Ausgewählte Vorträge und Aufsätze [Reprint 2019 ed.] 9783111596549, 9783111221588


119 7 32MB

German Pages 465 [528] Year 1885

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Biographische Einleitung
I. Stellung und Aufgabe der Philosophie in der Theologie (1850)
II. Das Jenseits der Naturvölker
III. Der religiöse Roman
IV. Das religiöse Drama
V. Ferdinand Christian Baur
VI. Schleiermacher
VII. Strauss und seine Bedeutung für die Theologie
VIII. Voltaire von Strauss
IX. Welches sind die dringendsten Aufgaben der protestantischen Apologetik in der Gegenwart?
X. Unsere Stellung zu Christus
XI. Aus dem Leben meines Vaters
XII. Erinnerungen
XIII. Eine Ehrenrettung
Recommend Papers

Ausgewählte Vorträge und Aufsätze [Reprint 2019 ed.]
 9783111596549, 9783111221588

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Alois Emanuel Biedermann. Ausgewählte Vorträge und Aufsätze mit

einer biographischen Einleitung von

J. KRADOLFER.

Mit Biedermanns Bildniss.

BERLIN Verlag

von

Georg Reimer 1885.

I n h a l t . Seite

Vorwort V Biographische Einleitung 1* I. Stellung und Aufgabe der Philosophie in der Theologie (1850) 1 II. Das Jenseits der Naturvölker (1851) '. . 24 III. Der religiöse Roman (1867) 51 IV. Das religiöse Drama (1869) 84 V. Ferdinand Christian Baur (1861) 105 VI. Friedrich Schleiermacher (1868) 186 VII. David Friedrich Strauss (1875) 211 VIII. Voltaire von Strauss (1870) 231 IX. Die Aufgaben der Apologetik in der Gegenwart (1874) . . . 250 X. Unsere Stellung zu Christus (1882) 282 XI. Aus dem Leben meines Vaters (1884) 313 XII. Erinnerungen (1881) 378 XIII. Eine Ehrenrettung (1884) 434

A*

V o r w o r t . Durch das freundliche Entgegenkommen des Herrn Verlegers ist es uns möglich geworden, einen Theil der zahlreichen kleineren literarischen Arbeiten B i e d e r m a n n ' » , welche theils separat gedruckt, theils in verschiedenen Zeitschriften erschienen sind, von der Vergänglichkeit der Tagesliteratur zu retten und zu einem Denkmal des Verewigten zusammenzustellen. Bei der Auswahl ist für uns der Gesichtspunkt maassgebend gewesen, dasjenige hervorzuheben und einem grösseren Leserkreise zugänglich zu machen, was, nicht nur fttr den Theologen allein geschrieben und gesprochen, am meisten geeignet schien, den Menschen Biedermann, allerdings im Zusammenhang mit seiner Theologie und als Kommentar derselben, auch Solchen verständlich und lieb zu machen, welche in sich weder die Neigung, theologische Controversen zu verfolgen, noch die Kraft verspüren, um sich durch die zwei Bände christlicher Dogmatik — das Hauptwerk Biedermann'» — hindurchzuarbeiten. Wie Biedermann schon bei seinen Lebzeiten Vielen lieb gewesen ist, die sich in sein System nicht zu finden wussten, denen er ein „Ungläubiger, aber ein lieber Ungläubiger" war, so wird, wie wir hoffen, auch diese Sammlung etwas dazu beitragen, ihm auf staubfreier Höhe einen Ehrenplatz zu sichern in dem religiösen Leben der Gegenwart.

VI

Vorwort.

Bei unserer Auswahl liaben wir die chronologische Ordnung befolgt, jedoch Verwandtes zusammenstellend, wo dies ohne allzugrosse Durchbrechung derselben geschehen konnte. Es entspricht ganz dem Gange seiner wie der menschlichen Entwicklung überhaupt, dass im Anfang der Sammlung das theoretisch Erkannte überwiegt, am Schluss derselben das persönlich Erlebte und mancher Leser wird überrascht sein, den Mann, der als ein oft schwer verständlicher Gelehrter auf den einsamen Höhen der Spekulation zu Hause war, in seinen E r i n n e r u n g e n und namentlich in den Mittheilungen aus dem Leben meines Vaters als einen liebenswürdigen Erzähler wiederzufinden. Die Rede über Stellung und A u f g a b e der Philosophie in der Theologie, mit welcher er sein theologisches Lehramt an der Hochschule zu Zürich eröffnete, bildet als Programm seiner Lehrtätigkeit auch den naturgemässen Anfang unsrer Sammlung, ein Programm, dem er in den vierunddreissig Jahren seines Amtes unentwegt treu geblieben ist. Als eine zusammenhängende Gruppe erscheinen sodann die vier Rathhausvorträge: Das J e n s e i t s der Naturvölker — der religiöse Roman — das religiöse Drama und eine E h r e n r e t t u n g , welche sämmtlich uns zeigen, wie sehr es Biedermann verstanden hat, die Eunstfonn der Rede in den Dienst seiner Wissenschaft zu stellen, um einer gebildeten, interkonfessionellen Zuhörerschaft zu zeigen, wie die Religion als die höchste und zugleich menschlichste Angelegenheit der Menschen es ist, in welche die tiefsten Probleme der Kunst wie des Lebens einmünden. Eine Gruppe biographischen Inhalts bilden die beiden Gedächtnissreden auf S c h l e i e r m a c h e r und Strauss in Verbindung mit der Besprechung der Vorträge des letzteren über Voltaire und der Charakteristik des Hauptes der Tübinger Schule, F. Ch. Baur, der in seiner schlichten, ruhigen Grösse Biedermann von den Genannten, der congenialstef war und dessen

Vorwort.

vn

Wesen daher auch mit besonderer Ausführlichkeit und Wärme als der Typus eines christlichen Charakters allem Mäkeln und Bemängeln einer sogenannten Gläubigkeit gegenübergestellt wird. Mitten in das Gebiet der religiösen Kämpfe der Gegenwart führen endlich die beiden Vorträge hinein: Die A u f g a b e n der Apolog e t i k in der G e g e n w a r t lind Unsere Stellung zu Christus, von denen der erstere in der schweizerischen Prediger-Gesellschaft, der letztere in der Versammlung des schweizerischen Vereins für freies Christenthum gehalten worden ist. Beide Vorträge sind abgesehen von der Wichtigkeit des Gegenstandes schon darum charakteristisch und bedeutsam, weil sie zeigen, wie Biedermann >es für sein Recht und seine Pflicht angesehen hat, auch den ;Seinen Busse zu predigen und sie auf die schwachen Punkte ihrer Parteistellung aufmerksam zu machen — ein Bedürfniss, das im Laufe der Jahre immer stärker bei ihm hervortritt und ihn zu (einem ernsten Mahner an das junge Geschlecht der Reformfreunde ¡gemacht hat. Ueber die biographische Einleitung, welche der Sammlung •vorangeht, möge die kurze Notiz genügen, dass es weder im Sinne des Verstorbenen noch in demjenigen seiner Hinterbliebenen {gewesen wäre, das grosse biographische Material, welches in gewissenhaft geführten Tagebüchern wie in einer ansehnlichen und werthvollen Briefsammlung vorhanden ist, jetzt schon zu einem Ibis in's Détail ausgeführten Lebensbilde zu verwerthen. Was Ihier durch das freundliche und hülfreiche Entgegenkommen der Familie in Treuen durch einen Schüler und Freund Biedermann'» ¿gegeben werden konnte, dürfte genügen, um den Mann als ächten Biedermann in's rechte Licht zu stellen und die Mythen zu zerstreuen, mit welchen eine mehr bewusst als unbewusst dichtende ¡Phantasie seinen frischen Grabhügel zu umspinnen versucht hat. Das einfache Denkmal, bestehend aus einem Obelisken von

vm

Vorwort.

Syenit, welches dem Verstorbenen „von seinen Freunden" auf dem Centralfriedhofe in Zürich errichtet worden ist, trägt die Inschrift: In deinem L i c h t e , o Gott, sehen wir das Licht. Ja wohl, er hat Licht gesehen, wo Andre nur Dunkel sehen wollen oder vor undurchdringlichen Geheimnissen in scheuer Ehrfurcht stehen bleiben und dies ihm verliehene Licht auch Andern mitzutheilen, das war die Aufgabe und das Pathos seines Lebens. Aber auch dessen war er sich vollauf und in aller Demuth bewusst, dass es nicht sein Verdienst, sondern Gottes Gnadengabe an ihn war, dies Licht zu schauen; in diesem beseligenden Glauben hat er gelebt und ist er gestorben und lebt er fort, obgleich er gestorben ist. Bremen, 14. August 1885.

J. Kradolfer.

Biographische Einleitung. In den Erinnerungen aus dem Leben seines Vaters erzählt Biedermann in anmuthig fesselnder Weise, unter welchen Umständen und als der Sohn welcher Eltern er am zweiten März des Jahres 1819 zu Bendlikon am Züricher See das Licht der Welt erblickt hat. Dass der Vater ihm neben seinem eigenen biblischen Namen Emanuel auch den sonst in der Schweiz nur bei Katholiken gebräuchlichen, aber um des grossen Patrioten Alois Reding willen besonders geachteten Namen Alois in der Taufe geben liess, das geschah bei dem ernsten und nachdenklichen Manne nicht ohne durch diese Namens-Symbolik den Wunsch des Vaterherzens zum Ausdruck zu bringen, dass aus seinem ersten und einzigen Sohne dereinst mit Gottes Hülfe ein ebenso frommer Christ wie ein guter Patriot, ein ächter, biederer Schweizer werden möge. Dieser Wunsch hat sich, wenn auch vielleicht in anderer Weise, als der Vater sich's gedacht haben mochte, erfüllt und es ist die Aufgabe und der Zweck der folgenden Zeilen, in den Uberaus einfachen Rahmen von Biedermann's äusserem Lebensgange das Bild seines geistigen Wesens hineinzuzeichnen. Wir thun dies gleichsam unter den Augen des Verewigten selber, dessen verhältnissmässig früher und unerwartet rascher Tod unseren Blick geschärft und den Entschlafenen uns erst recht nahe gerückt hat. Wir thun es im Vollgefühle dessen, was wir dem Andenken des theuren Mannes schuldig sind, der

2*

Biographische Einleitung.

scharfen Tadel viel eher als phrasenhaftes Lob ertragen konnte und der Manches in seinem tiefen und keuschen Herzen begrui, was Andre als pikante Beichtgeheimnisse der Welt preiszugeben mehr durch ihre Eitelkeit als durch ihre Wahrheitsliebe sich gedrungen fahlen. Möchte es uns gelingen, den Menschen Biedermann so darzustellen, wie er die Basis und den Kommentar ¡u dem Theologen Biedermann bildet; auf diesem Wege wird am ehesten ein Verständniss und eine gerechte Würdigung seinir Theologie zu gewinnen sein. Es war ein wechselvolles, stürmisches, an herben Erfahrungen und bittern Enttäuschungen reiches Leben, welches der Vater Biedermann hinter sich hatte, als an den frühgereiften und gealterten Mann die Aufgabe herantrat, der Erzieher seines Sohnes zu werden. Aber in diesen Stürmen hatte sein Lebensbaum vnn so tiefere Wurzeln geschlagen und der Ertrag dieses Lebens ist •in vollem Maasse dem Sohne zu Gute gekommen. Das väterliche Erbtheil einer kernhaften Gesinnung, welche an den philanthropischen Anschauungen der Besten seiner Zeit sich nährte, wurde dadurch wesentlich in dem Sohne befestiget, dass er bis in sein Jünglingsalter hinein in viel unmittelbarerer Berührung mit seinem Vater stand, als dies in der Regel der Fall ist. Die Einfachheit seiner äusseren Erscheinung als Ausdruck seines schlichten, geraden Wesens, sein idealer Sinn, seine grosse Uneigennützigkeit, sein unverhohlener Abscheu vor allem Gemeinen, Niedrigen und Frivolen, sind wohl wesentlich durch diesen täglichen vertrauten Umgang des Vaters mit dem Sohne auch konstituirende Elemente in dem Charakter des letzteren geworden. Wenn dieser einmal sagt, „dass der Kationalismus ihm im Blute steckte," womit die intellektuelle Begabung und das Bedürfniss alles, was die sichtbare und die unsichtbare Welt ihm als Stoff entgegenbrachte, denkend sich anzueignen, auf seinen prägnanten Ausdruck gebracht ist: so ist dieser rationalistische Grundzug seiner Natur ganz gewiss auch durch die väterliche Erziehung in ihm geweckt worden. Ebenso ist er darin des Vaters ächter Sohn, dass er bei aller Entschiedenheit seines freisinnigen Standpunktes niemals ein Parteimann war noch sein wollte. Ein konservativer Zug, ein

Biographische Einleitung.

3*

Respekt vor bestehenden Verhältnissen und Ordnungen, ein natürlicher Widerwille gegen alles Tumultuarische und Revolutionäre war Beiden gemeinsam und brachten sie oft mit solchen zeitweise auseinander, mit denen sie bisher Schulter an Schulter gekämpft hatten. Wie Jener in den politischen Kämpfen seines Vaterlandes mit edlem patriotischem Pathos gegen die unter französischer Bevormundung und Vergewaltigung auftretende Scheinfreiheit kämpfte und dabei ebenso energisch gegen die Rückkehr zum ancien régime unter Oesterreichs Aegide sich auflehnte: so ist auch der Sohn in den religiösen Parteikämpfen seiner Heimath dem kirchlichen und antikirchlichen Radikalismus ebenso entschieden entgegengetreten, wie er die Autonomie des Glaubens und der theologischen Wissenschaft jeder äusseren Autorität gegenüber und unter allen Umständen gewahrt wissen wollte. Unter den Naturgaben, die Biedermann seinen Eltern zu verdanken hatte, ist nicht als die geringste ein gesunder, wohlgebauterKörper zu nennen. Auch dies Pfund hat er nicht im Schweisstttchlein vergraben, sondern in einer Weise ausgebildet, dass sein Ruf als gewandter Turner, als tüchtiger Schwimmer, als unermüdlicher Läufer und gewandter Bergsteiger seinem wissenschaftlichen Ruhme lange vorangegangen ist. Für uns Gymnasiasten war es immer eine besondere Freude, unsern Religionslehrer seinen schlanken Körper mit der breiten, schön gewölbten Brust in die Finthen des Züricher Sees tauchen oder als Kampfrichter unsre gymnastischen Spiele entscheiden zu sehen, während seine Leistungsfähigkeit und sein kühnes Voranstreben auf Turnfahrten und Bergturen uns oft beinahe unheimlich wurde. Diese bis in die letzten Jahre fortgesetzte Gymnastik, welche seiner Erscheinung, seinem Gang und seiner Haltung bis in die Reife der Mannesjahre hinein etwas Jugendlich-Elastisches verlieh und die er durch eine grosse Einfachheit und Massigkeit in der Lebensweise unterstützte, machte seinen Körper zu einem willfährigen Werkzeug seines Geistes, der, wenn sein Herr es forderte, auch Nachtwachen und angestrengte und anhaltende Denkarbeit sich gefallen liess, ohne wider den Stachel zu locken. Was ihn aber mit unwiderstehlicher Gewalt aus der Studierstube immer wieder hinauslockte,

4*

Biographische Einleitung.

das war die Natur seines Heimathlandes, in welcher die verbrauchte Kraft sich rasch wieder ersetzte. Die Gefahr, ein Bücherwurm und Stubengelehrter zu werden, sie war für iln gar nicht vorhanden und manch Einer, der später den berühmten Theologen aufsuchte, war erstaunt darüber, wie so gar nicht „von des Gedankens Blässe angekränkelt" dieser Gelehrte aussah. Auch in dieser Liebe zur Natur, insbesondere zur heimischen Alpennatur, erkennen wir einen väterlichen Zug, der durch die ersten Jugendeindrücke genährt wurde. Hatte doch der Knabe die ersten Jahre in der Umgebung des Zürich-Sees verlebt, dessen lieblich-lachende, von Natur und Menschenhand reich gesegnete Ufer die bescheidene, fast dürftige Häuslichkeit aufs Schönste ergänzten. Und als die Eltern mit dem sechsjährigen Knaben und dessen jüngerer Schwester nach dem Appenzeller Ländchen übersiedelten und in dem schon damals sehr blühenden Trogen sich niederliessen, da gedieh der Knabe zusehends in der guten Bergluft. Er wurde kräftig, gewandt, ausdauernd und von so einfacher Gewöhnung, dass es ihn eine verächtliche Verweichlichung dünkte, als er später in der Stadt nicht ohne Mütze ausgehen und sogar im Sommer Strümpfe tragen sollte! Der Hauptgrund für die Uebersiedlung nach Trogen war die Sorge für die Erziehung des Sohnes. Denn in dem damaligen Hauptorte des Kantons Appenzell wirkte Pestalozzis Schüler, der treffliche Krüsi als Vorsteher der Kantonsschule im Geiste seines Meisters und der Knabe befand sich bei ihm ganz in den rechten Händen. Sein Eifer für's Lernen wurde geweckt und während im Französischen und Lateinischen der Grund zu seiner späteren universellen Bildung gelegt wurde, erwachte in dieser Umgebung auch der poetische Sinn, dem in Vossen's Uebersetzung des Homer eine neue Welt aufging. Der Knabe begnügte sich nicht damit, sie seinem Gedächtniss einzuprägen, sondern machte aus dem Epos ein Drama, das er jeweilen mit seinen Schulgenossen aufführte. Es blieb auch nicht bei diesem ersten poetischen Anlauf; denn als der Jüngling später in Basel durch den kürzlich erst dorthin berufenen Germanisten Wilhelm Wackernagel in die deutsche Literatur eingeführt wurde, da wusste dieser die strebsame Jugend

Biographische Einleitung.

5*

dermaassen für sein Lieblingsfach zn begeistern, dass dieselbe sich zu einer Art Dichterorden „Euterpe" genannt, zusammenthat, welcher in den künstlichsten Versmaassen dem Drange der Gefühle Luft machte. Der jugendliche Lehrer selbst aber verstand es sehr gut, diesem Sturm und Drang einen Dämpfer aufzusetzen, indem er die eifrig Dichtenden zuerst ihre eigenen Versuche vorlesen und gegenseitig beurtheilen liess, um ihnen nachher durch den Vortrag klassischer Werke zu zeigen, wie weit sie noch von dem Ziele entfernt seien. Doch wir "kehren wieder zu dem Knaben zurück und begleiten ihn mit seinen Eltern für kurze Zeit nach Zürich, wo ein langwieriger Prozess endlich seine Erledigung fand und es dem Vater Biedermann ermöglichte im Jahre 1830 in seiner ursprünglichen Heimath Winterthur bleibenden Aufenthalt zu nehmen. Trotz dieses häufigen Wechsels der Lehrer und gelegentlich längerer Unterbrechung des Unterrichtes war der Knabe seinen Altersgenossen meist voran in der Klasse. Nur der Religionslehrer bemerkte oft mit Missfallen die rationalistische Richtung, welche sowohl in den Bibel-Lesestunden als auch im Konfirmandenunterricht unverhohlen zu Tage trat, ohne dass dies indess zu äusseren oder inneren Konflikten geführt hätte: denn seine Aeusserungen hatten nichts an sich von jener unreifen und vorlauten Kritik, wie sie bei aufgeweckten Knaben etwa in unangenehmer Weise sich bemerkbar macht, sondern waren nur der natürliche Ausdruck seines offenen, nach verständigem Erfassen seines Gegenstandes dringenden Wesens. Vor allem war es auch hier wieder die Poesie, welche ihn lebhaft begeisterte. Mit einigen Freunden versuchte er sich in metrischen Uebersetzungen des Ovid; ein ander Mal zogen sie im Triumph eine alte Ausgabe von Holberg's Komödien aus der Rumpelkammer an's Tageslicht und lasen sie mit Entzücken. Hatten sich die Lehrer besonders günstig über ihn ausgesprochen, so belohnte ihn wohl der Vater mit einer kleinen Fussreise, in Gesellschaft mit einigen Kameraden, die mitunter bis in die Bündner Berge ausgedehnt wurde. Ueber die Beweggründe, welche den jungen Alois nach Absolvirung der Winterthurer Stadtschulen zur Theologie und zur

6*

Biographische Einleitung.

Vorbereitung auf dieselbe nicht nach Zürich, wie dies am nächsten gelegen hätte, sondern nach dem kirchlich und politisch als konservativ verschrieenen Basel hinführten, giebt Biedermann selbst nähere Auskunft*). Wir können uns schliesslich nur darüber freuen, dass der Gang seines Schicksals ihn gleichsam in's feindliche Heerlager oder wie Saul unter die Propheten geführt hat. Lernte er doch hier die kirchliche Gläubigkeit mit ihren verschiedenen Schattirungen, nach ihrem Licht und nach ihrem Schatten, von ihrer starken und von ihrer schwachen, namentlich aber auch von ihrer liebenswürdigen Seite näher kennen, was ihm für seine spätere wissenschaftliche Darstellung und gerechte Würdigung derselben sehr zu Statten gekommen ist. Vor allem aus war es eine starke Probe auf die Festigkeit seines Charakters und seiner Grnndüberzeugnngen, welche er hier in dieser Umgebung durchzumachen hatte und aus welcher siegreich hervorgegangen zu sein auch diejenigen ihm zur Ehre anrechnen dürften, die ihm auf seinen Wegen nicht zu folgen vermögen. Auch in anderer Beziehung ist dem an täglichen Umgang mit dem Vater, an Freiheit und frische Luft Gewöhnten das Sich-einleben in Basel nicht ganz leicht geworden. Das Gefühl des In der Fremde-seins und damit ein bitteres Heimweh kam über ihn, als er von allen seinen bisherigen Bekannten getrennt in der Familie des biederen Spitalpfarrers Hess installirt wurde. Doch als ein Jüngling, der früh sieh zu beherrschen gelernt hatte und Jedermann mit Vertrauen entgegenkam, hatte er dies Heimweh rasch überwunden und wurde nachher in der Familie heimisch. Länger aber dauerte es, bis er das Grauen vor dem uralten nnheimlichen Hause abgelegt hatte, dessen Vorderseite auf den lärmigen Barfüsserplatz ging, während die Fenster des Hinterhauses in den Hof der Irrenanstalt sahen und er so der Zeuge mancher erschütternden Scene wurde. Doch diese Schattenseiten wurden bald mehr als aufgewogen durch Anderes, was die Zeit seines Basler Aufenthaltes für ihn zu einer wahrhaft glücklichen und unvergesslich schönen gemacht *) Erinnerungen S. 384.

Biographische Einleitung.

7*

hat. Mit Recht erfreute sich das damalige Pädagogium eines vorzüglichen Rufes; es war die Zeit, wo Gerlach als Philologe, Fr. Fischer als Philosoph, der geistreiche und fromme Alexander Vinet als Lehrer des Französischen und als der Liebling Aller Wilhelm Wackernagel an demselben wirkten. Neben der geistigen Arbeit und Anregung, welche Jeder derselben in seiner Art dem angehenden Musensohne bot, wurde die Körperpflege nicht vergessen: in dem neubegründeten Turnverein ward Biedermann's Name bald mit Auszeichnung genannt und keines der schweizerischen Turnfeste, die in den Jahren 1835 bis 1839 je in Schaffhausen, Basel, Chur oder Bern abgehalten wurden, verlief ohne eine neue Bereicherung des Freundeskreises zu bringen. Das Moment der Freundschaft beginnt von dieser Zeit an im Leben Biedermann's jene ideale und pädagogische Bedeutung zu gewinnen, die es im Wesentlichen, wenn auch nach der Natur menschlicher Dinge allmählig schwächer werdend, bis an sein Ende bewahrt hat. Wie er überhaupt mit seinen Mitschülern bald auf gutem Fusse stand, so war es namentlich ein Kreis tüchtiger junger Leute, mit dem er sich näher zusammenschloss, vor allem mit Riggenbach, seinem nachherigen Schwager, mit Theodor Meyer-Merian, der sich als Dramatiker und Volksschriftsteller einen Namen gemacht hat, mit dem Kunsthistoriker J. J. Burckhardt und mehreren Andern. Die Grenzstadt bot mannigfache Gelegenheit, über die Grenzpfähle des Vaterlandes hinaus den Blick zu erweitern, wie denn auch der Sinn für Architektur auf einer Fusswanderung nach Strassburg und Freiburg beim Anblick der beiden Münster in ihm geweckt worden ist. Das Hauptziel seiner Wanderungen blieb aber für die nächsten Jahre noch die alte Heimath. Bei den Eltern in Winterthur brachte er die ersten Herbstferien zu, die freilich durch einen Unfall getrübt wurden: er erhielt einen Schuss in's Gesicht, kam aber dabei noch glücklicher davon als bei ähnlicher Gelegenheit sein Freund Heinrich Hirzel: während dieser sein eines Auge verlor, hatte es bei ihm an einer Narbe sein Bewenden. Ernsterer Art war sein Aufenthalt zu Hause im folgenden Jahre (Sommer 1836); denn es war der seinem Ende entgegen-

8*

Biographische Einleitung.

gehende Vater, welcher ihn fllr geraume Zeit dem Schullebem entzog und dessen Verlust die erste dunkle Wolke über seime sonst so sonnige Jugend ausgebreitet hat. Dafür ist ihm dms grosse Glück zu Theil geworden, dem Manne, dessen grösster Schatz sein Sohn war und dem er allmählig zum jugendlichem Freund und Vertrauten wurde, seine letzten Wochen, Tage urud Stunden tragen zu helfen und an der Art und Weise, wie er sein Schicksal trug und innerlich Uberwand, Bich erbauen zu dttrfem. Beim Anblick dieses Endes verlor der Tod für ihn seine Schrecken und die heilige Erinnerung an den Heimgang seines Vaters ist gewiss nicht ohne Einfluss auf seine Theologie gewesen. Musste der Sohn auch die stets rege Theilnahme dieses liebevollen treuen Vaters, der mit innigem Interesse seine Entwicklung beobachtet hatte, schmerzlich vermissen, so wurde doch durch diesen Todesfall an den äusseren Verhältnissen nichts geändert, da ein kleines Kapital zu seinem weiteren Studium gesichert war. Ein Schrecken für die Familie war es aber, als sich herausstellte, dass der Verstorbene einige Formalitäten bei der Regulirung der Pensionsbestimmungen, als er seine Stellung in der englisch-deutschen Legion nach erfolgtem Friedensschlüsse aufgab, versäumt hatte und darum die gewohnte Einnahme plötzlich ausblieb. Für Mutter und Schwester that er darum den nothwendigen, aber seinem republikanischen Unabhängigkeitsgefühl sehr sauren Schritt: er verfasste eine Bittschrift an den König Georg von Hannöver, die den gewünschten Erfolg hatte. Nach Basel zurückgekehrt, war er bald wieder im gewohnten Geleise; nur in der Mathematik, ohnehin seine schwächste Seite, konnte er nicht mehr mit seiner Klasse Schritt halten. Doch promovirte er am ersten März 1837 mit der Note 1 und ging mit einer lateinischen Rede: de imaginibus zur Hochschule über. Hier zogen ihn vor der Hand mehr philosophische und ästhetische Studien an; die Poetik wurde darüber nicht vergessen und Wackernagel wunderte und ärgerte sich nicht wenig, als seine begabtesten Schüler plötzlich Novellen in die „Basler Taschenbücher" und in die „Alpenrosen" zu schreiben begannen. Die Erklärung aber, dass der Ertrag dieser schriftstellerischen Thätig-

Biographische Einleitung.

9*

keit ihnen eine Reise nach Italien ermöglichen sollte, nöthigte ihm das Zugeständniss ab: in diesem Falle möge der Zweck das Mittel heiligen. Ein erster improvisirter Anlauf zu dieser Reise misslang aber gründlich: wie seiner Zeit Goethe, so standen eines schönen Tages vier Freunde auf der Höhe des Gotthardt, als sie plötzlich die Lust anwandelte, dem Mailänder Dom einen Besuch zu machen. Aber während es bei Goethe sein Dämonion war, was ihn veranlasste, plötzlich umzukehren und ohne ein Wort zu seinem Freund zu sagen, den Rückweg einzuschlagen, so erschien in diesem Falle das Schicksal in Gestalt von österreichischen Grenzwächtern, denen die Schriftenlosen verdächtig vorkamen und daher von ihnen eine Nacht als Gefangene bewacht und am folgenden Morgen unerbittlich wieder auf Schweizer Boden zurückbegleitet wurden. Vom Frühling 1838 an trat übrigens sein Fach-Studium ganz in den Vordergrund und seine theologischen Lehrer, vor allen De Wette und Hagenbach boten ihm Alles, was er für den Anfang bedurfte. Mit seinem Züricher Freunde David Fries, den er durch den Zofinger-Verein kennen gelernt hatte, und mit Riggenbach, der schon nach Berlin vorausgereist war, tauschte er in lebhaftem Briefwechsel seine Ansichten aus über die Hegel'sche Philosophie und über das im Jahre 1835 erschienene Leben Jesu von David Strauss, das die Jünglinge selbstverständlich tief aufregte. So ward die Zeit bis zum Abgang an die Universität Berlin gewissenhaft ausgefüllt. Die Reise dahin wurde nicht direkt ausgeführt, sondern nach guter, alter Sitte von dem Gedanken geleitet, es sei wünschenswerth, erst noch ein grosses und schönes Stück Welt kennen zu lernen, ehe das Amt mit seinen Pflichten und die damals noch viel grössere Schwierigkeit, weitere Reisen zu unternehmen, den Schweizer in die Grenzen seines kleinen Landes einschloss. Das nächste Reiseziel war München, wo noch zwei Freunde sich anschlössen, von da ging es nach Wien und über Prag und Dresden nach Berlin. Von der schönen Kaiserstadt an der Donau hatte er leider sehr wenig sehen können, da er dort erkrankte; aber einen grossen Eindruck machten ihm B i e d e r m a n n , Vorträge und Aufsätze.

3

10*

Biographische Einleitung.

Böhmens fremdartige Hauptstadt und die Gemälde-Gallerie in Dresden. In Berlin erwartete ihn eine ganze Kolonie von SchweizerStudenten aller Fakultäten, die eng zusammenhielten, meist in der Dorotheenstrasse wohnten und bei ihrem Landsmann Stehelin gemeinsam speisten. Ueber die geistige Arbeit und den Gewinn dieser zwei Jahre hat Biedermann selbst in seinen „Erinnerungen" ausführlich berichtet; es bleibt hier darum nur noch zu erwähnen, dass er in einige Familien eingeführt wurde, was eine angenehme und heilsame Ergänzung war für das ungebundene Studentenleben. Ein junger Kaufmann aus Basel, welcher seine Lehrzeit in einem Berliner Haus durchmachte, war die Veranlassung, dass dasselbe auch für dessen Freunde, worunter Biedermann, seine gastfreien Bäume öffnete. Mit dem nicht minder den Schweizern gewogenen Professor Yatke kam er bald in engere Beziehung und das Verhältniss wurde freundschaftlicher, als es sich sonst zwischen Lehrer und Schüler zu gestalten pflegt. Mit einem gewissen Stolze pflegte Vatke noch lange nach dieser Zeit Zeller, Strauss und Biedermann als seine drei liebsten Schüler zu bezeichnen. Manche freie Stunde brachte der Letztere auch an einem Orte zu, wo man ihn am allerwenigsten gesucht hätte, nämlich im Offizierszimmer der Artillerie-Kaserne; er hatte den Bewohner desselben, einen Herrn von Alvensleben, auf seiner Herreise im Postwagen kennen gelernt; nach einem eifrigen politischen Gespräche warnte ihn dieser wohlmeinend vor Unbesonnenheiten, lud ihn aber ein, gelegentlich bei ihm vorzusprechen. Der Einblick, den er hierdurch in ein ihm ganz fremdes Leben und Treiben gewann, machte ihm ebensoviel Vergnügen, als es ihm Nutzen brachte, von dem feinen Mann in den öffentlichen Verhältnissen Deutschlands und in manchen politischen Fragen belehrt zu werden. In die letzte Zeit seines Berliner Aufenthaltes fallt die erste theologische Arbeit, welche von ihm veröffentlicht worden ist: über die P e r s ö n l i c h k e i t Gottes. Damit hatte er gleich den Einen Punkt aufgegriffen, der für Beine ganze Theologie von grundlegender Bedeutung war, aber auch derselben als einer „pantheistischen" die mannigfachsten Anfechtungen zugezogen hat.

Biographische Einleitung.

11*

Zeller, in dessen „Theologischen Jahrbüchern" der Aufsatz bereitwillige Aufnahme fand, suchte seinen jungen Mitarbeiter zunächst dadurch gegen Angriffe zu decken, dass er nachwies, wie der grosse und fromme Schleiermacher in diesem Punkte genau unter dasselbe Gericht falle. Denn wenn dieser in den Reden über die Religion sagt, der Glaube habe keinen Grund die Persönlichkeit Gottes zu betonen, wohl aber seine Lebendigkeit*), so heisse das in der Sprache Schleiermacher's so viel als: ich für mich ziehe es vor, Gott unpersönlich zu denken (wie dies ja auch allein mit seinem System in Einklang steht). Dem geistreichen Interpreten Hegel's, Rosenkranz gegenüber suchte Biedermann zu zeigen, wie es allerdings in der Konsequenz dieser Philosophie liege, die Persönlichkeit als einen Gott inadäquaten Begriff abzulehnen, da diese als eine in sich geschlossene, Andern gegenüberstehende Einheit zugleich Endlichkeit und Beschränktheit in sich schliesst. Von einer Persönlichkeit Gottes zu reden, gehört also dem vorstellenden, nicht dem denkenden Glauben an. Biedermann hatte wohl Ursache, nach 40 Jahren noch mit einer gewissen Genugthuung auf diese Schrift des zweiundzwanzigjährigen Studenten zurückzusehen und zu konstatiren, wie treu er sich in allem Wesentlichen geblieben ist. Bewegt sich dieselbe auch in der Hegel'schen Terminologie, so ist doch die Gedankenführung eine durchaus eigene und selbstständige. Haben die Hegelianer immer und immer wieder den Vorwurf zu hören bekommen, als sei es nur der Herren eigener Geist, was sie ihren Gott, das Absolute nennen, so sucht Biedermann den Nachweis zu führen, wie die Realisirung des absoluten Begriffs zur absoluten Idee d. h. die Offenbarung Gottes über den Umfang der Erde nothwendig hinausführe zu dem gesammten Universum, so dass nicht auf dem irdischen Mikrokosmos sondern nur auf dem Makrokosmos des Universums die Fülle der Geistigkeit Gottes sich vollenden kann. Wendet man aber ein, dass dieser Gott der Spekulation ein werdender, erst noch sich entwickelnder Gott sei, während das religiöse Bedürfniss einen in sich abgeschlossenen, *) Zweite Rede, Anm. 19. B*

12*

Biographische Einleitung.

fertigen und in seiner Vollkommenheit ruhenden Gott brauche, so wird darauf erwidert, dass allerdings Gott seinem Wesen nach schlechthin ewig ist und ohne zeitliche Veränderung. Aber so wenig der Orthodoxe Bedenken trägt, seinen unveränderlichen Gott in der Zeit eine Welt schaffen und sich in ihr in stufenweiser Entwicklung offenbaren zu lassen, ebensowenig kann die Philosophie darauf verzichten, das Werden der absoluten Idee dem Werden der Natur analog zu betrachten, welche erst im Laufe der Zeit sich zur Fülle ihrer Organismen auseinander gelegt hat, als deren Spitze der Geist dann hervorbrach, dessen unendliche Arbeit es ist, sie verklärt in ihr Vaterhaus, den Gedanken, zurückzuführen. Drei Jahre später sah sich Biedermann noch einmal veranlasst, auf diesen Gegenstand zurückzukommen in seinem Aufsatz: das Gespenst des Pantheismus und die Persönlichkeit Gottes*). Aber erst in der Dogmatik bestimmt Biedermann den Unterschied zwischen Gott und Welt und damit seinen Gegensatz zum Pantheismus schärfer: Gottes Wesen ist, dass er absoluter Geist ist. Das Wesen der Welt dagegen ist das Ineinandersein von Ideellem und Materiellem. Von einer Vermischung zwischen Gott und Welt kann bei dieser Unterscheidung so wenig die Rede sein, dass sein Gottesbegriff vielmehr auf Seite des altkirchlichen Gottesbegriffes (natürlich mit Ausscheidung alles Mythologischen), als auf Seite einer pantheistischen Weltsubstanz zu suchen ist. Am 15. August 1841 verlieSs Biedermann ßerlin und nahm seinen Rückweg in die Heimath über Hamburg und Helgoland nach Hannover, wo er von dem ehemaligen Kriegs-Kameraden seines Vaters, dem damaligen Stadtdirektor Haussmann aufs Liebenswürdigste aufgenommen wurde. Von hier ging es über Erlangen und Nürnberg nach Stuttgart, zu Dr. D. F. Strauss, den er so sehnlichst kennen zu lernen wünschte. Ueber diesen Besuch, sowie denjenigen bei den Häuptern der Tübinger Schule verweisen wir auf seine eigene Darstellung**). Auch die Nöthen, *) Kirche der Gegenwart, 1845. **) Erinnerungen, S. 399 f.

Biographische Einleitung.

13*

welchc das theologische Examen in Basel seinen Examinatoren fast noch mehr als ihm bereitete, bis Alles schliesslich in der im ehrwürdigen Chore des Münsters gehaltenen Probepredigt seinen befriedigenden Abschluss fand, sind von ihm selbst in solch offener und für beide Theile ehrenvoller Weise geschildert worden, dass wir nur den Wunsch beizufügen haben, es möchten alle Kirchenbehörden und Examinanden sich daran ein Exempel nehmen. Damit hatten nun die Lehr- und Wanderjahre Biedermann's ihr Ende erreicht. Was weiter aus ihm werden sollte, das beschloss er, vorderhand still seinen Studien lebend, in Basel abzuwarten. War ihm zwischen einem Pfarramt und der akademischen Thätigkeit die Wahl gestellt, so musste sich nach Allem, was wir bisher von ihm kennen gelernt haben, das Zünglein der Waage nach der letzteren hin neigen. Denn darin lag, wie er selbst wohl fühlte, der Schwerpunkt seines Wesens. Diese Pläne erfuhren nun aber durch Dinge, die ausser der menschlichen Macht stehen, eine gänzliche Veränderung. Mit seinem Freunde Riggenbach kam er häufig in eine Familie, deren ältester Sohn, obwohl er sich dem Handelsstande gewidmet hatte, noch vom Pädagogium her sich gern an die Theologen anschloss. Es waren aber auch Töchter im Hause, deren Eine längst schon im Stillen Riggenbach's Verlobte war. Da dauerte es nicht lange, dass unser spröde Gelehrte sich eifrig nach einer Pfarrstelle umsah, die es ihm ermöglichen sollte, die älteste Tochter als Hausfrau heimzuführen. Zwar sah die Familie derselben die freisinnige Richtung des Kandidaten gar nicht gern und trug Bedenken, einem solchen „Ungläubigen" ihr Kind anzuvertrauen. Aber die gegenseitige Neigung überwand den Widerstand der Eltern und als ihm die Pfarrei Mönchenstein, eine Stunde von Basel, aber zur Landschaft gehörend, angetragen wurde, da durfte endlich die Verlobung gefeiert werden, der nach drei Monaten die Hochzeit folgte. Am 14. Dezember 1843 wurde er mit Elise Holzach in der kleinen Dorfkirche getraut. Im Laufe der sieben Jahre, welche das junge Ehepaar in Mönchenstein zubrachte, wurden ihm drei Kinder geboren, lauter Mädchen „und — so scherzte er einmal — die gaben schon so

14*

Biographische Einleitung.

viel zu thun, dass wir gar nicht Zeit hatten, uns auch noch einen Buben zu wünschen." — Ueber die Zeit seines Aufenthaltes in Mönchenstein und seine Stellung im Pfarramt hat sich Biedermann später stets mit Freude und innerer Befriedigung ausgesprochen. „Es war dies die Zeit des Nachfrühlings uud Vorsommers in meinem Leben, wo nach den Knospen und Blüthen die Früchte sich ansetzen, die im Laufe des Sommers ausreifen sollen, wo aber auch vorübergehend Nachtfröste oder Hagelschläge eintreten." Zu den letzteren gehörten die politischen Unruhen, welche seine Gemeinde stark aufwühlten und die Pastoralklugheit ihres jungen Pfarrers auf eine nicht leichte Probe stellten. Das Jahr Achtundvierzig fand auf schweizerischen Boden in den Freischaarenzügen und dem Sonderbundskriege sein Vorspiel und da der politische Radikalismus in seiner Gemeinde stark vertreten und an Explosivstoffen überhaupt kein Mangel war, so hatte Biedermann vollauf zu thun, als ein Mann der Ordnung und des Friedens und als solcher jeder Wühlerei und agitatorischen Thätigkeit abhold, zur Beruhigung der Gemüther und Klärung der Geister das Seine beizutragen. Nicht minder stark drangen die "Wellen der kirchlichen Bewegung von Deutschland her in das Pfarrhaus zu Mönchenstein hinein und Hessen seine Bewohner nicht zu einem ungestörten Geniessen ihres jungen ehelichen Glückes kommen. Auf David Strauss war Ludwig Feuerbach gefolgt, welcher die Religion für Illusion und das Christenthum für abgethan erklärte; die Halle'schen Jahrbücher sekundirten und zogen das junge Deutschland nach sich; der Anfang vom Ende der Kirche schien gekommen. Dass sich Biedermann durch alles das in seinen Ueberzeugungen nicht irre machen und die Freude an seinem Pfarramt nicht verderben liess, zeigt uns die innere Reife, welche sein Wesen zu einer Zeit schon gewonnen hatte, wo die Meisten noch mitten im Suchen und Tasten begriffen waren. Als Prediger fiel es ihm gar nicht ein, die Fahne der Aufklärung von seiner Kanzel flattern zu lassen und mit den Mode gewordenen Schlagwörtern von Licht, Freiheit, Wahrheit Humanität um sich zu werfen, vielmehr war es sein Bestreben „orthodox zu predigen,"

Biographische Einleitung.

15*

nämlich in dem eigentlichen und guten Sinne des Wortes, wonach die Rechtgläubigkeit einer Predigt darin besteht, dass sie den christlichen Wahrheitskern eines Themas, einer Schriftstelle rein und ganz den Zuhörern zu erschliessen und ihren Seelen nahezubringen bestrebt ist. Es ist sehr charakteristisch, wenn der Mann, dessen Stellung zur ünsterblichkeitsfrage von jeher den meisten Anstoss erregt hat, erklärt, dass die Leichenpredigten zu seinen liebsten Funktionen gehörten, obgleich er am wenigsten in die Versuchung kam, sich über das Heikle dieses Gegenstandes mit einigen schönen und rtlhrsamen Phrasen, wie das so häufig geschieht, hinwegzuhelfen. Wenn Biedermann bei allem Ernst und pädagogischen Takte, womit er seine Aufgabe erfasste, nach seinem eigenen Geständniss doch nie kein sonderlicher Prediger gewesen ist, so sind die Gründe dafür ganz gewiss nicht in seiner Theologie, sondern in den natürlichen Schranken seiner Organisation zu suchen. Schon sein Organ war für die Kanzel nicht günstig; es fehlte demselben die Weichheit und Modulationsfähigkeit, der warme aber vielfach auch künstlich gemachte Brustton, wodurch die Wirkung des „inneren Wortes" oft erst hervorgebracht wird. Auch musste es dem jungen Manne, dem überhaupt die Redegewandtheit abging, nicht leicht werden, die Sprache der Studierstube und des wissenschaftlichen Denkens, die ihm vollständig mundgerecht war, in die Kanzelsprache und in die Formen der populären Beredsamkeit zu übersetzen. Bei allen glücklichen Bildern und Wendungen, die sich ihm manchmal zur Verdeutlichung eines Gedankens darboten, fehlte ihm doch die sinnliche Fülle des Ausdrucks, die plastische Gestaltungskraft eines Heinrich Lang ebenso sehr wie das prophetische Pathos eines Heinrich Hirzel und als ob er sich dieses Mangels immer momentan auch bewusst gewesen wäre, suchte er durch lebhafte Gestikulation da nachzuhelfen, wo die Sprache ihm den Dienst versagte. Auch seine Neigung in Dialekt zu sprechen, wo nicht der Ort oder der Gegenstand die Mundart von selbst ausschloss, hängt mit dem Gefühle zusammen, dass der Weg vom Herzen zum Herzen für ihn weniger geebnet sei als für viele Andere und dass er die Hecken, welche ihm denselben

16*

Biographische Einleitung.

versperren, durch die konkretere und trauliche Muttersprache am leichtesten zu überspringen im Stande sei. So sehr sich auch Biedermann innerhalb seines praktischen Amtes den Burgfrieden zu wahren wusste, so war es doch bei seiner Natur nicht anders möglich, als dass er von seiner ländlichen Pfarrei aus an dem Kampfe der Geister, welcher seit Jahren entbrannt war, lebendigen Antheil nahm. Den Wanderlustigen trieb es bald über die Berge, bald in ein befreundetes Pfarrhaus zu gemeinsamem Meinungsausstausch, bald in die schweizerische Prediger-Gesellschaft, die zu besuchen er nie ohne Noth versäumte und an deren Diskussionen er meist thätigen Antheil nahm. So in Zürich, im Jahre 1845, wo über das apostolische Glaubensbekenntniss, über dessen normative Bedeutung und verpflichtende Kraft die Geister auf einander platzten und er mit Riggenbach und Fries zusammen für die Befreiung von jeglichem Symbolzwang eintrat. Im Winter 1846/47 hielt er in Basel wöchentliche Vorlesungen Uber die religiösen Parteikämpfe — nicht mehr als ein ruhiger Beobachter, sondern als Einer, der mit seiner ganzen Person in diesen Kämpfen engagirt war. Denn schon drei Jahre vorher hatte der damals Vierundzwanzigjährige „eine Rakete aufsteigen lassen, die den Aufmarsch einer neuen Streitmacht, der spekulativen Theologie, ankündigte"*). Es war die Schrift: die f r e i e Theologie oder Philosophie und Christenthum in Streit und Frieden. „Die schönen Tage des Friedens zwischen der Kirche und der neuern Philosophie sind uns so sehr wieder entschwunden, dass selbst die Erinnerung daran verpönt ist. Die gegenwärtigen Vorkämpfer der Philosophie haben die Versuche einer endlichen Versöhnung nicht aufgegeben, sondern weggeworfen, die Verhandlungen abgebrochen und vor den Thüren der Kirche den Staub von den Füssen geschüttelt. Zwei Heerlager stehen sich so feindlich gegenüber wie nie; zwar laufen noch immer eine grosse Anzahl Unterhändler geschäftig hin und wieder, allein man hört hüben und drüben nicht mehr auf sie.

*) Geschichte der theologisch-kirchlichen Entwicklung in der deutschreformirten Schweiz von Dr. G. Finaler, S. 7.

Biographische Einleitung.

17*

Die Glaubenslehre von Strauss bot das Schauspiel einer Parforcejagd, in welcher die kirchliche Vorstellung durch die Dogmengeschichte herabgesetzt wird, bis sie todt zu den Füssen der modernen Philosophie niedersank, und Feuerbach sie erst recht unbarmherzig ausweidete." So schildert der Anfang der Schrift den damaligen Stand der Dinge. Nicht um einzelne Dogmen und deren Gültigkeit, nicht um einzelne Formen des Kultus und deren Beseitigung handelte es sich mehr: was in Frage gestellt war, das war nichts Geringeres, als die Wahrheit des Christenthums, die Existenzberechtigung der Kirche überhaupt. Jedem denkenden freisinnigen Theologen war die Pistole auf die Brust gesetzt, jeder musste sich selbst die Fragen vorlegen: hast du mit deinen Ansichten noch ein Recht in der Kirche zu sein? Ist für dich die Möglichkeit eines befriedigenden Wirkens im Dienste derselben vorhanden? Zu zeigen, wie die Wahrheit des Christenthums nicht darunter leidet, sondern nur dadurch gewinnen kann, wenn es seiner mythologischen Form entkleidet wird; wie die Kirche ihre Mission fort und fort hat und in dem Maasse erfüllen wird, j e mehr sie 6ich auf ihr Wesen besinnt und ihre Aufgabe darin sucht, Christi Geist in der Welt zu erhalten und zu verbreiten; wie Jeder ein Recht hat in der Kirche zu sein, der in diesem Sinne in ihr wirken will und wie die Kirche Keinen ausschliessen darf, der ihr dazu seine Dienste anbietet: das ist die Tendenz der „freien Theologie". Sie ist eine frisch und geistvoll geschriebene Schutznnd Trutzschrift für die Kirche und wider die Kirche, ein neuer Vertrags-Entwurf, auf dessen Grundlage nach der Ueberzeugung des Verfassers allein ein friedliches Zusammenarbeiten von Philosophie und Theologie, eine Versöhnung von Glauben und Wissen statt eines Auseinander- und Gegeneinandergehens derselben zu hoffen war. Hatten Schleiermacher's Reden über die Religion das neue Jahrhundert eingeläutet, so sollte Biedermann's freie Theologie den Frieden einläuten, nach dem Kampfe, der über den Gräbern Hegel's und Schleiermacher's einerseits und über dem Grabe der altkirchlichen Dogmatik andrerseits so heftig entbrannt war. So

18*

Biographische Einleitung.

gross auch die Verschiedenheit zwischen den beiden Schriften ist, sowohl was den äusseren Erfolg als auch was die Kunstform und die Tonart derselben betrifft, so fehlt es doch auch nicht an interessanten Berührungspunkten. Die Dogmatik Biedermann's verhält sich zu seiner freien Theologie ganz ähnlich, wie Schleiermacher's Dogmatik zu seinen Reden über die Religion. Ebenso weit wie dieser den Gebildeten unter ihren Verächtern entgegengekommen war, um sie für eine gerechtere Würdigung der Religion und ihrer Dienerin, der Kirche, zu gewinnen, ebenso weit kam Biedermann den Bilderstürmern seiner Zeit entgegen, indem er zeigte, wie allerdings die Wahrheit der Religion gerade darin bestehe, dass der Mensch sich in ihr zu seinem eigenen allgemeinen Wesen in Beziehung setze. Während aber für Feuerbach damit die Religion zu einer blossen Illusion des menschlichen Herzens herabsank, das in seinen religiösen Vorstellungen nichts anderes als sein eigenes Wesen, nur verunendlicht, als eine höhere Macht sich gegenüberstelle, so verstand Biedermann unter diesem allgemeinen Wesen des Menschen seinen Wesensgrund und zugleich den schöpferischen Grund der Natur, aus welcher der Geist als Zweckobjekt derselben hervorgeht. Hier gingen die Wege diametral auseinander. Während Strauss und Feuerbach mit ihrem Anhang nach links abschwenkten, um aus dem Schatten der Kirche wie aus ihrem Zwielicht herauszukommen, so nahmen Biedermann und seine Freunde ihr volles Bürgerrecht in derselben in Anspruch, indem sie das religiöse Selbstbewusstsein Jesu, die einzige Norm seiner Kirche, als auch für sich normativ anerkannten: als die Seele und Kraft ihres Wirkens, als das erlösende Prinzip, welches die Kirche der Menschheit vermitteln will. Das Geschrei der Gegner über diese Schrift war lauter als der Beifall der kleinen jugendlichen Schaar, welche in dem Verfasser derselben ihren Stimmführer begrttssten. Am meisten that sich unter den Ersteren der Berner Pfarrer J. P. Romang hervor, welcher in seinen „junghegel'schen Setzlingen" sowie in der darauf folgenden Streitschrift: „der neueste Pantheismus oder die junghegel'sche Weltanschauung" sich nicht damit begnügte, die Biedermann'sche Theologie wissenschaftlich zu bekämpfen, sondern

Biographische Einleitung.

19*

in denunziatorischer Weise die Ausreutung dieses Unkrautes aus der Kirche sich zum Ziel gesetzt hatte. Biedermann musste sich um so mehr durch den über die Maassen heftigen Ton dieser Angriffe verletzt fühlen, als die positive Tendenz seiner Schrift überall in derselben zu Tage trat; er musste dagegen protestiren, dass er für die destruktiven Konsequenzen mit verantwortlich gemacht wurde, die Andre als ihre Bilanz aus den kritischen Untersuchungen über das Wesen und die Entstehung des Christenthums gezogen hatten. So entstand im Jahre 1849 seine Schrift: Unsre j u n g h e g e l ' s c h e Weltanschauung, in welcher er seinen Gegner zu überzeugen suchte, dass dieser in seinem Kampfe gegen eine theoretisch hohle, praktisch verderbliche Zeitrichtung an ihm einen Bundesgenossen habe. Wurde auch dieser Zweck zunächst nicht erreicht, so fand doch später durch das freundliche Entgegenkommen Biedermann's eine Annäherung und theilweise Aussöhnung zwischen den beiden Männern statt, bei denen trotz aller Verschiedenheit der Standpunkte doch dasselbe uneigennützige Interesse an einer Beiden heiligen Sache zu Tage trat. Das Bedürfniss, den Anhängern der „freien Theologie" Kaum und Anerkennung in der Kirche zu verschaffen, führte zur Gründung eines periodischen Organs, der Kirche der Gegenwart, welche vom Jahre 1845 unter der Redaktion von Biedermann und David Fries in 6 Jahrgängen erschienen ist. Die wichtigsten Punkte, welche in den beiden genannten Schriften in der Sprache des Philosophen und nur für Fachleute verständlich besprochen waren, gelangten in dieser Zeitschrift zu mehr populärer, auch für denkende und urtheilsfahige Laien berechneter Diskussion; mit Freunden und Gegnern fand ein lebhafter Meinungsaustausch statt und so wenig auch der Ton der Zeitschrift auf eine Massenwirkung berechnet war, so viel hat sie doch dazu beigetragen, das Hecht der freien religiösen Ueberzeugung in der Schweiz festen Boden gewinnen zu lassen zu einer Zeit, wo in Deutschland an eine derartige Wirksamkeit innerhalb der Kirche noch gar nicht zu denken war. Es war ein in dieser Weise ganz unerhörter Freimuth, ein fröhliches Vertrauen auf ihr gutes Recht und auf die siegreiche Macht der Wahrheit, was die Mitarbeiter

20*

Biographische Einleitung.

beseelte und ihren Kundgebungen eine Kraft und Frische verlieh, welche auch heute noch nichts von ihrem Reiz verloren hat*). Bei der hervorragenden Stellung, welche Biedermann in dieser kirchlichen Bewegung einnahm, konnte es nicht ausbleiben, dass die Aufmerksamkeit in den bei der Besetzung theologischer Lehrstellen maassgebenden Kreisen auf ihn gelenkt wurde. Einen Ruf an die Universität Bern, der trotz Romang's Warnung an ihn erging, lehnte er ab, weil zu gleicher Zeit Unterhandlungen mit Zürich im Gange waren. Zur definitiven Berufung kam es aber erst am 22. August 1850 und schon im Oktober sollte er seine Stelle antreten. Darum entschloss er sich, vorerst allein nach Zürich zu reisen, sich bei seinem Freunde Fries, damals Diakon am St. Peter, einzuquartieren und Frau und Kinder den Winter über noch in Basel zu lassen. Auf dies erste Semester seiner akademischen Laufbahn pflegte er oft mit Grauen zurückzublicken: die Zeit der Vorbereitung war so kurz gewesen, dass es ihn Mühe kostete, sich in die Vorlesungen hineinzuarbeiten, zumal er mit dieser Stelle noch diejenige eines Religionslehrers in den oberen Klassen des Gymnasiums übernommen hatte. Die wichtige Frage, wie vom Standpunkte der Spekulation aus der Religions- und Konfirmationsunterricht zu behandeln sei, hatte Biedermann schon in Mönchenstein beschäftigt und ihn veranlasst einen Leitfaden zu entwerfen, den er Fries zu freier Benutzung überliess und welcher von diesem überarbeitet und unter dem Titel: der c h r i s t l i c h e G l a u b e , d a r g e s t e l l t f ü r K o n f i r m a n d e n veröffentlicht worden ist. Als Biedermann später selbst Konfirmandenunterricht für Kantonsschüler zu ertheilen hatte, pflegte er sich weder an diesen noch an einen andern gedruckten Leitfaden zu halten, sondern diktirte seinen Schülern kurze Paragraphen, manchmal katechismusartig in Form von Fragen und Antworten, als Handhabe für den mündlichen Unterricht und für *) Vergl. A u s A. E. B i e d e r m a n n ' s g e i s t i g e m N a c h l a s s . Deutsches Protestantenblatt 1885, No. 20 u. folg. Die hier unter besonderen Ueberschriften zusammengestellten Gedankenpartieen sind sämmtlich der freien Theologie und den Biedermann'schen Aufsätzen in der Kirche der Gegenwart entnommen.

Biographische Einleitung.

21*

das Gedächtnis« seiner Schüler. Wer eines dieser Konfirmandenhefte durchblättert, wird vielleicht erstaunt sein über den einfachen Gang und den im besten Sinne des Wortes positiven, der Kirchensprache angemessenen Ton, in welchem die Substanz des christlichen Glaubens den jugendlichen Gemüthern hier dargelegt wird. Wesentlich verschieden davon in Stoff und Behandlung war sein Religionsunterricht an der Schule selbst, worüber er sich in beherzigenswerther Weise folgendermaassen ausgesprochen hat. „Der Religionsunterricht in den oberen Klassen eines Gymnasiums hat seinen bestimmten, selbstständigen Zweck im allgemeinen humanistischen Zweck der Anstalt. Er soll die Jünglinge einführen in den inneren, wesentlichen, rationellen Zusammenhang der Religion mit den übrigen Seiten des gesammten menschlichen Geisteslebens. Aus diesem Zusammenhange heraus sollen sie die Religion erfassen lernen als den innersten Kern und Quell alles wahren persönlichen Geisteslebens. Auch der praktische Zweck der Erbauung, der anregenden Förderung und Befestigung im eigenen Glaubcnsleben, ist in diesem Unterricht auf dem Wege der Einführung in das rationelle Verständniss der Religion anzustreben. Und auf derjenigen Stufe von Geistesentwickelung, welche für Schüler des oberen Gymnasiums als die normale anzunehmen ist, wird er auch so am sichersten erreicht werden können. Denn da ist gerade der verhängnissvolle Zeitpunkt in der Entwickelung eines denkenden Menschen, wo ihm so leicht das Religiöse schon dadurch entfremdet werden kann, dass es seinem erwachten Erkenntnisstrieb stets nur in der Form äusserer Autorität entgegentritt, die für ihre Wahrheit nur Anerkennung — Glauben im niederen Sinn des Wortes — verlangt, die Erkenntniss aber sei's direkt versagt, sei's auch nur mit dem Schein von Aengstlichkeit verhüllend zurückhält. Der Jüngling wird dadurch so leicht misstrauisch gemacht gegen die religiöse Wahrheit, ob Bie wohl nicht überhaupt nur ein Nebel sei, der vor dem Sonnenlichte zerrinnen würde; er gewöhnt sich daran, wissenschaftliche Wahrheit und Glaubenswahrheit als zwei sich ausschliessende Gegensätze zu nehmen Wenn der Jüngling nur erst auf die seiner Fassungskraft entsprechende Stufe recht eingeführt,

22*

Biographische Einleitung.

wenn ihm nur schon hier das Vertrauen auf die Probehaltigkeit der religiösen Wahrheit vor dem denkenden Geist eingeflösst wird: so bewahrt ihn dies, wenn irgend etwas, wie vor der trägen und doch zugleich hochmüthigen Selbstgenügsamkeit in einem bloss erlernten Autoritätsglauben, so vor der hohlen und immer mehr aushöhlenden Eitelkeit, mit etwas angelernter Aufklärung schon über diesen und damit über den Glauben überhaupt hinaus zu sein. Es erhält ihn in der rechten Demuth, dass er zu der einem wahrhaft gebildeten Menschen geziemenden Erkenntniss in religiösen Dingen des steten Fortstrebens bedürfe, aber auch bei dem anspornenden Muth, dass eine solche Erkenntniss möglich sei und mit dem Gewinn der höchsten Geistesgüter lohne"*). Ein nach solchen Grundsätzen ertheilter Religionsunterricht musste nothwendig gerade auf die denkenden und strebenden unter uns Schülern befreiend und befruchtend wirken. War es auch nicht immer ganz leicht, dem Gedankengange des Lehrers zu folgen, so stand doch immer ein ganzer Mann vor uns, der seinem Worte Kraft und Nachdruck verlieh. Schon dass derselbe so ganz ohne geistliches Gepräge vor uns erschien, ohne eine Spur von gemachter Würde und Salbung, hatte etwas Gewinnendes und Sympathisches für Jünglinge, die, im Stadium des Humanismus begriffen, der Welt des klassischen Alterthums mindestens ebenso nahe standen wie den spezifisch christlichen Ideen. So wurde Biedermann bald unser Vertrauensmann, an dessen Schiedsrichteramt und Gerechtigkeitsgefühl wir stets am liebsten appellirten, wenn zwischen Lehrern und Schülern irgend ein Konflikt vorlag. Von ihm erwarteten und erlangten wir am ehesten Verständniss und billiges Gehör auch da, wo unsre jugendlichen Freiheitsbestrebungen etwa über die durch die Schuldisziplin gezogenen heilsamen Schranken hinausschiessen mochten. Es war diese Anerkennung Seitens seiner Schüler Biedermann um so mehr zu gönnen, als es ihm an Anfechtungen und an Versuchen, seine Stellung zu unterminiren, auch nicht gefehlt hat. *) Vorrede zum Leitfaden für den Religionsunterricht Gymnasien, 1859.

an höheren

Biographische Einleitung.

23*

Schon gleich beim Beginn seiner Lehrthätigkeit in Zürich war er auf heftigen Widerstand von Seiten der orthodoxen Partei gestossen: man wollte ihm die Aufnahme in die Synode auf Grund seiner bekannten freisinnigen Richtung nicht gewähren. Vergebens hatte Professer A. Schweizer das ganze Gewicht seiner Persönlichkeit für seinen jungen Kollegen in die Wagschaale gelegt; erst das mahnende und versöhnende Wort eines strenggläubigen Pfarrers: Professor Biedermann habe gelobt, ein treuer Diener Christi und seiner Kirche zu sein und man habe keinen Grund an seiner Aufrichtigkeit zu zweifeln, beschwichtigte den Sturm und brachte nach mehrstündigen Verhandlungen die peinliche Angelegenheit zu einem befriedigenden Schlüsse*). Einen ähnlichen Verlauf nahm im Jahre 1858 ein auf Grundlage mangelhaft geschriebener und missverstandener Schülerhefte gegen ihn als Religionslehrer erhobener Angriff, bei welchem der auf ihn geworfene Stein aut das Haupt des Anklägers zurückfiel. Wenn Biedermann später seine Stellung als Religionslehrer am Gymnasium aufgab, so geschah dies nicht etwa, weil derartige Sprengversuche ihm den Boden erschüttert und seine Stellung unmöglich gemacht hätten, sondern wohl lediglich aus dem Bedürfniss heraus, seine ganze Kraft auf sein Amt an der Hochschule und auf seine literarische Thätigkeit zu konzentriren. Wie sehr ihm die Stelle als solche und der Umgang mit Gymnasiasten Freude machte, bewies er später, da er sich 1877 bei eingetretener Vakanz zu provisorischer Uebernahme der Stelle sofort bereitfinden liess, die er dann freilich nach 2 Jahren wieder niederlegte, um fortan ganz der Universität zu leben**). Trotz der Stürme, mit welchen der Anfang von Biedermann's Lehrthätigkeit in Zürich begleitet war, fühlte er sich doch bald daselbst zu Hause. Die Stadt Zürich mit ihrem grossen historischen Hintergrund, mit ihrem rasch pulsirenden Leben, mit ihren internationalen Bildungselementen bei stark ausgesprochener indi*) Vergl. Kirche der Gegenwart 1852, 263 ff. **) Vergl. Erinnerungen an Prof. A. E. Biedermann. Zeitung 1885, No. 165 u. 166.

Neue Züricher

24*

Biographische Einleitung.

vidueller Färbung — sie wurde seine geistige Heimath und Biedermann ein so guter Züricher, dass kaum jemals der Gedanke in ihm aufgestiegen ist, diesen seinen Wirkungskreis mit einem andern zu vertauschen. Sein Lehramt brachte ihn im Verkehr mit einer Reihe von tüchtigen und zum Theil bedeutenden Gelehrten aller Fakultäten, von denen auch diejenigen, welche den Theologen scheuten, sehr bald den Menschen an ihm herausfanden, der mit seiner schweizerischen Einfachheit und Geradheit ein freundliches Entgegenkommen gegen den Fremden verband und Manchem das Sicheinleben in schweizerische Verhältnisse durch guten Rath und treue Hülfe wesentlich erleichtert hat. Ganz besonders schön aber gestalteten sich seine freundschaftlichen Beziehungen. Seine sehr bescheidene Wohnung hatte Biedermann in dem Hause „zur Reblauben", dicht an der Helferei St. Peter, bezogen und so kam es denn,, dass er im Hause von David Fries und wie dieser als Seminardirektor nach Küssnacht berufen wurde, bei seinem Nachfolger Heinrich Hirzel Jahre lang ein fast täglicher Gast, ein Hausgenosse war. Wie Vieles gab es da nicht über gemeinsame Angelegenheiten zu besprechen und wie manches Stündchen für harmlose Plauderei oder erfrischende Lektüre blieb dabei noch übrig! Wie leicht und schön gestaltete sich der häusliche Verkehr unter diesen einfachen, natürlichen Leuten, die keine Umstände mit einander machten und für welche die Fragen: „was werden wir essen und was werden wir trinken?" von sehr untergeordneter Bedeutung waren. Als im Jahre 1871 Heinrich Lang die schon durch Lavater berühmt gewordene Helferei St. Peter bezog, nur wenige Wochen noch als Kollege seines Freundes Hirzel, der fast schon ein Sterbender das Pfarrhaus bezogen hatte, dann als dessen Nachfolger: da wohnte die Familie Biedermann freilich nicht mehr in der „Reblauben"; denn schon im Frühling 1860 war dieselbe in die Helferei vom Grossen Münster übergesiedelt, wo sie bis nach seinem Tode geblieben ist. Dass man manche Treppe zu ersteigen hatte, um in die geräumigen, hellen und aussichtreichen, dabei aber höchst einfachen Räume zu gelangen, machte dem geübten Bergsteiger nichts aus; um so werthvoller war für ihn

Biographische Einleitung.

25*

die Erinnerung an den grossen Reformator, welcher dereinst im selben Hause gewohnt, das freilich daznmal noch ganz anders aussah und aus dem nur noch in dem unverändert gebliebenen „Zwinglistübchen" im unteren Stocke sich eine Reliquie aus der Reformationszeit erhalten hat. Aber auch von dieser seiner neuen Wohnung blieb die Pfarrei St. Peter ein Theil seiner geistigen Heimath. Schon als Lang noch in Wartau, dann als er in Meilen War, wie oft war er nicht zu dem Manne hinaufgepilgert, mit dem er in der Sache „bis auf den Grund eins, aber zugleich bis in die Spitzen hinaus individuell verschieden," Jahrzehnte lang im regsten geistigen Verkehr gestanden und zwar so, „dass die Beiden einander stets ohne j e eine Trübung durchsichtig und doch immer einander gegenüber selbstständig gewesen sind"*). Dieses schöne und für beide Theile fruchtbringende Verhältniss zwischen zwei in ihrem Gebahren, in ihrer äusseren Erscheinung wie in ihrer Art sich mitzutheilen so verschiedenen Naturen, es wäre nicht denkbar gewesen ohne jene grosse und freie Art Menschen und Dinge zu behandeln, wie sie Biedermann in ganz besonderem Maasse eigen war. An diesen engsten Kreis schloss sich denn bald ein weiterer von Gesinnungsgenossen und Freunden an, dem auch der jüngere Nachwuchs nicht fehlte. Unter denen, welche die örtliche Entfernung nicht von der regelmässigen Theilnahme ausschloss, bildete sich eine freie Vereinigung, das Limmatthal-Kränzchen genannt, das sich allmonatlich wcchselsweise in den Häusern seiner Mitglieder zu wissenschaftlich-praktischer Anregung und heiterer Geselligkeit vereinigte. Das Wort: „eure Rede sei allezeit lieblich und mit Salz gewürzt" hat in diesem Kreise seine schönste Anwendung gefunden. Ohne Statuten, ohne ständigen Präsidenten sassen hier Professoren und Pfarrer und Vikare einträchtig beisammen und liessen die Geister auf einander platzen. Jeder gab seinen Beitrag zur allgemeinen Diskussion, so gut er's eben konnte und von einer anderen autoritativen Gewalt als derjenigen, welche dem Geiste und der Kraft naturgemäss innewohnt, war hier gar *) Heinrich Lang.

Von A. E. Biedermann, S. 3.

B i e d e r m a n n , Vorträge und Aufsätze.

26*

Biographische Einleitung.

keine Rede. Die in solchem Kreise und in solcher Weise verlebten Stunden sind Allen, denen die Theilnahme an denselben vergönnt war, unvergesslich geblieben. Ein geselliger Kreis anderer Art, dem Biedermann wohl die ganzen vierunddreissig Jahre seines Züricher Aufenthaltes hindurch angehört hat und in dem er fast jede Woche einmal seine Erholung und Erfrischung suchte, hat sich unter dem harmlosen Namen der „Mittwochs-Gesellschaft" eine gewisse Berühmtheit erworben. Die öffentliche Meinung, namentlich in den demokratischen Kreisen, betrachtete diese Gesellschaft als eine Art politischen Klub, zur Stützung des „Systems", wie man die liberale Staatsleitung Zürichs nannte, welche nach einer mit der Straussen-Bewegung eingeläuteten kurzen Reaktionsperiode das Erbe der Dreissiger Jahre angetreten hatte. Allerdings waren es die einflussreichsten Zürcherischen Staatsmänner, ein A. Escher, J. Dubs, Rüttimann, Sulzberger (um nur Verstorbene zu nennen), welche in der, Regel am Mittwoch Abend im oberen Stock des Café Littéraire zu finden waren, dazwischen auch Kaufleute,, Aerzte, Pfarrer und Professoren. Aber so wenig auch Staat und Kirche von der Unterhaltung ausgeschlossen waren und so lebhaft es dabei manchmal herging, so ist doch weder jener noch diese von hier aus regiert worden. Die Gesellschaft war nichts weniger als eine Art politischer Loge, in welcher geheime Parolen ausgegeben und fügsame Werkzeuge für das Regiment ausgesucht und diseiplinirt wurden. So wenig von alledem in diesem Kreise zu finden war, so wohl that der freie Austausch der Meinungen beim Glase Wein oder Bier in dieser gemischten Gesellschaft, so angeregt und gekräftigt fühlte man sich durch diesen Umgang mit tüchtigen und hervorragenden Männern, so gern liess man sich wohl etwa einmal zu einem Abend fortreissen, welcher dem Horazischen: dulce est desipere in loco alle Ehre machte. Obgleich der Treuesten Einer in diesem Kreise, so ist Biedermann in demselben nie eigentlich in den Vordergrund getreten, während man wohl sagen darf, dass Heinrich Hirzel eine Zeit lang den geistigen Mittelpunkt desselben bildete. Biedermann war überhaupt nicht gerade das, was man einen guten Gesell-

Biographische Einleitung.

27*

schafter nennt; er war kein Witzbold, Keiner der mit leichter Sicherheit auf der Oberfläche spielte, der in der Unterhaltung Funken sprühen und Raketen steigen liess; er war von seinem Vater her gewohnt, die Dinge des Lebens ernst zu nehmen und eine gewisse Schwerflüssigkeit und Trockenheit, wie sie dem Schweizer angeboren ist, blieb auch in seinem Naturell, trotz aller Pflege und Zucht, welche er demselben angedcihen liess, als keineswegs überflüssiger Ballast liegen. Unter den gesellige^ Vereinigungen, denen Biedermann mit besonderer Liebe angehört hat und in denen er sich gerne aus seiner Berufssphäre hinausziehen liess, um Mensch zu sein unter Menschen, darf auch der schweizerische Alpenklub nicht unerwähnt bleiben. Hier waren es nicht bloss die Staatsmänner unter den Männern der Kirche, in deren Mitte er ebenso gern als Empfangender wie als Mittheilender sich bewegte; hier waren es Männer jeder politischen und religiösen Sichtung, jedes Standes und Berufes, welche die gemeinsame Liebe zur Bergwelt vereinigte. Längere Zeit ist Biedermann diesem Vereine als Präsident vorgestanden und es ist für ihn, dem das rücksichtslose Aussprechen seiner innersten Gedanken ebensosehr ein Bedürfniss %war, wie das gerechte und liebevolle Eingehen auf die Gedanken und Meinungen Anderer, eine grosse Freude und Genugthuung gewesen, auf dem gemeinsamen Boden der vaterländischen Alpennatur und auf den Höhen der Berge jedes Vorurtheil schwinden und jedes Uebelwollen in aufrichtige Freundschaft und Kameradschaft sich verwandeln zu sehen. „Die sich selbst interpretirende Dogmatik der Alpen, die dem Menschengewühl enthoben, direkt an das Herz dessen führt, der Himmel und Erde gemacht hat" — sie war das stillschweigende Glaubensbekenntniss dieser Schaar von Jünglingen und Männern, in deren Mitte Biedermann namentlich in späteren Jahren, da der Kreis seiner nächsten Freunde manche tiefe Lücke aufzuweisen hatte, genussreiche Stunden verlebt hat. Dem Zuge des Gemüthes und den eigenen persönlichen Erinnerungen folgend, haben wir den Faden unsrer Erzählung etwas weiter fortgesponnen als wir dies, streng chronologisch zu Werke C*

28*

Biographische Einleitung.

gehend, hätten thun dürfen. Wir kehren nunmehr zu der eigentlichen Berufstätigkeit Biedermann's zurück, und überschauen dieselbe bis dahin, wo sie in seiner Doginatik ihren monumentalen Ausdruck und Abschluss gefunden hat. Die Lehrstelle an der Hochschule in welche Biedermann eintrat, war zunächst eine ausserordentliche. Die Hauptfächer lagen in festen und bewährten Händen: F. Hitzig, der grosse Meister des Hebräischen, 0 . F. Fritzsche, der Kirchenhistoriker, A. Schweizer als Dogmatiker und zugleich praktischer Theologe waren die damaligen Säulen der Fakultät. Als bedeutende Kraft und warmer Gesinnungsgenosse trat im Jahre 1853 Gustav Volkmar hinzu und entlastete Biedermann in den neutestamentlichen Fächern. J. P. Lange, welcher zu Biedermann den grösstmöglichen Gegensatz bildete, folgte 1854 einem Rufe nach Bonn und an seine Stelle trat der bisherige Gesandtschaftsprediger in Constantinopel, Constantin Schlottmann — zwar ein offener Gegner der Biedermann'schen Theologie, aber durch seine wunderbar vielseitige Gelehrsamkeit und das Interesse, welches er an seinen Studenten nahm, ein auch von ihm hochgeschätzter Kollege. Freundschaftlicher noch gestaltete sich sein Vcrhältniss zu dessen Nachfolger Theodor Keim, Heinrich Lang's Landsmann und Studiengenosse, welcher schon gleich in seiner Antrittsvorlesung (1860) sich zur Ueberraschung Vieler als entschiedenen Anhänger der historischen Schule zu erkennen gab und sein Leben und seine leider früh aufgezehrte Kraft an das kühne, aber vergebliche Unternehmen setzte, der Welt auf Grundlage der vorhandenen und mit peinlicher Sorgfalt gesichteten Quellenschriften eine wirkliche Biographie Jesu zu schenken. Noch belebter wurde der Schauplatz, als der norddeutsche Licontiat Dr. Carl Held, von der Evangelischen Gesellschaft berufen in Zürich erschien und einen grossen Theil der gebildeten, namentlich Damen-Welt in seine Zauberkreise bannte. Ein Novalis auf der Kanzel, ein Romantiker auf dem Katheder, ein gewandter und herausfordernder Disputator in Versammlungen und in alledem unterstützt durch seine jugendliche sympathische Erscheinung, verstand er es wie kaum ein zweiter, die Geister zu wecken und eine neue Aera des

Biographische Einleitung.

29*

alten Glaubens schien mit ihm nach Zttrich gekommen zu sein. Ruhiger und unbefangener Urtheilende, darunter auch Biedermann, äusserten freilich ihre Zweifel, dass dieses aus junkerlichen Kreisen hergeholte Piingstfeuer lange vorhalten werde. Hascher noch, als man sich's gedacht und auf wahrhaft tragische Weise ging diese Weissagung in Erfüllung. In diesem Kollegium mit seinen gar mancherlei Gaben und Kräften waren Biedermann zunächst solche Fächer zugefallen, welche ergänzend, vorbereitend und verbindend den Hauptdisciplinen zur Seite standen und wie sie gerade dem bisherigen Gang seiner Studien entsprachen. Exegetische Vorträge über die neutestamentlichen Schriften wechselten mit religionsgeschichtlichen lind religionsphilosophischen; der Lehrbegriff eines Paulus, wie derjenige eines Hegel und Schleiermacher, bildeten seine Lieblingsthemata und dienten ihm als werthvolle Vorstudien für sein späteres Hauptfach: die Dogmatik, die ihm von 1860 an, wo er zum ordentlichen Professor vorrückte, zugetheilt wurde. Dass der jugendliche Dozent mit seinen Studenten zugleich ein Lernender war, dass die Worte ihm nicht so vom Munde flössen, um bequem zu einem hübschen Kollegienhefte gesammelt werden zu können, mochte den momentanen Eindruck beeinträchtigen, hatte aber den grossen Vortheil, dass der Zuhörer zu eigener Mitarbeit um so intensiver angeregt wurde. Noch näher brachten ihn die dogmatischen Uebungen, welche er später regelmässig in seinem Hause hielt, gerade mit den besten und strebsamsten seiner Schüler in Berührung. „Er führte die Jünger mit sich auf die Höhen, die ein Genius ihm segnend erschloss, brüderlich mittheilend von seinem Brod, so viel er davon hatte." Mitten in dieser angestrengten Thätigkeit wurde er im Sommer 1857 von einem heftigen Typhus überfallen, der ihn dem Tode nahe brachte. Was die tägliche Speise des gesunden Mannes gewesen war, „die erhabenen Gedanken Gottes nachzudenken," das beschäftigte ihn auch in seinen Fieberphantasieen, wobei besonders das Bild Christi ihm stete vor die Augen trat. Als die Krisis einmal überstanden war, da machte die kräftige Natur sofort wieder ihre Rechte geltend: er genas so rasch, wie

30*

Biographische Einleitung.

er erkrankt war und erlangte schon nach zwei Monaten seine volle Gesundheit wieder. Und er brauchte sie auch; denn die Arbeit häufte sich. Er wurde Mitglied des Erziehungsrathes und von den Unterrichtsstunden durfte er keine abgeben, wenn der ohnehin knappe Gehalt für die wachsenden Bedürfnisse der Familie ausreichen sollte. Dazu kam im Sommer 1859 die Gründung d e r Z e i t s t i m m e n a u s der r e f o r m i r t e n K i r c h e der S c h w e i z . War auch in Heinrich Lang der Mann gefunden, welcher alle Eigenschaften des tüchtigen Redaktors in sich vereinigte, so vertrat doch Biedermann bei dem Blatte Pathenstelle und seine Mitarbeit durfte nicht fehlen. So ist denn auch kaum ein Jahrgang zu finden, den er nicht durch werthvolle Beiträge bereichert hätte. Wohl der bedeutendste darunter, ausser den in dieser Sammlung abgedruckten, ist das offene Schreiben an Professor Dr. Riggenbach in Basel: d i e Z e i t s t i m m e n vor dem R i c h t e r s t u h l d e r e v a n g e l i s c h e n Allianz (1862), veranlasst durch einen Vortrag, den der Genannte in der Versammlung der evangelischen Allianz zu Genf gehalten und unter dem Titel: „der heutige Rationalismus, besonders in der deutschen Schweiz" veröffentlicht hatte. Schon dass die evangelische Allianz, welche sich rühmt in ächt-evangelischer Weitherzigkeit über dem Gegensatz dogmatischer Differenzen und kirchlicher Denominationen zu stehen, sich dazu berufen fühlte, eine kirchliche Richtung des Landes, dessen Gastreclit sie genoss, vor ihren Areopag zu ziehen, musste auffallen und durfte Bedenken erregen; noch mehr dass gerade Bicdermann's Schwager und Freund die Rolle des Anklägers in diesem Prozesse übernommen hatte. Andrerseits waren es aber gerade diese persönlichen Beziehungen, welche Biedermann zur Antwort ermunterten; denn „wenn eine Einheit über dem Streit möglich ist, so sollte sie es zwischen uns sein; ist sie zwischen uns nicht möglich, dann weiss ich nicht, wie sie überhaupt möglich sein sollte". Auf die Anklage mit Schweigen zu antworten, ging um so weniger an, als für den heutigen Rationalismus in der Schweiz ausdrücklich die Zeitstimmen und ihre Theologie als Typus hingestellt und verantwortlich gemacht wurden. Da verstand es sich wohl von selbst, dass Biedermann auch seinerseits natürliche

Biographische Einleitung.

