Verfließen der Zeit.«

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Mit der PHOTOGRAPHIE betreten wir die Ebene des gewöhnlichen TODES. (HK, 103)

Die Photographie wird hier als gleichsam sepulkrale Technik begriffen, die mit einem modernen Begriff des Todes ohne metaphysische Dimension Hand in Hand geht. Das heißt, daß der Tod, an den die Photographie als memento mori mahnt, »asymbolisch«, »buchstäblich«, »gewöhnlich« und platt ist. Eben an diesem »gewöhnlichen Tod« im Zeitalter der Photographie liegt die Schwierigkeit der Trauerarbeit Roland Barthes’. Wenn der Tod den religiösen Codes entgeht, laufen alle Rituale für die Toten leer. Wie bewerkstelligt Barthes die Trauerarbeit mit der Photographie, wenn der Tod im Zeichen dieses sepulkralen Bildes so »gewöhnlich« ist? Nach Sigmund Freuds Aufsatz Trauer und Melancholie (1917) läßt sich die Trauer verstehen als »Verlust des Interesses für die Außenwelt – soweit sie nicht an den Verstorbenen mahnt –, den Verlust der Fähigkeit, irgendein neues Liebesobjekt zu wählen – was den Betrauerten ersetzen hieße –, die Abwendung von jeder Leistung, die nicht mit dem Andenken des Verstorbenen in Beziehung steht«.89 Der Zustand der Trauer dauert, bis das Ich durch sie hindurch dazu bewegt wird, »auf das Objekt zu verzichten, indem es das Objekt für tot erklärt und dem Ich die Prämie des Am-LebenBleibens bietet«.90 Die erfolgreiche Vollendung der Trauerarbeit liegt also in der Wiederherstellung des Ich als dem Überlebenden. Einen Vollzug der Trauerarbeit in diesem Sinne gibt es in Die helle Kammmer nicht. Denn Barthes gesteht nirgendwo ein, auf das geheimnisvolle Band, das ihn an die verstorbene Mutter bindet, zu verzichten. Statt dessen bewegt er sich entschlossen auf einen dionysischen Wahn zu, um dadurch, so scheint es, konsequent an dem einmal vollzogenen Abschied von der semiologischen Vernunft festzuhalten. Die Abwendung von der Welt, die bereits in der Trauersituation impliziert ist, potenziert sich in der »Verrücktheit« als absoluter Isolation des autobiographischen Subjekts. So lautet der Titel des 47., also vorletzten Textes von Die helle Kammer, in dem die Gemütsbewegung des trauernden Erzählers offenbar den Höhepunkt erreicht: Verrücktheit, Mitleid. Gerade hier wird Friedrich Nietzsche evoziert: Als Endstation seiner Trauerarbeit angesichts der Photographie beschwört Barthes den tragischen Augenblick, in dem Nietzsche, nachdem 89 | Sigmund Freud 1991, Bd. X, S. 429. 90 | Sigmund Freud 1991, Bd. X, S. 445.

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er im Herbst 1888 seine Autobiographie Ecce homo geschrieben hatte, am 3. Januar 1889 in Turin in Wahnsinn verfiel.91 Der dritte Autobiograph, auf den sich Barthes in Die helle Kammer bezieht, ist also der Autor von Ecce homo. Diesbezüglich muß daran erinnert werden, daß Nietzsche als der Philosoph der Wiederholung namens ewige Wiederkehr gilt, in der der Zufall ohne jeden Vorbehalt als Schicksal bejaht wird: amor fati.92 Als solcher tritt er hier auf, um den phototheoretischen Begriff des kontingenten »punctums« an seine Grenze zu führen: Im Geiste versammelte ich ein letztes Mal die Bilder, die mich »bestochen« hatten (dies eben die Wirkung des punctum) […]. Durch jedes dieser Bilder gelangte ich unweigerlich über die Unwirklichkeit des Dargestellten hinaus, wie von Sinnen betrat ich den Schauplatz, drang ich ins Bild, umarmte ich das, was tot ist, was sterben wird, wie Nietzsche, als er am 3. Januar 1889 weinend einem geschundenen Pferd um den Hals fiel: verrückt geworden aus MITLEID. (HK, 128)

Barthes als Erzähler seines photographischen Abenteuers identifiziert sich am Ende seines Denkwegs mit Nietzsche im Augenblick des Zusammenbruchs. Aufgrund dieser Identifikation verabschiedet er sich von der Vernunft, um mit demselben Schritt ins Innere des photographischen Bildraums vorzudringen. Barthes’ Trauerarbeit für die Mutter führt so zur dionysischen Auflösung des Ich, das, statt sich wiederherzustellen, ins Bild verschwindet: Sie führt zu der Erfahrung, die Barthes einige Seiten später als »Ekstase« (HK, 130) bezeichnet. In diesem Zusammenhang ist Karl Heinz Bohrers Aufsatz Nietzsches »Wahnsinn« im kulturellen System aufschlußreich, der in seinem Buch Plötzlichkeit enthalten ist. Dort weist er darauf hin, daß bei Nietzsche die Erfahrung des »Schmerzes« als »Antizipation« des »Wahnsinns« geschätzt wird.93 Daher ist gar nicht verwunderlich, wenn die unmittelbare Berührung mit dem »punctum« der Photographie die Zerrissenheit Barthes’ hervorbringt. Die Sammlung der 91 | In dem als Phasen betitelten Fragment legt er schon in Roland Barthes par Roland Barthes dar, er befinde sich seit Die Lust am Text – das heißt nach den »Phasen« von »Semiologie« und »Textualität« – in der »Phase« vom »Denken des Körpers im Zustand der Sprache« (ÜMS, 158), in der er sich hauptsächlich eben an Friedrich Nietzsche orientiere. 92 | Gilles Deleuze 2002, S. 33. 93 | Karl Heinz Bohrer 1981, S. 140.

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photographischen Bilder, die ihn durchs »punctum« verwunden und verletzen, führt bei Barthes zur rauschhaft pathetischen Zerstreuung des erzählenden Subjekts. Diese »völlige Selbstvergessenheit«, mit der Barthes ins Bildinnere hineingeht, um die photographierten Toten zu umarmen, ist eben die »dionysische Regung«, von der Nietzsche in Die Geburt der Tragödie spricht.94 In dieser leidenschaftlichen Identifikation mit dem Wahnsinn gipfelt Die helle Kammer. Es scheint im Rückblick ganz logisch, daß ein Ausbruch des Pathos die Endstation des photographischen Abenteuers darstellt. Denn es ist die ereignishafte Bewegung der Affekte, die beim späten Barthes zur Grundlage für die phototheoretische Begriffsbildung dient. Die Unterscheidung von »studium« und »punctum« basiert nämlich auf dem Affekt, den die Vernunft des Subjekts nicht beliebig kontrollieren kann. Das bedeutet andererseits auch, daß Barthes über sich selbst spricht, indem er ebenso die Begriffe »studium« und »punctum« handhabt. Die Operation mit diesen Begriffen beinhaltet notwendigerweise ein autobiographisches Moment, das die Leidenschaften des Subjekts angeht. Welches autobiographische Element spielt dann besonders bei der pathetischen Identifikation mit dem dionysischen Wahn mit? Eines, das sich selbstredend auf die Trauerarbeit bezieht. Im Paroxysmus der Wahnsinns-Szene geht es bei Barthes darum, jede Rückkehr zur bürgerlichen Gesellschaft, die eben das Vergessen der Mutter bedeutet, zu verweigern. Ihm liegt daran, dem eigenen Selbstporträt des trauernden Subjekts treu zu bleiben, das im Fortgang des zweiten Teils von Die helle Kammer entworfen wird. Statt die Mutter zu vergessen, verläßt er die Vernunft, um dionysisch in die photographische Welt der Toten überzuspringen. Dieser ekstatische Sprung ins Totenreich ist ein eminentes autobiographisches Element, das Barthes im Anschluß an den Autor von Ecce homo artikuliert. Dem Sprung kann jedoch eigentlich nichts im ›wirklichen‹ Leben Barthes’ genau entsprechen. Vielmehr handelt es sich hier um einen autobiographischen Akt, der einzig im Raum des Textes zu vollziehen ist. Barthes’ Autobiographik impliziert, wie wir bereits bei anderen Autobiographen nach 1900 wie etwa Proust und Brinkmann gesehen haben, als entscheidendes Moment die Wiederholung ohne Ursprung: Sie setzt ihre unvordenkliche Eigenbewegung des literarischen Textes durch, statt wirklichkeitsgetreu wiederzugeben, was immer schon gegeben scheint. 94 | Friedrich Nietzsche 1999, Bd. 1, S. 29.

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Auf den 47. Text Verrücktheit, Mitleid, der bisher zur Debatte stand, folgt nun tatsächlich der letzte Text von Die helle Kammer, dessen Titel Die gezähmte Photographie heißt. Er liest sich als eine Art Schlußbemerkung, die sich im Gegensatz zum 47. Text durch eine gewisse Gelassenheit auszeichnet. Dort zieht Barthes aus dem photographischen Abenteuer Bilanz, und er formuliert zwei alternative Begriffe der Photographie: Ist die PHOTOGRAPHIE nun verrückt oder zahm? Sie kann eines so gut wie das andere sein: zahm, wenn ihr Realismus sich in Grenzen hält, wenn er von ästhetischen oder empirischen Gewohnheiten gemildert bleibt (etwa beim Durchblättern einer Zeitschrift beim Zahnarzt oder Friseur); verrückt, wenn dieser Realismus absolut und sozusagen ursprünglich ist und somit das Signum der ZEIT ins verliebte und erschreckte Bewußtsein dringen läßt: wahrhaftig eine Umkehrbewegung, die den Lauf der Dinge wendet und die ich abschließend die photographische Ekstase nennen möchte. (HL, 130)

Das Entweder-Oder, mit dem man seit dem 19. Jahrhundert das Wesen der Photographie diskursiviert, ist Kunst oder Technik. Bei Barthes wird eine unerhörte Alternative gestellt: »verrückt oder zahm«. Dabei steht außer allem Zweifel, daß sich Barthes für die »verrückte« Photographie entschieden hat. Als autobiographisches Subjekt in der Trauersituation interessiert ihn einzig und allein der »absolute« Realismus der Photographie, der in ihm die »Ekstase« hervorruft, das heißt, ihm ermöglicht, in den Bildraum einzudringen und die Toten zu »umarmen« (HK, 128). Nun gilt es, in diesem Kontext aufs neue die neoplatonische Metaphorik des Lichts in Betracht zu ziehen. Bemerkenswerterweise scheint diese Metapher für die metaphysische Wahrheit bei Barthes mit der dionysischen »Ekstase« der »verrückten« Photographie kompatibel zu sein. Barthes schreibt über das »Licht« der Photographie: Die PHOTOGRAPHIE ist, wörtlich verstanden, eine Emanation des Referenten. Von einem realen Objekt, das einmal da war, sind Strahlen ausgegangen, die mich erreichen, der ich hier bin; die Dauer der Übertragung zählt wenig; die Photographie des verschwundenen Wesens berührt mich wie das Licht eines Sterns. (HK, 91)

Die »wörtlich verstandene« Photographie ist die Lichtschrift (photo-graphie), die sich einer »Emanation« im neuplatonischen Sinne verdankt.

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Dieses Licht der Wahrheit ist bei Barthes mit dem nicht-repräsentierbaren Dunkel des dionysischen Wahns nicht inkompatibel. Denn im zweiten Teil von Die helle Kammer erscheinen sie, Licht und Wahnsinn, als Figuren miteinander verbunden, um das einzige Ziel zu erreichen: die Wesenszüge der Photographie, die das Photo der Mutter im Wintergarten offenbarte, nachzuzeichnen. Folgt man Hans Blumenbergs Aufsatz über Licht als Metapher der Wahrheit, laufen in der neuplatonischen Philosophie das Licht und die Dunkelheit zuallerletzt auf dasselbe hinaus.95 So können sich auch bei Barthes die extremen Pole von wahrem Licht und dunklem Wahnsinn berühren. Diese eigentümliche Konvergenz von Wahnsinn und Licht ist für Barthes bereits dem Wintergarten-Photo immanent. Bemerkt er doch, daß er darin die letzte Musik seines Lieblingskomponisten Robert Schumann96 hört: Gesänge der Frühe. Dabei denkt er daran, daß der romantische Komponist diese Hymne an das anwachsende Morgenlicht schrieb, eben »bevor er in Umnachtung sank« (HK, 80). Offenbar korrespondiert diese Passage mit der bereits dargelegten Klimax, die in der ekstatischen Identifikation mit Nietzsche besteht, der einige Monate vor seiner »Umnachtung« Ecce homo schrieb. Die Koppelung von Schumann und Nietzsche ist keineswegs zufällig, denn auch »Nietzsches Wahnsinn hört«, Manfred Schneider zufolge, »auf die romantische Poetik und Hermeneutik«.97 Die WahnsinnKonzeption in der romantischen Literatur und Psychiatrie, deren »vier Hauptsymptome« in »Automatismus, Wortmißbrauch, ruinierte Differenz von innen/außen, Verlust des Kontingenzsinns«98 liegen, verliert auch im 20. Jahrhundert ihre Wirkung nicht. Sie wirkt noch, so Schneider, bei Nietzsche, Paul Schreber, Ernst Jünger und auch in heutigen Filmen wie etwa Das Schweigen der Lämmer nach. Barthes’ Verschwinden in den photographischen Innenraum schreibt sich auch in diese Tradition ein. Der »absolute Realismus« der Lichtschrift als Abschaffung der »Differenz von innen/außen« steht in Zusammenhang mit dem »hermeneutischen

95 | Hans Blumenberg 2001, S. 145. 96 | Vgl. insbesondere Barthes’ Essay Schumann lieben. Roland Barthes 1990, S. 293-298. 97 | Manfred Schneider 1999b, S. 245. 98 | Manfred Schneider 1999b, S. 244.

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Delirium«99 seit der Romantik, für das bei Barthes Schumann und Nietzsche stehen. Der Wahnsinn in romantischen Schüben und das Licht der neuplatonischen Metaphysik sind also zwei figurative Extreme, deren konvergierende Bewegungen den abenteuerlichen Gang des zweiten Teils von Die helle Kammer bestimmen. Von hier aus lohnt sich noch einmal der Blick zurück auf das Wintergarten-Photo, von dem Barthes’ Denken über die Photographie geleitet wird: Es ist augenfällig, daß dieses Photo selbst durch Lichtmetaphorik die rätselhafte Helle des Buchtitels La chambre claire andeutet. Der »Wintergarten mit verglastem Dach« (HK, 77) ist eine Anlage, die dem »Lichthof« in der Szene von Ostia in den Bekenntnissen von Augustinus über Jahrhunderte hinweg ähnelt.100 Es kommt noch die Bemerkung über die »Klarheit« (HK, 76) der mütterlichen Augen hinzu. Von diesem »hellen« Photo geleitet, vermag Barthes an einer Stelle die Photographie überhaupt auf das optische Medium der camera lucida zurückzuführen: Zu Unrecht bringt man sie [die PHOTOGRAPHIE, K. K.], aufgrund ihres technischen Ursprungs, mit der Vorstellung eines dunklen Durchgangs in Zusammenhang (camera obscura). Man müßte camera lucida sagen (so wurde ein Apparat genannt, ein Vorläufer der Kamera, mit dessen Hilfe man einen Gegenstand durch ein Prisma hindurch zeichnen konnte, das eine Auge auf die Vorlage, das andere auf das Papier gerichtet) […]. (HK, 117)

Als Die helle Kammer 1980 in Buchform erscheint, wird auf dem Deckel ein kleines Bild mit einem Maler darauf abgedruckt, der im Begriff ist, eine junge Dame anhand der camera lucida zu zeichnen.101 Das Bild, das wahrscheinlich aus Beaumont Newhalls Geschichte der Photographie entnommen wurde,102 heißt Notice sur l’usage de la chambre claire von Vincent Chevalier.103 Es spielt im voraus auf die Beziehung von dem optischen Medium und dem Buchtitel an. Der Behauptung Barthes’, daß die Photographie als 99 | Manfred Schneider 1999b, S. 245. 100 | Anselm Haverkamp 1993, S. 61. 101 | Roland Barthes 1980. 102 | Die französische Übersetzung dieses Buchs steht im Quellenverzeichnis von Die helle Kammer. 103 | Beaumont Newhall 1998, S. 11.

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Technik von der camera lucida herrühre, mangelt jedoch jede photographiegeschichtliche oder phototheoretische Begründung. Bemerkenswert ist dabei, daß sich Barthes selbst anscheinend nicht dazu verpflichtet fühlte, sei es theoretisch, sei es historisch plausible Argumentationen anzuführen. Denn er schließt die angeführte Passage nur mit einem Zitat aus Maurice Blanchots Buch Der Gesang der Sirenen ab. Seine unerhörte Idee von der Abstammung der Photographie von der camera lucida, mit der der Buchtitel wesentlich zusammenhängt, gründet sich also hauptsächlich auf eine Kette von Licht-Metaphern. In dieser Hinsicht kommt es Barthes auf eine gewisse poetologische Konsequenz an, nicht auf eine medientheoretische oder medienhistorische Plausibilität. Kein Photographiehistoriker würde die in Die helle Kammer metaphorisch hergestellte Genealogie ernstnehmen. In Helmut Gernsheims Buch über die Photographiegeschichte steht über die camera lucida geschrieben: WILLIAM HYDE WOLLASTON’s camera lucida, introduced in 1807, is not a camera at all – as is often mistakenly assumed, perhaps because Fox Talbot at one time drew with its aid – but a small optical instrument for drawing in broad daylight by means of prism, the artist saw a virtual image on his paper which facilitated the delineation of the object or view, but the image was not visible to anyone but the user of the instrument. It will be evident that there is no connection between this instrument and Dr Hooke’s camera lucida already referred to; and in Wollaston’s the name ›camera‹ was certainly misapplied.104

Insofern der optische Apparat, den der englische Wissenschaftler erfand, auf einem Prisma basiert, ist er kaum eine Kamera zu nennen. Eine derartig vernünftige Behauptung vorzubringen liegt Barthes fern. Ihm gilt es, eine poetologische Logik durchzusetzen, wenn er die Photographie auf die camera lucida bezieht. Diese Logik besteht einerseits, wie bereits gesagt, aus einer Kette von Licht-Metaphern. Andererseits ist sie aber auch metonymischer Natur: Wesenszüge der Photographie müssen eben deshalb von der camera lucida abstammen, weil das Wintergarten-Photo in den Augen des Schriftstellers gerade als Prisma der camera lucida funktioniert. Beschließt Barthes nämlich, »die ganze PHOTOGRAPHIE (›ihre Natur‹) aus dem einzigen Photo ›hervorzuholen‹«, dann besagt 104 | Helmut Gernsheim 1969, S. 29.

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dies insbesondere, daß sein Diskurs über die Photographie stets aus dem Licht stammt, das gerade das Prisma des Wintergarten-Photos sammelt. Barthes’ Schrift über die Photographie zeichnet einfach nach, was das Prisma als das nur für ihn sichtbare Bild projiziert. So stellt Die helle Kammer selbst eine Lichtschrift dar, die dadurch entsteht, daß Barthes das vom prismatischen Wintergarten-Photo gesammelte Licht in die Schrift transfiguriert. »La chambre claire« behandelt die Photographie nicht nur als Thema, sondern zeigt sich selbst als eine gewisse Übersetzung der Lichtschrift. Diese Konstruktion der prismatisch hergestellten Lichtschrift wird durch die kategoriale Unsichtbarkeit des Wintergarten-Photos im Buch inszeniert. Das Wintergarten-Photo wird nämlich – anders als andere Photos, die Barthes kommentiert – im Buch nicht reproduziert. Es ist ein einzigartiges Dokument, das doch gar nicht zur Dokumentation taugt. Das entscheidende Bild der Wahrheit allein, auf dem Barthes die verstorbene Mutter »wiederfindet«, läßt sich als autobiographisches Medium nicht präsentieren: »Ich kann das PHOTO aus dem Wintergarten nicht zeigen. Es existiert ausschließlich für mich.« (HK, 83) Doris Kolesch beschreibt hierzu eine interessante Beobachtung, indem sie Die helle Kammer zusammen mit Der Liebhaber von Marguerite Duras liest: Für beide autobiographischen Texte ist die »Abwesenheit des Photos«105 konstitutiv. Die Mekong-Überquerung, bei der die Ich-Erzählerin als 15jährige ihren ersten Liebhaber trifft, stellt für sie eine lebensgeschichtlich entscheidende Szene im Übergang vom Kind zur Frau dar, von der es doch keine Photographie gibt: Es hätte existieren, eine Fotografie hätte aufgenommen werden können, wie eine andere auch, anderswo, unter anderen Umständen.106

105 | Doris Kolesch 1995, S. 202: »La chambre claire und L’amant von Duras kreisen beide um eine Photographie. Diese Photographie scheint der Auslöser und die Bedingung der Möglichkeit des Textes zu sein. Gleichzeitig aber existiert dieses Photo entweder gar nicht (L’amant) oder ist seine Existenz zumindest nicht belegt (La chambre claire). Die Abwesenheit des Photos öffnet überhaupt erst den Raum der Schrift.« 106 | Marguerite Duras 1989, S. 17.

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Der entscheidende Augenblick allein kann nicht photographiert werden. Die Begegnungs-Szene auf der Fähre erlangt aber eben aufgrund des Fehlens einer Photographie »die Kraft, ein Absolutes zu verkörpern«.107 So kommt das verborgene, nicht photographierte Bild im Buch hartnäckig wie ein Leitmotiv immer wieder zurück. Ähnlich steht es mit dem nicht reproduzierten Wintergarten-Photo, das als nicht-reproduzierbares das leere Zentrum des Buchs darstellt. Ihm verdankt Barthes’ Photographie-Buch alles, insofern das diaphane Licht, das seine Schrift nachzeichnet, einzig und allein durch das Prisma des Wintergarten-Photos hindurchscheint. Es geht um eine metonymische Komposition, aufgrund der sich das nicht abgedruckte Photo mit der Schrift verbindet. Immer wieder auf die Kraft der Metonymie in Die helle Kammer hinweisend, schreibt Jacques Derrida in seinem Nachruf über Die Tode von Roland Barthes: Die PHOTOGRAPHIE des WINTERGARTENS: das unsichtbare punctum des Buchs. Sie gehört nicht zum Korpus der gezeigten Photographien, zur Reihe der Beispiele, die er analysiert und vorführt. Dennoch strahlt sie auf das ganze Buch aus. Eine Art strahlende Heiterkeit entströmt den Augen seiner Mutter, deren Helligkeit beschrieben und nie gezeigt wird.108

In dem Sinne, daß die Photographie des Wintergartens, auf der er die Mutter ein für allemal »wiederfindet«, jene Lichtquelle darstellt, die metonymisch auf alle Zeilen wirkt, ist das letzte Buch Barthes’ eine autobiographische Verewigung der Mutter.109 In demselben Nu verschwindet jedoch der Autor, von der gesellschaftlichen Vernunft Abschied nehmend, ins Innen des Lichtbilds, das er bespricht und beschreibt. Diese »Umnachtung« ist ein autobiographischer Akt, den Barthes in dem Augenblick vollzieht, in dem die Arbeit an der Photographie endet. Nachdem seine Autobiographik als ironisches Schauspiel des Imaginären mit dem Tod der Mutter unhaltbar geworden 107 | Marguerite Duras 1989, S. 18. 108 | Jacques Derrida 1988, S. 42. 109 | Louis-Jean Calvet 1993, S. 324: »Er muß noch einige weniger wichtige Fragen klären, ist sich etwa unschlüssig, ob er ›die Photographie aus dem Wintergarten‹, auf dem seine Mutter im Alter von fünf Jahren mit ihrem siebenjährigen Bruder zu sehen ist, ins Buch aufnehmen soll oder nicht. ›Ich glaube, mein Text soll es ersetzen‹, meint er zu Michel Bouvard, ›für es einspringen‹.«

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ist, schreibt Barthes als letztes Kapitel seiner Autobiographie das eigene dionysische Wahnsinnig-Werden. Der musikalische Nebentitel Note sur la photographie steht in dieser Hinsicht für die Bilderlosigkeit dieses dynamischen Ereignisses, in das Barthes als Nachfolger von Schumann und Nietzsche sinkt. Hat doch seit Nietzsches Buch über die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik das Dionysische alle Repräsentierbarkeit verloren. In diesem bilderlosen Wahnsinn versucht Barthes seine Treue zu dem Licht zu bewahren, zu der Nabelschnur, die ihn mit der verstorbenen Mutter verbindet. So hinterläßt er von sich selbst jedoch nur noch Spuren des Verschwindens.

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5. Autobiographie als Archäologie der Lebensgeschichten: Sebalds Die Ausgewanderten

5.1 B IOGR APHIK UND A UTOBIOGR APHIK S EBALDS »Empirisch wie theoretisch erweist sich die Autobiographie als ungeeignetes Objekt für eine gattungstheoretische Definition.« (Paul de Man)

Der Erzählband Die Ausgewanderten (1992) bietet keine autobiographische Darstellung im gängigen Sinne: Er macht nicht den Autor W.G. Sebald, sondern vier »Ausgewanderte« namens Dr. Henry Selwyn, Paul Bereyter, Ambros Adelwarth und Max Aurach zum Hauptgegenstand. Diese Erzählungen, die nach der Aussage des Autors in einem Interview »im wesentlichen« reale Geschichten »mit einigen kleinen Veränderungen«1 sind, tragen alle die Namen der genannten Hauptfiguren als ihre jeweiligen Titel. Sie scheinen also zumindest auf den ersten Blick weniger autobiographisch als vielmehr biographisch zu sein: Anhand zahlreicher photographischer Abbildungen, die eine dokumentarische Dimension des Textes 1 | Carole Angier 1997, S. 47. Eine Seite später in demselben Interview präzisiert Sebald die Aussage: »Alles Wichtige entspricht der Wahrheit. Die großen Ereignisse – etwa der Lehrer, der seinen Kopf auf die Eisenbahnschienen legt – die könnte man für arrangiert halten, aus Gründen des dramatischen Effektes. Tatsächlich aber sind sie alle wahr. Die Erfindung kommt meist auf der Ebene der kleinen Details ins Spiel, um l’effet du réel zu erzielen.« (Carole Angier 1997, S. 48)

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suggerieren, und mit Sprech- bzw. Schreibakten, die die Authentizität des Erzählten intendieren, und zwar mit Erinnerungen, Dialogen, Zitaten, Mitteilungen, Recherchieren, Materialsammlungen etc., rekonstruiert der Ich-Erzähler die Lebensläufe derjenigen, die, wie der Buchtitel schon deutlich ankündigt, ihrer Heimat den Rücken gekehrt haben. Es fällt dabei sogleich auf, daß eine Auseinandersetzung mit der jüdischen Leidensgeschichte im 20. Jahrhundert – wie später auch in Austerlitz (2001) – eine relevante Ebene des Erzählbands ausmacht. Zwei von den »Ausgewanderten«, Selwy und Aurach, die die Protagonisten der ersten und der letzten Erzählung darstellen, sind Juden. Im Unterschied zu ihnen sind Bereyter und Adelwarth, die Protagonisten der zweiten und der dritten Erzählung, gleichsam Übergangsfiguren zwischen Deutschen und Juden. Der erste hat nämlich einen jüdischen Großvater. Der letzte ist ein Deutscher, der als Butler bei der jüdischen Bankierfamilie Solomon in New York arbeitete. Die vier Protagonisten haben also bei allen Unterschieden jeweils mit Schicksalen des ersten Diaspora-Volks im 20. Jahrhundert zu tun. Die Auswanderung ist in dieser Hinsicht ein Synonym für die Zerstreuung. Die Sammlung der vier Biographien von Die Ausgewanderten impliziert daher eine Erinnerungsarbeit an Angehörigen der Diaspora, mit der Sebald gegen die von ihm selbst konstatierte »Erinnerungslosigkeit der Deutschen« (AW, 338) nach dem Zweiten Weltkrieg kämpft. Unermüdlich gräbt er verschüttete Lebensspuren aus, die in der deutschen Nachkriegsgesellschaft sonst achtlos vergessen worden sind. Abgesehen von diesem augenfälligen Bezug auf die Zerstreuung der Juden läßt sich die Auswanderung, die hier erzählt wird, je nach dem Protagonisten auf ein unterschiedliches Motiv zurückführen: auf die Migration der Familie aus Litauen nach England bei Selwyn, auf den Groll gegen die Allgäuer Heimatstadt S. bei Bereyter, auf die Arbeitssuche bei Adelwarth und auf den nationalsozialistischen Antisemitismus bei Aurach. Wie motiviert ihre Auswanderung auch jeweils sein mag, sie erweist sich jedesmal als entscheidendes Moment ihrer Lebensläufe: Das Verlassen des Herkunftsorts bestimmt die Position der Protagonisten als entfremdete Subjekte. Sebalds Begriff der »Ausgewanderten« definiert sich also auf der biographischen Ebene durch einen Heimatverlust, der für das Subjekt eine unwiderrufliche Spaltung von sich selbst bedeutet. Bezüglich dieser irreduziblen Entfremdung spricht Michael Niehaus, im Rekurs auf Friedrich

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Schillers ästhetische Schrift, von der »sentimentalischen«2 Literatur Sebalds. Aus dieser Sicht ist sein erstes literarisches Werk nicht ohne Grund ein langes Gedicht mit dem bedeutsam doppeldeutigen Titel Nach der Natur (1988): Bei Sebald läßt sich die Heimat niemals als Idylle, sondern ausschließlich als etwas Verlorenes erfahren, das man nur noch »sentimentalisch« betrachten kann.3 Und die Leiden der »Ausgewanderten« an dieser nie wiedergutzumachenden Entfremdung durch Heimatverlust sind ein durchgängiges Thema des Erzählbands. Darin wird, mit anderen Worten, das Motiv des Unglücks der Heimatlosen vier Male variiert und mit einer offensichtlichen Intensivierung wiederholt: Jede Erzählung, die Sebald mit seiner zugleich tief melancholischen und ironischen Stimme erzählt, wird immer umfangreicher als die vorangehende. Die einzelnen Erzählungen, die einerseits an sich abgeschlossen zu sein scheinen, knüpfen sich andererseits aneinander durch die gesteigerte Motivwiederholung des lebensgeschichtlichen Desasters von den entwurzelten Subjekten.4 Selwyn und Bereyter begehen im hohen Lebensalter Selbstmord. Der gleiche Selbstzerstörungsdrang zeigt sich auch bei Adelwarth im Alter: In einer psychiatrischen Klinik stirbt er einen Tod, der sich quasi mit einem Freitod gleichsetzen läßt. Hier handelt es sich um ein dreimals wiederholtes Schicksal, das auch an die ähnlichen Fälle von Jean Améry und Primo Levi erinnert.5 Ihm entgeht nur der letzte Protagonist Aurach ausnahmsweise, weil er vielleicht als Maler Lebensnot zu sublimieren vermag. Jedenfalls ist die motivische Wiederholung bei Sebald zuallererst das narrative Prinzip, das den Leidens- und Unglücksgeschichten der »Ausgewanderten« die Struk2 | Schillers Theorie von der naiven und der sentimentalischen Dichtung befindet sich noch diesseits der Kategorie der Fiktionalität. Deshalb ist sie geeignet, Sebalds Texte zu beschreiben, die sich weigern, weder als einfache Fiktion noch als einfache Dokmentation gelesen zu werden. Vgl. hierzu Michael Niehaus 2006. 3 | Zum Heimatbegriff vgl. W.G. Sebald 2003a, S. 11-16. Vgl. auch Susanne Finke 1997; Anne Fuchs 2006. 4 | Stefanie Harris 2001, S. 386. 5 | Sebald selber erwähnt in einem Interview diesen Zusammenhang: »Es handelt sich um Leute, die spät eingeholt werden von der Erkenntnis dessen, was damals wirklich war. Diese Erkenntnis zerstört ihnen nicht so sehr die Lebensgrundlage, sondern den Lebenswillen. Dafür finden sich so sehr viele Beispiele, Jean Améry oder auch Primo Levi.« (Marco Poltronieri 1997, S. 143) Vgl. hierzu auch W.G. Sebald 2003a, S. 131-144; W.G. Sebald 2006b, S. 149-170.

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tur des Schicksalhaften verleiht. Ähnlich wie bei anderen Schriftstellern im 20. Jahrhundert, die mit Blick auf die Photographie die Autobiographik umorganisierten, ist auch bei Sebald die Wiederholung ein literarisches Konstruktionsprinzip. Diese – so heißt es im Untertitel des Bandes – »vier langen Erzählungen« sind jedoch nicht allein biographisch, sondern in gewisser Hinsicht auch autobiographisch. Sie werden von einem Ich-Erzähler erzählt, der dann und wann dem Autor Sebald zum Verwechseln ähnlich erscheint.6 Alle Erzählungen des Bandes werden nicht nur von demselben Ich-Erzähler erzählt, sondern sie enthalten auch mehrfache Anspielungen auf seine Identität mit dem Autor Sebald. Autobiographische Komponenten werden dabei auch suggeriert durch die Montage von Photographien und anderen Bildmaterialien wie etwa von einem Zeitungsartikel (AW, 37) oder einem Fahrschein (AW, 338), die in ihrer Referentialität als technische Bilder eine dokumentarische Dimension des Textes darzustellen scheinen. Bei Sebald zeigt sich zwar nirgendwo das Subjekt, das in unerschütterlicher Souveränität in sich selbst ruhend seine Lebensgeschichte erzählen könnte, und er schließt auch keinen »autobiographischen Pakt«.7 Er verstreut aber immer wieder seine autobiographischen Daten in die zum Teil offensichtlich fiktionalen Texte. Dazu gibt es noch ein autobiographisches Moment im Verhältnis des erzählenden Ich zu seinen Protagonisten. Der Ich-Erzähler verbindet sich nämlich biographisch mit den vier »Ausgewanderten«: Für ihn ist Selwyn Vermieter in Norwich, Bereyter Schullehrer aus der Kindheit, Adelwarth der Großonkel, den er freilich als Kind nur einmal sah, Aurach ein befreundeter Künstler. Und erst von diesen persönlichen Konnexen ausgehend, rekonstruiert er die Lebensläufe und Leidensgeschichten der »Ausgewanderten«. Außerdem zählt Sebald selbst zum Geschlecht der »Ausgewanderten«. Susanne Finke bezeichnet ihn daher zu Recht als den »fünften Ausgewanderten«.8 Er ist einer der heimatlosen und dadurch entfremdeten Subjekte, von deren Leiden er erzählt. Wegen dieser Relationen des Ich-Erzählers zu den »Ausgewanderten« lassen sich aus seinen biographischen Erzählungen auf das Leben des erzählenden Ich Rückschlüsse 6 | Vgl. hierzu etwa Michael Braun/Hermann Wallmann 1997, S. 119, Oliver Sill 1997, S. 597f.; Ruth Klüger 2003, S. 95. 7 | Philippe Lejeune 1994. 8 | Sunanne Finke 1997.

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ziehen.9 Sebald selbst äußert sich in einem Interview ausdrücklich darüber. Die folgende Aussage betrifft eben Die Ausgewanderten: Es ist äußerst schwierig, über sich selbst zu schreiben, ohne larmoyant zu wirken. […] Ich beschreibe das Leben anderer Leute, die in einem gewissen Verhältnis zu mir standen. Das ist so wie in der Algebra. Wenn man sich selbst als x bezeichnet, dann kann man ja den Wert von x bestimmen durch die anderen Faktoren der Gleichung, die bekannten. Die Unbekannte ist man selbst. Wenn man will, kann man aus dem Text extrapolieren, was das für ein Mensch ist. Ich glaube auch, daß man heute nicht mehr so schreiben kann, als sei der Erzähler eine wertfreie Instanz.10

Seine biographischen Erzählungen verbergen also ein autobiographisches Subjekt von besonderem Schlag: Es geht um das Subjekt als ein »x«, dessen Wert man nur aus seinem Erzählen über das Leben »anderer Leute« erschließen kann. Es stellt sich nun aber die Frage, warum Sebald dieses Umwegs bedarf, der ihn von der traditionellen Darstellungsform der Autobiographie immer weiter entfernt. Woher rührt denn die Notwendigkeit dieser durch Biographien von Anderen vermittelten Autobiographik? Als Ausgewanderter spricht der Ich-Erzähler im Rückblick auf seine Manchester-Zeit »von einem solch überwältigenden Gefühl der Ziel- und Zwecklosigkeit« (AW, 230), das seinen planlosen Wanderungen durch die ruinöse Industriestadt an Sonntagen zugrundelag. Auf einer dieser Flanerien begegnet er Max Aurach. Und die Aurach-Geschichte wird von dieser Position des ausgewanderten Subjekts her erzählt. Daß gerade die Auswanderung den Standpunkt des erzählenden Ich, das keine »wertfreie Instanz« sein kann, ausmacht, das wird insbesondere in der folgenden Episode unterstrichen. Dort handelt es sich um eine merkwürdige Teemaschine mit einer Weckeruhr, die dem Ich-Erzähler am Tag seiner Ankunft in Manchester von Mrs. Irlam im Hotel Arosa gebracht wurde:

9 | Michael Braun/Hermann Wallmann 1997, S. 119. Dieses Erzählverfahren gilt nicht nur für Die Ausgewanderten, sondern auch für andere Schriften Sebalds. Claudia Albes kommentiert etwa Sebalds Gedicht Nach der Natur folgenderweise: »Indem er von Figuren erzählt, die ihm angeblich ähnlich sind, verleiht sich der Erzähler zugleich selbst ein Gesicht.« (Claudia Albes 2006, S. 60) 10 | Marco Poltronieri 1997, S. 143f.

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Darum vielleicht ist es mir, im Zurückdenken an die Zeit meiner Ankunft in Manchester, mehrfach so gewesen, als sei der von Mrs. Irlam, von Gracie – You must call me Gracie, hatte sie gesagt –, als sei der von Gracie mir auf mein Zimmer gebrachte Teeapparat, dieses ebenso dienstfertige wie absonderliche Gerät, es gewesen, das mich durch sein nächtliches Leuchten, sein leises Sprudeln am Morgen festhalten ließ damals, als ich mich, umfangen, wie ich war, von einem mir unbegreiflichen Gefühl der Unverbundenheit, sehr leicht aus dem Leben hätte entfernen können. Very useful, these are, hatte Gracie darum nicht zu Unrecht gesagt, während sie mir an diesem Novembernachmittag die praktische Handhabung der teas-maid vorführte. (AW, 228)

Der Ich-Erzähler, der hier spricht, ist weder auktorialer Erzähler noch mit sich selbst identisch. Begreift er doch keineswegs sein eigenes »Gefühl der Unverbundenheit«. Bedenkt man, daß dieses Gefühl des Ausgewanderten mit dem Verlust der ontologischen Bodenständigkeit zu tun hat, dann ist es für ihn eben deshalb »unbegreiflich«, weil es gleichursprünglich mit seiner Auswanderung ist, die die Position bestimmt, von der her er Erfahrungen macht. Das »Gefühl der Unverbundenheit« ist dabei gar nicht harmlos, könnte unter Umständen verhängnisvoll werden. Das Zitat spielt nämlich darauf an, daß es sogar zum frühen Tod hätte führen können. Interessant ist hierzu, daß das Verb auswandern bei Sebald, wie Sven Meyer mit einem konkreten Beleg feststellt, auch »die Bedeutung von sterben« hat.11 Der Buchtitel Die Ausgewanderten kann folgerichtig auch die »Gestorbenen« bedeuten. Ironie und Melancholie der zitierten Passage rühren daher, daß die irgendwie vollzogene Überwindung des gefährlichen Einsamkeitsgefühls auf das kleine, »dienstfertige wie absonderliche Gerät« der »teas-maid« zurückgeführt wird. Diese kleine Episode suggeriert immerhin die Nicht-Übereinstimmung des ausgewanderten Ich-Erzählers mit sich selbst. Wenn er nun von anderen »Ausgewanderten« erzählt, dann geschieht dies auf dem Grund der ihm eigenen Nicht-Identität. Eine derartige Fremdheit des ausgewanderten Subjekts gegenüber sich selbst liegt dem poetologischen Umweg Sebalds zugrunde: Experimentiert er mit einer Schreibweise, die die Selbstbiographie hinter den Fremdbiographien versteckt, dann handelt es sich um die genuin moderne Konstitution des »Ich«, die die berühmte Formel Rimbauds von »Je est un autre« zum

11 | Sven Meyer 2003, S. 78.

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Ausdruck bringt.12 Die mit einem »x« vergleichbare Fremdheit des ausgewanderten Ich erlaubt ihm, seine eigene Alterität ausschließlich vermittels der Erzählungen über andere »Ausgewanderten« darzustellen. Dieser Text ist also gleichzeitig biographisch und autobiographisch. Der Erzählband Die Ausgewanderten, der den Autor Sebald nicht als direkten Gegenstand behandelt, ist innerhalb des gattungstheoretischen Denkens kaum als Autobiographie zu betrachten. In diesem Band finden sich zwar »unmissverständlich autobiographische Züge«,13 die jedoch nur wie beiläufig in den Vordergrund rücken, und zwar als Ausgangspunkt für die biographischen Erzählungen anderer ausgewanderten Subjekte. Gerade hierin liegt die Sebald eigentümliche Strategie für das autobiographische Schreiben. Er versteckt nämlich sein literarisches Selbstporträt hinter der schriftstellerischen Arbeit, die Lebensläufe der anderen »Ausgewanderten« zu rekonstruieren. Hinsichtlich dieser Autobiographik ist er mit Walter Benjamin zu vergleichen. Genauso wie der Autor der Berliner Kindheit um neunzehnhundert, dessen Name auch in Die Ausgewanderten einmal erwähnt wird (AW, 86),14 versucht Sebald, als autobiographisches Subjekt letztendlich inkognito zu bleiben. Benjamins autobiographisches Inkognito hängt, wie bereits dargelegt wurde, wesentlich mit seinem Exil zusammen: Dem deutsch-jüdischen Schriftsteller, der das nationalsozialistische Deutschland verlassen hatte, wurde eine weitgehende Reduzierung biographischer Daten aufgezwungen. Auch Sebalds autobiographisches Inkognito hat mit seinem Verlassen der Heimat zu tun. Das ausgewanderte Subjekt, das in der Fremde mit sich selbst uneins ist, vermag keine Autobiographie im traditionellen Stil mehr zu erzählen. Konturen gewinnt das Autobiographische bei ihm einzig und allein durchs Erzählen der Leidensgeschichten von anderen Ausgewanderten, mit denen er das Schicksal teilt. In diesem Zusammenhang mit der Frage der Autobiographik vom ausgewanderten Subjekt steht auch Vladimir Nabokov. Der 1919 aus dem 12 | Vgl. hierzu Oliver Sill 1997, S. 596. 13 | Ruth Klüger 2003, S. 95. 14 | Sebald kennt sich mit Benjamins Werk gut aus. Es gibt fast keinen Text im Essayband Die Beschreibung des Unglücks, in dem sich Sebald nicht auf Benjamins Schriften bezieht. Schon in der Überarbeitung seiner Magisterarbeit Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der Wilhelminischen Ära von 1969 wird Benjamin zitiert. Vgl. hierzu Sven Meyer 2003, S. 80. Zu weiteren Bezügen Sebalds auf Benjamin vgl. Claudia Öhlschläger 2006.