31*

Rücksichten und Bedenken bei Seite setzte und es übernahm, die Verteidigung der hart angegriffenen Sache, die j a grossentheils seine eigene war, zu führen. Leicht ist ihm diese Arbeit nicht geworden. Die Gemeinschaft des Glaubens war ihm von einer Seite gekündigt, mit der er, wie Zwingli mit den Wittembergern, am liebsten hätte einig sein mögen; seine Theologie war als eine wissenschaftlich nichtige und bodenlose hingestellt worden von einem Mannendem er am ehesten, wenn auch nicht ein Einverständniss, so doch ein Verständniss und eine gerechte und billige Würdigung meinte zutrauen zu dürfen. Und wenn der Ernst der Ueberzeugung, den er seinem Ankläger abfühlte, jeder Regung persönlichen Unwillens ob der erlittenen Kränkung in ihm den Stachel umgebogen hat, so kehrte sich dieser Unwille um so mehr gegen einen theologischen Standpunkt, „der sich in dem Freunde als unfähig erwiesen hat, dem Gegner gerecht zu werden" — darum unfähig, weil er dazu sich selbst hätte aufgeben müssen. Punkt für Punkt werden die verschiedenen Anklagepunkte vorgenommen und beleuchtet, nicht sowohl in der polemischen Absicht, die gegnerischen Positionen umzustossen, als vielmehr in der irenischen Tendenz, „das innere Verhältniss der verschiedenen Richtungen, die in unsrer evangelischen Kirche gegen einander streiten und doch mit einander wirken für Ein gemeinsames höchstes Gut, in ihr wahres Licht zu stellen und damit auch Raum zu schaffen für ein evangelischeres Verhalten der Vertreter derselben zu einander". — Es verdient hervorgehoben zu werden, dass dieser für beide Theile schmerzliche Konflikt das persönliche Verhältniss zwischen ihnen unangetastet liess und dass es Biedermann noch auf dem Todbette ein Bedürfniss war, sich dessen zu versichern und zu getrosten, was über der trennenden Kluft als gemeinsames Heilsgut ihnen beiden gegeben war. Dass Biedermann in seinem engsten Lebenskreis den Zwiespalt zwischen bibelgläubiger Richtung und freisinniger Theologie persönlich erleben musste, das trieb ihn um so mehr an, sich über seine freie Auffassung des Christenthums klar zu werden und dieselbe nach allen Seiten hin begründet und beleuchtet dar-

32*

Biographische Einleitung.

zulegen. Zu dieser inneren Nöthigung kamen äussere Impulse hinzu und namentlich Freund Hirzel liess ihm keine Ruhe, bis er sich an's Werk machte. Lange Jahre sammelte er unverdrossen den Stoff dazu, liess ihn wachsen und reifen und keine äussere oder innere Unruhe konnte ihn anders als vorübergehend von dem Ziele abziehen, das er sich gesetzt hatte. Und als endlich im Oktober 1868 der letzte Druckbogen seiner c h r i s t l i c h e n Dogma t i k korrigirt war, da athmete er erleichtert auf und rief aus: „So, jetzt hab ich meine Arbeit gethan, jetzt kann ich mich auch wieder einmal nach anderem umsehen!" Des Eindrucks der „ Grossartigkeitu des Biedermann'schen Systems haben auch Solche sich nicht erwehren können, welche sich demselben gegenüber ablehnend oder wenigstens kritisch verhalten. Biedermann hat sein christliches Lehrgebäude in drei Stockwerken aufgebaut. Das erste, mit dem Naturgrunde der Religion im Menschen in unmittelbarster Berührung stehend, lässt dieselbe vor unsern Augen psychologisch entstehen, wobei der göttliche und der menschliche Faktor: Offenbarung und Glaube als die konstruktiven Elemente der Religion in ihrer Wechselwirkung zu Tage treten. Von der subjektiven Religion, wie sie der Einzelne als Erfahrungstatsache in seinem eigenen Innern vorfindet, werden wir zur objektiven Religion, als einer Gemeinschaft, hingeführt und treten damit hinein in den Kreis der christlichen Ideen, die nunmehr als Gegenstand der Wissenschaft im Brennspiegel des denkenden Geistes aufgefangen werden, von dem aus das ganze Gebäude sein Licht empfangen soll. Im zweiten Stockwerk befinden wir uns auf rein geschichtlichem Boden. Wir stehen gleichsam in einer Rüstkammer, in welcher der christliche Glaube seine Waffen und Siegestrophäen, wohlgeordnet, aufgespeichert hat. Der Bibelgläubige findet hier seine biblische Dogmatik, der Symbolgläubige jeder Eonfession seine heiligen Symbole und Jedermann erkennt, dass der Baumeister es sich zur Pflicht gemacht und seine Ehre darin gesucht hat, einem Jeden das Seine ungeschmälert und treu zu Theil werden zu lassen. Das dritte Stockwerk ist das bedeutendste. Es enthält ein

Biographische Einleitung.

33*

chemisches Laboratorium, in welchem sämmtliche Dogmen in den Schmelztigel geworfen und auf ihren ewigen Gehalt geprüft werden. Die religiösen Ideen und kirchlichen Lehrsätze werden aus ihrem sinnlichen Gewände, der Vorstellung, sorgfältig herausgeschält und gelangen von hier aus in ein zweites Obergemach, das einer Sternwarte gleicht: was im unteren Stockwerk von dem menschlichen Naturgrunde aufleuchtete an erlösenden Gedanken, was dann im zweiten Stockwerk kirchlich geprägt erschien in einer Mischung von edlen und unedlen Metallen, das leuchtet hier als ein Sternbild rein und mild über dem menschlichen Leben. Hier sind die Priester des wahren Gottes, welche ihn anbeten im Geist und in der Wahrheit. Sie beten ihn an als den einen und reinen Geist, als „aller Dinge Grund und Wesen," als das „Wunder aller Wunder," der doch kein Wunder thut im gewöhnlichen Sinn eines Uebernatürlichen und Uebervernünftigen, was doch nur ein Unnatürliches und Unvernünftiges wäre; sie gemessen in ihm in gottseliger Genügsamkeit auf Erden schon ein ewiges Leben. Der Weihrauch, welcher dies Gemach erfüllt, das ist der Geist Jesu Christi; der Altar, darauf geopfert wird, das ist das Leben selbst mit seinen täglichen heiligen Aufgaben und Pflichten und das Opfer, welches auf demselben Gott dargebracht wird, das ist die natürliche Selbstsucht, das Widergöttliche im Menschen. Alle sind Priester, die in dies Heiligthum Eingang finden und wenn ihre Zahl keine allzugrosse ist, so fühlen sie sich doch auch wieder als Glieder jener grossen Gemeinschaft, deren Symbole und Wappenschilder das zweite Stockwerk uns gezeigt hat und von denen das Wort gilt: Gott will auch haben, die ihn also anbeten. Später, bei der Vorbereitung einer zweiten Auflage, sah Biedermann sich durch die Kritik seines Buches veranlasst, an seinem Gebäude noch einen Vorbau, eine Art Propyläen anzubringen, welcher den Zusammenhang seiner Theologie mit der philosophischen Weltbetrachtung herzustellen bestimmt war. Unter der Aufschrift: die e r k e n n t n i s s - t h e o r e t i s c h e G r u n d l a g e wird hier zunächst die monistische Weltanschauung entwickelt, welche dem ganzen Biedermann'schen System zu Grunde liegt und sodann der psychologische Gang des Erkenntnissprozesses

34*

Biographische Einleitung.

Schritt für Schritt dargelegt, damit nach dieser nicht leichten Vorprobe Jeder auf das Weitere gerüstet sei. Auch eine Warnungstafel fehlt hier nicht des Inhalts: „Für Solche, welche bei einem theologischen Buche nur nach Stichwörtern fahnden, um darnach sofort mit ihrem Urtheil über den Glauben und Unglauben des Autors und über den Werth seines Buches fertig zu sein, sind scharfe Fussangeln gelegt, in die eine zutäppische Absprecherei leicht gerathen dürfte." Man pflegt die Dogmatik Biedermann's allgemein unter den Begriff des Hegel'sehen Systems zu subsummiren und ohne Frage ist sie die bedeutendste Leistung systematischer Theologie, welche auf diesem Boden gewachsen ist — vielleicht auch die letzte. Aber gerade dieser Boden des Hegelianismus ist es ja, den Viele nur mit einem gewissen Widerwillen, Unzählige gar nicht betreten. Dieser Umstand legt Manchem, Biedermann wohlwollend Gesinnten den Wunsch nahe, dass derselbe sich für seinen Bau ein anderes Terrain möchte ausgesucht haben. Biedermann selbst wusste sehr wohl, dass er in den Augen der Welt — und auch der theologischen Welt! — klüger gethan hätte, diesem Rathe zu folgen; es war neben wissenschaftlichen Gründen, die wir gleich nennen werden, ein ethisches und persönliches Moment, nämlich die Ritterlichkeit seines Charakters, was ihn davon zurückhielt. Ganz ähnlich verhielt er sich j a zu David Strauss, zu Eduard von Hartmann. Dass er trotz Allem, was der spätere Strauss indirekt auch ihm zu Leide gethan hat, indem er das Tischtuch zwischen sich und der Kirche völlig entzwei schnitt, unentwegt als Freund zu ihm hielt, das ist ihm vielfach auch von Gesinnungsgenossen verdacht und selbstverständlich von Uebelwollenden übel gedeutet worden. Ebenso verwundert waren Viele, dass er sich mit dem „Pessimisten" und Todtengräber der christlichen Kirche, Eduard von Hartmann, so tief einliess, bei allem Tadel so Vieles an ihm zu loben fand. Gerade darin, dass er in seinem Urtheil über Menschen und Systeme sich durch keinerlei Rücksichten irre machen, durch keine Partei-Schlagwörter imponiren liess, erwies er sich als ein Ritter ohne Furcht und Tadel, dessen Sache das Leisetreten, die Scheu Anstoss zu erregen, das Bestreben, seine

Biographische Einleitung.

35*

Fahne nach dem politischen oder kirchlichen Winde zu richten, niemals gewesen ist. Und wo immer er einen tüchtigen und in seiner Art bedeutenden Mann über Gebühr getadelt, verkleinert, misshandelt sah, da empörte sich sein Gerechtigkeitsgefühl, da trieb es ihn an dessen Seite. Was zunächst H e g e l betrifft, so hat dieser sein zweifelhaftes Glück bei Lebzeiten schon als ein Orakel verehrt und angestaunt zu werden, nach seinem Tode mit um so grösserer Geringschätzung büssen müssen. In Biedermann's Augen war das Eine so verkehrt wie das Andre. Für ihn war Hegel kein Orakel, wohl aber der Mann, in dessen Schule er zuerst selbstständig und produktiv denken gelernt hatte, dessen Sprechweise ihm homogen, ihm beinahe — und leider nur zu viel — in Fleisch und Blut übergegangen war. Allmählig ist er auch in dieser Beziehung freier geworden, aber nicht so frei, dass nicht an vielen Stellen den selbstdenkenden Leser die Lust anwandeln sollte, die Schulterminologie in eine einfachere und verständlichere Sprache umzuwandeln, ganz unbeschadet des Gedankeninhaltes. Das betrifft zunächst die Form; den Inhalt selbst aber in's Auge fassend, kann es Einem oft fraglich erscheinen, ob nicht dessen, worin Biedermann von Hegel abweicht, ebenso viel ist, als dessen, worin er mit ihm übereinstimmt. Wir begnügen uns, einige Hauptpunkte namhaft zu machen. Mit Hegel stimmt Biedermann darin überein, dass durch reines Denken das Wesen und Sein des Geistes auch rein gefasst wird, ohne einen dunkeln Rest dahinter, und zwar in logischen Kategorien. Unter reinem Denken versteht Hegel ein Denken a priori, das rein aus sich die Welt zu erkennen, den Prozess der objektiven Vernunft in der Welt durch die immanente Dialektik des subjektiven Denkens nachzuerzeugen vermöchte. Reines Denken in der Sprache Biedermann's dagegen bedeutet dasjenige Denken, welches vom Standort des denkenden Subjektes aus die Dinge einfach so nimmt, wie sie ihm durch die Erfahrung gegeben sind. Der kühne und grossartige Grundgedanke der Hegel'schen Dialektik war: den Entwicklungsgang der objektiven Vernunft in der Welt durch die immanente Dialektik des mensch-

36*

Biographische Einleitung.

liehen Denkens nachzuerzeugen. Damit hat er aber das denkende Subjekt von seinem realen Standort hinweg und in den Aether der reinen Idee versetzt, wo ihm der Athem ausgeht und die Spekulation in Begriffsdichtung sich verliert. Biedermann lässt das Ich stehen, wo es in Wirklichkeit ist: in der sinnlichen Bestimmtheit seiner Existenz, und steigt mit ihm von da aus auf dem Wege der Induktion in den Himmel der religiösen Gedanken empor. Indem er aber die religiösen Vorstellungen in Gedanken umzusetzen sucht, da ist er weit davon entfernt, die Religion selbst in Philosophie, das Glauben in Wissen verwandeln zu wollen; denn Religion ist weder Vorstellen noch Denken, sondern „praktisches Selbstbewusstsein des Absoluten" und umfasst als solches alle Seiten des Seelenlebens; sie ist weder ein Gefühl noch ein Wissen noch ein Thun und doch etwas von alledem. Mit Recht durfte sich Biedermann dagegen verwahren, dass dieser sein Standpunkt einfach mit der Hegel'schen Spekulation identifizirt und dass seine Sätze kurzweg in die für die Beurteilung Hegel's schon längst üblich gewordenen Schablonen gefasst werden, in die sie nun einmal nicht hineingehören, in die sie hineinzwängen zu wollen aber — so fügen wir entschuldigend hinzu — die Biedermann'sche Terminologie immer aufs Neue verleitet. Dass er neuen Wein in alte Schläuche gefasst hat, das ist für die unbefangene Beurtheilung seines Systems und für das Verständniss desselben vielleicht das grösste Hinderniss gewesen: daher auch die unaufhörlichen Missverständnisse, die immer und immer wieder hören und widerlegen zu müssen ihm so verdriesslich war. In ähnlicher Weise, wie bei Feuerbach sich die Religion schliesslich in Philosophie auflöst, so wird auch bei S t r a u s s die religiöse Erkenntniss in die theologische resorbirt, indem die Erkenntniss über die Religion d. h. das denkende Erkennen und Verstehen des religiösen Prozesses — mit der Erkenntniss in der Religion d. h. dasjenige Erkennen, welches selbst eine religiöse Funktion ist — verwechselt werden. In diesen Fehler ist schon die alte Aufklärungstheologie verfallen; indem Strauss noch konsequenter auf diesem Wege weiter geht, die religiöse Erkenntniss

Biographische Einleitung.

37*

in eine theologische zu verwandeln, geht der Glaube selbst in seiner Umwandlung zum Wissen in die Brüche. Dem gegenüber geht das Streben der Biedermann'schen Dogmatik dahin, einerseits die Integrität der religiösen Funktion, des Glaubens, den übrigen Geistesfunktionen gegenüber nachzuweisen, andrerseits aber ebenso bestimmt und konsequent den Grundsatz durchzuführen, dass die religiöse Funktion gerade so gut wie jede andre Funktion des Menschen Gegenstand des wissenschaftlichen Erkennens und denselben Denkgesetzen unterworfen ist. Nirgends sind von Biedermann die religiös-intuitive und die logisch-begriffliche Erkenntniss in der Weise einander gegenübergestellt worden, als ob die erstere in der letzteren erst ihre Wahrheit und Gewissheit f i n d e ; denn diese hat der wahrhaft Gläubige als Glaubensgewissheit in sich; sondern was er fordert und betont, ist, dass der Glaube sich auch vor dem begrifflichen Erkennen in seiner Wahrheit und Reinheit b e w ä h r e , dass er am Prüfstein des denkenden Geistes ebenso sehr wie an demjenigen des praktischen Lebens sich als eine erlösende und beseligende Macht, als das geistige Lebenscentrum ausweise. Unter die von Hegel ausgehenden Strömungen, zu denen Biedermann's Dogmatik in demselben Flussbette einen Gegenstrom bildet, dürfen wir auch die Religionsphilosophie Ed. v. H a r t m a n n ' s rechnen. Eben in diesem Gemeinsamen liegt j a der nächste Berührungspunkt zwischen den beiden und das beiderseitige Bedttrfniss, sich mit einander auseinanderzusetzen. Für E. v. Hartmann war es ein wahrer Fund, als er Biedermann, „ einen weissen Raben unter den Theologen" kennen lernte; so viel wissenschaftlichen Sinn, solche Konsequenz des Denkens und Rückhaltslosigkeit des Sich-Aussprechens hatte er bei einem Manne, der innerhalb der Kirche stand und ein wichtiges Amt in derselben bekleidete, nicht vermuthet. Und doch, so urtheilt er, ganz ohne Schaden für die Unbefangenheit seines Urtheils ist diese innerkirchliche Stellung für Biedermann nicht geblieben, denn ohne dies hätte er doch wohl einsehen müssen, dass seine Dogmatik essentiell Uber das Christenthum hinausführe und ihren Namen nur trage zum Zwecke einer glimpflichen Ueberleitung zu einem Neubau ohne revolutio-

38*

Biographische Einleitung.

nären Umsturz. Auch Hartmann hält eine besondere Pflege der Religion für nothwendig; aber er behauptet, dass es dazu auf die Dauer weder einer Kirche bedürfe noch das Christenthum ausreiche, sondern dass ein Neubau nöthig sei, in welchem der arische Pantheismus und der jüdisch-christliche Monotheismus durch einander ergänzt und gereinigt werden müssen. Davon wollte freilich Biedermann so wenig wie Lang etwas wissen. Beide finden die ruhige, organische Fortentwicklung der im Christenthum gegebenen Grundlagen völlig ausreichend, um jene beiden Momente: das pantheistische und das monotheistische im Gottesbegriff zu vereinen. Ebenso überflüssig ist es, Buddha zu Hülfe zu rufen, um die Bedeutung des Uebels in der Welt in's rechte Licht zu stellen. Wenn Ein Mensch sich von dem Hartmann'schen Pessimismus unsympathisch berührt fühlen musste, so war es Biedermann, der in seinem praktischen Verhalten nicht die Spur von einem Pessimisten hat erkennen lassen. Aber hier legte sich sein Gerechtigkeitsgefühl und sein Scharfblick versöhnend in's Mittel. Er hielt das relative Recht des Pessimismus einem flachen, weltseligen Optimismus entgegen, „welcher das Uebel in der Welt als einen blossen Schatten gelten lässt, der nur so über ihre Oberflächc dahingleite". Darin — erklärt Biedermann — besteht sein gutes Recht, dass er mit dem Uebel, wie es thatsächlich zum Wesen der Welt gehörend vorliegt, vollen Ernst macht und dasselbe bis in die Wurzeln derselben hinabreichen lässt. Und er erkannte, namentlich in den späteren Veröffentlichungen Hartmann's, dass dieser Pessimismus keineswegs in dem Grade das Prinzip und die treibende Kraft der Hartmann'schen Philosophie ist, dass all sein Denken davon durchtränkt und auf dies Eine bezogen wäre, dass vielmehr ganze grosse und fruchtbare Gedankenpartieen sich leicht von dieser fixen Idee loslösen, die oft ihren Zug der Verzweiflung im Gesichte verliert und wie eine ironische Maske erscheint, durch welche hindurch der Weise das Leben betrachtet. So sehr Biedermann auch den völligen Mangel an Verständniss für die Entstehung des Christenthums bei Hartmann bedauerte, so unverhohlen er auch seine Verwahrung einlegte gegen die Ueberstiegenheiten und

Biographische Einleitung.

39*

gnostischen Träume einer Phantasie, welche in das Gewand der Spekulation sieh kleidet: ebenso freudig anerkannte er die dialektische Meisterschaft des Philosophen und ebenso sympathisch fühlte er die religiöse Ader desselben da heraus, wo Andre nur müssige Gedankenspiele zu sehen glaubten. Am allerwenigsten liess sich Biedermann durch Hartmann in dem Gefühl der vollen Berechtigung seiner eigenen Stellung und Thätigkeit innerhalb der Kirche irre machen; er ist überzeugt, dass seine Verarbeitung des Dogmas, wie tief sie auch einschneiden möge, gerade nur dessen religiösen Kern zur Anerkennung bringen wolle, dass er somit dem religiösen Zweck der KirchÄ diene, ob ihm dieselbe dafür Dank wisse oder nicht — Biedermann hat in seiner Festrede auf S c h l e i e r m a c h e r dem jungen Theologengeschlecht die Verpflichtung auf die Seele gebunden, das Erbe desselben gleicher Weise wie dasjenige Hegel's treu zu bewahren, den einen Sehatz in verständiger Weise mit dem andern verbindend, wie dies thatsächlich an der Züricher Hochschule der Fall war. Es wird derselben zur bleibenden Ehre angerechnet werden, # einen Biedermann neben einem Alexander Schweizer, gleichsam Hegel neben Schleiermacher, Einer den Andern ergänzend, besessen zu haben. Und wie es Biedermann zur besonderen Freude gereichte, seinem Kollegen Alexander Schweizer zum Jubiläum seiner fünfzigjährigen akademischen Lehrthätigkeit die soeben erschienene zweite Auflage des ersten Bandes seiner Dogmatik widmen und überreichen zu können, so war es wiederum Alexander Schweizer, der ein Vierteljahr nachher in die durch Biedermann's Tod der Hochschule entstandene Lücke eintrat und „obwohl bald in's 78ste Jahr tretend, das Wagniss übernahm, die Dogmatik an seiner Stelle vorzutragen, obgleich die Benutzung des grossartigen und Epoche machenden Werkes für den Vortrag der Glaubenslehre ein tüchtiges Stück Arbeit bringt, zu dem das Eine Auge bei nöthiger Schonung noch ausreichen mussu*). Schleiermacher hat die Dogmatik definirt „als die Wissenschaft *) Brief von A. Schweizer an den Verfasser.

40*

Biographische Einleitung.

von dem Zusammenhange der in einer christlichen Gemeinschaft zu einer gegebenen Zeit geltenden Lehre;" Schweizer ähnlich „als die Darstellung der jeweiligen Entwicklungsstufe der Kirche, frei von dogmatischen Fesseln", wogegen Biedermann zu bedenken giebt, wie schwer es sei, zu entscheiden, was der gegenwärtigen Entwicklungsstufe wirklich entspricht, ohne den Schein der Willkür auf sich zu laden. Die Glaubenslehre der Gegenwart soll sich als das nothwendige Resultat des wissenschaftlichen Verständnisses der Vergangenheit legitimiren und zwar mit dem praktischen Zweck, durch ihre wissenschaftliche Leistung die reine Pflege des christlichen Glaubenslebens in derjenigen Gemein^ schaft, für welche sie bestimmt ist, theoretisch zu begründen*). Bei aller Verschiedenheit, die zwischen Biedermann und Schleiermacher zu Tage tritt, wie in der Auffassung von der Stellung der Dogmatik, so in der Fassung des Religiösen überhaupt sowie der Stellung der Philosophie innerhalb der theologischen Wissenschaften, so ist doch in all den Hauptfragen des christlichen Glaubens wie in den Hauptresultaten seiner wissenschaftlichen Prüfung die Berührung zwischen Beiden ebenso durchgehend friedlicher Art wie umgekehrt in der Stellung Biedermann's zu Strauss und Hartmann gerade an den Endpunkten der Dissensus offen zu Tage tritt. Wenn trotzdem Biedermann mehr auf Hegel's wie auf Schleiermacher's Seite steht, so erinnert uns dies unwillkürlich an die Stellung Luther's und Zwingli's zu einander. Bei Luther wie bei Schleiermacher ist die Gemüthsseite, das Abhängigkeitsgefühl, der Kern und Quellpunkt der Religion; bei Zwingli wie bei Biedermann erscheint dieselbe vorzugsweise unter dem Gesichtspunkt eines praktischen Verhaltens. Bei den beiden letzteren hat die Religion einen durchaus männlichen Charakter und so sehr sich auch Biedermann stets dagegen verwahrt hat, die Religion, welche zunächst Sache des Gemüthcs ist, zu einer Verstandessache machen zu wollen, so lag es nun doch einmal in seiner Organisation, dass der Strom der Empfindungen in ihm nothwendig durch den Kanal der Reflexion hindurch musste, ehe *) Dogmatik, 2. Aufl. § 4.

41*

Biographische Einleitung.

er an die Oberfläche treten konnte. Dem Ewig-Weiblichen, das Goethe preist, tritt hier das Ewig-Männliche entgegen nnd wenn Schleiermacher wohl etwa mit dem Wunsche spielte, ein Weib zu sein, so hat ein solcher Wunsch schwerlich jemals in Biedermann's Seele gelegen. Mehr als mit Schleiermacher, bei welchem trotz aller Verschiedenheit der Ausgangspunkte und Wege die Resultate im Wesentlichen dieselben sind, hatte Biedermann das Bedürfniss sich mit der Eantischen Schule auseinander zu setzen. Mit K a n t selbst beginnend, unterwirft er in dem ersten Theile der zweiten Auflage seiner Dogmatik die erkenntnisstheoretische Grundlage desselben einer Prüfung, in welcher die kritische Meisterschaft Biedermann's glänzend zu Tage tritt. Mit dem Fundamentalsatze der Kantischen Erkenntnisstheorie erklärt sich Biedermann völlig einverstanden. „Unsre Erkenntniss ist, was die sinnliche Welt betrifft, in Raum und Zeit, was das geistige Moment betrifft, in die Formen des logischen Denkens beschlossen. Der Umfang der Erscheinungswelt bezeichnet für uns auch die Umfangsgrenze möglicher Erkenntniss. Was darüber hinausliegt, ist entweder bewusst bildliche Vorstellung oder Mythologie." Dasjenige nun, was dieser Erscheinungswelt zu Grunde liegt, ist das berühmte „Ding-an-sich", dessen Wesen wir nicht zu erkennen vermögen. Dieses Ding-an-sich hat nun aber bei Kant eine doppelte Bedeutung: bald ist es das ideell in der Erscheinungswelt Mitgegebene, dasjenige, was die Welt unseres Bewusstseins ausmacht; bald fasst Kant dasselbe als etwas, was jenseits der Erscheinungswelt für sich existirt, als ein transcendentes, metaphysisches X, womit nichts anzufangen ist. Dieser Doppelsinn des Wortes, dies Schweben zwischen einem unbekannten X und zwischen dem immanenten Wesensgrund der Dinge ist für die nach-Kantische Philosophie verhängnissvoll geworden. Nach drei Richtungen hin laufen von hier die Wege auseinander. „Gut", erklären die Einen, „wenn Ihr Philosophen uns nichts zu sagen wisst über dasjenige, was hinter der Welt der Erscheinung verborgen und ihr zu Grunde liegt, so ist hier eben der Punkt, wo der Glaube einsetzen muss, um den durch die B i e d e r m a n n , Vortrage und Aufsätze.

J)

42*

Biographische Einleitung.

Vernunft verlorenen Faden wieder aufzufinden und sich von demselben weiter leiten zu lassen. Hier ist unser, der Kirche, der Gläubigen Gebiet, in das Ihr uns nicht hineinzureden habt; hier, wo Euer Wissen als Stückwerk sich erweist, treten sittliche Werthurtheile an die Stelle logischer Beweise, hier lauschen wir um so andächtiger der Rede von dem fleischgewordenen Worte Gottes, von welchem die Bibel uns die beseligende Kunde bringt." „Und wir" — rufen Andre — „lassen uns kein X für ein U machen." Hat der Weise von Königsberg erklärt, dass das Ding-an-sich jenseits der Grenzen menschlicher Erkenntniss liege, so ist es für uns eben gar nicht vorhanden; wir halten uns an die Welt der sichtbaren Dinge, an dasjenige, was in die Grenzen von Baum und Zeit eingeschlossen ist und bei all seinen Mängeln wenigstens den grossen Vortheil für sich hat, dass man weiss, wie man mit ihm dran ist." „Ihr Materialisten habt darin völlig Recht" — so lässt sich eine dritte Stimme vernehmen, — es ist diejenige Albert L a n g e ' s — „dass die Welt der Sinne nur. materialistisch zu erklären ist. Ueber diese Erkenntniss hinaus giebt es Uberhaupt keine Erkenntniss. Wohl aber giebt es über der Welt der Sinne eine Welt der Ideale, das dichterische Produkt von dem Vernunfttriebe im Menschen. Diese Idealwelt ist ein schöner Traum, der allein es vermag, uns über die Nöthen des Lebens zu erheben und das Gemüth mit dem menschenwürdigsten Inhalt zu erfüllen — aber ohne - Beweiskraft für die reale Welt. Die materialistische Betrachtungsweise kann uns nicht wehren, diesen schönen Träumen uns hinzugeben, da die Materie selbst uns die Antwort auf die Frage: Wer bist du und von wannen kommst du? schuldig bleibt." Keine von diesen Konsequenzen, welche aus der Kantischen Erkenntnisstheorie gezogen und im Namen des Meisters proklamirt werden, kann Biedermann als die richtige, dem Geiste Kant's selbst entsprechende, anerkennen. Vielmehr ist das Ding-an-sich, das durch seine unbestimmte und zweideutige Fassung bei Kant so viel Verwirrung angerichtet hat, bei Lichte besehen nichts anderes als das An-sich-der Dinge, der ideelle Faktor in der realen Welt, der immanente Wesensgrund ihrer äusseren Erschei-

Biographische Einleitung.

43*

nung. Von diesem Wesen giebt es allerdings ein Wissen un.d zwar ein exaktes Wissen nämlich innerhalb der Formen des logischen Denkens, welches von empirisch gewissen Prämissen auf den Grund der Welt logisch exakte Schlüsse zieht. — Darnach ist es ein grober Irrthum der Materialisten, von einer WeltErkenntniss zu reden, bei welcher der ideelle Faktor in der realen Welt völlig aus dem Spiel gelassen ist. Nicht minder aber ist es ein Irrthum, wenn A. Lange zwischen der Welt der Wirklichkeit und zwischen der Idealwelt eine unübersteigliche Kluft befestigt sieht, — ein Dualismus, bei welchem der Mensch sich nicht beruhigen kann und der auch thatsächlich nicht vorhanden ist. Mit dieser Richtung sich des Näheren auseinander zu setzen, hatte Biedermann in seiner Dogmatik um so weniger Veranlassung, als dies seiner Zeit ganz in Biedermann's Geist schon von Lang geschehen war*). Um so mehr war es ihm ein Bedürfniss, zu derjenigen neu-Kantischen Richtung, welche auf theologischem Gebiete durch R. Lipsius einer- und A. Ritsehl andrerseits in hervorragender Weise vertreten ist, Stellung zu nehmen. Dem Einen gegenüber geschieht dies in durchaus freundschaftlicher, dem Andern gegenüber in vorwiegend ablehnender Weise. Er verkennt nicht die Verdienste, welche Ritsehl dem Dogmatismus wie dem Pietismus gegenüber sich erworben hat und die grosse und von Tag zu Tag wachsende Anhängerschaft, welche derselbe gefunden, ist ihm ein nicht zu unterschätzendes Symptom für den nicht mehr aufzuhaltenden Bankerot des alten Bekenntnissglaubens. Aber so sicher und schonungslos auch Biedermann das Messer der Kritik zu handhaben wusste, ebenso sehr war er ein Feind der Skepsis, welche an den wichtigsten und schwierigsten Problemen mit einem: non liquet! vorübergeht. Die ethische Begründung der Glaubenswahrheiten soll an die Stelle der dogmatischen und metaphysischen treten — ein grosses Wort! — womit es sich aber schlecht verträgt, wenn man die theologische Wissenschaft „auf die Kunst reduzirt, für den subjektiven Glauben bildliche Redensarten und Kautschukformen zu fabriziren, mit denen man *) Vergl. Biedermann, Heinrich Lang S. 115 u. folg. D*

44*

Biographische Einleitung.

den heiklen Fragen, was denn an all dem ernstlich wahr sei, ausbiegen kann . . . wenn man nicht etwa sich mit einem salto mortale auf den festen Boden eines „positiven" Glaubens hinübergerettet hat"*). Die grosse Popularität, deren die Ritschl'sche Theologie sich zu erfreuen hat, verdankt sie nicht nur dem unstreitig Wahren und Verdienstvollen daran, sondern ebenso sehr dem Vortheil, den sie bietet, die Antwort auf heikle Fragen abzulehnen. Indem sie sorgfaltig alle Spekulation aus der Dogmatik auszuscheiden sich anheischig macht und erklärt, dass der Gottesbegriff des Glaubens und der metaphysische Begriff des Absoluten nichts mit einander zu schaffen haben, ist sie zwar denen gegenüber im Rechte, welche die Religion bloss intellektualistisch auffassen, sei's in Form der vulgären Aufklärung, sei's in derjenigen der Spekulation, welche die Religion in Philosophie aufheben will. Ein solches Attentat auf die Religion ist aber Biedermann nie in den Sinn gekommen und wenn er, was der reale Wahrheitskern an der Religion sei, vermöge seiner Metaphysik erkennen will, ohne welche eine Erkenntniss der Wahrheit im Glauben Uberhaupt nicht möglich ist, so ist damit von einer Unterordnung der Religion unter die Metaphysik so wenig die Rede, als der kritische Beurtheiler eines Kunstwerks oder einer Dichtung sich damit über den Künstler und Dichter stellt. Der Kritiker kann unter Umständen ein Gedicht von Goethe oder eine Statue von Thorwaldsen oder eine Sonate von Beethoven sicherer beurtheilen und tiefer würdigen, als diese Männer selbst; er wird es sich aber deswegen nicht einfallen lassen, diese schöpferischen Geister schulmeistern und noch weniger, es ihnen nachthun zu wollen. So verhält sich das Denken der Religion gegenüber: es giebt den Maasstab, nach dem sie gemessen, es hält die Waage, darauf sie gewogen wird, ohne jemals der Dichterin von Gottes Gnaden in unsrer Seele den Rang streitig machen zu wollen. Zwischen der Dogmatik von Lipsius und derjenigen von Biedermann konstatirt der letztere eine fast durchgängige theologische Uebereinstimmung; was an Differenz vorhanden ist, wird *) Dogmatik, 2. Aufl. S. 55.

Biographische Einleitung.

45*

auf den Gegensatz der erkenntnisstheoretischen Standpunkte — dort Kant, hier Hegel — dort Dualismus, hier Monismus — zurückgeführt. Die bedeutsamsten Einwürfe, welche von jener Seite der Biedermann'schen Erkenntnisslehre gemacht werden, sind: Erstlich, dass diese Erkenntniss nicht über die Welt hinausführe. Zweitens: die Biedermann'sche Erkenntnisslehre liefere nur abstrakte Formen, keine wirkliche, konkrete Erkenntniss. Drittens: die menschliche Sprache, weil in die Formen der sinnlichen Anschauung gebannt, sei nicht im Stande das reine Denken auszudrücken. Auf den ersten Einwurf antwortet Biedermann: allerdings führt unsre Erkenntniss nicht über den Existenzrahmen der Welt, wohl aber über die Essenz der Welt hinaus zum absoluten Grund derselben, der nicht ihre Substanz ist, wie die Pantheisten meinen. Insofern ist Gott im Verhältniss zur Welt ebenso gut transcendent wie immanent, nur dass man seine Ueberweltlichkeit nicht als eine räumliche verstehen darf. Mit diesem Gottesbegriff Biedermann's steht seine Lehre vom ewigen Leben, welche die persönliche Fortdauer des Menschen ausschliesst, in logischem Zusammenhang. Ist Gott als der reine Geist der Welt immanent, so dass ein von der Welt getrennter Gott ebenso wenig existirt, als eine Welt ausser der Welt, so muss auch das Leben des endlichen Geistes innerhalb dieser Weltgrenzen verlaufen; ein Darüberhinaus ist für uns nicht vorhanden. Allerdings aber gewinnt der endliche Geist in seiner persönlichen Theilnahme am Reiche Gottes ewiges Leben. Denn das Wesen der Ewigkeit besteht nicht in einer unendlichen Zeitdauer, sondern in der Aufhebung des Zeitmomentes, wie schon Schleiermacher richtig erkannt hat. An dem göttlichen Leben mit Bewusstsein theilnehmen und ewiges Leben haben, das ist ein und dasselbe. Biedermann hat von Anfang an und häufig Veranlassung gehabt, über diesen Gegenstand, der ihm ganz besonders am Herzen lag, sich auszusprechen. War doch gleich das erste grössere Werk, das er in seinen Gedanken trug, ein Buch über „das ewige

46*

Biographische Einleitung.

Leben", aus welchem dann, weil die Weitschichtigkeit der Anlage ihn zu einer Durchführung des Ganzen nicht kommen liess, die „freie Theologie" entstanden ist*). Der Standpunkt Biedermann's ist in allen diesen Kundgebungen**) im Wesentlichen unverändert derselbe geblieben. Und doch war sich Biedermann sehr wohl bewusst, dass er gerade in diesem Punkte am meiBten Anstoss erregen und dass hier auch Solche ihn im Stiche lassen werden, die sonst mit ihm zusammengehen. So sehr er auch seinen Gegnern zu bedenken gab, dass seine Fassung der „letzten Dinge" nur die letzte Konsequenz seines Systems sei und nur von Solchen gewürdigt werden könne, welche sich die Mühe genommen haben, auf seinem Wege dahin ihn mitdenkend zu begleiten, so konnte er mit dieser Verwahrung natürlich nicht verhindern, dass dies Stück aus dem Ganzen herausgerissen und als Popanz verwendet wurde, um den Leuten, denen schliesslich an der Konservirung ihres lieben Ich in alle Ewigkeit hinaus viel mehr gelegen ist als an allem andern, zu zeigen, zu welch trostlosen Konsequenzen diese Richtung führe. Wenn aber auch ein sonst wohlwollender und in Biedermann's Gedankensystem eingeweihter Beurtheiler***) seine Lehre vom ewigen Leben dadurch in ihrer Haltlosigkeit und Nichtigkeit meinte aufgedeckt zu haben, dass er darauf hinwies, wie dies sogenannte ewige Leben gerade da aufhöre, wo es eigentlich erst recht beginnen mtlsste, nämlich mit dem Tode, so könnte man mit demselben Rechte sagen, eine Ehe sei null und nichtig gewesen, weil der Tod die Ehegatten früher oder später getrennt hat. So gewiss das Wesen der Ehe sich vollständig auch bei der kürzesten Zeitdauer derselben realisiren kann, so gewiss sie, wo dies wirklich der Fall ist, auch ein Ewiges im Zeitlichen darstellt, so gewiss realisirt sich der Begriff des ewigen Lebens, sowie er in der Biedermann'schen Theologie — und nicht in dieser allein, sondern schon im Johannis-Evange*) Vergl. Erinnerungen S. 405. **) Vergl. ausser der Dogmatik besonders das Sendschreiben an Biggenbach und „zur Eschatologie Biedermann'»", Prot. K.-Zeitung 1885, No. 10. ***) J. Kreyenbühl im Nekrologe der Neuen Zürcher Zeitung.

Biographische Einleitung.

47*

lium — gefasst ist, überall da, wo ein wirkliches Leben in Gott vorhanden ist. Und gerade einem Biedermann Nahestehenden wäre es auch nahe gelegen den Zusammenhang zu erkennen, in welchem Biedermann's gottseliges Sichbegnügen mit einer Ewigkeit im Rahmen dieser Zeitlichkeit nicht nur mit seinem System, sondern auch mit seinem Charakter, mit dem Besten in ihm steht. Seine Bescheidenheit und Uninteressirtheit haben an seiner Auffassung der letzten Dinge, an seinem Verzicht auf persönliche Unsterblichkeit vielleicht ebenso grossen Antheil wie die Logik und Konsequenz seines Systems und wenn man ihm seine Ansicht zum Vorwurf machen will, so kann dieser Vorwurf streng genommen nur lauten, er sei ein zu konsequenter Denker und ein zu bescheidener Mensch gewesen. Wir kehren von diesem Exkurs, der aber doch zur Sache gehörte, wieder zu Lipsius zurück und hören, was Biedermann auf seinen zweiten Vorwurf antwortet. Wenn dieser sagt: die Biedermann'sche Metaphysik liefere nur abstrakte Formen, nicht konkrete Erkenntniss, so giebt Biedermann demselben zu bedenken, ob nicht die Grenzen, welche er unsrer theoretischen Erkenntniss gezogen, zu eng gefasst seien. Dass wir nicht einmal wissen können, ob der transcendentale Einheitsgrund der Welt räumlich oder unräumlich ist, ob er mit dem Universum zusammenfällt oder von demselben verschieden ist, dass schliesslich all unser Wissen von dem Wesensgrunde der Welt sich beschränke auf die allem Denken und Dasein innewohnende Gesetzmässigkeit — das alles kann Biedermann nicht zugeben. Er ist sich bewusst, in seinen logischen Formeln den geistigen Gehalt der bildlichen Vorstellungen, in denen die Gottesidee ihren Ausdruck gefunden hat, rein zu besitzen, während Lipsius darauf besteht „dass der wirklich vernünftige Gehalt der Gottesidee nur in bildlicher Fassung zum Ausdruck kommen kann"*). Mit diesem Einwand hängt der dritte und unseres Bedünkens gewichtigste zusammen, dass die Sprache, weil in die Formen *) Biedermann's Dogmatik. Von R. A. Lipsius. Prot. K.-Zeitung 1885, No. 16.

48*

Biographische Einleitung.

der sinnlichen Anschauung gebannt, das reine Denken nicht auszudrücken vermöge. Darauf giebt Biedermann zu bedenken, wie doch thatsächlich eine ganze Reihe von Ausdrücken unsrer Sprache ihre ursprünglich sinnliche Bedeutung verloren haben und zum adäquaten Ausdruck rein geistiger Begriffe und Vorgänge geworden sind. Wohl hängt mit dem Sinnlichen und Symbolischen, das unsrer Sprache untrennbar anhaftet, die Neigung zusammen, geistige Dinge und Verhältnisse doch zugleich als räumliche und zeitliche zu nehmen, woraus dann Missverständniss und Verwirrung entsteht; da wird es dann Sache des geschulten Denkers sein, durch Korrektheit und Präzision des Ausdrucks solchen unangenehmen Folgen thunlichst vorzubeugen. Biedermann's Dogmatik liefert den Beweis, wie sehr er sich Mühe gegeben hat, dies Ziel zu erreichen, freilich oft auf Kosten des Stils und der Sprache selber; denn das „Schwersprachliche" seiner Dogmatik, worüber vielfach mit Recht geklagt wird, hängt grösstenteils mit jenem Streben zusammen. Denen gegenüber, welche überhaupt dem Abstrakten abhold sind und welchen insonderheit das Reden über religiöse Dinge nicht handgreiflich und massiv genug sein kann, macht er die treffliche Bemerkung, die man wohl als Motto seiner Dogmatik voranstellen könnte: „die Handhabung dieser „abstrakten Formeln" ist für die Erkenntniss der „übersinnlichen" Welt dasselbe, was die Algebra für die Mathematik. Mit algebraischen Formeln bezahlt man freilich weder Zeche noch Miethe; auch kann man sie für den Hausgebrauch wohl entbehren: allein wie weit käme die Mathematik ohne dieselben"*). Die Dogmatik Biedermann's wird das Schicksal aller grossen und Epoche machenden Geisteswerke theilen: die Zeit wird sie sichten und sieben und Vergängliches und Bleibendes an ihr unterscheiden lehren. Eine Reihe von Fragen, welche er in seiner Weise zu beantworten versucht hat, wie diejenige nach der Erkennbarkeit und begrifflichen Fassbarkeit Gottes und nach den „letzten Dingen", wie die Grenzregulirung zwischen Glauben und Wissen, werden nach wie vor den Gegenstand wissenschaftlicher *) Dogmatik, 2. Aufl. S. 172.

Biographische Einleitung.

49*

Erörterung bilden und über ihn hinaus gefördert werden. Die Ueberzeugung aber, welche von A. Schweizer bei der Gedächtnissfeier Biedermann's*) ausgesprochen und des Näheren begründet worden ist: die Dogmatik Biedermann's ist kein Parteiwerk — sie ist kein negatives Werk — sie ist kein rein philosophisches Werk: sie wird bei allen Urtheilsfähigen immer mehr in ihrer Berechtigung anerkannt werden. Sie ist kein P a r t e i werk; denn sie lässt allen theologischen Eichtungen Gerechtigkeit widerfahren und behandelt mit einer gewissen Vorliebe gerade die, welche sich als seine entschiedensten Gegner betrachten. Sie ist kein n e g a t i v e s Werk; denn Biedermann war eine entschieden positiv angelegte Natur, welche dadurch der christlichen Gemeinde dienen wollte, dass er die volle Wahrheit des Glaubensinhaltes herauszuarbeiten bemüht war. Sie ist aber auch kein rein philosophisches Werk; denn mit vollem Verständniss für die religiösen Funktionen sucht er, von dem Thatsächlichen in der Erscheinung und Entwicklung derselben ausgehend, zu zeigen, wie alle Ströme menschlichen Geisteslebens in sie als die höchste Realität einmünden. Mit dem Erfolge seiner Dogmatik durfte Biedermann wohl zufrieden sein. Heftige Angriffe, wie sie ihm früher von den Vertretern des alten Glaubens widerfuhren, blieben ihm dies Mal erspart, theils aus Respekt vor dem Menschen und Gelehrten Biedermann, an dessen Ketzereien man sich nachgerade gewöhnt hatte, theils wohl auch, weil für die meisten jener Gegner diese Dogmatik ein Buch mit sieben Siegeln war. Tadelnde Stimmen Hessen sich freilich auch von Solchen hören, die seinem Standpunkte viel näher standen und auf ihre Kritik hin unterwarf er die angefochtenen Stellen einer ernstlichen Prüfung, die aber keine Aenderung seiner Ansichten zur Folge hatte. Besonders erfreulich war für ihn die fast durchgehende Berührung mit 0. P f l e i d e r e r , der durchaus selbstständig durch seine religionsgeschichtlichen und religionsphilosophischen Studien auf denselben *) Zur Gedächtnissfeier Biedermann's. No. 31.

Prot. Kirchenzeitung

1885,

50*

Biographische Einleitung.

Weg geführt worden war. Und wie der jüngere Fachgenosse, so haben auch die Altmeister Vatke, Zeller und Strauss es an zustimmenden und ehrenden Urtheilen nicht fehlen lassen. Mit S t r a u s s trat er seit einer Rheinreise im Herbst 1869, die ihn zu einem kurzen Aufenthalte in Darmstadt veranlasste, in erneuerte persönliche Bekanntschaft und die gegenseitige Sympathie, trotz vieler Verschiedenheiten, die zum Theil bis auf die Wurzeln ihres Wesens herabreichten, Hess sie von nun an jeden Sommer ein kurzes Zusammentreffen, meistens am Bodensee veranstalten. Ja einmal verstand sich sogar Strauss dazu, dem vervehmten Zürich einen Besuch abzustatten. Von hier aus wurde in ganz kleiner Gesellschaft eine Fahrt nach Hutten's Ruheplätzchen, der Ufenau unternommen, die allen Betheiligten in schöner Erinnerung geblieben ist. Auch in weiteren und entlegeneren Kreisen war durch die Dogmatik die Aufmerksamkeit auf den Züricher Theologen hingelenkt worden und schien selbst der kleinen Universität mit ihrem Häuflein Theologen zu Gute kommen zu sollen. Nach und nach kamen Studirende aus dem Ausland; nicht nur Deutsche, auch Holländer, Engländer und längere Zeit ein origineller Prediger aus Boston suchten ihn auf und wurden seine Jünger. Aber gerade wie der Weizen anfing, so recht in Blüthe zu kommen, da brach der deutsch-französische Krieg aus und auseinander stoben die Studenten, Elsässer und Deutsche in die beiden feindlichen Heerlager. Mit ungeheurem Interesse und, obgleich Schweizer vom Scheitel bis zur Sohle, mit all seinen Sympathieen auf deutscher Seite stehend, verfolgte er den Lauf der Ereignisse. Als eine seiner Töchter einmal ein Bedauern mit dem gefangenen Kaiser Napoleon nicht unterdrücken konnte, da musste sie sich eine tüchtige Zurechtweisung ihrer verkehrten politischen Ansichten gefallen lassen. Inzwischen mehrten sich auch für ihn die Anzeichen, dass sein Lebensabend gekommen. Im Sommer des Jahres 1867 hatte sich seine älteste Tochter verheirathet, drei Jahre später die zweite. Es war wie eine freundliche Symbolik des Schicksals, dass in Folge dessen seine drei Heimstätten: Winterthur, Basel

Biographische Einleitung.

51*

und Zürich auch der dreifache Sitz seiner Familie wurden, zwischen denen seine väterlichen Gedanken und Gefühle hin- und herwanderten. So lieb ihm aber auch seine beiden Schwiegersöhne waren, so schmerzlich empfand er doch die Trennung von seinen Kindern. Durch die angestrengte Arbeit, hauptsächlich durch die Korrektur, hatten seine Augen gelitten und verlangten möglichste Schonung. So liess er sich denn des Abends gerne vorlesen. Das ganze Gebiet der Literatur interessirte ihn und Reisebeschreibungen, Biographieen, Romane und Novellen, auch wissenschaftliche und poetische Werke lösten in bunter Reihe einander ab. Fritz Reuter wurde sein besonderer Liejbling. Nachdem norddeutsche Bekannte über die ersten Schwierigkeiten des Plattdeutschen hinweggeholfen, wurde es ihm bald so verständlich wie der heimische Dialekt. Nur einmal wurde die friedliche Müsse seiner letzten Periode für kurze Zeit unterbrochen durch seine im Jahre 1871 erfolgte Wahl in den Kantonsrath, die gesetzgebende Landesbehörde. Aber auf politischem Gebiete und in dem Kampfe der Parteien ging es ihm genau so, wie es seiner Zeit seinem Freunde Strauss ergangen; er, der wissenschaftlich Radikale, erwies sich in der Politik als ein Liberal-Konservativer, den diese seine Anschauung mit Manchen seiner sonstigen Gesinnungsgenossen auseinander gehen liess, was ihm, wie das politische Parteigetriebe überhaupt, mehr Aufregung und Aerger als Freude verursachte. In dcr-Erkenntniss, dass der Erfolg zu dieser Störung seines inneren Gleichgewichtes in keinem Verhältniss stehe und dass er überhaupt nicht zum Parteimann und Politiker geboren sei, dankte er seinen Mitbürgern für das ihm bewiesene Vertrauen und trat nach einmaliger Amtsdauer aus der Behörde zurück. Unter seinen nächsten Freunden hatte der Tod schon mehr als eine tiefe Lücke gerissen. Theodor Meyer, David Fries und Helfer Hirzel waren nach langen schweren Leiden abberufen worden. Heinrich Lang, mit welchem beinah täglich zu verkehren und Alles auszutauschen, was ihn bewegte, ihm ein Bedttrfniss war, riss nach nur fünfjähriger Wirksamkeit in Zürich ein kurzes

52*

Biographische Einleitung.

Krankenlager hinweg. Was er an ihm besessen und verloren, zeigt aufs schönste das biographische Denkmal, das er unter dem frischen Eindrucke des Verlustes dem Freunde gesetzt hat*). Der Zurückgebliebene fühlte sich oft einsam, die wenigen Jugendfreunde, welche noch lebten, waren in der Schweiz zerstreut. Doch knüpften sich andre Beziehungen an, theils mit Kollegen, die ihm früher ferner gestanden, theils mit ehemaligen Schülern, die zu ebenbürtigen Freunden herangewachsen waren. Männer, mit denen er schon längst brieflichen Verkehr gepflogen, suchten ihn auf, wie sein geistesverwandter Kollege auf dem theologischen Lehrstuhle der Universität Leyden, Schölten; wie Lipsius, „der wiederholt sein Gast gewesen im herrlichen Zürich und zum letzten Male im vergangenen Sommer, unter Biedermann's kundiger Führung, gemeinsam mit Eduard Zeller, an der Pracht von Zürichs Bergen und Wäldern sich erfreute"**). Auf einer grösseren Heise nach Norddeutschland im Jahre 1876 hatte er den Letzteren im freundlichen Saalthale besucht und in Berlin 0. Pfleiderer und E. v. Hartmann persönlich kennen gelernt. Mit grosser Freude durchwanderte er nach 35 Jahren wiederum die Stadt, die auch für ihn eine Metropole der Intelligenz gewesen und wie eine ehrwürdige Säule aus dieser seiner Frühlingszeit stand sein greiser Lehrer und Freund Vatke vor ihm, körperlich leidend, aber dabei in altgewohnter geistiger Frische und Lebendigkeit. Nicht minder interessirtc es ihn, sein altes Studentenquartier, Dorotheenstrasse 19, aufzusuchen und mit Hülfe seines ehemaligen Kollegen Schräder die gewaltigen baulichen Veränderungen kennen zu lernen, welche Berlin in den letzten Dezennien erfahren hat. Als die Universität Leyden ihr dreihundertjähriges Jubiläum feierte, war er Zürichs Abgeordneter zu diesem glänzenden Feste. Mit Professor Kuno Fischer zusammen hatte er sich der Gastfreundschaft von Professor Schölten zu erfreuen und die fröhlichen *) Heinrich Lang. Von A. E. Biedermann. Zürich 1876. **) Zum Ehrengedächtniss Biedermann's. Von R. A. Lipsius. bttchet für prot. Theologie 1885, viertes Heft.

Jahr-

Biographische Ginleitung.

53*

Tage, welche er in Leyden verlebte, gehörten zu seinen liebsten Erinnerungen. Besonders humoristisch pflegte er zu schildern, wie die beiden Abgeordneten von Zürich und Heidelberg auf der Heimreise in Rotterdam Spinoza's Andenken durch allerhand vergebliche Nachforschungen nach seinem Wohnhause zu ehren suchten. Biedermann's letzte Reise über die Schweizer Grenze ging nach München, im Jahre 1879. Seit der Zeit besuchte er nur noch seine lieben Berge, besonders die Glarner und Bündner Alpen — ein immer gern gesehener Gast und Reisegefährte seiner Freunde Dekan Herold in Chur und Pfarrer Zwicki in Obstalden. Italien, das Ziel seiner Sehnsucht in jungen Jahren, ist ihm ein unerfüllter Wunsch geblieben. „Niemand sah dem stets noch rüstigen Fussgänger eine Abnahme seiner Kräfte an; nur die Seinigen bemerkten an einigen bequemeren Gewohnheiten das Herannahen des Alters. Er zog sich mehr in's Haus zurück, begrttsste aber Alle, die ihn hier aufsuchten, mit gewohnter Herzlichkeit. In seinem ganzen Wesen trat mehr die Milde hervor, die früher wohl zuweilen an ihm vermisst worden war. Mit warmer Liebe umfasste er alle seine Familienglieder, die Fernen so gut wie die Nahen und seine Enkel erwiederten sie mit herzlichem Zutrauen, obwohl er kein schwacher Grossvater war und seine Töchter zu scherzen pflegten: „er verziehe die Katze mehr als die Grosskinder". „Schon lange hatte es ihm schwer auf dem Herzen gelegen, dass seine Ausdrucksweise in der Dogmatik oft missverstanden wurde. Er war daher froh, als das Bedürfniss nach einer zweiten Auflage derselben ihm den Anlass bot, ihr einen erklärenden prinzipiellen Theil hinzuzufügen. Mit voller Geistesfrische begab er sich an die Arbeit, so dass der erste Theil derselben im Herbste 1884 erscheinen konnte. Auch vom zweiten Bande war schon ein grosser Theil geschrieben: da überfiel ihn Mitte Dezember ein Unwohlsein, das bald den ernstlichsten Charakter annahm. Heftige Schmerzen im Rücken und Unterleib liessen ihn Nachts nicht schlafen; die Tage waren anfangs leichter, er selbst geduldig und immer fieberfrei. Zwischen Weihnacht und Neujahr

54*

Biographische Einleitung.

nahmen die Schmerzen und Beklemmungen zu und er ward recht still; offenbar kämpfte er für sich den Abschied vom Leben durch. Dann sprach er sich gegen die Seinen aus: er fühle sich dem Tode näher als dem Leben und traf Bestimmungen über seinen schriftlichen Nachlass. Als die Aerzte das Vorhandensein eines krebsartigen Geschwüres konstatirten, da verhehlte er sich und seiner Familie die Nähe des Todes nicht, sondern besprach sich mit ihnen in unvergesslichen Worten, in denen die ganze Fülle seines reichen Herzens lag. Die Freunde kamen und nahmen Abschied, so oft seine Leiden es erlaubten. In seinem langen und schweren Todeskampf verliess ihn das Bewusstsein nie, aber auch nie die Gewissheit, ein Kind Gottes zu sein. So starb er, gefasst und ruhig, am 25. Januar 1885, Abends um 5 Uhr." * * *

Wir haben in den Mittheilungen über das Ende unsers Freundes Derjenigen allein das Wort gelassen, die zunächst dazu berufen war. Die schlichte Darstellung der Tochter wird auf Alle, die zu lesen verstehen, den Eindruck machen, dass das Hinscheiden dieses Mannes seines Lebens werth und mit demjenigen, was er als seine heiligsten Ueberzeugungen verkündet hatte, im Einklang war. War doch Biedermann ein Mann, der nichts von dem zu widerrufen brauchte, was er in den 42 Jahren öffentlicher Wirksamkeit gelehrt und als sein Evangelium bekannt hatte. Bei all seiner unabhängigen Stellung der Kirchenlehre gegenüber war er ein kirchlicher Mann und ist es bis an sein Ende geblieben. Aber wie sehr er auch persönlich das Bedürfniss empfand, von dem gemeinsamen Herde der kirchlichen Gemeinschaft allsonntäglich sich das Feuer zu holen, das er für sein häusliches und persönliches Leben bedurfte, so machte er doch Ernst mit seinem Grundsatze, dass die Religion nichts Appartes sein solle, was losgelöst von dem übrigen Leben einhergeht, sondern das Salz, welches das Ganze durchdringen soll. Und wie er ein abgesagter Feind aller Phrase war, ja aller der Redensarten, die, ob auch von dem Sprechenden ernst gemeint, doch leicht von dem Hörer als solche gedeutet werden konnten, so

Biographische Einleitung.

55*

liebte er es auch nicht, im gewöhnlichen Leben eine besondere Sprache zu führen, sondern ward in allem, in Sprache, in Kleidung und Geberden als ein schlichter Mensch erfunden. So wenig etwas von geistlichem Hochmuth in ihm zu finden war, ebenso wenig von Gelehrtendünkel und als die Welt anfing, seine Hauptschriften als Epoche machende Leistungen zu rühmen, da setzte ihn dies unerwartete Lob in Erstaunen und beinahe in Verlegenheit: war er sich doch bewusst nichts anderes gethan zu haben, als seinem Genius gefolgt zu sein. Mit seiner rührenden Schlichtheit und Einfachheit, welche ihm so viele Herzen gewann auch unter Denen, die vor den Konsequenzen seines Systems zurückschraken oder seinem Gedankengange nicht zu folgen vermochten, hängt die innere Lauterkeit seines Wesens zusammen, die durch all den Staub, der durch ihn und um ihn herum aufgewirbelt wurde, hindurclileuchtete. Wohl mancher Gegner, als er von Biedermann's Tode die Kunde vernahm, mag im Stillen auf ihn das Wort angewendet haben, das über Zwingli's Leiche ausgerufen worden ist: „Was auch dein Glaube war; ich weiss dass du ein redlicher Eidgenosse gewesen." An Zwingli erinnert überhaupt mancher Zug in Biedermann's Wesen: schon die Verbindung von geistiger und körperlicher Kraft und Gesundheit, das mens sana in corpore sano ist Beiden in gleichem Maasse gemeinsam. Nicht minder die scharfgezeichneten Gesichtslinien, in denen Verstandesschärfe und Energie gepaart mit Wohlwollen ihren pbysiognomischen Ausdruck finden. Es ist im Wesen Beider derselbe für Fremde erst etwas fremdartige Erdgeschmack, dieselbe natürliche Herbigkeit, die erst zusammenziehend auf die Geschmacksnerven wirkt und nachher nur um so besser mundet. Bei Beiden dieselbe Verbindung von Antikem und Modernem, von Humanismus und Christenthum. Es ist derselbe fromme Optimismus, der Beide durch die Zeiten schwerer Kämpfe hindurch getragen und bis in die letzte Stunde hinein begleitet hat; es ist derselbe Adel acht ritterlicher Gesinnung, in welcher Beide für eine in den Augen der Welt schwache, aber gerechte Sache ^eingestanden sind, welche Beide auch dem übelwollenden und in unverständigem Eifer ungerechten Gegner gegenüber niemals ausser Acht gelassen

56*

Biographische Einleitung.

haben. Und wenn jeder grosse Mann auf dem Gebiete des Geisteslebens etwas Prophetisches an sieh hat, so wird dieser Charakter den beiden Männern am wenigsten abgesprochen werden dürfen, deren ganzes Sinnen und Streben einem geistigen Neubau auf altem geheiligtem Grunde zugewandt war. Biedermann's geistiges Leben, soweit es der Oeffentlichkeit angehört, ist in einem reinen und vollen Akkord ausgeklungen. In seinem Rathhausvortrage über den Satz: „der Zweck heiligt die Mittel" (Oktober 1884) haben wir den ganzen Biedermann, den Philosophen, den Menschen und den Christen vor uns. Zunächst erscheint er uns hier als der grosse und scharfsinnige Dialektiker, welcher ein verkehrt aufgefasstes ethisch-religiöses Problem von allen Seiten beleuchtet und durch seine empirischen Gedankenwindungen hindurch auf die reine Höhe geistiger Erfassung emporführt. Sodann tritt er uns hier als der zugleich muthige und gerechte Mann entgegen, welcher sich nicht scheut, dem landläufigen Vorurtheil zum Trotz, die Jesuiten gegen die Anklage in Schutz zu nehmen, als ob sie die Erfinder eines verpönten Satzes seien, der vielmehr der Sopliistik des Egoismus sein Dasein verdankt und praktisch von Unzähligen verwerthet wird, die mit dem geschichtlichen Jesuitismus nichts zu schaffen haben wollen. Vor allem aber tritt uns Biedermann in diesem seinen „Schwanengesang" nahe als ein frommer Christ und gottseliger Optimist, „der alles Uebel, die ganze natürliche Unvollkommenheit des Daseins nur als ein Mittel betrachtet, durch welches der göttliche Endzweck der Welt: die Erhebung des Menschen zu immer vollkommenerer Geistigkeit und damit zu wesenhafter Lebensgemeinschaft mit Gott gefördert werden soll"*). Mit diesem Glaubensbekenntniss auf den Lippen ist Biedermann von der Welt geschieden. Denn gerade die Hauptgedanken dieses Vortrags waren es, die ihn noch in seinen Leidenstagen beschäftigten und in die Nacht der Schmerzen hinein ihre tröstenden und verklärenden Lichter streuten. Was er geglaubt, hat er bekannt und was er als sein Glaubensbekenntniss der Welt ver*) Nekrolog von J. Kreyenbühl.

57*

Biographische Einleitung.

kündete, hat er bewährt in seinem Leben nnd in seinem Sterben. Ja, er war ein Mann ans Einem Guss, ein christlicher Char a k t e r in dem Sinne, in welchem er selbst das Wort auf Baur angewandt hat. Wollte man ihm dies ehrende Prädikat absprechen, weil der Schmerz der natürlichen Sündhaftigkeit, das Schuld- und Bussgefühl auf der einen Seite und dasjenige der göttlichen Gnade auf der andern weniger markirt an bestimmten Stationen seines Lebenswegs zu Tage tritt, so hat er darauf selbst die Antwort gegeben in den gerade für ihn bezeichnenden Worten: „Es ist Geschwätz, in welchem von wahrem Christenthum nichts ist, wenn von Einheit mit Gott, von Erhebung zum Ewigen, vom Ergreifen des Absoluten so mir nichts dir nichts geredet wird, als käme man nur so im Fluge dazu, durch blosse Erhebung des Bewusstseins und nicht durch eine stetige Arbeit des ganzen Gemüthes und Willens, die durch jenes Ringen und seine Wunden hindurchgeht.^ Das wusste er sehr wohl, und hat er gerade auf seinem Todbette bewiesen, dass es für ihn nicht ein todtes Wissen, sondern eine zugleich Schmerz und Segen bringende Wahrheit gewesen ist. Besteht das in Jesus uns aufgeschlossene und vorgesteckte Ziel der himmlischen Berufung in der persönlichen Hingabe an den göttlichen Geist, in welcher alle Eigensucht zurücktreten muss vor der Liebe dessen, was allein ewig ist — ist es diese Hingabe, welche dem Menschen die Freiheit giebt und die selige Erfahrung erfüllter Bestimmung mitten in der Erfahrung der Nichtigkeit alles Irdischen — so dürfen wir getrost sagen, dass Biedermann dies christliche Lebensziel erreicht und seinem Glauben das Siegel der Bewährung aufgedrückt hat.

B i e d e r m a n n , Vorträge und Aufsätze.

E

Stellung und Aufgabe der Philosophie in der Theologie. Akademische Antrittsrede, gehalten den 31. Oktober 1850.

Die Sitte dass ein neubestellter akademischer Lehrer durch einen öffentlichen Vortrag vor den hohen Behörden unter deren Leitung die Anstalt steht an welcher mitzuwirken er berufen ist, vor seinen Amtsgenossen, vor der studirenden Jugend und vor den Freunden der Wissenschaft überhaupt sich in den Kreis seines künftigen Wirkens einzuführen hat, — diese Sitte kommt einem natürlichen Bedürfniss und Wunsch von meiner Seite aufs willkommenste entgegen. Es ist nämlich Niemandem so wohl bewusst als mir selbst, dass das Vertrauen mit dem mich der hohe Erziehungsrath durch Berufung auf einen theologischen Lehrstuhl an der hiesigen Hochschule beehrt hat, sich nicht sowohl auf wissenschaftliche Leistungen gründen konnte die ein solches Maass von theologischer Gelehrsamkeit öffentlich beurkundeten, wie es zur würdigen Bekleidung dieses Amtes erforderlich ist, als vielmehr auf meine bisherigen Bestrebungen, dem freien philosophischen Denken sein volles Recht in der Theologie principiell zu begründen. Allein gerade dies, woraus das Vertrauen der Behörde hervorging, mochte bei Vielen umgekehrt das Misstrauen erwecken, ob nicht ein Solcher — die wissenschaftliche Befähigung auch vorausgesetzt — vorzugsweise ungeeignet sei zu einem Lehrer der Theologie. Ja dieses Misstrauen mag bei dem gegenwärtigen B i e d e r m a n n , Vorträge und Aufsätze.

j

2

Stellung und Aufgabe der Philosophie in der Theologie.

Stand der Dinge in der theologischen Welt so fest eingewurzelt sein, dass. selbst die Thatsache dass ein so Angezweifelter bisher noch viel unmittelbarer, als praktischer Geistlicher, mit Freudigkeit im Dienste der Kirche hat arbeiten können, dasselbe nicht zu heben, sondern höchstens in Verlegenheit zu setzen vermag. Es kann mir daher nur erwünscht sein, dass mir ein Anlass geboten ist, durch offene Darlegung der Grundsätze meines philosophisch-theologischen Denkens, die mich auch in meinem akademischen Berufe leiten werden, vorläufig jenes Zutrauen einerseits zu rechtfertigen und anderseits dieses Misstrauen, wo möglich, zu heben: vorläufig; denn dieser Aufgabe ganz Genüge zu thun, kann nur und soll auch, wie ich hoffe, die Sache meines gesammten künftigen Wirkens sein. Gestatten Sie mir daher mich offen — wie Sie mich wenigstens immer finden werden — auszusprechen

über die Stellang and Aufgabe der Philosophie in der Theologie, und zwar, so viel die Kürze der Zeit es erlauben wird, zuerst über die principielle Stellung der beiden Wissenschaften zu einander, dann über den Einfluss der Philosophie auf die Gliederung und Gestaltung der besonderen theologischen Disciplinen, und endlich über den Charakter den das philosophische Bewusstsein der einzelnen theologischen Persönlichkeit aufprägt, wobei wir, wie für diesen Anlass natürlich, vorzugsweise die Person und das Wirken des theologischen Lehrers ins Auge fassen. Nehmen wir zuerst die beiden Wissenschaften in ihrer Allgemeinheit, so giebt sich das Verhältniss so, dass ehe wir nach der Stellung der Philosophie in der Theologie fragen können, diese vielmehr zuerst ihre Stelle innerhalb jener zu suchen hat. Die Philosophie ist j a die Wissenschaft in ihrer reinsten Form und in der Totalität ihrer Glieder: die Wissenschaft in ihrer reinsten Form, indem sie Princip, Inhalt und Zweck nicht ausser sich selbst hat, sondern der denkende Geist in ihr wie Subject so Object, wie Princip so Selbstzweck ist. Sie ist darum auch die Wissenschaft in der Totalität ihrer Glieder, indem sie was immer

Stellung und Aufgabe der Philosophie in der Theologie.

3

Inhalt des Bewusstseins, Rohstoff des Denkens ist, zur concreten Einheit des selbstbewussten Geistes zusammenschliesst, und ihre Aufgabe nicht erfüllt, wenn sie nicht alles was überhaupt f ü r den Geist da ist auch i n ihn hineinzieht und ihm vollständig assimilirt. Bestimmen wir nun aber, nach dieser Auffassung der Philosophie, die Theologie im Allgemeinen als die Wissenschaft der Religion, so ist von vorn herein klar und unwidersprechlich dass sie in den allgemeinen Kreis der Philosophie fällt, so weit nämlich die Religion eine Bethätigung des menschlichen Geistes ist. Die verschiedenen Auffassungen des Wesens der Religion gehen zwar gerade darin aufs allerweiteste auseinander, wie weit sie das sei: von der Behauptung dass ihr ganzer wesenhafter Inhalt schlechterdings jenseits des menschlichen Geistes liege, durch eine Menge von Mittelstufen bis zu der, dass diese Meinung allerdings ihr eigenthümliches Wesen ausmache, aber eben damit sie als eine blosse Selbsttäuschung des menschlichen Geistes qualificire. Aber gleichviel: so. weit es eine Theologie, eine Wissenschaft der Religion giebt, fällt diese als menschliches Wissen von ihr in das allgemeine Gebiet der Philosophie. Freilich nach der einen der beiden angedeuteten Grundanschauungen würde der Philosophie nun sofort nur die Aufgabe der verstummend zurücktretenden Anerkennung, nach der diagonal entgegengesetzten aber die der völligen Vernichtung und Aufzehrung der Theologie zukommen. Unsre Grundanschaunng aber — um es kurz zu sagen — ist diese: die Religion reicht wie nach Form so nach Inhalt, als das Glauben und als der Glaube, nicht ausser den Kreis des menschlichen Wesens, wohlverstanden in seiner umfassendsten Bedeutung, hinaus, und vermag daher vom Denken, dem Selbstbewusstsein des Geistes im ganzen Umfang seines Wesens, umspannt zu werden; aber sie spricht für ihren Inhalt mit aller Wahrheit durch und durch den Charakter der Uebernatürlichkeit, im wahren genauen Sinne des Wortes, an; denn in ihr erst erhebt sich der Mensch vom blossen Naturwesen zum wirklichen Geist. Wie sie daher von je in der Vergangenheit der Mutterschooss aller Philosophie gewesen ist, so ist sie auch und wird in alle Zukunft 1*

4

Stellung und Aufgabe der Philosophie in der Theologie.

bleiben ihr höchster Gegenstand, der Schlussstein, der ihr Gesammtgebiet erst in sich vollendend zusammenschliesst. Damit nimmt die Religionswissenschaft ihre Stelle ganz innerhalb der Philosophie, aber als ihr Kern und ihre Krone. Doch wir vergessen j a fast dass wir nicht von der Stellung der Theologie in der Philosophie reden, sondern vielmehr umgekehrt nach der Stellung fragen wollen die diese in jener einzunehmen habe. Diese Wendung wird die Frage jedoch sogleich nehmen, wenn wir aus der abstracten Fassung der Theologie als Religionswissenschaft heraustreten und sie nehmen als das, was sie in Wirklichkeit ist, als eine positive Wissenschaft, die zu ihrer Voraussetzung, ihrem Inhalt und Zweck die positive christliche Religion und Kirche hat. Da tritt uns nun zwischen Philosophie und Theologie der Gegensatz einer reinen und einer positiven Wissenschaft entgegen; und das abstracte Denken, das Form und Inhalt seines Gegenstandes nicht in seiner gegenseitigen. Durchdringung zur Einheit zu fassen vermag, beeilt sich sofort eine förmliche Ausscheidung beider Wissenschaften von einander auf diesen Unterschied zu begründen, und zwar bald in zugestanden ausschliesslichem Interesse der einen oder der andern, bald in vermeintlichem unparteiischem Interesse beider. Vor dem speculativen, seinen Gegenstand durchdringenden und concret geistig auffassenden Denken dagegen hebt sich der genannte Gegensatz zum bloss relativen Unterschiede auf, der beiden Wissenschaften eine solche Stellung zu einander anweist, dass ihre einzelnen Momente nur in ihrer Relation, in ihrem sich gegenseitig durchdringenden Ineinanderwirken zur vollen Wahrheit kommen. Die Theologie ist eine positive Wissenschaft, nicht Religionswissenschaft überhaupt. Sie hat als solche zu ihrer bestimmten Grundlage und Voraussetzung die bestimmte positive Religion des Christenthums, wie es mit Jesu Christo in die Welt getreten ist. Sie nimmt dabei eine doppelte Positivität in Anspruch: eine geschichtliche und hinter, oder besser in ihr, eine göttliche. Und durch beide soll das reine Wissen der Philosophie ausgeschieden und fern zu halten sein. Sehen wir nun aber näher

Stellung und Aufgabe der Philosophie in der Theologie.

5

zu, so sollte man, was vorerst die einfach geschichtliche Positivität betrifft, nicht nöthig haben viel Worte darüber zu verlieren, wie die protestantische Theologie wenigstens dem Princip der Legitimität in der Kirche nicht huldigen kann, sondern für alle und jede geschichtlich gewordene, menschlich bestimmte Lehrund Lebensgestaltung der Kirche das Recht der Prüfung in Anspruch nimmt, einer Prüfung die, wenn sie nicht zum blossen Schein oder zu einem willkürlichen und haltlosen Meistern der Geschichte herabsinken soll, Richtschnur und Maassstab an den inneren Gesetzen alles menschlichen Geschehens zu nehmen hat: diese aber zu erforschen ist Sache der Philosophie. Die Theologie kann daher die geschichtliche Positivität ihres Gegenstandes nicht vorschieben, um die Philosophie von ihrem Gebiete auszuschliessen. Um so entschiedener wird sie nun aber wohl derselben ihre g ö t t l i c h e Positivität abwehrend entgegenhalten können, die Behauptung nämlich dass ihr wesentlicher Inhalt göttliche Offenbarung sei, weswegen ihre wissenschaftliche Aufgabe nur darin zu bestehen habe, den auf übernatürlichem Weg erhaltenen Stoff anzunehmen und dann allerdings nach den Gesetzen des menschlichen Wissens weiter auseinander zu legen, nicht aber nach Art der Philosophie ihn aus dem eigenen Denken erzeugen, oder auch nur begründen zu wollen. Nun wohl; es fragt sich nur, was man denn für so unmittelbar göttlich positiv nimmt, dass es, weil nicht weiter menschlich vermittelt, auch die philosophische Denkvermittlung nicht zulassen soll. Die L e h r e n und S a t z u n g e n d e r K i r c h e ? N e i n ; denn da ist, unwidersprechlich, menschliche Entwicklung. Die h. S c h r i f t ? Wieder nein; denn auch von dieser gilt dasselbe. Das Wort Gottes in der h. S c h r i f t ? Nun endlich j a , wenn man nämlich unter dem zweideutigen Ausdruck nicht wieder nur einzelne Bestandtheile der Schrift, sondern das lebendige Wort das Fleisch geworden ist versteht, von dem die Schrift menschliches Zeugniss giebt. Auf diesem Punkt also, an dem fleischgewordenen Gotteswort, an der Person Christi, hätte also die Kirche den göttlich positiven Quellpunkt ihres Glaubens, die Theologie ihres

6

Stellung und Aufgabe der Philosophie in der Theologie.