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kaiserlichen Rußland exilierte Schriftsteller tritt in Die Ausgewanderten als Rätselfigur immer wieder auf. In der Selwyn-Erzählung erscheint Nabokov als Schmetterlingsjäger, und zwar vermittels einer photographischen Aufnahme, die der Ich-Erzähler aus einer Schweizer Zeitschrift ausschnitt. Dieses Photo, das nicht nur kommentiert, sondern auch auf der gegenüberliegenden Seite abgebildet wird (AW, 26), gleiche einem der Reisephotos von Selwyn, die dieser eines Abends anhand eines Projektors dem Erzähler und anderen Gästen zeigte. Danach kommt Nabokov zwar immer nur flüchtig, aber doch in allen Erzählungen vor. Ambros Adelwarth, Frank Aurach und Luiza Lanzberg begegnen alle, obwohl sie an jeweils anderen Orten lebten, Nabokov mit einem Schmetterlingsnetz, ohne die Botschaft dieser rätselhaften Figur begreifen zu können. Dabei tritt Nabokov nicht allein als Schmetterlingsjäger auf, sondern auch als jener Schriftsteller, der im Exil seine Autobiographie Erinnerung, sprich verfaßte. In der BereyterGeschichte ist nämlich ausdrücklich von der »Autobiographie Nabokovs« die Rede (AW, 65): Mme. Landau, die letzte Vertraute des ehemaligen Volksschullehrers, lese in ihr, als sie ihn in Salins-les-Bains kennenlernte. Es geht hier nicht um die Interpretation der vieldeutigen, rätselhaften Nabokov-Figur.15 Es gilt vielmehr, ihren Erscheinungsmodus, das leitmotivische Wiederkehren der Figur, in Betracht zu ziehen: Ihr flüchtiges Auftauchen und Verschwinden, das sich wiederholt, stellt Querverbindungen einzelner Erzählungen her und macht dadurch die »Koinzidenz«16 der ausgewanderten Protagonisten lesbar. Der Korrespondenzpoetik Sebalds liegt also das Prinzip der Wiederholung zugrunde. Auch im Erzählband Schwindel. Gefühle. kommt eine damit vergleichbare Wiederholungserscheinung ins Spiel. Franz Kafkas Figur des Jäger Gracchus kehrt nämlich in allen vier (auto-)biographischen Erzählungen leitmotivisch wieder. Im Zusammenhang mit Die Ausgewanderten sind zumindest zwei Aspekte von diesem Rekurs auf das Erzählfragment von 1916/1917 zu beachten. Erstens kann man in Sebalds Auswahl dieses rätselhaften Leitmotivs eine Bezugnahme auf Kafkas inkognitive Selbstthematisierung des literarischen Schreibens lesen: Hinter dem Namen »Gracchus« verbirgt sich der Vogelname der Dohle, die im Tschechischen kavka

15 | Zu Ansätzen zur Interpretation der Nabokov-Figur vgl. Oliver Sill 1997, S. 621. 16 | Vgl. Marcel Atze 1997.

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heißt.17 Herrmann Kafka verwendete bekanntlich diesen Vogel als Geschäftsemblem. In diesem Licht rückt der Jäger Gracchus in »eine spezifische Nähe zu seinem Erfinder«.18 Er läßt sich also als Figur begreifen, in der Kafka inkognito »seine eigene Existenzproblematik als Schriftsteller«19 reflektiert. Indem Sebald in Schwindel. Gefühle immer wieder den Jäger Gracchus evoziert, schließt er sich an diese innerhalb der Literatur angestellte Selbstreflexion über das Schreiben an. Zweitens hat die leitmotivische Wiederkehr als Erscheinungsmodus mit der Gespensterhaftigkeit des weder lebenden noch toten Jägers Gracchus zu tun, der mit seinem Kahn alle Länder der Welt befahren und, wie der Ewige Jude oder der fliegende Holländer, ruhelos wandern muß. Aus diesem gespenstischen Jäger ist der Schmetterlingsjäger Nabokov geworden,20 denn wie jener durch Schwindel. Gefühle, so geistert dieser durch Die Ausgewanderten. Ein Exilierter, wie ihn Nabokov darstellt, führt laut Sebald immer schon ein gespenstisches Dasein: »[W]as alles man einbüßt auf dem Weg ins Exil«, so schreibt Sebald in seinem Essay Kleine Anmerkung zu Nabokov, ist »neben den Gütern des Lebens nicht zuletzt die Gewißheit von der Realität der eigenen Person.«21 Sebald bringt hier das Gespenstische und Geisterhafte in der Literatur Nabokovs in Zusammenhang mit dem Exil. In diesem Sinne ist es ganz logisch, daß der exilierte Autobiograph von Erinnerung, sprich eine gespenstische Wiederkehr erfährt, durch die er die vier biographischen Erzählungen von Die Ausgewanderten miteinander verbindet. Es ist der Spuk des heimatlosen Autobiographen, der in diesem Erzählband eine gewisse Kohärenz gewährleistet: die Schicksalhaftigkeit der wiederholten Leidensgeschichten von den »Ausgewanderten«, die jeweils in der Fremde ein entfremdetes, von sich selbst getrenntes, gespenstisches Dasein führen. Zu ihnen gehört, wie gesagt, auch der Schriftsteller Sebald. Sein autobiographisches Inkognito entspricht in dieser Hinsicht der gespenstischen Nicht-Übereinstimmung mit sich selbst, die er als Ausgewanderter durchmacht.

17 | Vgl. Hartmut Binder 1975, S. 199. 18 | Vgl. auch Thorsten Valk 2003, S. 341. 19 | Ebd. 20 | Zur Beziehung zwischen dem Jäger Gracchus und dem Schmetterlingsjäger vgl. Oliver Sill 1997. Vgl. auch Markus R. Weber 2003, S. 68. 21 | W.G. Sebald 2006b, S. 186.

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5.2 (A UTO -)B IOGR APHIK MIT P HOTOALBEN »Die Zeit ist aus den Fugen.« (William Shakespeare)

Erinnerung, sprich tritt nicht ohne Grund als ein relevanter Bezugstext in Die Ausgewanderten auf: Für Sebald stellt Nabokov einen Vorläufer dar, nicht nur als ausgewanderter Schriftsteller, sondern auch als Autobiograph, der die Photographie als Bildgedächtnis in seinen Text mit einbezieht. In Erinnerung, sprich kommentiert Nabokov nämlich wiederholt private Photos. Im zweiten Kapitel, in dem er Erinnerungen an die Mutter niederschreibt, heißt es beispielsweise über »ihre Jugendjahre«: Ihre besondere Vorliebe für braune Dachshunde verwunderte meine kritischen Tanten. In den Familienalben, die ihre Jugendjahre illustrierten, gab es kaum eine Gruppe, auf der nicht ein solches Tier zu sehen war – gewöhnlich war irgendein Teil seines flexiblen Körpers verwackelt, und immer hatte es jene seltsamen, paranoiden Augen, wie sie Dackeln auf Photographien eigentümlich sind. 22

Die Photographie der Mutter ist seit dem photographischen Zeitalter ein bevorzugtes Thema in einem autobiographischen Diskurs. Alexandra Tischel weist darauf hin, daß für die Literatur das Bild der Mutter (bzw. der Großmutter) eine Probe darauf zu sein scheint, was dieses Medium leisten kann.23 Über die Problematik des photographischen Mutterbildes hinaus gilt unser Augenmerk aber nun der Frage der autobiographischen Memoria, die das Gedächtnisbild der Photographie voraussetzt. Das Medium der »Familienalben« ermöglicht Nabokov, sich etwas zu vergegenwärtigen, von dem er selber naturgemäß keine Erinnerung hat: die Mutter vor seiner Geburt. Auf die technischen Gedächtnisbilder, die weit über sein Erin22 | Vladimir Nabokov 2005, S. 58. 23 | Vgl. Alexandra Tischel 2006, S. 37. Als Beispiel nennt sie dabei neben Proust und Barthes ferner Kracauer, Baudelaire und gerade auch Sebald. Austerlitz beinhaltet nämlich eine Episode über die »unbeschriftete Photographie einer Schauspielerin«, die der Protagonist Austerlitz im Prager Theaterarchiv entdeckte: Aufgrund seiner »verdunkelten Erinnerung an die Mutter« glaubt er die Schauspielerin auf dem Photo mit der Mutter identifizieren zu können. (W.G. Sebald 2001, S. 356)

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nerungsvermögen hinausgehen, greift der Autobiograph zurück, um die junge Mutter zu beschreiben. Die Mnemotechnik, die als ein Teil der antiken Rhetorik entwickelt wurde, funktionierte aufgrund der an bestimmte Orte (loci) gehefteten Bilder (imagines).24 Damals war schon hinreichend bekannt, daß Bilder für das Memorieren des Diskurses hilfreich sein können. Die photographische Gedächtniskunst, wie sie von Nabokov ausgeübt wird, basiert zwar auch auf Bildern, die jedoch – im Gegensatz zu denen in der antiken Merktechnik der Mnemonik – externalisiert und materialisiert sind. Durch diese mediale Externalisierung und Materialisierung der Gedächtnisbilder, die das Erinnerungsvermögen vom Auswendig-Lernen befreit, verändert sich die Aufgabe der Mnemotechik grundlegend: Statt etwas wiederzugeben, was man immer schon weiß oder zumindest wissen könnte, erinnert die photographische Gedächtniskunst an etwas, was man gar nicht mehr wissen würde ohne Photographie. Sie ist also keine Repräsentation, sondern eine Wiederholung der Vergangenheit, die ausschließlich in sich selbst ihren Ursprung hat. Erinnerung, sprich hat, worauf Sebald in seinem als Traumtexturen. Kleine Anmerkung zu Nabokov betitelten Essay aufmerksam macht, bereits in dem »programmatischen Titel«25 die Frage der Bedingung für das autobiographische Schreiben aufgeworfen. Dabei stellte Nabokov offensichtlich die mnemotechnische Innovation der technischen Gedächtnismedien, die als ursprüngliche Wiederholung begriffen werden können, als modernes Apriori für die autobiographische Literatur in Rechnung. Davon zeugt nicht nur die oben angeführte Stelle über die Mutter-Photos, sondern auch die folgende Passage aus dem ersten Abschnitt des ersten Kapitels von Erinnerung, sprich: Ich weiß jedoch von einem Chronophobiker, den so etwas wie Panik ergriff, als er zum ersten Male einige Amateurfilme sah, die ein paar Wochen vor seiner Geburt aufgenommen worden waren. Er erblickte eine praktisch unveränderte Welt – dasselbe Haus, dieselben Leute –, und dann wurde ihm klar, daß es ihn dort nicht gab und daß niemand sein Fehlen betrauerte. 26 24 | Nicolas Pethes/Jens Ruchatz 2001, S. 380f.; Frances A. Yates 2001. 25 | W.G. Sebald 2006b, S. 184. In einem Interview bekennt sich Sebald als »maßlosen Bewunderer« der Autobiographie Nabokovs. Vgl. hierzu Sven Boedekker 1993. 26 | Vladimir Nabokov 2005, S. 19.

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Die Welt »vor seiner Geburt«, die in den Filmdokumenten aufbewahrt wird, antizipiert die nach seinem Tod auch »praktisch unveränderte Welt«. Was die technischen Bilder auf eine unwiderlegbare Weise vor Augen führen, ist also der vom Subjekt unabhängige Bestand der Welt. Der Blick auf die technischen Gedächtnisbilder, auf denen die Welt ohne das Subjekt auch intakt ›da‹ ist, erschüttert den Narzißmus von Grund auf. Beachtenswert ist Sebalds Rekurs auf diese Textstelle: Ganz am Anfang seines Nabokov-Essays rekurriert er auf die zitierte Passage. Der Autor von Die Ausgewanderten betrachtet Nabokov also als einen Schriftsteller, der in Anbetracht der durch technische Gedächtnismedien bedingten Erschütterung des Subjektes über sein autobiographisches Schreiben reflektiert hat. In der Autobiographie Nabokovs gibt es noch eine andere Szene der bildtechnischen Mnemotechnik. Sie verdient besondere Aufmerksamkeit, weil sich Sebald gerade in den Ausgewanderten darauf bezieht. Es handelt sich um Nabokovs Kindheitserinnerung an die Laterna magica bzw. die »pädagogischen Lichtbildervorträge«,27 die der junge Hauslehrer Lenskij für die Kinder veranstaltete. Mit einer Projektion des »Diapositivs«28 auf die Leinwand illustrierte Lenskij Lesungen der instruktiven Dichtung: ein aufklärerisches Medienprogramm für die Kinder, das durch ein Zusammenspiel von Wort und Bild Faszination hervorrufen sollte. Das Programm der Kinderaufklärung war zwar, so erinnert sich der Autobiograph, weit davon entfernt, auf gesammelte Mädchen und Knaben sowohl belehrend als auch unterhaltend einzuwirken. Ganz im Gegenteil ging die Vorführung jedesmal so lächerlich aus, daß Nabokov als Kind den unerfahrenen Hauslehrer Lenskij mitleidig ansehen mußte. Aber bemerkenswerterweise hat das achte Kapitel, in dem die zur Debatte stehende Episode enthalten ist, gerade diese »Lichtbildervorträge« als mnemotechnisches Modell gewählt: »Ich habe vor«, so heißt es eingangs, »ein paar Lichtbilder vorzuführen.«29 Anschließend erzählt Nabokov Erinnerungen an seine Privatlehrer so, wie man gewöhnlich projizierte Dias kommentiert. Denn die »Bilder jener Erzieher erscheinen wie von einer Laterna magica projiziert im leuchtenden Kreis des Gedächtnisses«.30 Der Autobiograph beschreibt also ein Bild je-

27 | Vladimir Nabokov 2005, S. 219. 28 | Vladimir Nabokov 2005, S. 226. 29 | Vladimir Nabokov 2005, S. 204. 30 | Vladimir Nabokov 2005, S. 205.

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ner Hauslehrer nach dem anderen, als ob er ihre Bilder der im Kopf befindlichen Zauberlaterne erklären würde: Der Lehrer, der uns im Lesen und Schreiben unterrichtete, war der Sohn eines Tischlers. In der folgenden Laterna-magica-Serie zeigt mein erstes Lichtbild einen jungen Mann, den wir Ordo nannten, den aufgeklärten Sohn eines russischorthodoxen Diakons. 31

Die schon im 17. Jahrhundert populär gewordene Medientechnik der Laterna magica32 tritt hier als metaphorisches Modell für die autobiographische Memoria auf, die mit dem traditionellen Format der chronologisch geordneten Lebensgeschichte bricht und auf dem mnemotechnischen Prinzip der Wort-Bild-Kombination beruht. Als pädagogisches Mittel versagte zwar die Laterna magica, als der Hauslehrer damit operierte. Sie war schon damals kein modisches Medium mehr. Sie kann dennoch zum metaphorischen Modell für Nabokovs Erinnerungsarbeit avancieren. Denn die Zauberlaterne ist aus der Sicht des Ausgewanderten metonymisch mit seiner Kindheit verbunden. Sie ist raumzeitlich mit der Heimat verbunden, mit dem durch die Oktoberrevolution unwiederbringlich verlorengegangenen, kaiserlichen Rußland, das der seit 1917 exilierte Schriftsteller durch seine gleichzeitig ironische und melancholische Stimme evoziert. Ohne diese metonymische Kontiguität mit der verlorenen Kindheit könnte die Metapher der Laterna magica nicht in Funktion treten.33 In der Selwyn-Geschichte rekurriert Sebald zweifelsohne auf die besagte Episode der »Lichtbilderabende«. Denn er läßt Nabokov geradezu anläßlich eines Dia-Abends die Textbühne der Ausgewanderten betreten. An diesem Abend projizierte Selwyn Reisephotos für seine Gäste, zu denen auch der Ich-Erzähler zählte. Anhand der projizierten Photos erzählte er die Reise nach Kreta, die er vor zehn Jahren zusammen mit dem alten Freund Edward Ellis unternahm:

31 | Vladimir Nabokov 2005, S. 208. 32 | Zur Geschichte der Laterna magica vgl. etwa Friedrich Kittler 2002, S. 8298; Jochen Hörisch 2004, S. 245-248. 33 | Die metonymische Verbindung der Laterna magica mit der Kindheit zeigt sich auch bei Marcel Proust. Vgl. Marcel Proust 2004, Bd. I, S. 15.

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Das leise Surren des Projektors setzte ein, und der sonst unsichtbare Zimmerstaub erglänzte zitternd im Kegel des Lichts als Vorspiel vor dem Erscheinen der Bilder. Die Reise war im Frühjahr unternommen worden. Wie unter einem hellgrünen Schleier breitete vor uns die Insellandschaft sich aus. Ein paarmal sah man auch Edward mit Feldstecher und Botanisiertrommel oder Dr. Selwyn in knielangen Shorts, mit Umhängetasche und Schmetterlingsnetz. Eine der Aufnahmen glich bis in Einzelheiten einem in den Bergen oberhalb von Gstaad gemachten Foto von Nabokov, das ich ein paar Tage zuvor aus einer Schweizer Zeitschrift ausgeschnitten hatte. (AW, 26)

Der Rekurs auf den ausgewanderten Schriftsteller Nabokov, der als geheimnisvolle Rätselfigur durch alle vier Erzählungen des Bandes gespenstisch zieht, koppelt sich also von Anfang an mit der Reproduktionstechnik der Photographie. Diese Verknüpfung des Ausgewanderten mit dem Medium Photographie bestärkt sich eben dadurch, daß auf der gegenüberliegenden Seite das fragliche Photo des Schmetterlingsjägers Nabokov, das 1972 tatsächlich in Gstaad aufgenommen wurde, abgebildet wird.34 Das Photo, von dem der Erzähler gerade redet, wird gleichzeitig durch die Montage gezeigt. Zu beachten ist eine derartige, zugunsten des Eingedenkens in den Text eingespielte Kooperation von Sprache und Photographie, die gerade auf Nabokovs Autobiographie zurückbezogen werden kann. Denn in jenem Lichtbilder-Kapitel von Erinnerung, sprich, auf das Sebald hier anspielt, wird bereits mit der bildprojektionstechnisch modellierten Wort-Bild-Kombination die Erinnerungspoetik praktiziert, die dem Erzählen der chronologisch geordneten, kontinuierlichen Lebensgeschichte kategorial entgegensteht. Sebald schließt an Nabokovs Reorganisation der Autobiographik mit dem Prinzip der Memoria an. Bei Sebald, der Photos in seinen autobiographischen Text montiert, bleibt allerdings der Bezug auf technische Gedächtnisbilder nicht mehr metaphorisch. Er differenziert sich, mit anderen Worten, von seinem Bezugspunkt Nabokov durch die Photo-Montage, die der autobiographischen Memoria dient. Wenn die photographische Gedächtniskunst, wie sie bereits von Nabokov ausgeübt wird, die Imagines der antiken Mnemotechnik externalisiert und materialisiert, dann potenziert sich dieser Prozeß durch die Photo-Montage noch einmal. Ist doch die Montage die Externalisierung und Materialisierung des Bildes schlechthin. 34 | Vgl. Iris Denneler 2001, S. 133.

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Hinsichtlich der Photo-Montage wird Sebald bisweilen mit Rolf Dieter Brinkmann in Verbindung gebracht.35 Sebald, 1944 geboren, gehört nämlich nicht nur zu derselben Generation wie der 1941 geborene Brinkmann. Wie dieser operiert auch jener mit der Montage der von ihm selbst gemachten Photos und anderer photographischer Dokumente, die ihm ermöglichen sollen, seiner literarischen Darstellung eine gewisse Authentizität zu verleihen: Die meisten der 86 Abbildungen in Die Ausgewanderten sind photographischer Natur. Thomas von Steinaecker vergleicht in seinen Ausführungen über Literarische Foto-Texte diverse Funktionen der photographischen Bilder bei Brinkmann und Sebald, wohingegen die vorliegende Untersuchung den besonderen Akzent auf das Autobiographische des Schreibens mithilfe der Photographie legt. Aus dieser Sicht fällt es ohne weiteres auf, daß Sebald mit Brinkmann darin übereinstimmt, in einem kritischen Verhältnis zum photographischen Selbstporträt zu stehen. Im zweiten, All’estero betitelten Kapitel von Schwindel. Gefühle. wird beispielsweise Sebalds Paßphoto abgebildet.36 Analog zu Brinkmann in Rom, Blicke montiert er in den autobiographischen Text ausgerechnet das Photoporträt ein, dessen Zweck die polizeiliche und administrative Identifizierung des Subjektes darstellt. Dabei distanziert sich Sebald auf eine unverkennbare Weise von dieser Ausweisfunktion des Lichtbildes. Denn darauf wird Sebalds Physiognomie von einem durch das Photo vertikal laufenden, schwarzen Balken zerschnitten und halb verborgen. Genauso wie Brinkmann sieht Sebald in seinem photographierten Gesicht keine Darstellung der inneren Wahrheit, sondern nur noch die »Organisation von Macht«.37 Das photographische Selbstporträt kann für ihn auch kein autobiographisches Medium sein.38 Eine derartige Distanznahme von der photographischen Selbstdarstellung zeigt sich gleichfalls in Die Ausgewanderten. Das in die Adelwarth-Geschichte eingerückte Photo, auf dem der Ich-Erzähler am Strand zu sehen ist, ist ein im Gegenlicht aufgenommener Schnappschuß: Die Aufnahme zeigt lediglich den Schatten des Ich-Erzählers, macht keine Gesichtszüge von ihm erkennbar. (AW, 130) Dennoch scheint es in diesem 35 | Vgl. Hugo Dittberner 2003, S. 10. Rüdiger Görner 2003, S. 27. Thomas von Steinaecker 2007, S. 315-321. 36 | W.G. Sebald 2002a, S. 129. 37 | Gilles Deleuze/Félix Guattari 1997, S. 241. 38 | Zu weiteren Aspekten dieses Paßphotos vgl. Thomas von Steinaecker 2007, S. 255f.

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silhouettenhaften Photo eben um den Schriftsteller W.G. Sebald zu gehen. Durch diese vage, dunkle und im Grunde genommen nicht verifizierbare Ähnlichkeit von Ich-Erzähler und Herrn Sebald spielt das Gegenlicht-Photo in subtiler Weise auf das Autobiographische an: das autobiographische Inkognito bei Sebald, das geradezu durch das photographische Porträt als Gegen-Lichtbild zum Ausdruck gebracht wird. Nachzuzeichnen ist aber eine bedeutsame Trennungslinie zwischen Sebald und Brinkmann. In Rom, Blicke geht es Brinkmann um die Ästhetik der Momentaufnahme: Er versucht seine durch einen radikalen Bruch mit dem Zeitfluß definierte Gegenwart je augenblicklich zu fassen. Dagegen visiert Sebald eine durch unterschiedliche Photos vermittelte Vergangenheit. Die oben erörterte Szene der Photo-Projektion von Selwyn ist eines unter anderen Beispielen dafür: Der Ich-Erzähler von Die Ausgewanderten rekurriert immer wieder auf photographische Bilder, um alte, beinah vergessene Lebensgeschichten der »Ausgewanderten« zu erfassen.39 Die Photographie ist für Sebald also vor allen Dingen ein biographisches Medium. Ganz logisch ist daher, daß er im Gegensatz zu Brinkmann auf das Medium Photoalbum als (auto-)biographische Informationsquelle großen Wert legt: »Familien-Fotoalben sind«, so heißt es in einem viel zitierten Interview, »ein Schatz an Information. Ein einziges Familienfoto ersetzt viele Seiten Text.«40 Die Lebensgeschichte von Bereyter etwa wird anhand seines Photoalbums heraufbeschworen, in dem, »von einigen Leerstellen abgesehen, fast das gesamte Leben Paul Bereyters fotografisch dokumentiert und von seiner eigenen Hand annotiert war«. (AW, 68) Um durch das Schweigen des verstorbenen Volksschullehrers hindurch seinen Lebensstationen nachzugehen, bezieht sich der Ich-Erzähler immer wieder auf die Albumphotos. Der Bezug ist dabei nicht lediglich kommentatorisch, sondern die kommentierten Photos werden zugleich in den Text einmontiert. Aus dem Photoalbum Bereyters wird beispielsweise ein Photo aus seiner Ausbildungszeit in der »Lehrerabrichtungsanstalt Lauingen« (AW, 69) abgedruckt. Oder abgebildet wird sein Klassenzimmer in der Volksschule von S., in dem auch der Ich-Erzähler Schüler war. Helen Hollaender, mit der Bereyter »eine der schönsten Zeiten überhaupt im Leben« (AW, 71) verbracht hat, ist auf vier Photos zu sehen. Die Erzählung gehorcht dabei in dem Maße, wie sich der Ich-Erzähler auf das Photoalbum als »Schatz an 39 | Zur Photographie in Die Ausgewanderten vgl. Stefanie Harris 2001. 40 | Sigrid Löffler 1997, S. 136.

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Information« stützt, gerade seiner medialen Ordnung. Es geht hier um die Ordnung des Photoalbums, das als Archiv der Lebensgeschichte darüber entscheidet, bestimmte Lebensdaten ein- oder auszuschließen. Der Lauf und der Rhythmus der sebaldschen Erzählung werden von dieser Logik der gedächtnismedialen Selektion mit bestimmt. Das trifft insbesondere auf die Narration der biographischen Geschichte von Ambros Adelwarth zu, dem Großonkel des Ich-Erzählers. Ohne Gedächtnisbilder aus dem »Fotoalbum der Mutter« würde die Erzählung nicht sein, was sie gerade ist. Denn für den Ich-Erzähler lag, obgleich die Verwandten mütterlicherseits dorthin ausgewandert waren, lange Zeit der Gedanke fern, nach Amerika zu reisen: Dennoch bin ich schließlich nach Newark geflogen, und zwar am zweiten Januar 1981. Der Anlaß für diesen Sinneswandel ist ein mir einige Monate zuvor in die Hände gefallenes Fotoalbum der Mutter gewesen, welches eine Reihe mir gänzlich unbekannter Aufnahmen unserer in der Weimarer Zeit ausgewanderten Verwandten enthielt. Je länger ich die Fotografien studierte, desto nachdrücklicher begann sich in mir das Bedürfnis zu regen, mehr über die Lebensläufe der auf ihnen Abgebildeten in Erfahrung zu bringen. Die nachstehende Fotografie beispielsweise wurde im März 1939 in der Bronx gemacht. Ganz links sitzt die Lina neben dem Kasimir. Ganz rechts sitzt die Tante Theres. Die anderen Leute auf dem Kanapee kenne ich nicht, bis auf das kleine Kind mit der Brille. Das ist die Flossie, die nachmals Sekretärin in Tucson/Arizona geworden ist und mit über fünfzig noch das Bauchtanzen gelernt hat. (AW, 103f.)

In dem Maß, wie die Albumbilder das familiengeschichtliche Wissen des Ich-Erzählers erweitern, regulieren sie den Fortgang seiner Erzählung. Auf der Handlungsebene wird seine Reise in die USA vom »Fotoalbum der Mutter« veranlaßt. Von einer darin enthaltenen Aufnahme wird hier ferner der Rhythmus und Gestus der Narration bestimmt. Die ausgewanderten Verwandten werden nämlich mit deiktischen Verweisen wie »ganz links«, »ganz rechts«, »das ist« usw. vorgestellt, die dem »nachstehenden«, also tatsächlich im Buch abgedruckten Familienphoto aus dem mütterlichen Photoalbum entsprechen. Eine solche Erzählweise, die ohne die montierten Photos nicht funktionierte, wird in der Adelwarth-Geschichte mehrmals erprobt. Im weiteren Lauf der Erzählung tritt dabei nicht nur der Ich-Erzähler, sondern auch seine Tante als Praktiker der familienphotographischen Me-

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moria auf. »Das hier ist«, so Tante Fini anhand einer Gruppen-Aufnahme in ihrer Hilfslehrerinzeit im Allgäuer Dorf W., »eine Fotografie aus der damaligen Zeit, wie wir einen Ausflug gemacht haben auf den Falkenstein.« (AW, 109) Ein anderes Beispiel ist die folgende Textstelle: Wie um abzulenken von ihren letzten Worten, nahm die Tante Fini jetzt eines der auf dem Beistelltischchen liegenden Alben zur Hand. Das hier, sagte sie, indem sie es aufgeschlagen mir herüberreichte, ist der Adelwarth-Onkel, so, wie er damals war. Links wie du siehst, bin ich mit dem Theo, und rechts neben dem Onkel sitzt seine Schwester Balbina, die gerade auf ihrem ersten Besuch in Amerika gewesen ist. Man schrieb Mai 1950. (AW, 146f.) 41

Gleichsam mit dem Finger zeigend, kommentiert Tante Fini hier ein (auch im Text abgedrucktes) Familienphoto aus dem Jahr 1950. Dadurch eröffnet sie dem Ich-Erzähler einen ihm unbekannten Teil der Familiengeschichte. Die photographischen Dokumente, die in den Alben gesammelt sind, bringen die Tante zum Erzählen über die Vergangenheit der Familie, von der außer ihr vielleicht niemand mehr erzählen könnte: Eine typisch moderne Erinnerungspraxis, die zwar auf den ersten Blick trivial und problemlos erscheint. Erst in einer solchen Medienallianz von Wort und Photo werden aber von Generation zu Generation intime, familiale Erinnerungen überliefert und mit-geteilt, Erinnerungen, die desto kostbarer sein können, je weniger sie in öffentlichen Geschichtsbüchern aufgeschrieben worden sind. So betrachtet tritt das politische Moment des Photoalbums in den Vordergrund: Dieses Medium schließt kleine Geschichten namenloser Individuen nicht aus, die in ihrer Singularität mit der großen Geschichte des Kollektiven unvereinbar sind.42 In diesem Sinne kann das Photoalbum als Speichermedium funktionieren, das, um Walter Benjamins Über den Begriff der Geschichte zu zitieren, die »Tradition der Unterdrückten«43 aufbewahrt. So entsprang die Idee der Adelwarth-Geschichte, wie Sebald in einem Interview berichtet, einem Photoalbum der Tante, das ihm die bis dahin von der Familie sebst »unterdrückte« Lebensgeschichte des Großonkels offenbarte: 41 | Vgl. auch AW 108, 130, 137. 42 | Zur Vorrangstellung der »kleinen« Geschichten gegenüber der »großen« Geschichte bei Sebald vgl. Iris Denneler 2001. 43 | Walter Benjamin 1972, Bd. I, S. 697.

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Seine Geschichte begann mit einer Photographie. Als ich 1981 in den USA war, besuchte ich meine Tante, und wir saßen zusammen und sahen uns die Photoalben an. Sie wissen, wie das ist mit Familienphotos, normalerweise haben Sie schon alle gesehen. Aber es gibt immer eines, das Sie noch nicht kennen. Das Photo von Onkel Adelwarth in seinem arabischen Gewand war eines von diesen. Ich hatte von diesem Onkel gewußt, hatte ihn als Junge getroffen, aber ich konnte mir nie einen Reim auf ihn machen. Dann aber, sobald ich dieses Photo sah, wußte ich die ganze Geschichte … In einer katholischen Familie wird all dies unterdrückt. Es wird nicht mal ignoriert – es wird nicht gesehen, existiert gar nicht. Es paßt nirgendwo hinein. 44

Als Begleiter und Geliebter des exzentrischen Spielers Cosmo Solomon reiste Adelwarth 1913 von Italien über Konstantinopel bis nach Jerusalem, der Stadt Gottes, in der sein Photoporträt im »arabischen Gewand« aufgenommen wurde. Seinen exzeptionellen Lebenslauf, der in »einer katholischen Familie« totgeschwiegen wurde, gräbt Sebald aus, indem er von dieser merkwürdigen Aufnahme aus dem Photoalbum der in die USA ausgewanderten Tante ausgeht. Das Familienphotoalbum archiviert Bruchstücke der singulären Biographie des Großonkels, die aus dem Gedächtnis der Familie und der Gemeinschaft verdrängt worden ist. Denn der Ich-Erzähler von Die Ausgewanderten sieht sich mit der rings ihn »umgebenden Geistesverarmung und Erinnerungslosigkeit der Deutschen« (AW, 338) konfrontiert.45 Wenn er die Photoalben aufschlägt, stellt Sebald gerade diese kollektive Amnesie in Frage. Das Gleiche trifft auch auf die Bereyter-Geschichte zu. Die Lebensgeschichte des Volksschullehrers, der 1984 Selbstmord beging, muß aufgrund der Albumphotos rekonstruiert werden, weil die Nachforschungen, die der Ich-Erzähler in der Allgäuer Stadt S. anstellte, immer wieder leer ausgingen: Niemand wußte in S. über Bereyter zu erzählen, über seine abgrundtiefe Einsamkeit, die schließlich

44 | Vgl. Carole Angier 1997, S. 48. 45 | »Trotzdem hat mich«, so Sebald in einem Interview, »immer gewundert, mit welcher Perfektion diese Generation imstande war, den Holocaust aus ihrem Gedächtnis zu eliminieren. Das stimmt auch für die Autoren der Nachkriegsliteratur. Schriftsteller wie Böll oder Andersch waren ja auch Zeugen, haben sich in ihren Büchern aber nie richtig darauf eingelassen.« (Sigrid Löffler 1997, S. 135)

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zu seinem Freitod führte.46 Dagegen bleibt im Photoalbum nach seinen Lebensspuren zu suchen, die die Bevölkerung der Stadt S. aus ihrem Bewußtsein verdrängt hat. Abgesehen von Lucy Landau, mit der Bereyter die letzten zwölf Jahre zusammenlebte, kann ausschließlich das Photoalbum von seinem Leben Zeugnis ablegen. Freilich sind die Albumbilder in der Literatur Sebalds weit davon entfernt, vollkommen zuverlässige Zeugen zu sein. Etwa von glücklichen Sommertagen des Jahres 1935, die Bereyter mit der Wienerin Helen Hollaender verbrachte, legen zwar vier Aufnahmen aus dem Photoalbum Zeugnis ab. Ohne die Erzählung von Mme. Landau könnte der Ich-Erzähler jedoch in keiner Weise Helens Schicksal erfahren, das Bereyter tief im Gewissen traf: daß sie mit ihrer Mutter zusammen durch die Nationalsozialisten nach Theresienstadt deportiert wurde. Mit ihrer Erzählung öffnet Mme. Landau eine historische Ebene, die schier mit dem kontrastiert, was die vier Aufnahmen von Helen vor dem Hintergrund der idyllischen Alpenlandschaft demonstrieren. Ähnlich verhält es sich auch mit dem in Jerusalem gemachten »Fotoporträt in arabischer Kostümierung« (AW, 137) von Adelwarth, das auch im Buch abgebildet ist. Dieses zwar für sich schon eindrucksvolle Photo offenbart seine eigentliche Bedeutung aber erst durch die Erzählung, die ihm sozusagen einen Rahmen gibt: Es geht um die 1913 unternommene Reise des in Gopprechts bei Kempten gebürtigen, katholisch aufgewachsenen Großonkels zusammen mit seinem jüdischen Freund nach Jerusalem, wo die Reisenden immer wieder »Verfall, nichts als Verfall, Marasmus und Leere« (AW, 204) vorfanden. Die Erzählung des Ich-Erzählers allein, die auf den tagebuchartigen Aufzeichnungen des Großonkels basiert, (re-)konstruiert diesen Kontext, der dem zur Rede stehenden Photoporträt seinen Platz vor dem Hintergrund des Scheiterns der religiösen Rettung anweist. Die montierten Albumphotos werden also keineswegs als letzte, unhinterfragbare Instanz der Wahrheit präsentiert. Sie dienen vielmehr als mnemotechnische Bilder, deren Aufgabe darin liegt, zur weiteren Rede und Erzählung aufzufordern. Das besagt aber nicht zuletzt, daß Photos, wenn es keine Narration gibt, die sie ergänzt und ihnen Zusammenhänge verleiht, nicht imstande sind, als Erinnerungsmedien zu fungieren. In dieser Hinsicht ist 46 | »Die wenigen Gespräche, die ich in S. mit Leuten führte, die Paul Bereyter gekannt hatten, waren alles andere als aufschlußreich und ergaben an Bemerkenswertem eigentlich nur, daß niemand von Paul Bereyter oder vom Lehrer Bereyter redete, sondern ein jeder und eine jede immer bloß vom Paul.« (AW, 43)

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wiederum eine Parallelität mit Brinkmanns autobiographischer Montageliteratur festzustellen: Wie schon bei Brinkmann reguliert auch bei Sebald der Text die semantischen Funktionen der ins Buch eingespielten Photos. Bei Sebald kommt es auf photographische Erinnerungsbilder an, mit deren Hilfe er in die Vergangenheit vorzudringen versucht, die weder beschrieben noch erzählt worden ist. Diese photographische Erinnerungsästhetik setzt sich aber erst dadurch in Gang, daß die Bilder vom Erzähler kommentiert und erzählerisch kontextualisiert werden. Sie setzt also diskursive Supplementierungen voraus. Das Photoalbum, aufgrund dessen die zweite und die dritte Erzählung von Die Ausgewanderten entfaltet werden, archiviert kleine, private und singuläre Geschichten der Individuen am Rande der Gesellschaft, die in den Geschichtsbüchern nicht beschrieben werden. Wie ist aber der Status der Photographie als Medium? Sie ist bei Sebald nicht nur auf ein einfaches, problemloses Bilddokument reduzierbar, sondern sie ist für ihn »ja im Grunde nichts anderes als die Materialisierung gespenstischer Erscheinung«.47 Was diesen Begriff der Photographie als gespenstisches Medium anbelangt, schließt Sebald offensichtlich an Roland Barthes an. Sebald ist also der (auto-)biographische Schriftsteller, der in seiner Thematisierung und Problematisierung der Photographie auf das phototheoretische – aus der Sicht der vorliegenden Untersuchung zugleich autobiographische – Standardwerk Die helle Kammer Bezug nimmt.48 Dort kommt Barthes einmal auf das »spektrum der PHOTOGRAPHIE« zu sprechen, »weil dieses Wort durch seine Wurzel eine Beziehung zum ›Spektakel‹ bewahrt und ihm überdies den etwas unheimlichen Beigeschmack gibt, der jeder Photographie eigen ist: die Wiederkehr der Toten«.49 Es liegt sehr nahe, daß Barthes hier an den berühmten Text Das Unheimliche von Sigmund Freud denkt, weil dort der Begriff der Unheimlichkeit wortwörtlich mit der »Wiederkehr der Toten«50 in Zusammenhang gebracht wird. 47 | W.G. Sebald 2006, S. 28. 48 | In einigen Essays zitiert Sebald tatsächlich Die helle Kammer von Barthes. Vgl. Sebald 2003a, S. 63; Sebald 2003b, S. 178; vgl. auch Heiner Boehncke 2003, S. 55. 49 | Roland Barthes 1989, S. 17. 50 | Sigmund Freud 1999, Bd. XII, S. 254: »Im allerhöchsten Grade unheimlich erscheint vielen Menschen, was mit dem Tod, mit Leichen und mit der Wiederkehr der Toten, mit Geistern und Gespenstern zusammenhängt.«

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Anders als Freud operiert Barthes allerdings nicht mit einer deutschen, sondern mit einer lateinischen Etymologie, um Photographie als unheimliches, gespenstisches Medium zu fassen.51 Eine gewisse literarische Anwendbarkeit eben dieses Photographiebegriffs steht nun in Die Ausgewanderten auf dem Spiel. So heißt es etwa über das Photoalbum von Bereyter: Einmal ums andere, vorwärts und rückwärts durchblätterte ich dieses Album an jenem Nachmittag und habe es seither immer wieder von neuem durchblättert, weil es mir beim Betrachten der darin enthalteten Bilder tatsächlich schien und nach wie vor scheint, als kehrten die Toten zurück oder als stünden wir im Begriff, einzugehen zu ihnen. (AW, 68f.)

Diese Photos, die wiederholt, »vorwärts und rückwärts« betrachtet werden müssen, von denen der Ich-Erzähler beinahe besessen ist, sind viel mehr als dokumentarische Wiedergaben. Denn sie erschüttern den Zeitsinn des Ich-Erzählers so heftig, daß die Vergangenheit nunmehr aufhört, eine abgeschlossene Zeiteinheit zu sein. Es geht also nun um eine auf einmal offen gewordene, unabschließbare Vergangenheit, die man demgemäß nicht mehr aufgrund einer gesicherten Basis der Gegenwart repräsentieren kann. Diese photographische Vergangenheit sucht, mit anderen Worten, die Gegenwart des Erzählers heim, indem sie in Figuren der Gespenster unversehens zurückkehrt: »Die Zeit ist aus den Fugen.«52 Wie am Ende des letzten Subkapitels dargelegt wurde, ist es die rätselhafte Nabokov-Figur, die durch ihre leitmotivische Wiederkehr die vier Er51 | Zum Gespenstischen der Photographie vgl. auch Jacques Derrida 1997, S. VI: »Mir ist das Wort Medium hier sehr lieb, so wie jene Bilder mich an Gespenster, Phantome und Revenants erinnern. Alles beschreibt hier in schwarz und weiß die Wiederkehr der Revenants, man kann sie nachträglich beglaubigen von der ersten ›Erscheinung‹ an. Das Gespenstische, das ist das Wesen der Photographie.« 52 | Vgl. Jacques Derrida 2004, S. 34f. Dieses Wort von Hamlet angesichts des Gespensts des ermordeten Vaters kommentiert Derrida am Anfang von Marx’ Gespenster. Derrida versuchte 1994, Marx’ Erbe dadurch zu denken, daß er von der gespenstischen Zeitlichkeit von »out of joint« ausgeht. Im Bruch mit der linearen Zeit setzte sich Derrida mit dem hegelschen Diskurs über das Ende der Geschichte kritisch auseinander, der durch das 1992 erschienene Buch The End of History and the Last Man des Neuliberalisten Francis Fukuyama wiederbelebt wurde.

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zählungen der »Ausgewanderten« aneinander koppelt: Die wiedergängerische Wiederholung, die der Schicksalhaftigkeit der Passionsgeschichten von den Entwurzelten nachdrücklichen Ausdruck verleiht. Diese figurale Iteration findet gerade in gespenstischen Reproduktionsbildern, die, sei es durch die Narration, sei es durch die Montage in den Text eingeführt werden, ihre medientechnische Entsprechung. Einzelne Biographien werden aus dieser Sicht sozusagen aufgrund der photographischen »spektren« rekonstruiert, die sich als denkbar angemessenes Darstellungsmedium für die prekäre Existenz der »Ausgewanderten« erweisen. Denn die als »Wiederkehr der Toten« begriffene Photographie steht im Einklang mit der Seinsart der »Ausgewanderten«, die jeweils in der Fremde kein bürgerliches, sondern geradezu ein gespenstisches Leben geführt haben, und zwar entfremdet und mit sich selbst uneinig. Nicht zufällig ist daher, daß ein Motivkomplex der gespenstischen und geisterhaften Erscheinungen die vier Erzählungen von Die Ausgewanderten durchzieht, mit dem die photographischen Abbildungen Hand in Hand gehen. Um einige Stellen als Beispiele anzuführen: In der Selwyn-Geschichte denkt der Ich-Erzähler im alten Herrenhaus »Prior’s Gate« an die Angst der ehemaligen Herrschaften vor den Schatten der vorbeihuschenden Dienerschaft als »gespenstisches Wesen« (AW, 17). Oder anläßlich der Reise des Ich-Erzählers nach Deauville ist von einigen »unzerstörbaren Damen« die Rede, die jedes Jahr im verwahrlosten Hotel Roches Noires »geistern« (AW, 174). Im Reisebericht von Adelwarth taucht eine Sängerin »mit gespenstisch irrender Stimme« (AW, 192) auf. Und das Porträtbild des Malers Aurach hat schließlich den Anschein, »als sei es hervorgegangen aus einer langen Ahnenreihe grauer, eingeäscherter, in dem zerschundenen Papier nach wie vor herumgeisternder Gesichter« (AW, 239f.). 53 In den Lebensbeschreibungen von Die Ausgewanderten läßt sich also eine gewisse Wucherung der phantomhaften Erscheinungen konstatieren, an der auch die Photographie als »Wiederkehr der Toten« Anteil hat. Von hier aus gesehen, ist daher nur folgerichtig, daß das Buch mit dem Photo eines Friedhofs anhebt. (AW, 7)54 Außerdem gibt es in der Aurach-Geschichte eine relevante Episode vom

53 | Zu weiteren Beispielen für den Motivkomplex des Gespenstischen in Die Ausgewanderten vgl. Eva Juhl 1995, S. 642. 54 | Dieses Photo wird ausführlich kommentiert von Stefanie Harris. Vgl. Stefanie Harris 2001, S. 379.