Wissens, der zugleich der Grenzpunkt der Philosophie wäre. Allein wie, wenn nun gerade das mit eine Hauptaufgabe der Philosophie ist, zu erkennen, wie das Wort, der Logos, die noch rein ideelle Vernunft, Fleisch wird, zur äussern Erscheinung und concreten Wirklichkeit kommt? Dann wird auch das in der menschlich geschichtlichen Erscheinung Christi fleischgewordene Wort nicht ausser ihrem Erkenntnissgebiete liegen, und wir müssen, um ganz aus ihrem Gebiete hinaus- und in das der rein göttlichen, nicht menschlich vermittelten Positivität hineinzukommen, von dem fleischgewordenen Wort uns zurückziehen auf das Wort das am Anfang war, das bei Gott und selbst Gott war. Da wären wir endlich bei der letzten, göttlichen Positivität der Theologie angekommen, von der als dem Ausgang für ihren geschichtlich positiven Inhalt nun auch die andere Uebersetzung gilt: am Anfang war die T h a t . Als T h a t , als lebendige Schöpferthat, die alles gemacht hat was da ist, als Licht das in der Welt leuchtet, als Leben das aus dem Vater ist und ewiges Leben wirkt in dem, der es aufnimmt, als T h a t Offenbarung ist das göttliche Wesen die positive Voraussetzung der Theologie. Aber als V e r n u n f t ist dasselbe principielle Voraussetzung der Philosophie: das ist der Unterschied zwischen dem positiven und dem reinen Charakter beider Wissenschaften, auf sein wahres Wesen und seinen letzten Grund zurückgeführt, und hier treffen sie also zusammen: sie haben dieselbe Grundvoraussetzung. Denn damit, dass in der Philosophie das Denken seinen Inhalt aus sich selbst zu erzeugen den Anspruch macht, verhält es sich nicht so, dass es denselben aus dem Nichts hervorbringe — ein naives Bekenntniss, das, beiläufig gesagt, die, welche es so verstehen, von ihrem eigenen Denken, das sie mithin dem Nichts gleichachten, ablegen, —; nein alles menschliche Denken denkt nur dem ewigen Gedanken Gottes nach, der als Schöpferkraft zugleich That und absolute Positivität für alles Sein und Denken ist. An der göttlichen Vernunft hat die Philosophie ihre schlechthin positive Voraussetzung, keine andere als in Wahrheit die Theologie. Und sie gerade, die Philosophie ist's, die zum unbedingten Eespect, zur rückhaltlosen Unterwerfung des

Stellung und Aufgabe der Philosophie in der Theologie.

1

ßubjectiv menschlichen Denkens unter die objectiven ewigen Gesetze des göttlichen Gedankens zwingt, oder vielmehr die freie, selbstbewusste Einordnung in dieselben vermittelt und zur andern Natur macht. Wo eine Philosophie selbst schaffen zu wollen sich vermisst, da bringt sie in Wahrheit nur kernlose Hirngespinste hervor und verdient den Namen Philosophie, Liebe zur Weisheit, zur ursprünglichen göttlichen Weisheit, nicht; denn die Liebe giebt sich j a gerade ihrem Gegenstande ganz hin und empfängt von ihm ihre Erfüllung. So hebt sich der Gegensatz zwischen dem positiven Charakter der Theologie und dem reinen der Philosophie auf, sofern er eine principielle Verschiedenheit sein und eine principielle Ausscheidung beider Wissenschaften begründen soll: beide haben an demselben lebendigen, sich offenbarenden Gott ihre alleinige letzte Voraussetzung, auf welche beide zurückgehen müssen, über welche keine zurückgehen kann. Es bleibt nur der Unterschied zwischen ihnen, dass sie beide die verschiedenen Momente derselben göttlichen Voraussetzung zu ihrem besonderen Ausgang haben: die Theologie die göttliche T h a t und zwar noch bestimmter die göttliche Selbstoffenbarung in der gottmenschlichen Persönlichkeit Christi; die Philosophie dagegen die göttliche V e r n u n f t , aus der sie dem menschlichen Selbstbewusstsein ihr wahres menschliches Denken vermittelt. Nur in ihrer Relation, in ihrem gegenseitigen Durchdringen zur Einheit, kommen beide Wissenschaften in den vollen Besitz ihrer Wahrheit. Die Theologie ist nur dann Wissenschaft, Wissen der Glaubenswahrheit, sofern sie philosophisch die Offenbarungsthaten auf die sich durch sie offenbarende göttliche Vernunft zurückführt, und die Religionsphilosophie kommt nur dann über das abstract Allgemeine hinaus und wird denkendes Selbstbewusstsein des religiösen Geistes in der ganzen Fülle und Bestimmtheit seiner geschichtlichen Errungenschaften, wenn sie auf die concretgeschichtlichen Offenbarungsthatsachen auf denen unser gesammtes religiöses Leben sich gründet, auf die bestimmte geschichtliche Entwicklung und Gestaltung derselben, positiv eingeht, d. h. wenn sie als Moment in die Theologie selbst eintritt. Wie mit der Voraussetzung, so verhält es sich auch mit dem

8

Stellung und Aufgabe der Philosophie in der Theologie.

Z w e c k der beiden Wissenschaften. Die Philosophie hat den reinen Selbstzweck der Erkenntniss, die Theologie dagegen hat einen positiv-praktischen Zweck an der Kirche, in der sie wurzelt, aus der sie hervorgegangen ist und auf die sie auch zurückgehen soll. Sie hat nicht bloss die wissenschaftliche Aufgabe, das Selbstbewusstsein des religiösen Geistes um seiner selbst willen zu gewinnen: sie will dasselbe für die Kirche vermitteln, und durch ihre wissenschaftliche Schule die geistigen Kräfte die sich ihr widmen durchbilden zum selbstbewussten praktischen Wirken in der Kirche. In diesem Sinn ist die theologische Fakultät nicht ein rein wissenschaftliches Institut, sondern sie ist und bleibt, was sie von Anfang gewesen, auch eine Anstalt der Kirche und für die Kirche. Sie soll in innigster Wechselbeziehung mit dem Leben der Kirche, von dem sie auch einen Faktor bildet, stehen, und der theologische Lehrer nicht minder als der Pfarrer sich zugleich als Diener der Kirche fühlen und betrachten. Wenn hie und da, zum Theil durch widerwissenschaftliche Zumuthungen specifischer Kirchenmänner dazu getrieben, zum Theil aber auch in der Einseitigkeit bloss theoretischen Interesses, Theologen diesen Zusammenhang mit dem Leben der Kirche so weit verleugnet haben, dass die mit allem Recht behauptete und wo sie gröber oder feiner angetastet werden will, mit aller Entschiedenheit stets zu wahrende akademische Unabhängigkeit von irgend welchen Satzungen der Kirche bei ihnen den Charakter einer innern Ablösung und Gleichgültigkeit des Gemüthes, j a einer Verbitterung gegen die Kirche angenommen hat: so war das im selben Grad, als dieses der Fall war, ein Abstreifen des theologischen Charakters, das weder ihrer freien Wissenschaft zum Besten gereichte, noch auch der Kirche als Befreiung etwa von einem unbequemen Gliede zugute kam. Der Theolog muss so viel Liebe zu seiner Kirche in der Seele tragen, dass es ihm ein würdiger, sein Innerstes befriedigender Lebenszweck ist, seine Wissenschaft für das Leben der Kirche fruchtbar zu machen. Wenn aber nun eine, sei's im Ernst für das Seelenheil der Schwachen und leicht Verwirrbaren, sei's im Gefühl eigener leicht verwirrbarer Schwäche ängstliche Theologie mit dem Vorschieben

Stellung und Aufgabe der Philosophie in der Theologie.

9

des praktisch kirchlichen Zweckes den reinen philosophischen Selbstzweck der Erkenntniss von ihrem Gebiet fern halten wollte: so würde dieser Mangel an wissenschaftlicher Selbstachtung die Verachtung, diese Rücksicht bittende Aengstlichkeit der Selbsterhaltung eine rücksichtslose Wegwerfung, dieser schwache Glaube an sich selbst den völligen Unglauben an sie von Seiten aller übrigen Wissenschaften und des wissenschaftlichen Bewusstseins der Zeit überhaupt als verdiente Strafe nach sich ziehen. Die Theologie soll allerdings ihres praktisch kirchlichen Zweckes auf dem ganzen Umfang ihres Gebietes sich recht lebendig bewusst sein, und dass sie es in neuern Zeiten allgemein wieder mehr geworden als früher, ist nicht bloss von der Kirche sondern auch von der Wissenschaft als ein erfreulicher Aufschwung zu begrüssen. Aber sie soll sich nicht hinter ihren praktischen Zweck verbergen, um den Anforderungen der strengen Wissenschaft zu entgehen. Wie aber das Bewusstsein der Zeit von jeder Wissenschaft, und so auch von der Theologie, gebieterisch verlangt, um sie als Wissenschaft anzuerkennen, dass sie den philosophischen Selbstzweck der reinen Erkenntniss schon um ihrer selbst willen nicht verschmähe: so stellt dasselbe Bewusstsein der Zeit eben so entschieden die Forderung an alle Theorie, auch in die Praxis einzugehen, über sich selbst, als blosse Befriedigung des denkenden Geistes, hinauszuführen, oder vielmehr zurückzulenken auf das innere Leben des Gemüthes und in die objective Welt des Willens, indem nur in der selbstbewussten Einheit all seiner Seiten der Geist sein wahres volles Dasein gewinnt. Der philosophische Selbstzweck der Religionswissenschaft weist darum von selbst, j e tiefer und umfassender er gerade angestrebt und erreicht wird, auch um so sicherer hinüber auf den praktischen Zweck der Theologie. Und zwar mag sich die Kirchc dessen immer getrösten: wenn die Philosophie innerlich genöthigt wird auch die Verwirklichung des ihrer Erkenntniss entsprechenden praktisch religiösen Lebens zu suchen, so kann sie nicht Umgang nehmen von der positiven Religionswissenschaft, der Theologie, und etwa aus sich selbst, unmittelbar aus ihren Voraussetzungen heraus, reformiren,

10

Stellung und Aufgabe der Philosophie in der Theologie.

Religionen der Zukunft, Kirchen des freien Selbstbewusstseins, oder was für hochtrabende Namen man zum Voraus dafür erfinden mag, ins Leben rufen, welche die Kirche zu ersetzen und darum allmälig zu verdrängen vermöchten. Nur auf dem positiven Boden der geschichtlichen Vergangenheit, aus der nach nothwendigen Gesetzen aus ihr erwachsenen, in ihren allseitigen Bedürfnissen und Bedingungen vernünftig erkannten Gegenwart lässt sich auch eine Gestaltung der Zukunft gewinnen die mehr ist als Luftschloss oder — wenns hoch kommt — ein Haus auf Sand. Diesen positiven Boden der Geschichte in der Religion nimmt aber die Theologie ein. In sie daher muss die Philosophie schlechterdings eingehen, wenn sie auf eine vernünftige Einführung ihrer wissenschaftlich gereiften Früchte ins praktische Leben hinwirken will. Und wenn sie nicht in einsamer spiritualistischer Selbstgenügsamkeit verkommen soll, so muss sie es wollen. Daher kommt es denn auch, dass bei den heutigen Tages, besonders jenseits des Rheins, zahllos angekündigten Versuchen, nicht bloss unberufener Schreier, nein philosophisch tüchtiger und bewährter Männer, in das religiöse Leben der Zeit neugestaltend einzuwirken, wenn sie speciell theologische Erkenntniss der religiösen Bedürfnisse und der Bedingungen für deren allseitige Befriedigung vermissen lassen, wenn sie es darum verschmähen, als Theologen auf den positiven Boden der christlichen Kirche sich zu stellen und von diesem aus ihren Neubau zu versuchen, — dass, sage ich, dabei die Theologen nicht bloss und die Diener der Kirche, nein schon jedes schlichte Glied der Kirche das nur lebendigen Glauben hat, ein wohlthuendcs Sicherheitsgefühl beruhigend durchdringt: das sind die Leute noch lange nicht welche die christliche Kirche von ihrem festern Grunde verdrängen: ein Selbstgefühl, das die Kirche und ihre Theologie mit vollem Rechte haben darf, das aber freilich bei Manchen umschlägt in ein geistesarmes Verachten der Philosophie, die der Kirche nichts anhaben könne und deren diese auch nicht bedürfe, in ein feiges Pochen auf die festen Bollwerke der Kirche, die ein Anderer, Mächtigerer schirme, deren Breschen zu vertheidigen er aber selbst weder Geschick noch Muth besässe.

Stellung und Aufgabe der Philosophie in der Theologie.

11

So ist es durchaus die Aufgabe welche das Bewusstsein der Zeit den beiden Wissenschaften stellt: dass die Theologie der Philosophie nicht wehre mit ihrer rein aus dem Wesen des Geistes geschöpften Erkenntniss einzutreten nicht bloss in ihre Vorhöfe sondern auch in ihr Heiliges und Allerheiligstes, und ihr damit den Charakter einer in ihrer Positivität freien Wissenschaft zu geben; dass aber auf der andern Seite auch die Religionsphilosophie sich nicht weigere in die Positivität der Theologie einzugehen, um in ihr erst die wahre Erfüllung, die concrete Verwirklichung ihrer reinen Begriffe und den allein rechten Boden für den Uebergang ins Leben zu gewinnen. Es läge nun in unserer Aufgabe, im Besondern zu zeigen wie die Philosophie in das Gebiet der Theologie einzutreten und welche Gliederung und Gestaltung sie den einzelnen theologischen Disciplinen zu geben hat. Ich hätte auch hierzu um so mehr Veranlassung, als mir j a namentlich theologische Encyklopädie zu lehren übertragen ist, deren Aufgabe gerade in der wissenschaftlichen Gliederung und Zusammenfassung der sämmtliclien theologischen Disciplinen besteht. Allein die Zeit erlaubt mir nicht dies hier näher auszuführen; kaum reicht sie hin um einige Hauptpunkte anzudeuten. Das Schwergewicht der Theologie, als einer positiven Wissenschaft, fällt auf die h i s t o r i s c h e Theologie, welche den geschichtlichen Ursprung der christlichen Offenbarungsthat, ihren äussern und innern Fortgang in der Kirche und ihren jeweilig gegenwärtigen Abschluss zum System des christlichen Glaubens und Lebens zu ihrem Inhalt hat. An der Offenbarungsthat hat die Kirche und ihre Wissenschaft überhaupt, aus ihr nimmt das religiöse Leben und auch das theologische Studium im Einzelnen, wenn es wenigstens mehr als ein blosses Brotstudium ist, den empirischen Ausgang. Denn für die Kirche und das Leben eines Jeden in ihr giebt es keinen andern Grund als den, der gelegt ist, Jesum Christum. Als Wissenschaft aber hat die Rheologie jenseits der Thatsachen eine nothwendige p r i n c i p i e l l e Voraussetzung, deren wissenschaftliche Erkenntniss darum auch notliwendig in den Kreis ihrer Disciplinen gehört: es sind dies die

12

Stellung und Aufgabe der Philosophie in der Theologie.

logischen Grundbestimmungen über das Wesen der Religion, entwickelt aus dem Wesen des Geistes überhaupt, die anthropologischen Bestimmungen der verschiedenen Stufen und Formen in welchen der religiöse Geist eich entwickelt und ausprägt, und endlich die geschichtliche Nachweisung dieses Selbstverwirklichungsprozesses des menschlichen Geistes, der zugleich sein göttlicher Erziehungsgang ist, in der allgemeinen Religionsgescliichte. Diese Disciplinen, zusammengefasst zur Religionsphilosophie, dürfen nicht etwa bloss als philosophische Proprädeutik der Theologie vorausgeschickt werden, als gehörten sie eigentlich doch nicht zu ihr, und könnten daher füglich auch vom Theologen ohne wesentlichen Abbruch seiner Wissenschaft ignorirt werden; sondern sie müssen als p r i n c i p i e l l e Theologie in den Kreis der theologischen Wissenschaften selbst aufgenommen und im System derselben als erster Theil, als rein wissenschaftliche Basis, der historischen Theologie vorangestellt werden. Bekanntlich schickt auch Schleiermacher der historischen Theologie, in welcher er ebenfalls zusammenfasst was man sonst unter der exegetischen, historischen und systematischen Theologie begreift, einen philosophischen, principiellen Theil voraus. Allein auch diesen stellt er bereits auf den positiv geschichtlichen Boden, indem er ihm nur die kritische Bestimmung des eigenthümlichen Wesens des Christenthums als Aufgabe zuweist, die dazu nöthigen allgemeinen Begriffe aber aus der Philosophie nur entlehnen will. Allein Schleiermachers — ohne üble Nebenbedeutung sei's gesagt — ironisches Auseinanderhalten von Philosophie und Theologie, das der grosse Meister mit bewunderungswürdiger Kunst und Consequenz durchzuführen wusste, so dass er in der Theologie durchweg philosophirend nirgends zu philosophiren den Anschein hatte, ist jetzt nicht mehr an der Zeit. Entschieden muss es ausgesprochen werden, dass die Theologie als Wissenschaft die rein philosophische Basirung auf das Wesen des menschlichen Geistes nicht verschmähen, ihre Grundbegriffe nicht entlehnen darf, sondern sie selbst entwickeln muss. Was man dawider auch einwenden mag: sehen denn nicht auch die, welche nicht genug versichern können dass ihre gesammte Theologie nur auf dem positiven Boden des

Stellung und Aufgabe der Philosophie in der Theologie.

13

historischen Christenthums, der Erlösungsthat in Christo, wurzle und von keiner andern Voraussetzung wisse, sich nicht eben doch genöthigt, sobald sie die apologetischen Grundbegriffe von Offenbarung und Glauben entwickeln wollen, auf das Gebiet allgemeiner Denkbestimmungen, philosophischer Begriffe, zurückzugreifen? Sic thun was die Theologie nun einmal ihrem Wesen nach nicht lassen kann; aber sie thun es in undisciplinirter Weise, sei's des hausbackenen gesunden Menschenverstandes, sei's einer die Gesetze der Logik mit genialer Leichtigkeit abfindenden phantasievollen Anschauung; während die principielle Theologie das theologische Denken von vorn herein in die Zucht des strengen Denkens nimmt, es Unterwerfung zuerst unter die Positivität der Logik lehrt und dadurch gewiss auch am wahrsten zur wissenschaftlichen Anerkennung und Aneignung der geschichtlichen Positivität der historischen Theologie befähigt. In hundert und hundert Wendungen erhebt man zwar Einsprache dagegen: Thatsachen lassen sich nicht construiren, am wenigsten göttliche Thatsachen; auf göttlichen Offenbarungsthatsachen beruhe und in gläubiger Aufnahme derselben bestehe das Christenthum: die Theologie müsse sich daher rein auf diesen Boden stellen. Alles schön und gut und wahr. Und dennoch könnte man sich den Eifer gegen das Construiren der Philosophie füglich ersparen, als nicht am rechten Orte angebracht, wenn man nur das Eine recht bedenken wollte, dass die Wissenschaft j a nur in einem lebendigen Kreislauf ihrer Momente, deren eines das andere zugleich setzt und voraussetzt, sich zur vollen selbstbewussten Wirklichkeit bringt, dass sie aber als System von dem, thatsächlich allerdings erst durch jenen Kreislauf gewonnenen, Princip auszugehen hat. Es ist j a derselbe Geist, der das Christenthum erlebt hat und darin auf der Erfahrung der Offenbarungsthatsachen des Heils in Christo glaubend basirt, der sich nun auch zum philosophischen Selbstbcwusstsein der Grundbegriffe bringen will die in diesen Thatsachen sich selbst verwirklicht haben. Ohne die geschichtliche Erfahrung wäre der Geist zu diesem Sclbstbewusstsein nicht gekommen; auch die principielle Theologie erwächst empirisch nur aus dem Boden des lebendigen Christenthums, der erfahrenen Offenbarungs-

14

Stellung und Aufgabe der Philosophie in der Theologie.

thatsachen: aber der Geist besinnt sich in ihr auf den innern Grund dieser Offenbarungsthatsachen; und gerade in diesem Sichzusammenfassen auf den reinen Gedanken seiner selbst ist der Uebergang vom einfach empirischen Bewusstsein, vom blossen Kenntnisshaben zum wissenschaftlichen Selbstbewusstsein. Dies ist der principielle Anfang jeder Wissenschaft, der damit der wahren Positivität ihres Inhaltes nichts entzieht. So verkümmert die principielle Theologie die historische in ihrer Positivität nicht; sie verbaut ihr nichts durch sogenannte aprioristische Constructionen, sondern will vielmehr nur möglich machen dass der wirkliche Bau der Geschichte rein vor die Augen trete. Trifft aber den einzelnen Theologen der Vorwurf mit Grund, dass er mit seinen allgemeinen Begriffen den bestimmten Inhalt des Christenthums verflüchtige, die Geschichte meistere statt sie zu begreifen, das Evangelium verfälsche statt es bloss von Zuthaten zu reinigen: nun, so geht dieser Vorwurf nicht darauf, dass er zu tief sich in Begriffe eingelassen, sich zu streng an die Gesetze des Geistes und der Geschichte gehalten; sondern umgekehrt, dass er zu wenig tief, zu wenig aus dem innersten Wesen des Geistes heraus, das ihm doch gerade in der Erfahrung der Offenbarungsthatsachen hätte sollen aufgeschlossen sein, geschöpft, kurz dass er zu wenig, nicht dass er zu viel philosophisch gedacht habe. Lassen Sie mich die Aufgabe für die theologische Wissenschaft, dass in ihr das Principielle und das Historische wechselseitig sich vollständig durchdringen soll, für den A u s g a n g s - und für den Endpunkt der historischen Theologie noch näher bezeichnen. Der Ausgangspunkt für die historische Theologie ist die P e r s o n Christi. Allem was in der biblischen Theologie und in der allgemeinen Religionsgeschichte ihm vorangeht, kommt nur die Bedeutung der geschichtlichen Vorbereitung zu. Auf dem Glauben an ihn als den persönlichen Quell des Heils ruht die christliche Kirche. Das Wissen von ihm ist auch der geschichtliche Ausgangspunkt ftlr die historische Theologie. Aber dieses theologische Wissen von Christo zu gewinnen, dazu müssen historische Forschung, Hingabe an die Geschichte und principielles Denken sich aufs vollständigste durchdringen. Mit einem schlichten

Stellung und Aufgabe der Philosophie in der Theologie.

15

gläubigen Annehmen des Herrn wie uns die Evangelien sein Bild vorhalten, ist es für die theologische Erkenntniss nicht gethan. Das ist eine laienhafte Zumuthung, die in ihrer Naivetät keine Ahnung hat von den historischen und dogmatischen Schwierigkeiten die zu überwältigen dem theologischen Denken zur unabweislichen Aufgabe gestellt ist. Noch weniger ist mit dem Construiren und Zurechtmachen eines Christusbildes oder Christusbegriffes etwas gethan; sondern die historisch - philosophische, wahrhaft theologische Aufgabe ist diese: in dem über Leben und Wirken geschichtlich Ermittelten, auch wenn dieses nach der Beschaffenheit der Quellen ein bloss unvollständiges Resultat geben sollte, seine Persönlichkeit in ihrem inneren Wesen so zu erfassen, dass das D e n k e n aus den geschichtlich in ihm aufgeschlossenen Grundtiefen des göttlich menschlichen Wesens b e g r e i f t , was dér G l a u b e mit voller Wahrheit an ihm hat. Der Endpunkt der historischen Theologie ist das S y s t e m des c h r i s t l i c h e n G l a u b e n s und L e b e n s . Wir begreifen es aber nicht etwa darum unter die historische Theologie, um es zu einer bloss geschichtlichen Darstellung der zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Kreise geltenden Glaubenslehren zu machen; sondern um dadurch seinen theologischen Charakter festzustellen, der wieder in nichts Andern besteht, als in der vollständigen Durchdringung des Philosophischen, principiell aus dem Wesen des Geistes Geschöpften, und der geschichtlichen Entwicklung des christlichen Geistes zum concreten System seines erfüllten Selbstbewusstseins. Die theologische G l a u b e n s l e h r e soll durch und durch philosophisch sein und durch und durch historisch. Sie soll nicht bloss die Spuren, die ablösbaren Schalen des Geschichtlichen an sich tragen, in Beibehaltung etwa biblischer und kirchlicher Ausdrucksformen für abstract allgemeine Begriffe, die man bereits in der principicllen Theologie wahrer bei ihrem entsprechenden philosophischen Namen genannt hat; sondern die ganze Entwicklungsgeschichte des dogmatischen Selbstbewusstseins der christlichen Kirche soll den concreten Inhalt derselben bilden. — Aber die systematische Darstellung dieses Inhaltes soll nun auch auf der andern Seite nicht bloss die Spuren des pliilosophi-

16

Stellung und Aufgabe der Philosophie in der Theologie.

sehen Geistes an sich tragen, etwa als nette logische Anordnung eines Stoffs den man doch als einen wesentlich nicht logischen, durch die Vernunft nicht erkennbaren festhalten will; oder als logische Beweisführung für Consequenzen von unlogischen bloss im Glauben anzunehmenden Voraussetzungen; oder als philosophischen Firniss, der dem undurchdrungenen Stoff kirchlicher Lehren oder eigenen Einfällen einen glänzenden und in der Zeit der Neuheit etwa auch blendenden Anstrich philosophischer Erkenntniss geben soll; sondern durch und durch soll in der Dogmatik, dieser theologischen Kernwissenschaft, der geschichtliche, concrete Stoff des christlichen Glaubensinhaltes als vernünftig nothwendige Entwicklung der Offenbarungsthat in Christo, durchdrungen und durchleuchtet sein von dem darin sich selbst bewusst werdenden religiösen Geiste. Auch für die theologische Ethik, das System des aus dem innersten Glaubensgrunde der Persönlichkeit sich objectivirenden christlichen Geistes, wiederholt sich dieselbe Aufgabe. Was zunächst die s u b j e c t i v e Ethik, die Moral, betrifft, so giebt es in Wahrheit nicht neben einander eine philosophische und eine theologische, jene aus dem allgemeinen Begriff des Willens, diese aus dem christlichen Begriff der Wiedergeburt und der Heiligung entwickelt; sondern die theologische Moral selbst soll durch und durch philosophisch aus dem Begriff des Geistes und näher seiner Willensseite entwickelt werden; aber dieser Geist selbst ist, wenn wir nicht beim Abstracten stehen bleiben, oder seine christlichen Erfahrungen wieder verflachen wollen, der in der christlichen Offenbarung zu seinem wahren ethischen Princip gelangte, in seinem innersten Wesen also christlich bestimmte Geist. Die philosophische Moral ist entweder abstract principiell, oder flach, wenn sie nicht specifisch theologisch werden will. Die o b j e c t i v e Ethik der Theologie ist einerseits nur ein Ausschnitt der philosophischen, sofern diese alle Gebiete des objectiven Geistes umfasst, während die theologische nur die Selbstobjectivirung der Religion zur Kirche darzustellen hat. Aber anderseits muss die philosophische in diesem besondern Gebiet des religiösen Geistes wieder theologisch werden, muss in die ge-

Stellung und Anfgabe der Philosophie in der Theologie.

17

schichtliche Bestimmtheit der christlichen Kirche eingehen, und verriethe nur ein abstractes oder oberflächliches Wesen, wenn sie mit Nichtbeachtung derselben die äussern Formen des religiösen Lebens aus sich selber schöpfen wollte. Indem aus der theologischen Ethik das Princip für die p r a k tische Theologie, als Kunsttheorie des kirchlichen Handelns, philosophisch zu entwickeln ist, werden wir zu dieser, als dem d r i t t e n Theil der Theologie, hinübergeleitet, und zu der Frage: welche Stellung hat die Philosophie in der p r a k t i s c h e n Theologie einzunehmen? Allein hier treten uns die Bedenken gegen die Philosophie in der Theologie massenhaft entgegen. Wir wollen daher — erlauben Sie mir diesen Sprung — die Einwendungen und Vorurtheile gegen den praktischen Einfluss der Philosophie auf den Theologen und seine praktische Thätigkeit, in Beziehung auf einen speciellen Zweig der theologischen Praxis, nämlich auf die des akademischen Lehrers, zu Wort kommen lassen. Denn allerdings betrachte ich das akademische Lehramt auch als ein Amt im Dienste der Kirche und dessen Theorie als einen Bestandteil der praktischen Theologie. Wir beginnen, wie billig, mit dem Hauptvorwurf, dass die Philosophie die zu ihrem Princip das freie Selbstbewusstsein hat, ungläubig sei und ungläubig mache; dass also ein akademischer Lehrer der unter dem Einfluss dieser Philosophie stehe und in dieser Richtung lehre, Unglauben um sich verbreite: ein Vorwurf allerdings der, wenn er gegründet wäre, allein schon den so philosophirenden Lehrer aus der theologischen Fakultät verbannte; denn der Glaube ist das Lebenselement des Theologen. Was will aber dieser Vorwurf sagen? Etwa das, dass die Philosophie dem Theologen unmöglich mache, was ihm in der Kirche als göttliche Autorität entgegentritt ohne Prüfung nicht bloss der äussern sondern auch der innern Beglaubigung für göttliche Wahrheit, Richtschnur und Princip seiner Wissenschaft anzunehmen? Hat mau mit jenem Vorwurf etwa diesen Glauben im Sinn? Ja dann macht die Philosophie allerdings ungläubig, und zu diesem Unglauben leitet der akademische Lehrer die studirende Jugend die sich seinem Einflüsse hingiebt an. Er hielte B i e d e r m a n n , Vorträge und Aufsätze.

2

18

Stellung und Aufgabe der Philosophie in der Theologie.

die freie Wissenschaft für blosses Wortspiel und Blendwerk, wenn sie ihm nicht, ich sage nicht das Recht gäbe, nein die Pflicht auferlegte, in der studirenden Jugend den Sinn für freie Forschung zu wecken und ihr den Muth einzuflössen bei keiner andern Autorität für die wissenschaftliche Ueberzeugung sich zu beruhigen, als bei der in ihrem innersten Wesen ergriffenen und begriffenen Wahrheit. Ist aber vielmehr der Glaube die Hingabe der eigenen endlichen Persönlichkeit mit all ihrem Denken, ihrer vollen Gesinnung, der ganzen Kraft des Willens an die ewige göttliche Lebenswahrheit für den Menschen, die in Christo zur welterlösenden That geworden, die sich als Wahrheit aufschliesst dem Gedanken, als Heiligkeit sich bezeugt dem Gewissen, als Gerechtigkeit züchtigend, als Gnade erlösend, als Liebe beseligend sich erweist im ganzen inwendigen Menschen: so ist es gerade die Philosophie, die zu diesem Glauben den Weg weist. Mag eine halbe Philosophie von Gott abführen: die ganze führt zu ihm hin, zu einem Glauben der die Macht allen Zweifel zu überwinden in sich trägt, zu einem Glauben der den Namen eines wahrhaft kindlichen Glaubens — unter dem man oft kläglicher Weise nur einen kindischen versteht, der das Denken Andern überlässt und sich dieser Unmündigkeit noch hoch berühmt — mit vollem Recht in Anspruch nimmt, indem er sich gründet auf das Bewusstsein der Wesensgemeinschaft, auf die Erfahrung der Lebensmittheilung aus der Fülle des lebendigen göttlichen Wesens. Zu diesem Glauben weist das philosophische Selbstbewusstsein den Weg; denn er ist nichts anderes als der Rückschlag des Denkens der göttlichen Wahrheit zur entsprechenden Gesinnung des Herzens und Bestimmung des Willens. Zu solchem Glauben der akademischen Jugend durch die Irrgänge der Wissenschaft hindurch den Weg zu weisen, schwebt mir vor als die schönste praktisch-kirchliche Aufgabe meines Lehramtes; und wenn es mir nur mangelhaft gelingen sollte, diese zu erfüllen, so würde ich die Schuld nicht in den philosophischen Ueberzeugungen, sondern in meinem Unvermögen suchen müssen die Studirenden ganz in dieselbe einzuführen. Ist der erste Einwurf gegen den praktischen Einfluss der

Stellung und Aufgabe der Philosophie in der Theologie.

19

Philosophie auf den Theologen aus dem Princip der Glaubenslehre hergenommen: so geht ein weiterer nun darauf, die Philosophie hebe praktisch das Princip der christlichen Ethik auf: sie zerstöre die Demuth und mache h o c h m ü t h i g . Meint man mit dem Hochmuth den die Philosophie pflanzen soll etwa wieder nur das, dass der Geist sich nicht sofort jeder Autorität anerkennend beugt; nennt man das hochmüthig, wenn man dem Geist das Vermögen zuschreibt alle Dinge zu erforschen, auch die Tiefen der Gottheit; nennt man das hochmüthig, wenn der Theolog es nicht für seine Aufgabe hält, in der Weise Verwalter der göttlichen Geheimnisse zu sein, dass er sie als ein Buch mit sieben Siegeln erhält und unentsiegelt und unberührt weiter überliefert; nennt man das hochmüthig: — j a dann macht das philosophische Selbstbewusstsein hochmüthig und will diesen Hochmuth in die Jünger der Wissenschaft pflanzen; will jene Demuth nicht in ihnen aufkommen lassen, die sich so gern hinter Unerforschlichkeiten verbirgt, um sich des eigenen weitern Forschens entschlagen zu können. Aber das ist doch nicht die christliche Demuth. Diese geht vielmehr auf Gott selbst, und ist die nächste praktische Folge des Glaubens, die Unterwerfung des eigenen zu willkürlichen Einbildungen geneigten Denkens unter die festen Gesetze des ewigen Denkens, des eigenen begehrlichen Herzens mit all seinen Wünschen unter die ewige in ihrer Weisheit und Nothwendigkeit erkannte göttliche Weltordnung, die freudige Unterordnung des Eigenwillens unter die Zucht des göttlichen Willens. Auf diese Demuth verweist die Philosophie den Theologen, dass er sie übe, nicht nur wie jeder Christ im Leben, sondern besonders auch in seiner Wissenschaft. Zu dieser Demuth in der Wissenschaft auch die ihm sich anvertrauende Jugend hinzuleiten, muss der philosophische Lehrer als eine weitere praktische Aufgabe seines Berufes erkennen: sie anzuleiten keinen andern Gesetzen zu folgen mit all ihrem Denken als denen der erkannten Wahrheit, diesen aber auch ganz und ungethcilt. Ja, mag ein halbes Philosophiren hochmüthig machen: alles Denken das diesen Namen ganz verdient macht demüthig. 2*

20

Stellung und Aufgabe der Philosophie in der Theologie.

Mit der Denrath gegen das Göttliche ist P i e t ä t gegen alles Menschliche verbunden, das irgendwie jenem zum Gefäss und Träger hat dienen müssen. Sucht die Philosophie gerade in der geschichtlichen Entwicklung des religiösen Geistes die verschiedenen Stufen, Richtungen und Formen in ihrem notwendigen Zusammenhang, und an ihrer Stelle als wahres und berechtigtes Moment zu begreifen: so prägt sie damit auch Pietät ein gegen Glaubensrichtungen, Glaubensformen und deren Träger, wenn sie auch nicht mehr für sich die volle Wahrheit in ihnen anerkennen kann. Nur die Oberflächlichkeit und Unwissenheit spricht mit wegwerfender Geringschätzung über alles ab was ihr fremd ist: eine in philosophische Redensarten sich einkleidende über den Glauben, eine ihrer Gläubigkeit sich rühmende über die Philosophie. Der wahre philosophische Sinn wird um so sicherer davor bewahren, je ernster er in eine Wissenschaft eingeführt wird: wie auf der andern Seite tiefinnerliche Frömmigkeit am meisten vor verdammendem Absprechen zurückhält. Haben wir nun aber auch die Philosophie in ihrem Einfluss auf den Theologen von diesen beiden Vorwürfen reinigen können, so erhebt sich ein dritter von Seiten der praktischen Theologie, der nicht minder bedenklich lautet: die Philosophie entfremde den Theologen den praktischen Bedürfnissen der Kirche, mache ihn unpraktisch, und so bilde er auch unpraktische Geistliche; denn nicht als Philosophen, sondern als Theologen müssen sie hinaus unter das Volk, nicht philosophische Systeme verkündigen, sondern das einfache Wort des Evangeliums predigen. Ja wenn das praktisch hiesse, dass der akademische Lehrer den wissenschaftlichen Stoff schon so zubereitet darbieten sollte, wie ihn der praktische Geistliche nun sofort ohne weitere eigene Verarbeitung in Predigt und Jugendunterricht verbrauchen könnte: — dann wäre die philosophische Theologie noch viel weniger praktisch als irgend eine andere; ganz würde es freilich in diesem Sinn keine sein können, wenn sie nur irgend noch einigen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit machen und nicht blosse Ablichtung sein wollte. Allein wenn die Philosophie gerade darin ihre Aufgabe hat,

Stellung und Aufgabe der Philosophie in der Theologie.

21

den ganzen Menschen in der Totalität aller Momente und Seiten seines Wesens, in ihrem Unterschied und in ihrer Einheit, zum Selbstbewusstsein zu bringen: so ist doch gewiss damit die Aufgabe für sie gestellt, ihn auch zum bestimmten Bewusstsein über den praktischen Zweck jeder Sphäre, deren Anforderungen und die vernünftigen Bedingungen ihrer Erfüllung zu bringen. Und wenn auch das philosophische Bewusstsein es einem Theologen schwerer machen mag, aus seinem theologischen Wissen den Weg sich zu bahnen zur rechten Auffassung und Ausübung der praktisch kirchlichen Thätigkeit (abgesehen von der grössern oder geringem Sprödigkeit der Individualitäten, die auf allen Standpunkten der Wissenschaft den Uebergang ins Leben schwerer oder leichter macht), — wenn allerdings das philosophische Bewusstsein an und für sich es schwerer machen mag: so liegt der Grund nur darin, dass der Punkt des Uebergangs aus dem einen Gebiete ins andere für dasselbe nicht auf der Oberfläche sondern in der innersten Tiefe des Sclbstbewusstseins liegt und nur in allseitiger gründlicher Vermittlung wahrhaft gewonnen wird. Allein das Leichtere ist darum nicht das Bessere; und das Schwerere, wenn es einmal gewonnen ist, darum nicht unpraktischer. Je durchgebildeter das philosophische Selbstbewusstsein ist, je entschiedener und durchdringender seine freie Ueberzeugung in wissenschaftlichen Dingen, um so sicherer, wahrer und lebendiger wird auch der Uebergang zum praktisch kirchlichen Leben gefunden. Wenn aber derjenige, der nach dieser philosophischen Durchbildung seines Selbstbewusstseins strebt und dabei nicht auf halbem Wege stehen bleibt, sondern offen stets für das einsteht, was er als wahr erkennt, bei Andern auf den Argwohn stossen muss, als könne für ihn dieser Uebergang von der Wissenschaft zum kirchlichen Leben und Wirken nicht möglich sein ohne Heuchelei oder Verleugnen des denn doch wieder nicht verleugneten philosophischen Denkens — ein Argwohn der bei der Zähigkeit theologischer Vorurtheile so fest eingewurzelt sein kann, dass auch ein an der Pforte der Kirche mit freiem Willen und Freudigkeit ausgesprochenes Ja demselben nicht als hinreichende Gewähr der Aufrichtigkeit erscheint: so kann ihm ein solcher

22

Stellung und Aufgabe der Philosophie in der Theologie.

Argwohn, von dem er Bich im innersten Gewissen nicht getroffen fühlt, nur in die Seele des Andern hinein leid thun; ihm selbst aber giebt er das Gefühl, dass er in diesem Stücke wenigstens, wahrlich ohne Selbstüberhebung, an das Wort des Apostels Paulus denken und sich dessen getrösten darf: o di nvevfiatMÖc ävax^ivsi rä nävta, aitog 6i in otJdeyog avaxqiveTai (1. Kor. 2, 15). Die lebendige Vermittlung vom wissenschaftlichen Denken und seinen Interessen mit dem praktischen Amte der Verkündigung des Evangeliums, die der theologische Lehrer auch in seinem wissenschaftlichen Berufe nie aus den Augen verlieren darf, wird mir für meine Person dadurch noch erleichtert, dass ich aus dem Pfarramt zum akademischen Leben zurückkehre, als Einer zwar der nichts vergessen hat von dem begeisterten wissenschaftlichen Streben, das ganz dem Triebe der Erkenntniss sich hingiebt, aber doch nicht als Einer der nichts gelernt hat, nämlich aus dem Leben zu erkennen worin die praktischen Aufgaben der Kirche bestehen, und wessen es bedarf sie zu lösen. Wenn es nun aber am Ende auch gelingt, die erwähnten Vorwürfe insoweit abzulehnen, dass sie wenigstens nicht mehr unmittelbar gegen das Gewissen der Person gerichtet werden, so muss man zuletzt noch die Wendung hören: immerhin möge man in guten Treuen auf diesen gefährlichen und für die Kirche und das religiös-sittliche Leben verderblichen Wegen gehen; man habe nur eben das Bewusstsein ihrer Gefährlichkeit nicht, und daher sei es doppelt Pflicht für die Andern, ihre warnende Stimme zu erheben. Diese Entschuldigung mag und kann ich mir für meine Person nicht zugut kommen lassen. Es klingt auch gar zu wunderlich, dass man gerade wegen seines Strebens nach einem klaren durchgebildeten Selbstbewusstsein des religiösen Lebens als ein — wie soll ich sagen? — theologischer Nachtwandler erscheinen soll. Nein, mit vollem Bewusstsein meiner Aufgabe, und in lebendigem Gefühl ihrer Schwierigkeit und ihrer grossen Anforderungen an meine schwachen Kräfte trete ich mein neues Amt an, von dem ich weiss dass von ihm ganz besonders das Wort Christi gilt, welches in diesen Tagen den Dienern der Kirche ist vorgehalten worden, dass ein Schriftgelehrter, geschickt zum Himmelreich,

Stellung und Aufgabe der Philosophie in der Theologie.

23

einem Hausvater gleichen soll der aus seinem Schatz Altes und Neues hervorträgt: Altes, dass er nicht zu einem vom festen Boden des bewährten Alten entwurzelter Neuerer; Neues, dass er nicht unversehens gar zum verknöcherten Vertreter einer schon ausgelebten und von neuern Lehr- und Lebensentwicklungen überwundenen Geistesrichtung werde. Ich schliesse mit der schlichten Bitte: nehmen Sie mich mit diesem doppelten Vertrauen in Ihre Mitte auf.

II. Das Jenseits der Naturvölker. Vortrag, gehalten den 4. Dezbr. 1851.

Unter allen Fragen aus dem Gebiete der Religion ist keine, die so unmittelbar des Menschen eigenstes Interesse in Anspruch nimmt, wie die nach dem J e n s e i t s ; denn es konzentrirt sich darin alles persönliche Bedürfniss, nach dessen Befriedigung er in der Religion zu suchen sich gedrungen fühlt. Ist doch die Religion überhaupt j a eine Wechselbeziehung zwischen dem Menschen und einem Jenseits hinter seinem natürlichen Dasein, welches die Endlichkeit des letztem und das ihm selbst innewohnende unaustilgbare Bewusstsein eigener Unendlichkeit suchen heisst und irgendwie glauben und finden lehrt. Der Mensch schaut dieses von seinem Glaubensbedürfniss geforderte Jenseits in der Gottheit an als Quelle wie seines Daseins überhaupt, so der höchsten Befriedigung dieses Daseins; die volle Befriedigung selbst aber kann er nur davon erwarten, dass ihm dieses Jenseits persönlich irgendwie zu Theil werde. Dies ist für ihn das Ziel aller praktischen Religion, und die Frage, wie es zu denken, daher das Ziel, auf welches alle Fragen über die Religion mittelbar oder unmittelbar zuletzt ausmünden. Darum sehen wir uns denn auch bei andern Religionen mit besonderem Interesse nach ihren Vorstellungen vom Jenseits um; Viele freilich aus einem bedenklichen Grunde: um nämlich für ihre eigene Unsicherheit Stützen an Andern zu bekommen. Weil

Das Jenseits der Naturvölker.

25

man — so denken sie — über diese so wichtige Sache ihrer Natur nach zuletzt doch an den Glauben gewiesen sei, während doch die möglichste Gewissheit zu haben so wünschenswerth wäre: so könne man wenigstens nicht Zeugen genug sammeln fttr diesen Glauben, indem was von Allen geglaubt worden, doch mit grösserer Sicherheit als nothwendig und wahr dürfe angenommen werden. Allein wenn es sich min bei diesem allgemeinen Zeugenverhör herausstellt, dass Alle zwar etwas bezeugen, aber die Meisten Widersprechendes, ja offenbar Falsches: so scheint ein solches Zeugenverhör wenig zur eigenen Befestigung beitragen, sondern höchstens nur dem, der seiner zum voraus nicht bedurfte, das befriedigende Gefühl erwecken zu können, wie viel besseres er doch wisse als diese ganze Schaar von Zeugen. Weiter aber zu vernehmen, was jene Irriges geglaubt, scheint nur noch eine Sache müssiger Neugier zu sein. Doch das scheint nur so; denn wenn wir uns nach den Vorstellungen anderer Zeiten und Völker vom Jenseits umsehen, hat es für uns nicht bloss das Interesse jener müssigen Neugier, sondern der würdigern fruchtbaren Wissbegierde, Wahrheiten von ihnen zu erfahren, Wahrheiten dieser Völker selbst, und Wahrheiten direkt auch für uns: Wahrheiten jener Völker, indem ihre wenn auch unwahren Vorstellungen vom Jenseits uns lehren, was ihnen als die Wahrheit des Diesseits gegolten, und Wahrheiten für uns, indem wir gerade daraus die allgemeinen Gesetze uns abnehmen können, nach welchen überhaupt im menschlichen Geist die religiösen Vorstellungen sich gestalten und nach welchen sie auch zu messen und zu beurtheilen sind. Hiervon aber die Anwendung auf uns selbst zu machen, zur Beurtheilung und auch etwaigen Berichtigung eigener Vorstellungen — wem fehlte es hierzu ganz an Veranlassung? Und gerade N a t u r v ö l k e r — ich bezeichne hier mit diesem Ausdruck in religiösem Sinne Völker, denen einzelne Naturgegenstände oder allgemeine Naturmächte oder auch die Mächte des menschlichen Naturdaseins, kurz, das Naturleben das Höchste ist, was sie kennen, das sie daher unwillkürlich zum Träger ihrer Ahnung des Göttlichen gemacht haben — gerade Naturvölker können uns für unsere Gedanken vom Jenseits sehr lehrreich sein.

26

Das Jenseits der Naturvölker.

Einerseits stehen wir denn doch zu entschieden auf einem andern Boden, als dass wir besorgen sollten, durch ihre Anschauungen im Ganzen verwirrt zu werden; also Gefahr für uns haben wir nicht zu besorgen. Anderseits aber, obgleich von Kind an erzogen in der Wahrheit der Religion, in welcher der göttliche Geist selbst sich unserm Geiste bezeugt, entwickeln wir uns doch in unserm eigenen Denken zunächst als Naturkinder, und verschleppen deswegen von daher vielleicht unbewusst manches Element ungeistiger Anschauung in die Ausbildung unsers christlichen Denkens hinüber, auf das wir erst dann als auf etwas Ungehöriges aufmerksam werden, wenn wir ihm in weit hinter und unter uns geglaubten Geisterregionen wieder begegnen. Folgen Sie mir daher, Verehrteste, für eine Stunde ins J e n s e i t s der N a t u r v ö l k e r . Wir können aber natürlich dieses weite Gebiet nicht nach allen Eichtungen hin durchmessen; denn wie verschieden die einzelnen dieser Völker sind in ihren natürlichen Anlagen, wie weit von einander abstehend in Beziehung auf die Stufe ihrer Ausbildung, wie unendlich mannigfaltig namentlich auch die Natur ist, die sie umgiebt und ihre Anschauung bestimmt: eben so vielgestaltig tritt uns auch das Jenseits in den Vorstellungen dieser Völker entgegen. Und da es hier an dem mit Bewusstsein ordnenden Geiste fehlt und mehr die formlose Ahnung und die vielformige Phantasie waltet, freilich nach unbewusst ordnenden Gesetzen, so dürfen wir uns nicht wundern, wenn uns ein verwirrendes Chaos von Vorstellungen begegnet: hier Widersprechendes bei Einem Volke, dort Gleichartiges bei den verschiedensten Völkern. Lassen Sie uns daher dem Faden jener innern Gesetze nachgehen; denn nur so dürfte auch ein viel bewanderterer und gewandterer Führer, als Sie heute an mir haben, hoffen, in so kurzer Zeit durch dies schrankenlose Reich der Ahnungen und Träume, mit seinem nur von einzelnen Lichtblicken durchleuchteten Dunkel, mit seinen Nebeln und Nebelbildern, Sie glücklich hindurch zu geleiten. Wie kommen aber — so werden Sie vielleicht von vorn herein fragen — Naturvölker denn überall nur dazu, ein Jenseits sich vorzustellen? Ist es nicht ein Widerspruch, wenn ihnen das

Das Jenseits der Naturvölker.

27

Naturleben das höchste und letzte ist, was sie kennen, woher denn der Gedanke an ein Jenseits hinter demselben? Allerdings ist's ein Widerspruch, aber ein thatsächlicher, in welchem ihr ganzes geistiges Leben befangen ist. Alle ihre religiösen Vorstellungen sind seine Erzeugnisse, in denen sie nach der Lösung des Räthsels suchen. Allein sie stellen damit das Räthsel nur auf, und uns bleibt die Lösung. Es treibt sie — um es kurz zu sagen — der Widerspruch, dass die Natur und Bestimmung des Geistes auch in ihnen sich geltend macht, sie aber dieser Bestimmung sich noch nicht selbst bewusst sind. Sie sind Geist und wissen es nicht, und müssen es doch empfinden. Das ist nun aber die Bestimmung des menschlichen Geistes, dass er sich selbst seinem wahren Wesen nach unterscheide von seiner eigenen äussern Erscheinung im leiblichen Dasein und dass er diesem dann frei und selbstbewusst seinen Stempel aufdrücke. Diese nothwendige Unterscheidung von seinem sinnlichen Dasein muss der Geist auf jeder Stufe seiner Entwicklung vollziehen. Auf der untersten Stufe aber, wo er selbst noch ganz in dasselbe versenkt ist, drängt sie sich ihm auf in der Gestalt einer äussern Wahrnehmung, in der Wahrnehmung der Seele als eines eigenen dem Körper innewohnenden, unsichtbaren, ihn belebenden und doch von ihm trennbaren Dinges. Am augenfälligsten macht der Naturmensch diese Erfahrung am T r a u m . Da. ergeht sich j a dieses unsichtbare Andere im Menschen, während er selbst in dessen Abwesenheit regungslos daliegt, in der unbeschränktesten Weise, und gleicht doch in allem ihm selber. Darum wird die Seele, sofern sie den Körper belebt, am einfachsten als H a u c h vorgestellt, als ein unsichtbares bewegliches Etwas, das Anderes bewegt, was die meisten Sprachen schon im Namen der Seele ausdrücken; sofern sie aber von ihm getrennt und für sich genommen wird, erscheint sie entweder als ein ebenfalls körperliches, nur feineres, nicht sichtbares und handgreifliches, ihm aber im Uebrigen gleichendes Wesen, oder dann als des Menschen wesenloses schattenhaftes Abbild. Den G r ö n l ä n d e r n ist die Seele ein blasses weisses Wesen ohne Fleisch und Bein, das mit dem Körper wächst und abnimmt, verstümmelt oder sonst schadhaft

28

Das Jenseits der Naturvölker.

werden kann, was dann dem Körper Krankheiten verursacht. Diese heilen die Zauberer, die Angekoks, dadurch, dass sie die abgerissenen Stücke der Seele oder, noch besser, geradezu frische Seelen, etwa von Kindern, zur Stelle zaubern. Auch verlässt die Seele bisweilen den lebendigen Leib, um zum Tanz oder auf die Jagd oder auf Reisen zu gehen. — Andere Völker schreiben ihr auch Fleisch und Blut zu, nur von feinerer und unsichtbarer Art. Wenn daher der Leib verwundet wird, so verliert auch die Seele Blut. — Und die C h i n e s e n fürchten, wenn ihnen der Zopf genommen wird, auch an der Seele diese Zierde zu verlieren und dann jenseits von den Ihrigen nicht mehr erkannt, geschweige denn anerkannt zu werden. Hier also vollzieht der Mensch noch nicht mit eigenem Bewusstsein den wahren Gegensatz von G e i s t und N a t u r . Zuletzt aber kommt der Tod und macht, bis auf den Grund durchschneidend, bittern Ernst mit demselben. Das Natürliche ist ihm von Haus aus verfallen; ihm widerfahrt was ihm gebührt-, aber dem Geist wohnt das Gefühl inne, dass ihm die Macht über den Tod zukomme. Hat er aber diese im Leben noch nicht errungen, ist er noch nicht zu sich selber gekommen, sondern noch ganz mit seinem dem Tode verfallenen Naturleben verwachsen und Eins geblieben: so muss er vor dem Tod, der diesem ein Ende macht, also vor dem Nichts, das ihm auch wirklich als nichts erschien und deswegen am Leben nicht störte, so lang es erst in unbestimmter Ferne in Aussicht stand, — er muss vor diesem Nichts im Innersten zusammenschauern, wenn es nun endlich an ihn herantritt, Aug in Aug ihm gegenübersteht und seinen kalten eisernen Arm gegen ihn ausstreckt. Er ergiebt sich nur gezwungen in die Gewalt dieses letzten Feindes, dessen Stachel für das warme Leben nicht im heissen Todeskampf und Todesschmcrz, sondern im kalten Todtsein liegt. — Mehrere Naturvölker von derber sinnlicher Lebenskraft anerkennen daher diesen Feind gar nicht, lassen es ihm nicht gelten, dass ihm von Natur, die Macht über sie zustehen solle. Sie kommen deswegen der Natur zuvor und schlagen ihre Kranken und Altersschwachen selbst todt, damit sie doch wissen, durch wen sie todt sind. Wenn aber einer sonst

Daa Jenseits der Naturvölker.

29

stirbt, so fragen sie ihn selbst, warnm er das gethan habe, und gewöhnlich muss, wenn es nicht sein eigener Wille war, Zauberei Andrer daran Schuld sein. — Doch viele Naturvölker schon sehen den Tod als Strafe für eine Verschuldung an, und bei manchen findet sich bereits der Glaube, dass er die allgemeine Folge einer ersten Schuld sei. Die meisten jedoch nehmen den Tod im Zusammenhang mit dem übrigen Elend des Lebens eben dahin als ein böses Verhängniss feindseliger Göttergewalt. Am unternehmendsten sind wohl gegen den Tod die Weisen einer chinesischen Sekte, die an einem Trank leiblicher Unsterblichkeit und an der Kunst in den Himmel zu fliegen studiren, um so die Schranken des natürlichen Lebens in Zeit und Raum zu überspringen und den Tod vollständig zu überlisten. Doch wider den Tod hilft kein Mittel: er kommt und macht dem leiblichen Leben ein Ende. Nun drängt sich die Frage auf: was wird dabei aus der Seele? Denn gerade dem Naturmenschen, dem sie selbst ein körperliches Wesen ist, versteht es sich gar nicht von selbst, dass sie nun auch todt sei. Weit näher liegt es ihm, zu denken, die Seele, die ja schon vorher zum öftern im Traum den Körper zeitweise verlassen, habe nun bleibenden Ernst gemacht und führe ihr besonderes Dasein für sich fort. Lebt ja doch der Verstorbene in der Erinnerung fort und erscheint auch ferner noch, ja eher noch lebhafter als früher, Andern im Traum. Ist dieses Bild des Menschen, das Andern im Traum erscheint, seine Seele selbst, wofür es diese Naturvölker zu nehmen geneigt sind: so ist ja ihre Fortdauer eine Sache der unmittelbaren Wahrnehmung und Erfahrung. Ueber die Art, wie die Seele den Leib verlässt, findet sich ziemlich allgemein die natürliche Vorstellung verbreitet, dass sie aus Mund oder Nase entfliehe. Die T i b e t a n e r haben die eigene Sitte, sie aus der Kopfhaut des Verstorbenen herauszuziehen. Das eigenthümliche Geräusch, welches dadurch verursacht wird, halten sie für ein Zeichen der abfahrenden Seele. Zunächst ist es nun aber der Leichnam, der die Sorge der Lebenden in Anspruch nimmt. Dass das Todte das Reich des Lebens verunreine und weggeschafft werden müsse, lehrt die Natur.

30

Das Jenseits der Naturvölker.

Welchem ihrer Elemente aber, der Erde, dem Feuer, der Luft, oder dem Wasser, die Leiche zurückgegeben wird und die Art wie es geschieht, das hängt theils als Ursache, theils als Wirkung zusammen mit der Vorstellung vom Schicksal der Seele. So geben uns die Bestattungsgebräuche Aufschluss auch über diese. — Die einfachste und älteste Bestattungsart ist das B e g r a b e n , der Erde zu geben was von der Erde ist. Zugleich fixirt es den Seelen am bestimmtesten ihren künftigen Aufenthaltsort, sei's über der Erde in der Nähe des Grabes, sei's im Grabe selbst, sei's, dass in der Phantasie sich das Grab zu einer dunkeln Unterwelt als allgemeiner Behausung der Todten erweitert. — Das Verbrennen thut dem Bedttrfniss der völligen Beseitigung des verunreinigenden Leichnams am besten Genüge, und während es einerseits entschiedener als das Begraben die Seele ihres bisherigen gröbern Genossen entbindet und so für die Vorstellung seiner Fortdauer freiem Spielraum eröffnet, liefert es auf der andern Seite in bequemerer Weise die Ueberreste für die einfache Erinnerung wie für die Zauberei. — Viele Völker, namentlich des mittlem Asiens, setzen ihre Todten in freier L u f t der Verwesung oder dem Frass der Raubthiere und Vögel aus, nicht aus roher Gefühllosigkeit, welche Reisende nach ihrem persönlichen Eindruck der Sitte unterlegten, sondern um sich gerade der doch von Natur immer schmerzlichen Vernichtung der Ueberreste der Ihrigen zu entschlagen, überliefern sie dieselben kurzweg den natürlichen Vollstreckern der Vernichtung, wobei allerdings die Kamtschadalen auch das gefühllose Motiv der Nützlichkeit eingestehen, damit ihre Hunde, die nie an Ueberfluss leiden, dadurch doch etwas bekommen, was sonst ungenützt verdürbe. Einige sibirische Völker hängen ihre Todten in Häuten an Bäumen auf, damit ihre Seelen nicht in die Gewalt der bösen Erdgeister gerathen. Bei den alten Persern hing die Sitte, ihre Todten auf hohen Gerüsten den Raubvögeln auszusetzen, aufs Engste zusammen mit ihrer religiösen Weltanschauung vom Reich des Lichts und der Finsterniss, des Reinen und des Unreinen: die unreinen Leichen übergaben sie den unreinen Geschöpfen, die selbst wieder zur Vertilgung des Unreinen bestimmt sind. — Eine gerade ent-

Das Jenseits der Naturvölker.

31

gegengesetzte Bestattungsart der Leichen ist das Einbalsamiren und andere Behandlungsarten, wie das Dörren an der Sonne, welche den Körper der Verwesung entziehen. Bei den einen Völkern geschieht es einfach, um sich denselben als Gegenstand der Erinnerung möglichst unversehrt zu bewahren. Bei andern, namentlich bei den alten Aegyptern, stand diese Sitte in der engsten Beziehung zur Lehre von der Seelenwanderung, indem man auf diese Weise der Seele bis zu ihrer periodischen Wiederkehr ihre ehemalige Behausung erhalten wollte. — Die Leichen endlich ins Wasser zu werfen, gilt fast überall als die schmählichste Behandlung: sie verräth die wenigste Sorge um ihr weiteres Schicksal. Nur dem Hindu ist es das erwünschteste Todesloos, dem heiligen Wasser des göttlichen Ganges überliefert zu werden. Eine besondere Furcht vor dem Grab im Wasser haben die Völker, die sich vorstellen, dass die Seelen im Wasser mit ertrinken, was z. B. bei den alten Griechen und Skandinaviern vorkommt. Aber gerade aus demselben Grund werfen einige Negerstämme ihre Todten ins Wasser, um nämlich vor ihrem Wiederkommen sicher zu sein. Und die Negerinnen von Matamba lassen sich nach dem Tode ihrer Männer selbst ins Wasser werfen, um dieselben, von denen sie sich wie vom Alp verfolgt fühlen, darin gründlich los zu werden, — fast wie in Raffs Naturgeschichte der Fuchs. Was aber immer für eine Bestattungsart bei einem Volke gebräuchlich ist, — durchgehend herrscht die Vorstellung, dass es für die Seele das grösste Uebel sei, wenn dem Körper die übliche Bestattungsehre nicht widerfährt. Natürlich: das Bild von dem Verstorbenen ist damit aus seiner Bahn gebracht, gestört, beleidigt: also die Seele selbst ebenfalls. Die I n d i a n e r Nordamerikas glauben ihre zu Tode gemarterten Feinde auch noch über den Tod hinaus quälen zu können, wenn sie ihre Ueberreste als Siegeszeichen aufbewahren. Und die Germanen, die ihre Todten begruben, verbrannten die zerstückten Leichen von Zauberern und sonst gefürchteten Uebelthätern und streuten die Asche in die Winde, um sie so ganz und gar zu vernichten, jedenfalls wenigstens ihnen das Wiederkommen zu benehmen.

32

Das Jenseits der Naturvölker.

So lange aber überhaupt die Leiche noch nicht bestattet ist, und zwar auf die übliche Weise, hat der Mensch dem Todten seine Schuldigkeit noch nicht geleistet, ihm die letzte Ehre noch nicht erwiesen. Damit ist das Bild des Todten noch nicht zu seinem Abschlüsse, das Gemüth noch nicht zur Ruhe über ihn gekommen, und dies Hinderniss des eigenen Abschlusses wird unwillkürlich auf den Todten selbst übertragen: seine Seele hat ihre Ruhe noch nicht erhalten; darum quält sie namentlich die Verwandten, bis sie ihre letzte Pflicht an der Leiche erfüllt haben. Denn nicht bloss die Phantasie, auch das Gemüth begleitet den Menschen über den Tod hinaus, mit Liebe oder Hass, mit Anhänglichkeit oder Furcht. Die letztere namentlich wird sich eher noch steigern, wenn ihr Gegenstand der Sichtbarkeit, wobei doch noch eine handgreifliche Gegenwehr möglich war, entrückt und doch noch vorhanden ist, aber so, dass der Lebende nun waffenlos gegen ihn dasteht. Vollends ist Grund zur Furcht vorhanden, wenn die Seele durch den Tod in einen Zustand gerathen ist, den sie nur ungern erträgt, für den sie sich aber irgendwie an den Lebenden schadlos halten, oder von ihnen Abhülfe erlangen kann. Das letztere findet nun aber jedenfalls statt, bis der Leiche die Bestattung, wie Natur und Sitte es verlangen, zu Theil geworden. So haben die Lebenden zwar die Ruhe der Todten in ihrer Hand, indem -wenigstens der Leichnam widerstandslos in ihrer Gewalt bleibt; aber sie halten sich so zu sagen gegenseitig im Schach, und theils die Furcht vor der Rache der Seelen, theils auch ein natürliches Gefühl, dass es unedel sei, am Leblosen seinen Muth zu kühlen, welches nur momentan die Rachelust übertäuben kann, macht es den meisten Naturvölkern zur heiligen Pflicht, auch dem Feind die Ehre der Bestattung nicht zu versagen. Aber wo ist nun, nachdem dem Leib das Seine widerfahren, die Seele? Der niedrigsten Vorstellungsweise, für welche die Seele ebenfalls ein körperliches Wesen nur von feinerer Art ist, liegt es am nächsten, die Seelen auch nach der Bestattung der Leiche noch in der irdischen Nähe verweilend zu denken. Das geringste Nachdenken über das Wo der Seele bieten jene Be-

Das Jenseits der Naturvölker.

33

wohner von P a r a g u a y auf, welche die Seelen ihrer Verstorbenen eine Zeit lang in den Gebtischen um ihre Hutten suchen und wenn sie dieselben nicht finden, das Suchen aufgeben und nun gestehen, nicht zu wissen, was aus ihnen geworden. Sonst ist es natürlicher, wenn man sich einmal die Seelen noch im Bereich der Lebenden vorstellt, sich nun auch in irgend einer Beziehung zu ihnen zu denken, und sich entweder Gutes, oder — und zwar ist dies das häufigere — allerlei Schaden und Spuck von ihnen zu versehen. Nur wenige Naturvölker bewahren sich von ihren Verstorbenen eine so harmlose Erinnerung, dass sie mit ihren Seelen einen freundlichen Verkehr fortsetzen und Wohlthaten von ihnen erwarten, wie die Aboinesen, die ihnen den glucklichen Erfolg ihres Fischfangs zuschreiben, die Einwohner der Philippinen, die sich in allen Nöthen an die abgeschiedenen Seelen der Ihrigen wenden, und die Gagern in Afrika, die sich von ihnen Regen und guten Rath erbitten. Vor allen pflegen diesen freundlichen Todtenkult die Chinesen, bei denen die Familienbande auch noch die Todten mit den Lebenden verbinden. Sie haben in ihren Häusern ein eigenes Gemach für ihre Vorfahren mit einem Altar, der mit Tafeln behängt ist, darauf ihre Namen in goldenen Buchstaben. Diese Täfelchen umschweben die Seelen, oder können wenigstens durch Gebet und Trommelschlag herbeigelockt werden, was jederzeit geschieht, wenn ein wichtiges Familienereigniss, wie eine Hochzeit, anzuzeigen und ihr Segen dazu zu erflehen ist. Alle Halbjahre werden Todtenfeste gefeiert, besonders aber am Neujahrstag, bei welcher Gelegenheit alle Etiquette chinesischer Gastfreundschaft gegen die geladenen Seelen beobachtet wird: sie erhalten Teppiche zum Sitzen, Wasser zum Fusswaschen, Sandalen und Bambusrohre. Aus den Speisen, die ihnen vorgesetzt werden, ziehen die zu Gast sitzenden Seelen die Kraft heraus. Dieselbe göttliche Verehrung des Familiengeistes, als Grundlage des gesammten Volkslebens, die uns hier im Todtenkult der Chinesen, dieser ewigen Kinder in der Geschichte, in kindischer Form begegnet, finden wir auch bei dem männlichsten Volk der alten Welt, bei den Römern, aber in würdigerer Gestalt wieder. B i e d e r m a n n , Vorträge und Aufsätze.

3

34

Das Jenseits der Naturvölker.

Die meisten Naturvölker dagegen versehen sich von den abgeschiedenen Seelen nichts Gutes, sondern fürchten sich vor ihnen und suchen sie daher zu versöhnen oder sonst unschädlich zu machen. Der Tod ist ein Unglück, für das die Seelen sich möglichst schadlos zu halten suchen, indem sie die Lebenden plagen, namentlich von ihnen zu erzwingen suchen, was sie nur ungern entbehren. Vor Allem verlangen sie nach Blut, dem warmen Elemente des Lebens. Werden sie nicht beschwichtigt oder durch Zauberkünste verhindert, so holen sie sich's selbst, indem sie — nach dem Glauben einiger S ü d s e e i n s u l a n e r — Nachtsin die Hütten der Lebenden einbrechen und ihnen das Herz aus dem Leibe fressen und das Blut aussaugen, ein Glaube, der sich bekanntlich auch in der Vorstellung von den Vampyren, namentlich bei den Serben, wiederholt. Die Zauberei der s i b i r i s c h e n Schamanen geht hauptsächlich darauf, den bösen Einfluss der abgeschiedenen Seelen, die als Gespenster durch die Lüfte und über die Schneefelder ziehen, zu brechen und vor Allem ihnen das Wiederkommen abzuschneiden. Man hütet sich den Namen des Todten zu nennen, springt nach der Bestattung der Leiche über Feuer, kriecht unter Stangen durch, streut Asche über den Weg, macht Kreuz- und Quersprünge, um die Seele des Todten theils abzuschrccken, theils von ihrer Fährte abzubringen. Die T s c h e r e m i s s e n umzäunen ihre Gräber mit hohem Pfahlwerk, damit die Seelen nicht durchbrechen und ihre Felder zertreten. — Der Todtenkult, der beim Glauben an ein eigenes Todtenreich zunächst den Gottheiten desselben gilt und ihnen die Seelen empfiehlt, hat bei der Vorstellung vom Verweilen der Seelen im Lande der Lebenden den Zweck, die begehrlichen Seelen selbst zu befriedigen, namentlich ihr Verlangen nach Blut durch Opfer, nicht selten durch Menschenopfer zu stillen. Besonders grausam sind die Todtenopfer der C o n g o s in Afrika, deren Zauberer, Singhilli, wenn ihnen die Seele eines Häuptlings blutheischend erschienen ist, in der Versammlung des Volks unter betäubendem Jubel das gräulichste Blutbad anrichten, indem sie links und rechts Bäuche aufschlitzen. Wenn dagegen den Kaziken in Louisiana Scliaaren von Sklaven, wenn in vielen Stämmen der Inder und Indianer, der alten Ger-

Das Jenseits der Naturvölker.

35

manen und Celten, den Fürsten Weiber, Sklaven und Pferde geschlachtet wurden, so sollte das nicht sowohl zur Versöhnung ihres Blutdurstes dienen, als vielmehr ein Liebesdienst sein, damit die Seelen im Jenseits ihr hiesiges Besitzthum gleich wieder antreffen. Darum wurden auch Kleider und Waffen mitverbrannt oder begraben. Einige dürftige oder sonst sparsame Völker liessen es bei Papierbildern bewenden, im Vertrauen, dass diese drüben wohl den gleichen Dienst thun würden. Ein Todtcnkult, der vom Verstorbenen selbst eine Gunst zu erwerben oder Ungunst abzuwenden den Zweck hat, findet natürlich nur unter der Voraussetzung statt, dass die Seelen sich in der Nähe, wenigstens Überhaupt noch in dieser Welt aufhalten. Er hört daher auf, oder gewinnt eine andere Bedeutung, wo die andere Vorstellung eintritt, dass die Seelen nach der Bestattung in ein eigenes Todtenreich, fern und abgetrennt vom Lande der Lebendigen, eingehen. Die Mitte zwischen beiden Vorstellungen, zwischen der von einem unsichtbaren, aber doch spürbaren gespenstischen Verweilen der Seelen in der Nähe der Lebenden, und der von einem jenseitigen Todtenreich, hält die Vorstellung von der S e e l e n w a n d e r u n g ; denn diese lässt die Seelen zwar ebenfalls aus ihrer bisherigen Umgebung heraustreten, versetzt sie aber nicht ganz aus dieser Welt hinaus, sondern führt sie nur in andere Gebiete und Formen derselben ein und gewöhnlich nach gewissen Perioden wieder »auf den ersten Ausgang zurück. — Noch ganz an die bisher uns vorgekommene Vorstellung schlicsst sich diejenige Form von Seelenwanderung an, zu welcher nach i n d i a n i s c h e m Glauben nur die Seelen der Kinder sich anschicken, die, weil sie das Leben noch nicht genossen, auch noch nicht gehörig erstarkt sind, um im Lande der Seelen ihre Nahrung zu suchen, weder in menschliche Leiber, nämlich noch ungeborner Kinder zurückkehren, die noch keine eigenen Seelen haben. — Schon eine weitere Reise unternehmen die N e g e r in Westindien, welche in ihrem Vaterlande, befreit von den weissen Drängern, wieder aufzustehen hoffen, eine Vorstellung, welche unter den Negersklaven den Selbstmord auf eine so gefährliche Weise begünstigte, dass sich 3*

36

Das Jenseits der Naturvölker.

ein Pflanzer genöthigt sah, durch Eingehen auf diese Idee sie zu neutralisiren. Als seine Sklaven, massenhaft zum Erhängen sich anschickten, legte er sich ebenfalls einen Strick um den Hals und erklärte, die Peitsche in der Hand, ihnen auf dem Fuss nachfolgen zu wollen, worauf dann jene die unnöthige Reise aufgaben. — Auf dem Uebergang zur Vorstellung von einem bleibenden Jenseits steht diejenige Form der Seelenwanderung, die von andern N e g e r Stämmen berichtet wird und mit der auch die der alten Celten verwandt ist, dass die, welche hier sterben, in einer andern Welt, auf der Kehrseite der Erde, geboren werden, und dann wieder umgekehrt, die drüben sterben hier weder zur Welt kommen. — Was wir aber im engern Sinne unter Seelenwanderung verstehen, die Vorstellung von einem periodischen Durchgang der Seele durch Thierkörper und Pflanzen, und selbst über unsere Erde, j a über unser Sonnensystem hinaus durch andere Sphären des Weltalls, — wie vielgestaltig sie auch vorkommen mag bei den verschiedensten Völkern und auf den verschiedensten Stufen der Bildung, von rohen Naturvölkern an, durch die Inder und Aegypter, bis hinauf zu Piaton und selbst christlichen Denkern der neuern Zeit, mag sie nun einfacher auftreten oder phantastischer ausgemalt sein, kleinere oder grössere Sphären der Welt umspannen, — sie bleibt ihrer innersten Bedeutung nach immer dieselbe, indem sie wesentlich auf der Ahnung der Idee beruht, dass alle Reiche der Natur nur Einen Stufengang der Schöpfung darstellen, den sie eben eine und dieselbe Seele durchwandern lässt, zugleich in engerer oder loserer Verbindung mit der sittlichen Idee der Vergeltung. Lassen wir damit sämmtliche Seelenwanderungslehren seitab; denn wollten wir die Seele auch nur auf Einer dieser Wanderungen begleiten, wir möchten heut schwerlieh mit einer Periode zu Ende und auf unsere Erde wieder zurückkommen. Nur dem Propheten Mahomed war es vergönnt, vom Engel Gabriel entrückt, alle sieben Himmel im Nu zu durchwandern. Wir treten daher nun gleich ins eigentliche J e n s e i t s ein, in das vom Schauplatz des irdischen Lebens getrennte Reich der abgeschiedenen Seelen. Dieses entspricht natürlich bei jedem

Das Jenseits der Naturvölker.

37

Volk genau der Vorstellung, die über die Seele selbst nach ihrer Trennung vom Leibe herrscht. Es sind dieser Vorstellungen bei den Naturvölkern wesentlich zwei. Entweder wird die Seele als ein ebenfalls körperliches, nur feineres, im Uebrigen aber dem leiblichen Menschen völlig gleichendes Wesen betrachtet: die Vorstellung, die uns bisher begegnet ist, und das ist die niedrigere. Oder das Bewusstsein herrscht vor, dass das menschliche Leben auf Erden eben selbst schon in der Einheit von Leib und Seele bestehe, dass also nach Abzug des Körpers die Seele nur als des Menschen wesenloses schattenhaftes Abbild übrig bleibe, und das ist die höhere Stufe. Auf dem Unterschied dieser beiden Vorstellungen beruht im Grunde schon die verschiedene Anschauung, hier von einem gespenstischen Verweilen der Seelen in dieser Welt, dort von ihrem Uebergang in ein wirkliches Jenseits. Dieser Unterschied 6etzt sich nun aber auch in dieses Jenseits fort und ruft auf der einen Seite die Anschauung eines dort e r n e u t e n s i n n l i c h e n L e b e n s hervor, ausgemalt mit den bunten Farben des gegenwärtigen Lebens, und auf der andern Seite die Vorstellung von einem grauen S c h a t t e n r e i c h e . Diese letztere Vorstellung ist auf dem gemeinsamen Standpunkt der Naturvölker die höhere, so wenig sie auch auf den ersten Blick als solche erscheinen mag. Lassen wir daher zuerst das niedrigere ganz sinnlich gedachte Jenseits an uns vorübergehen. Da verrathen sich denn des natürlichen Menschen Gedanken und Wünsche: was er in diesem Leben des Leibes als Mangel und Unglück, kurz als seine Endlichkeit empfindet, das lässt er in seinem Gemälde des Jenseits weg, und füllt dieses dafür aus mit dem schrankenlosen Genuss alles dessen, wonach sein Herz gelüstet. Auf die Ausmalung der einzelnen Züge wirken hier namentlich die klimatischen Verhältnisse ein. — Die Völker N o r d a s i e n s scheinen mit ihrem traurigen Klima so sehr verwachsen, dass selbst ihre Phantasie keine warmen Farben für ihr Jenseits finden kann. Auch wo sie sich über den blossen Gespensterglauben zur Vorstellung eines eigentlichen Todtenreiches erheben, bleibt ihnen dieses kalt und grau: ein sibirischer Himmel. Nur die K a m t s c h a d a l e n , die überhaupt in ihrem unwirthlichen

38

Das Jenseits der Naturvölker.

Lande eine humoristische Ader und fast südländische Sinnlichkeit besitzen, malen sich ihr Todtenreich unter der Erde freundlicher aus. Hier wohnt und regiert Hsetsh, der erste Mensch, und auch das kleinste Thier lebt in seinem Reiche fort. Wohl giebt es auch da harte Arbeit, aber doch ohne die Hauptplagcn des gegenwärtigen Lebens, ohne Hunger und Kosaken, und damit ist der Kamtschadale zufrieden. Er geht daher diesem Zustand wohlgcmuth und leichtsinnig entgegen, j a führt ihn sehr häufig noch durch Selbstmord schneller herbei. — Auch die G r ö n l ä n d e r sind durch ihr Klima nicht so abgestumpft, dass sie in ihr Jenseits unter dem Meere nicht alles zu verlegen wüssten, was ihnen hier Angenehmes versagt ist. Zwar steht der Seele eine beschwerliche Reise bevor: fünf Tage lang rutscht sie an rauhen Felsen liinab, wobei sie ganz wund wird, und bei schlechtem kaltem Wetter kann sie, bloss wie sie ist, vollends dabei zu Grunde gehen. Aber einmal am Ziel angelangt, trifft sie ewigen Sommer mit warmem Sonnenschein; da findet sie gutes Wasser, Fische, Seehunde und Vögel die Fülle und Rennthiere, die sich mühelos fangen lassen. — Auch die I n d i a n e r freuen sich im Jenseits vor Allem auf ergiebige Jagd und reichlichen Fischfang, auf ewigen Frühling ohne Arbeit und in Fülle des Genusses. Und die P a t a g o n i e r hoffen einfach in ewiger Trunkenheit selig zu sein. — Namentlich sind es diejenigen Völker des südlichen Asiens, die nicht unter der freilich immer sehr relativen Zucht der indischen Religion stehen, welche mit ungezügelter Phantasie das Jenseits in allen Farben der schrankenlosesten Sinnenlust ausmalen. Die freien Stämme der K y e n , in den Gebirgen zwischen Aracan und Awa, sehen daher den Tod für das glücklichste Ercigniss an, auf das sich der Mensch am besten vorbereite, wenn er, nebst Erfüllung der einfachsten Lebenspflichten, die Genüsse des Lebens möglichst erschöpfe, indem er sich dadurch für die grössern des Jenseits befähige und zeige, dass er sie zu schätzen wisse. Doch nicht bloss durch seine S c h r a n k e n l o s i g k e i t unterscheidet sich dieses Jenseits vom gegenwärtigen Leben, sondern es begegnen uns hin und wieder schon Züge, die, durchgeführt, auf zwei Zustände hinauslaufen, einen glückseligen und Unglück-

Das Jenseits der Naturvölker.