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Besuch im jüdischen Friedhof in Kissingen, die wiederum photographisch bebildert wird. Aus medientheoretischer Perspektive erscheint die Schrift bereits als ein Medium, das das Dasein und seine Mitteilung voneinander abkoppelt. Daher stellt sie immer schon einen Kanal dar, durch den sich nicht nur die Lebenden, sondern auch die Toten melden können. Seit der Moderne mit ihren neuen Medientechnologien gibt es aber eine grundlegende Veränderung dessen, was aus dem Totenreich kommt. Friedrich Kittler schreibt hierzu: Eine Reproduktion, die der Gegenstand selber beglaubigt, ist von physikalischer Genauigkeit. Sie betrifft das Reale von Körpern, wie sie mit Notwendigkeit durch alle symbolischen Gitter fallen. Medien liefern immer schon Gespenstererscheinungen. Denn für Reales ist, nach Lacan, noch das Wort Leiche ein Euphemismus. 55

Die Gespenster, die durch technische Medien kommen, sind viel unheimlicher als die Toten, die sich durch die Schrift melden. Denn die reproduktionstechnischen »Gespenstererscheinungen«, die keiner Filterung des Symbolischen im Sinne Jacques Lacans unterworfen sind, können als »Reales« die Gegenwart heimsuchen: gespenstische Heimsuchungen des Realen, das sich zum Symbolischen medientheoretisch wie Photographie (und andere technische Medien) zur Schrift verhält. Von daher ereignet sich die »Wiederkehr der Toten« bei Sebald nur »unverhofft und unvermutet« (AW, 36). In der Literatur, die im Zeichen des Mediums Photographie steht, das »das Reale von Körpern« in sich trägt, kehren nämlich die Toten nur plötzlich und unzeitgemäß wieder. Auf ihre unvorhersehbare Rückkehr nach einer langen »Abwesenheit« und Latenz kann niemand vorbereitet sein, weil sie sich systematisch der symbolischen Ordnung entzieht. So heißt es im letzten Abschnitt der ersten Erzählung über Selwyn: Doch haben, wie mir in zunehmendem Maße auffällt, gewisse Dinge so eine Art, wiederzukehren, unverhofft und unvermutet, oft nach einer sehr langen Zeit der Abwesenheit. (AW, 36)

55 | Friedrich Kittler 1986, S. 22.

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Mehr als zehn Jahre hatte der Ich-Erzähler den verstorbenen Selwyn vergessen, bevor er sich 1986, als er sich in der Schweiz aufhielt, wieder an ihn erinnerte. Die Erinnerung, die einer langen Vergessenheit folgte, wurde durch die Reise in die Schweiz veranlaßt, weil Selwyn in seinen jungen Jahren ein leidenschaftlicher Alpinist gewesen war. Das ist aber noch nur die Hälfte von der »Wiederkehr der Toten«, um die es hier geht. Kaum kam Selwyn nämlich aus der Vergessenheit in die Erzähl-Gegenwart zurück, als den Ich-Erzähler die andere Rückkehr eines Toten überrascht. Es handelt sich um den Berner Bergführer Johannes Naegeli, mit dem sich der junge Selwyn befreundete und vielleicht auch homosexuell verband wie Ambros Adelwarth mit Cosmo Solomon. Naegeli hatte seit 1914 als vermißt gegolten. 1986 las der Ich-Erzähler aber gerade in dem Moment, als er im Zug von Zürich nach Lausanne an Selwyn dachte, einen Zeitungsartikel, der über die im Gletscher entdeckten »Überreste der Leiche« (AW, 36) von Naegeli berichtete. Die moderne Medienlandschaft, in der Eisenbahnfahrt und Zeitungslektüre zusammentreten, grundiert hier die plötzliche, aufeinanderfolgende »Wiederkehr der Toten«: So also kehren sie wieder, die Toten. Manchmal nach mehr als sieben Jahrzehnten kommen sie heraus aus dem Eis und liegen am Rand der Moräne, ein Häufchen geschliffener Knochen und ein Paar genagelter Schuhe. (AW, 36f.)

Die Vergangenheit ist, so scheint diese Schlußpassage der ersten Erzählung zu suggerieren, keineswegs abgeschlossen. Naegeli kehrt aus den eiskalten Schichten der 70 Jahre langen Vergessenheit in die Gegenwart zurück, und zwar als reale »Überreste der Leiche«. Eine solch unvorhersehbare Vergegenwärtigung des vergessenen Toten verbindet sich assoziativ mit der unzeitigen Rückkehr des vor einem halben Jahrhundert im Bergwerk zu Falun verschütteten Bräutigams in der Erzählung Unverhofftes Wiedersehen von Johann Peter Hebel, zumal da auf derselben Seite eben in bezug auf die »Wiederkehr der Toten« das Wort »unverhofft« auftaucht.56 56 | Der Name Hebel erscheint freilich nicht in der ersten Erzählung, sondern erst in der zweiten Erzählung: Paul Bereyter wählte Hebels Rheinischen Hausfreund, in dem Unverhofftes Wiedersehen enthalten ist, als Lehrstoff aus. (AW, S. 56) Zu Sebalds Hebel-Lektüre vgl. seinen Essay Es steht ein Komet am Himmel. Kalenderbeitrag zu Ehren des rheinischen Hausfreunds. In: Sebald 2003b, S. 9-41.

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Was hier neben dem intertextuellen Rückgriff auf die Erzählliteratur um 1800 auffällt, ist das archäologische Gedächtnismodell, das gerade Verschüttung als Aufbewahrung versteht: Gedächtnisspuren, die einmal verschüttet worden sind, gehen demnach nicht unbedingt verloren, sie können insgeheim unter der Erde aufbewahrt werden und treten unter Umständen wieder ans Licht. Bemerkenswert ist, daß sich hier am Ende der Selwyn-Geschichte mit dem archäologischen Gedächtnismodell das Medium Photographie als »Wiederkehr der Toten« verknüpft. Denn die zitierte Passage über den im Gletscher gefundenen Leichnam des Bergführers wird von dem aus einer Schweizer Zeitung vom 23. Juli 1986 in den Text montierten Photo illustriert. Die Begegnung mit dem Realen der »Leiche« findet also in den Augen des Ich-Erzählers, der sich mit den Lebensgeschichten der »Ausgewanderten« befaßt, sowohl archäologisch als auch photographisch statt. Befragt werdern muß nun diese Gleichzeitigkeit der photographischen und der archäologischen Erinnerungsarbeit. Sie ist nicht zufällig, weil sie sich auch in Austerlitz zeigt. Die folgende Passage aus diesem letzten Prosabuch Sebalds, die sich auf archäologisch ausgegrabene Skelette bezieht, ist photographisch bebildert: Ich bin damals des öfteren dort gewesen, sagte Austerlitz, teilweise wegen meiner baugeschichtlichen Interessen, teilweise auch aus anderen, mir unverständlichen Gründen, und habe photographische Aufnahmen gemacht von den Überresten der Toten, und ich entsinne mich, wie einer der Archäologen, mit dem ich ins Gespräch gekommen bin, mir gesagt hat, daß in jedem Kubikmeter Abraum, den man aus dieser Grube entfernte, die Gerippe von durchschnittlich acht Menschen gefunden worden sind. 57

5.3 A RCHÄOLOGISCHE E RINNERUNG Die photographische und die archäologische Erinnerungsarbeit scheinen bei Sebald miteinander koexistent zu sein. In diesem Punkt lassen sich zu zwei Vorläufern, die er auch in seinen literaturwissenschaftlichen Essays häufig erwähnt, Parallelen ziehen: Sigmund Freud und Walter Benjamin. Denn der Psychoanalytiker und der Autor der Berliner Kindheit um neunzehnhundert operieren bereits, um ihre originellen Gedächtnistheorien zu 57 | W.G. Sebald 2001, S. 188f.

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artikulieren, nicht allein mit der photographischen, sondern auch mit der archäologischen Metapher. Im kulturtheoretischen Text Das Unbehagen in der Kultur (1930) erläutert Freud den Begriff des unbewußten Gedächtnisses anhand der Archäologie-Metapher.58 Diese Metapher repräsentiert also die dem psychoanalytischen Denken überhaupt zugrundeliegende Annahme, daß das Vergessen keineswegs die Zerstörung der Gedächtnisspur bedeutet. Die Psychoanalyse unterstellt vielmehr, »daß im Seelenleben nichts, was einmal gebildet wurde, untergehen kann, daß alles irgendwie erhalten bleibt und unter geeigneten Umständen […] wieder zum Vorschein gebracht werden kann«.59 Und diese unbewußte Aufbewahrung vergleicht Freud mit der »Art der Erhaltung des Vergangenen, die uns an historischen Stätten wie Rom entgegentritt«.60 Freud evoziert mithin die aus antiken Schichten der Ewigen Stadt ausgegrabenen Monumente und Überreste, um die Hypothese von einer zeitlich unbegrenzten Konservierung der unbewußten Gedächtnisspur zu veranschaulichen. Die Psychoanalyse ist, zieht man aus diesem metaphorischen Bild die Konsequenzen, gleichsam eine klinische Ausgrabung der im Unbewußten unterirdisch aufbewahrten Gedächtnisspuren. Eine wesentliche Implikation der Archäologie-Metapher deckt sich in dieser Hinsicht genau mit dem, was die Photographie und ihre Entwicklung metaphorisieren: das unbewußt konservierte Gedächtnis und seine Bewußtwerdung. Von der archäologischen Gedächtnistheorie des Psychoanalytikers wird das Vergessen also so gründlich umgewertet, daß es zu einem anderen Namen für das unbewußte Gedächtnis avanciert. Ähnlich verhält es sich auch bei Sebald in Die Ausgewanderten. Denn der Ich-Erzähler registriert immer wieder Gedächtnislücken und Vergessenheiten, die eine wesentliche Voraussetzung für sein Eingedenken zu sein scheinen. Hier geht es um ein Paradoxon, das bereits bei Marcel Proust zentral ist: Der Schriftsteller, der das gigantische Erinnerungswerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit schreibt, hat gleichsam Probleme mit dem Gedächtnis. Samuel Beckett formuliert in seinem Proust-Essay dieses Paradox pointiert: »Proust hatte ein schlechtes Gedächtnis […]. Der Mensch mit einem guten

58 | Zum Vergleich des archäologischen Gedächtniskonzepts von Sebald und Freud vgl. Jan-Henrik Witthaus 2006. 59 | Sigmund Freud 1999, Bd. XIV. S. 426. 60 | Sigmund Freud 1999, Bd. XIV. S. 427.

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Gedächtnis erinnert sich an nichts, weil er nichts vergißt.«61 Im autobiographischen Roman von Proust entdeckt Beckett einen paradoxen Begriff der Erinnerung, der das Vergessen voraussetzt: Ohne Gedächtnislücken gebe es keine Erinnerung.62 Das »schlechte«, niemals störungsfreie Funktionieren der Erinnerung stellt gleichfalls bei Sebald geradezu die Voraussetzung für intensive Erinnerungen dar, jene weder automatisierten noch jederzeit abrufbaren Erinnerungen, die sich durch mehr oder weniger zufällige Anlässe plötzlich ereignen.63 Ein Paradebeispiel dafür ist die unverhoffte »Wiederkehr der Toten« in der bereits erörterten Schlußpassage der Selwyn-Geschichte. Oder ein eher unsichtbares, weniger dramatisches Beispiel findet sich auch schon in der ersten Erzählung. Der Ich-Erzähler hatte nämlich den Anblick der Hochebene von Lasithi in Kreta, den er bei Selywn auf die Leinwand projiziert sah, einmal »vergessen« (AW, 29). Erst als er einige Jahre später eine panoramatische Berglandschaft in Werner Herzogs Kaspar-Hauser-Film sah, entsann er sich unversehens an das Bild von Lasithi. Als ein weiteres Beispiel läßt sich die Aurach-Geschichte heranziehen: Nachdem der Ich-Erzähler 1969 Manchester verlassen hatte, gelang es ihm nicht mehr, sich den Maler, den er dort kennengelernt hatte, wirklich vorzustellen. 1989 sah er dann zufälligerweise in der Londoner Tate Gallery sein Gemälde. Erst daraufhin setzte er mit dem Nachdenken über die Lebensgeschichte des Malers ein. Es bedurfte somit 20 Jahre als Latenzzeit, bis die intensive Erinnerungsarbeit des (auto-)biographischen Schreibens einsetzen konnte. An diesen Beispielen fällt auf, daß die Erinnerungslosigkeit und die Vergessenheit jeweils Diversifikationen auf der psychischen Zeitebene akzentuieren, durch die hindurch die Erinnerung 61 | Samuel Beckett 2001, S. 26. 62 | Bedenkt man diese Umwertung des Vergessens, so ist es gar kein Zufall, daß auch Proust in der Recherche die archäologische Metapher aufgreift. Vgl. etwa Marcel Proust 2004, Bd. III, S. 744: »Die Wörter wandeln ihre Bedeutung im Lauf der Jahrhunderte nicht so sehr wie die Namen für uns im Zeitraum einiger Jahre. Unser Gedächtnis und unser Herz sind für die Treue nicht groß genug. Wir haben in unserem jeweils gegenwärtigen Denken nicht genügend Raum, um den Toten neben den Lebenden einen Platz zu bewahren. Wir sind gezwungen, auf dem zu bauen, was vorausgegangen ist und nur durch den Zufall einer Grabung von der Art derjenigen, die der Name Saintrailles in mir unternahm, von neuem wieder zum Vorschein kommt.« 63 | Zum Vergleich von Sebald und Proust vgl. Franz Loquai 2005.

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erst in Schwung kommt. Umgekehrt formuliert: Sebalds Erzählungen über Die Ausgewanderten gehen niemals von der Annahme einer kontinuierlichen Zeit aus, in der ein ununterbrochenes Bewußtsein souverän über seine Vergangenheit waltete. Trotz der Gemeinsamkeit des archäologischen Gedächtniskonzepts läßt sich ein wesentlicher Unterschied zwischen Sebald und Freud markieren. Der Skeptiker Sebald hält sich nicht mehr an die psychoanalytische Hypothese über die therapeutische Wirkung, die von der Erinnerung der Lebensgeschichte ausgehen soll. Ihm zufolge kann sich diese Erinnerung vielmehr durchaus destruktiv auf das Subjekt auswirken. Exemplarisch hierzu ist der Fall von Ambros Adelwarth: Eben dadurch, daß er der Tante Fini seine Lebensgeschichte erzählte, geriet er »in eine so abgrundtiefe Depression, daß er, trotz offenbar größtem Bedürfnis, weitererzählen zu können, nichts mehr herausbrachte, keinen Satz, kein Wort, kaum einen Laut« (AW, 149). So wurde Adelwarth 1952 aus freiem Willen in eine psychiatrische Klinik in Ithaca, New York, aufgenommen, in der er sich bereitwillig einer Elektro-Schocktherapie unterwarf: Ein Akt, der sich quasi als Selbstmord erwies, weil diese Methode zu Beginn der 1950er Jahre »wahrhaftig an eine Folterprozedur oder ein Martyrium heranreichte« (AW, 163). Als der Ich-Erzähler 1984 die Anstalt besuchte, erklärte ihm der gescheiterte und zurückgezogen lebende Psychiater Dr. Abramsky, der auch ein Ausgewanderter ist, daß die Bereitschaft zur Schockbehandlung bei Adelwarth auf die Sehnsucht nach »einer möglichst gründlichen und unwiderruflichen Auslöschung seines Denk- und Erinnerungsvermögen« (AW, 167) zurückzuführen war. Diese Episode demonstriert, daß die autobiographische Erinnerung für das Subjekt weniger heilend als vielmehr vernichtend sein kann: Die Wiederkehr der verdrängten Erfahrungsspuren zerstört, wie Sebald eingedenk Jean Amérys und Primo Levis vermerkte, den »Lebenswillen« des Subjekts.64 Dies trifft gleichfalls auf Aurachs Fall zu: Als der 1939 nach England exilierte Maler die verdrängten Erinnerungen an die 1941 aus München nach Riga deportierten und dort ermordeten Eltern wiederaufnahm, überfiel ihn ein ungeheuerlicher »Schmerzensparoxysmus« (AW, 254). Die damit einsetzende Welle der Erinnerungen an die Toten verursachte, statt kathartisch zu wirken, eine psychische Krise, so daß er sich eine Woche lang im Hotelzimmer selber einsperrte: Das Gleichgewicht des seelischen Haushalts war von den schmerzvollen Erinnerungen 64 | Marco Poltronieri 1997, S. 143.

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an die Kindertage in Deutschland zerstört worden, bis zu dem Moment, wo sich wieder die »Lagune der Erinnerungslosigkeit« (AW, 259) ausbreitete. In der letzten Erzählung von Die Ausgewanderten bewegt sich der Ich-Erzähler also gleichsam zwischen zwei Amnesien, die eine ironische Komplementarität aufweisen: Hinsichtlich der jüdischen Lebenswelt in Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg konstatiert er nicht nur die »Erinnerungslosigkeit der Deutschen« (AW, 338), sondern auch die »Lagune der Erinnerungslosigkeit« im exilierten Aurach. Gemäß dem archäologischen Gedächtniskonzept versteht Sebald freilich diese Absenz der Erinnerung als Oberfläche des Bewußtseins, unter der sich verschüttete Schichten des unbewußten Gedächtnisses finden. Er versucht daher, Verschüttetes dort auszugraben, obwohl er der Ansicht ist, daß diese Erinnerung zu einer Destruktion der seelischen Homöostase führen kann. Nicht nur in Die Ausgewanderten, sondern auch in Luftkrieg und Literatur beschäftigt sich Sebald mit dem, was er als die »individuelle und kollektive Amnesie«65 in der deutschen Nachkriegszeit begreift: Es scheinen – das ist eben seine sensationelle These – die uneingeschränkten Bombardierungen auf deutsche Städte und städtische Bevölkerungen, die die Alliierten am Ende des Zweiten Weltkriegs als neue Kriegsstrategie ausübten, vergessen worden zu sein. Diese gnadenlosen Annihilierungen durch das sogenannte carpet bombing, die eigentlich »nicht notwendige Bombardements« waren,66 scheinen trotz ihrer singulären Ereignishaftigkeit weder Schmerzen noch Trauer in der deutschen Nation hinterlassen zu haben: Sie haben nicht nur in der offiziellen Geschichtsschreibung, sondern auch in der Nachkriegsliteratur keine konstitutive Rolle gespielt. Die Nachprüfung dieser These kann hier nicht unternommen werden.67 Es gilt vielmehr, den Schlüsseltext Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945 (1977/2000) von Alexander Kluge zur Diskussion zu stellen, einen der wenigen Schlüsseltexte über den Luftkrieg, die Sebald in seinen genannten Vorlesungen heranziehen konnte.68 Dieser Text vom literarischen Meister der Schlachtbeschreibung (1964/2000) und Kriegsgeschichte erscheint aus der Perspektive der vorliegenden Untersuchung in mindestens dreifacher 65 | W.G. Sebald 2002b, S. 17. 66 | Alexander Kluge 2000, S. 80. 67 | Vgl. hierzu etwa Christian Schulte 2003; Marcel Atze 2006. 68 | Zum Luftangriff auf Halberstadt vgl. David Roberts 1983; Stefanie Carp 1987, S. 136-170; Thomas von Steinaecker 2007, S. 200-216.

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Hinsicht bemerkenswert. Erstens operiert hier Kluge, der auch ein repräsentativer Filmemacher des ›Neuen Deutschen Films‹ ist, mit einer literarisch innovativen Photo-Montage,69 die Sebald für vorbildhaft ansieht: »In der Interaktion und Interferenz von Bild und Text«, so Sebald in einem Interview, »waren Klaus Theweleit und Alexander Kluge für mich augenöffnende Leseerfahrungen.«70 Zweitens beinhaltet der Halberstadt-Text eine autobiographische Dimension, weil sich Kluge hier mit seiner zerstörten Heimatstadt beschäftigt. In der Einleitung zu Die Unheimlichkeit der Zeit, Neue Geschichten, zu denen Der Luftangriff auf Halberstadt gehört, schreibt Kluge ausdrücklich: »Die Form des Einschlags einer Sprengbombe ist einprägsam. Sie enthält eine Verkürzung. Ich war dabei, als am 8. April 1945 in 10 Meter Entfernung so etwas einschlug.«71 Zwar tritt Kluge in diesem Text nicht als autobiographisches Subjekt auf. Aber er macht eben jenen Luftangriff zum Gegenstand, den er selbst als 13jähriger erlebt hat, nicht die Luftangriffe auf andere deutsche Städe wie Fürth, Darmstadt, Nürnberg, Würzburg, Frankfurt, Wuppertal, Hamburg, Dresden usw. Dem Halberstadt-Text liegt Kluges biographische Beziehung zu seiner Heimatstadt zugrunde.72 Es ist daher durchaus möglich, in diesem mehrschichtigen Text über die große Katastrophe in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts eine Variation des autobiographischen Inkognitos zu sehen. Drittens bezeichnet Sebald diesen Text als »archäologische Arbeit«.73 Aus der Sicht Sebalds versuchte Kluge als literarischer Archäologe etwas auszugraben, was in der Nachkriegszeit aus dem kollektiven Bewußtsein verdrängt und unter ihm verschüttet worden ist. Hier hat man also wiederum eine gleichzeitig photographische und archäologische Erinnerungsarbeit vor den Augen. Die Unfähigkeit, sich an das katastrophale Ereignis vom 8. April 1945 zu erinnern, wurde laut Kluge bereits von James N. Eastman jr. beobachtet, der eine psychologische Studie über die seelischen Zustände der Bevölkerung in der zerbombten Stadt anstellte: »Es schien ihm, als ob die Bevölkerung, bei offensichtlich eingeborener Erzähllust, die psychische 69 | Zu Kluges Montagetechnik in Der Luftangriff auf Halberstadt vgl. David Roberts 1983, S. 80-88; Thomas von Steinaecker 2007, S. 200-216. 70 | Sigrid Löffler 1997, S. 136. 71 | Alexander Kluge 2000, S. 11. 72 | Stefanie Carp 1987, S. 140. 73 | W.G. Sebald 2002b, S. 67.

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Kraft, sich zu erinnern, genau in den Umrissen der zerstörten Flächen der Stadt verloren hätte.«74 Zur Rekonstruktion der Katastrophe sammelt Kluge daher diverse Bilder und Erzählungen aus mannigfaltigen Perspektiven, die teils authentisch, teils simuliert sind. Die Augenzeugen, die in Kluges Text auftreten, können dabei gemäß ihren Positionen, aus denen man niemals das Ereignis überblicken konnte, immer nur subjektiv und relativ aussagen. Die Diskontinuität des Montage-Textes, die sich aus dem beständigen Perspektiven- und Medienwechsel ergibt, unterstreicht die Absenz einer eindeutigen Wahrnehmung des Luftangriffs auf Halberstadt. Die Wahrnehmung der Bevölkerung und die »Strategie von unten«75 werden vermittels kurzer Erzählungen von verschiedenen Halberstädtern rekonstruiert. Von ihren Erlebnissen und Überlebensstrategien berichten etwa die Kino-Leiterin Frau Schrader, der unbekannte Photograph, die Turmbeobachterinnen namens Frau Arnold und Frau Zacke, der Feldarzt von Schroers, der Oberst Kuhlake, die Volksschullehrerin Gerda Baethe, der Junge Siegfried Pauli usw. Kontrapunktisch verhalten sich dazu die Wahrnehmung der Alliierten und ihre »Strategie von oben«,76 die namentlich durch die Interviews mit dem Brigadier Frederick L. Anderson und mit dem Brigadegeneral Robert B. Williams dargestellt werden. Diese Interviews machen unverkennbar, daß trotz ihrer Vogelperspektive die Alliierten auch weit davon entfernt waren, die Katastrophe zu begreifen: Die Interviewten flogen damals gleichsam blind über der Stadt, so daß sie nun kein überzeugendes Bild von der Schlacht liefern können. Die Abbildungen und Photographien ergänzen diese »antagonistische«77 Textkonstruktion, die aus dem Kontrast zwischen der Erde »unten« und dem Himmel »oben« besteht. Was Kluge in seinem Montage-Text lesbar macht, ist ein Kräftefeld der heterogenen Intensitäten: Irrationale ›Gefühle‹ der Besiegten »da unten« kontrastieren mit dem, was der blind fliegende Sieger durch sein Bombardement von »oben« herab zu konstruieren versucht: die ›Geschichte‹.78 Zu beachten ist, daß Kluges Montageliteratur, die Se-

74 | Alexander Kluge 2000, S. 82. 75 | Alexander Kluge 2000, S. 43. 76 | Alexander Kluge 2000, S. 48. 77 | Thomas von Steinaecker 2007, S. 205. 78 | Zum Begriffspaar von Gefühl und Geschichte bei Kluge vgl. Thomas von Steinaecker 2007, S. 171-179.

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bald für »augenöffnend« hält, »pseudodokumentarisch«79 verfährt. Fiktion und Dokumentation werden nämlich im Halberstadt-Text miteinander verschränkt oder vermischt. Der Text kann weder rein dokumentarisch noch rein fiktional sein, um diese Unterscheidung selbst, wenn nicht abzuschaffen, so doch zu »unterlaufen«.80 Denn vermittels der Kombination von Fakten und Fiktionen versucht Kluge, einen traumatischen Ursprung zu rekonstruieren, über dessen Wahrheit niemand in der Nachkriegswelt Aussagen machen kann: »Halberstadt am 8. April 1945«, das Kluge selbst knapp überlebt hat, ist für ihn gleichsam die Urszene, die für die Menschen »oben« wie »unten« unbegreiflich gewesen ist und bis heute unerinnerbar bleibt. Aber diese »Erinnerungslosigkeit ist«, so kommentiert David Roberts den Halberstadt-Text, »irreal, ihr hält Kluge die Irrealität, die böse Fiktion der Realität (Stalingrad, Halberstadt) entgegen«.81 Die Fiktion ist hier kein Antonym für die Dokumentation mehr, sondern sie korreliert mit der unwirklichen »Erinnerungslosigkeit« in der Wirklichkeit. Parallel zu Kluge geht Sebald mit seinem archäologischen Gedächtniskonzept davon aus, daß Erinnerung und Gedächtnis immer schon in die Frage der Fiktion verwickelt sind.82 Darauf deutet die folgende Passage aus der Adelwarth-Geschichte an: Manches Mal dünkten mich seine Erlebnisberichte, beispielsweise von Enthauptungen, deren Zeuge er in Japan geworden war, dermaßen unwahrscheinlich, daß ich glaubte, er leide an dem Korsakowschen Syndrom, bei dem, […] sagte die Tante Fini, der Erinnerungsverlust durch phantastische Erfindungen ausgeglichen wird. (AW, 149)

Hier geht es um eine mit dem psychoanalytischen Konzept des Symptoms vergleichbare Kompromißbildung zwischen Erinnerungslosigkeit und Erfindung. Die Lebenserzählung von Adelwarth, für den die Erinnerung 79 | W.G. Sebald 2002b, S. 31. 80 | David Roberts 1983, S. 81f.: »Indem Kluge die Frage nach dem Zusammenhang als Frage der perspektivischen Form behandelt, will er die Scheinalternative Dokumentation oder Fiktion durch eine methodische Selbstreflexion der Montageform unterlaufen.« 81 | David Roberts 1983, S. 105. 82 | Sven Meyer 2003, S. 79; zur »Konstruktionsleistung der Fiktion« bei Sebald vgl. auch Jan-Henrik Witthaus 2006, S. 164.

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nichts anderes als Qual ist, erscheint von Phantasien kontaminiert, die seinen »Erinnerungsverlust« »ausgleichen«. So macht Sebald darauf aufmerksam, daß das Gedächtnis zugunsten seiner eigenen Stabilität auf das Fiktive als notwendigen Bestandteil Anspruch nimmt: Die Fiktion ist aus dieser Sicht eben ein symptomatisches Zeichen dafür, daß der »Mechanismus der Verdrängung«83 im Gang ist. Nicht zuletzt in diesem Begriff von Gedächtnis und Erinnerung, der die unvermeidliche Kontamination von Fakten und Fiktionen unterstellt, liegt wohl der Grund dafür, daß die Diskussion, ob die Erzählungen von Die Ausgewanderten Fiktionen oder authentische Biographien sind,84 zu kurz greifen muß. Die Frage der Fiktion geht nämlich bei Sebald weniger die Gattungsproblematik als vielmehr die Gedächtnistheorie an. Um einen anderen Aspekt der archäologischen Erinnerung zu beleuchten, gilt es nun, Walter Benjamins Berliner Chronik heranzuziehen. Dieser Text beinhaltet eine Passage, in der die Archäologie als Metapher für die Praxis der autobiographischen Erinnerung zum Vorschein kommt. Die Arbeit eines Autobiographen erscheint hier also als grabendes Vordringen in verschüttete Gedächtnisschichten. Anders als bei Freud dient die archäologische Metapher bei Benjamin nicht zu einer Theoriebildung von der Beziehung zwischen Vergessen und Erinnern, sondern zu einer dynamischen Konzeption der Erinnerungspraxis: Die Sprache hat es unmißverständlich bedeutet, daß das Gedächtnis nicht ein Instrument zur Erkundung der Vergangenheit ist sondern deren Schauplatz. Es ist das Medium des Erlebten wie das Erdreich das Medium ist, in dem die toten Städte verschüttet liegen. Wer sich der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muß sich verhalten wie ein Mann, der gräbt. Das bestimmt den Ton, die Haltung echter Erinnerungen. Sie dürfen sich nicht scheuen, immer wieder auf einen und denselben Sachverhalt zurückzukommen; ihn auszustreuen wie man Erde ausstreut, ihn umzuwühlen wie man Erdreich umwühlt. Denn Sachverhalte sind nur Lagerungen, Schichten, die erst der sorgsamsten Durchforschung das ausliefern, was die wahren Werte, die im Erdinnern stecken, ausmacht: die Bilder, die aus allen früheren Zusammenhängen losgebrochen als Kostbarkeiten in den nüchternen Gemächern unserer späten Einsicht – wie Trümmer oder Torsi in der Galerie des Sammlers – stehen. Und gewiß bedarf es, Grabungen mit Er83 | W.G. Sebald 2002b, S. 19. 84 | Vgl. etwa Carole Angier 1997, S. 49.

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folg zu unternehmen, eines Plans. Doch ebenso ist unerläßlich der behutsame, tastende Spatenstich ins dunkle Erdreich und der betrügt sich selber um das Beste, der nur das Inventar der Funde und nicht auch dies dunkle Glück von Ort und Stelle des Findens selbst in seiner Niederschrift bewahrt. Das vergebliche Suchen gehört dazu so gut wie das glückliche und daher muß die Erinnerung nicht erzählend, noch viel weniger berichtend vorgehn sondern im strengsten Sinne episch und rhapsodisch an immer andern Stellen ihren Spatenstich versuchen, in immer tieferen Schichten an den alten forschend. 85

Die archäologische Erinnerung ist ein Abenteuer, weil sie auf der Suche nach Bildern ist, die bisher noch nie erinnert worden sind. Nach unbekannten Bildern suchend, muß sie »immer wieder« auf dieselben Stellen in der Vergangenheit zurückkommen, wiederholt und unermüdlich, weil es für das Erinnerungssubjekt keine Garantie des Gelingens mehr gibt: Im Gegensatz zur Erinnerung als Repräsentation, in der es um die Wiedergabe dessen geht, was immer schon bekannt und damit gesichert ist, rechnet die archäologische Erinnerung mit der Möglichkeit ihres eigenen Scheiterns. Dynamik und Rhythmik der Erinnerung als Ausgrabung sind also durch abenteuerliche Wiederholung bestimmt, die im sich unermüdlich fortsetzenden »Spatenstich« besteht. Dementsprechend schreibt Benjamin, daß das »dunkle Glück« des rhythmischen Schwingens, das den imaginierten Körper des Gräbers erfüllt, zum Besten der archäologischen Erinnerungsarbeit gehört. Es ist eben dieses Wiederholungsmoment, das der Koexistenz der archäologischen Erinnerungsmetapher mit der photographischen in der Berliner Chronik zugrundeliegt: Sowohl die Bewegung des Grabens als auch die Entwicklung des Photonegativs haben es mit der radikal begriffenen Wiederholung als Differenz-Produktion zu tun. Ein Unterschied zwischen zwei Metaphern liegt aber in der Form der Zeitlichkeit: Die Wiederholung der Reproduktionstechnik Photographie ereignet sich, sei es bei ihrer Aufnahme, sei es bei ihrer Entwicklung, im Augenblick, während die des manuellen Grabens an eine rhythmisierte Dauer gebunden ist. Es liegt ganz nahe, daß für Benjamins Schreiben der Berliner Kindheitserinnerungen beide temporale Modi erforderlich waren. Aber die photographische Metapher war, wie im Benjamin-Kapitel darge-

85 | Walter Benjamin 1972, Bd. VI, S. 486f.

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legt wurde,86 für die Strukturierung der kurzen Texte als Gedächtnisbilder in der Berliner Kindheit konstitutiv, während die archäologische nicht strukturbildend war.

5.4 Ä STHE TIK DES U NTERWEGS »So reise ich, der nur in seinen Bergen leben wollte, nach meinem Tode durch alle Länder der Erde.« (Franz Kafka: Der Jäger Gracchus) »Und der Umweg einer Schrift, von dem man nicht zurückkehrt«. (Jacques Derrida)

Kommt man von hier aus auf die literarischen Texte Sebalds zurück, dann gibt es darin auch ein abenteuerliches Moment der archäologischen Erinnerungspraxis: die Reise in Die Ausgewanderten und in anderen Texten. Reisen voll von Zufallsbegegnungen sind für die literarische Memoria des sebaldschen Ich-Erzählers grundlegend. Aus der literaturgeschichtlichen Perspektive ist das Reisen ein literarisches Motiv, das Sebald mit Schriftstellern in seiner Generation wie etwa Peter Handke und Rolf Dieter Brinkmann teilt: Für diese Generation der Studentenbewegung, die der normativen Bildungskultur auszuweichen versuchte, ist die Reise aber kein einfaches Motiv unter anderen, sondern sie bestimmt auch als Seinsart des schreibenden Subjekts seine Position.87 Sie ist nämlich eine mehr oder weniger von Zufällen abhängige, unvorhersehbare Bewegung des Suchens, die genauso zu Begegnungen wie zu Enttäuschungen führen kann. Beim differenzierenden Besehen unterscheidet sich Sebald dennoch von Handke und Brinkmann insbesondere dadurch, daß die Reise für ihn vor allen Dingen eine archäologische Recherche der Vergangenheit impliziert, mit der er sich der normativen Geschichtsauffassung in der deutschen Nachkriegsgesellschaft stellt. Die Reise, die eine topographische Bedingung 86 | Vgl. hierzu 2.3 Die mémoire involontaire als photographisches Erinnern sowie 2.4 Photosammlung der Erinnerungsbilder. 87 | Vgl. Hugo Dittberner 2003, S. 8f.

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für die Möglichkeit der archäologischen Spurensuche- und sammlung verschütteter Gedächtnisse bereitstellt, ist eine schriftstellerische Technik, mit der Sebald in das Kräftefeld der Geschichte eingreift. Der (auto-)biographische Ich-Erzähler von Die Ausgewanderten ist – genau so wie auch in drei anderen Prosabüchern Sebalds – der Reisende, der immer wieder unterwegs ist, um sich nach Lebensdaten von den »Ausgewanderten« zu erkundigen: die Reise in die Schweiz in der ersten, die Heimkehr ins Allgäu in der zweiten, das zweimalige Fliegen in die USA in der dritten, die Zugreise nach Steinach und Bad Kissingen sowie der zweimalige Besuch in Manchester in der vierten Erzählung. In jeder Erzählung von Die Ausgewanderten wird gereist, weil es darum geht, Erfahrungsspuren auszugraben, die weder in die Bibliothek eingegangen noch in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben worden sind. Austerlitz beispielsweise, die rätselhafte Hauptfigur von jüdischer Herkunft in der gleichnamigen Erzählung, sucht vergebens nach Lebensspuren seines während des Zweiten Weltkriegs in Paris verschollenen Vaters in der neuen Bibliothèque Nationale.88 Daß das Scheitern gar nicht zufällig ist, gibt Austerlitz selbst zu verstehen. Denn diese neue Nationalbibliothek am Quai François Mauriac scheint in den Augen dieses Architekten in ihrem »Monumentalismus offenbar von dem Selbstverewigungswillen des Staatspräsidenten inspiriert«, in ihrer »ganzen äußeren Dimensionierung und inneren Konstitution menschenabweisend und den Bedürfnissen jedes wahren Lesers von vornherein kompromißlos entgegengesetzt«.89 Dazu kommt sein archäologischer Blick, der sich auf die Topographie dieser Riesenbibliothek richtet. »Auf dem Ödland«, so Austerlitz, »zwischen dem Rangiergelände der Gare d’Austerlitz und dem Pont Tolbiac, auf dem heute diese Bibliothek sich erhebt, war beispielsweise bis zum Kriegsende ein großes Lager, in dem die Deutschen das gesamte von ihnen aus den Wohnungen der Pariser Juden geholte Beutegut zusammenbrachten.«90 Die nationale Büchersammlung Frankreichs ist in topographischer Hinsicht der Nachfolger des Lagers vom Dritten Reich. Die archäologische Erinnerung bringt zutage, daß zwei wesentlich unterschiedliche Sammlungen topographisch doch verbunden sind. Daher ist nicht verwunderlich, wenn diese Bibliothek gar kein Gedächtnis des Vaters als Opfer des deutschen Nationalsozialismus enthält. 88 | W.G. Sebald 2001, S. 395. 89 | W.G. Sebald 2001, S. 388. 90 | W.G. Sebald 2001, S. 403.

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So stellt Sebald die Ordnung des Archivs in Frage.91 Die Sammlung der Archive, der Bibliotheken, der Museen usw., die das Gedächtnis der Kultur repräsentiert, impliziert immer schon eine Selektion, die ausnahmslos von politischer Natur ist. Wenn Sebald reist, dann gilt es ihm, die dieser Selektion immanente Politik zu problematisieren und eine andere Sammlung als die vorherrschende herzustellen, und zwar eine Sammlung dessen, was immer schon von den kulturellen Archivsystemen ausgeschlossen und damit verstreut ist. Will man noch einmal auf Benjamin Bezug nehmen, dann sah er in der Figur des »Lumpensammlers«92 bei Baudelaire eine solche politische Praxis der modernen Literatur, die sich als Umwertung der Werte versteht. Sebald ist als ein Nachfolger des »Lumpensammlers« zu klassifizieren, genauso wie Brinkmann, der in seinen autobiographischen Montage-Texten kulturelle Abfälle sammelt. Die Reise ist dabei eine Technik, mit der der Schriftsteller das Ausgeschlossene und das Verstreute sammelt, um gegen die Ordnung des Archivs zu arbeiten. Nur als Reisender ist nämlich der Ich-Erzähler imstande, die unbekannten Lebensgeschichten der namenlosen »Ausgewanderten« zu sammeln, die in der öffentlichen Geschichtsschreibung systematisch ignoriert werden. Daraus resultiert, daß Sebalds (auto-)biographische Erzählungen immer gewisse Reiseberichte darstellen. Die Reiseliteratur ist die geeigneteste Form für Sebalds Lumpensammlung, die die Lebensgeschichten der »Ausgewanderten« als Ausgeschlossenes und Verstreutes sammelt. Den Ich-Erzähler, der, um überhaupt erzählen zu können, unablässig auf Reisen geht, kann man auch als Jäger und Sammler von Erinnerungsspuren betrachten. So erklärt sich auch, weshalb Nabokov als Schmetterlingsjäger das Leitmotiv von Die Ausgewanderten darstellt: Das (auto-)biographische Schreiben ist für Sebald Sammlung dessen, was sich im nächsten Augenblick schon entzieht, nämlich der lebensgeschichtlichen Spuren, die nicht ins Archiv aufgenommnen werden. In diesem Kontext von Reisen, Sammeln und Erzählen kommt das Medium Photographie erneut ins Spiel: Die Photographie ist Instrument und Gegenstand der Materialsammlung des Ich-Erzählers auf der Reise. Dabei geht es nicht nur um alte Photos oder Photoalben als Gedächtnisbilder der »Ausgewanderten«, sondern in diesem Erzählband photographiert auch der Ich-Erzähler selbst als Reisen91 | Zum philosophischen Archivbegriff im Singular vgl. Michel Foucault 1981, S. 183-190. Vgl. hierzu auch Jacques Derrida 1997b. 92 | Walter Benjamin 1972, Bd. I, S. 520f.