39

seligen: die ersten sinnlichen Ansätze von Himmel und Hölle. Aber noch wirkt dabei nicht, wenigstens nicht durchgreifend, die Idee einer sittlichen Vergeltung. Entweder tritt nur eine einfache Umkehr der gegenwärtigen Zustände ein, wie nach dem Glauben der K a m t s c h a d a l e n drüben wie recht und billig die Armen von H«tsh gute Pelze und Hunde bekommen, die Reichen aber schlechte. Oder dann verlegen andere Völker, im direkten Gegensatz gegen diese Ausgleichung, ihre Standes- und Kastenunterschiede noch schroffer auch ins Jenseits. So gelangen nach dem Glauben der S ü d s e e i n s u l a n e r nur die Häuptlinge in die Sonne, wo sie bei Weibern, Brodfrucht, Fischen und Schweinefleisch alle Genüsse in Fülle haben, während das gemeine Volk in Thiere verwandelt, von Vögeln verzehrt wird, oder sonst umkommt. Glaubten doch lange Zeit auch die Russen selbst den christlichen Himmel nur dem Czar und seinen Bojaren aufgehoben. — Unmerklich ist der Uebergang von dieser Kasteneintheilung zu der natürlichen, welche jener in Wirklichkeit j a auch zu Grunde liegt, dass nämlich die Seelen der T a p f e r n drüben das Beste vorwegnehmen, wie im altnordischen Glauben nur die in der Schlacht gefallenen Helden nach Walhalla kommen, wo sie den Tag hindurch an Kampf und des Nachts an fröhlichen Gelagen in Odins Göttersaal sich erfreuen, während die Andern nach Niflheim kommen, in das graue Schattcnland der Heia, die später vollends zur christlichen Hölle sich schwärzte. Auch die Grönländer lassen nur die Starken und Arbeitstüchtigen zum Vollgenuss der jenseitigen Seligkeit zu, nebst den im Meer Ertrunkenen und den über der Geburt gestorbenen Frauen, beides eben Todesarten in der Erfüllung des natürlichen Berufes, während die Andern zwar ebenfalls umgeben sind von den Seligkeiten; aber sie sind zu schwach und kraftlos, sie selbst zu gemessen: ihnen bleibt nur das Zusehen. — Hier haben wir also bereits die natürlichen Ansätze einer sittlichen Vergeltung; doch die Durchführung derselben würde uns über die Grenze der Naturvölker hinaus führen. Wir wenden uns daher nun zu der andern Vorstellung, die wir als die höhere bezeichnet haben, obschon sie als die trübere erscheint, zur Vorstellung vom Jenseits als einem blossen S c h a t t e n -

40

Das Jenseits der Naturvölker.

reiche. Da, wo der Geist sich noch nicht von seinem Naturleben innerlich unterscheidet, sondern dieses fttr ihn noch das Letzte und Höchste ist, da zeugt es von einem höhern, bereits nicht mehr bloss sinnlichen Selbstbewusstsein, wenn der Mensch nicht zwei solche sinnliche Leben annimmt, das gegenwärtige des Körpers und ein nachfolgendes der von ihm geschiedenen, aber ebenfalls körperlichen Seele, sondern wenn er anerkennt, dass das gegenwärtige in der Einheit von Seele und Leib das einzige Sinnenleben sei. Dann bleibt aber, wenn er nur das Sinnenleben als ein wirkliches kennt, die Seele nach der Trennung vom Leibe nur als ein schattenhaftes Abbild des wirklichen Menschen übrig, und das Reich dieser abgeschiedenen Seelen ist nichts als ein wesenloses graues Schattenreich. Warum aber dann — so möchte man fragen — überhaupt noch die Vorstellung, dass die Seele als Schatten fortexistirt, wenn es mit dem wirklichen Leben doch zu Ende ist? Die Antwort ist einfach: es liegt in der Natur des Geistes, dass er sich von seinem unmittelbaren Naturdasein unterscheiden muss, und da bleibt ihm auf der Stufe, an deren Schwelle wir gelangt sind, nur diese Unterscheidung übrig: er muss sie daher vollziehen und sich als existirend vorstellen, was doch für ihn keine Wirklichkeit hat. Dass aber diese Vorstellung von einem blossen Schattenreiche gegenüber der von einem sinnlich wirklichen Jenseits der Seele das Höhere ist und der Wahrheit näher liegt auf der Stufe der Naturvölker, dafür liegt ein geschichtliches Zeugniss in der Thatsache, dass uns diese Vorstellung am ausgeprägtesten bei demjenigen Volke entgegentritt, das uns den Typus des vollendeten sinnlich schönen Naturlebens darstellt: bei den Griechen in der Jugendperiode ihrer Geschichte, wie sie in den homerischen Gesängen in ewiger Schönheit sich abspiegelt.. Man sagt, Homer und Hesiod haben erst den Griechen ihre Götter gegeben. Allein der griechische Volksgeist hat eben selbst diese Dichter hervorgebracht und im Spiegel ihrer Schöpfungen sein eigenes Bild wieder erkannt und sich daran erfreut; und erst mit der weitern Entwicklung gestaltete sich auch der homerische Glaube allmälig um. Lassen Sie uns daher unsere Wanderung im griechischen

Das Jenseits der Naturvölker.

41

J e n s e i t s beschliessen, welches uns das Verhältniss auch des vollendeten menschlichen Naturlebens zum wahren ewigen Jenseits des Geistes über dem blossen Naturleben in klarster durchsichtigster Gestalt darstellt. Dass analoge Zttge in andern Religionen, namentlich in der vielfach verwandten nordischen vorkommen, kann ich nur zum Voraus im Allgemeinen erwähnen, da die Zeit nicht gestatten würde, im Einzelnen darauf einzugehen. Dem homerischen Griechen ist nur das sinnliche Leben ein wirkliches, nicht zwar ein Leben in roher Sinnlichkeit, sondern wie es zugleich der sittlichen Bestimmung des Menschen zum unmittelbaren Ausdruck dient, als ihre natürlich schöne Erscheinung, in voller Entfaltung gesundester Körperkraft, stark und naturtreu in aller rein menschlichen Empfindung, gezügelt und getragen nur von dem einfachen, aber oft tief zarten Gefühl natürlicher Sittlichkeit. Aber so sehr ist das Sinnliche der alleinige .Inhalt des Lebens, dass, wenn dem Körper das Leben entweicht, eben damit auch der Geist dahin ist. Derselbe Ausdruck dient zur Bezeichnung eines leiblichen Organs (des Zwerchfells) und zugleich auch des Geistes, und zwar nicht etwa wie auch wir das Wort Herz in diesem doppelten Sinn brauchen, aber mit bewusster Bildlichkeit des Ausdrucks im geistigen Sinn, sondern dort beruht im Leiblichen selbst das Geistige. Zwar wird immer noch vom Körper die Seele als das ihn überhaupt Belebende unterschieden; aber wenn sie im Tode den Leichnam verlässt, so ist mit dem Leben des Körpers- auch Geist und Besinnung erloschen, und die Seele entfliegt als wesenloser Schatten des ehemaligen wirklichen Menschen, einem Traumbild vergleichbar. Dem erdegeborenen und erdebewandelnden Menschen ist das Sterben beschieden, denn: Gleichwie Blätter im Walde, so sind die Geschlechter der Menschen: Blätter verwehet zur Erde der Wind jetzt; andere treibt dann Weiter der knospende Wald, wenn neu auflebet der Frühling: Also der Menschen Geschlecht, dies wächst und jenes entschwindet. (Ilias VI., 145 ff.)

Das geht dem Griechen aber noch nicht von selbst aus der sinnlichen Natur seines Lebens hervor, sondern Also bestimmten die Götter der elenden Sterblichen Schicksal.

42

Das Jenseits der Naturvölker.

Und sie selbst, die G ö t t e r , diesem Verhängniss entnommen, führen ein unsterbliches seliges Leben in sinnlicher Freude. Nur in dieser Beziehung sind einander entgegengesetzt „die unsterblichen Götter und die erdebewandelnden Menschen"; sonst aber sind die Götter, ob auch mehr oder weniger ihr Ursprung aus vergötterten Naturmächten zu Tage liegt, nichts Anderes als die griechischen Ideale des menschlichen sinnlich natürlichen Lebens. Sie gemessen Speise und Trank, Ambrosia freilich und Nektar; sie haben Blut, nicht sterbliches freilich, sondern klaren unsterblichen Ichor; sie erfreuen sich der Liebe; sie empfinden auch körperlichen Schmerz, nur raubt er ihnen nicht Jugend und Leben; vollends sind sie wie Menschen allem Wechsel der Seelenstimmungen unterworfen und allen Schmerzen der Leidenschaft. Ja selbst über ihnen schwebt das Geschick, dessen Vollstrecker für die Menschen sie sind, und das Gefühl der Endlichkeit bricht auch aus ihnen hervor, wenn schon nicht so bestimmt, wie in dem nordischen Mythus von der Götterdämmerung. Aber ein leiser Hauch der Wehmuth ist auch über die Bildwerke hingegossen, in welchen der Meissel mit vollendeter Kunst diese schönen klaren Gestalten als Ideale des menschlichen Naturlebens verewigt hat. Entsprechend der Anschauung vom Leben ist auch die vom S c h a u p l a t z des Lebens. Die Wohnung der Götter, dieser nur über die irdischen Schranken erhöhten Menschen, ist nicht in einem der Erde gegenüberstehenden Himmel, sondern auf Erden selbst der gen Himmel ragende Berg Olymp, und über ihnen, wie über den Menschen, breitet sich das eherne Himmelsgewölbe. — Wie oben der Himmel, so schliesst unten der T a r t a r o s die Welt, das Erdganze ab. Dieser ist so weit unter der Erde, als der Himmel über ihr. Dort wachsen die Wurzeln der Erde und in ihm sind die Titanen verschlossen, die personifizirten Mächte der rohen Urwelt. Die Erde selbst ist nach oben der Schauplatz des Lebens, der Wohnsitz der Menschen und der obern Götter; nach unten aber ist sie das dunkle Reich des Todes, wo H a d e s (Aides), der Unsichtbare, Unsichtbarmachende, der Bruder des Zeus, mit P e r s e p h o n e , der geraubten Tochter der Erdmutter Demeter, herrscht über die abgeschiedenen Seelen. Von dem

Das Jenseits der Naturvölker.

43

Gott ging der Name Hades auch auf sein Reich über, wie er denn überhaupt nicht menschlichen Inhalts voll wie die obern Götter, nur die personifizirte Unterwelt selbst ist. Er greift in das handelnde Leben der Menschen nicht ein; er holt sich auch die Todten nicht selber, wie etwa Freund Hain, sondern er nimmt sie nur auf als Hausherr in seine dunkle Behausung, wie die auch im Namen ihm ähnliche nordische H e i a , dio Hehlende. Mit dieser dunkeln Schattenwelt unten hat das handelnde und geniessende Leben oben nichts zu schaffen, als dass es ihm zuletzt anheimfällt, wenn das Verhängniss erfüllt ist. Oben auf der Erde, dem einzigen Schauplatz des Lebens, giebt es zwei Richtungen: von Morgen, von wo die Götter gekommen, geht Licht und Leben auf; gegen Abend aber, wo der Tag untergeht, am äussersten Westrand der Erde, da ist der Eingang zum Hades, wenn lebende Menschen ihn suchen. Später wurden auch an verschiedenen Orten in schauerlichen Höhlen passende Eingänge entdeckt. Die Seele dagegen, sobald sie, ergriffen vom Schicksal als grausem Todesverhängniss, den Gliedern entflohen ist, gelangt ohne weitern Umweg hinab zu der Schattenbehausung des Hades; denn diese beginnt gleich mit dem Dunkel unter der Erde. Doch natürlich erst wenn der Todte sein Grab hat, wird der Seele der Eingang gestattet. Im Hades nun wohnen die Seelen als Schatten, „Gebild' ausruhender Menschen." Sie sind blutlos, darum fehlt ihnen Lebenskraft und Besinnung. Nur die beiden Seher Amphiaraos und Tircsias haben ihren Schcrgeist auch im Hades behalten; die Andern sind „flatternde Schatten." Als Odysseus auf seinen Irrfahrten auch an den Eingang des Todtenreiches kam und, wie Circo ihn angewiesen, das Opfer schlachtcte, drängten die Schatten sich schaarenweise zum Blute herzu, so dass er sie mit dem Schwerte verscheuchen musste. Die er aber trinken liess, erhielten für den Moment Besinnung und Sprache wieder. So auch seine Mutter. Wie er aber, „durchbebt von inniger Sehnsucht," sie umarmen will, fliegt sie ihm Dreimal hinweg aus den Händen wie nichtiger Schatten und Traumbild (Odyssee XI., 205 ff.),

44

Das Jenseits der Naturvölker.

so dass er in Zweifel geräth, ob Persephoneia ihn nicht mit einem Trugbild getäuscht habe. Die Mutter selbst aber belehrt ihn: Gar nicht täuschet sie dich, die erhabene Persephoneia; Nein, so will's der Gebrauch der Sterblichen, wenn sie verblüht sind; Denn nicht mehr hält Fleisch und Gebein durch Sehnen verbunden, Sondern die grosso Gewalt der brennenden Flammen verzehrt dies Alles, sobald aus dem weissen Gebein das Leben hinwegfloh; Aber die Seele entfliegt wie luftiger Traum und entschwindet.

Das soll nun aber nicht etwa bloss ein Ausdruck sein für die Immaterialität der Seele, dass sie zwar unsichtbar sei für den grobsinnlichen Körper, für sich aber an ihrem neuen Wohnort ein höheres geistiges Leben führe. Sondern dies Dasein der Seele im Hades ist nichts als ein wesenloses schattenhaftes Abbild des einzig wirklichen Lebens auf Erden. Die Seele im Hades ist nichts als ein Schatten, als das in der Phantasie zurückgebliebene Residuum des Verstorbenen, in der Beschäftigung, die ihn im Leben charakterisirte und namentlich in der Seelenstimmung fixirt, in welcher der Tod ihn ereilte. Odysseus sieht den Agamemnon, der eines kläglichen Todes gestorben, kummervoll, und Ajax, seinen glücklichen Nebenbuhler, immer noch zürnend. Auch den Jäger Orion sieht er Schaaren Gewilds fortscheuchen hinab die Asphodeloswiese, Die er selber getödtet auf einsam bewanderten Berghöhn. Odyssee XI., 573.

Asphodelos wurde auf die Gräber gepflanzt, daher die Asphodeloswiese, die aus der Anschauung des Grabes erweiterte Unterwelt. Ferner sieht Odysseus den Minos Der mit goldenem Stab, Urtheil den Gestorbenen sprechend Da sass, Andere rings erforschten das Recht von dem Herrscher. Odyssee XI., 569.

Aber Minos ist hier nicht, wozu er später erst wurde, ein wirklicher Richter der Todten, der diesen ihr jenseitiges Schicksal zuwiese, sondern nur ein todter Richter, der schattenhaft sein irdisches Amt fortsetzt.

Das Jenseits der Naturvölker.

45

Als Odysseus die Seele Achills über seinen Tod trösten wollte, mit den Worten: (Odyssee XI., 483ff.) Dir Gleicht in der Vorzeit keiner an Seligkeit, noch in der Zukunft, Denn dich Lebenden einst verehrten wir, Söhne von Argos, Gleich den Göttern, und jetzo gebietest du mächtig den Seelen Wohnend allhier; drum lass dich den Tod nicht reuen, Achilleus!

da erhielt er die berühmte Antwort (v. 489 ff.): Rede mir nicht vom Tod ein Trostwort, edler Odjsseus! Lieber ja wollt' ich das Feld als Tagelöhner bestellen Einem dürftigen Mann ohn' Erb und eigenen Wohlstand, Als die sämmtliche Schaar der geschwundenen Todten beherrschen!

So wenig also ist dieser Zustand der Seelen im Hades ein wirkliches Leben von innerem Werth, so wenig eine irgendwie hoffnungsreiche Fortdauer der Persönlichkeit. Nur wer ganz elend ist und im Leben, beraubt aller Güter, die diesem Werth verliehen, nur Aussicht auf endlosen Schmerz hat, der kann sich den Tod wünschen, um im Hades wenigstens Ruhe zu finden. Denn allerdings der Güter grösstes ist das Leben nicht; es giebt auch für den Griechen noch andere Güter, geistige Besitzthümer, für die er das Leben willig dahingiebt und ohne die es ihm des Athmens nicht werth ist. Derselbe Achill, der im Tode den ärmsten Tagelöhner ums Leben beneidet, er hat doch einem thaten- und ruhmlosen glücklichen Alter ein kurzes Heldenleben vorgezogen, gekrönt von den Göttern mit unendlichem Nachruhm. Das ist auch das Höchste, was jenseits des eigenen Lebens liegend des Griechen Seele mit voller Lebensbefriedigung füllt. Er selbst aber bleibt dabei in die Grenzen des natürlichen Lebens gewiesen. Was ihm die Götter in diesem zutheilen von Glück oder Mühsal, damit — das weiss er — hat er sich zu bescheiden. Er geniesst darum die Lust des Lebens ganz und ungetheilt; aber auch das Unglück, körperlichen Schmerz und alles unendliche Weh der Seele im Wandel des Schicksals, kurz den Tod vor dem Tod empfindet er rein und naturtreu, wie ohne krankhafte Empfindsamkeit, so auch ohne stoischen Rückhalt und ohne lindernde Vertröstung, als nnabänderliches Schicksal der Sterblichen. Eine Ueberwindung des Todes kennt der Grieche nur als

46

Das Jenseits der Naturvölker.

Rückkehr aus dem Schattenreiche wieder zur Oberwelt. Eine Reihe von Mythen stellt unter dieser Gestalt den Sieg des Geistes über den Tod dar, als eine Macht, die selbst dem Hades seine Beute wieder entreisst. T h e s e u s und P e i r i t h o o s zwar hatten zu viel gewagt, als sie es unternahmen, die Perseplione selbst, die Königin des Hades, zu rauben. Sie wurden selber zurückbehalten, bis der stärkere Herakles kam und den Theseus wenigstens wieder befreite. — In A d m e t und A l c e s t e feiert die Liebe diesen Sieg über den Tod. Alceste rettet durch ihre eigene freiwillige Hingabe ihren dem Tod verfallenen Gatten, wird aber zum Lohn ihrer Treue von Herakles, dem Gastfreund Admets, aus dem Schattenreiche wieder zurückgebracht. — Auch dem O r p h e u s wäre es fast gelungen, durch die Macht der Liebe und der Musik seine Euridice wieder an den Tag des Lebens heraufzuführen, wenn er nicht zweifelnd und ungehorsam der Götterweisung auf halbem Wege sich umgesehen und so selbst das Werk vereitelt hätte, das zweifelloses ungetheiltes Vorwärtsstreben verlangte. Vor Allen ist es H e r a k l e s , der eigentliche Stammheld der Griechen, in welchem die Mythe diesen Sieg über den Tod anschaute. Und zwar drang Herakles nicht bloss zu wiederholten Malen in den Hades hinab und führte selbst den Gerberus, den dreiköpfigen Wächter des Todtenreiches, gefangen herauf; sondern durch seine Thaten, die er in unwürdigem Knechtesdienst, durch Götterungunst ihm auferlegt, vollbrachte, erkämpfte er sich geradezu unsterbliches Leben. Zwar seine Seele kam wie die aller Andern als Schatten in den Hades, er selbst aber in den Kreis der unsterblichen Götter (Odyssee XI., 602). Doch dieses höchste Ziel, ein seliges Götterleben, das die Mythe des Volks seinen Stammhelden wenigstens erreichen liess, es lag seitab von dem allgemeinen Loose der Sterblichen, ihnen unerreichbar, und am Ende war's doch immer, wie das Leben der Götter überhaupt, nur ein zweites, wenn auch schrankenloses, sinnliches Leben. Ans Ziel der Ahnung eines wahrhaft jenseitigen Lebens, nach dem die unveräusserliche Menschennatur auf allen Stufen hindrängt, führte von da, wo das griechische Bewusstsein einmal

47

Das Jenseits der Naturvölker.

stand, kein anderer W e g als durch den dunkeln Hades.

Und

diesen W e g betrat auch der Glaube des Volkes. Die Vorstellung vom Hades ist so lange noch religiös inhaltsleer und ein blosses, wenn auch notwendiges Phantasiespiel, als sich nicht damit die Idee der V e r g e l t u n g verknüpft.

Denn da

erst ist das Jenseits nicht ein blosser Schatten des Diesseits, sondern

erhält

an

den Gesetzen des

sittlichen

Lebens

einen

geistigen Gehalt, der im Verlauf des natürlichen Lebens nicht beschlossen, durch alle Lust des Daseins nicht aufgewogen, aber auch mit seinem Schmerz und seinem Ende nicht ^abgethan ist. Zur Umwandlung der ursprünglichen Vorstellung von einer blossen Schattenfortsetzung des gegenwärtigen Lebens in die von einer wirklichen Vergeltung desselben bot schon der Todtenkultus einen Anhalt und der lebendige Antheil, mit dem in demselben das Gemüth den Todten über das Grab hinaus begleitet.

Dann aber

liegt es in der Natur der Phantasie selbst, dass sie an den einmal gezogenen Fäden fortspinnt, bis ihr unvermerkt eine Vorstellung in die andere umschlägt.

Malte sie auch ursprünglich den Zustand

der Tödten nur als Schattenleben mit den abgeblassten Farben des wirklichen Lebens aus: so war doch schon darin, wenn auch nur grau in grau, gleichsam nur in den ausgefüllten Umrissen, eine Verschiedenheit der dortigen Zustände gegeben; denn Glück und Unglück, Lohn und Strafe, wie sie hier den Menschen getroffen, versetzte sie auch hinüber als schattenhafte Fortsetzung des gegenwärtigen Lebens.

Nur einen Schritt weiter — und sie

machte diesen Zustand selbst zu der nun erst wirklich eintretenden Vergeltung, und der Hades, ursprünglich unterschiedlos grau, schied sich in die lichten Räume der Seligen und in das schwarze Gelass der Verdammten.

Die Anfänge dieser Unterscheidung ragen schon

in die ursprüngliche Anschauung zurück. Schon Homer kennt für besondere Lieblinge des Zeus einen andern Ort als den Hades, die E l y s e i s c h e n Gefilde, aber nicht in der Unterwelt, sondern auf der Oberwelt, fern im äussersten Westen am Rande des Weltalls. der S e l i g e n . *) Madeira.

Hesiod nennt sie die I n s e l n

Fast ist's als hätte er im Geist jenes Eiland*)

48

Das Jenseits der Naturvölker.

geschaut, das vor acht Tagen vor unsern Blicken aus dem atlantischen Ocean aufstieg. Diese elyseische Flur wurde allmälig in die Unterwelt hinab verlegt als Ort der lohnenden Vergeltung für Alle. Und ebenso rückte auf der andern Seite der T a r t a r o s , früher nur das Strafgefangniss der Titanen, weiter hinauf und wurde dem Elysium gegenüber zum allgemeinen Ort der strafenden Vergeltung. Auch hierfür findet sich bei Homer schon der Ansatz, indem Odysseus bereits drei Hauptverbrecher, die direkt gegen die Götter gefrevelt, den Tityos, der die Leda, Zeus Geliebte, entehrt, den Tantalos, der das Vertrauen der Götter missbraucht, und den Erzbetrüger Sisyphos, der selbst den Hades betrogen, mit ewig sich erneuernden Qualen gestraft sieht. In dieser Gestalt war später die Vorstellung vom Hades allgemeiner Volksglaube. Man gab den Todten einen Obolus in den Mund mit auf den Weg, um von Charon die Ueberfahrt über den Acheron sich zu erkaufen und den Eingang ins Todtenreich zu gewinnen. Hier erwartet die Seele das Gericht der drei Todtenrichtcr, des Minos, der nun aus dem Schattenbilde eines todten Oberrichters ein wirklich funktionirender Richter der Unterwelt geworden ist, und seiner beiden Kollegen, des Aeakos und Rhadamanthys. Rechts gehen die Guten ins Elysium, nachdem sie aus Lethe, dem Strom der Vergessenheit, getrunken, der ihnen „den Krampf des Lebens aus dem Busen spült." Die Bösen kommen links in den Tartaros, wo sie unter die strafende Hand der Erinnyen fallen, der grauenvollen Töchter der Urnacht. Nun kann der Dichter (Aeschylos) singen: Dort richtet über alle Schuld Ein andrer Zeus der Todten einst ein jüngst Gericht, Hades, der grosse Prüfer der Sterblichen, Unter der Erde tief. Er schaut, aufschreibend In seines Geistes Buche, Allen zu.

Diese Umbildung der ursprünglichen Anschauung hing mit dem Aufblühen der Mysterien, dem in geheimnissvollen Sinnbildern gefeierten Kultus der Erdmutter Demeter und ihrer Tochter, der vom Hades geraubten Persephone, aufs engste zusammen. Die Entstehung dieser Mysterien reicht zwar schon in die frühesten

Das Jenseits der Naturvölker.

49

Zeiten zurück; denn diese Gottheiten der segenspendenden Erde, die Erdmutter und deren Kind, die bunte Pflanzenwelt, die zwar auch dem Tode verfällt, aber nur um alljährlich in verjüngtem Schmucke zu neuem Leben hervorzugehen, sie hatten schon von Alters her wie im Ackerbau ihren Dienst, so auch ihre gottesdienstliche Verehrung. Aber erst als der Glaube an die olympischen Götter in seinen Grundfesten erschüttert war, indem der Mensch am blossen Anschauen des seligen Lebens in den Göttern ohne eigenen Besitz desselben kein Genüge mehr fand, sondern selbst persönlichen Anspruch darauf erhob: da ward auch die Lehre vom Sterben und Wiederaufleben der Natur als Sinnbild eigener Unsterblichkeit ergriffen und in dem Mysteriendienst dieser Erdgottheiten nicht als Geheimlehre, sondern nur in geheimnissvollen sinnbildlichen Weihen vom griechischen Volke gefeiert, und Tausende fanden darin einen Trost, den die homerischen Götter ihnen nicht mehr boten. An die in den Mysterien gegebene Anschauung eines periodischen Wechsels im Naturleben knüpften dann priesterliche Philosophen komplizirtere Lehren von Wanderungen der Seele an, bis Piaton endlich im gottverwandten Wesen der Seele ihre ewige Bestimmung und Heimath erkannte. Damit haben wir nun aber entschieden den Boden der Naturvölker verlassen. Piaton war schlecht auf die alten Dichter zu sprechen, welche das Volk nur sinnliche Vorstellungen von Gott und göttlichen Dingen gelehrt. Gleichwohl sagt er in Beziehung auf die durch die Dichter verbreiteten Vorstellungen vom Jenseits, der Verständige wisse zwar wohl, dass das Alles sich nicht buchstäblich also verhalte; aber ebenso wenig zieme es dem philosophischen Manne, zu meinen, es seien bloss sinnlose Mährchen; und er selbst weiss die alten Mythen seines Volkes aufs sinnvollste zu deuten. Uns aber ziemte es wenig, hierin hinter dem alten Weisen zurückzubleiben. Wir wollen daher unsere Wanderung nicht beschliessen, ohne zu fragen: wo sind nun die Wahrheiten, welche die Naturvölker auf unserer Wanderung durch ihr Jenseits uns lehrten? Wir fassen sie in wenige Worte zusammen. Die erste ist: dass der Mensch, der nur von der Sinnenwelt B i e d e r m a n n , Vortrüge und Aufsätze.

4

50

Das Jenseits der Naturvölker.

weiss und dem das Naturlcben das höchste und einzige ist, ein Jenseits dahinter zwar suchen muss, aber in dieses Jenseits doch wieder nur seine Sinnenwelt verlegt und zwar nach seines Herzens Gelüsten ins schrankenlose erweitert. Die a n d e r e ist: dass es in Wahrheit nur Ein Naturleben giebt für den Menschen, und dass darum alle demselben entlehnten Vorstellungen vom Jenseits nur dessen Schatten sind und ein Traumbild. Aber die d r i t t e Wahrheit endlich lehren uns die Naturvölker nicht selbst, oder doch nur so, dass wir sehen, wie sie dieselbe suchen müssen und noch nicht finden können; wir aber wissen sie aus der Offenbarung Gottes im Geiste: dass wir vor Allem zuerst die Bestimmung unsers Geistes jenseits des Naturlebens Uberhaupt, in Gott, dem ewigen Urquell und Endziel alles Lebens, des geistigen wie des natürlichen, müssen gefunden haben, um dort auch die geahnte und in allen Vorstellungen vom Jenseits gesuchte Freiheit von den Schranken des endlichen Daseins, die ewige Heiinath und seliges Leben in Wahrheit zu finden.

III. Der religiöse Roman. Vortrag, gehalten auf dem Rathhause zu Zürich.

Das Jugendalter der Kulturvölker schuf das E p o s ; die moderne Zeit hat an dessen Stelle den Roman. Den Stoff des Epos bilden die Thaten einer in mythisches Dunkel zurückreichenden Vorzeit, „Wie Jahre lang durch Länder und Geschlechter Der Mund der Dichter sie vermehrend wälzt."

Ihre Träger sind Volksherocn — gleichviel, ob ursprünglich geschichtliche Persönlichkeiten oder nicht —, wie die Sänger, als Mund des Volksgeistes, sie zu vorbildlicher Gestalt ausgeprägt haben und in denen darum das Volk nun sein eigenes Wesen verkörpert anschaut und feiert. Deswegen bewegt sich das Epos auch nicht einfach auf dem Boden der natürlichen Wirklichkeit, sondern auf einem durch die Phantasie geschaffenen Gegenbilde derselben, wo mythische Mächte und natürliche durch einander spielen. Der m o d e r n e Geist dagegen hat sich mit seinem ganzen Leben auf den Boden der von ihm zu seinem Grundeigenthum errungenen natürlichen Wirklichkeit gestellt, und so bewegt sieh auch diejenige epische Dichtung, die ihm eigenthümlich zukommt und nicht blosse Nachbildung ist, auf diesem Boden. Der Roman nimmt seinen Stoff aus der Wirklichkeit: den g e i s t i g e n aus dem Seelenleben des Menschen, und den s i n n l i c h e n , in welchem er 4*

52

Der religiöse Roman.

jenen zur Darstellung bringt, aus dem natürlichen Weltgang. Nur die b e s o n d e r e F o r m , wie er seine Idee in einer menschlichen Geschichte uns vorführt, ist freie Schöpfung der Phantasie, Erfindung des Dichters; wir nennen sie daher die F a b e l des Romans. Aber auch von dieser verlangen wir vorab psychologische Wahrheit. Das Gebiet des menschlichen Seelenlebens und sein natürlicher Schauplatz, die wirkliche Welt, ist auch so unendlich reich und weit, dass es nicht etwa von höherer Schöpferkraft zeugt, der diese Welt zu klein wäre, sondern im Gegentheil nur von Unvermögen, das, was sie wirklich bietet, auch dichterisch zu bemeistern, wenn der Romandichter diesen Boden der wirklichen Welt verlässt und für die Erzeugnisse seiner Phantasie willkürlich eine andere schafft. Von diesem allgemeinen Gesichtspunkte aus möchte ich Ihnen in dieser Stunde ein spezielles Gebiet des Romans vorführen, das mit meiner Wissenschaft in näherer Beziehung steht: den relig i ö s e n Roman. Doch nicht in literar-historischer Hinsicht, sondern in theologisch-ästhetischer; denn Sie würden mir wohl ebenso wenig zumuthen, als ich selbst es mir zutrauen könnte, Ihnen auch nur einigermaassen erschöpfend eine Geschichte des religiösen Romans zu geben. Wollte ich Ihnen aber nur so im Flug eine Menge von Romantiteln vorüberführen, so wüssten Sie mir wohl wenig Dank dafür. Sie werden mir vielmehr gern gestatten, aus dem reichen Gebiete nur einige Erscheinungen herauszugreifen, um an denselben die Bedeutung und Aufgabe des religiösen Romans nach verschiedenen Seiten zu betrachten. Ob Sic nun freilich — je nach Ihrer verschiedenen Bekanntschaft mit der religiösen Romanlitteratur — gerade mit meiner Auswahl zufrieden sein werden oder finden, hier hätte ich besser diesen und dort einen andern Roman als Beispiel gebraucht, das muss ich gewärtigen. Und da ich unmöglich hoffen darf, es da mit Allem Allen zu treffen, so will ich — und mögen auch Sie — zufrieden sein, wenn es mir gelingt, an Beispielen, die Sie wenigstens nicht ungeschickt gewählt finden, einige Hauptpunkte zu beleuchten, theologisch hinsichtlich des Stoffes, ästhetisch hinsichtlich der Form.

Der religiöse Roman.

53

Der religiöse Roman entnimmt seinen Inhalt dem Gebiete der Religion; aber der Religion nach der Seite, wie sie dem menschlichen Geistesleben angehört, m e n s c h l i c h e s G l a u b e n und Glaubensleben ist; nicht nach der Seite, wie sie ein G e g l a u b t e s ist, dem Menschen und seiner eigenen Welt gegenüber. Dem Romandichter steht nur das Gebiet des menschlichen Lebens zu freier dichterischer Verfügung; aus diesem allein darf er Gestalten schaffen, in denen er religiöse Ideen menschlich wahr darstellt. Und ebenso muss der Leser dem Roman gegenüber stets das Bewusstsein behalten können, dass er es hier mit dem freien Produkt bewussten künstlerischen Schaffens zu thun habe und nicht etwa mit göttlicher Offenbarung an die Menschheit, sei's nun mit wirklicher oder nur mit vorgeblicher. Damit ist vorab alle Mythologie vom Gebiete des religiösen Romans ausgeschieden. Wer freilich von beiden keinen anderen Begriff hat, als den, beides seien eben Geschichten, die sich nicht wirklich zugetragen, der wird sie höchstens so unterscheiden, dass jene übernatürliche Wesen, dieser aber nur Menschen handelnd einführe. — Allein auch solche Erzählungen müssen wir mit Bestimmtheit vom Gebiete des religiösen Romans ausscheiden, in welchen ein gläubiges Bewusstsein die menschliche Offenbarungsgeschichte seines Glaubens darstellt, in welchem Grad auch die Phantasie dabei mitthätig gewesen sein mag; also mit Einem Wort: alle Urkunden einer geschichtlichen Religion. — Ja, auch bewusste Schöpfungen der religiösen Reflexion, die aber Erzeugnisse eines noch im Fluss befindlichen religionsgeschichtlichen Prozesses sind, dürfen wir nicht dazu rechnen: es fehlt ihnen ein wesentliches Merkmal des Romans, die freie Kunstschöpfung, welche nicht Glauben an die äussere Geschichtlichkeit, sondern nur an die innere Wahrheit des Erzählten beansprucht. — Es giebt allerdings Geschichtserzählungen, über die wir zweifelhaft sein können, wie sie benennen, weil sie in der That auf der Grenze stehen: einerseits sind sie offenbar selbstgemachte Kompositionen; anderseits doch noch so sehr unmittelbares Produkt eines religionsgeschichtlichen Prozesses, dass der Verfasser seiner eigenen Schöpfung nicht frei gegenüber steht, sondern doch wieder

54

Der religiöse Roman.

selbst im Glauben an ihre Geschichtlichkeit lebt, den er jedenfalls von seinen Lesern verlangt. Dahin möchte ich zum Beispiel aus der urchristlichen Litteratur die sogenannten C l e m e n t i n i s c h e n H o m i l i e n rechnen, eine judenchristliche Geschichte aus dem zweiten Jahrhundert, welche erzählt, wie der Apostel Petrus dem Zauberer Simon, dem Urketzer, mit dem aber dort der Apostel Paulus gemeint ist, von Land zu Land nachgereist sei und ihn bekämpft habe. Wenn moderne Versuche, auf dem Weg der historischen Kritik aus den evangelischen Ueberlieferungen ein geschichtliches L e b e n s b i l d J e s u zu gewinnen, im Resultat auch oft nur wie ein Roman herauskommen, so dürfen wir sie doch ihren Verfassern nicht als Roman anrechnen. So macht uns — von Andern zu schweigen — das „Leben Jesu" von R e n a n entschieden fast durchweg den Eindruck eines religiösen Romans. Allein es ist des Verfassers aufrichtige Ueberzeugung, dass er nicht ein Erzeugniss dichtender Phantasie, sondern geschichtliche Forschung biete, und dass auch da, wo seine Phantasie mit Bewusstsein ergänzt hat, dies nur in der Weise historischer Kombination geschehen sei, ohne welche auch die strengste Geschichtsschreibung nicht auskommt. Anders freilich müssen wir urtheilen über Schriften, die mit dreister Stirn ihre eigenen Erdichtungen als Enthüllung des wahren Hergangs der Geschichte Jesu aus neu entdeckten alten Quellen ausgeben, wie jene Reihe von Broschüren, die in den vierziger Jahren unter dem Titel „Jesus des E s s ä e r etc." eine Zeit lang das Publikum beschäftigt und zum Besten gehabt haben. Auch dergleichen werden wir nicht zur Kunstgattung des religiösen Romans zählen, sondern einfach als litterarischen Betrug bezeichnen und zwar von der sträflichsten Sorte. Eine nahe liegende Gedankenverbindung jedoch führt uns von da über zu einem wirklichen Genre des religiösen Romans: zum h i s t o r i s c h e n . Viele mögen aber den h i s t o r i s c h e n Roman überhaupt nicht, als eine schillernde Mischung von geschichtlicher Wahrheit und Dichtung. Gleichwohl ist er eine berechtigte Kunstgattung, sobald

Der religiöse Roman.

55

er sich nur an gewisse Gesetze hält. Er will uns den Geist einer bestimmten Zeit mit poetischer Anschaulichkeit vorführen. Da muss nun aber seine Fabel von vornherein den Stempel freier Dichtung tragen, damit uns nicht jeden Augenblick die Frage störend in die Quere kommt, ob das auch geschichtlich wahr sei. Es ist darum ein Hauptgesetz für den historischen Roman, dass die weltgeschichtlichen Persönlichkeiten einer Zeit, wenn sie auch im Roman auftreten, doch nicht die Träger seiner Fabel sein sollen. Wer es verdient hätte, der Held eines Epos zu werden, der hat eben dadurch sich auch billig das Recht erworben, sich die Verwendung zum Romanliclden zu verbitten. Wenn aber innerhalb des Rahmens der wirklichen Geschichte die frei erfundene Fabel des Romans uns das innere und äussere Wesen einer Zeit treu wieder giebt, so wird gegen diese Mischung von Geschichte und Dichtung Niemand Etwas einwenden können, als etwa die Urprosa, die aller Poesie gegenüber nur die Eine Frage hat: Ja ist das Alles auch wirklich passirt? Es hat aber mit dem historischen Roman noch einen andern Haken, an den der strenge Gescliichtssinn seine Bedenken gegen ihn anhängen kann. Er will mit seiner Erzählung aus einer vergangenen Zeit doch noch etwas Anderes, als bloss ein geschichtliches Bild von derselben geben; er will als eine Kunstschöpfung aus der Gegenwart mit seinem Bild aus der Vergangenheit dem Leser zugleich eine Idee, die in ihm selbst die formbestimmende Seele ist, zur gegenwärtigen Anschauung einprägen. In diesem Sinn ist der historische Roman immer bis auf einen gewissen Grad tendenziös, mehr als die Geschichtsschreibung es sein darf. Das soll nun nicht von vornherein ein Vorwurf sein; es kann aber leicht einer daraus werden. Es kann nämlich etwas in einer bestimmten Vergangenheit ganz am Platze gewesen sein als der zeitgemässeste Ausdruck eines menschlichen Verhältnisses oder einer allgemeinen Wahrheit, ist es aber in dieser Form jetzt nicht mehr, sondern im Fortschritt der menschlichen Entwicklung überholt, ausgelebt und darum abgestreift. Nun lebt aber der Dichter vielleicht mit ganzer Seele gerade in jener Vergangenheit und möchte uns für eine nur ihr angehörige Idee dadurch gewinnen,

56

Der religiöse Roman.

dass er sie uns in einem Bild aus jener Zeit, in die hinein sie allerdings ganz passt, so vorführt, dass wir den Unterschied der Zeiten vergessen sollen. Durch dies natürliche Fehlen der historischen Perspektive, bei der unmittelbaren Versetzung in eine andere Zeit, kommt in die Tendenz des historischen Romans leicht etwas Schiefes. Und ganz besonders ist nun der religiöse Roman dieser Gefahr ausgesetzt; denn auf keinem andern Gebiete des menschlichen Lebens ist — aus ganz natürlichen Gründen — die Neigung so gross, wie auf dem religiösen, das Alte gleich schon für das Ewige, das einmal Beste für das allein Wahre zu nehmen. Und doch entwickelt sich j a auch das religiöse Bewusstsein mit dem Gesammtgeistesleben der Menschheit; es können daher Anschauungs- und Lebensformen, die auf allen übrigen Gebieten des menschlichen Geistes ausgelebt und abgethan sind, nicht einzig noch auf dem religiösen Gebiet als ein für alle Mal gültig festgehalten werden, wenn anders die Religion, welche doch in Wahrheit die lebendige Beziehung des Menschen aus der jeweiligen wechselnden Gegenwart heraus auf das Ewige und Unbedingte ist, nicht durch eine verhängnissvolle Verwechslung selber stille stehen, allmälig zurückbleiben und so zur Antiquität werden, ja schliesslich zum Petrefakt versteinern soll. Gewiss, wo immer auch alte, uns entfremdete Formen religiösen Lebens uns nur mit innerer Wahrheit auf ihrem naturwüchsigen Boden entgegentreten, da erfreuen sie uns: der ewig gleiche Wahrheitskern klingt durch alle Verschiedenheiten der Zeit in unserem eigenen Innern an. Aber nun hat es der Romandichter vielleicht gerade darauf abgesehen, mit solchen Bildern aus der Vergangenheit uns unvermerkt wieder für das Vergangene selbst zu gewinnen. Das Zweideutige in dieser Tendenz tritt vollends unzweideutig hervor, wenn nicht einmal die Geschichte selbst treu dargestellt, sondern bereits tendenziös gefärbt ist, so dass sie also im Roman nur die Maske leihen muss, um eine ungesunde Tendenz der Gegenwart mit der ehrwürdigen Firma des Alterthums zu decken. Eine ganze Menge von geschichtlichen Erzählungen, welche die Mitte zwischen Geschichte und Roman halten, führen uns

Der religiöse Roman.

57

grosse religiöse Charaktere aus der kirchengeschichtlichen Vergangenheit, namentlich aus der Reformationszeit, zur Erbauung vor. Wir können uns ihrer um so ungetheilter erfreuen, je unbefangener, naiver sie sich geben, je einfacher ihre Tendenz wirklich erbaulich, je treuer ihre geschichtliche Wahrheit ist. Ich nenne hier nur zwei der neuesten Erzählungen der Art: „Heinrich Einsiedel und seine B r ü d e r " und „die Familie Schönberg-Cotta", aus der Zeit und Umgebung Luthers, obgleich die Tendenz hier schon nicht mehr so ganz naiv ist. Schlimmer tendenziös sind aber Romane, wie die des Englischen Vorkämpfers für die katholische Kirche, des Kardinals Wiseman, der z. B. in seiner „Fabiola" (6. Auflage, 1862) den ganzen spätem Katholizismus in's Urchristenthum zurückverlegt und so mit dem Glorienschein jener Märtyrerzeit verherrlicht. — Eine Antwort darauf war die „Hypatia" von Kingsley, die farbenwarme Schilderung jener edlen Philosophin, die als Märtyrerin des Heidenthums dem Fanatismus des christlichen Mönchspöbels von Alexandrien zum Opfer fiel. Die in historisch-religiösen Romanen naturgemässeste Tendenz ist die konfessionelle; denn d a s ist die Form, in welche sich die religiösen Gegensätze der Vergangenheit geschichtlich fixirt haben. Wenn dann nur nicht der konfessionelle Streit alter Zeit zur Folie dienen muss für eine unveränderte Wiederaufwärmung konfessionellen Gezänks in der Gegenwart. Unter allen konfessionellen, ja überhaupt unter allen historisch-religiösen Romanen möchte ich in vielfacher Beziehung den ersten Preis den französischen von Felix Bungener in Genf zuerkennen. Sie sind Muster von Treue des historischen Geistes im grossen Styl, von psychologischer Feinheit und religiöser Tiefe, bei aller eigenen konfessionellen Entschiedenheit von geschichtlich weitem, freiem, unparteiischem Urtheil und zugleich, in ästhetischer Beziehung, von lebendiger, unmittelbar dem Leben abgelauschter, französisch eleganter Darstellung. Verweilen wir einen Augenblick bei dem vorzüglichsten von Bungeners Romanen, bei den „trois sermons sous Louis XV" (2 Bde. 1849). Der Roman spielt 1760—1762. Alle geistigen Mächte jener

58

Der religiöse Roman.

Zeit, aus deren innerer Fäulniss sich bereits überall spürbar der Gährungsstoff für die Revolution entwickelte, treten uns in geschichtlichen Hauptrepräsentanten vor Augen. Vorab der P r o t e s t a n t i s m u s au désert. Eine Million Protestanten durch ganz Frankreich, besonders im Süden, ein Kern glaubensernsten, sittenstrengen, arbeitsamen Bürgerthums in dieser Zeit allgemeiner sittlicher Verderbniss, stand seit der Aufhebung des Edikts von Nantes und seitdem der bigotte Absolutismus des grossen Ludwig sogar ihre Existenz für erloschen erklärt hatte, noch immer, obgleich die Heftigkeit der Verfolgung nachgelassen, ausserhalb des Gesetzes, jeden Augenblick recht- und schutzlos der Willkür und dem Fanatismus preisgegeben. Auf ihre verbotenen Gottesdienste, die sie darum in abgelegener Wildniss hielten, stand immer noch für die Pfarrer der Galgen, für die Männer die Galeere und für die Frauen ewige Haft. Die Sache dieser Protestanten au désert führt Bungener selbst in der Person P a u l R a b a u t ' s , des geistvollsten, heldenmüthigsten, verehrtesten ihrer Pfarrer; eine Gestalt von Calvins Metall, bei aller apostolischen Schlichtheit von der ganzen Feinheit französischen Geistes, dem die stete Lebensgefahr unwillkürlich zugleich einen Anstrich des Abenteuerlichen und Romanhaften giebt. Was in der k a t h o l i s c h e n Kirche noch von wahrhaft christlichem Wesen lebte, wenn auch in die Vorurtheile der Kirche befangen, das repräsentirt die zweite Hauptperson des Romans, der ehrwürdige Père B r i d a i n e , ein um seiner lautern Frömmigkeit und um seiner originellen Beredtsamkeit willen in ganz Frankreich populärer schlichter Missionsprediger. Ihm gegenüber stellt sich das Bild des verdorbensten unter den verdorbenen Ständen jener Zeit, des verweltlichten Klerus, in dem jungen A b b é de N a r n i e r s , einem Günstling der Pompadour, dar. Selbst sein Bruder, der M a r q u i s , sonst ein wilder Roué, hat als Offizier doch wenigstens noch so viel natürliches Ehrgefühl, um von der heuchlerischen Herzlosigkeit, deren nur ein ausgehöhlter Priester fähig ist, am Ende angeekelt zu werden. Ganz besonders tritt der J e s u i t i s m u s , um dessen Sturz in Frankreich es sich gerade damals handelte, in Scene, von Allen

Der religiöse Roman.

59

geliasst, von Allen gefürchtet, und im Geheimen mit Allen wider Alle sich verbindend; der Jesuitismus, der oben am Hof intriguirt, in D c s m a r e t s , dem Beichtvater des Königs, und der Jesuitismus, der unten im Volk den Fanatismus gegen die Protestanten schürt, in dem blutdürstigen Père C h a r n a y . Ferner der J a n s e n i s m u s , in welchem die Opposition des religiösen Ernstes innerhalb der katholischen Kirche und — wie Bungener sagt — „der anständige Unglaube", noch mehr aber die politische Parlamentsopposition gegen den Absolutismus sich zusammengefunden. Mit besonderer Feinheit der Zeichnung und des Urtheils aber wird uns die eigentliche geistige Grossmacht der Zeit, die ungläubige, freigeistige P h i l o s o p h i e in den Männern der Encyclopädie vorgeführt, so in d ' A l e m b e r t , H e l v e t i u s und D i d e r o t . Und endlich der H o f : der physisch und moralisch abgestumpfte L u d w i g XV.; die P o m p a d o u r , deren alternde Reize eben ihre Allmacht über den König zu verlieren drohen; der erste Edelmann Frankreichs, der H e r z o g von R i c h e l i e u , der Lustgenosse des Königs, der die immer lästiger werdende Rolle hat, dem blasirten König seine tödtliche Langeweile mit Grazie zu vertreiben; der Staatsminister Choiseul endlich, der das allenthalben leck werdende grosse StaatsschifF durch kleine Intriguen leidlich weiter zu bugsiren bemüht ist. Alle religiösen, moralischen und sozialen Streitfragen jener Zeit kommen zur Sprache, wie es jeweilen die Situation natürlich mit sich bringt; Alles mit französischer Präzision und Klarheit, gleich fern von gelehrter Pedanterie, wie von phrasenhafter Verschwommenheit, die vielmehr als ein durchgehender Grundzug jener Zeit fein ironisirt wird. Ohne Rückhalt führt Bungener die Sache des streng bibelgläubigen Protestantismus als seine eigene; aus Rabaut spricht zugleich er selbst. Gleichwohl zeigt er dabei eine solche Weite des historischen Blickes, eine solche Gerechtigkeit des Urtheils auch den Encyclopädisten, selbst den Jesuiten und der Pompadour gegenüber, wie ich es in deutschen und vollends in englischen Romanen von demselben positiv gläubigen Standpunkt noch nirgends angetroffen habe. Wir haben beim

60

Der religiöse Roman.

Lesen nicht nöthig, uns mit dem Verfasser erst über seinen eigenen Standpunkt auseinanderzusetzen-, es ist klar zwischen ihm und uns: im Roman vertritt er ihn mit vollem geschichtlichem Recht; selbst in seinem Urtheil über die Philosophen jener Zeit können wir ihm fast überall folgen*). Das Gewebe des Romans ist, ästhetisch betrachtet, allerdings insofern etwas locker, als die Zeitschilderung in den angeführten Persönlichkeiten so sehr die Hauptsache bildet, dass die eigentliche Fabel sich mehr nur nebenher durchzieht. Die Knotenpunkte, in denen die Fäden sich schürzen, bilden drei geschichtliche Predigten. Die erste ist die P r e d i g t am Hofe, die der Abbé de Narniers, an Desmarets Stelle zum Beichtvater des Königs bestimmt, in der königlichen Kapelle zu Versailles halten sollte. Gleich am Eingang des Romans waren Rabaut und Bridaine in der Kathedrale zu Meaux, wo sie an Bossuets Grabe zusammentrafen, unwillkürlich Ohrenzeugen des oratorischen Kunststücks geworden, das der Abbé in nächtlicher Stunde sich zur Probe vordcklamirte, eine skandalöse Schmeichelrede auf den König, in der die Pompadour ziemlich unverblümt mit Maria verglichen war. Im letzten *) Es ist vor einigen Jahren mir die Ehre, Herrn Bungener aber das Missgeschick widerfahren, dass uns beiden zusammen beim gleichen Anlass, der Calvinsfeier, von der ehrw. theologischen Fakultät zu Bern eine akademische Auszeichnung zu Theil wurde. Ein Jemand, den die mir zu Theil gewordene Ehre höchlich verdross — was ich ihm meinerseits gar nicht verarge —, Hess seinen Unmuth daiüber auch an Herrn Bungener aus, als ob auch dieser, als blosser Romanschreiber, dieser Ehre nicht würdig sei. Das war nun höchst ungeschickt, so plump wie der Streich jenes Bären, der, um die Fliege auf der Stirne des Einsiedlers zu tödten, diesen gleich mit erschlug. Sehen wir auch ganz ab von Bungeners eigentlich wissenschaftlichen Werken, der Geschichte des Concils von Trient und dem Leben Calvin's, — nur schon was er von gediegener, sowohl kirchenhistorischer als dogmatischer Theologie in seinen ßomanen beurkundet hat, ist der Art, dass nur ein Urpedant ihn darum, weil er auch in weltlich leichtem Gewand damit auftrat, des theologischen Doktorhutes unwürdig finden konnte. Ich habe gern diesen Anlass benutzt, Herrn Bungener diese Ehrenerklärung auszusprechen, da ich doch allein unschuldig Schuld war an den geringschätzigen Urtheilen, die bei jenem Anlass über ihn laut wurden.

Der religiöse Roman.

61

Augenblick aber, wo der Abbé nun damit vor König und Hof auftreten sollte, hindert Bridaine den Skandal und hält nun selbst die Predigt, ins Christliche zurück übersetzt. Aber wie er am Schluss in gesteigerter Begeisterung die Zeit der Märtyrer zurückruft, senkt sich sein Auge beschämt vor dem ebenfalls anwesenden Rabaut, dem lebenden Zeugniss, dass die Zeit der Märtyrer noch nicht vorüber sei, aber die Zeit der Märtyrer, welche die katholische Kirche selbst dazu machte. Die zweite Predigt, die in der S t a d t , hält Bridaine zu Paris über einen Text, den ihm Rabaut aus dem angebrannten Blatt einer protestantischen Bibel aufgegeben hatte, welches Bridaine selbst bei einem offiziellen Auto-da-fé einer ganzen Auflage von protestantischen Bibeln und zusammen mit freigeistischen Schriften dem Brande entrissen. Der König wohnt heimlich der Predigt bei; aber an seiner Seite steht sein böser Geist Desmarets. Wie nun Bridaine mit glühenden Farben die ewigen Höllenstrafen der Gottlosen schildert, entreisst der Jesuit der momentan geweckten Gewissensangst des Königs, der nur noch für Sinnliches Reiz und Angst nur noch vor Sinnlichem hatte, den Entwurf eines Edikts, durch welches den Protestanten grössere Duldung sollte zugestanden werden. Nun ist, zwar nicht Gott, aber der Jesuit zufrieden gestellt, und mit seinem gewöhnlichen Stumpfsinn hört der König die „düstere" Predigt zu Ende. Die dritte Predigt, le sermon au d é s e r t , ist die, welche unmittelbar nach den Schreckensereignissen in Toulouse, im Frühjahr 1762, der Hinrichtung erst des Pfarrers Rochcttc und der drei adeligen Brüder Grenier, und dann der scheusslichen Räderung des unglücklichen Jean Galas, Rabaut selbst hielt, als er seinem eigenen Sohne mit der Weihe zum evangelischen Predigtamt — nach dem Ausdruck der Zeit — das Patent zum Schaifot gab. Der edle Bridaine, durch Rabaut als Zeuge eingeführt in diese Versammlung der verfolgten Kirche, sprach unwillkürlich das Amen: der Christ hatte über den Priester gesiegt. Ein deutscher Roman führt uns ebenfalls ein geschichtlich treues Bild konfessioneller Streitigkeiten vor zwischen den Reformirten und L u t h e r a n e r n , wobei der Verfasser im Namen der

62

Der religiöse Roman.

Einen Konfession unmittelbar seine eigene Glaubensanscliauung ausspricht, obgleich die geschilderte Zeit gerade um dreihundert Jahre zurückliegt. Ich meine den Roman: „Einer ist e u e r Meister" (1856, 2 Bde.), von — S i e g m u n d S t u r m steht auf dem Titel; es soll aber nicht der wahre Name sein. Dieser Roman erzählt uns, fast pedantisch beflissen, in den einzelnen Zügen historisch genau zu sein, die Kirchengeschichte der Rheinpfalz von 1554—1560: wie Fürst und Land, erst der mildern Melanchthonisclien Richtung zugethan, durch das hierarchische Gebahren der eingedrungenen streng lutherischen Glanbenseiferer endlich zum förmlichen Uebertritt zur reformirten Konfession gebracht wurden. — Der Held, P h i l i p p von N c i p p e r g , ein ehrliches feuriges Ritterblut, dem es erst mit der Reformation nicht rasch und entschieden genug hatte voran wollen, schlägt allmälig zum fanatischen Anhänger der lutherischen Glaubenspoltercr um, indem ihm begegnet, was j a so oft theologisirenden Nichttheologen, dass er den massivern Glauben mit dem festern und Fanatismus für denselben mit Glaubenstreue verwechselt. Seine Gemahlin Corn e l i a dagegen läutert sich in der Trübsal zur gediegenen Calvinistin. Der Idealheld, der Theologe P o s t h i u s , der seine Studentenliebe zu Cornelia mannhaft begraben hat, findet gar in einer Zwinglianerin, der Tochter des wackern Junker Meiss von Greifensee, den schönsten Lohn von Entsagung und Treue. Ein flüchtiger Hugenotte, R a s c a l o n , ein von Anfang an zweideutiger Abenteurer, der vom Geheimschrciber des Pfalzgrafen zuletzt bis zum Meuchelmörder herabsinkt und überall, in Zürich und in Heidelberg, zur bösen Stunde erscheint und verschwindet, bringt Romanhaftes im Ueberflus» in die sonst etwas trockene theologische Geschichte. Des Verfassers Haupttendenz ist, seine eigene calvinistische Abendmahlslehre im Gegensatz zu der lutherischen und in sorgfältiger Unterscheidung von unserer, ihm zu dürftig erscheinenden Zwinglischen darzulegen. Es wird oft geradezu drollig, wie der gelehrte Theologe aus der Rolle des Romanschreibers fällt und selbst in Situationen des erregtesten Affekts seine Personen des Langen und Breiten mit Bibelstellen Uber den rechten Sinn der Einsetzungsworte disputiren lässt. Trefflich

Der religiöse Roman.

63

weiss der Verfasser nach dem Leben an den lutherischen hierarchischen Glaubenseiferern die ganze Widerwärtigkeit einer steifen, lieblosen Rechtgläubigkeit zu zeichnen, die — wie er sich gut ausdrückt — „Götzendienst treibt mit theologischen Theorien und Lehrsätzen." Und doch — er kann ©s nicht verbergen —: der Zopf der hängt auch ihm hinten, würde ich sagen, wenn jener Götzendienst etwas so Unschuldiges wäre, wie am Ende ein Zopf. Denn — seltsam — die ganze Darstellung der calvinischen Abendmahlslehre, die hier als die geistigere der lutherischen gegenüber verfochten wird, ist wie einfach abgeschrieben aus der Schrift eines neuern Theologen*), der sich hauptsächlich dadurch einen Namen gemacht hat, dass er sich ganz in der Weise des alten konfessionellen Gezänks zum Vorfechter der reformirten Orthodoxie gegen die lutherische aufgeworfen hat, und der zugleich gegen jede freiere Theologie gerade so hochfahrend und ketzerrichterisch aufgetreten ist, wie im Roman die lutherischen Eiferer gegen die freieren Reformirten; — eines Theologen, der — wieder seltsam — gerade auf dem Doppelschauplatz des Romans, zu Zürich und in der Pfalz, wohl bekannt ist; und der endlich — das Allerseltsamste — gerade auch in der Pfalz sich durch ganz dasselbe hierarchische Gebahren in einer ganz ähnlichen kirchlichen Stellung unmöglich gemacht hat, wie im Roman der lutherische Hierarch und Zanktheologe Hesshus geschichtstreu geschildert ist. Wenn der Leser da auf allerlei Gedanken verfällt und Nutzanwendungen macht, die vom Verfasser jedenfalls nicht beabsichtigt sind, so kann dieser es ihm in der That nicht verargen. Wir sind durch diesen streng geschichtlich auftretenden Roman unversehens zum eigentlichen Tendenzroman der Gegenwart hinübergeleitet worden. Die Frage, in welcher Weise denn überhaupt von der Tendenz eines religiösen Romans zu reden sei, stösst uns aber sogleich auf eine Klippe, die jedem religiösen Roman gefährlich werden kann. Die Religion gehört doch zum innersten Seelenleben; der *) A. Ebrard, das Dogma vom heiligen Abendmahl und seine Geschichte, 2 Bde. 1845.

64

Der religiöse Roman.

Roman hat aber das innere Leben nur so zu schildern, wie es in's äussere heraustritt und sich im Handeln darstellt. Darum kann eigentlich die ästhetisch naturgemässe Tendenz eines religiösen Romans nur die sein: die innere Religiosität der handelnden Personen, die Freiheit und Geistigkeit — oder die Enge und Gebundenheit, die Gediegenheit — oder Verschwommenheit, die Wahrhaftigkeit — oder die Heuchelei derselben, aus der ganzen sittlichen Haltung als die Seele des Handelns durchscheinen zu lassen. In dieser Beziehung wäre es kulturhistorisch interessant, zu verfolgen, wie zu verschiedenen Zeiten im Roman diese Seite des geistigen Lebens hervor- oder zurücktritt. Wir dürfen wohl sagen, das erhöhte Interesse der Gegenwart für die religiösen Fragen spiegelt sich unverkennbar auch in den gediegenem Romanen der Gegenwart ab. Allein unter der Tendenz religiöser Romane versteht man doch etwas Spezielleres: dass nämlich das Religiöse selbst als solches zur Darstellung kommen solle dadurch, dass bestimmte Formen von Glaubensüberzeugungen uns vorgeführt werden in der ihnen ganz speziell zukommenden sittlichen Aeusserungsweise im Leben. Allein hier eben liegt nun die Gefahr der einseitigen Befangenheit, Beschränktheit und in Folge dessen der Unwahrheit. Der Dichter mag wohl die Glaubensweise, in der er selbst lebt, psychologisch wahr in ihren verschiedenen sittlichen Aeusserungcn darzustellen im Stande sein. Aber eine fremde, die er nur von aussen, vielleicht gar nur gegnerisch kennt? Um in einem nicht bloss einfärbigen Sinne auch eine solche innerlich wahr zu schildern, muss er dieselbe nicht bloss äusserlicli kennen, sondern auch innerlich verstehen, muss er sich aus sich selbst heraus und lebendig in sie hinein zu versetzen vermögen. Beides aber ist nicht Jedermanns Sache und gerade da, wo es sich um das Innerste und Persönlichste, um die religiöse Ueberzeugung handelt, am wenigsten leicht. Wo aber dies fehlt, da wird die Zeichnung des tendenziösen Romans leicht zur Karrikatur. Ueber sittliche Dinge liegt im Allgemeinen das Urtheil mehr auf der Hand, ist einleuchtender und darum übereinstimmender, als über Glaubensansichten. Nun will der tendenziöse Roman Wahrheit oder Un-

Der religiöse Roman.

65

Wahrheit der letztem an den sittlichen Eonsequenzen zur Anschauung bringen. Da ist doch wohl die erste Bedingung, dass er diese von innen hervorgehen lasse und nicht von aussen aufbürde. Wer einen religiösen Tendenzroman schreibt, übernimmt eine Verantwortung vor dem Richterstuhl der Wahrheit, an die bicht Jeder denkt, der seine Feder dazu ansetzt. Ich übergehe hier alle mehr theologisch-philosophischen als eigentlich religiösen Romane, welche uns etwa die Entwicklungsgeschichte eines bestimmten theologischen Bewusstseins und einer philosophischen Anschauungsweise schildern. Doch drängt mich die Pflicht der Dankbarkeit, den Roman meines unvergesslichen Lehrers De Wette: „Theodor, oder des Zweiflers Weihe," wenigstens zu nennen, eingedenk der Anregung, die ich seiner Zeit von diesem Buche empfangen habe. Ebenso würde es uns viel zu weit führen, wollten wir uns auf Romane einlassen, welche, auf einem uns zu fremdartigen religiösen Boden erwachsen, eben darum auch uns ferner liegende Tendenzen zum Ausdruck bringen, zum Beispiel solche, die auf dem Boden der katholischen Welt etwa dem Ultramontanismus und Jesuitismus gegenüber irgend eine allgemeine philanthropische und ähnliche Religion darstellen, wie der berühmte Roman „le m a u d i t " des anonymen Abbé, oder umgekehrt Convertitenromane, wie die der Gräfin Hahn-Hahn seit ihrer Umkehr nach Rom. Wir beschränken uns auf näher liegende Beispiele. Vorab jedoch eine Bemerkung: Wenn ich im Verlauf die Ausdrücke „gläubig" und „ungläubig" im Sinne von landläufigen Parteibezeichnungen brauche, so geschieht es nur der Kürze halber und es soll damit über Glauben und Unglauben im tiefern, allein religiösen Sinn, über das persönliche Verhältniss des inwendigen Menschen zu dem, was heilig und ewig ist, noch gar Nichts gesagt, oder auch nur präjudizirt sein. Innerer Glaube und das Verhalten zu gegebenen äussern Glaubensformen sind zwei sehr verschiedenartige, in keiner Weise solidarisch mit einander verbundene Dinge, wenn sie schon bei jedem Einzelnen natürlich mit einander im Zusammenhang stehen. Ich hoffe in diesem Punkte auf Ihrer Aller Zustimmung rechnen zu können. B i e d e r m a n n , Vorträge und Aufsätze.

5

66

Der religiöse Roman.

Nun erst zwei Beispiele grober Tendenzromane, der Unparteilichkeit wegen eines von gläubiger, das andere von ungläubiger Seite. Das erstere ist — ich muss es wohl als das uns zunächst gelegte wählen — „der u n g l ä u b i g e P f a r r e r " von A. E. F r ö h lich (1862). ..Wer unsern trefflichen Fabel- und Liederdichter geschätzt hat, dem musste es leid thun, dass derselbe noch am Abend seines Lebens in verbitterter Stimmung seinen litterarischen Ruf — von Anderm zu schweigen — durch ein solch rohes Produkt hat beflecken mögen. Arm in der Anlage, ist es mit grobem Pinsel nur in zwei Parteifarben ausgeführt. Der ungläubige greise Pfarrer K i e s e l soll ein im Dienst der theologischen Wissenschaft ergrauter Gelehrter sein, der auch den neuesten Fortschritten der freisinnigen Theologie mit Eifer gefolgt ist; allein in Wirklichkeit redet er durchweg so abgeschmackt oberflächlich und beträgt sich so armselig, j a roh, wie nur irgend ein Aufklärer des vorigen Jahrhunderts von der geringsten Sorte es konnte. Ihm gegenüber soll in Vikar E r n s t das Ideal eines ebenso geistvollen, als glaubenseifrigen Geistlichen geschildert werden; ich bin aber überzeugt, dass auch der gläubigste Pfarrer unsers Kantons einer derartigen eigenmächtigen Anmaassung, mit der dieser Vikar seinem greisen Pfarrer entgegentritt, die Thür weisen würde. Als Gegenstück von der andern Seite erwähne ich „die O r t h o d o x e n " von F r . F r i e d r i c h (1857, 2 Bde.). Der Verfasser erklärt im Vorwort, dass er weder die Religion noch die Kirche angreifen, sondern nur eine überlebte Orthodoxie in ihren faulen Früchten schildern wolle. Die uns vorgeführten sind denn auch in der That faul genug. Alle Vertreter der orthodoxen Richtung sind wahre Karrikaturen von geistlichem Hochmuth und Scheusale von Heuchelei. Die Geschichte spielt freilich unter fürstlichem Konsistorialregiment, unter dem Beides allerdings in einem Grad wuchern mag, von dem wir bei uns, man kann von unsern kirchlichen Zuständen sonst denken, wie man will, kaum eine Vorstellung haben. Es giebt wenig Verbrechen, welche die Hauptperson, der Pfarrer O t t o , im Roman nicht begeht; keines, dessen er nicht jeden Augenblick fähig wäre. Sein letztes ist, dass er bei einem Schiffbruch seinen grossmüthigen Feind mit ins

Der religiöse Roman.

67

Verderben hinunter reisst. Dieser aber, der Kandidat Schröter, ist eine kreuzbrave und kreuziidele Haut, ein Theologe zwar, der es jedoch, da er sonst zu leben hat, unter diesem Regimente nicht treiben mag und sich lieber für seinen Freund, der schon um seiner Braut willen eine Pfarre braucht, selbstverläugnend aufopfert. Der Verfasser scheint selbst ein durchgebrannter Theologe zu sein. Ich habe diese zwei Romane nur angeführt als Proben von der untersten Kunststufe, wo mit grobem Pinsel und nur mit zwei Farben gemalt wird, weiss auf der einen, schwarz auf der andern Seite. Leider ist gerade diese Gattung in der Litteratur sehr zahlreich vertreten. Im Jahr 1854 erschien in der Agentur des „Rauhen Hauses" bei Hamburg, dieser Centraistätte für innere Mission, ein dreibändiger anonymer Roman, der ungewöhnliches Aufsehen erregte. Er hatte zum Titel das lockende Trugwort der alten Schlange: „Eritis sicut Deus" (ihr werdet sein, wie Gott). Verweilen wir ein wenig bei ihm. Robert S c h ä r t e l , ein junger hochbegabter Aesthetiker von scharfem Verstand, lebhafter Phantasie, schlagendem Witz, jovialem, leicht- und warmblütigem Wesen, ist eben aus Italien zurückgekehrt. Im Hause ihres Oheims lernt er die elternlose Elisabeth kennen, ein Mädchen von hoher Schönheit und zartem, für die Kunst fein empfänglichem Wesen, das aber die Zweifel, wie weit sich die Liebe zur weltlichen Kunst mit der Liebe zum Herrn vereinigen lasse, bei sich selbst nicht zu lösen vermocht hat. Nachdem der pietistische Pfarrer Schwerdtmann durch seine plumpe Art sie nur noch mehr verwirrt und zugleich durch den lüsternen Beigeschmack seiner Weltverdammung ihr weibliches Gefühl verletzt hatte (ein wohlberechneter Aushängeschild der Unparteilichkeit), wird es Schärtel um so leichter, durch seine geistreichen Auseinandersetzungen über Kunst und Religion sie zu beruhigen, zu entzücken und bald zu gewinnen. Ihren Brautstand trübt nur der unglückliche Ausgang eines Duells zwischen zwei Offizieren, an dem sich Elisabeth durch ihr Benehmen an einem Ball nicht ganz schuldlos fühlt und der ihr einen Fluch von der 5*

68

Der religiöse Roman.

Mutter des Getödtetcn zuzieht. Wir begleiten das junge Paar in die kleine süddeutsche Universitätsstadt, wo Schärtel sich habilitirt. Es bildet sich um sie ein geselliger Kreis von Gesinnungsgenossen Schärtels, Anhänger der modernen Philosophie: ein alter ehrwürdiger Gelehrter; ein berühmter „Litterat", der eine weltberühmte Sängerin geheirathet hat; mehrere geistreiche jüngere Gelehrte, darunter aber auch ein plumperer Gesell, Falstaff, der in Beziehung auf die praktischen Konsequenzen der Philosophie die ängstlichen Eiertänze der Uebrigen verlacht, während Schärtel wenigstens die Frauen, jedenfalls die seine, nur mit Rückhalt und Vorsicht in seine Weltanschauung einführen will, weil j a doch der Natur des Weibes nur das vorstellende, nicht das begriffliche Denken gemäss sei. In der That lebt sich Elisabeth nur schüchtern und immer nur halb in die Gedankenwelt ihres Mannes ein, mit persönlichem Vertrauen der Liebe zwar, aber ohne je über das Gefühl von Gretchen hinauszukommen: so ungefähr sagt das der Pfarrer auch, nur mit ein Bischen andern Worten. Ihr Gegenbild ist Madelaine, die leibhafte Widerlegung — oder umgekehrt, der Beweis, wie man will — für Schärtels Ansicht von der Unverträglichkeit der Philosophie mit der weiblichen Natur. Madelaine ist ein reichbegabtes, gross angelegtes Mädchen, nicht mehr in der ersten Jugend, die sich der absoluten Philosophie mit all ihren Konsequenzen — wie nämlich der Roman sie darstellen will — rückhaltlos, von jeder weiblichen Scheu emanzipirt, hingiebt. Bisher hatte sie Liebe und Ehe verschmäht. Nun aber hat sie ihr Ideal in Professor Fischmann gefunden, der kürzlich von Bern in den Freundeskreis Schärtels zurückgekehrt ist, verheirathet mit einer Berneroberländerin, die ihm seiner Zeit das Leben gerettet hatte. Süsette aber passt nicht in den Kreis. Sie ist (wie in deutschen Romanen die Schweizerinnen gewöhnlich) zwar eine treffliche Hausfrau, aber ein zu beschränktes Naturkind für höhere Geselligkeit; sie leidet an Heimweh. Madelaine verschmäht, um die Ehe zu sprengen und ihr eigenes Ziel zu erreichen, auch Gemeinheiten wie die Unterschlagung von Briefen nicht. Ihr Vetter Eberhard, ein seltsamer, verwachsener Kauz, mit dem Gefühl über die Philosophie hinaus, in der sein Verstand

Der religiöse Roman.

69

noch gefangen ist, hat die Rolle des tiefsinnigen Narren im Stück, der sich und seine Parteigenossen beständig ironisirt. In diesen geistreichen Kreis, der Philosophie und Aesthetik treibt, lebende Bilder aufführt, dramatische Vorstellungen giebt, tritt auch ein junger Maler O t t o , hinter dem aber ein Freiherr steckt, eine feurige, enthusiastische Künstlernatur, der in Elisabeth sein Ideal einer Madonna von Perugino findet; Schärtel, den er schon in Rom bei einem Kttnstlermaskenfest in der Rolle des Ganymed entzückt hatte, hält ihn, vom Zauber der schönen Persönlichkeit gefesselt, selbst in seinem Hause fest und sieht der Gefahr einer aufkeimenden Leidenschaft zwischen dem Maler und seiner Frau erst lange als einem ästhetischen Schauspiele ruhig zu; und wie sie ihm endlich doch über den Kopf zu wachsen droht, will er die Leidenschaft durch die reinigende Kraft der Poesie heilen, durch die gemeinsame Lektüre von Tristan und Isolde. Das närrische Experiment schlägt aber fehl. Es verwirrt der schwachen Elisabeth vollends Herz und Sinne, und dass sie nicht zuletzt der stürmischen Leidenschaftlichkeit des Malers unterliegt, davor bewahrt sie nur die Dazwischenkunft Eberhards und ein Starrkrampf. Den Maler wandeln die erschütternden Eindrücke der Nacht, die er bei ihrer vermeintlichen Leiche durchwacht, zum gläubigen Christen um: er verschwindet für einstweilen vom Schauplatz. Elisabeth kommt bei ihrer Freundin, der glücklichen Frau eines gläubigen Landpfarrers, allmälig wieder zurecht, und indem sie reuig zu Schärtel zurückkehrt, bedingt sie sich von ihm nur die Schonung ihres Glaubens an einen vorsehenden Gott aus. — Inzwischen bricht ein anderer Sturm los. Schärtel ist trotz der Opposition der Gläubigen Professor geworden. In seiner Antrittsrede schleudert er seinen Gegnern und ihrer Idee glühenden Hass in's Gesicht. Daraufhin wird er entsetzt, wobei Madelaine aus Rachsucht ihre Hand mit im Spiel hat. Als Gymnasialprofessor in eine kleine Landstadt versetzt, kommt Schärtel hier mit dem politischen Leben in nähere Berührung. Die modernen Ideen, die er in der Wissenschaft vertritt, regen sich in der Welt. Der Sieg derselben in der Schweiz, im Sonderbundskrieg, hat elektrisch in den Gemüthern gezündet; die Vorzeichen des Sturmes

70

Der religiöse Roman.

von 1848 mehren sich. Die Philister des Städtchens bilden einen liberalen Clubb. Auch Schärtel betheiligt sich, wird fetirt und das schmeichelt ihm, obgleich sein feiner Sinn von der Roheit abgestossen wird, mit welcher er hier seine Ideen aufs Praktische anwenden sieht. In der Familie eines Advokaten Wolf, eines liberalen Zeitungsredaktors, blicken wir in einen wahren Höllenpfuhl von cynischer Frivolität und Verworfenheit, und ein versoffener Schmied, der schliesslich sein betendes Weib ermordet, beruft sich auf Schärtels Lehren; dieser aber weiss die moralische Mitschuld nur armselig von sich abzuwälzen. Auch in seinem eigenen Hause gestaltet sich's immer trüber. Elisabeth sucht Trost in der Betheiligung an innerer, und äusserer Mission. Bald lässt er säe ruhig gewähren, bald tritt er ihren gelegentlichen Missgriffen mit Roheit entgegen. Wir kennen den bis dahin trotz Allem so liebenswürdigen Schärtel nicht mehr. Die Konflikte, die in einer Ehe aus entgegenstehenden religiösen Ansichten hervorgehen können, wären wohl ein Thema für einen religiösen Roman, würdig einer Meisterhand: hier ist es nur plump misshandelt. Elisabeth, in immer haltloserem Schwanken, entsagt zuletzt in wahnwitziger Verwirrung ihrem Gott, um ihren Mann allein zu ihrem Gott zu haben. Als sie bald darauf ihr krankes Kind im Schlaf erdrückt hat und so jener Fluch in Erfüllung gegangen ist, verfällt sie vollends in Wahnsinn und Tobsucht, worauf ein Zustand halbvernünftiger Apathie folgt. Schärtel nimmt zur Pflege und Gesellschaft für sie ein blühendes, aber einfältiges Mädchen aus seiner Verwandtschaft, das schon früher oft die Zielscheibe seines derben Witzes gewesen, in's Haus. Des traurigen Daseins müde, giebt er allmälig dem Gedanken Raum, seine Frau in einem Irrenhaus zu versorgen und mit dem naiv-sinnlichen Sannchen nach der Schweiz zu gehen, wohin er eben einen Ruf erhalten. Die irrsinnige Erscheinung Elisabeths an einem tollen Maskenball, auf welchem Falstaff den Ausbruch der französischen Revolution verkündet, bringt den Entschluss zur Reife. Elisabeth aber, die Etwas ahnt, stellt Schärtel von einer vergifteten Pastete vor, um zu prüfen, ob er ein Gott, also allwissend sei. Er isst, ihr gehen die Augen auf, sie bekennt und flieht verzweifelnd in die Nacht

Der religiöse Roman.