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der. Interessant ist in dieser Hinsicht Sebalds Essay über Handkes Langsame Wiederkehr. Er bezieht sich nämlich dort auf Susan Sontags phototheoretische Beobachtung, »daß das Reisen – diese für Handkes Helden so bezeichnende Form, durch die Welt zu kommen – in zunehmendem Maß zu einer Strategie zur Akkumulation von Photographien geworden ist«.93 Die Erfahrung der Reise hat sich dem Durchschnittsmenschen in der Moderne in eine Masse technischer Bilder aufgelöst. Hier übernimmt Sebald zwar einen vollauf kulturkritischen Begriff der Photographie als »der ebenso erfahrungsgierigen wie erfahrungsscheuen Technik«,94 die die Reise auf das Sammeln technisch reproduzierbarer Bilder reduziert. Eine behutsamere Formulierung des kulturkritischen Photographiebegriffs findet sich in Sebalds Essay über den Maler Jan Peter Tripp.95 Aber es fällt sogleich auf, daß Sebald selbst in Die Ausgewanderten, wie schon in Schwindel. Gefühle und später in Ringe des Saturns, als ein (Auto-)Biograph auftritt, der auf der Reise intensiv photographiert. Etwa die Reise nach Bad Kissingen, die der Ich-Erzähler 1991 für die Nachforschungen über die Kindheit von Luisa Lanzberg, der Mutter Aurachs, unternahm, wird anhand mehrerer, von ihm aufgenommener Schnappschüsse erzählt. Mit photographischen Abbildungen wird bemerkenswerterweise der jüdische Friedhof in der Stadt wiedergegeben, in dem sich ein Grabmal fand, »auf dem unter den Namen von Lily und Lazarus Lanzberg auch diejenigen von Fritz und Luisa Aurach standen« (AW, 337). Was das älteste externe Ge93 | W.G. Sebald 2006a, S. 178. 94 | Das vollständige Zitat lautet: »Die entscheidende Differenz zwischen der schriftstellerischen Methode und der ebenso erfahrungsgierigen wie erfahrungsscheuen Technik des Photographierens besteht allerdings darin, daß das Beschreiben das Eingedenken, das Photographieren jedoch das Vergessen befördert. Photographien sind die Mementos einer im Zerstörungsprozeß und im Verschwinden begriffenen Welt, gemalte und geschriebene Bilder hingegen haben ein Leben in die Zukunft hinein und verstehen sich als Dokumente eines Bewußtseins, dem etwas an der Fortführung des Lebens gelegen ist.« (W.G. Sebald 2006a, S. 178) 95 | W.G. Sebald 2003b, S. 178: »Roland Barthes sah in dem inzwischen omnipräsenten Mann mit der Kamera einen Agenten des Todes und in den Photographien so etwas wie Relikte des fortwährend absterbenden Lebens. Was die Kunst von solchem Leichengeschäft unterscheidet, ist, daß die Todesnähe des Lebens ihr Thema ist und nicht ihre Sucht.«

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dächtnismedium des Steins mitteilt, wird vermittels der Photographie in den literarischen Text integriert. Neben drei Photos von Grabmälern (AW, 334, 345, 336) werden aber auch drei andere Photos einmontiert, die zur Schau stellen, wie es nun mit der jüdischen Kultur in der Stadt Bad Kissingen steht. Ein Photo zeigt das Gebäude des Arbeitsamtes, das genau an der Stelle gebaut wurde, an der früher die Synagoge stand: Diese »war in der Kristallnacht demoliert und anschließend über mehrere Wochen hinweg abgerissen worden« (AW, 332). Dann wird ein Photo von zwei Schlüsseln für den jüdischen Friedhof abgebildet, die der Beamte im Rathaus dem Ich-Erzähler aushändigte. (AW, 333) Auf derselben Seite zeigt sich dann auch ein Photo von dem mit dem Davidstern versehenen Tor zum Friedhof. Das massive Gitter dieses Tores wirkt durchaus abweisend, während das Schild auf dem Tor lesbar macht, worum sich die Stadt sorgt: »Dieser Friedhof wird dem Schutz der Allgemeinheit empfohlen. Beschädigungen, Zerstörungen und jeglicher beschimpfende Unfug werden strafrechtlich verfolgt/§§ 168, 304 StGB. Stadt Bad Kissingen.« (AW, 333) Außerdem wird erzählt, daß die Schlüssel, die man im Rathaus bekam, in das Schloß des Tors nicht paßten, daß der Ich-Erzähler daher wie ein Dieb über die Mauer klettern mußte. (AW, 334) Also spielen all diese Details darauf an, wie gründlich die Erinnerung an die jüdische Kultur aus dem Bewußtsein der Stadtbewohner verdrängt worden ist. Obgleich der Ich-Erzähler eigentlich anhand einer Kamera Erinnerungsspuren der Familie Lanzberg nachgegangen war, hielten seine Photos vielmehr die von der Stadtverwaltung regulierte »Erinnerungslosigkeit« (AW, 338) fest. Ohne die Montage der Photos würde der Reisebericht in Die Ausgewanderten diesen Grad von Detailgenauigkeit nicht erreichen können. In dem Maße, wie die Beschreibung der Reise vermittels der einmontierten Photos detailreich wird, schreiben sich aber unberechenbare Momente auch in die Erzählungen ein. Denn die Photographie ist »wesentlich«, um Roland Barthes in Die helle Kammer noch einmal zu zitieren, »nichts anderes als Kontingenz, Einzigartigkeit, Abenteuer«. 96 Berichtet der photographierende Ich-Erzähler von seiner Reise, dann wird der Bericht gemäß dieser photographischen Wahrnehmungsästhetik von Grund auf von Kontingenzen geprägt. Exemplarisch dafür ist die Zufallsbegegnung mit einer türkischen Bootsführerin in Bad Kissingen. Von ihr erzählt der Ich-Erzähler mit dem

96 | Roland Barthes 1989, S. 29.

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für Sebald charakteristischen Gestus, der auf einen montierten Schnappschuß deiktisch verweist: Diese Dame, die es mir großzügigerweise gestattete, ein Bild von ihr aufzunehmen, stammte aus der Türkei und diente bereits seit einer Reihe von Jahren bei der Kissinger Flußschiffahrt. Abgesehen von der kühn auf ihrem Kopf sitzenden Kapitänmütze, trug sie, sozusagen als weiteres Zugeständnis an das Fähramt, das ihr zugefallen war, ein blauweißes Trikotkleid, das von fernher zumindest an eine Matrosenuniform erinnerte. Es zeigte sich übrigens bald, daß die Fährfrau das Boot, trotz seiner beträchtlichen Länge, auf dem kleinen Fluß nicht nur bestens zu manövrieren verstand, sondern daß sie darüber hinaus eine Person war, die durchaus Bedenkenswertes über den Lauf der Welt zu äußern hatte. (AW, 339f.)

Die Bootsführerin hat, abgesehen davon, daß sie auch zu den »Ausgewanderten« gehört, weder mit der Lebensgeschichte von Aurach noch von seiner Mutter zu tun. Sie befindet sich also außerhalb des Kontextes, in dem der Ich-Erzähler auf Reisen ist. Dennoch wird in der Aurach-Geschichte ausführlich von ihr erzählt, nicht nur von ihrem Aussehen und von ihrer Arbeit, sondern auch von ihrer Bemerkung zum bedenklichen »Lauf der Welt«, der der Ich-Erzähler vorbehaltlos zustimmt. Denn für die Wahrnehmung des Reisenden, der emsig photographiert, ist eben die unberechenbare Begegnung ein wesentlicher Gehalt. Ein unerwartetes Zusammentreffen mit einer gleichgesinnten Ausgewanderten ist in der Sicht des photographierenden Ich-Erzählers weniger eine Nebensache als vielmehr das erzählenswerte Ereignis par excellence. Die Akzentuierung des Kontingenten geht freilich damit einher, daß die Reise des Ich-Erzählers nicht planmäßig verlaufen ist: Der Ich-Erzähler ist in der Tat an den Nachforschungen über die Kindheit von Luisa Lanzberg gescheitert. Obwohl die Forschungsreise also in keiner Weise zur Rekonstruktion der Lebensgeschichte von Aurach beigetragen hat, muß sie erzählt werden, denn ein »vergebliches Suchen« gehört nicht nur für Benjamin, sondern auch für Sebald zum Wesentlichen der archäologischen Erinnerungsarbeit. Die archäologische Materialsammlung und Recherche, ohne die im ganz sachlichen Sinne die (auto-)biographischen Erzählungen über die »Ausgewanderten« nicht zu schreiben wären, hat ihre Bedingung geradezu in dem unablässigen Unterwegs-Sein: Die archäologische Erinnerungsarbeit, auf der Sebalds Erzählungen basieren, kommt ohne das reisende Subjekt nicht aus. Denn um Erinnerungsspuren der Exilierten und Ent-

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wurzelten zu sammeln, muß man ihrer Zerstreuung nachgehen. In dieser Hinsicht erscheint die kulturkritische Entgegenstellung von Sammlung und Zerstreuung – wie schon mehrere Male in der vorliegenden Untersuchung – nur noch oberflächlich: Die Sammlung des archäologisch arbeitenden Schriftstellers selbst, die auf eine Gegen-Sammmlung gegen die Gedächtnisordnung des Archivs zielt, unterstreicht die Bewegung der Zerstreuung. Bemerkenswert ist hierzu, daß in der Aurach-Geschichte eine Szene enthalten ist, in der der Ich-Erzähler selbst über diesen theoretischen Zusammenhang als entscheidendes Moment seiner narrativen Arbeit zu reflektieren scheint. Im letzten Abschnitt der letzten Erzählung, das heißt ganz am Schluß des Buchs, treten drei jüdische Weberinnen auf, die das (auto-)biographische Subjekt als seine Schicksalsgöttinnen begreift. Es geht um junge Zwangsarbeiterinnen im 1940 in der polnischen Stadt Łódź eingerichteten Ghetto Litzmannstadt, das eines der größten Judenghettos des gesamten Dritten Reichs darstellte. Der Ich-Erzähler sieht sie auf einem alten Photo, das der Rechnungsführer Genewein aus Österreich aufnahm: Hinter einem lotrechten Webrahmen sitzen drei junge, vielleicht zwanzigjährige Frauen. Der Teppich, an dem sie knüpfen, hat ein unregelmäßig geometrisches Muster, das mich auch in seinen Farben erinnert an das Muster unseres Wohnzimmersofas zu Hause. Wer die jungen Frauen sind, das weiß ich nicht. Wegen des Gegenlichts, das einfällt durch das Fenster im Hintergrund, kann ich ihre Augen genau nicht erkennen, aber ich spüre, daß sie alle drei herschauen zu mir, denn ich stehe ja an der Stelle, an der Genewein, der Rechnungsführer, mit seinem Fotoapparat gestanden hat. Die mittlere der drei Frauen hat hellblondes Haar und gleicht irgendwie einer Braut. Die Weberin zu ihrer Linken hält den Kopf ein wenig seitwärts geneigt, während die auf der rechten Seite so unverwandt und unerbittlich mich ansieht, daß ich es nicht lange auszuhalten vermag. Ich überlege, wie die drei wohl geheißen haben – Roza, Lusia und Lea oder Nona, Decuma und Morta, die Töchter der Nacht, mit Spindel und Faden und Schere. (AW, 355)

Das (auto-)biographische Subjekt, das 1970 der deutschen Heimat den Rükken kehrte und auswanderte, identifiziert hier die drei Jüdinnen auf dem Photo aus den 1940er Jahren mit seinen Parzen. Es zieht somit aus der Spannung von Zerstreuung und Sammlung in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts die Konsequenzen. Erkennt es doch in den Leiden des Volks in der Diaspora, das im Ghetto gesammelt und im Konzentrati-

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onslager massakriert wurde, sein Geschick. Diese Erkenntnis macht aber am Ende von »vier langen Erzählungen« die archäologische Erinnerungsarbeit des Ich-Erzählers erneut unabschließbar. Wenn er nämlich von anonymen Schicksalen der Zerstreuten sein eigenes Lebensmuster gewebt sieht, dann kann er mit der (auto-)biographischen Arbeit an ihnen nicht mehr aufhören. Er wird wieder unterwegs sein müssen, um weitere Erinnerungsspuren zu sammeln. Die Schlußszene des Buchs demonstriert somit die je eigene Unabgeschlossenheit von Werk und Autor. Austerlitz, das letzte Werk Sebalds, läßt sich in der Tat in mehrfacher Hinsicht als Fortsetzung von Die Ausgewanderten betrachten. Der Protagonist Jacques Austerlitz, der als Architekt mit einem Photoapparat im Rucksack reist, ist, wie Max Aurach, in den 1940er Jahren als jüdisches Flüchtlingskind nach Wales ausgewandert, während es seinen Eltern, wie Fritz und Luisa Aurach, nicht gelang, rechtzeitig zu fliehen. Ähnlich mit dem Fall Aurachs ergeben sich auch hier aus dem schlechten Gewissen des Überlebenden schwerwiegende Gedächtnislücken. Und in einer archäologischen Auseinandersetzung mit dieser Amnesie, mit der die photographische Memoria Hand in Hand geht, besteht ein Mittelpunkt der Erzählung von Austerlitz. Eine bezeichnende Textstruktur gibt dabei zu verstehen, daß die Erinnerungsarbeit des Schriftstellers diesmal auch nicht abgeschlossen worden ist: Austerlitz’ Suche nach seiner verlorenen Vergangenheit, die mit der Szene im Bahnhof von Antwerpen beginnt, schließt mit der Szene in der Gare d’Austerlitz, von der er sich auf weitere Erinnerungsreisen begibt. Ganz gewiß ist, daß für Sebald, genauso wie für Brinkmann in Rom, Blicke, eine odysseische Heimkehr für ein Wiedersehen des reisenden Subjekts mit sich selbst unmöglich geworden ist.97 Die Erzählung über Vergessen und Erinnern wird vielmehr von einer aus zwei Szenen im Bahnhof bestehenden Rahmung strukturiert, die topographisch auf das beständige Unterwegs-Sein des Protagonisten hindeutet. Am Einund Ausgang der literarischen Problematisierung des individuellen und kollektiven Gedächtnisses steht mithin der Bahnhof als typisch moderne Architektur,98 in der sich Züge sammeln und zerstreuen. Diese Konzentra97 | Ironischerweise liegt die psychiatrische Anstalt, in der Ambros Adelwarth stirbt, in Ithaca/New York. In Die Ausgewanderten gibt es also zumindest eine ironisch gebrochene Anspielung auf die Irrfahrten des Odysseus. 98 | Vgl. hierzu Walter Benjamin 1972, Bd. V, S. 46: »Erstmals in der Geschichte der Architektur tritt mit dem Eisen ein künstlicher Baustoff auf. Er unterliegt einer

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tion und Dissemination der Eisenbahnen, die das modernisierte Reisen, Transportieren, Produzieren usw. ermöglicht, scheint die moderne Bedingung der Kommunikation überhaupt zu versinnbildlichen. Parallel zur oben erörterten Schlußpassage von Die Ausgewanderten wird hier immerhin die kulturkritische Entgegenstellung von Sammlung und Zerstreuung aufgelöst zugunsten ihrer Reziprozität. Die Erkenntnis des Ich-Erzählers von Die Ausgewanderten, daß er seine Erinnerungsarbeit nicht beenden kann und wieder abreisen muß, ergibt sich aus einem photographischen Augen-Blick: Dadurch, daß er die Position des Photographen Genewein einnimmt, »spürt« der Erzähler, daß er von den photographierten Weberinnen im Ghetto angeschaut wird. Es geht hier nicht um eine auratische Blickerwiderung. Die Augen der Weberinnen sind nämlich »wegen des Gegenlichts« nicht zu sehen. In diesem Kontext liegt es nahe, an Jacques Lacans Theorie über die »Spaltung von Auge und Blick«99 sowie seine Bestimmung des Realen als Blick zu denken.100 In seinem Seminar Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse stellt Lacan dem Auge, mit dem das Subjekt sieht, den Blick entgegen, der es immer schon erblickt. In diesem chiasmatischen Verhältnis von Auge und Blick geht es um eine Kritik an dem cartesischen Konzept des autonomen Subjekts, das das perspektivisch konstruierte Feld des Sichtbaren souverän beherrscht. Psychoanalytisch kann das Subjekt mit dem Auge nicht sehen, ohne schon immer von irgendwoher durch einen Blick angeblickt zu werden. Mit diesem eigentümlichen Blickbegriff versucht Lacan, das Reale zu erklären, das sich »allein in Form einer befremdlichen Kontingenz«101 unzeitig öffnet. Dem Realen als Erfahrung einer unerwarteten Begegnung des Blickes entspricht in der Schlußpassage der Aurach-Geschichte die durch das Photo in Gang gesetzte »Wiederkehr der Toten«: Die PhotograEntwicklung, deren Tempo sich im Laufe des Jahrhunderts beschleunigt. Sie erhält den entscheidenen Anstoß als sich herausstellt, daß die Lokomotive, mit der man seit Ende der zwanziger Jahre Versuche anstellte, nur auf eisernen Schienen verwendbar ist. Die Schiene wird der erste montierbare Eisenteil, die Vorgängerin des Trägers. Man vermeidet das Eisen bei Wohnbauten und verwendet es bei Passagen, Ausstellungshallen, Bahnhöfen – Bauten, die transitorischen Zwecken dienen.« 99 | Jacques Lacan 1987, S. 73. 100 | Vgl. hierzu Jan Ceuppens 2006. 101 | Jacques Lacan 1987, S. 79.

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phie, die eine medientheoretische Entsprechung eben im Realen findet, setzt die plötzliche bzw. befremdlich kontingente Wiederkehr der im Ghetto gearbeitet habenden und höchstwahrscheinlich im Konzentrationslager gestorbenen Jüdinnen frei. An der Endstation der Erzählungen über Die Ausgewanderten stoßen wir also nochmals auf die Photographie: Sie erscheint als Ekphrasis eines von den wirklich existierenden Photos, die geradezu unzeitig erst 1987 bei einem Wiener Antiquar zum Vorschein gekommen sind. (AW, 353) Zugleich wird die Notwendigkeit des weiteren Unterwegs-Seins, das der Ich-Erzähler als Aufgabe des Schriftstellers auf sich nimmt, hier aufgrund der unheimlichen Gespensterhaftigkeit der Photographie als »Wiederkehr der Toten« erkannt. Freilich wird dieses Photo nicht abgebildet, obgleich die Abbildung vom technischen Gesichtspunkt her durchaus möglich gewesen wäre.102 Wie schon das Wintergarten-Photo in Die helle Kammer von Barthes wird das entscheidende Photo allein nicht abgedruckt.103 In dieser Absenz läßt sich die paradoxe Doppelbewegung der von Jacques Derrida ausgeführten Supplementierung feststellen, die in gleichzeitiger Ergänzung und Ersetzung liegt: Der (auto-)biographische Text Sebalds ersetzt schließlich die Photographie, indem er sie immer wieder ergänzt. Er unterwirft die Reproduktionstechnik letztenendes seiner eigenen medialen Ordnung, in dem Maße, wie er sie als Gedächtnismedium ernstnimmt, kommentiert und in den Text einmontiert. Dieser Prozeß gipfelt eben in der Schlußszene der Aurach-Geschichte. Der (auto-)biographische Text von Sebald hat bis zu diesem Punkt anhand der Photo-Montage so viele photographische Wahrnehmungen und Gedächtnisanlässe integriert, die das historische Apriori für die moderne Autobiographie ausmachen. Die Folge dieser intensiven Integrierung ist das Paradox, daß der (auto-)biographische Text nun ohne photographische Abbildung auskommt, eben in dem Augenblick, wo er über die durch und durch photographische »Wiederkehr der Toten« als sein Schicksal spricht. In der letzten Passage des Erzählbandes, in der sich zentrale Motive von Die Ausgewanderten sammeln und zerstreuen, vollzieht sich auch die Verinnerlichung der Photographie in den (auto-)biographischen Text.

102 | Dieses Photo sieht man abgedruckt in Thomas von Steinaecker 2007, S. 298. 103 | Vgl. hierzu Stefanie Harris 2001, S. 389.

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Schlußbemerkung: Merkmale der Autobiographik mit Blick auf die Photographie

»[…] daß ein Buch das Erzeugnis eines anderen Ich ist als dessen, was wir in unseren Gewohnheiten, in der Gesellschaft, in unseren Lastern zutage treten lassen«. (Marcel Proust: Gegen Sainte-Beuve)

Auf der letzten Station der Untersuchung wird versucht, aus den vorangegangenen fünf Kapiteln eine Bilanz zu ziehen, obzwar man für diesen Zweck die Gefahr läuft, die irreduzibel komplexe Literatur in der Moderne vereinfachend zu betrachten. Trotz dieses Risikos gilt es, zusammenzufassen, was sich als Grundzüge des autobiographischen Textes nach 1900, in der Epoche also, wo die Photographie sein historisches Apriori ist, begreifen läßt. Im Rückblick läßt sich konstatieren, daß es literarische Merkmale gibt, auf die die vorliegende Studie immer wieder stieß, die mehr oder weniger deutlich in allen der hier abgehandelten autobiographischen Texte erschienen sind: Fragmentarismus, ästhetischer Momentanismus, Photographie-Kritik, Wiederholung. Machen sie Konstanten aus, die die autobiographischen Texte von Proust, Benjamin, Brinkmann, Barthes und Sebald, von Schriftstellern also, die sich intensiv mit der Photographie beschäftigten, durchziehen, dann sind sie als Merkmale einer neuen, mit Blick auf die Photographie umorganisierten Autobiographik zu fassen. Fragmentarismus bezieht sich auf die Strukturierung der autobiographischen Literatur, ästhetischer Momentanismus auf ihre Wahrnehmungsästhetik, Photographie-Kritik auf ihren Diskurs, Wiederholung auf ihre Erinnerungsästhetik.