71

hinaus. Ein Blutsturz wirft sie im Haus eines gläubigen Geistlichen aufs Sterbelager. Eberhard und der Maler, die beide den Herrn gefunden, stellen sich auch ein und sie stirbt im Segen der Kirche. Schärtel aber, nachdem er ein hitziges Fieber überstanden, geht in's Frankfurter Parlament. „Aber — so schliesst die Geschichte — auch hier erschreckt durch die Erfahrung, dass in seiner Philosophie keinerlei Kraft liege, will er auf eine andere Strasse lenken, hat indess den rechten Weg noch nicht gefunden. Der Sturm (von oben) hat nicht nur seinen sinnlichen Menschen, sondern auch seine Gottheit mit zu Boden geworfen und sein idealer Mensch konnte sich nicht in eigener Kraft wieder aufrichten; — aber da er zum Kreuz kroch und an seine Brust schlug und rief: Gott sei mir Sünder gnädig! da schaute der Herr ihn an und sprach: Du sollst leben." Legen wir einstweilen noch jede weitere Frage zurück und sehen uns nur den Roman selbst an. Seine Tendenz ist deutlich genug: dass die Weltanschauung der modernen, speziell der Hegel'schen Philosophie, welche keinen andern Gott habe, als den, der im Menschen zum Bewusstsein komme, welche also den Menschen selbst vergöttere, welche keine religiöse und sittliche, sondern nur eine ästhetische Auffassung der Welt kenne, welche in dialektischem Spiel Gutes und Böses nur als stets in einander umschlagende Wechselbegriffe in der Weltentwicklung fasse, — dass diese moderne Philosophie die Quelle aller Verderbniss sei. Die von Haus aus edle Natur Schärtels geht an ihr zu Grunde und richtet mit ihr Andere zu Grunde. Die Verklausulirungen der feineren Geister halten nicht Stich; der rohe Falstaff, vor Allem die von aller Weiblichkeit emanzipirte Madelaine, das sind die Aechten, die allein mit dieser Philosophie Ernst machen. Mit grosser Formgewandtheit, aber mit einer zuletzt die peinlichste Langeweile erzeugenden Unermüdlichkeit wird mit den dialektischen Formeln der Hegel'schen Philosophie Ball gespielt, indem die geistreichen Leute sie bis zum Aberwitz abgeschmackt, bei jedem Anlass einander selbst und Jedem, der ihnen in den Weg kommt, an den Kopf werfen. Es ist, wie wenn Jemand, dem zufällig die algebraischen Formeln eines Mathematikers in

72

Der religiöse Roman.

die Hände gerathen, diesen nun damit lächerlich machen wollte, dass er ihn die Leute auf dem Markt und in den Kaufläden mit x und y abspeisen liesse, statt sie mit klingenden Franken und Centimes zu bezahlen; oder — wie wenn ein Affe mit Schachfiguren hantierte. Denn bei aller Gewandtheit in der Handhabung der Formeln, wie sich das so absehen lässt, und bei mancher Feinheit in Dingen, die mehr auf der Oberfläche spielen, fehlt durchweg alles tiefere Verständniss des eigentlichen Kerns. Einer solchen Karrikatur von Philosophie konnte denn freilich Alles, was man wollte, aufgebürdet werden. Aber auffallend ist, dass in dem Roman ebenso wenig ein tieferer Sinn für das gläubig religiöse Wesen zu verspüren ist. Es treten überhaupt keine gläubigen Persönlichkeiten in den Vordergrund der Geschichte; es werden uns nur etwa einmal welche aus der Ferne gezeigt, aber mit allgemeinen Phrasen, die man ebenso gut auswendig lernen kann, wie philosophische Stichwörter. Elisabeths Glaube, der mit ihres Mannes Philosophie in Konflikt geräth, ist von Haus aus etwas höchst Dürftiges. Die Bekehrungen fallen vom Himmel. Dass Eberhard, dass der Maler den Herrn gefunden, wir müssen es glauben; wir sehen weiter nicht viel davon. Und die Versöhnung am Ende, wo Elisabeth im Segen der Kirche stirbt, hat vollends ein ganz auffallend äusserliches katholisches Gepräge. Von einem Hauch wahrer Religiosität, der uns überall wohlthuend berührt, auch wo wir mit den Anschauungen nicht einverstanden sein können, ist im ganzen Roman keine Spur. Darum berühren uns denn auch die gelegentlichen, bloss mit Hass getränkten frommen Redensarten so widerlich. Auf dem Gebiet des Aesthetischen ist der Verfasser am besten zu Hause. Ueber Poesie, Malerei, Musik enthalten die beiden ersten Bände viel wirklich Sinniges und Schönes. Der dritte Band dagegen, der die Konsequenzen im öffentlichen Leben schildern soll, wird gegen das Ende hin immer roher und toller. Nicht nur die Personen des Romans, dieser selbst verkommt zuletzt in's Wahnwitzige, Ekelhafte. Dem Verfasser scheint einmal selbst eine Ahnung davon zu kommen. Wo die Tollheit ihren Höhepunkt erreicht, da steht unter dem Text die Anmerkung

Der religiöse Roman.

73

(III, S. 577): „Wer etwa als Feind des Komischen sich an dieser Stelle stossen sollte, den verweisen wir auf das Buch eines grossen Aesthetikers, der Anleitung zu solcher Komik giebt; u — zugleich avis au lecteur. Der Roman ist, rein für sich betrachtet, das Muster eines schlechten, moralisch wie ästhetisch verwerflichen Tendenzromans, der eine fremde Geistesrichtung, mit giftiger Parteileidenschaft karrikirt, an den Pranger heften will, aber nur sich selbst ein Denkmal der Unehre stiftet. Und doch — haben wir vom Schlimmsten noch gar nicht geredet! Wenn ein Roman aus dem Leben der Gegenwart schöpft, so wird man natürlich bei vielen Zügen unwillkürlich an wirkliche Persönlichkeiten erinnert, wie sie der Dichter auch gelegentlich solchen entnommen hat. Drum ist es ja Manchem auch in der Nähe eines Romanschreibers immer etwas ungeheuerlich, weil er stets fürchten muss, unversehens einmal in einem Buche seinem eigenen Conterfei zu begegnen. Das ist nun einmal nicht anders. Aber beim Eritis haben wir nicht bloss dies. Es sind da nicht bloss einzelne Züge von diesem oder jenem Vertreter der allgemeinen Richtung, die gezeiclmet werden soll, entlehnt; der ganze Roman ist ein direkt auf bestimmte Persönlichkeiten gemünztes Pamphlet. Geradezu mit seinem wahren Namen ist zwar Niemand genannt; indirekt aber mehr als Einer, voraus die Hauptperson für alle mit den Verhältnissen nur einigermaassen Bekannten kenntlich genug bezeichnet. Und dann werden eine Reihe einzelner Thatsachen, notorische Begebenheiten, wie jene Antrittsrede mit ihrem glühenden Hass, der ganzen Fabel des Romans so zu Grunde gelegt, dass selbst vor Gericht die Ausrede kaum gelten dürfte: es sei ja Niemand genannt; auf Jeden, der sich durch das Eine oder Andere getroffen fühlen könnte, passe doch offenbar Anderes wieder nicht; wer das Ganze daher doch auf sieh beziehe, der möge es an sich selbst tragen. Was im Roman irgendwo naiv genug gesagt wird, dass bei Anlass des Sturmes, der sich wider Schärtels Berufung erhob, Wahres und Unwahres über ihn und seine Freunde in Umlauf gesetzt worden sei, davon ist der

74

Der religiöse Roman.

Roman selbst von Anfang bis zu Ende der schamlose Abklatsch im grossartigsten Maassstabe. Wo einmal die Hauptperson feststeht, sind auch die Uebrigen gegeben; es bedarf nur kleiner Anspielungen, und der mit den Verhältnissen bekannte Leser merkt, auf wen es gemünzt ist, auch wenn alles Andere total nicht passt. Nur ein einziges Beispiel: Sie würden sich sonst schwerlich eine Vorstellung machen, wie weit der Eritis dies treibt. Beim Professor Fischmann, der eine so armselige Rolle spielt, werden wir durch eine Reihe äusserlicher Anspielungen genöthigt, an einen Gelehrten zu denken, dessen Charakter von Allen, die ihn kennen, ebenso hoch geschätzt, als seine wissenschaftliche Bedeutung in der ganzen gelehrten Welt anerkannt ist. Alles Wesentliche trifft zwar absolut nicht zu; aber genug, wir müssen und sollen nun einmal an diesen denken, und dafür zu sorgen, werden selbst Anspielungen nicht verschmäht, wie die: die treffliche Frau jenes Gelehrten, der ebenfalls eine Zeit lang Professor in Bern gewesen, ist die Tochter des grossen Theologen Baur, — und Fischmanns Frau, die Bernerin, wird immer wiederkehrend das Baurenweib genannt. Und dies Pamphlet wagt salbungsvoll mit den Worten zu schliessen: „Das Unternehmen, diese Geschichte zu schreiben, geschah nicht aus menschlichem Kitzel, sondern aus höherem Anregen." Wir aber thun ihm nicht zu viel, wenn wir es kurzweg als einen litterarischen Giftmordversuch bezeichnen. Und gleichwohl, so deutlich er gekennzeichnet war, bei seinem Erscheinen wurde dieser Roman doch von gläubiger Seite mit allgemeinem Beifall begrüsst und gepriesen. So sehr vermag der Parteieifer in religiösen Fragen das sittliche Urtheil, wenigstens eine Zeit lang, zu blenden. Der Zweck war gut; darum sah man dem Mittel durch die Finger. Ich weiss selbst Frauen, auf deren feines Urtheil innerhalb ihrer Richtung ich sonst etwas gab, Frauen, die sich ein Gewissen daraus machten, einen Roman von Goethe zu lesen, — welche diesen Roman auf Empfehlung hin nicht bloss selbst lasen, bis zu Ende lasen, sondern ihrerseits weder Anderen, selbst Mädchen, zu lesen empfahlen! Man sieht, das Gift wirkt ansteckend. Indessen ist eine Prophezeihung, die ich bald nach

Der religiöse Roman.

75

dem Erscheinen irgendwo las, in Erfüllung gegangen: Viele, die jetzt diesen Roman nicht genug preisen können, werden nach zehn Jahren nur mit Erröthen gestehen, dass sie ihn gelesen haben. Aber Wer ist denn nun der Giftmischer im frommen Gewände gewesen? Man hat auf Viele gerathen, wem sich etwa die erforderliche Sach- und Personalkenntniss, die technische Gewandtheit und vor Allem das nöthige Gift zutrauen liess. Alle haben die Ehre der Vaterschaft abgelehnt; nicht Alle ebenso bestimmt die Gevatterschaft. Man hatte wohl übersehen oder nicht glauben mögen, was doch gleich von Anfang an verlautete und was sich in den Schlussworten des Buches auch deutlich genug zu verstehen giebt*): eine F r a u hat den Eritis geschrieben! — ob und mit wie viel männlicher Beihülfe, mag dahingestellt bleiben. Da steht uns freilich der Verstand still; über Manches jedoch geht uns gerade dadurch ein Licht auf. Der Verstand steht uns still: Alles, was in dem Buche steht, soll eine Frau auszudenken und niederzuschreiben im Stande gewesen sein, eine Frau, die im Namen von Religion und Sittlichkeit schreibt! Und doch geht uns über Manches gerade dadurch eine Licht auf: ein Licht über die Feinheit, mit der in der ersten Hälfte Vieles aus dem Innersten des weiblichen Seelenlebens geschildert ist, wie dies eben nur eine Frau kann; ein Licht über das besondere Interesse, mit dem das Verhältniss der Frauen zur Philosophie verhandelt wird; ein Licht über die äussere Eleganz und Gewandtheit, womit auch ohne inneres Verständniss das Spiel mit den philosophischen Formeln getrieben wird; ein Licht über die launenhafte Ungleichheit, mit welcher der Held, auch wo es nicht im Gang der Erzählung motivirt ist, behandelt wird, streckenweise mit offenbarer Huld, dann wieder unversehens mit kleinlicher Gehässigkeit; ein Licht, warum die vorher oft feine Zeichnung sofort zur Karrikatur wird, sobald sie auf das Gebiet des öffentlichen Lebens geräth. Ein *) Ist viel oder wenig in der Form und Ausführung gefehlt, so mögen die Kunstrichter bedenken, dass ihr Maassstab nicht angelegt werden kann, wo die kleine Kraft von Weibern, Kindern und Narren sich regt. Der Herr aber liebt es, die Wahrheit von Kindern und Narren bezeugen zu lassen, wenn die Weisen zu Narren geworden sind.

76

Der religiöse Roman.

Licht geht uns endlich vor Allem auf über Madelaine. Nur eine Madelaine hat einen Eritis schreiben können, ein Weib von ungewöhnlicher Geistesbegabung, aber kühn von jeder weiblichen Scheu emanzipirt; eine bekehrte Madelaine freilich, aber nur mit dem Kopf, nicht mit dem Herzen bekehrt, die vielmehr nun im gläubigen Lager, wie die Madelaine des Romans im ungläubigen, vor keinem Mittel für den Zweck ihres Hasses zurückschreckt. Wo ein Weib in's Unweibliche umschlägt, da schlägt es auch recht um. Das Weib liebt grösser und reiner; wird aber, wo es einmal zu hassen anfangt, auch kleinlicher, giftiger, hässlicher hassen. Die Frauen sind die natürlichen Hüterinnen von Anstand lind Sitte; wenn sich aber eine einmal selbst davon emanzipirt hat, so folgt sie auch ihrer Leidenschaft rückhalt- und rücksichtsloser. Nur eine — nicht bekehrte, sondern bloss umgekehrte Madelaine konnte zur Bekämpfung einer ihr — aus welchem Grund immer — verhassten Geistesrichtung aus „höherem Anregen" zum Mittel eines litterarischen Giftmordes greifen. Ich habe mich bei diesem Roman länger verweilt, nicht wegen seiner persönlichen Anspielungen, sondern weil er uns das eklatanteste Beispiel liefert, an was. für Klippen der religiöse Roman scheitern und wie er aus einem Gemälde religiösen Lebens ein garstiges Pamphlet werden kann. Dies Beispiel hat uns der Roman einer F r a u geliefert. Das ist nicht zufällig; denn dieser Gefahr sind Frauen noch mehr ausgesetzt, als Männer. Es ist eine leicht erklärliche Thatsache, dass vorzugsweise F r a u e n religiöse Romane schreiben. Das weibliche Seelenleben ist unmittelbarer auf die Religion konzentrirt und so auch das Handeln des Weibes unmittelbarer durch das religiöse Gemüth bestimmt, als das des Mannes. Es ist darum von Natur dichtenden Frauen näher gelegt, in Romanen gerade das religiöse Leben zur Darstellung zu bringen. Allein aus demselben Grunde, weil die Religion den Frauen unmittelbarer Sache des Herzens und Lebens ist, liegt ihrer Natur die ruhige Prüfung religiöser Wahrheiten, die unparteiische Auffassung und sachliche Beurtheilung der verschiedenen Erscheinungen auf dem religiösen Gebiete ferner. Gerade das Letztere aber ist eine der ersten Bedingungen ftlr

Der religiöse Roman.

77

den religiösen Roman. In Frauenromanen können wir daher, soweit die Verfasserinnen aus ihrem eigenen Innern schöpfen, Schilderungen aus der Tiefe des religiösen Gemtlths erhalten, so zart und tief und schön, wie keine Männerhand sie zu zeichnen vermag. Wo es aber darüber hinausgeht, wo es sich um Konflikte verschiedener Glaubensrichtungen handelt, um Darstellung und Beurtheilung eines andersartigen religiösen Bewusstseins, da hört das Verständnis» und damit auch die Wahrheit und Gerechtigkeit der Darstellung bei Frauen weit eher auf; sie haben ein viel ausschliesslicheres, mehr persönlich als sachlich bestimmtes Urtheil und nehmen darum viel einseitiger, schroffer, unter Umständen fanatischer für oder wider Partei. Die moderne Litteratur ist sehr reich an religiösen Frauenromanen, besonders die englische und amerikanische. Ich nenne unter Vielen nur eine Kennedy, Wetherell, Sewell. Diese Romane bilden einen Hauptbestandteil der Lektüre in Töchterpensionen; im Ganzen recht brave, moralisch nützliche Bücher. Sie gehören meist einer streng positiven Richtung an, sei's nun in hochkirchlicher Form, sei's speziell methodistisch. Ihre Theologie bringen sie gut englisch schon fix und fertig, solid gebunden mit und behelligen daher den Leser weniger mit derartigen Debatten. Es handelt sich praktisch religiös um den Gegensatz von Kindern Gottes und Weltmenschen, in welchem Gegensatz ihnen dann der andere von Gläubigen und Ungläubigen im theoretischen Sinn freilich einfach mit aufgeht. Die englische Art der Frömmigkeit charakterisirt sich dabei hauptsächlich dureh die gesetzliche, ohne alle rationelle Vermittlung naiv positive Haltung. Was aber diese Romane fast durchgängig anziehend und werthvoll macht, ist neben dem gesunden englischen Humor, den auch sie nicht vcrläugnen, die Feinheit und Mannigfaltigkeit in der psychologischen Entwicklung namentlich des weiblichen Seelenlebens, in welcher Beziehung ich — so weit wenigstens meine Bekanntschaft reicht — diese englischen Romane durchschnittlich gehaltvoller gefunden habe, als die deutschen religiösen Frauenromane. In der Zahl wetteifern diese bald mit jenen. Vor Allem ist es in Norddeutschland die mit den Interessen von Thron und

78

Der religiöse Roman.

Adel aufs Engste verbundene vornehme Frömmigkeit, welche — hierin dem alten Pietismus ganz ungleich — weltgebildet und weltgewandt, nicht die Welt überhaupt, sondern nur die liberale Welt verachtend, das Feinste und Neueste von Wissenschaft und Kunst für sich in Anspruch zu nehmen weiss und so auch eifrig den religiösen Roman kultivirt, durch den sie hauptsächlich auf die Frauen zu wirken sucht. Die kirchlichen Blätter dieser Richtung, die evangelischen Kirchenzeitungen, nehmen auch immer sorgfältig Notiz von der schönen Litteratur, empfehlen Bücher von guter Gesinnung und warnen vor dem Gift, angelegentlicher noch, als vor dem offenkundigen in schlechten Romanen, vor dem gefährlichen in guten, die aber modernen Geist verrathen, in denen von Gustav Freytag, Auerbach etc. Wenn anonym, erscheinen solche Romane gern mit dem empfehlenden Vorwort eines Hofpredigers oder sonst eines hochgestellten Geistlichen. Ich nenne nur ein Paar Titel: „Gott ist mein Heil", „Durch Kreuz zur Krone", „Das irdische und das himmlische Erbe", „Suchen und Finden", „Stolz und Still", „In Demuth muthig". Die hervorrragendste dieser norddeutschen Romandichterinnen exklusiv gläubiger Richtung ist wohl ohne Frage Marie N a t h u sius, eine Frau von wahrer Dichterbegabung, gediegenem religiösem Sinn, feiner Weltbildung und zugleich von einer gläubigen, ausdrücklich pietistischen Entschiedenheit, das heisst Ausschliesslichkeit, die Nichts zu wünschen übrig lässt. Ihr Bestes ist die „Elisabeth"*), ein in mancher Beziehung vorzügliches Buch. Wohl werden auch da die grossen Gegensätze einander summarisch gegenüber gestellt: der Herr — und die Welt, die Christen — und die Läugner, kurz die Gläubigen — und die Ungläubigen. Diesen Hauptgegensatz aber einmal vorausgesetzt, bewegt sich die Geschichte fast ausschliesslich in den der Verfasserin vertrauten Kreisen von fein gebildeten Gläubigen aus der vornehmen Welt und hier bewährt sie sich als ächte Dichterin, die uns nicht bloss einfarbig gemalte Holzfiguren zeigt, sondern das menschliche Herz, namentlich das weibliche, in allen Schattirungen und auch *) Elisabeth, eine Geschichte, die nicht mit der Heirath schliesst. 1855.

Der religiöse Roman.

79

in den natürlichen Schwächen und Irrgängen des gläubigen Gemiltlis mit grosser psychologischer Wahrheit darstellt. Die Männer leiden freilich auch da an den allgemeinen Mängeln der Männer, wenigstens der Hauptpersonen, in den Frauenromanen, dass sie meist entweder ungeheuer liebenswürdig oder dann liebenswürdige Ungeheuer sind. Die Zeit erlaubt mir nicht, in eine nähere Analyse der verschiedenen Charaktere des Romans einzugehen. Bleiben wir nur bei den Personen des Romans stehen, so könnten wir Alles in Ordnung finden: alle Schattirungen der menschlichen Natur sind auch in den Kindern Gottes ohne Vertuschung treu und wahr geschildert, — und die Weltmenschen, die da auftreten, gutmühige und oberflächliche, bei aller äusseren Bildung innerlich doch rohe und leere, sie sind auch aus dem Leben gegriifen. Allein: sind das die Knaben alle? ist das Alles, was übrig bleibt jenseits des auserwählten gläubigen Kreises? Die Verfasserin weiss so gut zu schildern, was auch an den Bändern Gottes noch von der Welt ist: ist aber ausserhalb dieses Kreises n u r Welt? Man möchte einwenden: ein Roman könne doch nicht Alles miteinander darstellen. Diese Entschuldigung, so triftig sonst, reicht hier nicht aus. Was wir vermissen, fehlt nicht bloss; es ist grundsätzlich verneint und darum in allen Geschichten der Nathusius gleich. Die Verfasserin stellt irgendwo die Alternative: entweder Christus als Gottes Sohn von Ewigkeit bekennen — oder ihn als Lügner verwerfen; ein Drittes gebe es nicht. Darum mag an den Gläubigen zwar a u c h n o c h Welt sein; jenseits ihres Kreises aber ist jedenfalls n u r Welt. Wer nun aber weiss, was Welt im religiösen Sinne bedeutet, der weiss auch, was damit gesagt ist. Dies ist die religiöse Engherzigkeit, die Parteiausschliesslichkeit, welche solche Romane, wie die der Nathusius, so viel wirklich Schönes sie auch enthalten, doch zu einer ungesunden Speise macht. Was bei uns dieser Schädlichkeit noch am ehesten die Spitze brechen mag, ist die für uns wahrhaft naive Art, wie hier diese religiöse Ausschliesslichkeit mit politischem Absolutismus Hand in Hand geht: in den Romanen wie im Leben, wo Frau Marie Nathusius solche Romane schrieb, während ihr Mann das

80

Der religiöse Roman.

„Volksblatt für Stadt und Land", das Blatt der äussersten preussischen Rechten, redigirt. Unsere oder auch nur den unsrigen sich annähernde politische Zustände erscheinen von diesem Standpunkte aus als ein wahrer Gräuel, nicht minder, als unsere kirchlichen. Umgekehrt wird darum wohl auch dieser religiöse und politische Absolutismus selbst für die Konservativsten unter uns denn doch zum Glück immer etwas Abstossendes haben. Man hat seiner Zeit den Verdacht des Eritis auch auf die Nathusius geworfen. Das kann ich nun, zu ihrer Ehre, nicht glauben. Nicht dass es ihr an dem dazu nöthigen Fanatismus gegen Alles, was man moderne Weltanschauung nennt, und an der souveränen Verachtung gegen allen religiösen und politischen Liberalismus gefehlt hätte. Allein jenes andere Fehlen alles eigenen tiefern religiösen Sinnes im Eritis — dafür ist die Nathusius zu gut. Sollte aber das Unglaubliche doch wahr sein, so wäre es nur eine bemühende Bestätigung weiter, an welchen bösen Klippen auch eine gute und wirklich religiöse Dichterin scheitern kann, wenn sie sich an ein Thema wagt, das über ihr Verständniss hinaus liegt. Entsprechend der Stammesverschiedenheit ist der fein gebildeten, aber schneidend prononzirten Nathusius gegenüber die gelesenste süddeutsche Romandichterin der Gegenwart, O t t i l i e W i l d e r m u t h , auch in ihren neueren Sachen, obgleich sie die religiöse Saite immer stärker anschlägt, doch viel naiver, harmloser, gutmüthiger, leichtlebiger. Zum Schluss kehren wir gern in unsere eigene Heimath zurück. Ich hatte oben gesagt: das sei die künstlerisch eigentlich allein zulässige Tendenz des religiösen Romans, dass er ohne andere Tendenz nur einfach die innere religiöse Gesinnung seiner Personen mit psychologischer Wahrheit als die Seele ihres Thuns hindurchscheinen lasse. Es schwebte mir dabei besonders unser J e r e m i a s Gotthelf vor. Sie wissen: ein kleines Stück Welt ist sein Gebiet und die äussere Form seiner Geschichten ist oft bis über das Erlaubte hinaus ungehobelt. Aber an dichterischer Gestaltungskraft innerhalb seines Gebiets, an psychologischer Wahrheit bis in die tiefsten Falten des menschlichen Herzens, an

81

D e r religiöse Roman.

realistischer Treue sucht er Seinesgleichen. Und Jeremias Gotthelf war nicht umsonst Pfarrer, viel weniger in der amtlichen Geberdung, als mit dem Herzen. Ohne dabei viel theologische Farbe zu verbrauchen, lässt er doch Uberall den religiösen Grundton des. Seelenlebens in seinen Dichtungen durchscheinen. Bei ihm können wir so recht den Unterschied zwischen der Religion und religiösen Theorien sehen. Seine Theologie ist eine ziemlich hausbackene und grobkörnige Mischung von Autoritätsglauben und gesundem Menschenverstand; aus der Tiefe seines Gemüthes dagegen hat er wahre Perlen von religiös durchhauchten Erzählungen geschöpft; neben Genrebildern: wie „Des Grossvaters Sonntag", erinnere ich nur an „Käthi, die Grossmutter" und an „Geld und Geist". An eigentlich theologische Probleme hat Bitzius ein einziges Mal gerührt: im „Anne Bäbi". Im ersten Band hatte er mit einem einzigen Federstrich im Vikar des alten Pfarrers einen jungen Glaubenseiferer gezeichnet. Hart darüber angelassen, nahm er den Fehdehandschuh auf und setzte im zweiten Band den Vikar mehr in Scene, indem er ihm zugleich in Doktor Rudi, des Pfarrers Neffen, ein Gegenbild gab. Der Vikar ist eigentlich eine ehrliche Haut, der mit aufrichtiger Ueberzeugung das Seelenheil nur in seinen Glaubensformeln sieht, daneben aber ein verwöhntes, kleinliches, ängstlich für seine werthe Person besorgtes, unpraktisches Muttersöhnchen. Der junge Arzt dagegen lebt mit selbstvergessener Aufopferung nur seinem Beruf, ist aber in seinen Ansichten ein Naturalist, der auf alles religiöse Gerede und auf die Pfarrer — mit Ausnahme natürlich des Onkels — nicht viel giebt. Dass diese beiden Gegenfüssler einander nicht mögen, ist natürlich.' Zwischen ihnen sucht der Pfarrer, in welchem offenbar Bitzius seinen eigenen Standpunkt darstellt, die richtige Mitte zu vertreten. Jenem will er zeigen, wie seinem Glauben die Liebe fehle, die dem Glauben erst seinen Werth giebt, und diesem, wie seiner praktischen Werkthätigkeit erst der Glaube die höhere Weihe und die innere Befriedigung verleihen würde. Es ist aber bezeichnend für Jeremias Gotthelf, dass ihm dies Problem in dem langen Kapitel: „Wie ein alter Herr in's Reden kommt und nicht mehr hören kann", theoretisch zu lösen viel weniger befriedigend B i e d e r m a n n , Vortrüge und Aufsätze.

g

82

Der religiöse Roman.

gelingt, als es praktisch dem Vikar gegenüber der guten Frau Pfarrerin gelingt in dem Kapitel: „Wie eine alte Frau einen jungen Herrn über's Knie nimmt", und beim Arzt, der als ein Opfer seiner Berufstreue stirbt, an seinem Sterbebett der Liebe der trefflichen Pfarrerstochter Sophie. Der weit ausgesponnene Roman kommt leider zu keinem eigentlichen Abschluss; er hört mehr nur auf. Und dies Schicksal verhängt die vorgerückte Zeit auch über meinen Vortrag, wenn ich nicht allzu unbescheiden sein will. Darum nur noch ein kurzes Wort. Der religiöse Roman ist eine wohlberechtigte Gattung des Romans; aber keine hat schwerer, sich rein zu halten. Je zarter der Stoff, desto leichter verderben ihn ungeschickte Hände. Wenn im Leben die verschiedenen religiösen Richtungen freier, offener aus- und gegeneinander treten, so ist es natürlich, dass auch der Roman diese Zeitbewegungen abspiegelt. Und es steht nicht so, als ob alle wesentlichen Probleme dieses Gebiets ihre künstlerische Behandlung schon gefunden hätten und nur übrig bliebe, schon Dagewesenes bloss neu zu variiren. Noch stehen weite Felder offen, mit würdigen Aufgaben, vor Allem mit der: die verschiedensten in der Zeit liegenden religiösen Richtungen, wie sie die Wirklichkeit überall zusammenführt, auch künstlerisch in den daraus erwachsenden innern und äussern Konflikten mit umfassendem, aus der Tiefe geschöpftem Verständniss und mit künstlerisch objektiver Wahrheit zur Darstellung zu bringen und dadurch auch wieder zur praktischen Lösung im Leben beizutragen. Goethe hat in den „Bekenntnissen einer schönen Seele" (Wilhelm Meister, das sechste Buch) ein weibliches Gemüth von der spezifisch frommen Richtung sich selbst darstellen lassen; er hat sich mit bewunderungswürdiger Objektivität und Liebe in das seiner eigenen Natur doch so ganz fremdartige Wesen hinein versetzt, aber dasselbe in seiner eigenen Goethe'schen Sprache wiedergegeben. So treu es dem Inhalt nach geschieht, der Form nach kann es nicht befriedigen. Bei den schlechten Tendenzromanen unserer Tage haben wir häufiger das Gegentheil angetroffen: die Schlag- und Stichwörter einer fremden Anschauungsweise sind wohl kopirt, aber es fehlt die Seele. Das wäre der Meister des

Der religiöse Roman.

83

religiösen Romans, der Beides vereinte, der die verschiedenartigen religiösen Gestaltungen der Zeit, eine jede aus ihrer eigenen Seele heraus und in ihrer eigenen Sprache zur naturgetreuen Selbstdarstellung zu gestalten vermöchte, so dass aus seinem Bild in der verschiedenen Strahlenbrechung der menschlichen Natur uns doch der Eindruck des Einen Lichtes aus den ewigen Höhen der Wahrheit entgegenträte. Einheit in der Mannigfaltigkeit und Mannigfaltigkeit in der Einheit ist ja doch, wie ein Grundgesetz aller Kunst, so auch das naturgemässe Ziel für die Gestaltung der Religion im gesellschaftlichen Leben der Menschheit, mag dieses auch noch so oft der menschlichen Kurzsichtigkeit nach rechts oder links hin aus den Augen verschwinden.

IY.

Das religiöse Drama. Ein akademischer Vortrag, gehalten auf dem Rathhaus zu Zürich den '25. November 1869.

Das letzte Mal, da ich die Ehre hatte, zu Ihnen zu sprechen, da war der religiöse Roman mein Thema. Dies hat es mir nahegelegt, heute Ihnen das Seitenstück, das religiöse Drama, vorzuführen. Die Religion steht in der That noch in engerer Beziehung zur Kunstform des Dramas, als zu der des Romans. Sic werden zwar denken: Kirche und Theater wenigstens liegen doch ziemlich weit auseinander, und wenn sie in der gegenwärtigen Gesellschaft auch nicht mehr so feindlich zu einander stehen, wie auch schon, so gehen sie doch indifferent an einander vorbei — und dies indifferente Verhältniss sei am Ende noch ihr bestes; jedenfalls aber seien die eifrigsten Freunde der Kirche in der Regel nicht zugleich auch die fleissigsten Besucher des Theaters und umgekehrt. Gewiss, so ist es jetzt; allein es war nicht immer so. Vielmehr weist fast überall das Drama in seinen Ursprüngen auf religiöse Wurzeln zurück. Es waltet in der That ein innerer Zusammenhang zwischen beiden Gebieten, der Religion als Lebensund dem Drama als Kunstgebiet, und dieser Zusammenhang hat denn auch durch alle Zeiten herab seinen Ausdruck im religiösen Drama gefunden. — Dies in Beziehung auf einige Hauptpunkte Ihnen vorzuführen, habe ich mir zu meiner heutigen Aufgabe gestellt. Erwarten Sie aber nicht eine Literaturgeschichte

Das religiöse Drama.

85

des religiösen Drama's von mir; noch weniger aber, dass ich bloss von dem, was speziell geistliches Schauspiel heissen kann, reden werde. Ich lade Sie einfach ein, dem Faden meines Gedankenganges zu folgen und es sich gefallen zu lassen, welche Beispiele aus der Geschichte ich zu dessen Veranschaulichung wähle. Das Drama, diese höchste und schwerste Kunstform der Dichtung, stellt weder bloss äusseres Geschehen, noch bloss innere Seelenvorgänge dar, sondern Handlungen, Handlungen als Aeusscrungen allerdings inneren Lebens, das aber sich auch nach aussen in einem Zwecke verwirklichen will. Der Handelnde tritt in Wechselbeziehung zu andern handelnden Persönlichkeiten und damit schon unter den Gegensatz von Thun und Leiden, Wirkung ausüben und Gegenwirkung erfahren. Die einzelnen Handlungen werden bedingt durch die in dem Handelnden wachgerufenen Seelenmächte und die ihnen zu Gebote stehenden Kräfte in ihrer Beziehung auf die jeweiligen äussern Umstände. Im Verlauf der Handlungen oifenbart sich zugleich der innere Seelenverlauf der handelnden Personen, ihr Charakter, ihre Leidenschaften, ihre Zwecke. Der ganze Gang der Handlung aber und ihr letztes Ergcbniss ist nicht bloss Wirkung der Handelnden, sondern zugleich ein über sie ergehendes Schicksal, zu dem alle Faktoren, sowohl in als ausser ihnen, zusammenwirken. Der Konflikt nun zwischen dem freien Willen und dem Schicksal, wie er sich schürzt und löst, das ist der allgemeine Gegenstand des Drama's und darum sein höchster Vorwurf das t r a g i s c h e L e i d e n : die Bewahrung der innern Freiheit im äussern Unterliegen, worin aber zugleich sich das Walten einer höhern Macht offenbart, deren Gerechtigkeit anzuerkennen auch für den Unterliegenden eine Versöhnung mit dem Schicksal in sich schliesst. Was ist nun aber das Schicksal? Ist es bloss ein im äussern Gang der Dinge spielender Zufall? Ist es bloss die Gesetzmässigkeit in der Wechselwirkung der natürlichen Faktoren bei einer Handlung? Ist es eine höhere Macht hinter denselben? Ist diese höhere Macht ein dunkler Urgrund, der alles Geschehen unerforschlich bedingt? Oder ist sie ein vernünftiges Urgesetz, das

86

Das religiöse Drama.

nicht bloss mit dunkler, sondern mit vernünftiger Notwendigkeit alles äussere Geschehen und alles menschliche Wollen zugleich umfasst, jenes als ein Müssen, dieses als ein Sollen, und das beide mit einander innerlich verknüpft, so dass der vernünftige Geist seine Freiheit gerade in der freien Unterwerfung unter die Vernunft und Gerechtigkeit desselben findet? — Mit Einem Wort: äussert sich im Schicksal in letzter Instanz nicht der Urgrund alles Seins, die Gottheit? Das sind alles Fragen an das Schicksal; und darum stellt sich die Schicksalsfrage, deren künstlerische Lösung die eigentliche Aufgabe des Drama's ausmacht, je weiter zurück sie verfolgt wird, um so offener als die religiöse Frage nach dem Verhältniss des Menschen zu Gott heraus. So ist der innerste Kern des D r a m a ' s religiöser Natur. Auf der andern Seite ist die Religion ein Geistesprozess, der wesentlich in der Form eines dramatischen Vorganges verläuft. Was auch ein jeder über die objektive Wahrheit einer bestimmten Religion urtheilen mag, über die Vorstellung, in deren Form sie sich vollzieht, über die Gefühle, die ihren Inhalt bilden, über das Handeln, das sie hervorruft: sie selbst in ihrer lebendigen unmittelbaren Wirklichkeit als Vorgang im Menschen ist ein innerer Wechselverkehr zwischen dem Ich des Menschen und seiner Gottheit, Rede und Gegenrede, Du auf Du unwillkürlich selbst bei der abstraktesten Gottesvorstellung, Wirkung und Gegenwirkung, wobei der Mensch diese letztere aufnimmt als den sich ihm kundgebenden göttlichen Willen, dem er seinen Eigenwillen entweder entgegenstemmt oder unterwirft — sei's widerwillig, sei's ergeben —, oder mit dem er Bich zu freier Gemeinschaft einigt. Die Religion ist ein d r a m a t i s c h e r Vorgang im Menschen. Endlich ist auch der Zweck der Religion und des Drama's — von jedem an seinem Ort, vom Drama für die Kunstanschauung, von der Religion unmittelbar für's innere Leben — ein und derselbe. Aus dem tragischen Konflikt zwischen Freiheit und Schicksal eine höhere Versöhnung hervorgehen zu lassen, ist das Ziel des Drama's, und darum sein Zweck, durch diese Darstellung eine Reinigung unserer natürlichen Seelenstimmung und damit die Stimmung der Versöhnung in uns hervorzurufen. Das

Das religiöse Drama.

87

Ziel aber, das der Mensch mit all seiner Religion anstrebt, ist in letzter Instanz ja auch immer Versöhnung, Erhebung ans dem Zwiespalt des endlichen Daseins heraus, worin immer dieser mag empfunden und was immer unter der Erhebung mag verstanden werden. So ist das Grundproblem des Drama's ein religiöses, die Form des religiösen Prozesses eine d r a m a t i s c h e , und der Zweck von beiden, Religion und Drama, derselbe: Versöhnung: — in diesem innern Zusammenhang hat das religiöse Drama seine natürliche Begründung. Wie es nun aber seinen religiösen Inhalt zu künstlerischer Darstellung bringe, das hängt von der Vorstellungswelt einer bestimmten Religion ab und von der Stellung, welche das allgemeine Zeitbewusstsein, dessen Luft der Dichter athmet, zu derselben einnimmt. Verehrt der religiöse Glaube Gottheiten als persönlich ideale Gegenbilder des Menschen, so kann das Drama geradezu religiöse Prozesse, die in Wahrheit im Innern des menschlichen Geisteslebens vorgehen, als dramatische Handlung zwischen Göttern und Menschen, zwischen Himmel und Erde zur Darstellung bringen. Auf diesem Boden ist es denn auch natürlich, dass das Drama seinen Ursprung als Eunstdichtung geradezu in religiösen Eultusakten hat und erst allmälig in selbständiger Ausbildung sich von diesem unmittelbaren Zusammenhang loslöst, ohne ihn jedoch ganz aufzugeben. Es ist Ihnen bekannt, wie das griechische Drama auf diesem Wege entstanden ist. In der Form wirklicher Handlungen zwischen Göttern und Menschen, vorgeführt auf dem Hintergrund einer idealen Heroenwelt, in welcher Götter und Menschen auf Einem Boden verkehren, werden innere Prozesse und Eonflikte des religiösen Lebens zum dramatischen Austrag gebracht. Wenn sich aber einmal die Naivetät der mythologischen Göttervorstellung an ihrem innern Widerspruche zu brechen beginnt, dass es ja doch nur endliche Gestalten sind, während sie unendliche Mächte repräsentiren sollen, und wenn darum ein sinnender Dichter den übernatürlichen, von aussen mit dem Menschen ringenden Schicksalswillen der Götter hereinzieht als inneres

88

Das religiöse Drama.

Gesetz in den natürlichen Weltlauf: dann hört das unmittelbar religiöse Drama auf; es werden nicht mehr die religiösen Vorgänge selbst, der Wechselverkehr des Menschen mit der Gottheit, mythologisch in Scene gesetzt, sondern nur der Inhalt des menschlichen Gottesbewusstscins wird neben andern psychologischen Motiven als natürlicher Hebel der dramatischen Handlung verwendet. Wenn nun der Dichter dabei noch ein altväterlich gläubiges Gemüth ist, in dem sich die wunderbare Elastizität und Zähigkeit der religiösen Vorstellung bewährt, dass sie die sinnliche Anschauung festhält neben dem, dass ihr eigentlicher Inhalt bereits geistig erfasst ist: dann bleibt dem Dichter hinter dem natürlichen, vom göttlichen Walten innerlich durchdrungenen Weltgang doch immer noch im Hintergrunde die jenseitige Götterwelt stehen; allein irgendwo muss dann in der Lösung der religiösen Schicksalsfrage der Widerspruch doch zu Tage treten zwischen dem Uebernatürlichen hinter und dem Natürlichen im Verlaufe des Drama's, die doch beide dasselbe darstellen sollen. Ist dagegen der Dichter, obwohl conventionell noch auf mythologischen Stoff angewesen, ein Kind des aufklärenden Verstandes: dann wird er schwer der Versuchung widerstehen, seine Aufklärungstendenz — wie berechtigt auch an sich — am unrechten Ort und in verkehrter Art auszulassen; er wird den religiösen Inhalt in seinen mythologischen Stoffen einfach verflüchtigen, statt denselben positiv geistig in den natürlichen Schicksalsgang einzubilden. Erhebt aber endlich keinerlei mythologischer Glaube mehr einen Anspruch an den Dichter, dann wird dieser neben dem, dass er religiöse Motive in seinen Personen natürlich wirken lässt, wo es am Platz ist — neben dem wird er das religiöse Grundproblem des Drama's, das Walten ewiger Gesetze über die Willkür des menschlichen Handelns, in sogenannten weltlichen Dramen zur Darstellung bringen, und zwar, je nach der Tiefe oder der Oberflächlichkeit, nach der Energie oder der Schlaffheit seines eigenen Glanbens, mit einer ächten, oder einer nur äusserlichen

Das religiöse Drama.

89

Versöhnung; oder er lässt seinen eigenen Weltschmerz kokettirend austönen in recht schreienden Dissonanzen des Schicksals. In den drei grossen griechischen Tragikern tritt uns das angedeutete dreifache Verhältniss des Drama's zur Religion bei mythologischer Form desselben ganz besonders deutlich entgegen, so nahe auch diese drei Dichter der Zeit nach aufeinander gefolgt sind. Knüpft sich doch das Andenken aller drei an den grossen Tag von Salamis an: Aeschylos focht unter den Kämpfern der Freiheitsschlacht; Sophokles führte den Reigen der siegfeiernden Jünglinge, und E u r i p i d e s soll an diesem Tage geboren sein. Aeschylos hat religiöse Tragödien im eigentlichen und unmittelbaren Sinne des Wortes geschaffen, Tragödien, welche die tiefsten Probleme des religiösen Lebens zu tragischen Handlungen zwischen Göttern und Menschen verkörpern. Sein Prometheus ist das grossartigste und tiefsinnigste religiöse Drama, das im Rahmen der griechischen Gottesanschauung möglich war. Es ist uns nur das mittlere der drei Stücke, welche die Trilogie des Prometheus bildeten, der g e f e s s e l t e P r o m e t h e u s , erhalten. Allein die Idee des Ganzen, vor allem die Idee der Lösung, liegt uns schon darin erkennbar genug vor. In dem grossen Kampfe zwischen dem alten und dem neuen Göttergeschlecht, den Urgewalten und den jetzt herrschenden Weltmächten, hat der Titane Prometheus, den Sieg der letzteren voraussehend, sich auf die Seite des Zeus gestellt. Als er dann aber nachher des armen, von Zeus zum Verkommen bestimmten Menschengeschlechtes sich angenommen und ihm einen Funken des göttlichen Feuers gebracht hatte, durch das erst der Mensch sich aus der Thierheit zur Gesittung erhebt, da traf ihn der Zorn des neuen Gewaltherrschers. Zur endlosen Strafe für diesen Frevel soll er an einen Felsen am Saume des Erdkreises geschmiedet werden. — Mit dieser Scene beginnt das Stück. K r a f t und Gewalt, die Knechte des Zeus, führen den gefesselten Prometheus herbei. Der Gott Hephaistos beklagt, während er den Befehl vollziehen muss, sein Geschick; Prometheus selbst aber duldet es wortlos. Bis an's Ende des Stückes, wo der Blitz des Zeus ihn in den Abgrund schmettert, ist er regungslos an-

90

Das religiöse Drama.

geschmiedet — und doch hat noch nie eine Tragödie drastischer einen Helden von unzerstörbarer Willensfreiheit vor Augen geführt. Der Chor der Okeaniden kommt zagend herbei und bejammert sein Loos; desgleichen nachher Okeanos selbst. Sie erfragen von ihm, wofür er also bUsse, und reden ihm zu, sich vor Zeus zu beugen. Er aber rühmt sich in stolzem reuelosem Selbstgefühl seines Frevels: Weil den Menschen ich Heil gebracht, Darum trag ich qualvoll dieses Leid.

J o , ein anderes Opfer der Götterwillkür, zu ihm, dem Angefesselten, das Gegenbild rastlos umgetriebener Wahnsinnsangst, stürmt auf die Bühne. Prometheus verkündet ihr ihre Zukunft und seiner eigenen Qual noch unendlich längere Dauer; denn erst, nachdem sie endlich Buhe gefunden, wird ein später Enkel aus ihrem Geschlecht ihn von dem Adler des Zeus befreien, der künftig, wenn er trotzig beharrt, seine Qualen täglich noch vermehren wird. Und auch dann wird er das Ende seiner Pein erst schauen, wenn ein Gott als Stellvertreter seiner Qual erscheint, freiwillig bereit, für ihn in des Hades düstres Haus hinabzugehen. Aber trotz alledem beugt Prometheus sich nicht. Wohl hat Zeus jetzt die Macht, er selbst aber dennoch des Zeus Schicksal in seinen Händen. Denn es droht dem Zeus durch eigene Schuld das Verderben: wie er seinen Vater durch Gewalt gestürzt, so wird auch ihn einst ein Sohn, stärker als er, entthronen. Und Prometheus schaut diesen Rathschluss des gerechten ewigen Weltgangs voraus. Aber dies Geheimniss lägst er sich durch keine unrechtmässige Gewalt abzwingen. Der Kronide muss selbst sich herbeilassen, sich erst mit ihm zu versöhnen und ihn seiner Bande zu entledigen; bis dahin beugt Prometheus sich nicht. Hab' ich nicht zwei Herrscher schon aus dieser Höhe stürzen sehn! Den dritten, der jetzt waltet, seh' ich ihnen nach Alsbald und schmachvoll stürzen. Dünkt dir gar etwa, D i e Götter fürcht' ich, beuge mich vor Neulingen!

Darum bewahrt er auch dem Götterboten Hermes gegenüber, „des neuen Herrschers übermüth'gem Knecht", der zuletzt erscheint, um ihn durch Drohung mürbe zu machen, seinen unbeugsamen Trotz:

Das religiöse Drama.

91

In den Tartarus stürze hinab meinen Leib, Von des Schicksals wirbelndem Strudel entrafft: Doch vernichten wird er mich nimmer!

Dass Prometheus der Menschengeist selbst ist mit seiner D e n k k r a f t , um die ewige sittliche Weltordnung zu erfassen, und mit seiner W i l l e n s k r a f t , um sich durch nichts von aussen zwingen zu lassen, — das liegt auf der Hand. Aber weiter? Der Menschengeist in welchem Gebrauche von Vernunft und Freiheit? Etwa, wie er sich vermessen und frevelhaft wider Gott empört und, wenn er sich nicht demüthigt, in seinem Trotz zur Hölle fährt: kurz, der Menschengeist in gottentfremdeter Selbstvergötterung? Diese Auffassung, so nahe liegend der Schein ist, liefe dem Dichter ganz zuwider und wäre in seinem Sinn nicht eine fromme, sondern nur eine frömmelnde. D e r Zeus, vor welchem Prometheus sich nicht beugt, ist nicht, was sonst Zeus dem griechischen Glauben, auch dem Aeschylos war, der verehrungswürdige höchste Repräsentant der sittlichen Ordnung; es ist vielmehr hier nur ein durch Gewaltthat zur Oberherrschaft gelangter Tyrann: Neue Herren sind im Olymp am Ruder; Neuem Gesetz gemäss "regiert ohne Gesetze Zeus jetzt.

Er hat von Gott nur die Macht, nicht das heilige Wesen, das mit dem ewig Guten und der Gerechtigkeit Eins ist. Vor einem solchen Gott aber sich zu beugen, ist feige Devotion, nicht Frömmigkeit. Prometheus' Frevel ist kein anderer, als der Wohlthäter der Menschen gewesen zu sein. Den aber bereut er nicht und hat ihn nicht zu bereuen: Gern, gern gefrevelt hab' ich; gern, ich läugn' es nicht, Zum Heil der Menschen dieses Leid mir selbst erzeugt.

Er trägt seine Qual im Bewusstsein der Siegeskraft unerschütterlichen Märtyrermuthes. Dem Gott, der wider Recht Gewalt geübt, droht wieder Untergang durch Gewalt: das ist ewig sittliche Ordnung. Aber ein solcher Gott ist noch nicht wahrer Gott. Erst wenn er selbst Recht für Recht erkennt, wenn er mit dem Geiste, der unerschütterlich fest an diesem Rechte hält, sich versöhnt, wird er mit sich selbst versöhnt: dann erst ist er auch

92

Das religiöse Drama.

w a h r e r Gott, höchste Macht und Vernunft zugleich, und hierin ruht in letzter Instanz alle Versöhnung. Und darum, weil die einzelnen griechischen Göttergestalten doch nur einzelne Momente der Einen Gottesidee darstellen, das Eine reine Licht in vielfachem, gebrochenem, farbigem Licht, — nur darum hat der Dichter die verschiedenen Momente im ganzen Prozess der Versöhnung an verschiedene göttliche Personen vertheilen müssen und hat sie nicht als Einen Prozess, der von der göttlichen Liebe als ihrem Urgunde ausgeht, in einer Liebeeinigung des Menschen mit ihr sich vollzieht und im Sieg einer von göttlicher und menschlicher Seite vollbewährten Liebe sich abschliesst, fassen und darstellen können, sondern nur als einen Prozess, der die Gewalt durch das Recht überwindet. Das ist der Unterschied noch zwischen griechischer und christlicher Idee der Versöhnung. Aber in der griechischen Form hat der Tiefsinn des Dichters das Problem der Versöhnung doch in seinem innersten Nerv getroffen, indem er den Knoten der Versöhnung in der unendlichen F r e i h e i t s k r a f t des Geistes, die göttlich und menschlich zugleich ist, geschürzt hat. Sophokles stellte das Drama zunächst ganz auf den menschlichen Boden. Was auch von jenseitigem Götterwillen verhängt sein mag, es vollzieht sich doch so, dass die Personen aus ihrem eigenen Charakter heraus in den Schicksalsschluss eintreten und so mit Freiheit und darum als eigene Schuld vollbringen, was zugleich göttliches Verhängniss ist. Hierin gerade beruht des Dichters Meisterschaft vor seinem Vorgänger und seinem Nachfolger. Allein Sophokles ist zugleich ein altväterlich gläubiges Gemüth: die Götter gelten ihm doch noch als reale Wesen hinter dem natürlich-sittlichen Weltgang auf der Bühne des wirklichen Lebens. Und eben darum kann es bei ihm — so sehr er sonst der Dichter der Harmonie und des Gleichmaasses ist — zu einer wahren Versöhnung im Schicksal des Menschen zwischen Freiheit und Götterwillen nicht kommen und als Letztes bleibt nur die fromme E r g e b u n g des armen Menschen unter die Obmacht des letztern. Bevor Oedipus geboren ist, hat ein Götterspruch über ihn

Das religiöse Drama.

93

verhängt, dass er der Mörder seines Vaters, der Gatte seiner Mutter werden soll. Am Eingang des ersten Stückes, das die Oedipussage behandelt, im König Oedipus, stehn wir da, wo dies Alles sich schon längst unwissentlich erfüllt hat und der Götterzorn wegen des ungesühnten Frevels schwer auf dem Land ruht. Das Stück entwickelt sich rückwärts: Schritt um Schritt lüftet das Forschen des unwissentlichen Thäters nach dem unbekannten Frevel den Schleier, der das Schreckliche birgt. Mit bewunderungswürdiger Kunst weiss der Dichter die. allerdings übernatürliche Verblendung, mit der dem Oedipus in der steigenden Hast seines Forschens immer zuletzt aufgeht, was jedem andern Auge sich schon schrecklich enthüllt hat, doch wieder psychologisch natürlich zu begründen, und zwar so, dass darin sich gerade ein solcher Charakter zeichnet, bei dem es ebenfalls psychologisch begreiflich wird, wie ein solcher das Orakel, obgleich er es wusste und indem er es vermeiden wollte und vermieden zu haben meinte, doch gerade erfüllen konnte, — kurz, wie das Götterverhängniss sich doch zugleich wieder natürlich durch ihn selber vollzogen hat. Aber ein Götterverhängniss, vorher bestimmt, bleibt das Schicksal des Oedipus eben doch; dem gegenüber bleibt, trotz aller Kunst der natürlichen Vermittlung, die Freiheit des Helden illusorisch. So ist nach rückwärts, in der Frage nach dem letzten Grunde, kein wahrer Einheitspunkt der Versöhnung von Schicksal und Freiheit; und darum auch nach vorwärts, in der Frage nach dem Endziele, nicht. Wie endlich der letzte Schleier fällt und dem immer fieberhafter nach voller Aufklärung bohrenden Oedipus das ganze Licht aufgeht, dass er das Orakel gegen sein Wollen und Wissen in allen Punkten erfüllt hat, da bohrt er sich selbst das Augenlicht aus und verbannt sich aus dem Lande, das solchen Frevels unschuldig schuldigen Thäter nicht dulden kann. So nimmt er allerdings die Schuld auf sich und sühnt sie mit seiner Person. Allein bei der tragischen Ironie, dass der weise Oedipus, der das Räthsel der Sphinx, das Käthsel des Menschen, gelöst hat, sich so in das furchtbarste Räthsel seines eigenen Lebens blind hat verstricken müssen, bleibt dem Zuschauer keine andere Versöhnung als die, womit auch der Chor schliesst:

94

Das religiöse Drama. Drum der Erdensöhne keinen, welcher noch auf jenen Tag Harrt, den letzten seines Lebens, preise du vorher beglückt, Eh' er drang an's Ziel des Lebens, ohne dass ein Leid ihn traf.

Der Unterschied zwischen Aeschylos und Sophokles in der Behandlung des Religiösen tritt uns ganz besonders deutlich entgegen aus der Vergleichung der zwei Stücke, welche beide der Verherrlichung Athens als eines Hortes des Gottesfriedens gewidmet sind: der Eumeniden des Aeschylos und des Oedipus auf Kolonos des Sophokles. Bei Aeschylos erscheinen die Erinnyen, die grausen Töchter der Urnacht, die Rachegeister menschlichen Frevels, selbst auf der Bühne. Sie haben den Muttermörder Orest bis in das Heiligthum des Apollon verfolgt. Hier aber sind sie eingeschlafen; denn der Gott hat selbst dem Orestes geboten, an der Mutter die Mörderin ihres Gatten zu strafen; darum hat er ihn auch für seine That entsühnt. Aber der Muttermord lastet darum doch noch auf Orest: die Erinnyen erwachen und verfolgen ihn wild aufs Neue. Da soll der von den Göttern selbst eingesetzte oberste Gerichtshof Athens, der Areopag, unter der Göttin Athene persönlichem Vorsitz die endgültige Entscheidung fallen. Apoll vertheidigt in Person den Orest, der auf seinen Antrieb gehandelt hat; auf der andern Seite verlangen die Rachegeister ihr Recht an den Frevler. Im Entscheid der Richter fallen gleich viel schwarze und weisse Kugeln; denn Orest ist beides, schuldig und schuldlos. Da giebt Athene ihre Kugel zu den weissen: wo die Waage von Schuld und Unschuld inne steht, da ziemt der Gottheit die Gnade. Die Erinnyen fahren auf; sie verkünden den Untergang der sittlichen Welt, wenn die Menschen fortan von ihnen ungestraft Frevel begehen dürfen. Allein Athene beschwichtigt sie: ihnen soll darum doch das heilige Recht bleiben, menschlichen Frevel zu strafen; aber zum Heile des Landes, das fromm sie scheut und darum von nun an als Eumeniden, als Gnädiggesinnte, verehrt. — Also auch hier wieder die Götter selbst auf dem Plan in dramatischem Konflikt, aus dem schliesslich eine Versöhnung hervorgeht. Bei Sophokles dagegen ist es vorab nicht die Göttin, sondern der König Theseus, der dem elend umirrenden Oedipus

Das religiöse Drama.

95

den Schutz der Stadt gewährt, damit er im Hain der Eumeniden endlich seinen Frieden finden möge. Und allerdings nehmen die Unterirdischen ihn entsühnt von seinen Freveln auf; er selbst aber hinterlässt in unversöhnter Gesinnung seinem Land und den Seinen, die ihn wieder für sich hatten gewinnen wollen, den Fluch. Wohl thaten sie es nur aus Selbstsucht; darum erben sie den Fluch mit Recht. Aber mit ihnen selbst wird der Fluch auch des Oedipus schuldlose Töchter mit ins Verderben hinabziehen. Auch hier liegt die Versöhnung wieder nur in der wehmuthsvollen Ergebung in die Vergänglichkeit alles Menschlichen gegenüber den Göttern: Nie geboren zu sein, ist der Wünsche grösster, Und wenn du lebst, ist der andre: Schnell dahin wieder zu gehn, wo du herkamst.

In dem nur um Weniges jüngern E u r i p i d e s endlich spiegelt sich schon die volle Auflösung der griechischen Religion. Sophokles hatte der in ihrer Herzensangst geradezu leichtfertig nach Beschwichtigungsgründen suchenden J o k a s t e , des Oedipus Mutter und Gattin, Zweifel an den Vorhersagungen der Seher zu äussern gestattet; den pythischen Gott Belbst tastet er nicht an. Ihm sind die Götter noch reale Wesen hinter dem natürlichen Weltgang. E u r i p i d e s dagegen glaubt nicht mehr an diese persönlichen Götter; die Philosophie hat sie ihm in physikalische Begriffe aufgelöst. Seine Stoffe muss er zwar konventionell noch aus der von den Göttern durchzogenen Heroenwelt nehmen; allein er beutet sie — und das ist seine Stärke — nur nach der menschlichen Seite aus, dass sie ihm interessante psychologische Probleme, ungewöhnliche Verwicklungen, kolossale, widernatürliche Leidenschaften und Verbrechen liefern, pikante Skandalgerüchte für den Geschmack seiner Zeit, der in ihrer natürlichen Entwicklung zum Untergange begriffenen reinen Demokratie Athens. An die Stelle religiösen Glaubens tritt bei ihm — wie zu all solchen Zeiten — ein Schwall moralischer Sentenzen, und wo er noch Religiöses einflicht, da geschieht es lahm genug, so dass man wohl fühlt, wie wenig sein eigener Glaube mehr dabei ist. Denn es ist j a doch nur ein entstellter Ueberrest, gerade nur der

96

Das religiöse Drama.

ungeistige Bodensatz der Übernatürlichen Götteranschauung, wenn er in verzwickten Verwicklungen, in die er seine Personen gebracht hat, am Ende einen Deus ex machina erscheinen lässt, um den Knoten glücklich zu lösen. Ja, der Kitzel der Aufklärung lässt ihn die Objektivität des dramatischen Dichters, nirgends in eigner Person, sondern überall nur aus der Natur seiner handelnden Personen heraus zu reden, soweit vergessen, dass er gelegentlich Personen, im Augenblick wo sie Götter anrufen, den Zweifel an der Existenz dieser Götter in den Mund legen kann. — Das religiöse Problem in der Schicksalsfrage, das Aeschylos so grossartig in mythologischer Form gelöst, das Sophokles in fromme Resignation begraben hatte, — Euripides lässt es unberührt liegen. Doch die Auflösung der griechischen Religion, im Geiste des E u r i p i d e s , musste ihren Gang fortgehen bis an ihr Ende; darum blieb auch E u r i p i d e s , trotzdem sein grosser Zeitgenosse A r i s t o p h a n e s allen Hohn des ächten Dichtergenie's und allen Zorn des alt-gesinnten Patrioten über ihn ausgegossen hatte, doch von den drei grossen Tragikern der erklärte Liebling der sinkenden Nation. Und weiter im Gewand euripideischer Verse tritt uns ein neues Drama entgegen, welches zum ersten Mal den Gegenstand des n e u e n G l a u b e n s , der mittlerweile die Welt erobert hatte, zum Gegenstand dramatischer Darstellung machte. In einer Handlung, welche nicht bloss über die Bretter, die die Welt bedeuten, gegangen war, sondern die auf dem Schauplatz der wirklichen Geschichte in Leiden das Grösste vollbracht hatte, war für die Idee der Versöhnung eine neue Lösung aufgegangen, nicht als dichterische Anschauung, sondern als Lebensoffenbarung. Dass am Kreuz auf Golgatha in der unendlichen Liebekraft eines auch im Verbrechertod seine Gottesgemeinschaft bewährenden Menschen der wahre Sieg über die Welt und damit der Quell wirklicher Versöhnung sich aufgeschlossen, — dies ist doch der Kern jeder Antwort, welche der denkende Geist auf die Frage nach der Bedeutung der Geschichte J e s u C h r i s t i sich geben muss, wie verschieden auch die Antworten auf die andere Frage nach dem geschichtlichen Verlauf jener grössten religiösen That ausfallen

Das religiöse Drama.

97

mögen. Das Weitere aber liegt als geschichtliche Thatsache vor uns: dass in der Anschauung des Glaubens jene Begebenheit bald zu einem vollständigen religiösen W e l t d r a m a geworden ist, welches Himmel und Erde, den Weltgang von seinem Anfang im göttlichen ßathschluss bis zu seiner Vollendung umspannt und seinen Mittelpunkt in dem freiwilligen Opfertod eines Gottmenschen zur Versöhnung der Welt hat. Darum gab es sich auch von selbst, als das Christenthum sich einmal im Erbe der alten Welt festgesetzt hatte und auch das anfangs verworfene Erbe ihrer Kunst wieder anzubauen begann, dass die Dichtung dann gleich ins Centrum hineingriff und Jesum Christum selbst zum Gegenstand des christlichen Drama's wählte. Und wie die christlichen Kirchen mit Säulen antiker Tempel sich schmückten, die christliche Glaubenslehre Ideen der griechischen Philosophie zu ihrem Ausbau verwandte: so trat auch das erste christliche Drama in Versen der antiken Tragödie auf. Im 4. Jahrhundert, zur Zeit ala Kaiser Julian der Abtrünnige den Christen verbot, die heidnischen Klassiker in ihren Schulen auszulegen, da schrieb ein christlicher Dichter das erste christliche Drama: der leidende Christus, zu dem er einen Drittheil der Verse dem Euripides entlehnte. Das Alterthum nannte keinen geringem als den grossen Kirchenlehrer Gregor von Nazianz als dessen Verfasser. — Die Hauptperson des Stücks ist die Mutter des Herrn; den Chor bilden die sie begleitenden Frauen. Die Handlung selbst, die mit Tagesanbruch des Charfreitags beginnt, geht fast ganz hinter der Scene vor, indem sie durch Boten von steigender Bedeutung berichtet wird, Gefangennehmung, Verurtheilung und endlich Vollziehung des Urtheils. Auf der Scene selbst reflektirt sich die Handlung in den Betrachtungen der Maria über das Schicksal ihres gottmenschlichen Sohnes. Unvermittelt wechseln darin natürlich mütterliches Schmerzgefühl, halb antike Schicksalsanklage und wieder übernatürliches Herrlichkeitsbewusstsein. Dies ist aber der ganz entsprechende Ausdruck für den religiösen Charakter des Stücks: neben dem natürlich Menschlichen der tragischen Handlung geht — wie auf alten Bildern Zeddel aus dem Munde der Personen sagen, was sie darB i e d e r m a n n , Vortrüge and Aufsätze.

7

98

Das religiöse Drama.

stellen, — die tibernatürliche göttliche Bedeutung äusserlich nebenher in den dogmatischen Ausfuhrungen, welche Maria an die einzelnen Vorgänge der Leidensgeschichte anknüpft: Uber das Wunder ihrer Jungfräulichkeit als Gottesgebärerin, über die ewige Gnade, über Adams Fall und die von ihm vererbte Schuld des ganzen Geschlechtes, über die Menschwerdung Gottes zur Vollbringung der Versöhnung und auch — während der Sabbatruhe im Grab — über die Höllenfahrt und die jenseitige Siegesfeier Christi, die schliesslich in der Auferstehung auch im Diesseits sich offenbart. Das ganze Stück ist steif und unbeholfen, wie die altbyzantinischen Bilder: wahre Naturlaute, tief religiöse Gedanken neben unnatürlichem Bombast und übernatürlichem Dogma. Das Menschlich-Wahre und das Göttliche gehen noch in ganz äusserlicher Weise neben einander her, während die Anschauung eines Gottmenschen doch gerade darauf verweist, nicht bloss in einer wunderbaren übernatürlichen V e r b i n d u n g , sondern in einer in der Tiefe des menschlichen Geistes sich aufschliessenden E i n h e i t den Kern der Versöhnung zu suchen. Doch die Kirche des M i t t e l a l t e r s hat den Schatz der christlichen Versöhnungsoffenbarung vorerst gerade nach der entgegengesetzten Seite, der Ubernatürlichen Anschauung, ausgebildet und den Völkern, die unter ihre Erziehung traten, eingeprägt, und diese brachten ihrerseits willfährig in derber, naturwüchsiger Sinnlichkeit ihre heidnische Mythologie dazu mit. Das gab dem geistlichen Schauspiel des Mittelalters seinen Charakter. Die Kirche selbst war die Schöpferin desselben. War doch der Mittelpunkt des Kultus, die Messe, selbst schon eine fast dramatische nicht bloss Gedächtniss-, sondern zugleich Wiederholungsfeier des heiligen Erlösungsdrama's auf Golgatha. So ging die Entwicklung des christlichen Schauspiels ebenso natürlich vom Gottesdienste der Kirche aus, wie einst vom Dionysoskult die der griechischen Tragödie. — Ich gehe jedoch mit kurzem Wort über die geistlichen Schauspiele des Mittelalters, die sog. M y s t e r i e n und M o r a l i t ä t e n , hinweg, so lockend es wäre, bei diesem reichen Gebiete eigens zu verweilen. Der Grundcharakter ist eine aus

99

Das religiöse Drama.

Christlichem und Heidnischem gemischte Mythologie, in welcher ein tiefinnerlich religiöses, sinniges Wesen und krassester Aberglaube, Ascese und Weltlust, heiliger Ernst und der tollste Spass in kUnstlerisch-roher aber zugleich wieder rtlhrender Naivetät in einander gemischt sind. Diesen Charakter trägt, in vielfachster Variation, das geistliche Schauspiel, so lange der Geist des Mittelalters und seiner Kirche noch volksthümlich herrschte und auch die Dichtung volksthttmlich war. In andern Ländern schlug die Renaissance der Kunstdichtung von vornherein andre Bahnen ein. Einzig in S p a n i e n nahm sie bei dem von der Reformation nur abstossend berührten Geiste der Nation das alte volksthilmliche geistliche Schauspiel auf und erhob es in seinem religiösen Grundcharakter mythologischer Gläubigkeit zur höchsten Blttthe nationaler Kunstpoesie. Es erhielt dadurch, namentlich durch den grössten Dramatiker Spaniens, C a l d e r o n , eine geläuterte Kunstform, Schwung der Phantasie und Glut der Empfindung. Allein die freie Naivetät, die uns unsrerseits das freie Verhältniss poetischer Würdigung auch zur naivsten Mythologisirung religiöser Gedanken erleichtert, ist hier zum devoten und bigotten Fanatismus für eine dogmatisch formulirte katholische Mythologie geworden, welche unwillkürlich zuerst die protestantische Opposition der Vernunft gegen den Inhalt in uns hervorruft, ehe wir uns dem poetischen Eindrucke hingeben können. Die Autös s a c r a m e n t a l e s , wie diese geistlichen Schauspiele heissen, rufen uns zu unmittelbar die Autös da fe in's Gedächtniss, die den in jenen verherrlichten Geist in der furchtbaren Beleuchtung seiner praktischen Wirkungen zeigen. Doch wir gehen mit diesem Einen Wort über das geistliche Schauspiel des Mittelalters hinweg, um nur bei der letzten Gestalt desselben zu verweilen, die noch lebendig in unsre Gegenwart hereinragt nnd, wie das erste christliche Drama, den Mittelpunkt der christlichen Religion, den leidenden Christus,- zum Gegenstand hat. Es ist dies das P a s s i o n s s p i e l in O b e r a m m e r g a u . Im Jahre 1633, als die Pest in den umliegenden Thalschaften wüthete, thaten die Einwohner der Gemeinde O b e r a m m e r g a ü in Oberbayern das Gelübde, „alle 10 Jahre die Leidensgeschichte 7*

100

Das religiöse Drama.

Jesu, des Weltheilandes, zu dankbarer Verehrung und erbaulicher Betrachtung öffentlich vorzustellen." Die Herren des benachbarten Klosters E t t a l besorgten Gedicht, Musik und Herstellung des Theaters, und schon im folgenden Jahr fand die erste Aufführung statt. Das Stück war aber noch im cruden Geschmack der damaligen Zeit. Schon darum und wegen sonstiger Missbräuche entzog die bayerische Aufklärungsregierung 1810 die Erlaubniss zur Aufführung. „Sie sollten sich von ihrem Pfarrer das Leiden Christi predigen lassen; das sei besser, als den Herrgott auf ihrem Theater herumzuschleppen." Auch die Entgegnung, eine schöne Geschichte wirke doch eindringlicher, wenn man sie leibhaft vor sich geschehen sehe, half nichts. Erst eine direkte Verwendung beim König gab den Oberammergauern ihr Spiel wieder, und ein Geistlicher von Ettal, Dr. O t t m a r W e i s s , gestaltete den Text zeitgemäss um. Seit 1820 wird regelmässig alle 10 Jahre „der Passion" abgehalten. So steht es in diesem Jahr wieder bevor. Im Festjahr ist die ganze Thalbewohnerschaft in Thätigkeit für die Aufführung, die im Laufe des Sommers mehrmals und wenn der Zuschaüerdrang zu gross ist, dann je mehrere Tage hinter einander stattfindet. Sie wird mit religiösem Ernst, als Lösung eines heiligen Gelübdes, betrieben. Darum dürfen auch nur Bürger, als die Erben des Gelübdes, thätigen Antheil daran nehmen, und da das Stück an die 600 Personen, jung und alt, erfordert, so wächst die ganze Bevölkerung in dem Spiel auf; die Hauptrollen vererben sich sogar, wo immer möglich, in einzelnen Familien. Wenn die Tage der Aufführung kommen, ruht eine heiter-ernste Feststimmung über dem Thal, in die unwillkürlich auch der fremde Festbesueher versetzt wird, der am Abend vorher eintrifft und bei Christus oder Judas, bei Pilatus oder Kaiaphas sein Quartier sucht. — Morgens um 4 Uhr eröffnet Trommelschlag, Musik und Glockengeläute den festlichen Tag. Um 6 Uhr wird für die Theilnehmer Messe gehalten. Um 8 Uhr verkünden Böllerschüsse den Anfang des Spiels. Den Zuschauerraum für 6000 Personen bilden Reihen von Bretterbänken ohne Lehnen unter freiem Himmel, nur hinten von einigen halbgedeckten Logen abgeschlossen. Hier halten die Zuschauer im Sonnenschein oder

Das religiöse Drama.

101

Regen 8 Stunden lang ans. Ist das Wetter sicher, so wird in der Mitte eine Pause von einer Stunde gemacht; ist es aber zweifelhaft oder schlecht, so wird ununterbrochen fortgespielt, selbst unter rothen Regenschirmen auf der Bahne. Auch diese ist, mit Ausnahme des gedeckten und mit einem Vorhang versehenen Mittelstticks, offen und lässt den Blick auf die waldigen Berge im Hintergrund frei. In jenem Mittelraum werden die lebenden Bilder aufgeführt und gehen die Handlungen vor, die eine besondere Vorbereitung erfordern. Zu beiden Seiten schliessen sich daran schmale Gebäude mit Baikonen, links vom Zuschauer das Haus des Pilatus, rechts das des Hohenpriesters Hannas. Von beiden aus öffnen sich Thorbogen, durch die man in die Gassen von Jerusalem hineinsieht. Links und rechts treten die äussern Häuserreihen derselben vor und bilden die Seitenwände des Prosceniums. Da auf dem Vorhang des Mittelstücks ebenfalls eine Strasse gemalt ist, so repräsentirt der ganze Hintergrund in mannigfaltiger Weise die Stadt Jerusalem als Schauplatz der Vorgänge. Die dramatische Handlung selbst, vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung, zerfällt in drei Abtheilungen. Der Dialog ist in Prosa, schlicht und einfach, möglichst nach dem biblischen Text und in einzelnen Partien naiv populär ausgeführt. Zwischen den einzelnen Handlungen zieht sich nun aber der zweite Theil der Darstellung durch, lebende Bilder im Mittelstück, welche in 28 Vorstellungen zur Einleitung und zum Abschluss der einzelnen Scenen diese selbst, nebst ihren alttestamentlichen Vorbildern vorführen. Diese Bilder und ihren Zusammenhang zu erklären, die Handlung mit frommen Betrachtungen zu begleiten, dient ein Chor von 14 „Schutzgeistern", der sich vom Mittelraum aus schräg in 2 Halbchören aufstellt, Idealgestalten in einer für Männer und Frauen gleichen Phantasiegewandung von lebhaften Farben. Nur während der Kreuzigung erscheint der Chor schwarz. Ein Textbuch für die "Zuschauer enthält die Angabe der lebenden Bilder und die Chorgesänge. Diese sind in einfacher, leicht eingehender Musik gesetzt. Aber Devrient, von dem wir eine äusserst anziehende Schilderung der Aufführung vom Jahr 1850 besitzen, urtheilt, ein tüchtiger Komponist könnte mit einer rechten

102

Das religiöse Drama.

Gestaltung dieser Chorgesänge leicht alle Wirkungen unserer Oratorien übertreffen. Den Eindruck der Handlung beschreiben alle Augenzeugen übereinstimmend als einen nicht nnr durchweg würdigen, sondern auf den Höhepunkten grossartig ergreifenden, dem auch die mitunterlaufenden drolligen Naivetäten, wie das leibhaftige Oberammergau in Jerusalem spielt, keinen Eintrag thun. Auch der skrupulöseste Sinn, der sonst von jeder Darstellung des Heiligen auf dem Theater peinlich berührt wird, stösst sich hier selbst am Kühnsten nicht, z. B. an der Darstellung der Abendmahlsfeier Jesu mit seinen Jüngern. Geisselung, Kreuzigung, Kreuzabnahme werden nach bekannten Meisterwerken mit ergreifender Naturwahrheit und zugleich mit äusserster Zartheit dargestellt. Man fühlt durchgehend, dass den Darstellern ihr Spiel ein wirklicher Gottesdienst und nicht blosses Theaterspiel ist. Der eigentliche, tiefste Grund aber, warum die ganze Handlung auf alle Zuschauer einen solchen reinen, erhebenden Eindruck macht, ist der, dass sie durchweg in schlichter, reiner Menschlichkeit aufgefasst und durchgeführt ist. In dieser schliesst sich die ihr innewohnende religiöse Bedeutung einer heiligen, weltüberwindenden Liebe auf. Darum sinken aber auch, nach übereinstimmendem Zeugniss, die Auferstehungsscenen, die zum Schluss das Uebersinnliche zu sinnlicher Anschauung bringen sollen, von der Höhe dieses rein menschlichen und darum unwiderstehlichen Eindrucks zurück: statt des gediegenen Goldes Rauschgold eines sinnlichen Kultus. Jedes Jahrzehent bringt grössere Schaaren von Schaulustigen zum Passionsspiel von Oberammergau; schon führt die Eisenbahn bis in die Nähe. Wird der Geist unbefangen gläubiger Andacht, dem allein eine solche Aufführung möglich ist, ohne dass sie in's Gegentheil umschlägt, sich noch lange erhalten können? — Und doch, warum sollte nicht auch auf dem Boden der mod e r n e n Bildung ein Drama möglich sein, welches die christliche Lösung des Problems der Versöhnung zur künstlerischen Darstellung brächte? Wohl, aber die Zeit ist noch nicht reif dazu. Da müsste wahre religiöse Bildung nicht bloss im • Abstreifen der Aeusserlichkciten des christlichen Glaubens, sondern auf Grundlage davon auch im positiven Verständniss seines geistigen Inhalts un-

Das religiöse Drama.

103

gleich weiter gefördert und zum Gemeingut aller wirklich Gebildeten geworden sein; da müsste, was jetzt noch Streit von Glauben und Unglauben heisst, weil es um hergebrachte Anschauungsformen des Glaubens geht, schon weit allgemeiner abgeklärt und in wirklich geistigem Verständniss abgethan sein; da müsste nicht mehr so oft, wie jetzt noch, Aberglauben sich den ächten Glauben, nicht mehr so oft plumpe Rohheit sich Aufklärung und Bildung nennen dürfen, bevor eine Behandlung des allerdings höchsten Vorwurfs für ein religiöses Drama, welches den Anforderungen wie der geschichtlichen so der religiösen Wahrheit gleich sehr genügte, überhaupt denkbar wäre, — und auch dann wäre nur der grösste Dichter einer solchen Aufgabe gewachsen. Das bestätigt uns ein grundverfehlter Versuch aus der neuesten Zeit: „Jesus, der Christ, ein Stück für die Volksbühne", von Dulk. Der Verfasser will den idealen Kern der Christusreligion, befreit von seiner in der Bibel gegebenen und von da in's Volksbewusstsein übergegangenen übernatürlichen Fassung, auf dem Boden der natürlichen Wirklichkeit dramatisch darstellen, und zwar so, dass die Entstehung jener übernatürlichen Fassung selbst psychologisch natürlich erscheinen soll. Der Gedanke wäre schon recht; wenn überhaupt je wieder die Dichtung Jesum selbst zum Gegenstand dramatischer Darstellung wählen kann, so muss eine derartige Idee sie beseelen. Allein die Ausführung von Dulk ist kläglich verfehlt. Das äussere Kostüm, die geschichtlichen Zustände der Zeit treu zu schildern, hat der Verfasser sich offenbar Mühe gegeben. Aber um möglichst viele Züge der evangelischen Geschichte natürlich zu verwerthen, greift er wieder zu den verschollensten und zweideutigsten Natürlicherklärungen zurück und setzt so den ganzen Apparat des Essenerbundes hinter den Koulisscn in Bewegung in einer Weise, wie es den gesunden Menschenverstand und die Wissenschaft nicht minder beleidigt, als es ein bibelgläubiges Gemüth empören wird. Theilweise mit Geschick, theilweise freilich völlig kritik- und gedankenlos verwendet der Verfasser die Reden Jesu in allen vier Evangelien in ziemlicher Vollständigkeit wörtlich. Aber man kann kaum glauben, dass er dabei nicht selbst sollte gefühlt haben, wie himmelweit davon

104

Das religiöse Drama.

Geist und Ton alles dessen absticht, was er dazu aus seinem Eigenen Jesu in den Mund, legt, dass er überhaupt nicht gefühlt haben sollte, wie absolut unzulänglich seine Kraft für den hohen Gegenstand war, an den er sich gewagt hat, gerade wenn er dies ohne frivole Absicht gethan. Mit unzureichenden Mitteln sich an eine hohe künstlerische Aufgabe zu wagen, ist aber schon rein vom ästhetischen Standpunkt aus eine Leichtfertigkeit. Die Geschichte Jesu nicht bloss leidlich würdig und in dieser Hinsicht wenigstens unanstössig, sondern in ihrer vollen Würde und Bedeutung in ein Drama zu fassen, das würde einen Dichter erfordern, der mit der genialsten dichterischen Intuition und Gestaltungskraft zugleich den umfassendsten Geschichtssinn und den tiefsten geläutertsten religiösen Geist verbände. Aber wäre auch dieser Dichter da: — wie gesagt — die Zeit wäre noch nicht reif für seine Dichtung. Unsere Zeit hat die Unbefangenheit des alten Glaubens nicht mehr, und die höhere Unbefangenheit freier geistiger Einsicht noch nicht, — wie viel Einzelne auch für ihre eigene Person sich noch der einen, oder schon der andern mögen rühmen können.

y. Ferdinand Christian Baur, geb. den 21. Januar 1792, gest. den 2. Dezember 1860.

I. Es ist zunächst eine einfache Pflicht der Dankbarkeit, wenn wir das Andenken des grossen Mannes, den jüngst der Tod der theologischen Wissenschaft entrissen hat, zwar schon auf der Neige der Jahre, aber noch mitten -aus der Vollkraft geistiger Arbeit, auch in diesen Blättern dadurch feiern, dass wir den Lesern derselben sein Bild vorzuführen versuchen. Wir glauben aber auch damit Etwas zu thun, was ganz besonders in der Aufgabe der Zeitstimmen liegt. Diese bekennen sich zu demjenigen Standpunkt in der theologischen Wissenschaft, der den Grundsatz freier Forschung ungeschmälert in Anspruch nimmt und nur in der ungefälschten Durchführung dieses Grundsatzes eine gesunde, acht protestantische Theologie anerkennt. Welche Früchte für die Auffassung und Gestaltung des religiösen Lebens eine auf diesem Standpunkt stehende Wissenschaft reife, wollen die Zeitstimmen auch dem weitern Kreis Solcher vermitteln helfen, die, ohne selbst den wissenschaftlichen Beruf zu haben, in ihrem Bedürfniss nicht bloss nach religiöser Erbauung, sondern auch nach religiöser Belehrung entweder nur einer solchen Theologie noch ein Vertrauen entgegenbringen können, das sie für den blossen Autoritätsglauben verloren haben, oder die wenigstens auch diese Richtung an ihren Früchten wollen kennen und beurtheilen lernen. Für

106

Ferdinand Christian Baur.

diesen Standpunkt freier protestantischer Theologie — in wie verschiedenartigen Richtungen derselbe, der Natur der Freiheit gemäss, auch auseinandergeht — ist nun aber, ohne irgend einem Andern zu nahe zu treten, B a u r der verdienstvollste und hervorragendste Vertreter unter dem gegenwärtigen Theologengeschlecht seit Schleiermacher gewesen. Er ist es nicht bloss durch seine umfassende Gelehrsamkeit, durch die Menge seiner wissenschaftlichen Arbeiten, durch die tiefgreifenden, umgestaltenden Resultate seiner Forschungen; er ist es vor Allem auch als wissenschaftlicher Charakter von gediegenem Gold, als vorleuchtendes Musterbild eines ächten freien Theologen. Als diesen möchten wir unsern Lesern sein Bild vorführen, schlicht, wie er selbst war. Es ist uns hier weniger um das Bild seines äussern Lebens zu thun. Dieses verlief überhaupt sehr einfach. Die nöthigen Notizen darüber entnehmen wir mit Dank dem von kundigster Hand entworfenen Nekrolog im „Schwäbischen Merkur". Wir möchten vielmehr nur in den Hauptzügen das Bild seiner theologischen Persönlichkeit vorführen, wie dieses aus seinen Werken uns entgegentritt und in seinem Wirken sich ausgeprägt hat. Bei ihm war, wie bei Wenigen, Leben und Geistesarbeit Eins, und wir verstehen unter dieser nicht bloss gelehrte Forschung, sondern Geistesarbeit im umfassenden Sinn des Wortes. Die Früchte derselben waren nicht bloss die zahlreichen Werke, die ihm den Namen eines Gelehrten ersten Ranges sichern; die schönste und reifste war er selbst, sein Charakter, „ebenso reich an Gehalt, als einfach in der Form". Ein blosser Panegyrikus aber wäre ihm selbst wie der Wahrheit zuwider. Wir stellen ihn mit den Schranken dar, welche jeder menschlichen Persönlichkeit durch individuelle Begabung und durch die Verhältnisse gesetzt sind, welche den Vorzügen ihr bestimmtes Gepräge geben und die Mängel bedingen, die die Ergänzung durch anders geschaffene Persönlichkeiten verlangen. Ferdinand Christian B a u r wurde als das älteste von sechs Geschwistern den 21. Juni 1792 zu Schmiden bei Cannstadt geboren, wo sein Vater Pfarrer war, ein Mann von tüchtigem Wesen und klarem Verstand, von grosser Pflichttreue und eisernem

Ferdinand Christian Baur.

107

Fleisse. Das Temperament des gesund und kräftig heranwachsenden Knaben war ernst, etwas zurückgezogen; er zeigte wenig Bedürfniss nach Umgang mit Kameraden, dagegen schon damals jene Arbeitslust und jene unermüdliche Beharrlichkeit in der Arbeit, die ihm später so grosse Erfolge errungen hat. Den ersten Unterricht ertheilte ihm sein Vater. Durch die Beförderung desselben zum Dekan nach Blaubeuren kam Baur zunächst in die dortige Lateinschule und dann im Herbst 1805 in das Seminar. Das Seminar in Blaubeuren ist eine der vier berühmten, von der Reformation herstammenden württembergischen Klosterschulen, in welchen der Ausstich der studirenden Jugend des Landes auf Staatskosten die Vorbereitung auf das theologische Seminar in Tübingen erhält, mit jenem soliden Schulsack von klassischer — wenn auch nicht geradezu Bildung, so doch Kenntniss, von dem wir an unsern entsprechenden schweizerischen Bildungsanstalten nur eine entfernte Vorstellung haben. Damals aber übte der Geist klösterlicher Abgeschlossenheit und Strenge, der überhaupt in diesen Seminarien herrschte, in Blaubeuren durch den übelverstandenen Pflichteifer des Vorstehers einen solchen Druck auf die jungen Leute aus, dass die natürliche Heiterkeit des beginnenden Jünglingsalters durch die Verkehrtheit der klösterlichen Erziehung verkümmert zu werden drohte. Besser wurde es in dem Seminar zu Maulbronn, wohin Baur 1807 mit seiner Promotion überging. Im Herbst 1809 trat er in das Tübinger Stift, um sich hier während 5 Jahren zuerst philologischen und philosophischen, dann theologischen Studien zu widmen. Sein Wesen entwickelte sich allmälig, langsam, aber sicher, und beim Abgaifg von der Universität hatte er alle seine Altersgenossen hinter sich zurückgelassen. Die amtlichen Zeugnisse rühmen seinen angestrengten Fleiss, seine ausgezeichneten Fortschritte in philologischem, philosophischem und theologischem Wissen, die untadelhafte Gesetzlichkeit seines Verhaltens. Seine Gaben werden als gut, sein Gedächtniss als vortrefflich, sein Urtheil als vorzüglich gebildet, sein Charakter als bieder und rechtschaffen, sein Benehmen als still und anständig bezeichnet. In der Richtung seiner Studien trat schon damals das doppelte Interesse für die Philosophie und die historische

108

Ferdinand Christian Baur.

Theologie hervor. Seinen Standpunkt hatte er aber noch auf dem Boden des Supranaturalismus der ältern Tübingerschule gegenüber dem Rationalismus; doch neigte er in seinen philosophischen Ansichten bereits von Kant, der philosophischen Autorität dieser Schule wie ihrer rationalistischen Gegner, zu Schelling hinüber und bahnte sich so den Weg zu jener weiteren, freiem und tiefern Auffassung der Religion, von der er später ein Hauptvertreter werden sollte. Zwei Jahre nachdem er die Universität, im Herbst 1814, verlassen, kehrte er von einem Vikariat als Repetent dahin zurück, erhielt aber bereits im Herbst 1817 die ehrenvolle Ernennung zum Professor an dem wiederhergestellten Seminar zu Blaubeuren. „Die neun Jahre, die er hier zubrachte, gehörten zu den glücklichsten seines Lebens. Es war für ihn die Zeit des ersten friedlichen Wirkens in einem Beruf, der seiner Natur ganz zusagte; die Zeit der ersten erfolgreichen Schritte auf der wissenschaftlichen Laufbahn, deren schliessliches Ziel er damals freilich noch nicht ahnen konnte; die schöne Zeit des beginnenden Mannesalters, in welcher er reif genug war, um Bedeutendes zu leisten und zu noch Grösserm sich anzuschicken, und doch zugleich noch jung genug, um das Leben mit froher Begeisterung und jugendlicher Hoffnung anzufassen. Zudem war es die Zeit, in welcher ihm vergönnt war, seinen Geschwistern in der alten Heimath eine neue, und sich selbst ein erfreuliches, vom Glück begünstigtes Familienleben zu gründen." Er verheiratete sich im Jahr 1821 und fand an seiner Frau eine liebevolle, für Gatten und Kinder verständig besorgte Lebensgefährtin, deren Tod im November 1839 er stets als die schwerste und schmerzlichste Erfahrung seines Lebens beklagt hat. Er erhielt von ihr fünf Kinder, von denen zwei Söhne und zwei Töchter (die eine als Frau seines vertrautesten Schülers Zeller) ihn überlebten. S t r a u s s giebt uns in seinem „Leben Märklin's" *) mit bekannter Meisterschaft ein anziehendes Bild von der Schule zu *) Christian Märklin. Ein Lebens- und Charakterbild aus der Gegenwart. Mannheim 1857.

Ferdinand Christian Baur.

109

Maulbronn, auf der er selbst mit seinem Freund und andern seither berühmt gewordenen Namen von 1821—1825 zu den Füssen des verehrten Lehrers sass. Baur's Fächer waren die Erklärung der griechischen und römischen Prosaiker, Geschichte und Mythologie. Wenn auch sein Unterricht bisweilen zu hoch und zu fachgelehrt gehalten war, der Schwung in dem Lehrer selbst, die wissenschaftliche Begeisterung, mit der er Alles behandelte, theilte sich mitfortreissend allen Bessern unter den Schülern mit, während er freilich lässiges und leichtsinniges Wesen mit vielleicht oft allzuschroffer sittlicher Entrüstung strafte. So jugendlich Baur im wissenschaftlichen Streben und Anregen war, in dem ihm wie Wenigen das Leben aufging, so ferne stand er den jugendlichen Ansprüchen auf Freiheit zu heiterm Lebensgenuss und trat hierin den Schülern oft wenig bequem entgegen. Aber da sie sahen, dass er ihnen nur ein Weniges von Dem zumuthete, was er selbst zu leisten gewohnt war, so mehrte Das nur die Verehrung, ohne -die Liebe zu mindern. Während dieser Zeit lebte sich Baur, durch Sclielling's Anregung bereits über die äusserliche Weltanschauung des Rationalismus und Supranaturalismus hinausgehoben, in Schleiermacher's Theologie ein und gewann an ihr den einigenden Mittelpunkt seiner wissenschaftlichen Ueberzeugungen, doch mehr nach der Seite der allgemeinen philosophischen, landläufig „pantheistisch" genannten Begründung, als nach der ihres positiv theologischen Ausbaus, den er vielmehr bald gerade von jener Grundlage aus einer freien Kritik unterwarf. Darum war bei ihm auch später der Uebergang zur Hegel'sehen Philosophie kein so grosser Schritt, am Wenigsten ein Bruch mit Schleiermacher, für dessen mit Hegel gemeinsame Fundamentalanschauungen er vielmehr nur in der Hegel'schen Philosophie die concretere objektive Ausprägung und den ihm angemessnern Ausdruck fand. Baur war eine substanzielle Natur, die sich in den objektiven Geistesprozess in der Geschichte zu versenken und ihn selbstlos nachzudenken den Drang hatte. Ihn musste die Hegel'sche Philosophie, die gerade diese Grundanforderung an das wissenschaftliche Denken stellt, für sich gewinnen, ohne dass er sich darum für den Ausdruck des

110

Ferdinand Christian Baur.

subjektiven Lebens der Religion vom Geist der Schleiermacherschen Theologie entfremdete: eine Vereinigung der Gegensätze Schleiermacher und Hegel, die namentlich uns schweizerischen Theologen nichts Fremdes ist, da wir, entweder von dem Einen oder von dem Andern ausgegangen, gerne die Aufhebung der Einseitigkeit Beider in ihrer Ergänzung durch einander auf der ihnen gemeinsamen Grundlage anstreben. Die Religionsgeschichte als innerste Geschichte des menschlichen Geistes, als Entwicklungsgeschichte seines Bewusstseins von seinem eigenen ewigen Wesen, uud zwar die Religionsgeschichte im umfassenden Sinn, welche alle Stufen von Religion aus ihrem gemeinsamen letzten Grund, dem Wesen des Geistes, in ihren psychologischen Entwicklungsgesetzen und in ihren historischen Wechselbeziehungen auffasst, — das war das Feld für Baur's unermüdliches Forschen. Seine erste grössere Schrift „Symbolik und Mythologie" (1824, 3 Bände) behandelte in diesem Geist die Naturreligionen des Alterthums vom Standpunkt der Schleiermacher'schen Religionsphilosophie aus und angelehnt an Creuzer's Symbolik, deren mehr phantasievolle Tiefe sie auf grössere Nüchternheit der Forschung und auf strengere systematische Schärfe der religionsphilosophischen Begriffe brachte. So sehr diese Schrift durch die seitherigen Leistungen der Wissenschaft auf dem.Gebiet der Alterthumskunde und Mythologie überholt und zum Theil antiquirt worden ist, so wird sie doch immer noch von den gegenwärtigen ersten Vertretern dieser Wissenschaft mit ehrender Anerkennung genannt. Diesem Buch verdankte Baur zuerst seinen litterarischen Namen und bald auch seine Berufung an die Stelle, an der er bis an sein Lebensende geblieben ist. Im Herbst 1826 wurde er zugleich mit seinem Freund und Kollegen Kern von Blaubeuren als P r o f e s s o r der T h e o l o g i e nach T ü b i n g e n berufen. Hier entfaltete er bis an sein Ende in 34jähriger, unausgesetzter, dem Amt und der Wissenschaft gewidmeter Arbeit allmälig jene grossartige Wirksamkeit als akademischer Lehrer und als Schriftsteller, durch die er so epochemachend in die neuere Theologie eingegriffen hat. Wie er in seinem ernsten Wesen und bei einer fast schüchternen Bescheiden-

Ferdinand Christian Baur.

111

heit Nichts leicht nahm, so trat er auch sein neues akademisches Amt mit beinahe zaghaft ängstlicher Gewissenhaftigkeit an, widmete sich dann aber auch demselben im ganzen Umfang seiner verschiedenartigen Obliegenheiten mit der vollen Treue und Arbeitskraft seiner gediegenen Natur. Die ersten paar Jahre arbeitete er sich erst mit konzentrirter Thätigkeit in die Lehrfacher ein, die er zu vertreten hatte. Dies waren hauptsächlich Kirchen- und Dogmengeschichte, die er bis an seinen Tod regelmässig in Jahresvorlesungcn abwechselnd vortrug, Symbolik, neutestamentliche Theologie und Erklärung neutestamentlicher Schriften. Aus seiner Lehrthätigkeit entwickelte sich dann aber bald in immer grössern Dimensionen seine schriftstellerische Thätigkeit, indem theils seine dogmengeschichtlichen und exegetischen Vorlesungen, theils seine frühern religionsgeschichtlichen Studien ihn zu einer Reihe von Untersuchungen über die Geschichte der christlichen Religion, namentlich ihrer ersten Jahrhunderte veranlassten. Ueberblicken wir nur schon- den Umfang seiner schriftstellerischen Leistungen, die Zahl seiner zum Theil umfangreichen Werke, die Menge seiner Abhandlungen (seit 1842 in den von ihm und Zeller herausgegebenen theologischen Jahrbüchern), lauter Arbeiten, die auf weitschichtigen gründlichen Studien beruhen: so müssen wir staunen über den eisernen Fleiss und die unverwüstliche Arbeitskraft, der allein Solches zu leisten möglich war. Doch der Umfang der Leistungen macht noch nicht den grossen Schriftsteller; er könnte vielmehr eher den Vorwurf der Vielschreiberei veranlassen. Und wenn auch Baur in dieser Beziehung ein Vorwurf trifft, so ist es der: einmal, dass er in seinem unermüdlichen Wahrheitseifer durch jede gegnerische Einwendung sich veranlassen liess, denselben Gegenstand immer neu durchzuarbeiten und in's rechte Licht zu stellen; und dann, dass ihm die Gabe des kurzen, plastisch abgerundeten Styls abging. Seine Rede fliesst meist wie ein breiter Strom dahin, nie zwar in nichtssagender, gedankenarmer Weitschweifigkeit, sondern mit dem Bemühn, in immer neuen Wendungen alle Nuancen des Gedankens zu erschöpfen; aber dadurch wird sie allerdings oft schwerfallig und weniger durchsichtig. Merkwürdiger Weise sind gerade die

112

Ferdinand Christian Baur.

letzten Schriften aus seinem spätem Aker in dieser Beziehung frischer und vollendeter. Nicht der extensive Umfang der Leistungen bedingt den grossen, auf seinem Gebiet epochemachenden Gelehrten, sondern die Intensität derselben. Diese aber ist wesentlich durch das Zusammenwirken zweier Eigenschaften bedingt, die bei Baur in seltener Weise sich vereinigten: einerseits die Weite des geistigen Horizontes, die von einem festen centralen Gesichtspunkt aus das ganze Gebiet einer Wissenschaft einheitlich klar überschaut und den Faden des durchgreifenden Zusammenhangs, der alles Einzelne verbindet, überall herauszufinden und konsequent festzuhalten vermag, kurz der philosophische Tiefsinn, und anderseits die gründliche und scharfsinnige Genauigkeit im Einzelnen, die in unvermeidlicher Durcharbeitung des Einzelnen den Stoff für die grossen Kombinationen, den Leib für die Gedanken gewinnt. Und zwar wird Der die bleibendsten Erfolge erringen, der mit dem steten Blick aufs Allgemeine seine Detailarbeit konzentrisch auf Einen Punkt hinrichtet. Wo's an diesem fehlt, da erscheint die Thätigkeit leicht unnachhaltig im Allgemeinen, wird zersplittert und liefert nur vereinzeltes, unübersichtliches, wenn auch vielleicht sehr brauchbares Material und Handlangerarbeit für grössere Meister. Baur war Meister und Werkführer im Grossen und zugleich treuer Arbeiter im Kleinen, Beides gleich ausgezeichnet. Durch die Vereinigung dieser beiden Eigenschaften war Baur in der Theologie philosophischer H i s t o r i k e r und sein Gebiet die Dogmengeschichte. Der Streit ist ziemlich müssig, ob er mehr und in erster Linie Philosoph oder Historiker gewesen sei. Dass er, ungeachtet seines philosophischen Geistes, nie eine rein systematische Disziplin, wie etwa die Dogmatik selbstständig ausgeführt, sondern von Anfang an immer nur historischen Stoff bearbeitet hat, dass seine Untersuchungen und seine Kritik immer einen historischen Ausgangspunkt und Gang haben, dass Strauss (Leben Märklin's S. 40) 1851 von ihm sagen konnte: „überhaupt hat in Baur's Theologie die historische Kritik einen Grad freier Entwicklung erreicht, hinter welchem die dogmatische bis jetzt noch zurückgeblieben ist", — das weist doch wohl Baur den

113

Ferdinand Christian Banr.

historischen Charakter als den primitiven zu. Diejenigen freilich, die unter dem historischen Standpunkt — naiv genug, aber in der Theologie nur allzugewöhnlich — das Festhalten an allem Ueberlieferten zu verstehen scheinen und alle Kritik dagegen von der bösen Philosophie herleiten, die klagen gar sehr über Baur's unhistorisches Verfahren, über sein philosophisches Konstruiren und Zurechtschneiden der Geschichte, während es vielmehr Nichts als die einfachen, stehenden Grundsätze ächter Geschichtsforschung sind, auf jedem andern Gebiet der Geschichte ausser Frage, deren Durchführung auch in der Erforschung der urchristlichen Geschichte Baur von Denen zum Vorwurf gemacht wird, die eben hier ein Ausnahmsgebiet von supranaturaler Geschichte in Anspruch nehmen. Wenn man hingegen dann im Weitern die Historiker unterscheidet in empirische und philosophische, in Solche, welche in der Geschichte vorzugsweise für das Individuelle Sinn und Interesse haben, und in Solche, welche vor Allem die allgemeinen Gedanken in der Geschichte suchen, und wenn man die erstem die reinen Historiker nennen will: so war Baur allerdings kein solcher, sondern ein philosophischer Historiker. Sein Interesse war in der Geschichte allerdings mit ganzer Wucht auf die Bewegung und Entwicklung des Geistes in ihr gerichtet. „Die einzige Voraussetzung, — erwiedert Baur in der Einleitung zu seiner „Geschichte der Lehre von der Dreieinigkeit und Menschwerdung Gottes", S. XIX, auf den seiner „Geschichte der Versöhnungelehre" gemachten Vorwurf der Geschichtskonstruktion aus philosophischen und zwar hegelianischen Voraussetzungen — die dabei gemacht wird, ist, dass die Geschichte nicht bloss ein zufälliges Aggregat, sondern ein zusammenhängendes Ganzes ist. Wo Zusammenhang ist, ist auch Vernunft, und was durch die Vernunft ist, muss auch für die Vernunft sein, für die denkende Betrachtung des Geistes. Ohne Spekulation ist jede historische Forschung, mit welchem Namen sie auch prangen mag, ein blosses Verweilen auf der Oberfläche und Aussenseite der Sache, und je wichtiger und umfassender der Gegenstand ist, mit welchem sie sich beschäftigt, je unmittelbarer er dem Element des Denkens angehört, desto mehr kommt es darauf an, nicht B i e d e r m a n n , Vorträge und Aufsätze.

g

114

Ferdinand Christian Baur.

bloss, was der Einzelne gedacht und gethan, in sich zu reproduziren, sondern die ewigen Gedanken des ewigen Geistes, dessen Werk die Geschichte ist, in sich nachzudenken. Man glaube doch nicht, dass durch eine solche Betrachtung des Allgemeinen die Individuen zu kurz kommen," — nun erwartet der Leser sicher, Baur werde jetzt auch die andere Seite hervorheben und in's rechte Verhältniss zu dem Gesagten stellen, wie eben die Individuen nicht bloss Träger des allgemeinen Gedankens seien, sondern dieser in ihnen sich erst zu konkreter Gestalt auspräge und so Lebenswahrheit, weil gelebte Wahrheit, werde; allein er fährt fort: — „es bleibt für sie noch ein weites Feld, auf welchem sie mit ihren subjektiven Interessen und Motiven sich herumtreiben können, noch genug des Endlichen und Beschränkten, des Zufälligen und Willkürlichen, das jeder vernünftigen Betrachtung widerstrebt; was wäre aber alles Einzelne und Individuelle ohne das Allgemeine und Absolute, mit welchem es wesentlich zusammengehört . . . ? Man nehme diesen allgemeinen geistigen Zusammenhang, in welchem allein das Geschehene auch ein Gedachtes wird, aus der Geschichte hinweg: wie leer, wie arm an jedem höhern Interesse, wie geistlos wird ihr ganzer Inhalt! Diesen Zusammenhang zu erforschen und von diesem Gesichtspunkt aus den Entwicklungsgang der christlichen Dogmen aufzufassen, ist mein Bestreben." Diese Stelle ist sehr bezeichnend für die ernste tiefe Geistigkeit der Geschichtsauffassung Baur's, aber auch für eine ihr anhaftende Einseitigkeit, die das Individuelle in der Geschichte nicht zu dem ihm gebührenden Rechte kommen lässt: wir werden später noch darauf zurückkommen. Hier nur das Eine: es ist wahr, es haftet hier Baur selbst eine jener Schranken des Individuellen an, das nicht rein in die allgemeine Vernunft aufgeht und eben darum Persönlichkeiten von anderer Individualität zur Ergänzung erheischt: nur wende man die Sache nicht schief, als ob jene andere Seite der Geschichtsauffassung, die Baur allerdings hier einseitig hervorhebt, in sich selber einseitig wäre und darum abgeschwächt werden müsste. Namentlich auf dem Gebiete, das

115

Ferdinand Christian Baur.

eben deswegen Baur vorzugsweise als sein Gebiet erkannt und bearbeitet hat, auf dem Gebiet der Dogmengeschichte, wo der Gegenstand selbst ein rein geistiger ist, nämlich der christliche Geist in der Arbeit, sich von seinem innersten Wesen Rechenschaft zu geben, da ist jene auf die innere Gedankenbewegung der Sache selbst gerichtete Geschichtsauffassung die fundamentale, und Diejenigen, welche einem Geschichtsschreiber wie Baur gegenüber, der doch zugleich so sorgsam und gewissenhaft auch auf alle Details der Geschichte eingeht wie nur irgend Einer, dennoch so leichthin den Vorwurf willkürlichen philosophischen Konstruirens erheben oder Ändern nachbeten, dürften doch zur Selbstprüfung gemahnt werden, ob der Fehler, dass sie nur willkürliche Konstruktionen in der Baur'schen Geschichtsauffassung zu erblicken vermögen, nicht etwa an ihnen selber liege, ob etwa nur sie nicht die wirklich in der Geschichte liegenden, treibenden und bedingenden Gedanken herauszufinden vermögen. Was dann Baur weiter über den ihm gemachten Vorwurf des Hegelianismus bemerkt, wollen wir um so weniger unterdrücken, als heute noch, nach zwanzig Jahren, die Sache steht wie damals, und seither kein Neuerer Hegel in der Ehre abgelöst hat, als bête noire dem Mangel am Denken zum Stichwort zu dienen, ein Schicksal, das zu seiner Zeit noch jeder ächte Philosoph erfahren hat. „Hegelianismus ist ja der Name — so schreibt Baur 1841 —, in welchen man jetzt Alles zusammenfasst, wovon man durch den Fortschritt der Wissenschaft, durch das vernünftige Denken in der Theologie für die Stabilität des kirchlichen Glaubens und für den Erfolg der hierarchischen Tendenzen einer Zeit, welche die Bausteine zum Ausbau ihrer sichtbaren Kirche von allen Seiten so geschäftig und eifrig zusammenträgt*), wie wenn es keine unsichtbare Kirche gäbe und nicht diese allein die Wahrheit der sichtbaren wäre, irgend eine Gefahr fürchten zu müssen glaubt. Wie es die Gegner der Wissenschaft zu allen Zeiten in Gebrauch gehabt haben, gegen jeden Philosophen oder spekulativen Theo*) Es war damals gerade die Zeit der von dem verstorbenen König von Preussen in Schwung gebrachten Kölner Dombaubegeisterung. 8*

116

Ferdinand Christian Baur.

logen, der durch den neuen Aufschwung, welchen er dem geistigen Leben giebt, ihre kleinlichen Interessen verletzt, die alten trivialen Vorwürfe so lang zu wiederholen, bis man sie auf einen neuen Namen übertragen kann, so hat man sich nun schon seit einiger Zeit mit Schelling und Schleiermacher nach so Vielem, was auch bei diesen Heroen deutscher Wissenschaft zu ihrer Zeit nur zum Anstoss und Aergerniss gereichte, ausgesöhnt, um nun den Namen Hegel's um so ausschliesslicher zum Gegenstand aller gegen die Philosophie und spekulative Theologie gerichteten Angriffe machen zu können"*).

n. Baur's Gebiet war die Dogmengeschichte, deren ungeheures Material er durch eigenes Quellenstudium so vollständig inne hatte, wie Wenige, und mit philosophischem Geiste durchdrang, wie vor ihm Keiner. Die zahlreichen Werke, durch die er diese Wissenschaft bereichert und gefördert hat, zeichnen sich durch Beides gleich sehr aus, durch zuverlässige Gründlichkeit im historischen Detail, wie durch den philosophischen Hellblick; dadurch weiss er in dem oft trüben und unvernünftig erscheinenden Gewirre der theologischen Streitigkeiten über die christliche Lehre den Kern, die innere Vernunft und Notwendigkeit im Entwicklüngsprozess desselben darzulegen und die inneren Bezüge zwischen äusserlich einander fern und fremd scheinenden Lehrgestaltungen aufzudecken, ja selbst über das speziell christliche Gebiet hinaus den allgemein menschlichen, weil im Wesen des Geistes selbst wurzelnden Zusammenhang zwischen der Entwicklungsgeschichte des christlichen Geistes und dem Bingen des Heidenthums nach religiöser Selbst*) Bei einem, übrigens ganz wackern und darum jetzt noch viel gelesenen nnd geschätzten Erbauungsschriftsteller aus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, Hasenkamp, kann man akkurat dieselben Vorwurfe gegen Kant und seine Philosophie lesen, die man heut zu Tage aus dem Munde Solcher, die nun nolens volens mit Kant ausgesöhnt sind, gegen Hegel hören fnuss, als wäre speziell er der Sünder, und nicht vielmehr der Geist freien Denkens, der eben zu jeder Zeit wieder andere Träger findet, die ihn vor Andern vertreten.

Ferdinand Christian Baur.

117

erkenntniss in's Licht zu stellen. So bildet schon seine erste Schrift „Symbolik und Mythologie" (1824) so zu sägen den Vorhof der Heiden zur christlichen Dogmengeschichte. Das innere Verhältniss und die äussere Wechselbeziehung zwischen beiden Gebieten, dem heidnischen und dem christlichen, bildet auch in den Schriften über „Apollonius von T y a n a " (1832), dieses heidnische Gegenbild zu den evangelischen Erzählungen von Jesu, sowie Uber „das Christliche im Piatonismus, oder S o k r a t e s und Christus" (1837) das eigentliche Thema, und wenigstens einen hauptsächlichen Ausgangspunkt in den beiden ersten eigentlich dogmengeschichtlichen Werken „das m a n i c h ä i s c h e Religionssystem" (1831) und „die christliche Gnosis" (1835). Das letztere wichtige Werk ist besonders charakteristisch für Baur's Auffassung und Behandlung der Dogmengeschichte. Die Gnosis ist die erst von Baur in ihrer Wichtigkeit für die Entwicklung der urchristlichen Kirche gehörig gewürdigte Religionsphilosophie des zweiten Jahrhunderts, die in trübgährender Mischung christlicher und heidnischer Anschauungsformen und Ideen nach einem System rang, welches die in Christo verkündigte religiöse Versöhnung des Menschen mit Gott zugleich als die Lösung des allgemein kosmischen Problems der Vermittlung zwischen der jenseitig verborgenen Urgottheit und der sichtbaren Welt darstellen sollte. Wer zum ersten Male mit den gnostischen Systemen bekannt wird, ist geneigt, darin nur tolle Ausgeburten einer hirnverbrannten Phantasie zu erblicken, und dem Studirenden fängt es an, wie ein Mühlrad im Kopf herumzugehen, wenn er an diese Partie der ältesten Kirchengeschichte gelangt. Baur brachte, wie Keiner vor ihm, Ordnung in das scheinbare Chaos und erkannte darin ein, bei all seiner phantastischen Ueberschwenglichkeit, tiefsinniges Ringen der Vernunft, im Christenthum gegenüber dem Heidenthum und Judenthum die absolute Religion zu erfassen. Darum nimmt Baur auch den Namen „christliche Gnosis" in weiterm Sinn für die „christliche Religionsphilosophie" überhaupt in ihrer geschichtlichen Entwicklung, und reiht an die Darstellung der alten Gnosis, als der ersten Stufe dieser Entwicklung, die der neueren religionsphilosophischen Systeme, der

118

Ferdinand Christian Baur.

Böhme'sehen Theosophie, der S c h e 11 i n g 'sehen Naturphilosophie, der Schleiermacher'schen Glaubenslehre und der Hegel'schen Religionsphilosophie. Er thut Dies aber nicht, um — wie auch etwa geschieht — mit den die alte Gnosis treffenden Vorwürfen die modernen religionsphilosophischen Bestrebungen zuzudecken, sondern umgekehrt, um von diesen aus das Anerkennenswerthe und Bedeutsame auch jener ersten Versuche aufzudecken. Die wichtigsten christlichen Dogmen behandelt Baur in den zweigrossen Werken: „die christliche Lehre von der Versöhnung in ihrer geschichtlichen Entwicklung von der ältesten Zeit bis auf 4ic neueste" (1838) und „die christliche Lehre von der Dreie i n i g k e i t und M e n s c h w e r d u n g G o t t e s in ihrer geschichtlichen Entwicklung" (3 Bände, 1841—1843). Und endlich fasste er das ganze Gebiet der Dogmengeschichte in scharfen Grundzügen zusammen in seinem „Lehrbuch der christlichen D o g m e n g e s c h i c h t e " (1847, 2. Aufl. 1858). Bevor wir seine Leistungen auf zwei Hauptgebieten der Dogmengeschichte, auf dem des k o n f e s s i o n e l l e n Gegens a t z e s zwischen Protestantismus und Katholizismus, und auf dem des U r c h r i s t e n t h u m s , dessen Bearbeitung der Schwerpunkt von Baur's Bedeutung in der theologischen Wissenschaft ist, besonders hervorheben, — noch ein Wort über seine Auffassung und Behandlung des christlichen Dogmas überhaupt. Er steht dem Dogma, dessen Wandlungen in der Geschichte er darstellt, nicht fremd und äusserlich gegenüber: er betrachtet den Prozess der wechselnden Formen desselben vielmehr als Prozess des nach seinem Selbstbewusstsein ringenden menschlichen Geistes. Das Dogma ist die Form des Bewusstseins, in die der christliche Geist im Ringen nach dem Ausdruck für sein religiöses Prinzip sich geschichtlich ausprägte, im christlichen Geist aber ist der Geist überhaupt zum Selbstbewusstsein und zur Verwirklichung seines ewigen Wesens gekommen. Um die innerste Wahrheit des eigenen geistigen Wesens handelt sich's also im christlichen Dogma — und seine Geschichte stellt uns das Ringen desselben nach dem Ausdruck für sein in Christo gegebenes Selbstbewusstsein dar. Was den Kern des Dogmas ausmacht, das Prinzip seiner Ent-

Ferdinand Christian Baur.

119

wicklung, das ist für Baur zugleich der Kern und die Grundwahrheit seines eigenen Wesens. Dies eigene Wurzeln in dem, was er als die aller Entwicklung der Lehre zu Grunde liegende und in ihr sich entfaltende Substanz des christlichen Glaubensbewusstseins, kurz als den Kern des christlichen Dogmas erkennt, das macht den Glauben Baur's aus. In diesem Sinn ist überhaupt allein Glauben vom Theologen in Beziehung auf den Gegenstand seiner Wissenschaft zu verlangen; mit dem Glauben in diesem Sirin allein ist eine freie wissenschaftliche Forschung vereinbar, während die Forderung einer „gläubigen" Wissenschaft in einem anderen Sinn nur die Verhüllung des Widerspruchs einer unwissenschaftlichen Wissenschaft ist. Je fester, solider und zweifelloser jener Glaube, desto ruhiger, unbeirrter und rücksichtsloser, desto vertrauender auf die Macht der Wahrheit auch das wissenschaftliche Forschen. Auf diesem gediegenen, substanziellen Glauben ruhte Baur's hingebender Ernst, mit dem er sich in seinen Gegenstand versenkte, aber auch die unbeirrte Ruhe, mit der er ohne Klauseln und Vorbehalt dem Zug der freien Forschung folgte und keinem Resultat, das auf diesem Wege sich ihm ergab, erschrocken auswich, sondern in jedem, sobald es sich ihm wissenschaftlich bewährte, nur den Gewinn einer neuen Läuterung des Glaubens erblickte. Möchten nur alle Die, welche über Baur's Standpunkt als einen „ungläubigen" den Stab brechen, so feststehn im Glauben an die Wahrheit und zwar an die christliche Wahrheit, wie er. Nur zu oft ist das Schreien nach „gläubiger" Wissenschaft bloss Verräther mangelnden Glaubens an die durch allen Wandel menschlicher Lehre hindurch sich bewährende göttliche Wahrheit, Verräther des Kleinglaubens, der des Göttlichen nicht sicher ist, wenn er es nicht in einer — doch wieder menschlichen — Form gegen die freie Untersuchung zum Voraus garantirt hat. — Baur macht nicht viel Aufsehens mit dem Bekenntniss des Glaubens, der die Seele und Lebenswärme all seiner Theologie, das ruhige Pathos ist, das die Geistesarbeit seines ganzen Lebens durchdringt und trägt, eben weil er ihm zweifellos gewiss und mit seinem innersten Wesen Eins ist; aber was er davon sagt, das i s t dann auch gesagt mit vollem Bewusstsein und soll

120

Ferdinand Christian Baur.

daher auch in seinem Vollgehalt genommen werden. Paulas S. 2: „Das Christenthum ist auf der einen Seite die grosse geistige Macht, durch welche alles Glauben und Denken der Gegenwart bestimmt wird, das absolute Prinzip, durch welches das Selbstbewusstsein des Geistes getragen und gehalten wird, das, ohne ein wesentlich christliches zu sein, in sich selbst keinen Halt und Bestand hätte. Auf der andern Seite — so fährt er aber dann fort — ist, was das Christenthum seinem Wesen nach ist, eine rein historische Frage, deren Lösung nur in der Vergangenheit liegt, in welcher das Christenthum selbst seinen Ursprung genommen hat, eine Frage, die eben darum auch nur durch die kritische Stellung gelöst werden kann, die sich das Bewusstsein der Gegenwart zur Vergangenheit giebt." Deswegen vertieft sich auch Baur immer neu in diese Vergangenheit, um aus dem Prozess der Geschichte die Erkenntniss des christlichen Wesens zu Tage zu fördern. Lehrbuch der Dogmengeschichte, S. 59: „Ist es das Wesen des Geistes selbst, das in der Geschichte des Dogma sich aufschliesst und darlegt, so kann auch das Interesse an ihr nur darin bestehen, dass man in ihr den Wegen nachgeht, welche der Geist selbst, in seiner Entwicklung im Grossen, in den verschiedenen Bichtungen seiner stets fortschreitenden Bewegung gegangen ist, um zum Bewusstsein Uber sich selbst und über die höchsten Interessen, die das geistige Leben bedingen, zu kommen. Was die Geschichte überhaupt ist, als der ewig klare Spiegel, in welchem der Geist sich selbst anschaut, sein eigenes Bild betrachtet, um, was er an sich ist, auch für sich, für sein eigenes Bewusstsein zu sein und sich als die bewegende Macht des geschichtlich Gewordenen zu wissen, das konzentrirt sich in dem engen Gebiete der Dogmengeschichte zu einer um so intensivem Bedeutung." Ueber den spezifischen Inhalt des christlichen Selbstbewusstseins, der also den Kern des christlichen Dogmas und nach seinen verschiedenen Seiten und Momenten den Inhalt und das Problem der einzelnen Dogmen ausmacht, spricht sich Baur (Dreieinigkeitslehre I, S. 101), ausgehend von der Form des Centraidogmas, das er in diesem Werke geschichtlich darstellt, so aus: „Dass der in seinem Sohn und Geist geoffenbarte, ewige, an

Ferdinand Christian Baur.

121

sich seiende Gott auch ein dem Menschen gegenwärtiger, dem menschlichen Selbstbewusstsein immanenter Gott ist, ist der wesentlichste und eigentümlichste Inhalt des christlichen Bewusstseins, und die Aufgabe der christlichen Spekulation ist es nun, dieses christlichen Glaubensinhaltes sich so zu bemächtigen, dass er als der Inhalt des absoluten Idee, als das Resultat des Prozesses, durch welches sie sich nach ihren verschiedenen Momenten mit sich selbst vermittelt, gedacht werden kann." Und über das Wesen dieses geschichtlichen Prozesses (Versöhnungslehre VI): „Nur wenn in der geschichtlichen Darstellung das Wesen des Geistes selbst, seine innere Bewegung und Entwicklung, sein von Moment zu Moment fortschreitendes Selbstbewusstsein sich darstellt, ist die wahre Objektivität der Geschichte erkannt und aufgefasst. Dieser Gesichtspunkt, von welchem aus es insbesondere die Aufgabe der christlichen Dogmengeschichte ist, das christliche Dogma im Ganzen und Einzelnen so zu behandeln, dass alle zeitlichen Veränderungen als die wesentlichen und nothwendigen Momente erscheinen, durch die sich der Begriff hindurchbewegt, um von der Negativität jeder zeitlichen Form immer weiter getrieben, Wesentliches und Unwesentliches mit dem immer strengern Gericht des reinen Gedankens zu scheiden und durch alle Momente hindurch sich selbst in seinem innersten Wesen zu erfassen, liegt der hier gegebenen Darstellung zu Grunde, in der festen Ueberzeugung, dass nur auf diesem Weg die Geschichte für den denkenden Geist das sein kann, was sie ihrer göttlichen Bestimmung zufolge für ihn sein soll, die Selbstverständigung der Gegenwart aus der Vergangenheit. Was sich bei allem Wechsel zeitlicher Formen durch den natürlichen Gang der Sache selbst als der wahre substanzielle Inhalt für das Bewusstsein des Geistes herausstellt, was alle vorangehenden Momente sowohl überwunden, als auch als seine nothwendige Voraussetzung in sich aufgenommen hat, kann allein als der wesentliche substanzielle Inhalt festgehalten werden." Dies ist die allein grundsätzlich p r o t e s t a n t i s c h e Auffassung des Verhältnisses zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen geschichtlicher Lehrform und ewigem Glaubensgehalt, zwischen

122

Ferdinand Christian Baur.

Dogma und Gotteswort. Für den Protestantismus und sein Prinzip gegenüber dem Katholizismus in die Schranken zu treten, fand sich Baur veranlasst, als in seiner nächsten Nähe der berühmte katholische Theolog Möhler, damals Professor an der katholisch-theologischen Fakultät zu Tübingen, seine Symbolik*) mit kecker Zuversichtlichkeit und blendendem Schimmer von Gelehrsamkeit der protestantischen Kirche und ihrer Theologie als Fehdehandschuh hinwarf. Die gewichtigste Antwort auf dieses Buch, das katholischer Seits als wissenschaftliche Vernichtung des Protestantismus gefeiert wurde, protestantischer Seits aber eine Reihe von Gegenschriften der ersten Theologen hervorrief, war Baur's „Gegensatz des Katholizismus und P r o t e s t a n t i s mus nach den Prinzipien und Hauptdogmen der beiden LehrbegrifFe", 1834; zweite mit Rücksicht auf die entsponnene Kontroverse vermehrte Ausgabe 1836. Wie dieses Buch von der katholischen Theologie aufgenommen wurde, kann uns hier nicht beschäftigen. Bezeichnend aber ist die verschiedene Beurtheilung, die es bei den entgegengesetzten Richtungen innerhalb des Protestantismus selbst gefunden hat. Die orthodoxe Theologie machte ihm, neben aller dabei nicht versagten Anerkennung, entschiedener oder verblümter den Vorwurf, es sei nicht der wahre, durch die Reformation geschichtlich gegebene Protestantismus, den hier Baur verfechte, sondern er unterstelle diesem in jedem Dogma seine eigene, gar sehr vom kirchlich bestimmten Protestantismus abweichende Schleiermacher'sche oder Hegel'sche Lehre. Auf der andern Seite urtheilt Strauss (Leben Märklin's S. 40), Baur habe sich in seinem Streit mit Möhler mehr, als von seinem philosophischen Standpunkt aus anging, in die einzelnen Lehren des protestantischen Systems mit seinem eigenen Bewusstsein verwickelt gezeigt. Beiden Urtheilen liegt etwas Richtiges zu Grund; aber insofern sie einen Tadel begründen wollen, sind sie beide gleich schief und ist Baur gegen beide gleich sehr im Recht des wahren protestantischen Theologen. *) Symbolik oder Darstellung der dogmatischen Gegensätze der Katholiken und Protestanten nach ihren Bekenntnissschriften, Mainz 1832, 4. Aufl. 1835.

Ferdinand Christian Baur.

123

Dem katholischen Dogma nur immer wieder neu die altprotestantische Lehrfassung gegenüberstellen, ist bloss eine unfruchtbare Wiederholung der alten Kontroverse, unfruchtbar, weil endlos; denn wenn auch das protestantische Dogma auf jedem Punkt in religiöser Beziehung, bloss als Ausdruck und Eonsequenz des christlichen Prinzips aufgefasst, dem katholischen gegenüber im Recht ist, so bleibt doch der V e r n u n f t streit, wer Recht habe, zwischen der altprotestantischen und der katholischen Lehrfassung der Natur der Sache nach ein endloser, weil beide sich auf einem gemeinsamen „übervernünftigen" Boden bewegen und sich darum vergeblich abmühen, die christliche Wahrheit in Bewusstseinsformen auszuprägen, die, einer andern Religionsstufe entsprungen und entsprechend, zum Ausdruck gerade des prinzipiell Neuen des Christenthums von vornherein nicht ausreichen. Da bleibt bei allem Bemühen, der christlichen Wahrheit in diesen Formen einen Ausdruck zu schaffen, immer ein Rest, der nicht aufgehen will und daher der Lehrfassung einen „übervernünftigen" Charakter giebt; das will aber, beim Lichte besehen, vielmehr sagen: die Lehrfassung stellt sich als vernunftwidrig heraus, weil die Wahrheit, die darin soll ausgedrückt werden, das Prinzip der rein geistigen Religion, in der That vernünftiger, d. h. reiner geistig ist, als das Material von Vorstellungen, in die sie sollte gefasst werden, weil in diesen immer ein sinnliches Element ist. Sie wird und muss sich daher immer gegen die Form, in die sie gezwängt wird, sträuben. Die vermeintlich „gläubige" Wissenschaft nennt das christliche Prinzip deshalb „übervernünftig" und beugt ihren Verstand im Glauben unter die vernunftwidrige Form; in Wahrheit aber ist das Prinzip des Christenthums vielmehr gerade das Vernünftige, d. h. rein Geistige, und nur die Vorstellungsform, in die es gezwängt wird, ist noch nicht vernünftig. Und gerade je in dem, worin die Uebervernünftigkeit oder vielmehr Widervernünftigkeit der kirchlichen Form des Dogmas sich am schärfsten ausprägt und am schneidendsten hervortritt, liegt jedesmal das spezifisch Christliche. Die kirchliche Lehrform des protestantischen und katholischen Dogmas steht nun aber gemeinsam auf diesem Boden, wo je das Wahrste die widerspruchvollsten

124

Ferdinand Christian Baur.

Formeln heraustreiben muss und wo der paradoxe Satz des Tertullian seine Anwendung findet: „wahr, weil absurd." Wenn sie daher auf diesem Boden einander gegenübertreten mit dem Vernunftstreit, welches gegen das andre im Recht sei: so kann dieser Streit nicht anders als ein endloser sein, weil religiöse Wahrheit und logische Richtigkeit da nicht in einander aufgehen, sondern vielfach gerade im umgekehrten Verhältniss stehen, so dass jeder Theil gegen den andern zugleich-im Recht und im Unrecht sein kann. Vielmehr kann nur das das wahre Ende des Streites sein, dass durch die gegenseitige Kritik die Unzulänglichkeit der gemeinsamen Vorstellungsformen, auf die beide Theile sich stützen, an den Tag kommt, dass man daher diese gemeinsame Basis verlä6st und, belehrt durch diesen von der Geschichte selbst geführten Prozess, es unternimmt, die religiöse Wahrheit des Christenthums auch in einer Gedankenform auszuprägen, die im innersten Prinzip mit ihr übereinstimmt, ebenso rein geistig ist als Denkform, wie das christliche Prinzip rein geistig ist als religiöse Wahrheit. So erst können in der Lehrfassung Form und Inhalt ganz in einander aufgehen, und dann wird das wahrhaft Christliche sich gerade als das wahrhaft Vernünftige ausweisen. Von da aus können dann aber auch erst mit wissenschaftlich freiem, unbefangenem Blick die alten dogmatischen Formeln ihrem religiösen Werth nach, trotz ihrer übervernünftigen Form, allseitig gewürdigt und der Streit der konfessionellen Differenzen von einem höhern Standpunkt, dem des christlichen Prinzips und seiner Konsequenzen, entschieden werden. Erst von diesem Standpunkt aus kann das innere Recht des protestantischen Dogmas in allen Differenzpunkten wissenschaftlich sieghaft in's Licht gestellt, nämlich nachgewiesen werden, dass es in der That das dem christlichen Prinzip konsequent Entsprechende ausdrückt, während das katholische dasselbe in seinem innersten Wesen alterirt. Dieser Nachweis, mit dem der Protestantismus im Recht ist, wird aber von der „gläubigen" Theologie immer wieder dadurch verdunkelt und abgestumpft, dass sie dabei zugleich den undankbaren Versuch erneuert, auch die Irrationalität der dogmatischen Form, die dem protestantischen Dogma in seiner orthodoxen Gestalt, nicht

Ferdinand Christian Baur.

125

bloss an dieser oder jener Spitze, sondern durchweg so gut anhaftet wie dem katholischen, irgendwie rationell rechtfertigen zu wollen. Nur der Standpunkt durchgeführter Geistesfreiheit kann jenen Kachweis für das religiöse Recht des Protestantismus rein und konsequent leisten, weil er allein dem protestantischen Prinzip entspricht; nur dieser Standpunkt kann mit geschichtlich unbefangenem, freiem Urtheil auch das relative historische Recht des altprotestantischen Dogmas vertreten, weil er nicht mehr daran vertreten will, als was wirklich sein Recht ist. Die „gläubigen" Vertreter der „von den Vätern vererbten" Lehre dagegen, deren Gläubigkeit im Festhalten an der überkommenen Grundform des Dogmas besteht, kämpfen mit Waffen aus einem Zeughaus, das immer noch das katholische Wappen trägt. Es ist darum kein Vorwurf für einen protestantischen Theologen, sondern im Gegentheil der Beweis, dass er ein rechter und ganzer ist, wenn er das Recht der protestantischen Kirchenlehre als eigene Herzenssache vertritt, weil er mit ihrem religiösen Kern sich Eins weiss, aber so, dass auf jedem Punkt die vertiefte Lehrfassung hervortritt, welche allein die wahre Geistigkeit des Inhalts in der stachelichten Schale des altkirchlichen Dogmas zur Anerkennung bringen kann. Dass aber Baur dies gethan, und nicht etwa bloss unter der Firma des Protestantismus volltönende Stichwörter gebraucht habe für untergeschobene, dem kirchlichen Dogma wirklich innerlich fremdartige Lehren, dafür zeugt der entgegengesetzte Vorwurf von Strauss, er habe sich mehr als von seinem eigenen philosophischen Standpunkt aus anging, in die einzelnen Lehren des protestantischen Systems mit seinem eigenen Bewusstsein verwickelt gezeigt. Doch auch dieser Vorwurf, so entgegengesetzt er lautet, ruht mit dem vorigen auf demselben schiefen Grunde. Freilich, wenn er nur gegen einzelne Punkte der Baur'schen Darstellung gelten soll, so ist er begründet, indem Baur zu unmittelbar das, was ihm der eigentliche Kern, die Substanz der kirchlichen Lehre ist, in der Form des altkirchlichen Dogmas vertheidigt. Es gab sich dies aber natürlich, weil es sich dort um einen konfessionellen Streit handelte, in welchem eben das religiöse Recht des Pro-

126

Ferdinand Christian Baur.

testantismus auch in der konfessionellen Fassung der Lehre nachzuweisen war. Allein der Vorwurf von Strauss zielt wohl auf das innere Verhältniss von Baur's Bewusstsein zur protestantischen Kirchenlehre. Er will sagen: dass überhaupt Baur des altprotestantischen Dogmas sich wie der eigenen Sache annehme, während von seinem philosophischen Standpunkt aus dasselbe sich doch ebenso wenig halten lasse als das katholische, das sei noch der Mangel an durchschneidender philosophischer Konsequenz bei Baur. Hier tritt allerdings der Unterschied von Baur und Strauss zu Tag, aber nicht zu Gunsten von Strauss. Baur hat sich auf seinem philosophischen Standpunkt den historischen Sinn bewahrt, der die Einheit des Prinzips über dem geschichtlichen Umwandlungsprozess seiner Erscheinungsformen nicht aus den Augen und aus dem Herzen verliert, der sich des Rechtes bewusst bleibt, in der Durchführung des protestantischen Prinzips freier Wissenschaft gerade ein rechter protestantischer Theolog zu sein, und der mit diesem Recht auch die Pflicht in sich fühlt, die Sache der protestantischen Kirche als seine eigene auf dem Herzen zu tragen, mochten es nun Die, welche sich für die alleinigen Stimmführer und Säulen der Kirche halten, ihm anerkennen oder nicht. Strauss dagegen hat einseitig durchgeschnitten. Mit scharfer Konsequenz löst er von dem mit Baur gemeinsamen philosophischen Standpunkt aus die Vorstellungsform des christlichen Dogmas kritisch auf. Nicht das ist das Einseitige, dass er das thut, und zwar radikal bis auf den Grund, — das ist vielmehr sein grosses Verdienst, hier alle Halbheit abgethan zu haben — aber dass er n u r dies thut, als wäre damit die Arbeit am christlichen Dogma zu Ende, das ist seine Einseitigkeit, und zwar eine abstrakte Einseitigkeit in der Durchführung seines eigenen philosophischen Standpunktes. Es ist bezeichnend hiefür, wie unsre Gegner, die unsrer Richtung so gerne den Boden kirchlicher Berechtigung unter den Füssen wegziehen möchten, mit sichtlichem Behagen auf Strauss als unser enfant terrible hinweisen, der doch offen heraus sage, was wir uns und Andern vergeblich zu verhüllen suchen: dass unser philosophische Standpunkt und das Christenthum zwei unvereinbare Dinge seien und daher eine

Ferdinand Christian Baur.

127

Theologie, die Beides wissenschaftlich vereinigen wolle, ein Unding. Die Zeichnung einer Eichtling, die ihren Gegnern die genehmste ist, hat zum Voraus nicht das Vorurtheil für sich, dass sie auch die richtigste sei. Vom Gegner werden wir es uns nicht müssen sagen lassen, wie wir eigentlich denken müssten, wenn wir uns selbst konsequent sein wollten. Dieser Gegner mllsste wenigstens vor Allem über die Fundamentalansichten, deren Konsequenz er uns lehren will, nicht immer und immer wieder solche fundamentale Missverständnisse zu Markte bringen, wie hier gäng und gab ist, Missverständnisse, die ihm Strauss, auf den man sich dabei so gerne beruft, ebenso gut wie wir mit Protest zurückweist. Aber Strauss selbst ziehe ja diese Konsequenz«»; auf ihn dürfe man sich also doch wohl berufen, der als vollgültiger Vertreter unsers philosophischen Standpunktes und als Denker von schärfster Verstandeskonsequenz von beiden Seiten, von Freund und Feind, anerkannt sei. Ich möchte mich am Wenigsten, weder jetzt noch je, der undankbaren Feigheit schuldig machen, die mich an so vielen Theologen in ihren öffentlichen Urtheilen über Strauss von jeher so widerlich berührt hat. Der Name von Strauss ist von seinem ersten, gewitterähnlich erschreckenden, aber auch gewitterähnlich luftreinigenden Auftreten an in weitere Kreise hinaus, als sonst auch nur die Kunde von einem Mann der Wissenschaft dringt, ein verrufener geworden. Wie sehen wir da nicht Viele sich vor allen Dingen beeilen, ja nur jeden Verdacht der Mitgenossenschaft mit diesem vervehmten Mann von sich fern zu halten, indem sie angelegentlichst untergeordnete Differenzen hervorkehren und die wesentliche Uebereinstimmung verklausuliren. Wie ganz anders hat sich auch da Baur bewährt! Doch davon später. Die theologische Wissenschaft verdankt Strauss mehr bleibende Resultate, als nicht nur — natürlich — die prinzipiellen Gegner, die mit affektiver Geringschätzung ihn als schon längst vollständig überwunden und antiquirt ausgeben, sondern auch Viele von denen ihm zuerkennen mögen, die wesentlich doch nur auf seinen Schultern stehen. Aber Eine Einseitigkeit des Geistes haftet ihm an, die um so schroffer hervortritt und um so verhängnissvoller, je glänzender die Virtuosität ist, mit der er die

128

Ferdinand Christian Baur.

ihm eigene Gabe gebraucht. Die Verstandeskritik an der Vorstellungsform des religiösen Bewusstseins übt Strauss mit vollendeter Schärfe und Klarheit; aber die Kraft des spekulativen Sinns steht bei ihm hinter dieser Verstandesschärfe zurück, die Kraft, den gesammten Lebensprozess des Geistes in der reinen Gedankenform auszuprägen, die seine ganze Fülle zum vollen, durchsichtigen, freien Selbstbewusstsein des Geistes erhebt, damit aber auch das Wesenhafte, den substanziellen Kern in den Produkten der religiösen Vorstellung, aufweist und in seiner objektiven Wahrheit festhält, während sie die Vorstellungsform selbst als inadäquates, bloss subjektives, psychologisches Produkt im natürlichen Selbstverwirklichungsprozess des Geistes auflöst, indem sie dieselbe in ihre widersprechenden Bestandtheile, den geistigen, der bleibt, und den sinnlichen, der damit abgestreift wird, auseinanderlegt. Dies Verhältniss begründet aber das Band wesentlichen inneren Zusammenhangs und einer tiefen, im innersten Gehalt des Geistes selbst wurzelnden Einheit zwischen dem religiösen Geistesleben auf verschiedenen Stufen und darum in verschiedenen Formen des Bewusstseins. Es liegt also am Allerwenigsten in der Konsequenz des allgemeinen philosophischen Standpunkts, den wir mit Strauss theilen, dieses wesenhafte Band nicht anzuerkennen, sondern um der Verschiedenheit der Bewusstseinsformen willen durchschneiden zu wollen. Es ist ja nur die Eine Seite der Geistesarbeit dieses Standpunktes, den Geist von den ihm noch äusserlichen, wenn auch aus ihm selbst heraus gesetzten Bewusstseinsformen zu befreien und sie in sein Wesen, das sie heraus gesetzt hat, kritisch auflösend zurückzunehmen. In dieser Arbeit ist Strauss ein Meister. Sie thut dem Verstandesinteresse des Geistes genug und soll ihm auch bis auf den Grund genug thun. Aber sie allein ist noch nicht die ganze Geistesarbeit. Dem Vernunftinteresse des ganzen Menschen wird erst dann allseitig und umfassend Genüge gethan und damit die Konsequenz des philosophischen Standpunkts vollständig und nicht bloss einseitig vollzogen, wenn die andere Arbeit hinzukommt, durch den Wandlungsprozess der verschiedenen Bewusstseins- und Lebensformen das Band der Wesenseinheit des Geistes festzuhalten, es

1*29

Ferdinand Christian Baur.

theoretisch zum Bewusstsein zu erheben mit freiem, umfassendem Verständniss, aber auch praktisch es zu pflegen. Dazu bedarf's aber neben dem spekulativen Sinn, der in Strauss schon von Hause aus hinter dem kritischen zurücksteht, auch der Liebe zu der Gemeinschaft, die den tiefsten Lebensgrund der Menschheit Allen als diesen Einen zu Bewusstsein und Leben vermitteln und darum wie keine andere einigend übergreifen soll über die verschiedenen Entwicklungsstufen des Bewusstseins. Und da konnte nun freilich die Art, wie Strauss die Kirche und ihre Theologie zu erfahren bekam, nur vollends ersticken, was schon vorher in ihm nicht das Vorherrschende, was aber doch da gewesen war. Abgestossen, stiess er ab, kehrte der Kirche verbittert den Rücken und erklärte ihre Theologie für insolvent. Persönlich ist es zu entschuldigen; wer möchte den ersten Stein auf ihn werfen? Die wenigstens, welche ihn dazu getrieben, haben das Recht nicht dazu. Aber sachlich ist es darum nicht gerechtfertigt, und am wenigsten sehen wir ans etwa durch die Konsequenz des gemeinsamen philosophischen Standpunkts innerlich genöthigt, seinem Vorgang zu folgen. Die Gegner innerhalb der Theologie möchten uns freilich gern so haben, um dann leichter mit uns fertig zu werden und allein Meister zu bleiben auf einem Feld, das schlechthin Allen gemeinsam ist und auf dem eine gesunde Entwicklung des Ganzen und ein ganzes Leben des Einzelnen nur möglich ist, wenn es das bleibt. Auch Baur — um endlich wieder auf ihn zurückzukommen —, so gern Viele auch ihm die Thüre gewiesen hätten und wenigstens Alles thaten, um ihm das Bleiben zu verleiden, fand sich innerlich nicht veranlasst, darin seinem Schüler, den er wissenschaftlich nie verläugnet hat, zu folgen; und doch hätte es ihm wahrlich weder an Schärfe des Denkens gefehlt, die Nothwendigkeit dieses Schrittes zu erkennen, wenn sie wirklich die innere Konsequenz seines Standpunktes wäre, noch an der Entschiedenheit und Gradheit des Charakters, ihr zu folgen, wenn er sie eingesehen hätte. Aber er war und blieb Theolog mit seiner ganzen ungetheilten Persönlichkeit und weihte der Wissenschaft seiner Kirche und durch dieselbe dieser selbst unausgesetzt mit einer sittlichen und wissenschaftlichen Energie B i e d e r m a n n , Vorträge und Aufsätze.

9

130

Ferdinand Christian Baur.

wie Wenige sein ganzes Leben. Das Beispiel eines Andern bestimmt uns nicht, sondern die eigene Einsicht und Ueberzeugung; aber Beispiel gegen Beispiel: das von Baur dürfen wir dem von Strauss immerhin gegenüberstellen, als das eines Theologen, der sich auf demselben allgemeinen philosophischen Standpunkt, auf dem Strauss mit der Theologie und mit dem Christenthum (dies Letztere aber immer noch mit einem Fragezeichen —.man vergleiche seine vielbesprochene Vorrede zu Hutten) sich überworfen hat, gerade darum als ächten protestantischen Theologen weiss, weil er ihm allseitig konsequent treu bleibt.

m. Als in den Vierziger Jahren namentlich durch die verdienstvollen Arbeiten von Alexander Schweizer und Schneckenburger die Frage nach den feinern konfessionellen Unterschieden zwischen dem reformirten und dem lutherischen Typus des Protestantismus neu angeregt wurde, betheiligte sich auch Baur durch einige gediegene Aufsätze in den theologischen Jahrbüchern an diesen Verhandlungen*). Wir übergehen hier natürlich das Einzelne dieser gelehrten Kontroverse und heben nur zwei Stellen hervor, in welchen Baur seine prinzipielle Auffassung des Protestantismus, wie sie für seine Theologie leitend und maassgebend gewesen ist, kurz und klar ausspricht. Theol. Jahrb. 1855, S. 16: „Der Protestantismus ist seinem Prinzip und Wesen nach das Streben des freien selbstbewussten Subjekts, die Gewissheit seines Heils dadurch zu erlangen, dass es in dem Bewusstsein seiner Freiheit *) Ueber Prinzip und Charakter des Lehrbegriffs der reformirten Kirche in seinem Unterschied von der lutherischen, mit Biicksicht auf A. Schweizers Darstellung der reformirten Glaubenslehre. Theol. Jahrb. 1847,* 3. Heft. — Kritische Studien über das Wesen des Protestantismus. 1847, 4. H e f t — Noch ein Wort Uber das Prinzip des reformirten Lehrbegriffs. 1848, 3. Heft. — Das Prinzip des Protestantismus und .seine geschichtliche Entwicklung, mit Rücksicht auf die neusten Werke von Schenkel, Schweizer, Heppe und die neusten Verhandlungen über die Unionsfrage. 1855, 1. Heft.

Ferdinand Christian Baur.

131

die alleinige Ursache seiner Beseligung in der absoluten Kausalität Gottes erkennt." Daher bezeichnet Baur in seinen dogmengeschichtlichen Werken für den Entwicklungsgang der Dogmen die Reformation als die Epoche des Uebergangs vom Standpunkt der unmittelbaren Objektivität (im katholischen Dogma) zum Standpunkt der Subjektivität, der zuletzt in das andre Extrem des objektlosen Subjektivismus sich zuspitzte, um endlich in den Standpunkt der durch die Subjektivität vermittelten Objektivität sich aufzuheben, in welchem das Prinzip des Protestantismus sich erst allseitig verwirklicht. Solche, die sich nicht die Mühe nehmen wollten, zu verstehen, was Baur wohl mit dieser Bezeichnung ausdrücken möge, glaubten leichthin seine „gemachte Geschichtskonstruktion" damit widerlegt zu haben, dass j a gerade der Protestantismus, der katholischen Werkgerechtigkeit gegenüber, das Erlangen des Heils in die reine Hingebung an die objektive göttliche Gnade setze, also gerade den Standpunkt der Objektivität vertrete gegenüber einem wesentlich pelagianischen Subjektivismus. Wie sehr aber Eins das Andere fordere und Eins nur in der innern Einheit mit dem Andern absolut gefasst und durchgeführt werden könne, die menschliche Freiheit und die göttliche Gnade, das hat Baur in der obigen Definition des Protestantismus auf das Prägnanteste ausgedrückt. Wer auch dies nicht versteht, der nenne sich Baur gegenüber wenigstens keinen protestantischen Theologen. Die andere Stelle lautet (Dogmengeschichte S. 357): „Kann der Protestantismus durch jeden neuen Streit mit dem katholischen Dogma sich nur in der Ueberzeugung bestärkt sehen, wie wenig er Ursache hat, auf verlassene Positionen zurückzugehen und in der Vergangenheit zu suchen, was nur als eine Aufgabe der Zukunft vor ihm liegt, so gilt dasselbe auch von allen andern Gegensätzen, in welchen das Bewusstsein der Gegenwart sich bewegt. Nicht rückwärts, nur vorwärts liegt auf protestantischem Standpunkt das Ziel, nach welchem die weitere Entwicklung des Dogma zu streben hat. Da aber das Christenthum selbst als geschichtliche Erscheinung der Vergangenheit angehört, so kann die höchste Aufgabe, von deren Lösung alles Andre abhängt, nur 9*

132

Ferdinand Christian Baur.

darin bestehen, immer reiner und unbefangener zu erforschen, was das Christenthum ursprünglich und wesentlich ist." Dieser Erforschung des Urchristenthums hat denn auch Baur seine Hauptkraft zugewendet und wir gehen nur darum zuletzt auf dieses Gebiet seiner Thätigkeit ein, weil hier der Schwerpunkt derselben liegt. Hier hat Baur epochemachend gewirkt, hier einen Kreis von Mitarbeitern, die sogenannte neue Tübingerschule, um sich vereinigt, hier aber auch die zahlreichste und heftigste Gegnerschaft gefunden, gegen welche seine Forschungen zu sichern und in ihren Resultaten festzustellen er sich immer neu veranlasst sab. Wir haben aber auch darum das Bisherige vorausgeschickt, weil in seiner Auffassung vom Wesen des Protestantismus der innere Erklärungsgrund liegt, warum er der Erforschung des Urchristenthums sich vorzugsweise zuwandte, weil er nämlich gerade darin den Nerv der protestantischen Theologie sah. Namentlich aber giebt das, was wir über den Grundcharakter seiner theologischen Persönlichkeit vorausgeschickt haben, dass er seiner ganzen Natur nach wesentlich Dogmenhistoriker ist, den richtigen Standpunkt für die Auffassung und allseitig gerechte Würdigung seiner Leistungen auf dem Gebiet der Geschichtskritik, des Urchristenthums, sowohl was den positiven Gewinn, als was die sich durch sie hindurchziehenden Mängel betrifft. Baur wurde gleich von Beginn seines akademischen Lehramtes durch die ihm zugewiesenen Fächer auf die nähere Erforschung der Quellen für die urchristliche Geschichte hingelenkt. Dabei verstand sich ihm von vornherein der Grundsatz von selbst, dass für die geschichtliche Forschung keine altkirchliche Ueberlieferung zum Voraus als feststehende Thatsache dürfe hingenommen, sondern gleich jeder andern müsse untersucht werden, und zwar nach denselben Grundsätzen der Kritik, die sonst überall in der Geschichtswissenschaft gelten, und dass es überall die Aufgabe der Geschichtswissenschaft sei, nach dem natürlichen, im Wesen des Geistes wurzelnden Zusammenhang der Dinge zu forschen. *In einer Reihe von nicht bloss Aufsehen, sondern Epoche machenden Abhandlungen*) zog er einzelne Partien der urchrist*) Die Christuspartei in der korinthischen Gemeinde. Tüb. Zeitschr.

Ferdinand Christian Baur.

133

liehen Geschichte in nähere Untersuchung, in der sich ihm bald immer bestimmter der Hauptgesichtspunkt herausstellte, von dem aus sich ihm eine neue, umgestaltende Auffassung der gesammten urchristlichen Geschichte ergab. Man hatte diese bisher nur entweder mit unmittelbar gläubigen Augen angesehen, d. h. gläubig im schlechten, missbräuchlichen Sinne des Wortes, in welchem es nur den Gegensatz zu freier wissenschaftlicher Forschung bedeutet;*) man hatte über die Quellen derselben, die neutestamentlichen Schriften, die von der alten Kirche überlieferten Angaben unbesehen hingenommen und diese gegen aufsteigende Zweifel um jeden Preis festzuhalten für Glaubensaufgabe eines gläubigen Theologen angesehen; man hatte den historischen Inhalt derselben als unmittelbare Geschichte, den Lehrgehalt als kurzweg göttliche Offenbarung angenommen und jedes dem Verstand aufsteigende Bedenken dagegen mit dem übernatürlichen Charakter der Offenbarungsgeschichte zugedeckt. Oder man hatte höchstens eine reservirte Kritik an Einzelnem gewagt, die sich auf jedem Punkt, wo Zweifel nicht zu unterdrücken waren, zum Voraus ängstlich nach einer „gläubigen" Ausgleichung umsah und tiefere Differenzen lieber vertuschte, als aufdeckte. Die Verschiedenheiten in der apostolischen Lehre, gegen die man die Augen nicht völlig verschliessen konnte, sah man nur als leise Schattirungen und Nuancen an in der Darstellung der Einen, gemeinsamen, göttlich gegebenen Heilsthatsache und Heilswahrheit, wie sie ja in der verschiedenen Individualität und Stellung und jeweiligen Aufgabe der Apostel natürlich begründet gewesen. Für Baur dagegen stellte sich auf jedem Punkt, den er neu in Untersuchung zog, immer deutlicher ein tiefgreifender sachlicher Gegensatz in der apostolischen Auffassung des Christenthums heraus zwischen der judaistisch beschränkten der Urapostel und der universellen des 1831. — Die sogen. Pastoralbriefe des Apostels Paulus. 1835. — Zweck und Veranlassung des Römerbriefs. Tüb. Zeitschr. 1836. — Ueber das Zungenreden. Studien und Kritiken. 1838. — Ursprung des Episkopats. Tüb. Zeitschr. 1838. *) Wir werden das Wort, wo eB in diefeem Sinne zu nehmen ist, im. Verlauf immer durch Anführungszeichen herausheben.

134

Ferdinand Christian Baur.

Paulas, die einerseits allerdings beide in dem Wesen und der Erscheinung Jesu Christi wurzelten und mit geschichtlicher Berechtigung aus diesem gemeinsamen Quellpunkt hervorgegangen waren, anderseits aber durch ihren Konflikt die ganze Entwicklung des Urchristenthums wesentlich bedingten. Diesen Gegensatz nun durch alle seine Gänge und Phasen zu verfolgen, die urchristliche Literatur, nicht nur die kanonische der neutestamentlichen Schriften, sondern auch die ausserkanonische als Dokument dieses Prozesses zu durchforschen und von da aus dann rückwärts den sichern Weg zum Ursprung zu suchen, das erkannte Baur als die Aufgabe einer wirklich geschichtlichen Erforschung des Urchristenthums. Aber während er eben erst im Begriffe war, die ersten Linien zu der regelrechten Belagerung, auf die er es anlegte, zu ziehen, unternahm der Verfasser des Lebens Jesu (wie dieser selbst im Leben Märklin's sich ausdrückt, S. 51) mit einer Handvoll Kerntruppen einen Sturm auf die Mauern Zions. Von dem Hauptzionswächter, Hengstenberg und seiner evangelischen Kirchenzeitung, sofort für diesen Frevel seines Schülers mitverantwortlich gemacht, trat Baur nicht nur für die Berechtigung der voraussetzungslosen Kritik entschieden in die Schranken, sondern er anerkannte auch im Wesentlichen die negativen Resultate der Straussisclien Kritik, welche die Wundererzählungen aus dem Gebiete der Geschichte verwies. Im Wesentlichen — denn wenn auch Baur in der Wahrung des Rechts freier Forschung gegenüber „gläubigen" Zumuthungen mit dem Beispiel voranging, dass da Einer für Alle und Alle für Einen einzustehen haben: wo es auf die Ansichten im Einzelnen ankam, da anerkannte er keine solidarische Haftbarkeit; er stand nur für das ein, was sich ihm selbst durch eigene Forschung ergeben. Ueber die Punkte, auf die sich seine eigenen speziellen Untersuchungen noch nicht erstreckt hatten, hielt er sein Urtheil zurück; am wenigsten liess er sich dasselbe durch die Konsequenzmacherei von solchen Gegnern aufbürden, deren eigene Ansichten nicht als Resultat aus freier Erforschung des Einzelnen hervorgegangen sind, sondern ihnen zum Voraus als „gläubige" Voraussetzung feststehen und

Ferdinand Christian Baur.

135

die darum nun auch die „ungläubigen" Kritiker ohne viel Federlesens in Bausch und Bogen zusammenzunehmen und in Einen Tiegel zu werfen lieben, weil's ihnen ja doch nur auf den Generalgegensatz „gläubiger" oder „ungläubiger" Stellung zum „Wort Gottes" ankommt. Baur, dem es streng nur auf die historische Wahrheit ankam, vertrat ebenso entschieden wie das Hecht freien Forschens nach derselben für Alle, so auch das persönliche Recht, dass Jeder nur für die Ergebnisse seines eigenen Forschens zu behaften sei. Was Baur von vornherein an der Straussischen Kritik der evangelischen Geschichte auszusetzen hatte, war deren bloss negativer Charakter, dass sie tiberall bei dem negativen Resultate stehen blieb, Erzähltes als nicht geschehen, sondern als Produkt der Vorstellung nachgewiesen zu haben, und dagegen, was Geschichtliches dahinter und dem ganzen mythenschaffenden Prozess zu Grunde liege, nicht weiter zu ermitteln suchte, sondern in ungewisser Schwebe liess. Denn Baur's historischer Sinn war gerade darauf gerichtet, durch positive Kritik zu ermitteln, was geschehen sei. „Das Ziel seiner kritischen Arbeiten — wir geben es mit den Worten des Nekrologs wieder — war dieses: von der Entstehung und der ersten Entwicklung der christlichen Religion eine solche Vorstellung zu gewinnen, welche mit den nachweisbaren Thatsachen, den allgemeinen Gesetzen der Erfahrung und der geschichtlichen Wahrscheinlichkeit übereinstimmend, uns in jenen Vorgängen einen naturgemässen, allseitig begründeten und innerlich zusammenhängenden Verlauf erkennen liesse; und wie viel er auch zu diesem Behufe aus der gegebenen Ueberlieferung als ungeschichtlich ausscheiden, wie manche Schrift er ihrem angeblichen Verfasser absprechen und einer spätem Zeit zuweisen zu müssen glaubte: sein leitender Gesichtspunkt bieb doch immer jenes positive Interesse des Geschichtsforschers, und die negative Kritik war ihm stets nur ein Mittel, um" den wirklichen Hergang festzustellen." Baur konnte sich nun aber mit dieser Arbeit nicht etwa direkt an das Leben Jesu wenden, dessen evangelisch überliefertes Bild Strauss in seinen einzelnen Zügen zum grossen Theil als ungeschichtlich aufgelöst hatte. Er ging vielmehr, um

136

Ferdinand Christian Baur.

eine sichere Basis zu gewinnen, ohne welche alles Hin- und Herreden über das Geschichtliche des Lebens Jesu in der Luft schwebt und nur einen dogmatischen, nicht aber einen historischen Charakter und Werth hat, auf seinem schon vorher betretenen Wege weiter, nämlich erst die Quellen der urchristlichen Geschichte, sowohl die kanonischen Schriften des Neuen Testamentes als auch die ausserkanonischen üeberreste der urchristlichen Literatur, zu untersuchen. Das war von Freund und Feind als ein Hauptmangel der Straussischen Kritik erkannt worden, dass sie sich ohne vorgängige genauere Untersuchung der Quellen und ihres literarischen Charakters direkt auf den Stoff selbst und die Frage nach dessen Geschichtlichkeit oder Ungeschichtlichkeit geworfen hatte. Die Einen beuteten diesen Mangel aus, um der Straussischen Kritik überhaupt die Spitze zu brechen; die Andern aber, und vor Allen Baur, sahen sich veranlasst, diese Lttcke auszufüllen und erst durch eine literarhistorische Untersuchung aller in Frage kommenden Quellen fllr die Kritik der Geschichte einen festen Boden zu gewinnen. Sind die Schriften auch keine Quellen, aus denen sich mit wissenschaftlicher Sicherheit unmittelbar die Geschichtlichkeit dessen, was sie berichten, entnehmen lässt: so sind sie doch unmittelbar historische Denkmäler des urchristlichen Geistesprozesses. Als seine E r z e u g n i s s e sind sie auch seine unmittelbarsten Z e u g n i s s e . Es kommt nur darauf an, durch Untersuchung ihrer Beschaffenheit und ihres Verhältnisses zu einander ihren Standort in diesem Frozess zu ermitteln. Dadurch wird es dann erst möglich, auch ihren Werth als Geschichtsquelle richtig zu taxiren und sie den allgemeinen Gesetzen der Geschichtsforschung gemäss als solche zu benutzen. All unser wissenschaftliches Denken geht j a als Nachdenken diesen umgekehrten Weg von den Erscheinungen, die unmittelbar vorliegen, auf die Ursachen, die ihnen zu Grunde liegen. Was in der Wirklichkeit das Letzte ist, das bildet für die Wissenschaft den ersten Ausgangspunkt; und was in der Wirklichkeit das Erste, das Prinzip, das ist für die Wissenschaft das Endziel, das sie zu gewinnen sucht. Dieser Gang ist auch der Geschichteforschung vorgezeichnet: bei einer grossen historischen Erscheinung muss sie

Ferdinand Christian Baur.