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So geht es um strukturelle, wahrnehmungsästhetische, diskursive und erinnerungsästhetische Merkmale, die jene autobiographische Literatur nach 1900, für die die Photographie die Bedingung ihrer Möglichkeiten darstellt, entscheidend markieren. Auch autobiographische Texte von Daniel Paul Schreber, Robert Walser, André Breton, Michel Leiris, Vladimir Nabokov, Alexander Kluge, Peter Handke, Marguerite Duras, Heiner Müller, Ruth Klüger, Monika Maron, auf die die vorliegende Untersuchung einging, um die in einer bestimmten Relation zur Photographie stehende Autobiographik zu befragen, zeigen mit Bestimmtheit, wenn nicht alle, so doch einige von den genannten vier Merkmalen. Es ist unverkennbar, daß Fragmentarität die Grundstruktur der autobiographischen Texte von Benjamin, Brinkmann und Barthes kennzeichnet: Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert konstruiert sich als Album von kleinen Erinnerungstexten, die durch kein narratives Band miteinander verbunden sind. Rom, Blicke ist ein scrapbook aus bruchstückhaften, verschiedenartigen Materialien für einen zweiten Roman Brinkmanns, der nicht geschrieben werden konnte. Brinkmanns autobiographischer Text präsentiert sich mithin als Ruine des gescheiterten Schreibprojekts. Roland Barthes par Roland Barthes besteht aus einer in alphabetischer Reihenfolge geordneten Sammlung fragmentarischer Diskurse über sich selbst. Der Fragmentarismus ermöglicht Barthes einen unablässigen Perspektivenwechsel, durch den die illusorische Autonomie und Souveränität des kontinuierlichen Bewußtseins immer wieder ironisch gebrochen wird. Die fragmentarische Komposition der Lebensschrift, die sich zur erzählerisch hergestellten Kontinuität und Linearität der Lebensgeschichte oppositionell verhält, ist also, bei allen Unterschieden, für die Autobiographik von Benjamin, Brinkmann und Barthes grundlegend. Die autobiographischen Texte von Proust und Sebald haben dagegen als wesentlichen Bestandteil langwierige Narrationen, die auf den ersten Blick mit dem Fragmentarismus scheinbar nichts zu tun haben. Für den autobiographischen Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist ein beinah endloses Entfalten der Erinnerung durch die Erzählung des Ich-Erzählers kennzeichnend. Die Ausgewanderten besteht aus Lebensgeschichten von vier heimatlosen Subjekten, die aus der Sicht des gleichfalls heimatlosen Ich-Erzählers rekonstruiert werden. Das erzählende Ich ist aber sowohl bei Proust als auch bei Sebald eine Instanz nicht nur von Erinnerung und Gedächtnis, sondern auch von Vergessen. Der Ich-Erzähler muß so viele Gedächtnislücken eingestehen, daß die Erzählung immer wieder eine diskontinuierliche Ent-

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wicklung aufweist. Daraus ergibt sich auch bei diesen Schriftstellern eine fragmentarische Textur der autobiographischen Erzählung. Der Fragmentarismus von Proust, Benjamin, Brinkmann, Barthes und Sebald hat es dabei bestimmt mit der Photographie als modernem Gedächtnisträger zu tun, mit einer Identitätsmaschine, die aufgrund ihrer vortrefflichen Fähigkeit, sinnliche Lebensdaten in einer hohen Auflösungsgenauigkeit zu speichern, das autobiographische Subjekt bis zu einem gewissen Grad von der bisherigen Gedächtnisarbeit entlastet: vom Erzählen seines Lebenslaufs. Prinzipiell braucht also der autobiographische Text in der Epoche, wo die Photographie als Archiv biographischer Daten funktioniert, keine Lebensgeschichte mehr zu sein. Dort, wo die Photographie mit ihrer technischen Präzision Erinnerungen vermittelt, darf sich die autobiographische Literatur von der alten Funktion der Gedächtnisspeicherung emanzipieren und damit anders als bisher organisieren. In Wirklichkeit werden freilich Lebensgeschichten bis auf den heutigen Tag ohne Unterlaß produziert und reproduziert, denn die Autobiographie ist nie eine rein literarische, sondern eine institutionelle Gattung, deren Format die Lebensgeschichte darstellt. Im 20. Jahrhundert gibt es dennoch auch eine literarische Autobiographie, die so konsequent aus dem photographischen Archiv Nutzen zieht, daß sie selbst voll von Spuren des Vergessens, von Unterbrechungen und Sprüngen ist: die lückenvollen Lebensschriften von Proust, Benjamin, Brinkmann, Barthes und Sebald, von Schriftstellern also, die sich kommentatorisch, metaphorisch, montagetechnisch und theoretisch auf die Photographie beziehen. Die Fragmentarität ihres autobiographischen Textes steht dabei für das genaue Gegenteil zu dem Bewußtseins-Kontinuum, das die Lebensgeschichte beweisen soll, nämlich für die Zerstreuung des schreibenden Subjekts. Wovon der autobiographische Fragmentarismus zeugt, ist also nicht die Einheit und Identität des Subjekts, sondern seine Differenz. Aus diesem Kategorienwechsel von der Identität zur Differenz resultiert die bezeichnende Unerkennbarkeit des autobiographischen Subjekts in den hier abgehandelten Texten. Das autobiographische Inkognito haben wir am deutlichsten in den Texten von Proust, Benjamin, Kluge, Barthes, Sebald konstatieren können. Ästhetischer Momentanismus läßt sich bei allen Schriftstellern feststellen, mit denen sich die vorliegende Publikation befaßte. Während sich die Lebensgeschichte als traditionelle Form zur Verschriftung des gelebten Lebens ausschließlich in der fließenden Zeit entfaltet, schreibt die Autobiographik von Proust, Benjamin, Brinkmann, Barthes und Sebald dem

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Augenblick als Bruch mit dem Zeitfluß eine konstitutive Rolle zu. Ihr Momentanismus korrespondiert dabei mit dem temporalen Modus der photographischen Belichtung und Entwicklung. Es handelt sich um eine paradoxe Doppelbewegung der autobiographischen Literatur mit Blick auf die Photographie: Während das autobiographische Schreiben im 20. Jahrhundert dem technischen Gedächtnismedium der Photographie eine bestimmte Gedächtnisarbeit – Arbeit am Kontinuum des Bewußtseins – überläßt, eignet es sich die photographische Wahrnehmungs- und Erinnerungsästhetik des Augenblicks an, um ins Unbewußte vorzudringen. Die unwillkürliche Erinnerung, die dem tiefen Vergessen entspringt, erscheint sowohl bei Proust als auch bei Benjamin im metaphorischen Zeichen der photographischen Entwicklung. Am Ende der Wiedergefundenen Zeit erweist sich die Literatur, die man gerade liest, als Entwicklung des so latent wie ein photographisches Negativbild befindlichen Gedächtnisses. Das Photonegativ metaphorisiert hier die Virtualität des unbewußten Gedächtnisses. Denn der Photoapparat stellt eine Maschine dar, die ohne Filterung des Bewußtseins präzise Gedächtnisbilder speichert. Dieser metaphorischen Logik zufolge ist die plötzliche Bewußtwerdung unbewußter Gedächtnisse als Entwicklung der photographischen Negativbilder zu betrachten. Benjamin als Proust-Übersetzer hat sich diese innovative Photographie-Metapher zu eigen gemacht: Einzelne Erinnerungsstücke der Berliner Kindheit werden als Produkte des photographischen Erinnerns, der blitzschnellen Aktualisierung der latenten Gedächtnisse, konzipiert. Außerdem sammeln sich, dem Verfasser der Berliner Kindheit zufolge, im Augenblick vor dem Sterben diese photographischen Erinnerungsbilder zu einem Erinngungsfilm des gesamten Lebens: Das Leben ist für Benjamin nicht mehr als Erzählung mitteilbar, sondern nur noch im kritischsten Augenblick wie eine Kinematographie erfahrbar. Bei Brinkmann geht es in Rom, Blicke weniger um die Entwicklung als vielmehr um die Belichtung. Er praktiziert nämlich mit seiner Handkamera die Ästhetik der Momentaufnahme, die darin liegt, die sprachlich vorprogrammierte Wahrnehmung durch die Geschwindigkeit des Schnappschusses zu unterlaufen. Er situiert die utopische Selbstbegegnung des autobiographischen Subjekts somit in den augenblicklichen Unterbrechungen der wahrnehmungsästhetischen Trägheit eigener Sinne. Eben um eine derartig momentanistische Ästhetik geht es auch Barthes, wenn er sowohl in Roland Barthes par Roland Barthes als auch in Die helle Kammer die Photographie mit dem Haiku vergleicht. Begreift er doch

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diese japanische Gedichtform als ein »Schreiben (eine Philosophie) des Augenblicks«,1 als eine Art Notiz, die das erleuchtete Subjekt hinterläßt. Ihm kommt die Photographie mit diesem epiphanischen Moment im Haiku verwandt vor. Es ist daher folgerichtig, daß er dem Wintergarten-Photo, auf dem er auf einmal die verstorbene Mutter eben im Sinne Prousts »wiederfindet«, einen gewissen Erleuchtungscharakter verleiht. Die Schlußszene von Sebalds Erzählband Die Ausgewanderten besteht aus einem photographischen Augen-Blick. Der Ich-Erzähler begegnet nämlich am Ende seiner archäologischen Erinnerungsarbeit den Blicken der im polnischen Ghetto Litzmannstadt photographierten Jüdinnen. Die Photographie wird hier als Wiederkehr der Toten, als plötzliches Wiederholen des Realen in die Gegenwart erfahren. Weil der Ich-Erzähler in dieser Blickbegegnung mit den Opfern des Dritten Reichs sein Schicksal erkennt, begreift er nun die Jüdinnen als die Parzen. Proust, Benjamin, Brinkmann, Barthes und Sebald geben also zu verstehen: Im 20. Jahrhundert sucht die autobiographische Literatur mit Blick auf die Photographie ihre Wahrheit nicht mehr im Kontinuum des Bewußtseins, sondern gar im Gegenteil im Bruch, in der Ausnahme und in der Plötzlichkeit. Die genannten Schriftsteller erfahren jeweils ihr autobiographisches Wahrheitsmoment photographisch, weil es bei ihnen um die eigentümliche Zeitstruktur des Augenblicks geht, die dem Bewußtsein die ihm gänzlich entzogene Erfahrung eröffnet. Einseitig bliebe aber die Beobachtung, wenn man die Kritik der Photographie nicht berücksichtigen würde, die jeder autobiographischen Literatur in der Epoche, in der es die Photographie als ihr Apriori gibt, immanent zu sein scheint. Was konkrete Verhältnisse des autobiographischen Schreibens zur Photographie anbelangt, versuchte die vorliegende Untersuchung, seine vier typischen Bezüge auf die Photographie herauszuarbeiten: den Kommentar, die Metapher, die Montage und die Theorie. Gerade durch diese Photographie-Bezüge vermag der autobiographische Text sich auf der erst vom Photoarchiv produzierten Ebene von Gedächtnis und Erinnerung zu bewegen: Er verhält sich zur Photographie epiphänomenal und supplementär. Dies schließt aber nicht aus, daß er beinahe ausnahmslos in einem Punkt photographiekritisch verfährt. Die hier erläuterten Autobiographen stellen nämlich alle das photographische Porträt, das für sie nichts anderes als ein Konkurrenzmedium darstellt, in Frage. In ihrem Text kommentieren und montieren sie das Photoporträt, um es 1 | Roland Barthes 2008, S. 98.

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zu problematisieren und als unzulängliches Gedächtnis erscheinen zu lassen. Bei Proust tritt das Photoporträt zu wiederholten Malen als Mittel der Identifizierung auf. Der Ich-Erzähler nimmt sich vor, anhand der photographischen Porträts die Identität der sich ihm entziehenden Romanfiguren zu ergründen. Diese photographische Ermittlung fördert aber im Fall Prousts paradoxerweise die Metamorphose der Romanpersonen in der Zeit zutage. Der autobiographische Roman begnügt sich nicht mit der photographischen Identifizierung, mit der moderne Verwaltungsmächte operieren. Er verfolgt vielmehr Spuren der Romanfiguren bis zu dem Zeitpunkt, in dem Photoporträts in einem trügerischen Verhältnis zu den Porträtierten stehen. In dieser Unähnlichkeit zeigt sich ihr unaufhaltsames Werden. Auch bei Benjamin erscheint das Photoporträt als Trugbild. Das Photoatelier um 1900 zwingt ihm als Kind eine Ähnlichkeit mit sich selbst auf, indem es mit üppigen Requisiten die Aura inszeniert: Das Photoporträt formiert somit aufgrund bürgerlicher Phantasmagorien das Weichtier Kind auf die Identität hin. Auf seinem Kindheitsphoto sieht Benjamin daher nun nur noch eine Schande. Den Identitätszwang, der dem Photoporträt innewohnt, problematisiert Brinkmann auch, indem er seine zwei gleichen Paßphotos einer Serie montiert. Diese Montage stellt zur Schau, wie peinlich auf dem Lichtbild das Subjekt auf seine Identifizierbarkeit hin objektiviert wird, und sie macht damit den Zugriff der Macht auf das Menschengesicht lesbar. Eine damit vergleichbare Montage findet sich auch bei Sebald. In Schwindel. Gefühle wird ein Paßbild von Sebald abgebildet, auf dem seine Gesichtszüge von dem durch das Photo vertikal laufenden, schwarzen Balken halb verborgen werden. Als Schriftsteller der Montageliteratur dementiert Sebald damit die autobiographische Funktion des photographischen Selbstporträts. Das trifft auch auf die literarische Bildpolitik in Die Ausgewanderten zu. Dort wird nur ein Photoporträt von Sebald eingespielt, eine Gegenlicht-Aufnahme, auf der keine Physiognomie von ihm erkennbar ist. Barthes’ Strategie zur Infragestellung des Photoporträts differiert sowohl von der Brinkmanns als auch von der Sebalds. In Roland Barthes par Roland Barthes werden seine Photos einmontiert, die ihn als Schriftsteller zeigen. Der Kommentar zu den Bildern erklärt dabei, wie dissonant sein Selbstbewußtsein mit den eingelegten Photoporträts ist. Die Photos sind also nicht als Ausdrücke der inneren Wahrheit des autobiographischen Subjekts präsentiert. Sie dienen vielmehr dazu, die Diskrepanz von photographischem Bildnis und narzißtischem Selbstbezug zu demonstrieren. Die autobiographischen Texte von Proust, Benjamin, Brinkmann,

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Barthes und Sebald kritisieren also, sei es durch den Kommentar, sei es durch die Montage, das Photoporträt, das das Subjekt auf seine Identität hin objektiviert und unbeweglich macht. Sie problematisieren die photographische Subjekt-Erfassung, um die Differenz des autobiographischen Subjekts, sein unaufhörliches Werden, freizusetzen. Sie versuchen, die Identitätsmaschine Photographie zu überbieten, indem sie sich durch den Bezug darauf die Differenz erschließen, die sich nicht photographieren läßt. Die fragmentarische Struktur, der ästhetische Momentanismus und die Photographie-Kritik haben es alle mit einer Abenteuerlichkeit des autobiographischen Schreibens mit Blick auf die Photographie zu tun. Das Schreiben über sich selbst ist für die hier kommentierten Schriftsteller keine einfache Wiedergabe dessen, was es immer schon gegeben hat. Das autobiographische Schreiben, das auf das photographische Archiv rekurriert, ist abenteuerlich, kontingenzvoll, experimentell und darum mehr oder weniger unabgeschlossen. In Anbetracht dessen, daß die Photographie das Subjekt detailreicher als die Schrift repräsentiert, seine Ähnlichkeiten mit sich selbst exakter wiedergeben kann, organisiert sich das autobiographische Schreiben nun nicht mehr als Repräsentation, sondern als abenteuerliche Wiederholung. Es geht hier nicht um die mechanische Wiederholung als Kopie, sondern um die radikale, tiefergreifende Wiederholung im Sinne von Kierkegaard, Nietzsche und Deleuze, um die ursprüngliche Wiederholung also, die von sich aus die Differenz freisetzt. Die mémoire involontaire, die sowohl für die Erinnerungsästhetik von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit als auch für die von Die Berliner Kindheit um neunzehnhundert grundlegend ist, ist zweifelsohne die Wiederholung als solche. Denn sie definiert sich als Erinnerung des noch nie Erinnerten. Was bis dahin vergessen und im Unbewußten gespeichert war, wird durch die unwillkürliche Erinnerung abrupt ins Bewußtsein heraufbeschwört. Es ist das mehr oder weniger vom Zufall abhängige, plötzliche, sprunghafte Wiederkehren des Vergessenen und damit das Gegenstück zur willentlichen Erinnerung als Repräsentation des immer schon Gegebenen und Gesicherten. Gerade aus dieser Unberechenbarkeit ergibt sich die Euphorie der proustschen Erinnerung. Für Brinkmann ist das autobiographische Schreiben keine Wiedergabe des gelebten Lebens aus einer rückblickenden Perspektive, sondern ein Lebensexperiment, durch das er das utopische Hier und Jetzt, die sich immer wieder entziehende Gegenwart zu erfassen versucht. Brinkmanns mo-

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mentanistisches Schreiben und Photographieren ist eine heroische Wiederholung auf Leben und Tod, eine umgekehrte Erinnerung auf die Zukunft des zu schreibenden Romans hin, in der der Schriftsteller grandios scheitert. Als phototheoretisches Abenteuer legt sich der Verfasser von Die helle Kammer die narrative Struktur der Suche nach der verlorenen Zeit zugrunde. Barthes wiederholt den autobiographischen Roman Prousts auf der Ebene der Erzählstruktur. Außerdem bezieht er sich, mit und ohne Anführungszeichen zitierend, auf die Episode der »Arrhythmien des Herzens« in der Recherche. Zugunsten der Photographietheorie variiert Barthes somit den autobiographischen Diskurs über die Trauer um den Tod der (Groß-) Mutter. Die helle Kammer konstruiert sich also dadurch, strukturell und diskursiv Auf der Suche nach der verlorenen Zeit zu wiederholen. Der Erzählband Die Ausgewanderten von Sebald besteht schließlich daraus, die Leidensgeschichte der exilierten Subjekte viermal zu repetieren. Der schicksalhaften Korrespondenz der Lebensläufe von den »Ausgewanderten« liegt also das Prinzip der Wiederholung zugrunde. Da das Wiederholen das ästhetische Grundprinzip dieses Erzählbands ausmacht, spielt darin der von Barthes vorgeschlagene Begriff der Photographie als Wiederkehr der Toten eine wesentliche Rolle: Sowohl für Barthes als auch für Sebald ist die Photographie nicht eine bloße Wiedergabe vergangener Augenblicke. Gespenstisch scheint ihnen die Photographie, die das vom Sein abgekoppelte Bild zirkulieren läßt. Diese Gespensterhaftigkeit der Photographie, das Wiedergängerische an ihr, entspricht der Seinsart der exilierten Figuren von Sebald. Somit ist es nicht verwunderlich, wenn seine archäologische Erinnerungsarbeit an vergessenen Lebensgeschichten mit einer photographischen Ekphrasis schließt. Der autobiographische Text, der sich auf die Photographie bezieht, hat es also verschiedentlich, aber stets mit der auf die Kopie nicht reduzierbaren Wiederholung zu tun. In der Epoche, in der die Photographie als so präzise Wiedergabe fungiert, daß sie ein technisches Maß für die Objektivität in der modernen Gesellschaft darstellt, bricht die autobiographische Literatur mit der Repräsentation des immer schon Gegebenen. Statt das gelebte Leben so zu repräsentieren, wie es gewesen ist, organisiert sie sich durch die abenteuerliche Bewegung der Wiederholung: die unwillkürliche Erinnerung bei Proust und Benjamin, das Lebens- und Schreibexperiment bei Brinkmann, die intertextuelle Bezugnahme auf die Recherche bei Barthes, die schicksalhafte Repetition der Lebensgeschichten bei Sebald, die mit der photographischen Wiederkehr der Toten korreliert.

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Es sind die vier Merkmale von Fragmentarismus, ästhetischem Momentanismus, Photographie-Kritik und Wiederholung, durch die die autobiographischen Schriften von Proust, Benjamin, Brinkmann, Barthes und Sebald eine gewisse Verwandtschaft aufweisen. Die vier Merkmale verweisen gemeinsam auf jene Poetologie des autobiographischen Textes von den genannten fünf Schriftstellern, auf die eine oder die andere Weise, von der Photographie profitierend, den entscheidenden Kategorienwechsel von der Identität zur Differenz zu vollbringen. Die Lebensgeschichte als traditionelles Format der Autobiographie diente (und dient noch heute) dazu, das ununterbrochene, einheitliche Bewußtsein und damit die Identität des Subjekts zu beweisen. Aus dieser Testat-Funktion folgt die kulturtechnische Bedeutung der autobiographischen Selbstthematisierung aufgrund der Form der Lebensgeschichte, die Subjektivität zu formieren und normieren. In der Zeit aber, wo das photographische Archiv als Identitätsstifter wirkt, darf sich die autobiographische Literatur von dieser alten Funktion befreien: Sie kann, wenn sie überhaupt will, auf Abenteuer in der Differenz des schreibenden Subjekts ausgehen. Diese Möglichkeit haben Proust, Benjamin, Brinkmann, Barthes und Sebald ausgeschöpft, indem sie – in je individueller Weise – durch Fragmentarismus, ästhetischen Momentanismus, Photographie-Kritik, Wiederholung hindurch die autobiographische Literatur umorganisieren. Diese vier Merkmale prägen das autobiographische Schreiben nach 1900, das mit Blick auf die Photographie das Unternehmen wagt, das Subjekt als unreduzierbare Differenz zu erschließen.

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Zitierte und weiterführende Literatur

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A UTOBIOGRAPHIE UND P HOTOGRAPHIE NACH 1900

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A UTOBIOGRAPHIE UND P HOTOGRAPHIE NACH 1900

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A UTOBIOGRAPHIE UND P HOTOGRAPHIE NACH 1900

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Z ITIERTE UND WEITERFÜHRENDE L ITERATUR

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A UTOBIOGRAPHIE UND P HOTOGRAPHIE NACH 1900

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Z ITIERTE UND WEITERFÜHRENDE L ITERATUR

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A UTOBIOGRAPHIE UND P HOTOGRAPHIE NACH 1900

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Lettre Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Dezember 2011, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3

Ursula Hennigfeld (Hg.) Nicht nur Paris Metropolitane und urbane Räume in der französischsprachigen Literatur der Gegenwart Februar 2012, ca. 250 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1750-4

Astrid Henning Die erlesene Nation Eine Frage der Identität – Heinrich Heine im Schulunterricht in der frühen DDR September 2011, ca. 302 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1860-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Lettre Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Rhetoriken von Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin Februar 2012, ca. 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1760-3

Roger Lüdeke (Hg.) Kommunikation im Populären Interdisziplinäre Perspektiven auf ein ganzheitliches Phänomen September 2011, ca. 320 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1833-4

Stephanie Waldow (Hg.) Ethik im Gespräch Autorinnen und Autoren über das Verhältnis von Literatur und Ethik heute Februar 2011, 182 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1602-6

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Lettre Christine Bähr Der flexible Mensch auf der Bühne Sozialdramatik und Zeitdiagnose im Theater der Jahrtausendwende September 2011, ca. 364 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1557-9

Sandra Evans Sowjetisch wohnen Eine Literatur- und Kulturgeschichte der Kommunalka Juni 2011, 322 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1662-0

Markus Fauser (Hg.) Medialität der Kunst Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne Mai 2011, 290 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1559-3

Evi Fountoulakis, Boris Previsic (Hg.) Der Gast als Fremder Narrative Alterität in der Literatur März 2011, 274 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1466-4

Sabine Frost Whiteout Schneefälle und Weißeinbrüche in der Literatur ab 1800 November 2011, ca. 330 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1884-6

Irina Gradinari Genre, Gender und Lustmord Mörderische Geschlechterfantasien in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa September 2011, ca. 328 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1605-7

Tabea Kretschmann »Höllenmaschine/ Wunschapparat« Analysen ausgewählter Neubearbeitungen von Dantes »Divina Commedia« Oktober 2011, ca. 244 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1582-1

Ines Lauffer Poetik des Privatraums Der architektonische Wohndiskurs in den Romanen der Neuen Sachlichkeit September 2011, ca. 352 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1498-5

Henrike Schmidt Russische Literatur im Internet Zwischen digitaler Folklore und politischer Propaganda April 2011, 738 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 43,80 €, ISBN 978-3-8376-1738-2

Philipp Schönthaler Negative Poetik Die Figur des Erzählers bei Thomas Bernhard, W.G. Sebald und Imre Kertész August 2011, 347 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1721-4

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