137

sich rückwärts die Bahn brechen zur Erkenntniss ihres Quellpunktes. In der Entstehungsgeschichte des Christenthums ist dasjenige, mit dessen Untersuchung Strauss angefangen, die Person Jesu, vielmehr das Letzte, dessen wirklich geschichtliche Erkenntniss sich gewinnen lässt. Aber wie von dem einmal aus den Erscheinungen gefundenen Prinzip aus diese Erscheinungen erst ihr innerstes Verständniss erhalten: so allerdings auch die ganze Geschichte des Urchristenthums mit all ihren als Ausgangspunkt für unsre Untersuchungen vorliegenden Erscheinungen erst aus dem Wesen der Person Christi. Diesen Weg von den einzelnen Erscheinungen und Denkmälern des urchristlichen Geschichtsprozesses aus rückwärts gegen den Quellpunkt dieses Prozesses hin, erst von den einzelnen Punkten der Peripherie nach dem Centrum zu, ging nun Baur mit einer Gründlichkeit, die immer neues Material für die Lösung des Problems zusammenbrachte und das Bekannte immer neu durchforschte und prüfte mit einem Scharfsinn, der sich Nichts entgehen liess, was durch Kombination den Gewinn irischer Aufschlüsse versprach. In Baur traf ohnehin diese Einsicht mit einem Grundzug seines Wesens zusammen, dass er als philosophischer Historiker in aller Geschichte sein Interesse weniger der Seite der unmittelbaren T h a t s ä c h l i c h k e i t als der des Gedankens darin zuwandte, weniger dem Leben der Persönlichkeiten als dem Geist, der sich in ihnen ausprägte, der Entwicklung der Ideen, deren Träger sie waren, kurz dass er durchweg wesentlich Dogmenhistoriker war. So ging er auch in der Entstehungsgeschichte des Christenthums mit seiner Forschung nicht direkt auf den lebendigen Quellpunkt desselben, die konkret persönliche Lebensgestalt Jesu zurück, sondern fing mit seiner Untersuchung da an, wo Christus bereits Gegenstand des Glaubens, Inhalt der Lehre ist, und untersuchte die neutestamentlichen Schriften vorab in ihrer literarischen Beschaffenheit, um zunächst darüber in's Beine zu kommen, von was für einer Entwicklungsphase des urchristlichen Bewusstseins sie Zeugniss ablegen; erst von da aus wollte er das richtige Urtheil über sie als Quelle für die äussere Ge-

138

Ferdinand Christian Baur.

schichte zu gewinnen suchen. Aus diesem Grunde begann er mit den Briefen vor den Evangelien, und bei den Evangelien nicht mit der Frage nach der Geschichtlichkeit ihres Stoffes, sondern nach ihrer Komposition, nach ihrem literarischen Charakter und Verhältniss zu einander, nach dem Standpunkt und Zweck ihrer Darstellung. Was ihm gleich beim Beginn seiner Untersuchungen über das Urchristenthum bedeutsam entgegengetreten war, der Gegensatz des partikularistischen Judenchristenthums und des universellen Paulinismus, das trat ihm immer mehr als der Angelpunkt der ganzen Entwicklung in den Vordergrund; er erkannte darin die treibende Macht in dem ganzen Lebensprozess des Urchristenthums bis zur Gestaltung der altkatholischen Kirche. Diesen Gegensatz einerseits an den Schriften selbst durch alle Phasen hindurch zu verfolgen bis zu seiner Ausgleichung in der Gestaltung der altkatholischen Kirche, anderseits aber ihn aus dem Wesen des Christenthums selbst und den geschichtlichen Bedingungen, unter denen dieses in die Welt eingetreten war, zu begreifen, sah Baur nun als die erste und wichtigste Aufgabe an*). Alles prüfte er *) Dogmengeschichte S. 63: Wie das Christenthum dem Judenthum und Heidenthum gegenübertrat und nur im Unterschied von beiden eine neue eigentümliche, den Gegensatz beider zur Einheit in sich aufhebende Form des religiösen Bewusstseins in sich darstellen konnte, so musste auch die erste innerhalb des Christenthums sich entwickelnde Verschiedenheit der Richtung durch das Verhältniss bestimmt werden, in welchem es auf der einen Seite zum Judenthum, auf der andern zum Heidenthum stand. Da es, aus dem Judenthum hervorgegangen, in ihm die natürliciie Wurzel seines Ursprungs hatte und in dem engsten Zusammenhang mit ihm stand, so lag es ganz in der Natur der Sache, dass es auf der ersten Stufe seiner Entwicklung selbst noch den Charakter des Judenthums an sich trug; es war nur der Glaube an den nicht erst künftigen, sondern schon jetzt in der Person Jesu von Nazaret erschienenen Messias, was die ersten Christen als Anhänger Jesu von ihren bisherigen Glaubensgenossen unterschied. Je enger aber dieser Glaube an das Judenthum sich anschloss, um so mehr hing ihm auch noch der jüdische Partikularismus an; die erste eine Differenz hervorrufende Frage konnte daher nur die auf den Umfang des christlichen Heilsprinzips sich beziehende sein, ob das messianische Heil nur geborenen Juden oder auch gläubigen Heiden zu Theil werde. Es ist dies der Gegensatz des Judaismus und Pauliniamus, des Partikularismus und Univcrsalismus.

Ferdinand Christian Baur.

139

zunächst, wenn auch nicht ausschliesslich, darauf hin. Wenn er auch damit den richtigen Hauptgesichtspunkt aufgestellt hatte, so trat allerdings doch manches Moment, das ebenfalls von wesentlicher Bedeutung ist in der Geschichte des Urchristenthums, das aber nicht unmittelbar in die Geschichte jenes Gegensatzes eingreift, darüber zu sehr in den Hintergrund, oder gerieth in eine einseitige Beleuchtung von jenem Einen Hauptgesichtspunkt aus; mehr aber als bei Baur selbst, bei einzelnen seiner Mitarbeiter und Schüler, die seine fruchtbaren Grundgedanken in einer Reihe von Untersuchungen über einzelne Partien des weiten Gebietes durchzuführen unternahmen. Solche Einseitigkeiten werden immer den energischen Eintritt einer neuen leitenden Idee in einer Wissenschaft begleiten. Sie werden aber durch den weiteren Verlauf der Untersuchungen, zu denen sie den Anstoss geben, korrigirt und die Idee auf ihre Wahrheit zurückgeführt, besonders wenn ihr Träger selbst von reinem Wahrheitssinn beseelt ist. Gerade dieser Wahrheitssinn, der durch keinerlei anderweitige Rücksichten sich will leiten lassen, hat sich vielleicht auf der Fährte eines richtigen Gedankens zu weit führen lassen. Er wird sich aber durch den Widerspruch, auf den er damit stösst, zur weitern Prüfung der Grundansicht und ihrer ersten Durchführung aufgefordert finden und für jede aus wirklich eingehender Prüfung hervorgehende Berichtigung durch Andere empfänglich und dankbar sein. Dass das bei Baur in seltenem Grade der Fall gewesen, wird Niemand auch von Gegnern seiner Anschauung in Abrede stellen, der es auch nur einigermaassen verfolgt hat, wie unermüdlich und unablässig er sich durch jeden Gegner bewegen liess, seine Ansichten über die entscheidenden Partien des Urchristenthums stets erneuter Prüfung zu unterwerfen, aus der ihm seine Grundanschauung durch jede Berichtigung nur vertiefter bestätigt hervorging. Gegner freilich, die ihm dieselbe in Bausch und Bogen damit angriffen, dass sie sie zur Karrikatur entstellten und diese mit allgemeinen Stichwörtern mehr verdächtigten als bekämpften, stellte er schonungslos in ihrer wissenschaftlichen Blosse dar, und Mancher, der sich so wohlfeilen Kaufs an ihm seine orthodoxen Sporen verdienen wollte, musste die ganze Wucht

140

Ferdinand Christian Baur.

seines stets schlagfertigen Armes fühlen. Der freie Humor, mit dem er gelegentlich neben dem Ernst der Wissenschaft ein übelangebrachtes Pathos in seine Schranken wies, mochte diesen oft am Empfindlichsten sein.

IV. Für die Lösung seiner Aufgabe nahm Baur sachgemäss den Apostel Paulus zum Ausgang. Dies ist der frühste Punkt in der urchristlichen Geschichte, der uns unmittelbar durch sich selbst dokumentirt vorliegt und dadurch der historisch-kritischen Untersuchung zum festen Anhalt dienen kann; es ist zugleich gerade der Punkt, auf dem das Christenthum in die Sphäre seiner welthistorischen Bedeutung herausgetreten ist. Von da aus ist rückwärts der Weg zur sichern Ermittlung der Geschichte seines Ursprungs zu suchen, wie vorwärts die Einsicht in die weitere Entwicklungsgeschichte desselben zu gewinnen*). Dies unternahm nun Baur in dem Werke „Paulus, der Apostel Jesu Christi. Sein Leben und Wirken, seine Briefe und Beine Lehre, 1845." Ueber der Revision dieses seines Lieblingswerkes für die zweite Auflage traf ihn der Tod. Den ersten Theil dieses Buches bildet eine auf der Kritik der Apostelgeschichte beruhende Untersuchung Uber *) Paulas S. 3: „Ist es, was das Leben Jesu betrifft, das von Jesu zuerst ausgesprochene und durch die Hingabe seiner ganzen Persönlichkeit bethätigte Bewusstsein der Idee des Christenthums und des Prinzips desselben, was uns aus der evangelischen Geschichte als der Inbegriff der historischen Bedeutung des Lebens Jesu entgegentritt, so ist es nun, wenn wir von der evangelischen Geschichte zu der Geschichte der apostolischen Zeit fortgehen, die praktische Realisirung jener Idee, die das eigentliche Objekt der historischen Betrachtung ist. Um die praktische Realisirung der Idee des Christenthums handelte es sich dann erst, als die durch den Tod und die Auferstehung Jesu in die Wirklichkeit des Bewusstseins eingetretene und zu einer lebendigen Macht in demselben gewordene Idee an den Schranken des nationalen Judenthums das Haupthinderniss fand, um zu ihrer weltgeschichtlichen Realität zu gelangen. Wie diese Schranken durchbrochen wurden, wie das Christenthum, statt eine blosse Form des Judenthums zu bleiben und in ihm zuletzt sogar wieder unterzugehen, sich in seinem eigenen selbständigen Prinzip erfasste, um sich von ihm loszureissen und als eine neue, von ihm wesentlich verschiedene, von aller

Ferdinand Christian Baur.

141

das L e b e n und Wirken dea Apostels. Baur führte hierbei die schon von Schneckenburger*) scharfsinnig begründete, aber nicht konsequent festgehaltene Auffassung des Zwecks der Apostelgeschichte durch Zergliederung ihrer Geschichtserzählung, namentlich durch Eonfrontation derselben mit den authentischen Angaben des Apostels genauer und vollständiger durch, — dass sie nämlich nicht eine aus der unmittelbaren Nähe der erzählten Ereignisse stammende, historisch zuverlässige Darstellung sei, sondern eine Darstellung des Urchristenthums vom Standpunkt der im Lauf des zweiten Jahrhunderts aus den ursprünglichen Gegensätzen sich herausgestaltenden einheitlichen katholischen Kirche. Der Verfasser, der allerdings ältere mündliche und auch schriftliche Quellen benutzt und in einander gearbeitet hat, sieht die Urgeschichte im Reflex seiner eigenen Zeit und von seinem persönlichen Standpunkt an, dem einerseits überhaupt jene Urzeit der Apostel bereits in einem idealen Licht zu verschwimmen anfängt, anderseits aber namentlich der Gegensatz der Urapostel und des Paulus zu der friedlichen Einheit verfliesst, in welche seine eigene Zeit den Gegensatz der von jenen herdatirenden Eichtungen auszugleichen und aufzuheben den notwendigen innern Drang hatte. Von den Uraposteln, und namentlich ihrem Hauptvertreter Petrus, streift sich ihm der prinzipielle Gegensatz ab, mit welchem sie in Wirklichkeit sich dem Universalismus des Paulus entgegengestemmt hatten: Petrus erscheint selbst als nationalen Partikularität des Judenthums befreite Form des religiösen Bewusstseins und Lebens sich ihm entgegenzustellen, dies ist der weitere, wichtigste Punkt der Urgeschichte des Urchristenthums. Auch hier ist, wie in der evangelischen Geschichte, die Einheit eines individuellen Lebens der eigentliche Gegenstand der historisch-kritischen Betrachtung., Dass das Christenthum, was es Beiner universellen historischen Bedeutung nach ist, erst durch den Apostel Paulus geworden ist, ist unläugbare historische Thatsache; auf welche Weise dies aber von ihm geschehen ist, wie dabei sein Verhältniss zu den andern ältern Aposteln gedacht werden muss, ob er in Uebereinstimmung mit ihnen, oder im Widerspruch und Gegensatz gegen sie die von ihm zuerst geltend gemachten Ansichten und Grundsätze durchfahrte, dies ist es, was immer noch einer genauem und durchgreifenden Untersuchung bedarf." *) Ueber den Zweck der Apostelgeschichte. 1841.

142

Ferdinand Christian Baur.

Bahnbrecher für die Heidenbekehrung des Paulus, und umgekehrt von dem Universalismus des Paulus, der sich in seiner äussern Konsequenz, der Ausbreitung des Evangeliums über die Heidenwelt, thatsächlich schon längst den Sieg errungen hatte, stumpft sich das Bewusstsein der innern Begründung ab, die prinzipielle Aufhebung des jüdischen Gesetzesstandpunkts, die bei Paulus selbst unmittelbar aus der Art, wie er Christ und Apostel geworden, hervorgegangen, bei den übrigen Aposteln aber nie zum vollen Bewusstsein gekommen war und daher aller zeitweisen persönlichen Anerkennung des grossen Heidenapostels ungeachtet immer wieder zum ungelösten oder nur äusserlich ausgeglichenen Konflikt geführt hatte. Das Werden der altkatholischen Kirche ist der faktische äussere Sieg des paulinischen Universalismus, aber um den Preis der Abstumpfung seiner inneren prinzipiellen Begründung. Das macht ja den Grundcharakter der ganzen katholischen Kirche aus. Erst eine spätere Epoche, die Reformation, griff, nachdem die hieraus hervorgehende Veräusserlichung und Judaisirung des Christenthums zum Extrem völliger Verkehrung seines Wesens gediehen war, wieder tiefer auf die paulinische Begründung des Satzes, „das Heil allein aus dem Glauben", zurück; allein auch sie hat diesen Satz, der das Prinzip reiner Geistesreligion in sich schliesst, noch nicht allseitig und vollständig durchgeführt: dies bleibt erst der Zukunft vorbehalten. Von dem Standpunkt nun, den seine Zeit, die der werdenden katholischen Kirche, ihm gab, stellt der Verfasser der Apostelgeschichte mit irenischer und namentlich für den Apostel Paulus apologetischer Tendenz die Urgeschichte der Kirche dar. „So unhistorisch daher — das ist das Urtheil, das sich Baur aus der Untersuchung der Apostelgeschichte ergeben hat — ihre Darstellung auf manchen Punkten erscheint, wo wir sie nach den eigenen Angaben des Apostels prüfen können, so sehr stimmt sie auch wieder in so vielen Zügen mit der durch anderweitige Zeugnisse beglaubigten Geschichte jener Zeiten überein. Sie bleibt daher, ungeachtet über ihren Verfasser, den Zweck und die Zeit ihrer Abfassung ganz anders geurtheilt werden muss, als die gewöhnliche Meinung ist, eine

Ferdinand Christian Baur.

143

höchst wichtige Quelle für die Geschichte der apostolischen Zeit, aber auch eine Quelle, aus welcher erst durch strenge historisehe Kritik ein wahrhaft geschichtliches Bild der von ihr geschilderten Personen unä Verhältnisse gewonnen werden kann" (S. 13). Im zweiten Theil seines Buches analysirt Baur die paulinischen Briefe hinsichtlich ihrer Situation, ihres dadurch bedingten Zwecks, ihrer Komposition und ihres Inhalts, indem er seine früheren Untersuchungen über einzelne Partien hier einheitlich zusammenstellt. Er theilt die dreizehn Briefe, die in unserm Kanon unter dem Namen des Paulus stehen, in drei Klassen. Die erste Klasse bilden die vier unbestritten ächten Hauptbriefe, der Galater-, die beiden Korinther- und der Römerbrief, in welchen die Persönlichkeit des Apostels und seine Lehre sich urkundlich in scharf ausgeprägter Individualität zeichnet. In allen vieren tritt die Situation der Abfassung und der durch diese gegebene persönliche Zweck aus der Komposition bestimmt markirt hervor; alle vier beziehen sich auch wesentlich auf den Grundgegensatz des Apostels gegen das Judenchristenthum. Zur zweiten Klasse nimmt Baur die sogenannten Briefe aus der Gefangenschaft, die an die Kolosser, Epheser, Philipper und an den Philemon, nebst den zwei Briefen an die Thessalonicher zusammen. Er erklärt sie, nachdem schon frühere Kritiker, wie de Wette, Zweifel gegen einzelne unter ihnen geäussert, mehr oder weniger entschieden für unächt, der nachpaulinischen Lehrentwicklung angehörig, aus Gründen, die theils der Unangemessenheit der darin angenommenen Situation, theils der über Paulus hinaus fortgeführten Lehre derselben entnommen sind. Am Entschiedensten spricht Baur die Briefe der dritten Klasse, die Pastoralbriefe, dem Apostel Paulus ab wegen der Unvereinbarkeit der in ihnen vorausgesetzten Situation mit dem beglaubigten Leben des Apostels, wegen des ganz abweichenden, unter sich aber gleichartigen Sprachgebrauchs und wegen der Voraussetzung ausgebildeter kirchlicher Institutionen, welche diese Briefe in die Zeit der sich bildenden katholischen Kirche verweisen. Hatten frühere Kritiker sich begnügt, einzelne Zweifel gegen die Aechtheit dieser Briefe auszusprechen, so suchte Baur weiter auch positiv die Stelle auszumitteln, die denselben in

144

Ferdinand Christian Baur.

der Entwicklung des urchristlichen Bewusstseins zukomme, wodurch die negative Kritik erst einen festen Halt erhielt und zu einem positiven Ergebniss zu führen versprach. — Im dritten Theil stellt Baur den L e h r b e g r i f f des Apostels in systematischem Zusammenhang dar. Wenn man dieser Darstellung auch den Vorwurf machen kann, dass sie das unmittelbar individuelle Kolorit zu viel abstreife, so wird man ihr doch zugestehen müssen, dass sie in den innersten Gedankengehalt und in den Zusammenhang der einzelnen Lehren tiefer eingedrungen ist, als alle früheren Darstellungen des paulinischen Lehrbegriffs. Bald nach Paulus erschienen die „Kritischen Untersuchungen über die kanonischen Evangelien, ihr Verhältniss zu einander, ihren Charakter und Ursprung" (1847). Auch in diesem Buch schloss Baur schon früher erschienene Einzeluntersuchungen (namentlich die epochemachende Abhandlung über das Evangelium Johannis, in den theologischen Jahrbüchern 1844) mit neuen zu einem Ganzen zusammen. Es ist nicht die Kritik der evangelischen Geschichte, auf die sich Baur hier einlässt, sondern nur eine Kritik der evangelischen Geschichtsquellen, als Basis für eine Geschichtsforschung, die auf sichcrm Weg über bloss negative Resultate hinaus auch positive Ergebnisse anstrebt. Dabei anerkennt Baur freilich, dass auf der andern Seite auch erst eine vorgängige Kritik der Geschichte die nothwendige Unbefangenheit gegenüber dem Inhalt dieser Schriften gebe, welche nothwendig sei, um deren schriftstellerischen Charakter rein und voraussetzungslos in's Auge fassen zu können. Den Hauptbestandtheil des Buches bildet die Untersuchung über die Komposition des vierten Evangeliums. Dass dieses Evangelium einen wesentlich lehrhaften Charakter habe, nämlich den bestimmten dogmatischen Begriff von der Person Christi, den der Prolog in den allgemeinen Grundzügen vorausschickt, in der Geschichtserzählung des Lebens Jesu allseitig zu expliziren, und dass die Auswahl und Anordnung des Stoffes durch diesen Zweck bestimmt sei, das kann wohl Niemand, der offene Augen haben will, in Abrede stellen, namentlich wenn man die Geschichtserzählung der drei ersten Evangelien damit zusammenhält. Aber wenn man dies auch im Allgemeinen

Ferdinand Christian Baur.

145

anerkannte, so wich man — nach theologischer Art — der Konsequenz dieses von der augenfälligen Beschaffenheit des Evangeliums aufgedrängten Gesichtspunkts in der Auffassung des Einzelnen doch meistens wieder aus. Baur dagegen fixirte die Frage auf die Alternative, „ob die aus der geschichtlichen Erzählung hervorblickende Idee nur als ein verschwindendes Moment der rein geschichtlichen Tendenz des Evangeliums anzusehen sei, oder ob die Idee in ihrer eigenen selbstständigen Bedeutung so tibergreifend über die Geschichte sei, dass sie diese selbst nach ihr gestalte und im Grunde nur zur Form ihrer äussern Erscheinung gemacht habe" (S. 87). Das Letztere sucht nun Baur nachzuweisen, indem er die ganze Komposition des Evangeliums bis in's Einzelne hinein als Durchfuhrung der Grundidee von dem Gegensatze der Göttlichkeit Jesu als des in der Welt erschienenen ewigen Logos und des Unglaubens der Welt, repräsentirt in den Juden, darzustellen und so das Evangelium durchsichtig zu machen unternimmt. Man kann an dieser Auffassung aussetzen, dass sie die Komposition des Evangeliums zu unmittelbar und ausschliesslich unter den Gesichtspunkt des Systematikers stellte und darum zu streng bis in's Einzelne hinein in aller Erzählung nur die Entfaltung der Grundidee sehe, während gerade die Form des Ganzen, die Darstellung allerdings einer dogmatischen Idee, aber in Form eines Lebensbildes Jesu, dem freiem Schaffen und Ordnen der künstlerischen Intuition und ebenso der grössern Verwendung von historischen Reminiscenzen aus dem wirklichen Leben Jesu — wie immer auch dem Verfasser vermittelt — zum Voraus einen bedeutenden Spielräum gestatte. Das ist nun einmal Baur's Art: direkt, stramm geht er auf den Gedanken, die allgemeine Idee, ein und verfolgt diese scharf durch alle Gänge ihres nothwendigen Prozesses hindurch-, aber er bringt dabei den Spielraum freierer zufälligerer Bewegung, den das individuelle Leben überall geltend macht, zu wenig in Rechnung. Es ist das eine Klippe für den an scharfe Konsequenz des Gedankens gewöhnten Kritiker und Geschichtsschreiber. Baur wird in all seinen Darstellungen etwas vermissen lassen, die ich möchte sagen sinnlich unmittelbare Lebensbewegung, während er dafür B i e d e r m a n n , Vorträge und Aufsätze.

JQ

146

Ferdinand Christian Baur.

dem innern Gang des Lebensprozesses, der doch der individuellen Erscheinung als das Wesentliche zu Grund liegt, mit tieferm Blick nachgeht und ihn dem Verständniss aufdeckt. Man anerkenne, man rüge — und ergänze, wenn man kann — jenen Mangel bei Baur; aber man sei so gerecht, die Kehrseite desselben auch anzuerkennen. Auf welcher Seite aber, wenn einmal allem Menschlichen Unvollkommenheiten und Einseitigkeiten anhaften sollen, wird das Wichtigere in der Wissenschaft geleistet? So viel in der angedeuteten Richtung an Baur's Exposition des vierten Evangeliums, wie mehr oder weniger an all seinen Arbeiten, gerügt werden mag als ein Zuviel von Gedankenstrenge und Scharfsinn — ein Fehler, den Andre glücklich vermieden haben —: sie hat doch den bleibenden Grund gelegt für das wahrhaft historische Verständniss desselben und der Rath- und Haltlosigkeit der frühern Kritik in diesem Punkt ein Ende gemacht. Von dem vierten Evangelium, dem spätesten, das zugleich die reifste und freieste Frucht der urchristlichen Glaubensentwicklung überhaupt ist, geht dann Baur stufenweise rückwärts zu den ältern, ursprünglicheren Evangelienbildungen über. Zuerst begegnet ihm da das Evangelium des Lukas als paulinische Gestaltung der urchristlichen Ueberlieferung, während er ihre relativ ursprünglichste Form in dem Evangelium des Matthäus mit seinen judenchristlichen Grundzügen erkennt. Ueber das zweite Evangelium hält Baur die früher fast allgemeine Annahme, die es als einen Auszug aus den beiden andern fasste, fest; er legte ihm deshalb einen neutralen, vermittelnden Charakter bei, was er später noch in einer besondern Schrift über das Markusevangelium (1851) gegen die entgegengesetzte, auch von befreundeten Mitarbeitern vertretene Auffassung desselben als des Urevangeliums näher zu begründen suchte. Die synoptische Frage über das schriftstellerische Verhältniss der drei ersten Evangelien zu einander wird sich sicher nie zur völligen Evidenz lösen lassen, einfach aus Mangel an hinreichenden Daten, die vom subjektiven Urtheil unabhängig der Untersuchung zum allgemein anerkannten Ausgangspunkt dienen könnten. Baur war auch weit entfernt von der Befangenheit, mit der andere sonst freie Kritiker in dieser Frage

147

Ferdinand Christian Baur.

ihre Hypothesen und die darauf sieh stützenden Schlüsse von feststehenden Thatsachen nicht zu unterscheiden, wissen. Baur blieb sich bewusst, dass wir uns hier auf einem Gebiet bewegen, auf dem es sich nur um die Erreichung grösstmöglicher Wahrscheinlichkeit handeln kann. Um so mehr erkannte er es als Aufgabe, unbefangen und yoraussetzungslos alle Mittel, welche die innere Kritik bietet, zu benützen, um wenigstens dieses Ziel zu erreichen. Das Hauptmittel dazu ist ihm die Stellung, welche die drei Evangelien ihrem Geist und Charakter nach zu dem Grundgegensatz des Urchristenthums, dem Gegensatz zwischen judenchristlicher und paulinischer Auffassung des Evangeliums, einnehmen. Doch liier gerade erweist sich dies Kriterium am Meisten als für sich allein nicht ausreichend und verleitet durch einseitige Anwendung zu abstrakter Uebertreibung. Es handelt sich hier um den literarischen Niederschlag eines längern Prozesses lebendiger Tradition; in einem solchen lagern sich aber die Erzeugnisse verschiedener Bildungsschichten unbefangener und unreflektirter neben einander ab, als dass es möglich wäre, bloss mit dem Kriterium des Parteistandpunktes in der Beurtheilung der Abfassungsverhältnisse konsequent durch- und zu einem sicheren Endresultat zu kommen. Hier haben die Vorwürfe gegen die Tendenzkritik Baur's und seiner Schule — die plumpe Verkehrung dieses Begriffs in den einer tendenziösen Kritik, mit Allem, was daran hängt, natürlich von vornherein in Abzug gebracht — am ehesten wenigstens einen Anhalt und die Kritik ist hier nicht so weit über den Straussischen Standpunkt hinaus, als man oft rühmen hört und als Strauss selbst allzu bereitwillig anerkannt hat. Dass ein grosser Theil der Erzählungen nicht unmittelbar als historische Thatsache zu fassen sei, darin stimmt man überein. Für die Beantwortung der Frage: woher denn der Stoff und die Form für diese Erzählungen? sah Strauss allerdings zu sehr ab von dem theologischen Charakter und dem schriftstellerischen Verhältniss der Evangelien, aber wenn man umgekehrt nun Alles daraus ableiten will, so wird eine gesunde, die Dinge nüchtern und natürlich auffassende Anschauung doch oft sich lieber wieder einfach zu Strauss zurück wenden. Mit diesem Urtheil wollen 10*

148

Ferdinand Christian Baur.

wir übrigens am wenigsten die von Baur angeregten und von ihm selbst fruchtbar geförderten Untersuchungen über den schriftstellerischen Charakter der drei ersten Evangelien, ihren Standpunkt, ihre Tendenz und die dadurch bedingte Auswahl, Anordnung und Behandlung des Stoffes für unfruchtbar und prinzipiell verfehlt erklärt haben. Die geschichtliche Erforschung des Lebens Jesu und der urchristlichen Verhältnisse kann und muss doch wesentlich auf diesem Wege gefördert werden; nur kann es kaum irgendwo dem kritischen Scharfsinn so leicht begegnen, dass er unversehens im Kreis seiner eigenen Voraussetzungen sich herumdreht und Probleme löst, die nur er sich selbst, die nicht die Geschichte ihm gestellt hat. Hier gilt darum auch vor Allem der Grundsatz, den Baur einer zutäppischen Polemik gegenüber, die's liebt, summarisch gegen die sogenannte „Tendenzkritik" zu verfahren, in Anspruch genommen hat, dass in Detailuntersuchungen Jeder nur für sich selbst zu behaften ist. Durch alle diese Untersuchungen hat Baur eine neue Gesammtanschauung von der Geschichte des Urchristenthums begründet. Eine Reihe jüngerer Männer, von ihm angeregt und darum mit ihm unter dem Namen der T ü b i n g e r s c h u l e zusammengefasst, betheiligte sich mit an der Arbeit, dieselbe nach den verschiedenen Seiten hin wissenschaftlich zu begründen und weiter auszuführen, bald noch schärfer zuspitzend, bald mehr mit bisherigen Ansichten vermittelnd. „Alle apostolischen und nächst nachapostolischen Schriften sollten so, als ergänzende Glieder in die Gesammtentwicklung des ersten und zweiten Jahrhunderts eingereiht, erst ein abgeschlossenes geschichtliches Bild gewähren. Insbesondere sollte nun erst auf diesem Weg die Bildung der katholischen Kirche, ihrer Verfassung und Lehre, ganz geschichtlich begriffen sein im Gegensatz zu der katholischen Ansicht, welche sie nur als unmittelbar göttliche Stiftung und als ununterbrochene Fortsetzung des apostolischen Christenthums betrachtet, und zu der ordinär protestantischen, welche ihre Entstehung nur aus einem unbegreiflichen Bückfall von der vorausgesetzten Höhe und Vollkommenheit der apostolischen Zeit und dem Zusammenwirken von allerlei äussern und zufälligen Ursachen erklären

Ferdinand Christian Baur.

149

will. Dies Alles nun freilich um den Preis, dass die Apostel und apostolischen Männer von dem Postament, auf welchem sie bisher wie abgeschlossene religiöse und dogmatische Gestalten gleichsam in lapidarischer Ruhe und mit dem Heiligenschein übernatürlicher Erleuchtung geglänzt hatten, herabgenommen und in die geschichtliche Strömung menschlichen Irrens und Kämpfens hineingezogen werden, und um den weitern Preis, dass sie die meisten der ihren Namen tragenden Schriften an eine Reihe unbekannter Schriftsteller der nachapostolischen Zeit abtreten müssen, welche unter dem vorgeschobenen Namen von Aposteln und apostolischen Männern den Kampf der Parteien fortgesetzt und das Werk ihrer Vermittlung getrieben haben sollen"*).

*) Wir theilen diese Stelle absichtlich mit aus der soeben erschienenen Schrift „ W o r t e d e r E r i n n e r u n g an F. Chr. B a u r " (S. 52). Diese Schrift enthält: die Bede am Grab, von Dekan Georgii; die Rede in der Kirche, von Prof. Falmer; dio Gedächtnissrede im Seminar, von Ephorus Oehler; und die akademische Gedächtnissrede von Prof. Landerer. Die obige Stelle, der letztern entnommen, charakterisirt recht die Stellung so vieler ehrenwerther Männer der Mitteltheologie zu Baur. Sie müssen anerkennen — und mögen doch nicht herzhaft; sio möchten gern widersprechen — und können's doch eben so wenig herzhaft. Alle die vier Reden, namentlich die letzte, sind voll der erfreulichsten Anerkennung für Baur's Charaktergediegenheit und wissenschaftliche Grösse ersten Rangs; und doch wird dann gelegentlich gerade alles Wesentliche in den Leistungen Baur's wieder so in Abrede gestellt, dass man fragen muss, was denn am Ende noch übrig bleibe, das solch grosses Lob verdiente. Baur ist am Wenigsten der Mann, an dem allerdings viel einzelne verdienstliche und brauchbare Leistungen zu rUhmen wären, ohne dass man aber dabei die ganze Person und ihren Standpunkt mit in Kauf zu nehmen brauchte. Baur war gerade wie Wenige ein ganzer Mann, aus Einem Guss auch in der Wissenschaft. Man spreche Baur's Standpunkt der Quellenkritik das Recht konsequenter Durchführung ab, man erkläre seine das Wunder ausschliessende Geschichtsauffassung für einen fundamentalen Irrthum, seine Darlegung des innern Entwicklungsgangs der Dogmen für willkürliche, subjektive, philosophische Konstruktionen: was bleibt da eigentlich von Baur noch gross Anerkennenswerthes übrig? Da seine wissenschaftliche Grösse gerade in der konsequenten Durchführung dieser Punkte bestand, so hätte man nichts als grossartige Irrthümer, um so grossartiger und verderblicher, je mehr Scharfsinn, Gelehrsamkeit und Energie der Mann daran verwendet, seine Grundirrthümer durchzuführen (wie denn auch Hengstenberg'e evangelische Kirchenzeitung über den Verstorbenen

150

Ferdinand Christian Baur.

V. Baur musste mit diesen Ansichten, die so sehr gegen die hergebrachten historischen Anschauungen und dogmatischen Axiome verstiessen, um so heftigem Widerspruch in der theologischen Wissenschaft hervorrufen, je energischer und konsequenter er und seine Schule sie durchführten. Die „gläubige" Theologie machte die „Tübingerschule" zur Zielscheibe von Angriffen, die im Grunde aller frei wissenschaftlichen Forschung galten, und die vermittelnde Theologie, indem sie eigentlich bloss vor der allzu rücksichtslosen Durchführung der auch von ihr im Allgemeinen anerkannten Grundsätze erschrocken sich verwahren wollte, stimmte nur allzu oft in die Modestichwörter ein, die den Tübingern galten und doch zuletzt auch sie trafen, — wenn sie überhaupt trafen. Es fehlte daher Baur nie an Veranlassung, gegen Gegner von den verschiedensten Standpunkten in besondern Streitschriften theils seinen allgemeinen Standpunkt, theils einzelne Partien zu vertheidigen. Und so verschieden der Ton seiner Gegner, so verschieden war auch der seiner Entgegnungen. Wir erwähnen nur beispielsweise drei von sehr ungleicher Art. Die erste, „der Kritiker und der Fanatiker in der Person des Herrn Heinrich Thiersch" (1846)*), giesst die volle Zornschaale über die Anmaassung einer zugleich mit dem Anstrich auf höchste Wissenschaftlichkeit sich spreizenden Hochgläubigkeit aus. Die zweite,

geurtheilt hat). Ist aber der Gesammteindruck der wissenschaftlichen Persönlichkeit ein solcher, dass er aufrichtige Achtung und Bewunderung abnöthigt, so wird sich der theologische Gegner nicht so leichten Kaufs mit einem dem Mann freigebig gezollten Lob, so anerkennenswerth das auch ist, dem entziehen können, dass etwas von der Anerkennung auch seinem Standpunkt und seinen wissenschaftlichen Prinzipien zu gut komme: — ja wenn die Furchtlosigkeit, Unzwiespältigkeit und Konsequenz des Denkens, die Baur's Grösse sind, unter den Theologen, und vor Allem unter den Mitteltheologen nicht so seltene Dinge wären! *) Veranlasst durch dessen „Versuch zur Herstellung des historischen Standpunktes für die Kritik der neutestamentlichen Schriften. Eine Streitschrift gegen die Kritiker unserer Tage" 1815.

Ferdinand Christian Baur.

151

die Antwort auf Hase's Sendschreiben an ihn über die Tübingerschule (1855), bietet uns das friedliche Schauspiel eines ritterlichen Turniers mit einem geachteten Gegner. Die dritte, „die Tübingerschule und ihre Stellung zur Gegenwart" (1859, 2. Aufl. 1860), gab einem Gegner (Uhlhorn, in den Jahrbüchern für deutsche Theologie, 1858), der es bereits an der Zeit gehalten, der Tübingerschule einen Leichenstein zu setzen, aufs Nachdrücklichste den Thatbeweis von ihrer noch vollen Lebensfähigkeit und Lebensberechtigung. Diese Schrift, vielleicht das in der Form Durchsichtigste und Abgerundetste, was Baur geschrieben, ist zugleich ein Beweis .von seiner eigenen, nicht alternden Geistesfrische. Einen noch höheren Beweis davon gab Baur damit, dass er in bereits vorgerückterem Alter noch die Kraft in sich fühlte zu dem weitschichtigen Unternehmen einer ganzen Kirchengeschichte, in der er die Ergebnisse seiner Einzelforschungen zu einer Gesammtdarstellung des Entwicklungsganges der christlichen Kirche zu vereinigen gedachte. Es erschienen von diesem Werk zwei Bände: „das Christenthum und die christliche Kirche der drei ersten Jahrhunderte" (1853, 2. Aufl. 1860) und „die christliche Kirche vom 4 . - 6 . Jahrhundert" (1855). Den dritten Band, die mittelalterliche Kirchengeschichte enthaltend, hat er bei seinem Tod druckfertig hinterlassen. Besonders wichtig ist für uns hier das erste dieser Werke, in welchem er das Ergebniss seiner kritischen Studien über das Urchristenthum in positiv zusammenfassender Weise abgeschlossen hat. Für seine radikal umgestaltende Auffassung des UrChristenthums, die seine Hauptleistung und das bleibende Denkmal seines Namens ist, nahm Baur die Geltung zweier Grundsätze in Anspruch. Nicht dass er zuerst sie aufgestellt hätte; im Gegentheil betont er es nachdrücklich, dass sie gar nichts Besonderes von ihm seien, sondern im Allgemeinen überall anerkannt werden, wo überhaupt das Recht wissenschaftlicher Forschung anerkannt werde. Nur das könne daher sein und der sogenannten Tübingerschule Verdienst — oder Verbrechen sein, sie rückhaltslos durchgeführt zu haben. Der eine dieser Grundsätze ist f r e i e Bibelkritik; der andere Ausschluss des Wunders von der

152

Ferdinand Christian Baur.

wissenschaftlichen Geschichtsauffassung. Hören wir über Beides am Besten ihn selbst. Dem Gegner, der ihm Auflösung des Kanons zum Verbrechen anrechnet, weil er über eine Reihe von Büchern anders urtheilte, als ihre Stelle im Kanon und die hergebrachte Meinung von ihrem Ursprung es verlangt, antwortet er (Tübingerschule S. 18): „Dies ist ein so veralteter Begriff (vom Kanon), dass Herr Uhlhorn darüber nicht mit der Tübingerschule, sondern mit jedem Theologen zu streiten hätte, welcher nicht gar zu sehr hinter den Fortschritten der neueren Wissenschaft zurückgeblieben ist. Wer kann darüber auch nur im Zweifel sein, dass man unabhängig von allen dogmatischen Begriffen und Vorurtheilen der alten Theologie vollkommen berechtigt ist, die neutestamentlichen Schriften unter den historischen und kritischen Gesichtspunkt zu stellen. Wozu gäbe es eine Kritik des Neuen Testamentes, eine Einleitungswissenschaft, wenn der Kanon im Ganzen und Einzelnen nicht rein geschichtlich betrachtet werden dürfte, und wie wäre eine solche Betrachtung möglich, wenn man nicht auch das Recht hätte, die alte dogmatische Einheit des Kanons aufzulösen, ihn auseinander zu legen, in den lebendigen Fluss der Entwicklung zu bringen und bei jeder einzelnen Schrift nach ihrem Ursprung, ihrem Verfasser und nach allem Demjenigen zu fragen, wonach ihr ihre bestimmte Stelle in der Entwicklungsgeschichte des Christenthums anzuweisen ist? Hätte erst die Tübingerschule diese Fragen und Untersuchungen in Gang gebracht, so würde ihr dadurch eine Bedeutung gegeben, auf die sie keineswegs Anspruch machen kann; sie hat sich nur auf einen längst gewonnenen Standpunkt gestellt und nur von diesem aus Grundsätze geltend gemacht, welche, wie sie überhaupt ihre prinzipielle Berechtigung haben, auch in ihrem vollen Umfang zur Anerkennung kommen müssen. Hat die historische Kritik überhaupt die Aufgabe, bei den Schriften, deren Ursprung und Charakter sie untersuchen soll, Alles so genau als möglich zu erforschen, so darf sie nicht bloss bei ihrer äussern Erscheinung stehen bleiben; sie muss auch in ihr Inneres einzudringen suchen, sie hat nicht bloss nach den Verhältnissen der Zeit überhaupt, sondern insbesondere auch nach

Ferdinand Christian Baur.

153

der Stellung des Verfassers zu ihnen zu fragen, nach den Interessen und Motiven, den leitenden Gedanken seiner schriftstellerischen Thätigkeit. Je grösser die geistige Bedeutung eines schriftstellerischen Produktes ist, um so mehr ist anzunehmen, dass ihm eine das Ganze beherrschende Idee zu Grunde liegt und das tiefere Bewusstsein der Zeit, welcher es angehört, in ihm sich reflektirt. Die historische Kritik würde daher auch bei den neutestamentlichen Schriften die Aufgabe, die sie hat, nicht in ihrem ganzen Umfang erfüllen, wenn sie nicht auch den geistigen Charakter, welchen sie an sich tragen, die Interessen der Zeit, unter deren Einfluss sie entstanden sind, die Richtung, die sie verfolgen, die Grundanschauung, welcher das Einzelne sich unterordnet, genauer zu erforschen sich bestrebte, überhaupt den Versuch machte, so viel möglich in ihr Inneres einzudringen und gleichsam in die schöpferische Konzeption der Gedanken, aus welcher sie in der Seele ihres Verfassers hervorgegangen sind, hineinzublicken. Auch die Tübinger Schule hat somit, wenn sie von einem Tendenzcharakter neutestamentlicher Schriften sprach, nichts gethan, was nicht in der Aufgabe der Kritik von selbst begriffen ist. Je schwieriger freilich diese kritische Aufgabe ist, um so mehr kommt es nicht nur darauf an, wie sie gelöst wird, sondern um so leichter kann es auch geschehen, dass das Richtige verfehlt wird. Dies kann aber nur in den konkreten Fällen, in welchen es geschehen sein soll, nachgewiesen werden, und man hat kein Recht, die Kritik der Schule von vornherein unter dem Namen einer Tendenzkritik zu verdächtigen, wie wenn sie nur darauf ausginge, den Schriften, die sie kritisch untersucht, Tendenzen der zweideutigsten Art, Motive und Interessen zuzuschreiben, durch welche der Charakter und die Würde dieser Schriften auf eine wissenschaftlich nicht zu rechtfertigende Weise beeinträchtigt würde. Es erhellt hieraus nur, wie wenig mit so allgemein gehaltenen Vorwürfen gesagt ist, dass man mit ihnen die Richtung der Schule nicht angreifen und im Allgemeinen über sie absprechen kann, ohne längst anerkannten wissenschaftlichen Prinzipien zu nahe zu treten." Möchten dies vor Allem Diejenigen sich gesagt sein lassen,

154

Ferdinand Christian Baur.

die nicht den Namen haben wollen, als ob sie diese Prinzipien freier Forschung nicht auch anerkennten, die vielmehr a b Vermittlungstheologen es ganz richtig als die Aufgabe der Wissenschaft aussprechen, Glauben und Wissen innerlich mit einander zu vermitteln, — aber dennoch, wenn es gegen die Tttbingerschulc gilt, herzhaft in Tiraden mit einstimmen, die nur auf einem Standpunkt, der eine solche Vermittlung grundsätzlich ausschliesst, Sinn haben. Baur redet von den Interessen und Motiven, von den leitenden Gedanken bei der schriftstellerischen Thätigkeit der biblischen Autoren, kurz von den Momenten m e n s c h l i c h e r Geistesthätigkeit, nach denen die Wissenschaft bei ihnen zu fragen habe. Der „altgläubige" Standpunkt anerkennt statt solcher nur das Motiv des g ö t t l i c h e n Geistes. Die Mitteltheologie redet von beiden neben einander, macht aber mit keinem ganzen Ernst. Die wahre Vermittlungstheologie, die diesen Namen allein verdient, wie Hagenbach ihren Begriff neulichst im „Kirchenblatt" ganz richtig definirt hat, ist die, welche das göttliche Motiv und die menschlichen Motive bei den neutestamentlichen Schriftstellern nicht äusserlich theilt und einander entgegensetzt; welche unter dem göttlichen nicht das versteht, was sie als menschliches nicht versteht, und darum hinter jenes sich versteckt, um nach diesem nicht fragen zu müssen; welche unter dem menschlichen nicht bloss das versteht, was ihr nicht gotteswürdig vorkommt, sondern welche der Meinung ist, gerade wenn sie darlege, wie in einer Schrift die christliche Wahrheit sich menschlich vermittle und auspräge, dann habe sie deren göttliche Eingebung in ihrer menschlichen Vermittlung dargelegt und so allein sei es mehr als eine Phrase, wenn man den heiligen Geist als das leitende und wirksame Prinzip in der Thätigkeit der neutestamentlichen Schriftsteller bezeichne. Ist in Jesu Christo das Wort Fleisch, d. h. die ewige göttliche Wahrheit Thatsache menschlichen Geisteslebens geworden, so ist es. die Aufgabe der Wissenschaft, in den geschichtlichen Produkten des von diesem Prinzip hervorgerufenen und durchdrungenen Geisteslebens dasselbe nun in seiner menschlichen Bestimmtheit zu erforschen und so das göttliche Prinzip

Ferdinand Christian Baur.

155

für das menschliche Bewusstsein zu vermitteln. Das ist vernünftige Vermittlungstheologie. Darum ist nun auch der zweite Grundsatz, dessen Anerkennung Baur für die Erforschung des Urchristenthums, so gut wie für jede andere Geschichte, verlangt: die w i s s e n s c h a f t l i c h e Bet r a c h t u n g der Geschichte schliesst das Wunder aus. Damit greift er nun freilich der „gläubigen" Auffassung in's Herz, denn „das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind." Kind — j a ; aber nicht Vater. Darum hat die Wissenschaft aus dem Glauben das Wunder, nicht aber aus dem Wunder den Glauben abzuleiten. Die „gläubige" Wissenschaft meint freilich: nur wenn sie den Anfang als Wunder, setze, sei Wesen und Ursprung des Christenthums als das anerkannt und ausgesprochen, was es sei, als göttliche Heilsthatsache. Das heisst aber, beim Licht besehen, nichts Anderes als: es zwar als Thatsache anerkennen, dass das Christenthum göttliche Heilswahrheit sei, — aber zugleich mit dem Geständniss der Unfähigkeit, es als diese wirklich zu erkennen; es heisst, zwar das Problem der christlichen Wissenschaft hinstellen, — aber daneben das Verbot, es auch lösen zu wollen. Denn die Wissenschaft ist gerade das Streben des Geistes, das auch zu erkennen, was ihm als Thatsache der Anerkennung gegenübertritt. Sie hat darum von Haus aus das Streben, ja sie besteht in nichts Anderem als in dem Streben, das Wunder aufzulösen: nicht die Thatsache, die zuerst als Wunder dem Bewusstsein entgegentritt, wohl aber den Wunderschein, mit dem die neue Thatsache ihm entgegengetreten ist. Ihr Streben ist, die Thatsache in ihrer rein objektiven Wahrheit zu erfassen und damit zugleich auch die Erklärung ihres nothwendigen, psychologisch und historisch bedingten und vermittelten Wunderscheins zu gewinnen. Doch hören wir Baur selbst, wie er die wirkliche Erkenntniss der Ursprungsgeschichte des Christenthums gerade in die Auflösung der Wundervorstellung von derselben setzt und wie er diesen Grundsatz als einen unwillkürlich allgemein anerkannten nachweist, den man nur aus dogmatischer Befangenheit und aus Mangel an Energie des Denkens gerade da aufgiebt, wo sich's um den eigentlichen Kernpunkt des Problems der Erkenntniss handelt. Es wurde ihm vor-

156

Ferdinand Christian Baur.

geworfen*), bei ihm habe das Christenthum keinen Anfang. Ueberall setze er nur einen stetigen Entwicklungsprozess des Geistes. Er lasse zwar die Idee des Christenthums in Jesu konkrete Gestalt gewinnen, aber auch schon vor ihm da sein; die Person Jesu bilde nach ihm nicht den Anfang, sondern nur eine Epoche im Anfang, im schroffsten Gegensatz gegen die Anschauung, welche die Kirchengeschichte mit dem Wunder der Wunder beginne. Wie Christus, rückwärts geschaut, nicht mehr die epochemachende Bedeutung habe, die man ihm sonst beilege, so habe er sie auch nicht mehr, vorwärts geschaut; auch da müsse sich die Idee erst allmälig herauskämpfen; man habe keinen Anfang mehr; der Anfang zerfliesse in lauter Werden. Wie man rückwärts nicht wisse, ob Christus, oder nicht vielmehr Sokrates, oder die Alexandriner, oder die Essener die Urheber des Christenthums seien: so auch nach vorwärts hin nicht, ob Christus, oder nicht vielmehr Paulus, oder der Verfasser des vierten Evangeliums. Wenn nach rückwärts der Anfang in eine Entwicklung auseinander gelegt werde, so auch nach vorwärts. „Wo hätte ich aber je behauptet — entgegnet Baur hierauf — das Christenthum habe nicht von der Erscheinung Jesu von Nazareth seinen Anfang genommen? Soll also die Behauptung einen vernünftigen Sinn haben, so kann sie nnr so gemeint sein, ich setze den Anfang des Christenthums nicht schlechthin als Wunder. Dies thue ich nun freilich nicht; aber eben dies thut man ja auch sonst nicht. Selbst die entschiedensten Supernaturalisten lassen sich durch den Wunderanfang des Christenthums nicht abhalten, über denselben zurück zu gehen. Das Christenthum ist einmal eine geschichtliche Erscheinung; als solche muss es sich auch gefallen lassen, geschichtlich betrachtet und untersucht zu werden. Es erscheint in einem geschichtlichen Zusammenhang, welchen es auf keine Weise verläugnen kann. Wie kann man also wissen, was es ist, wie es entstanden und in die Welt eingetreten ist, wenn man nicht auf die geschichtlichen Verhältnisse, unter welchen es erschienen ist, *) So resümirt Baur die gegnerischen Einwendungen von Uhlhorn. Tübingerschule S. 12 ff.

Ferdinand Christian Baur.

157

die Wege, auf welchen es eingeleitet und verbreitet wurde, die Ursachen, welche zu seiner Entstehung mitwirkten, zurückgeht und aus allen diesen Momenten zusammen den Ursprung und das Wesen des Christenthums, so weit es nur immer geschehen kann, zu erklären sucht?"*) E s liegt in diesen Worten allerdings eine Undeutlichkeit, welche die Gegner nicht versäumen werden, gerade so aufzufassen, wie sie nicht verstanden werden will. Nicht auB all diesen vor- und ausserchristlichen Momenten selbst ist das Christenthum entstanden, so dass sein Wesen nur in der natürlichen Summe derselben bestünde, sondern sie alle dienen nur als *) Seine klassische Darstellung dieser geschichtlichen Vorbedingungen für den Eintritt des Christenthums, des Universalismus der römischen Weltherrschaft, der vorchristlichen Religionen, der griechischen Philosophie und des Judenthums im ersten Abschnitt des „Christenthums der drei ersten Jahrhunderte" leitet Baur mit der Bemerkung ein (S. 2): „Der Geschichtsschreiber, welcher mit dem Glauben der Kirche zum Gegenstand seiner Darstellung tritt, steht gleich am Anfang vor dem Wunder aller Wunder, vor der Urthatsache des Christenthums, dass der eingeborne Sohn Gottes vom ewigen Thron der Gottheit auf die Erde herabgestiegen und im Leibe der Jungfrau Mensch geworden ist. Wer hierin nur ein schlechthiniges Wunder sieht, tritt eben damit aus allem geschichtlichen Zusammenhang heraus; das Wunder ist ein absoluter Anfang, und je bedingender ein solcher Anfang für alles Folgende* ist, um so mehr muss auch die ganze Reihe der in das Gebiet des Christenthums gehörenden Erscheinungen denselben Charakter des Wunders an sich tragen: so gut auf dem Einen ersten Punkt der geschichtliche Zusammenhang zerrissen ist, ist auch auf jedem anderen Punkt dieselbe Unterbrechung des geschichtlichen Verlaufes möglich. Die geschichtliche Betrachtung hat daher sehr natürlich das Interesse, auch schon das Wunder des absoluten Anfangs in den geschichtlichen Zusammenhang hineinzuziehen und dasselbe, so weit es überhaupt möglich ist, in seine naturlichen Elemente aufzulösen. So oft dies auch schon versucht worden ist und so verschieden man auch über die in dieser Beziehung gemachten Versuche urtheilen mag, die Aufgabe selbst bleibt stets dieselbe. Fragt man auch nur, warum das Wunder, mit welchem die Geschichte des Christenthums beginnt, gerade auf diesem Punkt der Weltgeschichte in den Zusammenhang derselben eingegriffen habe, so ist schon hiermit eine Reihe von Fragen eröffnet, welche nur vom Standpunkt der geschichtlichen Betrachtung aus beantwortet werden können. Die erste Aufgabe der Geschichte des Christenthums kann daher nur sein, von dem Punkt aus, auf welchem das Christenthum in die Weltgeschichte eintritt, sich über seine geschichtliche Stellung überhaupt zu orientiren."

158

Ferdinand Christian Baur.

Mittel, um das Wesen des 'Christenthums, das gerade an dieser Stelle der Entwicklungsgeschichte des menschlichen Geistes als ein Neues eingetreten ist, aus dem ewigen, diesem ganzen Entwicklungsprozess zu Grund liegenden Wesen des Geistes zu begreifen und es sich klar zu machen, worin sein eigenthttmlich Neues bestehe, und warum es eben deswegen gerade auf dieser Stelle eingetreten sei. „Wenn man freilich — fährt Baur fort — der Ansicht ist, dass die Entstehung des Christenthums nicht erklärt sei, so lange das absolute Wunder, das die kirchliche Dogmatik zu ihrer Grundanschauung macht, beim Eintritt des Christenthums in die Weltgeschichte nicht auch als geschichtlich gegebene Thatsache nachgewiesen ist, so ist auch die Tübingerschule dies nicht zu leisten im Stande gewesen, über deren Leistungen der Gegner das Urtheil zu der Behauptung formulirt hatte, es sei ihr nicht gelungen, die Entstehung des Christenthums aus lauter bedingten und endlichen Ursachen ohne Eingreifen einer absoluten Kausalität zu erklären. Dass es aber ohne diese Voraussetzung schlechthin unmöglich ist, im Christenthum einen übernatürlichen Charakter und ein in ihm wirkendes göttliches Prinzip, somit nicht bloss endliche Ursachen, sondern auch eine über alles Endliche Übergreifende und eine wesentlich neue Reihe von Erscheinungen begründende Kausalität anzuerkennen, diesen Beweis zu führen, möchte Herrn Uhlhorn schwer fallen." — Da haben wir den Gegensatz der beiden Standpunkte einfach neben einander ausgesprochen: beide anerkennen ein absolutes Prinzip im Christenthum, das als göttliche Kausalität ein Neues in der Geschichte der Menschheit gesetzt hat. Aber während Baur nun dieses Neue nicht von aussen in den Kreis endlich menschlicher Geistesvermittlung eintreten lässt, sondern gerade als Offenbarung aus dem tiefern, bisher noch unerschlossenen Grunde des Geistes fasst, glaubt der supernaturale Standpunkt die absolute Kausalität nicht zu haben, wenn er sie nicht neben der Gesammtheit der endlichen noch als etwas Apartes — also doch auch wieder als etwas Endliches — soll anschauen dürfen, wie sie von aussen in den Zusammenhang der menschlichen Geschichte als etwas ganz Andersartiges hereinstrahle.

Ferdinand Christian Baur.

159

Es ist einfach ein Mangel an Fähigkeit des reinen Denkens — nnd mag man Einem dies Urtheil noch so sehr als Hochmuth übel vermerken, es ist doch so — wenn man immer und immer wieder das w a h r h a f t Supernaturale, das rein Geistige, wie etwas äusserlich Supernaturales anschaut und, wo dieses fUr eine blosse Vorstellung erklärt wird, auch jenes zu verlieren fürchtet. Auf eben diesem Mangel beruht, was Landerer (in der erwähnten Schrift S. 73), zwar in möglichst schonender Weise, als fundamentalen Mangel an Baur's Auffassung von der Entstehung des Christenthums rügt: „man mag den eigentümlichen Inhalt des christlichen Glaubens und Lebens allerdings bis auf einen grossen Grad in seiner inneren geistigen Wahrheit und in seinem organischen Zusammenhang verstehen, und dies um so mehr, als j a das Christenthum den Menschen nur zu dem Ziel seiner eigenen Bestimmung führen will; ja man mag diesen Inhalt möglichst nahe hinrücken zu aller natürlichen und vernünftigen Wahrheit und mag auch die geschichtlichen Bedingungen seines Hcrvortetens BO weit als möglich verfolgen: das Dasein dieses völlig neuen Lebens in der Geschichte kann man darum doch nicht natürlich begreifen und tappt im Dunkeln, so lange man den einschlagenden Blitz eines übernatürlichen Lebensprinzips nicht in seiner tatsächlichen Wirklichkeit anerkennt." Im Dunkeln tappt vielmehr nur Der, welcher dies gegen Baur glaubt geltend machen zu müssen. Nicht nur „ein" übernatürliches Lebensprinzip anerkennt Baur, sondern „das" allein wirklich übernatürliche Lebensprinzip, das der Absolutheit des Geistes, anerkennt er als das, was das Wesen des Christenthums ausmacht. Und ebenso anerkennt er, dass dieses Prinzip als eine neue und ursprüngliche Thatsache des Geisteslebens Jesu in die Geschichte der Menschheit eingetreten ist, oder wenn man denn so sagen will, „als Blitz eingeschlagen" und nicht als natürliches Produkt sich aus ihr entwickelt hat. Was will man mehr? In einem andern Sinn, als in dem der wahren Geistigkeit kann man vernünftiger Weise nicht von einem übernatürlichen Lebensprinzip reden, weder dem Inhalt, noch der Form nach. Was darüber hinaus noch vermisst und verlangt wird, das ist nur eine Phan-

160

Ferdinand Christian Baur.

tasieeinkleidung für dasselbe, mit der man trotz allen anerkannten aber nicht erkannten Blitzen eben im Dunkeln tappt, weil man sich damit, wie gesagt, selbst vor dem Lichte steht, das man sucht. Und doch — es ist mit diesen Ausstellungen, so wenig sie das Wahre treffen, eine wirkliche Lttcke bei Baur berührt, die nur schief gedeutet und falsch ausgebeutet wird. Man hat an all den zahlreichen Arbeiten Baur's über das Urchristenthum mit Recht ein näheres Eingehen auf die Person Christi selbst vermisst und es nicht versäumt, dies als eine bedeutsame und viel verrathende Lücke zu bezeichnen. Es ist allerdings eine Lücke und zwar eine wichtige. Die gerechte Würdigung des Mannes verlangt es, sie weder zu läugnen noch aber auch zu vergrössern, gondern sie aus seinem ganzen Wesen richtig zu erklären. Einmal war es schon der gründliche, ächt historische Gang seiner Untersuchungen, der ihn so lang bei den Vorwerken aufhielt, bei den Wirkungen der Person Christi im Bildungsprozcss des urchristlichen Bewusstseins und bei der literarischen Untersuchung der Quellen über sein Leben. So lange er mit diesen wissenschaftlich nicht im Keinen war, hielt ihn schon sein strenger Wahrheitssinn ab, nicht völlig Erwiesenes von Christo zu sagen. Gerade über den Quellpunkt der Geschichte, der er die angestrengteste wissenschaftliche Forschung gewidmet hatte, wollte er am wenigsten etwas sagen, bevor er alle wissenschaftlichen Vorbedingungen erfüllt hatte, um es dann mit dem Anspruch auf geschichtliche Vollgültigkeit sagen zu können; während umgekehrt Andere vor Allem sich beeilen zu müssen glauben, erst die Voraussetzung ihres christlichen Bewusstseins über Christum mit nothdürftigem Beweis, aber gerade darum vielleicht nur mit um so emphatischerer Betonung vorauszuschicken. Dann aber lässt sich allerdings nicht in Abrede stellen, dass noch etwas Anderes Baur von dem nähern Eingehen auf die Person Jesu abhalten mochte: wohl ein Mangel, aber nicht — wie es ihm oft gedeutet wurde — ein Mangel an Würdigung der einzigen Bedeutung Christi als des eigentlichen persönlichen Quellpunktes von dem Prozesse der christlichen Geistesentwicklung, in welchem er in all seinen Werken den Pro-

161

Ferdinand Christian Baur.

zess absoluter Wahrheit anerkannt hat; sondern ein allgemeiner Mangel, der durch alle geschichtlichen Werke Baur's hindurch geht, weil er in seiner geistigen Grundanläge beruht; es ist der Mangel an Interesse an der individuellen Lebenserscheinung in der Geschichte, an dem, was in seiner Unmittelbarkeit genommen und dargestellt sein will. Nicht dass Baur die Bedeutung davon verkannt hätte; er wusste wohl, dass der grosse Geistesprozess der Geschichte in all seinen Trägern eben in solcher unmittelbaren Lebensgestalt sich verwirklicht. Allein sein Interesse war vorzugsweise auf das Allgemeine darin, auf den Gehalt und weniger auf die persönliche oder vielmehr individuelle Erscheinungsform gerichtet. Der vollendete Geschichtsschreiber aber muss im Ebenmaass D e n k e r und K ü n s t l e r sein, muss den Sinn und die Darstellungsgabe für das Allgemeine haben, das den geistigen Gehalt der Geschichte ausmacht, und zugleich für die Form individueller Lebenserscheinung, in welcher derselbe sich jeweilig zu geistiger Wirklichkeit eines persönlichen Lebens ausprägt. Die erstere Gabe hat Baur in eminentem Grade; kein anderer Kirchengeschichtsschreiber übertrifft ihn darin. Die andere Gabe trat dafür bei ihm zurück, und mit der Gabe dafür auch das wissenschaftliche Interesse daran. Das unmittelbar persönliche, das sittliche Interesse daran war darum nicht minder lebendig in ihm; dieses aber in Werken hervortreten und reden zu lassen, welche dem wissenschaftlichen Interesse gewidmet waren, das war nicht Baur's Art. Dass es aber in ihm lebte, das konnte der merken, welchem in Baur's Predigten „eine Wärme fühlbar wurde, die manchmal Einem verwunderlich erschien, der nur Dies und Jenes gelesen, was er bei einsamer Lampe geschrieben"*), — wenn er das nur recht denken und nicht bloss sich darüber verwundern mochte. — Der Geistesgehalt einer Persönlichkeit, wie er sich auf einen allgemeinen philosophischen Ausdruck bringen liess, das war für Baur das Ziel seines historischen Forschens; das individuell Thatsächliche, in welchem immer etwas für den Gedankenausdruck Incommensurables liegt, trat dagegen für sein wissenschaftliches *) Worte der Leichenrede von Palmer. B i e d e r m a n n , Vorträge und Aufsätze.

Worte der Erinnerung. S. 17. JJ

162

Ferdinand Christian Bauf.

Interesse zurück. Ist das am Geschichtsschreiber immer ein Mangel, so wird dieser Mangel allerdings doppelt fühlbar der Person Jesu gegenüber, deren wesentliche und bleibende Bedeutung für den christlichen Glauben gerade in der persönlichen Lebensbewahrheitung der absoluten Wahrheit liegt, die durch ihn Heilsprinzip der Menschheit geworden ist. Dass aber Baur den Geistesgehalt der Person Christi auffasste als die absolute Heilswahrheit vollendeten Geisteslebens und ihn selbst als den historischen Quellpunkt derselben, und dass er ihn nicht — wie aus Mangel an Verstehenkönnen oder Verstehenwollen ihm so oft vorgeworfen wurde — herabsetzte zum verschwindenden relativen Moment in einem stetigen natürlichen Entwicklungsprozess, das hat Baur in der kurzgedrängten, aber gedankenschweren Auseinandersetzung über das Wesentliche der Lehre Jesu und über das Verhältniss seiner Person zu derselben in dem „Christenthum der drei ersten Jahrhunderte" (Seite 26—40, 2. Auflage) beurkundet.

VI. Man hat etwa schon in dieser Auseinandersetzung einen Fortschritt von Baur über seine frühern Ansichten hinaus, eine wesentliche Ergänzung derselben erkennen wollen. Eine Ergänzung ist diese Stelle allerdings, aber sicher nicht eine seine frühem Ansichten umgestaltende. Uns wenigstens hat dieselbe durchaus nicht als etwas Neues an ihm überrascht, das irgend etwas früher von ihm über Christum, seine Lehre und die Bedeutung seiner Person Geäussertes aufgehoben hätte. Als das ursprüngliche christliche Prinzip, als dasjenige, was den Geistesgehalt der Lehre und des Lebens Jesu ausmacht, stellt Baur an dieser Stelle in einer kurzen Analyse der Bergpredigt „die Absolutheit des sittlichen Selbstbcwusstseins dar, die sich über alles Aeussere, Zufällige, Partikuläre zum Allgemeinen, Unbedingten, an sich Seienden erhebt, den sittlichen Werth des Menschen nur in das setzt, was einen absoluten Werth und Inhalt in sich selbst hat, und ihn selbst dadurch in das adäquate, der Idee Gottes entsprechende

Ferdinand Christian Baur.

163

Verbältniss zu Gott setzt." „Und doch was wäre das Christenthum, und was wäre aus ihm geworden, wenn es nichts weiter wäre, als eine Religions- und Sittenlehre in dem bisher entwickelten Sinn? Mag es auch als solche der Inbegriff der reinsten und unmittelbarsten Wahrheiten sein, die im sittlich-religiösen Bewusstsein sich aussprechen, und sie in der einfachsten und populärsten Weise dem allgemeinen Bewusstsein der Menschheit zugänglich gemacht haben: es fehlte noch die Form zu einer konkreten Gestaltung des religiösen Lebens, der feste Mittelpunkt, von welchem aus der Kreis seiner Bekenner zu einer die Herrschaft über die Welt gewinnenden Gemeinschaft sich zusammenschliessen konnte. Betrachtet man den Entwicklungsgang des Christenthums, so ist es doch nur die Person seines Stifters, an welcher seine ganze geschichtliche Bedeutung hängt. Wie bald wäre Alles, was das Christenthum Wahres und Bedeutungsvolles lehrte, auch uns in die Reihe der längst verklungenen Aussprüche der edlen Menschenfreunde und der denkenden Weisen des Alterthums zurückgestellt worden, wenn seine Lehren nicht im Munde seines Stifters zu Worten des ewigen Lebens geworden wären"*). Die geschichtliche Bedingung aber für die weltgeschichtliche Bedeutung Jesu war, dass die nationalste Idee des Judenthums, in die sich dasselbe zuspitzt, mit der Person Jesu sich so identifizirte, dass man in ihm die Erfüllung der alten Verheissung, den zum Heil des Volkes erschienenen Messias anschaute. „Durch die Messiasidee erhielt erst der geistige Inhalt des Christenthums die konkrete Form, in welcher er in die Bahn seiner geschichtlichen Entwicklung eintreten, das Bewusstsein Jesu durch die Vermittlung des nationalen Bewusstseins zum allgemeinen Weltbewusstsein sich erweitern konnte." Nun stand aber das rein geistige, allgemein menschliche Messiaswesen Jesu mit dem das sinnliche Gepräge des jüdischen Partikularismus an sich tragenden traditionellen Messiasglauben in schreiendem Widerspruch. Daher der geringe Eingang, den der Glaube an seine Messianität bei seinen Lebzeiten fand, daher die geschichtliche Nothwendigkeit seines *) Seite 35. 11*

164

Ferdinand Christian Baur.

Todes. Aber „noch nie war, was der äussern Erscheinung nach nur Untergang und Vernichtung zu sein schien, so sehr der entscheidungsvollste Durchbruch zum Leben, wie im Tode Jesu. War bisher noch die Möglichkeit vorhanden, dass der Glaube an den Messias das vermittelnde Band zwischen ihm und dem Volke wurde, das Volk ihn als Den anerkannte, welcher als der Gegenstand der nationalen Erwartung kommen sollte, und der Widerspruch zwischen seiner Messiasidee und dem jüdischen Messiasglauben auf friedlichem Wege sich ausglich; so war jetzt sein Tod der vollendete Bruch zwischen ihm und dem Judenthum. Ein Tod wie der seinige machte es für den Juden, so lange er Jude blieb, zur Unmöglichkeit, an ihn als seinen Messias zu glauben. Wer nach einem solchen Tod an ihn als den Messias glaubte, musste schon seiner Messiasvorstellung Alles abgestreift haben, was sie noch Jüdisch-Fleischliches an sich hatte; ein Messias, dessen Tod Alles vernichtet, was der Jude von seinem Messias hoffte, ein dem Leben im Fleisch abgestorbener Messias war nicht mehr ein Christus nach dem Fleisch (2. Kor. 5, 16), wie der Messias des jüdischen Nationalglaubens. Was konnte aber überhaupt ein dem Tode anheimgefallener Messias selbst dem treusten Anhänger der Sache Jesu noch sein? Es war hier nur entweder das Eine oder das Andere möglich: entweder tnusste in seinem Tode auch der Glaube an ihn erlöschen; oder es musste dieser Glaube, wenn er fest und stark genug war, nothwendig auch die Schranke des Todes durchbrechen und vom Tode zum Leben hindurchdringen. Nur das Wunder der Auferstehung konnte die Zweifel zerstreuen, welche den Glauben selbst in die ewige Nacht des Todes Verstössen zu müssen schienen." — Also doch ein Wunder?! Nein, kein Wunder; aber eine Lücke in Baur's Geschichtsdarstellung, eine sehr verhängnissvolle, und zwar nicht deswegen verhängnissvoll, weil sie den Punkt blosslegte, wo die Eonsequenz seines das Wunder ausschliessenden Standpunktes wirklich Schiffbruch litte, sondern darum, weil sie den Gegnern seines Standpunktes ein scheinbares Recht und jedenfalls den erwünschten Anlass giebt, das zu meinen und triumphirend hervorzuheben. Baur fährt nämlich fort: „Was die Auferstehung

Ferdinand Christian Baur.

165

an sich ist, liegt ausserhalb des Kreises der geschichtlichen Untersuchung. Die geschichtliche Betrachtung hat sich nur daran zu halten, dass für den Glauben der Jünger die Auferstehung Jesu zur festesten und unumstösslichsten Gewissheit geworden ist. In diesem Glauben erst hat das Christenthum den festen Grund seiner geschichtlichen Entwicklung gewonnen. Was für die Geschichte die nothwendige Voraussetzung für alles Folgende ist, ist nicht sowohl das Faktische der Auferstehung Jesu selbst, als vielmehr der Glaube an dieselbe. Wie man auch die Auferstehung Jesu betrachten mag, als ein objektiv geschehenes Wunder, oder als ein subjektiv psychologisches, sofern, wenn man auch die Möglichkeit eines solchen voraussetzt, doch keine psychologische Analyse in den innern geistigen Prozess eindringen kann, durch welchen im Bewusstsein der Jünger ihr Unglaube bei dem Tode Jesu zu dem Glauben an seine Auferstehung geworden ist; wir können doch immer nur durch das Bewusstsein der Jünger hindurch zu dem gelangen, was für sie Gegenstand ihres Glaubens war, und können somit auch nur dabei stehen bleiben, dass für sie, was auch das Vermittelnde dabei gewesen sein mag, die Auferstehung Jesu eine Thatsache ihres Bewusstseins geworden ist und alle Realität einer geschichtlichen Thatsache für sich hatte." Da erhält man allerdings viel Schein des-Rechts, zu entgegnen: „Also ein Wunder und doch kein Wunder! — und statt des Wunders der Auferstehung selbst soll der Glaube an dieselbe der feste Grund der geschichtlichen Entwicklung des Christenthums sein; als ob die Entstehung des Glaubens an die Auferstehung ohne die entsprechende Thatsache, und zwar eines Glaubens, an welchen das ganze- Gewicht der weltgeschichtlichen Bewegung des Christenthums angehängt wird, nicht ein ebenso grosses, j a noch viel grösseres Wunder sein mttsste! Auch wenn wir die Forderung an ein geschichtliches und spekulatives Begreifen nicht überspannen, werden wir doch sagen dürfen: Das ist wenigstens kein geschichtliches und spekulatives Begreifen des Christenthums"*). Man kann nicht anders sagen: Baur hat diesen Ein*) Worte der Erinnerung.

S. 73.

166

Ferdinand Christian Baur.

wurf verschuldet. Was die Auferstehung an sich sei, liegt durchaus nicht ausserhalb des Kreises der geschichtlichen Untersuchung. Es muss im Gegentheil eine Aufgabe der sorgfaltigsten geschichtlichen Untersuchung sein, jedes Mittel zu erschöpfen, um zur Klarheit über das Ereigniss zu kommen, aus welchem eine so fundamentale Wirkung hervorgegangen ist. Denn nicht bloss ein rein innerer geistiger Akt des Glaubens an die Auferstehung Christi, sondern ein irgendwie äusserer physischer Vorgang, nämlich Erscheinungen des Auferstandenen, welche die Jünger hatten, das ist die Thatsache, auf die wir zurückgewiesen sind als auf das, woraus ihr Glaube objektiv hervorgegangen ist. Da ist es durchaus Aufgabe dessen, der das Christenthum spekulativ und historisch begreifen will, auch diesem Ereigniss auf den Grund zu gehn. Hier ist ja gerade der verhängnissvolle Kardinalpunkt, wo der entgegengesetzte Standpunkt mit der Thatsächlichkeit des Hauptwunders einsetzt und behauptet, es bewahrheite alle andern Wunder und den ganzen Wunderstandpunkt: gewiss, wenn das Thatsächliche daran als ein wirkliches objektives Wunder feststünde. Da darf man also nicht dabei stehen bleiben, dieses Thatsächliche als ein Wunder im abgeschwächten Sinne des Wortes, als ein nicht weiter in seinen innern rationellen Entstehungsgründen nachweisbares Ereigniss hinzunehmen; sonst giebt man sich gefangen, oder muss es sich gefallen lassen, dass Einem die ganze das Wunder ausschliessende Weltanschauung als eine Voraussetzung zurückgegeben wird, die gerade auf dem entscheidenden Kardinalpunkt sich nicht zu rechtfertigen im Stande sei. Man muss vielmehr hier, wo es sich um eine Thatsächlichkeit handelt, welche die Frage nach der Notwendigkeit der Wunderanerkennung auf die Spitze der Entscheidung stellt, alle geistigen und natürlichen Faktoren aufsuchen, die eine rationelle Erklärung zu leisten im Stande sind. Und das ist bei der Auferstehungsgeschichte möglich. Freilich, hier, wie überall, wo es sich um ein einzelnes Ereigniss handelt, kann es die rationelle Erklärung nur bis auf den Punkt bringen, nachzuweisen: aus den und den Faktoren, w e n n sie einmal da waren, lässt sich das Faktum, das vorliegt, rationell begreifen. Auch das, d a s s sie da sein

Ferdinand Christian Baur.

167

konnten, muss eine rationelle Erklärung aus allgemeinen anthropologischen Gründen, aus den speziellen geschichtlichen Bedingungen als möglich aufweisen. Mehr aber kann sie nirgends leisten. Mehr darf man auch nirgends von ihr verlangen, etwa dass sie auch müsse beweisen können, dass alle diese Faktoren gerade so und so haben zusammentreffen m ü s s e n , um ein einzelnes Ereigniss hervorzurufen. Das hiesse: nicht ein Erklären, sondern das Konstruiren einer einzelnen Thatsache verlangen. FUr die Erklärung ist vielmehr die Thatsache gegeben. In diesem Sinn, aber auch in diesem Sinn allein, kann man von etwas Incommensurablem in jeder geschichtlichen Thatsache reden: das ist auch das Incommensurable an der Auferstehungsthatsache. Aber das, was für jede geschichtliche Thatsache allein zu verlangen und zu leisten ist, die natürlichen Faktoren aufzuzeigen, aus denen ihre Möglichkeit sich rationell begründen lässt, das lässt sich allerdings auch für die Auferstehungsgeschichte leisten, und zwar so, dass eben sowohl aus den geschichtlichen Voraussetzungen das thatsächlich Konstatirte sich erklärt, als auch aus der so erklärten Thatsache selbst die ebenfalls geschichtlich konstatirten weitern Wirkungen derselben sich ableiten. Dies hat Baur nun aber allerdings nicht bloss versäumt, selbst zu thun; sondern dadurch, dass er das Alles als ausserhalb des Kreises geschichtlicher Untersuchung liegend erklärte, hat er eine Lücke für offen erklärt, die, wenn sie wirklich offen wäre, den Streit der entgegengesetzten Richtungen, der wundergläubigen und der rationellen Geschichtsauffassung, gerade an dem entscheidenden Punkte nicht nur unentschieden liesse, sondern der erstem unbestritten wenigstens den Schein des Rechtes einräumte. Wir sehen, wie diese Lücke ausgebeutet wird: Aufforderung genug für die rationelle Theologie, was Baur abgelehnt hat, zu leisten und die Lücke auszufüllen. Baur selbst nach seiner Art empfand es nicht als eine Lücke, die auszufüllen er das Bedürfniss gehabt hätte. Ersetzt einfach voraus: was als äussere Thatsächlichkeit bei der Entstehung des Auferstehungsglaubens anzunehmen sei, das werde gewiss in sich einen rationellen Erklärungsgrund haben. Aber es widerstrebt ihm, sich auf eine weitere Darstellung und Untersuchung einzu-

168

Ferdinand Christian Baur.

lassen, als ob das die Hauptsache und das Wesentliche wäre, das Aeusserliche des Ereignisses, welches den Durchgangspunkt bildet, und bei dem doch immer ein incommensurabler Best bleibt, erklärt zu haben. Ihm ist vielmehr das Wesentliche, das worauf es allein ankomme, die Bedeutung, welche der Glaube an den Auferstandenen hat, richtig aufzufassen und zu zeigen, wie er für das jüdische Bewusstsein nach dem Tod Jesu den nothwendigen Durchgangspunkt für die Gestaltung des christlichen Messiasglaubens bildet. Dafür reichte ihm aber das faktische Vorhandensein dieses Glaubens, wie immer er entstanden sei, vollständig aus. Durch die gewichtigen Einwendungen, zu denen er damit die Handhabe bietet, straft sich hier, wie nirgends sonst, die allzu grosse Geringschätzung der einzelnen punktuellen Ereignisse und Thatsächlichkeiten, durch die der allgemeine Geistesprozess, welcher Baur's wissenschaftliches Interesse allein in Anspruch nimmt, in der Geschichte sich vermittelt. Aber auch für diesen selbst hat er sich in dem fraglichen Fall durch die Versäumniss einer nähern Analyse des Ereignisses wesentliche Momente der richtigen Auffassung entgehn lassen. Der aufmerksame Leser seiner oben mitgetheilten Auseinandersetzung über die umgestaltende Wirkung des Todes Jesu auf den jüdischen Messiasglauben wird bemerkt haben, dass Baur dabei zu unmittelbar nur die Bedeutung in's Auge gefasst hat, die Tod und Auferstehung Christi im Bewusstsein des Apostels Paulus gewonnen haben. Darüber kam aber ein anderes Moment, das nicht minder wichtig in der Entwicklung des urchristlichen Bewusstseins ist, zu kurz. Der Widerstreit zwischen dem innern Messiaswesen Jesu und der äusserlichen Messiasvorstellung des jüdischen Bewusstseins bedingte allerdings den Tod Jesu für den Durchbruch des christlichen Messiasglaubens. Aber die Art, wie dieser Glaube, weil er auf der unaustilglichen innern Wahrheit des Messiaswesens Jesu beruht, auch den Tod Jesu überwand, nämlich durch die Erzeugung visionärer Erscheinungen des Auferstandenen, war doch zunächst ein Sieg zwar der allerdings c h r i s t l i c h e n G r u n d w a h r h e i t , dass Jesus der Christus sei, aber in einer wieder aus dem Tod restituirten j ü d i s c h e n A n s c h a u u n g s f o r m . Jesus der Auf-

Ferdinand Christian Baur.

169

erstandene und Verklärte war nun doch ein Christus, wie er der j ü d i s c h e n Messiasanschauung mehr entsprach, als der lebende Jesus es gethan. Daher wurde denn auch die christliche Grundidee : die Offenbarung in Jesu ist die messianische Heilsoffenbarung, zunächst in unendlich viel jüdischerer Weise zur urchristlichen Idee, als sie unmittelbar in Jesu Christo selbst als neues antijüdisches Prinzip eingetreten war. Sie musste eben in dieser Form erst Wurzel schlagen auf dem jadischen Boden, um dann erst in Paulus in ihrer universellen Wahrheit durchbrechen zu können. Dieses für die geschichtliche Entwicklung wichtige Moment, das uns ja erst vollständig erklärt, wie die judaistische Form des christlichen Glaubens die ursprüngliche sein konnte in der urchristlichen Gemeinde, und in Paulus dann erst für sie das zum Durchbruch kam, was doch an sich in Jesu gewesen war und ihn zum Christus gemacht hat, — dieses Moment hat Baur in seiner Auseinandersetzung übersprungen; er wäre aber offenbar nothwendig darauf geführt worden, wenn er sich näher auf die Analyse der natürlichen Faktoren eingelassen hätte, welche die Entstehung des Auferstehungsglaubens rationell zu erklären im Stande sind.

VII. Dieselbe Lücke scheint er in seiner Darstellung der Bekehrung des Apostels Paulus zu lassen, wenn er sagt: „Können wir in seiner Bekehrung, in der plötzlichen Umwandlung aus dem heftigsten Gegner des Christenthums in den entschiedensten Herold desselben nur ein Wunder sehen, so erscheint es um so grösser, da er in diesem Umschwung seines Bewusstseins auch die Schranken des Judenthums durchbrach und den jüdischen Partikularismus in der universellen Idee des Christenthums aufhob"*). Das bietet der supernaturalistischen Anschauung wieder einen zu lockenden Anlass, sich triumphirend hinein zu legen, wenn Baur schon gleich im Folgenden bestimmt genug andeutet, in welchem Sinn er da *) „Das Christenthain der drei ersten Jahrhunderte."

S. 45.

170

Ferdinand Christian Baur.

von einem Wunder redet, nämlich im Sinn „eines geistigen Prozesses, dessen inneres Geheimniss keine, weder psychologische noch dialektische Analyse ganz erforschen könne," und wenn er schon in seinem „Paulus" versucht hat, diese Analyse so weit zu führen, als es überhaupt möglich ist und als jedenfalls ausreicht, um die Nöthigung abzuweisen, dass man hier zu einem Wunder im eigentlichen Sinn die Zuflucht zu nehmen habe. Er hätte aber den Ausdruck Wunder, so wenig dieser an sich zu tadeln wäre für das, was er damit bezeichnen will, durchaus vermeiden sollen auf einem Punkte, wo gerade Streit ist, ob Wunder im eigentlichen Sinn oder nicht. Da hat sich Baur einmal die Sprachweise der schlechten Vermittlungs- d. h. Verkleisterungstheologic beigehen lassen; sonst lag das Keinem ferner als ihm, was ihn freilich auch hier davor schützen sollte, dass man es ihm im Sinn derselben deute. Richtig greift auch Landerer sofort dieses Wort auf und spricht: „Das sagen wir auch: wenn wir es aber ein Wunder nennen, so halten wir es auch für ein solches, können es uns aber nicht gefallen lassen, dass der Name „Wunder" nur ein Titel sein solle für die nicht weiter nachzuweisende, darum aber doch nur rein natürlich sein sollende Ursprünglichkeit in der Geschichte, oder, wenn wirklich ein wahres Wunder, ein rein Uebernatürlichcs auch nur an diesem Einen ersten Punkte zugelassen werden wollte," (— das hätte sich Landerer sparen können, diese lahme Inkonsequenz auch nur hypothetisch als Baur's Meinung auszusprechen —) „müssten wir auf die Konsequenzen, die sich daran knüpfen, hinweisen, Konsequenzen, welche der ganzen Auffassung vom Urchristenthum und seiner Geschichte eine wesentlich andere Gestalt geben müssten" *). Das klingt nun zwar sehr heroisch konsequent; es kommt aber diesem Heroismus doch sehr gut, dass er hier sich nur im Allgemeinen in Positur gegen Baur setzen kann und die Konsequenzen, mit denen er droht, nicht wirklich zu ziehen genöthigt ist: sie könnten ihn leicht auf Resultate hinausführen, von denen er selbst doch gern weder sachte und mit guter Art sich wenigstens mit Einem Fuss auf den *) Worte der Erinnerung.

S. 74.

Ferdinand Christian Baur.

171

Standpunkt einer natürlichen Geschichtsauffassung zurückziehen möchte, auf welchem Baur fest mit beiden Füssen steht und den für das Urchristenthum konsequent durchgeführt zu haben, trotz einzelnen Mängeln und Lücken, sein grösstes Verdienst ist und bleibt. — Wir haben an Baur als Geschichtsschreiber den durchgehenden Mangel hervorgehoben, der in seiner spezifischen Denkernatur als menschliche Schranke und Einseitigkeit begründet ist und in der Wissenschaft die Ergänzung durch entgegengesetzt angelegte Persönlichkeiten, wie z. B. auf dem Gebiet der Kirchengeschichte durch einen Neander, verlangt. Und ein Ausfluss dieser Einseitigkeit ist sein Uebermaass im Gebrauch philosophischer Kategorien, um das Wesen historischer Erscheinungen zu bezeichnen. Man hat ihm daraus häufig weitergehend den Vorwurf abstrakter, willkürlicher Geschichtskonstruktion gemacht, ohne so gerecht zu sein, auch den Vorzug anzuerkennen, der die Kehrseite dieses Mangels ist. Es hat allerdings Etwas auf sich mit diesem Vorwurf „des Formalismus, bei welchem der dialektische Prozess der Idee mit seiner Nothwendigkeit das Individuum und seine freie Bewegung aus sich so gut wie verzehrt, das feine Gewebe des Eigenartigen häufig verloren geht, alle die Farben und Lichter, welche dem geschichtlichen Bilde erst die volle Wahrheit und Naturfrische geben, zurücktreten und oft nur ein Schattenriss übrig bleibt, ein monotones Spiel der bekannten Kategorien, Einheit und Differenz, Bewusstsein und Selbstbewusstsein, Substanz und Subjekt u. s. w." Es ist etwas an diesem Vorwurf. Einmal geht allerdings die individuelle Erscheinung niemals auf in eine allgemeine Kategorie; wenn daher auch ihr innerstes Wesen, das, worauf ihre Bedeutung im Prozess der Geschichte beruht, richtig in eine solche gefasst und dadurch auf den treffendsten, für die Wissenschaft fruchtbarsten Ausdruck gebracht worden ist, der ihr innerstes Verständniss aufschliesst: so bleibt doch immer ein Rest, der dabei zu kurz und in der Würdigung ausser Betracht kommt. Irrthümer vollends, wenn der Geist einer historischen Erscheinung nicht auf den zutreffenden allgemeinen Nennwerth gebracht wird, sind da doppelt schlimm; denn da bleibt dann gar nichts übrig,

172

Ferdinand Christian Baur.

während der geistlose Geschichtsschreiber, der sich einfach äusserlich ans Thatsächliche hält, doch immerhin dieses als brauchbares Material darbietet. Dann aber ist das eine fatale und schiefe Sache, dass ein Schriftsteller, der es liebt, vielleicht im Uebermaass liebt, seine Grundgedanken stets nur in ihrem knappen, abstrakt logischen Ausdruck zu geben, Leser voraussetzen muss, die ihm dabei wirklich nachzudenken nicht bloss die Gabe, sondern auch den guten Willen haben. Das ist nun aber eine Voraussetzung, die viel seltener eintrifft, als man billig sollte erwarten dürfen. Was ist nun die Folge? Mancher, der zum Voraus für den Standpunkt im Allgemeinen gewonnen ist, eignet sich jene Ausdrücke, die von ihrem Urheber mit Vollgehalt ausgeprägt worden sind, als runde handliche Münze an und treibt mit diesen Formeln, ohne viel Eigenes dabei zu denken, aber mit um so mehr Einbildung ein gewandtes Gedankenspiel. Der Hegel'schen Philosophie hat hauptsächlich ihre formelle Ausbildung zum Verderben gereicht. Es war leicht, ihre Formeln nachzubeten, und namentlich in dem dürren märkischen Sand schössen die philosophischen Disteln leicht und üppig auf, so lang sie Modeblumen waren — und dorrten dann auch ebenso schnell wieder ab. Aber ebenso leicht nahmen und nehmen es immer noch die meisten Gegner mit ihrer Polemik gegen die bekannten Hegel'schen Termen: ohne sich lang um den eigentlichen Sinn, die Kerngedanken darin zu bemühn, machen sie sich nur mit „den ausgeblasenen Eierschalen" zu schaffen. Alle auch nur halbwegs gebildeten Theologen haben ja so viel von den Hegel'schen Kategorien los, deren sich Baur hauptsächlich bedient, dass jeder sich aus dem Stegreif daraus ein Kartenhaus vermeintlich Hegel'scher, Baur'scher Ansichten konstruiren kann, um dasselbe dann mit ebenso leichter Mühe, aber nur um so grösserer Siegeszuversichtlichkeit wieder umzublasen. Und doch: welch ein jammervoller Mangel an wirklichem Verständniss der eigentlichen Grundgedanken, welch oberflächliche, immer und immer wiederkehrende, von Einem dem Andern nachgebetete Fundamentalmissverständnisse selbst bei Männern von Fach! Es giebt gewiss hüben und drüben Nachbeter; es kommt nur auf den Zug der Mode an, an welchen eben

Ferdinand Christian Baur.

173

die Reihe ist, lauter und zuversichtlicher Chorus zu machen. Den innern Gang der Wissenschaft bestimmt das aber nicht und Männer, die sich ihres eigenen Denkens bewusst sind, hängen ihren Mantel darum nicht nach dem Wind der Mode. Dazu war auch Baur der Mann nicht. Er musste bei allen geschichtlichen Erscheinungen in die Tiefe graben, um ihren innersten Geist und Gehalt zu finden, und diesen fasstc er dann in denjenigen philosophischen Ausdruck, der ihm der angemessenste war. Er selbst war kein schöpferischer Geist auf dem innersten Gebiete der Philosophie, wo von einem Denkprinzip aus die entsprechenden logischen Formen eines Systems ausgeprägt werden. Er war ein Denker, der sein Denken auf die Verarbeitung konkreter Stoffe verwandte, und dazu bediente er sich der auf dem Gebiet der reinen Philosophie ausgeprägten logischen Formen, die ihm der zutreffendste Ausdruck für sein Denkprinzip waren. Nun war er sich bewusst, an den Hegel'schen Kategorien die prägnanteste Form für seine Gedanken zu haben, und fand sich darum noch nicht veranlasst, sie mit andern zu vertauschen, als es schon anfing, Mode zu werden, sie für abgenutzt und veraltet und mitsammt dem Standpunkt, auf dem sie erwachsen waren, für Uberwunden zu erklären. Wie Viele von Denen, die das am Zuversichtlichsten als längst ausgemachte Sache Andern nachbeten, wären in Verlegenheit zu sagen, wie denn eigentlich? und hätten nöthig, den für überwunden erklärten Standpunkt nur erst zu erreichen und von ihm zu lernen, was er in Ueberwindung früherer Standpunkte von bleibender Wahrheit errungen. Das weitere Ueberwinden, die wirklichen Fortschritte über ihn hinaus, — wie gern wollte man dies Verdienst anerkennen und selbst mit fortschreiten! Baur hat sich nicht veranlasst gesehen, irgend einem neuern Philosophen das Verdienst eines wesentlichen, prinzipiellen Fortschrittes über Hegel's Grundprinzipien zuzuerkennen. Sonst wäre er der Mann gewesen, auch in seinen alten Tagen, bei seinem stets jugendlich frisch nach der Wahrheit und nur nach der Wahrheit strebenden Geist diesem neuen zu folgen. Hingegen dazu war er nicht der Mann, Hegel nur darum zu verlassen, weil er beim jüngern Geschlecht aus der Mode gekommen. Er war eben nie

174

Ferdinand Christian Baur.

ein nur oberflächlicher Anhänger und Nachbeter dieser Philosophie gewesen, welchen die Veränderungen, die allerdings durch berechtigte Kritik ihre Oberfläche, die strikte Hegel'sche Form, hat erfahren müssen, von seinem Standpunkt auf deren Grundprinzipien weggerückt hätten. Viele, sehr Viele wollen jetzt auch seiner Zeit diese Philosophie mit durchgemacht haben; aber nun hätten sie dieselbe überwunden und abgestreift. Sie mögen allerdings ganz Recht daran gethan haben: i h r e Hegel'sche Philosophie mochte vielleicht auch darnach gewesen sein, um nicht Stand zu halten; — von denen, die mit einem absoluten Bruch in .den „Glauben" umschlugen, gar nicht zu reden. Immerhin mag man es aber an Baur als eine, namentlich an einem Geschichtsforscher tadelnswerthe Unvollkommenheit rügen, dass er in der geschichtlichen Darstellung sich im Uebermaass abstrakter Ausdrücke, philosophischer Formeln eines bestimmten Systems bediente und meinetwegen, wenn man will — den Frack nach diesem Schnitt nicht ablegte, als alle Welt schon im bequemern Paletot ging. Mit diesem formellen Mangel hatte es aber so viel nicht auf sich; man dürfte ihn um der sachlichen Verdienste willen wohl zu gute halten. Allein man deutet von ihm auf ein sachliches Grundgebrechen. Der abstrakte Formalismus der Sprache verrathe eben den abstrakten Formalismus des Denkens, jenen einseitigen Standpunkt des Intellektualismus, der alles Leben des Geistes im Denken verflüchtige, die Geschichte in einen Denkprozess auflöse und für die sittliche Welt, die Welt des Lebens, mit seinen Thaten und Leiden keinen Sinn habe, der nur Ideen anerkenne und nicht die Persönlichkeiten. Gewiss ein schwerer Vorwurf — wenn er nur nicht auf einem noch schwereren Missverstand beruhte. Als ob, wer in der Wissenschaft mit aller Energie die Aufgabe verfolgt, die Thaten des Geistes auf ihren Gedankenausdruck zu bringen, damit das Leben des Geistes in blosses Denken auflösen wollte! als ob diejenige Auffassung des Geistes, welche für die W i s s e n s c h a f t die Forderung stellt, den Geist ganz im Gedanken zu fassen, nicht als die nothwendige Kehrseite davon für's Leben die Forderung aufstellen müsste, das Denken auch zur That zu machen! Gerade der philosophische

Ferdinand Christian Baur.

175

Standpunkt Baur's, dem man diesen Vorwurf des einseitigen Intellektualismus macht, setzt das Wesen des Geistes und darum seine ganze volle Selbstverwirklichung in die Einheit von Beidem, dem intellektuellen Selbstbewusstsein und der ethischen Selbstbetätigung; sie nimmt dies Beides nicht als Dinge verschiedenen Wesens, die sich gegenseitig ausschliessen oder einseitig ersetzen könnten, sondern hält für Beides gleichzeitig und ohne dass sie sich ausschliessen, die Forderung fest, den ganzen Menschen zu umfassen: für die Wissenschaft die Forderung, den ganzen Reichthum des Lebens zum Bewusstsein zu erheben, das Thun des Geistes auch zu denken; und für's Leben die Forderung, sein Denken auch zu thun. Wohl ist in den Einzelnen die intellektuelle und die sittliche Kraft unendlich verschieden entwickelt und thätig und jede kann sich darum auch einseitig äussern. Aber das Maass der Energie, mit der sich Einer konzentrirt dem Ausbau des Einen Gebietes der Menschheit widmet, ist darum noch nicht von ferne ein Maass der Einseitigkeit in seiner Würdigung des Gesammtgebietes der Menschheit. Es ist geradezu eine dumme, die eigene Geisteshalbheit bemäntelnd verrathende Verwechslung, wenn man gegen die energische Anhandnahme der wissenschaftlichen Aufgabe, das Geistesleben der Menschheit auf seinen Gedankenausdruck zu bringen, darum 6chon den Vorwurf eines einseitigen Intellektualismus, einer Verkennung der ethischen Seite der Menschheit, einer Auflösung des Lebens in blosses Denken, und was derartige Redensarten mehr sind, erhebt. Ein ganzer Mensch in Einem Gebiet ist doch mehr ein ganzer Mensch überhaupt, als wer in allen Gebieten nur etwas Halbes will, um das zum Ganzen zusammenzuschweissen. G e i z er in seiner Gedächtnissrede auf Bunsen (protestantische Monatsblätter, Januarheft) kommt bei seiner Rundschau über die in den letzten Dezennien dahingeschiedenen grossen Männer, bei welchem Anlass er nicht versäumt, der Geschäfte zu erwähnen, die er selbst mit denselben in geistreichen Gesprächen gemacht, auch auf Baur und seinen Besuch bei demselben zu sprechen. Er anerkennt in ihm einen der wenigen Gelehrten grossen Styls, deren Zahl mit jedem Jahr kleiner werde. Er rühmt an seiner

176

Ferdinand Christian Baur.

ganzen persönlichen Haltung etwas Imponirendes, geistig Adeliches, womit er auch Andersdenkenden in der würdigsten Form und mit anerkennenswerthester Offenheit entgegenkam. Aber: „auf derselben Höhe wie sein grossartiges Wissen und sein seltener Scharfsinn stand auch die ans Unbegreifliche grenzende Einseitigkeit seiner Weltanschauung, für welche eine ganze grosse Hälfte der menschlichen Natur und des wirklichen Lebens ein verschlossenes Buch war. Der Intellektualismus, die Welt des Denkens und Wissens, war für ihn die einzig vorhandene Welt, ein Gesichtskreis von unermesslicher Weite und Freiheit nach der einen Seite hin, nach der andern aber völlig beschränkt und abgeschlossen: die ethische Welt des Handelns und Leidens blieb ihm, sowie Vielen aus seiner Schule, in ihren tiefsten Bedürfnissen und Beweggründen allem Anschein nach unverständlich." Es ist ebenso vorsichtig als bescheiden, dass Geizer wenigstens hinzufügt : „allem Anschein nach." So wird er doch, wenn sich die Unbegreiflichkeit der Einseitigkeit von Baur's Weltanschauung vielleicht aus einer Einseitigkeit von seiner Auffassung derselben erklären sollte, wohl auch jenen „anscheinenden" Mangel an Verständniss für die ethische Welt bei Baur vielmehr auf Rechnung seines eigenen Mangels an Verständniss des Verhältnisses zwischen Ethischem und Intellektuellem in Baur's Weltanschauung zu nehmen sich nicht weigern und merken, dass sein Kompliment und sein Vorwurf gegen Baur zwei münchhausensche Wölfe sind, die sich gegenseitig bis auf die Schwänze von ein paar Phrasen aufzehren. Man kann etwa von einem Mann sagen: in der Wissenschaft war er gross, aber im Leben klein; oder: in Einem Gebiet der Wissenschaft war er gross, andere aber waren ihm verschlossen; oder endlich auch: in Einer und derselben Wissenschaft war er in der einen Richtung gross, in der andern beschränkt. Aber demselben wissenschaftlichen Gesichtskreis kann man nicht nach der einen Richtung unermessliche Weite und Freiheit nachrühmen und ihm nach der andern unbegreifliche Einseitigkeit und Beschränktheit vorwerfen; denn wohlverstanden: was man Baur als Einseitigkeit und Beschränktheit vorwirft, das ist gerade dieser sein wissenschaftlicher Standpunkt selbst, neben dem nicht etwa

177

Ferdinand Christian Baur.

das liegt, was man dabei doch als seine Weite und Freiheit gelten lassen könnte, sondern i n dessen grossartiger Durchführung gerade dieselbe allein besteht, wenn man eine solche an ihm rühmen will. Ist daher sein wissenschaftlicher Standpunkt wirklich ein in sich selbst beschränkter: so ist das Lob der Weite und Freiheit seiner Wissenschaft ein leeres Kompliment; kommt aber dieser Ruhm ihr wirklich zu: so ist der Tadel der Beschränktheit ihres Standpunktes ein Vorurtheil, das sich selbst auf den Mund schlagen muss. Alles reduzirt sich darauf, dass Baur mit ungeteilter Kraft dem Beruf gelebt hat, ein Mann der Wissenschaft zu sein, und auf diesem Gebiet keine Einschränkung der Aufgabe — des Rechts und der Pflicht der wissenschaftlichen Erkenntniss, der Durchdringung des Lebens mit dem Denken — anerkannte. Wie sehr er aber nicht bloss nebenbei auch ein achtbarer Mann, ein tüchtiger Charakter war, sondern dass er gerade, um ein wissens c h a f t l i c h e r Charakter von solcher Entschiedenheit zu sein, wie es unter den Theologen so selten ist, zugleich ein ethisch tüchtiger Charakter sein musste, das anerkennen schon die „Worte der Erinnerung" (S. 15): „Solch eine Stellung im Haushalt Gottes (von Männern, die ihr brennender Wissensdurst treibt, dass sie Allem möchten auf den Grund sehen, und die, was sie gefunden, als ihre Ucberzeugung frei auszusprechen für Pflicht wie für Recht halten) ist in allweg nicht Jedermanns Ding. Denn es gehört viel Muth und ein klares festes Gewissen dazu, um das, was dem christlichcn Volk heilig ist, nach der Weise menschlicher Dinge zu prüfen und darüber zu urtheilen; es gehört ein reiner Geist und ein männlich Herz dazu, um auch bei solcher Arbeit und unter allen Kämpfen, die sie hervorruft, bezeugen zu können: „ich bin mir Nichts bewusst — Nichts, als eben : nur, an meinem Theile der Wahrheit zu dienen." Möchten drum nur Alle, ein Jeder an seinem Ort und mit seinen Gaben, so einseitig wie Baur, d. h. mit seiner selbstbewussten Entschiedenheit, für's grosse Ganze wirken: dieses würde allseitiger und gesunder gefördert, als mit dem wichtigthuenden Reden in's Weite und Blaue hinaus „über den Grenzstreit zwischen Kirche und Schule, Leben und B i e d e r m a n n , Vortrüge und Aufsätze.

10

178

Ferdinand Christian Baur.

Denken, welcher folgenreiche Grenzstreit müsse geschlichtet werden nicht im Sinn einer unterdrückenden Reaktion, sondern im Geist einer durchgreifenden hochsinnigen Reorganisation, die ebenso sehr die geistige Freiheit der Schule wie das thatkräftige Leben der Kirche zu ihrer Aufgabe mache" (Geizer a. a. 0.). Ein solches in's weite Blaue hinaus sehr schön und volltönendes Reden war allerdings nicht nach Baur's Geschmack und er mochte wohl, gestützt auf die Erfahrung aus nächster Nähe, die trockene Antwort darauf geben, die Geizer als Beleg anführt, dass die ethische Welt mit ihren tiefsten Bedürfnissen ihm unverständlich geblieben sei.

VIII. Man macht Baur im Zusammenhang mit dem Vorwurf des einseitigen Intellektualismus auch den, dass er die Bedeutung der Persönlichkeit verkannt habe. Was richtig daran ist, haben wir als Mangel seiner Geschichtsschreibung schon gerügt: das Individuelle trete hinter dem Interesse für das Allgemeine bei ihm zu sehr zurück. Was aber den Kern dieses Vorwurfs betrifft, so ist es vorab etwas Seltsames, was zum Nachdenken auffordern sollte, dass er zumeist gegen solche Männer erhoben wird, denen man doch, wie z. B. Baur und Hegel, auf der andern Seite zugestehen muss, dass sie selbst gerade tüchtige und gediegene Persönlichkeiten gewesen seien. Befremdend auf den ersten Blick, und doch wieder natürlich. Was giebt der Persönlichkeit ihren gediegenen Werth und Charakter? Die Sache, womit sie ihr persönliches Ich erfüllt, die allgemeine Wahrheit, die in dem einzelnen Menschen subjektive Ueberzeugung und persönliche Lebenswahrheit ist. Je selbstloser und zugleich thatkräftiger eine Persönlichkeit einer allgemeinen Sache oder Wahrheit sich weiht, desto wichtiger ist sie gerade als Persönlichkeit und hat als solche weittragende Wirkung und bleibenden Werth. Gerade eine solche Persönlichkeit aber vergisst über dem, wofür und wodurch sie lebt, sich selbst. Sie fürchtet nicht, sich selbst abhanden zu kommen, oder als Null übrig zu bleiben, wenn sie schon nicht

179

Ferdinand Christian Baur.

apart immer ihr Ich vorandrängt und betont. Und daram werthet und wägt ein Solcher auch andere Persönlichkeiten zunächst nach ihrem sachlichen Werth, nach der Wahrheit, deren persönliche Träger sie sind. Und gerade der wissenschaftliche Standpunkt, der in der Geschichte an Ideen glaubt und Ideen sucht, der die Persönlichkeiten vor Allem darauf ansieht, ob und wie weit sie die Träger derselben sind, hebt an der Persönlichkeit das hervor, was ihren Adel begründet, sucht und ehrt das in ihnen, was ihnen persönlich wahrhaftigen Inhalt und Werth und für die Geschichte Bedeutung giebt; während der Persönlichkeitskultus oft Nichts als Selbstbeweihräucherung des eiteln Individuums ist. Was ist denn Uberhaupt die Religion ihrem wahren Wesen nach Anderes, als die Weihung der eigenen Persönlichkeit gerade durch die Hingebung an das, was über ihrem Eigenwillen und Sonderwesen ist? Man pflegt Persönlichkeiten, die sich mit ganzer Energie etwas Allgemeinem hingeben, sich damit erfüllen und alle individuelle Besonderheit in dasselbe aufgehen lassen, a n t i k e Charaktere zu nennen: nicht darum, weil das Alterthum diesen Inhalt giebt, sondern weil die Form solcher ganzer substanzieller Charaktere uns aus der Ferne des Alterthums abgerundeter entgegentritt. Wenn aber der Inhalt eines solchen Charakters das Leben im Geist ist, und das Wesen desselben in der persönlichen Hingebung des eigenen Geisteslebens in den Dienst des ewigen Geistes und in dem Bewusstsein besteht, darin und darin allein seinen Werth, sein höchstes Gut, sein wahres Leben zu haben: so weiss ich nicht, warum man einen solchen Charakter nicht gerade vorzugsweise einen christlichen Charakter nennen sollte. Denn diese persönliche Hingebung an den göttlichen Geist, in der alle individuelle Eigensucht zurücktreten muss vor der Liebe dessen, was allein ewig ist, in der diese Liebe selbst Freiheit von der Welt und über die Welt und die selige Erfahrung erfüllter Bestimmung mitten in der Erfahrung der Nichtigkeit alles Irdischen giebt, das ist ja doch — in diesen oder in jenen Worten ausgesprochen, wenn's nur nicht blosse Worte, sondern gelebte Wahrheit ist — das in Jesu Christo selbst aufgeschlossene und uns vorgesteckte Ziel der christlichen Berufung. Ja wirklich: ich 12*

180

Ferdinand Christian Baur.

weiss nicht, warum man einen solchen Charakter, der dieses praktische Ziel des Ghristenthums sich zur Lebensgesinnung angeeignet hat mit dem entschiedenen Bewusstsein, darin den wahren Gehalt des Christenthums zu haben, und der es mit einer seltenen sittlichen Energie ein langes arbeitsreiches Leben durch bewahrheitet hat, nicht vorzugsweise einen christlichen Charakter nennen sollte. Ich weiss freilich wohl, man denkt bei einem christlichen Charakter gewöhnlich an etwas Anderes, und wo dieses fehlt oder doch zurücktritt, da legt man ihm jedenfalls das Christliche nicht mit besonderm Nachdruck als eigentlichen Grundcharakter bei, sondern will ihm, wenn's hoch kommt, dasselbe doch nicht ganz absprechen. Man verlangt zu einem spezifisch christlichen Charakter ftlr's Erste, dass sein Glaubensbewussts e i n die biblische oder kirchliche Form an sich habe und dass er „gläubig" an dieser Form halte; für's Zweite verlangt man für einen spezifisch christlichen Charakter, dass der Kampf, der dem christlichen Endziel, dem Frieden mit Gott, vorausgehen muss, der Schmerz der natürlichen Sündhaftigkeit, das Schuld- und Bussgefühl, das Verlangen nach der Gnade, das Ergreifen der Gnadenoffenbarung in Christo, — dass dieser Kampf in ihm besonders markirt hervortrete und es sichtbar werde, wie ernst es dabei hergehe und wie sehr das Ziel des Friedens nur göttliche Gnade sei. Gewiss zu diesem Ziel kommt man nicht ohne die Arbeit jenes Kampfes. Es ist Geschwätz, in welchem von wahrem Christenthum nichts ist, wenn von Einheit mit Gott, von Erhebung zum Ewigen, von Ergreifen des Absoluten u. s. w. so mir Nichts dir Nichts geredet wird, als käme man nur so im Flug dazu durch eine blosse Erhebung des Bewusstseins und nicht durch eine stetige innere Arbeit des ganzen Gemüths und Willens, die durch jenes Ringen und seine Wunden hindurchgeht. Aber ebenso wenig ist das wahre Christenthum schon da, wo immer nur dieses Kämpfen zur Schau getragen wird, wo immer nur über die Sünde geklagt, die Notwendigkeit der Gnade angerufen und auch die Erlösungsthat Christi gepriesen, nicht aber die Erlösung selbst, die innere Befreiung und Erhebung des Gemüths zur freudigen Freiheit in Gott empfunden wird. Ja, es kann das Reden

Ferdinand Christian Baur.

181

von Sünde und Gnade ebenso gut eitles, unreales Geschwätz sein, wie das vom Selbstbewusstsein des Absoluten. Ich meine das nicht bloss im Sinn der baaren Heuchelei: sondern es kann bei allem vermeintlichen Glauben doch ein blosses Spiel von Vorstellungen sein, die im innern Leben keinen Ernst und keine Wirklichkeit im Willen haben. Wenn' Diejenigen, die das spezifisch Christliche für sich in Anspruch nehmen, weil sie in biblisch kirchlicher Form denken, fast durchgängig, was wir von Vorsehung und Gemeinschaft mit Gott sagen, als eine b l o s s e Sache des Denkens, als eine blosse Erhebung des Bewusstseins zu diesen und jenen Gedanken auffassen und darnach abschätzig taxiren: so könnte das die schlimme Vorstellung auf sie selber zurückwerfen, als verhalte sich's im Grunde mit ihrem eigenen Eeden von Sünde und Gnade auch nicht besser, als sähe es hinter der dünnen Schicht von Vorstellungen und Redensarten, die sich angelernter Weise auf der Oberfläche ihres Geistes hin und her bewegen, im Grand ihres innern Lebens doch auch noch recht unwiedergeboren, leer, ungläubig aus. Wenigstens manches richtende und abschätzige Wort von „gläubiger" Seite müssten wir geradezu als Verräther innerer Frivolität hinter gläubiger Aussenseite nehmen, wenn wir's nicht einem über's Ziel schiessenden Eifer gegnerischen Unverstandes zu gut halten könnten. Die Mahnung: richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet, dürfte aber doch von Zeit zu Zeit namentlich für die Theologen am Platze sein. An sich müssen j a wohl Alle durch Dasselbe hindurch, um ans christliche Ziel der persönlichen Einigung mit Gott, zur Wirklichkeit eines christlichen Charakters zu gelangen, durch alles das, was die evangelische Lehre als den Prozess der Wiedergeburt beschreibt. Allein dieser Prozess geht bei den verschieden gearteten Individualitäten schon innerlich in unendlich verschiedenartiger Weise vor sich: bei den Einen durch tiefen Bruch und heftige Kämpfe, bei den Anderen in gehaltener Entwicklung; vollends aber wie dieser innerste Prozess der Ausgestaltung einer wahrhaft geistig gesinnten Persönlichkeit nach aussen sich darstellt, das ist so mannigfaltig wie das Leben selbst. Darum begegnen uns j a schon im ersten Kreis von Gläubigen die

182

Ferdinand Christian Baur.

verschiedenen Aposteltypen. Es giebt keine Uniform für den christlichen Charakter. Nur an den Früchten eines wahrhaft geistigen Lebens können wir ihn erkennen; nur nach diesen sollten wir urtheilen, ob und wie weit ein Charakter als ein christlicher anzuerkennen sei, — wenn nur nicht auch da wieder ein Jeder die Früchte zum Voraus — und oft wie engherzig! — nach seinem Sinne sortirte. Das andere Requisit, das man für einen spezifisch christlichen Charakter als selbstverständlich aufzustellen gewohnt ist, das ist die „Gläubigkeit", d. h., dass man die christliche Wahrheit in derselben Form haben müsse, in welcher das urchristliche Glaubensleben die Heilswahrheit, die es erlebte, sich zum Bewusstsein vermittelt und zur Lehre gestaltet hat. Dies Requisit — so selbstverständlich es auch noch so Vielen erscheint, dass sie es fast nicht glauben wollen, wie man im Ernst diese Selbstverständlichkeit in Zweifel ziehen oder gar direkt bestreiten könne —, es ist doch nichts Anderes als eine im innersten Wesen unprotestantische Eingrenzung des christlichen Geistes in eine einzelne Form seiner Selbstverwirklichung, welche zwar die primitive, aber doch immerhin eine geschichtlich bedingte und darum endliche ist. Gegen diese Eingrenzung ist die Geschichte des Christenthums selbst von Anfang an ein ganz unmittelbarer thatsächlicher Protest. Und gegen sie zu protestiren aus dem Bewusstsein heraus, gerade in der über jede einzelne menschliche Form hinausgreifenden göttlichen Wahrheit des christlichen Prinzips nicht nur die Berechtigung, sondern die Verpflichtung dazu zu haben, — das und nichts Anderes macht eben das Wesen des Protestantismus aus, weil dieser nichts Anderes sein will, als das in aller Zeitentwicklung stets sich aus seinem göttlichen Grund reformirende Christenthum selbst. Zu einer spezifisch christlichen Persönlichkeit gehört also durchaus nicht unabtrennbar, was nur eine unprotestantisch beschränkte Vorstellunng vom Wesen des Christenthums als n o t wendiges Requisit dafür aufstellt: dass sie auch in ihren „Ansichten" „bibelgläubig" sein müsse im Sinn einer autoritätsgläubigen Anerkennung der biblischen und weiterhin kirchlichen Vorstellungswelt. Ja, dass sie „das Wort Gottes in der Bibel zur Norm"

Ferdinand Christian Baur.

183

habe — wenn man diesen dogmatischen Ausdruck nur eben nicht so verstehen will, wie er ein Hohn auf jede geistige Auffassung der religiösen Fundamentalbegriffe ist — , das gehört allerdings zu einer spezifisch christlichen Persönlichkeit. Sie kann aber da sein, auch wenn die begriffliche Fassung der christlichen Wahrheiten von A bis Z eine andere Form hat als die „gläubige", sobald nur einerseits diese Wahrheiten in ihr persönliche Lebenswahrheiten sind, und sobald sie anderseits in all ihrem Gegensatz der Lehrfassung sich nur des innern positiven Zusammenhangs mit dem biblischen und kirchlichen „Glauben" und ihres geschichtlichen Wurzeins auf diesem Grunde bewusst ist, indem sie sich Rechenschaft darüber geben kann, dass sie nicht aus Verneinung oder Verkennung und Verkümmerung jenes Geistes, der in der Schrift sich primitiv dokumentirt hat, die Glaubensvorstellungen, in welchen er dort seinen Ausdruck gefunden, mit subjektiver Willkür verlassen und mit andern vertauscht, sondern vielmehr dieselben bloss zu einem dem innersten Wesen jenes Geistes allseitiger entsprechenden Ausdruck umgebildet habe. Ob dies subjektive Selbstzeugniss die sachliche Wahrheit sei, das entscheidet die Geschichte, die — freilich nicht durch den Mund einzelner Geschichtsschreiber, am wenigsten noch mitlebender — sondern durch den Gesammtgang ihrer Entwicklung thatsächlich das Urtheil fällt, ob das, was die Einzelnen auf dem Einen -gelegten Fundament — nicht der Bibel- und Kirchenlehre, sondern der persönlichen Heilswahrheit in Christo — weiter gebaut haben, Gold, Silber und Edelstein, oder aber Holz, Gras und Stoppeln gewesen. Ueber den persönlichen Anspruch darauf aber, mit seinem Glaubensbewusstsein im christlichen Geiste zu wurzeln, entscheidet nur die eigene ehrliche Ueberzeugung von jenem fundamentalen Zusammenhang. Darum hat Der freilich Recht, sich nicht mehr einen Christen zu nennen, und kann sich nicht über ein Unrecht beklagen, wenn es ihm abgesprochen wird, der jenen Zusammenhang, auch wenn derselbe sachlich vorhanden ist, in seinem Bewusstsein abgerissen hat. Und wer sich wenigstens nicht Rechenschaft zu geben vermag, wie seine abweichenden religiösen Ueberzeugungen zu den offiziell kirchlichen sich eigent-

184

Ferdinand Christian Baur.

lieh verhalten, der mag im Zweifel sein, wie weit er und Gleichgesinnte eigentlich noch ein Recht haben, sich Christen zu nennen, wenn schon eine instinktive Stimme ihm wehrt, es sich abzuschneiden. Der aber hat das volle Recht, den Anspruch, ein Christ, ein christlicher Theolog und zwar ein ächter protestantischer Theolog zu sein, sich zu wahren und allseitig geltend zu machen, dessen ganzes wissenschaftliches Streben kein anderes Grundprinzip hat als das, die Geschichte der christlichen Kirche und ihrer Lehre als das Ringen des menschlichen Geistes nach dem immer tiefern Verständniss und der immer allseitigem Verwirklichung seines wahren ewigen Wesens, das als höchstes religiöses Lebensprinzip in der Person Christi in die Geschichte eingetreten ist, zu begreifen. Das aber war das Grundprinzip von Baur's ganzer Theologie. Und wenn dann ein solcher Mann der Wissenschaft dieses Prinzip auch als seinen Lebensgrundsatz bewahrheitet und zu einer gediegenen, in sich einigen, charakterfesten Persönlichkeit ausgeprägt hat, deren lauterem Adel auch Solche die ungetheilte Anerkennung nicht versagen, die ihm als wissenschaftliche Gegner gegenüber stehn, als Gegner nicht bloss dieser und jener Ansichten, sondern als prinzipielle Gegner seines ganzen Standpunkts: so nehmen wir das volle Recht in Anspruch, einen solchen Mann auch einen spezifisch christlichen Charakter zu nennen und ihn als solchen zu verehren. Wie viel Baur durch seine wissenschaftlichen Leistungen die Gesammtarbeit des christlichen Geistes gefördert habe, das wird in der Zukunft die weitere Entwicklungsgeschichte der Theologie entscheiden. Wie viel von denselben sie auch immer als blosses temporäres Gerüst für den Weiterbau wieder beseitigen mag: dessen wenigstens sind wir sicher, dass sie das Siegesgeschrei einer kühn rückwärts avancirenden Theologie, Baur sei j a jetzt schon ganz überwunden und abgethan, nicht bestätigen, sondern vielmehr auf Generationen hinaus seine fruchtbare Nachwirkung verspüren und dankbar anerkennen wird. Wir enden hier unsre Skizze, bei der wir uns — hierin ja nur seinem eigenen Beispiel folgend — mehr bloss an die allgemeinen Grundzüge der wissenschaftlichen Bedeutung von Baur's

Ferdinand Christian Baur.

185

Persönlichkeit gehalten haben. Möge einer der Männer, die durch ihre Stellung zu dem Verstorbenen vorzugsweise dazu berufen sind, uns bald ein volles Lebensbild des Manues bringen, der, im Greisenalter und doch noch in voller Manneskraft dahingeschieden, dem jüngeren Geschlecht zur Beschauung und zur Nacheiferung ein leuchtendes Vorbild unentwegten Strebens nach dem Ziele wissenschaftlicher und sittlicher Geistesfreiheit hinterlassen hat.

YI.

Schleiermacher. Festrede, gehalten an der von der theologischen Fakultät Zürich veranstalteten Feier von Schleiermachers lOOjfthrigem Geburtstag, den 21. November.

Unser Leben währt 70 Jahre und wenn es hoch kommt, so sind es 80 Jahre. Diese kurze Zeit des persönlichen Daseins und Wirkens überdauern das Bild in der Erinnerung und die Nachwirkung; doch auch diese schwinden bald aus dem lebendige^ Andenken und werden nur in einem engern Kreise näher Verbundener, auch da allmälig erblassend, noch länger erhalten. Wenn aber von einer hervorragenden Persönlichkeit tiefer greifende und weiter reichende Wirkungen ausgehen, da sammeln sich dann wohl nach Verlauf eines Jahrhunderts weite Kreise, um das Andenken eines Mannes zu feiern und sein Bild in der Erinnerung aufzufrischen, von dessen Leben auch die Gegenwart noch sich lebendig mitbewegt fühlt. Die Zeit sichtet und richtet: erst wenn die Lebenden in die Vergangenheit zurücktreten, heben sich die nachhaltigen Wirkungen von den rasch verlaufenden Bewegungen der Gegenwart ab; wie die Häupter unsrer Berge erst aus der Ferne die niedern Höhen unter sich zurücklassen, die aus der Nähe für den unkundigen Blick sie zu überragen schienen. Wir feiern heute den 100jährigen Geburtstag des Theologen F r i e d r i c h S c h l e i e r m a c h e r : nicht die theologische Fakultät allein, sondern mit ihr die gesammte Hochschule; denn durch seinen universellen Geist gehört Schleiermacher der Wissenschaft

Schleiermacher.

187

überhaupt an. Nicht bloss wir hier, — wohl an allen Pflanzstätten deutsch-protestantischer Wissenschaft wird heute seiner geflacht. Und — eine seltene Erscheinung — wie weit, j a feindlich auch die theologischen Richtungen der Gegenwart auseinander gehen: heute wenigstens treffen sie alle, was nicht äusserste Extreme sind, in der Anerkennung zusammen, dass von diesem Mann eine neubelebende Einwirkung auf die theologische Wissenschaft und durch sie auf die Kirche ausgegangen sei, wie seit der Reformation von keiner einzelneu Persönlichkeit. Wir hier in Zürich haben ganz besonders Veranlassung, Schleiermachers dankbar zu gedenken; denn seit dem Beginn unsrer Hochschule hat an ihrer theologischen Fakultät der Geist Schleiermachers vorzugsweise gewaltet und haben in unserm kirchlichen Leben auch seine Grundsätze so tiefe Wurzeln geschlagen, wie kaum irgendwo. Sie haben darum wohl alle erwartet, heute den Mann vor Ihnen auftreten zu sehen, der vor allen Andern Träger und Pfleger dieses Geistes Schleiermachers unter uns bis auf heute gewesen ist, von den Geisteserben Schleiermachers überhaupt einer der nächsten, und bei solchem Anlass steht doch den nächsten Erben auch das nächste Recht zu. Allein wenn dieser Mann sagt, die Allgemeinheit der Schleiermacherfeier finde gerade darin ihren unmittelbarsten Ausdruck, dass ein Andrer ihr das Wort leihe und nicht Der, den man sonst schon als seinen Verehrer kenne — , was wollen wir ihm entgegnen? Gönnen wir ihm die Genugthuung, die in dieser Feier für sein Wirken liegt. Sie aber müssen nun freilich deswegen einen Andern über Schleiermacher hören. Allein gerade das, was zuerst die Frage in Ihnen hervorrufen mochte: warum heute Der? möge schliesslich meinen Worten bei Ihnen zu Gute kommen, dass Einer, der nicht im engem Sinn zu den Schülern Schleiermachers zählt, an seiner Säkularfeier es ausspricht, was ihm die Theologie, die Wissenschaft überhaupt und die Kirche verdanke. Als ich — erlauben Sie dies Persönliche; aber ich spreche damit nicht bloss meine, sondern sehr Vieler Stellung zu Schleiermacher aus, die heut in erster Linie mit sein Andenken feiern, — als ich die ersten Vorhallen der Wissenschaft betrat, kam ich in

188

Schleiermacher.

einen Kreis, in welchem das Andenken des kurz vorher dahingeschiedenen Mannes in höchster Verehrung gepflegt wurde. Diese Verehrung begleitete mich steigend durch das theologische Studium, obgleich mein eigenes Denken, andersartig angelegt, vorerst einer andern Richtung folgte, die noch wenige Jahre vorher zu Schleiermacher in sprödem Gegensatze gestanden. Allein auf jedem Gebiet unsrer Wissenschaft trat mir Schleiermacher und immer weder Schleiermacher entgegen, und immer mehr gingen mir seine fundamentalen Gedanken — wenn auch oft auf entgegengesetztem Wege gewonnen und immer in andrer Weise gefasst — als die fundamentalen Wahrheiten unsrer Wissenschaft auf, und mit seinem Verständniss wuchs bei mir nicht bloss eine kühle Hochschätzung seiner Verdienste, sondern zugleich warme persönliche Verehrung des grossen Mannes selbst. Von dieser, wissenschaftlich zum Theil gegnerischen, aber nicht bloss anerkennenden, sondern zugleich im Innersten mit ihm sich verbunden fühlenden Stellung aus lassen Sie mich heute vor Ihnen Schleiermacher als den R e g e n e r a t o r der modernen Theologie beleuchten; denn nichts Geringeres als dies ist es allerdings, um deswillen heute sein Gedenktag aller Orten gefeiert wird. Damit ein Mann dies für eine Wissenschaft werde, muss schon von Haus aus seine individuelle Begabung in einer innerlich übereinstimmenden Beziehung zu dieser Wissenschaft und ihren besondern, in der Natur ihres Gegenstandes begründeten Erfordernissen stehen. Dies war in der That in vollem Maasse bei Schleiermacher der Fall. Es treten uns an ihm zwei Seiten des menschlichen Geistes, jede in einer solchen Weise und in einem zu seltener Virtuosität gesteigerten Grade entgegen, wie wir sonst gewohnt sind, sie an ganz entgegengesetzte Individualitäten vertheilt anzutreffen, die wir aber in ihm zu einer so scharf ausgeprägten persönlichen Einheit verbunden finden, dass er schon unter diesem Gesichtspunkt zu den interessantesten psychologischen Erscheinungen gehört. — Vorab tritt an ihm eine ungewöhnlich feine, bewegliche Gefühlsempfänglichkeit hervor. Alles, was den Menschen bewegen kann, fand in seinem fein besaiteten Innern raschen und tiefen Wiederklang. Aber nicht, dass er nun

Schleiermacher.

189

— wie man sich wohl einen Gemüthsmenschen vorstellt — von diesen Eindrücken beherrscht, ihr selbstloser Spiegel gewesen wäre: sein rezeptives Gefühl war zugleich ein energisches aktives Aufnehmen in sein eigenes Selbst. Dieses war allen Eindrücken von aussen weit geöffnet, nur um in der eigenen Gegenwirkung gegen alle sich in seiner selbstständigen ursprünglichen Eigenart vollständig herauszuwirken. In seinem persönlichen Fühlen waren, wie in seiner Weltanschauung, zwei Elemente stets mit einander verbunden: mit allem Natürlichen, Individuellen, das er im mannigfaltigsten Lebensverkehr aufsuchte, auf sich wirken liess und nachempfindend mitempfand, verband sich in seinem Gefühl immer zugleich die Beziehung aufs Allgemeine, auf die höchste sittliche Bestimmung, aufs Ewige. An diesem maass sich ihm, wie er das Natürliche bestimmend auf sich einwirken zu lassen und wie er dagegen zu reagiren habe, um sich darin sich selbst treu zu erhalten. So nahmen alle seine Gefühle, was auch ihr natürlicher Ausgang und Inhalt sein mochte, immer gleich den spezifischen Charakter des sittlichen und religiösen Gefühls an. Dass Schleiermacher seine erste Jugendbildung in der Herrnhuter Gemeinde erhalten, deren ßeligiösität wesentlich den Charakter eines gefühlsseligen persönlichen Herzensumgangs mit dem Heiland an sich trägt, das wirkte natürlich mit dazu bei, diese Eigentümlichkeit seines Wesens zu wecken. Allein sie lag von Natur in ihm und blieb sich darum auch gleich, ja entwickelte sich erst recht, als er aus dem seinem Verstand widerstrebenden Herrnhutischen Kreise heraus und in eine völlig andre geistige Atmosphäre eintrat. Während seiner ersten Berliner Periode (1796 bis 1802) stand er in engstem Verkehr mit den Häuptern der eben auftauchenden romantischen Schule, vor allen in vertrautester enthusiastischer Freundschaft mit F r i e d r i c h Schlegel, in welchem die Grundtendenz der Schule, das Recht des genialen Subjekts über die Pedanterie gewöhnlicher Regel und Ordnung in Kunst und Leben, früh auch die Schattenseite genialer Zuchtlosigkeit herauskehrte. Zugleich kultivirte er den intimsten Geistes- und Herzensaustausch mit geist- und gemüthvollen Frauen. Nicht erst seine Schwester, nicht erst wohlmeinende geistliche

190

Schleiernlacher.

Gönner brauchten ihn auf die Gefahren eines solchen für einen Prediger befremdenden Umgangs aufmerksam zu machen: er selbst reflektirte mit strengem Selbstbewusstsein auf Alles und schied, obschon im Innersten von ihnen berührt, mit fester sittlicher Willensenergie die Verirrungen der Romantik von sich aus. Es lag in seinem Wesen etwas Weibliches, auf dem Weg solchen individuellen Gefühlsaustausches, in welchem er sich auch von den Frauen besser verstanden und ihnen näher verwandt fühlte, sein eigenes Selbst zu bilden; allein es war ein männlich selbstbewusstes und männlich tapferes Gemüth von seltener Willensenergie, das auf diese Weise sich bildete. Schleiermacher war durch alle Stadien seines Lebens hindurch — wie er sich nennt — ein Virtuos des Gefühls, und zwar des für alles Menschliche offenen, aber in seinem innersten Kern sittlichen und frommen Gefühls. Mit diesem Gefühl nun verband sich in ihm der schärfste Verstand. Nicht jener spekulative Tiefsinn, in welchem sonst ein tieferes religiöses Gefühl und ungewöhnliche Denkkraft eine natürliche Verbindung eingehen. Im Gegentheil diese Weise des spekulativen, philosophisch oder künstlerisch schaffenden Denkens tritt bei ihm entschieden zurück. Nein, es war bei ihm gerade der Verstand im engern Sinn, der reflektirende, kritisch prüfende, Gegebenes zersetzende, zergliedernde, ordnende Verstand, der im geistigen Leben den natürlichen andern Pol zu der Unmittelbarkeit des Gefühls bildet und darum leicht als dessen Widerpart auftritt. Und zwar lag in ihm nicht etwa beides neben einander, jedes auf ein anderes Lebensgebiet gerichtet, — wie es ja oft vorkommt, dass Jemand ein Gebiet als ein Heiligthum seines innersten Gemüthsinteresses vor seinem eigenen Verstände sorgfältig abgeschlossen hält, dem er dafür auf andern Gebieten sein vollständiges Recht lässt. Bei Schleiermacher war es nicht so: gerade das, was den Mittelpunkt seines Gemüthslebens ausmachte, bildete auch den eigentlichen Gegenstand seiner Verstandesarbeit; ja nur Solches nahm sein Verstandesinteresse vollständig in Anspruch. Daher war auch eine rein objektive Gelehrsamkeit, deren Gegenstand keine Beziehungen zu den Interessen seines

Schleiermacher.

191

Gemüthes hatte, nicht seine Sache. Aber mit dem vollen strengen Bewusstsein von der Aufgabe der Wissenschaft, nüchtern, anscheinend trocken, kaltblütig, mit der Rahe eines Anatomen zergliederte er, was zugleich sein eigenes lebendig pulsirendes Herz war. Als dieser Virtuos des Gefühls und Virtuos des Verstandes, beides in seltenem Grad und beides in noch seltnerer Verbindung, wurde Schleiermacher der Regenerator der Theologie. Diese hat zum Gegenstand die Religion und ist ihrer Form nach Wissenschaft. — Dass die Religion ihren Schwerpunkt wesentlich im Gern üth habe, dass sie ihren spezifischen Werth verliere, wenn sie nicht als Herzenssache vom innersten Fühlen des Menschen aus sein Vorstellen und Handeln bestimme, — das ist heut-zu Tag eine allgemein anerkannte, als selbstverständlich geltende Sache. Das war es aber nicht immer, und dass es jetzt so ist, das ist wesentlich Schleiermachers Verdienst. Der herrschenden Theologie gegen Ende des vorigen Jahrhunderts ging die Religion auf im Festhalten oder Nichtfesthalten an kirchlich überlieferten Lehren. Der in ihrem Schooss langweilig und fruchtlos sich hinschleppende Streit zwischen Altglauben und Aufklärung, Supranaturalismus und Rationalismus, drehte sich um das Maass der Uebervernünftigkeit oder Vernünftigkeit dieser Sätze. Ein lebendiges Christenthum in der Form des alten Kirchenglaubeus führte abseits von der Entwicklung der Zeit nur ein still verborgenes Dasein. Die Gebildeten des Aufklärungsjahrhunderts aber, denen in der eben aufblühenden klassischen Nationalliteratur reichere und frischere Quellen aufgegangen waren, hatten für das Uebervernünftige der alten Kirchenlehre den Glauben und für den magern Rest, den die Aufklärungstheologie noch zu bieten hatte, den Geschmack verloren. Und wenn der tiefste Denker des Jahrhunderts der Religion „innerhalb der Grenzen der Vernunft" nur die Bedeutung zuwies, Bewusstsein der Pflicht als göttlichen Gebotes zu sein: so fanden die Gebildeten, gerade nach den Lehren dieses Meisters habe der Mensch seine Pflicht ja hinlänglich begründet in sich selber zu suchen, so dass die Religion nur für die Menge noch

192

Schleiermacher.

unentbehrlich und nützlich sein möge. Da trat am Schluss des Jahrhunderts Schleiermacher vor diese Gebildeten unter den Verächtern der Religion und wies ihnen in neuer, begeisterter Sprache die Religion gerade als das Höchste des menschlichen Geisteslebens auf, indem er sie in dessen Mittelpunkt verlegte. Religion ist die Beziehung des Menschen auf das Unendliche: nur in seinem G e f ü h l , ' im Einheitspunkt des persönlichen Selbstbewusstseins, steht der Mensch mit dem Unendlichen in unmittelbarer Berührung, er selbst eine Verwirklichung der unendlichen Vernunft in endlicher individueller Gestaltung. Mit seinem Denken und Wollen bewegt er sich in den endlichen Gegensätzen der Welt; nur im Gefühl hat er in diesen Gegensätzen zugleich das Unendliche, in der Welt zugleich Gott. Darum kann und soll das religiöse Gefühl sich mit allem auf die Welt gerichteten Empfinden, Denken und Wollen verbinden; Alles soll religiös aufgefasst und betrieben werden und dadurch erhält auch Alles erst seinen wahrhaft menschlichen, seinen unendlichen Werth mitten im endlichen Leben. — Die Religion ist ein Individuelles, Gegenwart des Ewigen im Gefühl des Menschen. Aber dieses muss sich äussern, mittheilen, sein Höchstes mit Andern austauschen, und durch diesen Austausch der subjektiven religiösen Gefühle entsteht die religiöse G e m e i n s c h a f t , die Kirche, in der das innerste Heiligthum des Menschenlebens durch gegenseitigen Austausch genährt, gehoben und zum Ausdruck gebracht wird. So war mit der Religion auch die Kirche mit Einem Schlag aus dem Winkel, in welchen das Jahrhundert der Aufklärung sie zurückgedrängt, •wieder in den Mittelpunkt, jene des Einzellcbens, diese des Gesellschaftslebens gestellt. Als der einzige unmittelbare Lebenszusammenhang mit dem Unendlichen im Gefühl ist die Religion dem V e r s t a n d uud seinem Gebiet, der Wissenschaft, gegenüber s e l b s t s t ä n d i g . Aber ebenso selbstständig gegenüber der Religion gehört umgekehrt dem Verstand als ursprünglicher und unabhängiger Thätigkeit die Erkenntniss der Welt, das Gebiet des endlichen Seins und seine Gegensätze. Wenn daher das religiöse Gefühl sich in Anschauungen und Lehren ausspricht, so haben diese nur als subjektive

Schleiermacher.

193

Verdolmetschung des religiösen Gefühls Bedeutung, können aber nicht den Ansprach erheben, als objektive Lehren Uber Gott und göttliche Dinge zu gelten. Sowie dies geschieht, entsteht Mysticismus und Mythologie; denn nur im Gefühl erfasst der Mensch die Gottheit; alles Vorstellen und Denken bleibt innerhalb des Endlichen; Glaubenssätze sind nur endliche Deutungen für das Unendliche im Gefühl. So trat Schleiermacher in einer der Religion entfremdeten Zeit als ihr begeisterter Vertreter auf, unter denen, die von Amts und Berufs wegen ihre Pfleger waren, eine neue, unerhörte Erscheinung und ausser dem Bereich ihrer Gegensätze. Die ganze Skala von hergebrachten Partei- und Eetzernamen von einem Extrem zum andern empfing ihn. Keiner wollte auf ihn passen und doch war an Allen Etwas. Ein Pietist 1 ein herrnhutischer Mystiker! selbst ein Kryptokatholik! — so tönte es nicht bloss von Seiten der Aufklärungstheologen; auch ihre supranaturalistischen Gegner stimmten mit ein. Ein Spinozist! ein Pantheist! der ehrlicher Weise nicht christlicher Geistlicher sein kann, — so riefen nicht bloss die Offenbarungsgläubigen, sondern auch die Rationalisten; denn hinter diesen gottbegeisterten Reden blickte eine Weltanschauung durch, in welcher selbst die letzten supranaturalen Ueberreste des Aufklärungsglaubens, der persönliche Gott und die Unsterblichkeit, in die Glut des religiösen Gefühls eingeschmolzen waren. Schleiermacher aber führte das aus der Tiefe seines persönlichen Gefühls und zugleich seiner philosophischen Weltanschauung ausgesprochene Programm seiner neuen Theologie nach und nach nun auch mit aller Schärfe und Konsequenz des Verstandes aus; nur dass er — mit einem Sprung zwar, aber doch ohne seinen allgemeinen Grundsätzen untreu zu werden — von dem allgemeinen Boden, auf dem seine Reden, zuerst alle Religionen umfassend, sich bewegt hatten, sich unmittelbar auf dem engern der positiven christlichen Religion konzentrirte. Mit sicherer Hand steckte er das ganze Gebiet der christlichen Theologie als eitler durch den praktischen Zweck der Kirchenleitung bestimmten positiven Wissenschaft ab, theilte ihre Felder ein und ordnete alle B i e d e r m a n n , Vortrüge und Aufsätze.

]3

194

Schleiermacher.

ihre Disciplinen unter einen gemeinsamen Gesichtspunkt, der jeder ihre bestimmte Aufgabe abgrenzte. Wenn Schleiermacher für den Theologen eine Vereinigung von wissenschaftlichem Sinn und religiösem Interesse verlangt und zwar so, dass jener überwiegend den Theologen im engern Sinn, dieses überwiegend den Kleriker ausmache, wer aber sowohl beides im Gleichgewichte verbände, als auch alle theoretischen und praktischen Gebiete mit gleicher Virtuosität umspannte, den Namen eines K i r c h e n f ü r s t e n verdiente: so hat er selbst sich diesem Ideal eines Kirchenfürsten angenähert, wie seit der Reformation, seit Calvin, kein Zweiter. Fast alle Gebiete der theoretischen und der praktischen Theologie haben von ihm befruchtende Anregungen erhalten; die meisten und zwar gerade am Meisten die wichtigsten, die Glaubens- und Sittenlehre hat er selbst durch monumentale Leistungen gefördert. Sie hier im Einzelnen darzustellen oder auch nur zu skizziren, verbietet die Zeit; sie bloss aufzuzählen aber hätte für Sie keinen Werth. Schleiermachers wissenschaftliche Thätigkeit reichte aber weit Uber den Kreis der Theologie hinaus; wie er denn auch für diese, bei aller Abgrenzung in Beziehung auf den im Christenthum gegebenen Stoff, die wissenschaftliche Form der Philosophie entlehnte. Obgleich er in der Philosophie kein eigenes, in sich geschlossenes System aufstellte, sondern als Eklektiker Elemente verschiedener, ja nach Ursprung und Tendenz weit auseinanderliegender Systeme in sich aufgenommen, aber in sich zu einem persönlich einheitlichen Ganzen verschmolzen hat, so nimmt er doch, schon als Uebersetzer und geistverwandter Ausleger Platon's und durch seine eigene Bearbeitung der wichtigsten philosophischen Disciplinen, einen ehrenvollen Rang unter den ersten Philosophen der Neuzeit ein, einer der universellen Gelehrten von grossem Styl. — Seit dem Bestand der Berliner Universität, 1810, war er eine ihrer ersten Zierden, wie er denn schon an der grossen That ihrer Gründung mit sein Verdienst hat. Seine akademische Wirksamkeit, die bis an seinen Tod sich auf dem Höhepunkt erhielt, wurde zugleich durch den Reiz des mündlichen V o r t r a g s erhöht. Er war ein kaum erreichter Virtuos in derjenigen Gattung

195

Schleiermacher.

des Kathedervortrags, die nicht darauf ausgeht, den Zuhörern positive Kenntnisse beizubringen — dazu war ihm die Literatur da —, sondern sie in die eigene wissenschaftliche Gedankenarbeit hereinzuziehen, indem er in lebendigster, unmittelbarster Weise den Stoff vor ihren Augen dialektisch producirte. — Und doch war diese Thätigkeit, die ihm nicht Arbeit, sondern Lust und Genuss war und in der er das Ausserordentliche leistete, nicht die, in welcher er seinen eigensten Beruf erkannte. Das war vielmehr die Predigt. Vor einer Gemeinde sein religiöses Gefühl auszusprechen, alle Interessen des natürlichen Lebens religiös zu beleuchten, aus gehobener Stimmung gehobene Stimmung in seinen Zuhörern zu wecken, — das war durch alle Perioden seines Lebens hindurch in gleicher Weise ihm Bedürfniss und höchste Befriedigung. Das akademische Lehramt konnte er entbehren, blieb ihm doch hiefür die Schriftstellerthätigkeit: aber wenn die Stürme der Zeit ihm zeitweise die Kanzel verwehrten, das trug er schwer. Seine Predigten waren nicht von der gewaltigen, eindringlichen, Gemttth anpackenden, zur Busse aufschreckenden, das Gefühl durch Phantasie steigernden Art, sondern ruhige, fein und tief eindringende Beleuchtungen aller innern und äussern Verhältnisse und Interessen des Lebens im Licht einer religiös durchdrungenen höhern Bildung. Für's Lesen sind sie bei aller Fülle des Gehaltes oft zu wenig ergreifend; aber von dem mündlichen Vortrag bezeugen Alle, die ihn gehört, dass dieser einen unauslöschlichen Eindruck von höherer Weihe hervorgerufen habe. Auch hat Schleiermacher durch seine Predigten einen kaum geringem Einfluss auf die Theologie ausgeübt, als durch seine unmittelbar wissenschaftliche Thätigkeit. In allen Fragen des kirchlichen Lebens stand Schleiermacher auf der Seite der Freiheit, zu einer Zeit, wo nach den Befreiungskriegen die Wogen der Reaktion hoch gingen. Er begrüsste und unterstützte aufs Kräftigste die Bestrebungen für Union, aber auf der Grundlage einer freien, selbstständigen Entwicklung; als jedoch diese Bestrebungen unter dem Deckmantel des schönen Namens auf ein entgegengesetztes Geleise wollten gelenkt werden, da trat er mit scharfem, wider Höchststehende 13*

196

Schleiermacher.

gerichtetem Wort solcher Verfälschung entgegen. Als die Versprechungen einer von der Staatsgewalt unabhängigen freien K i r c h e n v e r f a s s u n g , nebst so vielen andern, vergeblich auf Erfüllung warten liessen, blieb er ein zäher und unliebsamer Mahner, und für die Freiheit der kirchlichen Selbstbestimmung in gottesdienstlichen Anordnungen leistete er länger als alle Andern dem Werk der persönlichen Liebhaberei des Königs entschiedenen, wenn auch ehrerbietigen Widerstand. Schleiermachers Name wird, neben Fichte stets mit unter den ersten jener hochherzigen patriotischen Männer genannt, die in den Tagen der tiefsten Erniedrigung Preussens unter die Fremdherrschaft Muth und Glauben nicht sinken liessen, sondern fiirchtlos unter den Augen der Feinde für die geistige und nationale Wiedergeburt Deutschlands wirkten, —• und wenige Jahre nachher schwebte das Damoklesschwert der Reaktionspolizei täglich über seinem Haupt, wie früher das der französischen. — Der Abend seines Lebens gestaltete sich ruhiger. Es war ihm vergönnt, mit geistiger Vollkraft, ein Jüngling mit Silberlocken, bis an sein Ende in seiner Doppelstellung als akademischer Lehrer und als Prediger zu wirken. Und wie er gelebt, so traf ihn der Tod. Auf seinem kurzen letzten Krankenlager, zwischen Bewusstsein und Bewusstlosigkeit schwebend, bekannte er, in seinem Innern die schönsten Augenblicke zu erleben: „ich muss immer in den tiefsten Spekulationen sein, die aber mit den innigsten religiösen Empfindungen Eins sind." Unmittelbar nachdem er noch das Mahl der christlichen Gemeinschaft in freier Weise mit den Seinigen gefeiert, entschlief er, den 12. Februar 1834. Die erste Wirkung Schleiermachers auf die theologische Welt war ein allgemeines misstrauendes Befremden gewesen, das — selbst aus befreundetem Mund — es an all den Beschuldigungen nicht fehlen liess, welche jede neue Geistesregung auf religiösem Gebiet von ob wohlmeinendem, doch unverständigem Eifer zu hören bekommt. Sein sittlicher Ernst, seine religiöse Tiefe und Innigkeit, verbunden mit seiner philosophischen Schärfe und Kühnheit imponirte nach beiden Seiten gleich* sehr, war aber dem Theologengeschlecht, das er vorfand, nach beiden Seiten zu viel;

Schleiermacher.

197

er war in Einem zu mystisch fromm und zugleich zu philosophisch frei. Allmälig jedoch übte die höhere centrale Stellung seines theologischen Prinzips seine Wirkung auf immer weitere Kreise aus, als Anregung zu einem neuen theologischen Leben und Streben. Ihm war, wie die Religion Überhaupt das Centrum seines reichen Gemttths, so näher der geschichtliche Quellpunkt der christlichen Religion, die Person Christi, der Quell, aus dem ihm sein eigenes religiöses Leben zuströmte; die Liebe zum Erlöser war das eigentliche, Alles durchdringende und weihende Pathos seines Lebens. Dies positiv ihm Gegebene, dieser ursprüngliche göttliche Offenbarungsquell von jenseits dessen, was der menschliche, von der Sünde getrübte Geist aus sich selbst zu erzeugen vermag, war ihm aber zugleich doch nicht etwas von aussen Gekommenes, nichts schlechthin Uebernatürliches, sondern ein ächt und ursprünglich Menschliches und natürlich Vermitteltes, „dessen Erzeugung aus den tiefsten Tiefen der Natur aufzusuchen, er nie aufhören wollte"*). Die Vielen nun, die zu jener Zeit eines glaubens- und verstandeslahmen, auf allen Punkten auf dem Rückzug begriffenen Supranaturalismus den Glauben an den schlechthin übernatürlichen Gottmenschcn der Kirchenlehre verloren hatten, aber bei religiös und geschichtlich feinerem Sinn ebenso wenig an dem jüdischen Landrabbi der Aufklärungstheologen Befriedigung finden konnten, — Schleiermachers E r l ö s e r war, was sie wieder befriedigte: auf der einen Seite eine positive, unmittelbar göttliche Autorität, von der sie alles Heil nach ihrem persönlichen Bedürfniss ableiten konnten; und auf der andern Seite war dieser Erlöser doch eine rein menschliche Erscheinung, für deren Erklärung sie nicht zu einer für sie doch entwurzelten, bloss noch bildlich geltenden mythologischen Vorstellungswelt ihre Zuflucht zu nehmen brauchten. Schleiermacher war mit seiner Heilandsliebe ein spezifisch Frommer, — wie er selbst sich nennt — ein Herrnhuter höherer Ordnung, und in Einem zugleich ein Mann, der als Philosoph frei mitten in der *) Briefe II, S. 343.

198

Schleiermacher.

geistigen Strömung der Gegenwart lebte. Seine Theologie, fromm und wissenschaftlieh zugleich, beides energischer, jenes gemüthstiefer, dieses verstandesschärfer, als keine der theologischen Richtungen vor ihm, — seine Theologie pflanzte ein neues zahlreiches Theologengeschlecht, das vom Streben beseelt und von seinem persönlichen Vorbild angefeuert war, wie er, beides zugleich zu sein. Allein Schleiermacher wollte keine Schule stiften; und in Wahrheit konnte er es auch nicht. Seine Theologie war zu unmittelbar Eins mit seiner Persönlichkeit; wie anregend auf weiteste, verschiedenartigste Kreise sie auch wirkte, — wirklich gleichartig konnte sie sich nur in den Wenigen fortpflanzen, die von Haus aus ihm wesentlich gleichartig angelegt waren. Gerade aus demselben Grunde, warum von Schleiermacher eine allgemeine wohlthätige Anregung ausging, schieden diejenigen, welche diese Anregung von ihm empfangen und so in ihm einen Einigungspunkt hatten, bald wieder in die alten, in der Natur der Sache liegenden Grundsätze auseinander, wenn auch diese, wesentlich durch seinen Einfluss, sich nicht mehr in der frühem ausgelebten Form wiederholten. Schleiermachers Theorie von der Religion hat die Gefühlstheologie begründet. Bei ihm selbst war mit dem religiösen Gefühl unmittelbar der strengste philosophische Verstand verbunden und beides zusammen erst bedingte seine Theologie. Bei Vielen aber, bei der Mehrzahl von denen, welche ihm die Wiederbelebung ihres religiösen Gefühls aus dem Tode des kirchlichen Glaubens verdankten und darum sich seine Schüler nannten, bedeutete das Gefühl zugleich Verschwommenheit des Gedankens. Statt mit der Schärfe des Verstandes sich zu verbinden, wie bei ihm, musste es bei diesen dessen Mangel verdecken. Solche Schüler Schleiermachers aber — die Masse — kekrten nach und nach auf Umwegen, Mancher auch ziemlich direkt, wieder zu dep positiven Glaubensautoritäten zurück. Schleiermacher hatte ihnen nur die Brücke über die Kluft zwischen modernem Bewusstsein und alter Glaubensform gebaut; nachdem sie aber einmal mit seiner Hülfe wieder glücklich am alten Ufer angelangt waren, überliessen sie

Schleiermacher.

199

die Brücke, die ihnen den Dienst gethan, weiter unbenutzt ihrem Schicksal, oder brachen sie selbst geradezu hinter sich ab. Der verstandesschärfste Theologe konnte wohl eine Geftthlstheologie begründen; aber ihr bleibend den Stempel seines frei denkenden Geistes aufzuprägen, das war wider die Natur. Schleiermacher hat vermittelt zwischen Gefühl und Verstand, Religion und Wissenschaft, Theologie und Philosophie. Dadurch ist er der Vater der Vermittlungstheologie geworden. Allein während er selbst beides ganz in sich vereinigen wollte und nur jedem sein eigenes Gebiet gegen das andere abgrenzte, innert dessen jedes gerade sich unvermischt mit dem andern autonom bewegen sollte, verstanden und handhabten Andere bald genug diese Vermittlung so, dass sie nicht zwischen v e r s c h i e d e n e n Lebensgebieten, gläubigem Gefühl und erkennendem Denken, sondern zwischen verschiedenen Formen desselben Gebietes vermittelten, indem sie ein Mittleres aus beidem zusammenmischten und die Unbestimmtheit des Gefühls als Mantel der Einheit darüber breiteten. Freilich hier hatte Schleiermacher selbst schon ein verhängnissvolles Beispiel gegeben. Wir berühren damit die Achillesferse seiner Theologie. Wenn er sein religiöses Gefühl und sein philosophisches Denken — nach seinem eigenen Ausdruck — stets a n e i n a n d e r stimmte, um sie zur Harmonie in sich zu vereinen: wohl und gut. Wenn es wirklich nicht bloss verschiedene, sondern auch g e t r e n n t e Gebiete sind, das eine das ausschliessliche Vernehmen des Unendlichen im Gefühl, das andere das ausschliessliche Erfassen des Endlichen mit dem Verstand, — wenn beide, das Unendliche und die Gesammtheit des Endlichen, Gott und die Welt, zwar Gegensätze, aber doch zugleich sich deckende Grössen sind, die also auch im menschlichen Ich, diesem Spiegel des Unendlichen im Endlichen, in Wahrheit sich decken müssen, — wenn aber dieses Ich das Eine ausschliesslich nur mit seiner einen, das Andere mit seiner andern Geisteskraft zu fassen vermag: dann muss allerdings dieses Ich, dessen individuelles Fühlen und Denken auch endlich mitbestimmt wird und darum in Disharmonie gerathen kann, das Ich muss dies sein Fühlen und

200

Scbleiermacher.

Denken, d. h. seinen Glanben nnd seine Philosophie, fortwährend an einander stimmen, tun die Harmonie, die sachlich vorhanden ist, auch persönlich in sich zu erzengen. Das ist Schleiermachers eigentliche Meinung. Allein wenn nun trotz des behaupteten ausschliesslichen Gefühlscharakters des religiösen Glaubens, der ihn dem Denken, dieses aber auch ihm selbstständig gegenüberstellen soll, gleichwohl in Jedem, auch in Schleiermacher, dieser religiöse Glauben mit einer bestimmten Glaubenslehre als seiner Verdollmetschung verbunden ist, — wenn dem Christen mit dem positiven Offenbarungsquell seines Glaubens, der Person Christi, wenn mit der für ungetrübt und damit für religiös normativ erklärten Erkenntnissquelle dieses christlichen Glaubens, der heiligen Schrift, geschichtlich bestimmte religiöse Anschauungen und' L e h r e n verbunden sind: — dann geht eben nothwendig jenes andere Stimmen an, nicht zwischen Religion und Philosophie, sondern zwischen geschichtlich mit dem Glauben verbunden vorgefundener Glaubenslehre und dem eigenen freien Denken, — zwischen dem, was die Schrift sagt, und dem, was der eigene Verstand sagt. Beide sind für normativ auf ihrem Gebiet erklärt; aber diese Gebiete selbst greifen in einander über. Da geht nun jenes Stimmen an, wo jedes ein wenig vor und nach giebt, wo die geschichtliche Glaubensautorität und die Philosophie billig und gefällig gegen einander gestimmt werden, bis richtig zuwege gebracht ist, dass sie zusammenstimmen; dieses Vermitteln des Schwebens und Schillerns in Redeweisen, die dem einen Gebiete entnommen und im Sinn des andern gebraucht werden, wo die Einheit oft nur durch ein gemeinsames Wort repräsentirt wird, das weder ganz da- noch ganz dorthin gehört. Von dieser Art des Vermitteins hat allerdings Schleiermacher, namentlich in seiner Schriftauslegung, mit der ganzen Virtuosität seines dialektischen Geistes und seines unerschöpflichen Scharfsinns das böse Beispiel gegeben. Die Einen nun haben es nachgeahmt und noch weiter getrieben, indem sie durch Verschwommenheit ersetzten, was ihnen von Schleiermachers Scharfsinn abging. Von Andern aber hat sich Schleiermacher dadurch den Vorwurf der Zweideutigkeit und der Sophisterei zugezogen. Dieser Punkt ist für die allseitig

Schleiermacher.

201

gerechte Beurtheilung Schleiermachers so wichtig, dass mich bedankt, es sei vor vielem Anderen, was allerdings heute auch über ihn zu sagen wäre, das vielleicht am Allermeisten von Nöthen and am Platz, hiefür den richtigen Gesichtspunkt genau zu bezeichnen und darnach ein offenes Urtheil auszusprechen. Jener Vorwurf trifft Schleiermacher mit Recht und mit Unrecht. Mit Unrecht trifft der Vorwurf das Prinzip Schleiermachers; aber in diesem Prinzip selbst ist ein Fehler und dieser brachte es unabwendbar mit sich, dass in der Anwendung der Vorwurf mit Recht auf ihn fällt. Wie Schleiermacher im Prinzip das Verhältniss von Religion und Wissenschaft fasste, hatte er mit seiner Forderung der Vermittlung zwischen beiden und — im eigenen Innern des Einzelnen — mit diesem gegenseitigen Aneinanderstimmen durchaus Recht; und wenn nun plumpere Geister von rechts oder von links ein kurzes rundes Entweder — Oder von ihm verlangten, wo die Wahrheit nur in einem Sowohl — Als auch zu suchen war, da hatte Schleiermacher damals das volle Recht, — wie er es oft gethan hat — solche Geister mit der ganzen feinen Schärfe seiner sokratischen Ironie des konfusen Nichtwissens zu überführen, wo sie gemeint hatten, ihn der Sophisterei anklagen zu dürfen, dass er Eonfusion angerichtet habe. Schleiermacher fasste Religion und Philosophie als zwei vers c h i e d e n a r t i g e und darum selbstständige Gebiete des menschlichen Geistes. Das sind sie: mit Allem, was hieraus für eine Vermittlung zwischen ihnen in der einheitlichen Gesammtheit des geistigen Lebens folgt, war und bleibt Schleiermacher im Recht. Allein er fasste sie zugleich als ausser einander liegende Gebiete: das sind sie aber thatsächlich nicht; und weil er auf diesem Fusse zwischen ihnen vermittelte, so musste in seiner Handhabung eines wahren Prinzips auf schiefer Grundlage n o t wendig das Schiefe und Schillernde seiner Vermittlung herauskommen. In ihm persönlich allerdings lagen die beiden Geisteskräfte des Gefühls und Verstandes, an die er Religion und Philosophie vertheilte, so neben einander, persönlich zur Einheit verbunden, aber als die zwei gleich starken Pole seines Wesens, oder — nach seinem eigenen Ausdruck — als die beiden Centra

202

Schleiermacher.

seiner Ellipse, zwischen denen er die Einheit nur in einer beständigen Oscillation, in einem beständigen Aneinanderstimmen erhielt. Darum war er auch in der Philosophie Eklektiker, der heterogene Weltanschauungen von seinen verschiedenen Geisteskräften aus in sich selbst zu dieser oscillirenden persönlichen Einheit verband: seine Gefühlstheorie von der Religion hatte zum Hintergrund die Weltanschauung Spinoza's, schellingisch verbunden mit der modificirten Ich-Philosophie Fichte's; sein Verstand dagegen ging auf kantischem Wege. Hier war wie in seiner Persönlichkeit eine Kluft, so auch in seiner Theorie von der Religion ein Schnitt durch die Einheit des menschlichen Wesens; und wenn dieser Schnitt auch noch so fein ist und das Durchschnittene noch so exakt wieder auf einander gepasst: es ist nicht die lebendige Einheit. Die Religion als Beziehung auf Gott ist eben n i c h t pur G e f ü h l , so dass dessen Verdolmetschung in Anschauung und Lehren aus dem Gebiete der Religion hinaus und in das ihr ganz fremde des Denkens überträte, hier also der autonomen Behandlung durch das Denken anheimfallen könnte, ohne dass sie, die Religion selbst, davon berührt würde. Die Religion geht kraft der innern Einheit des menschlichen Geistes aus dem Gefühl in Akte des Denkens und Wollens über und kehrt aus ihnen mit bestimmtem Inhalt erfüllt in dieses zurück; damit geräth sie selbst mit einem Fuss auf das Gebiet, wo — wie Schleiermacher mit Recht festhält — dem Denken das entscheidende Wort zukommt. Zwischen dem nun, was Glaubenslehre ist und damit unter die Domäne des Denkens fällt, was aber doch wieder als Moment der Religion Anspruch auf selbstständige Gültigkeit dem Denken gegenüber und zwar auf absolute Autorität macht, — zwischen diesem und dem freien Denken kann jenes Vermitteln, das nur ungenau Vermitteln zwischen Religion und Philosophie heisst und etwas ganz Anderes ist, nur als ein haltloses Hin- und HerOscilliren zwischen zwei Centren, wo nur eines sein soll, herauskommen. Gerade das nun, was an Schleiermachers Religionstheorie der psychologisch unwahre Punkt ist, strebte nach seiner Ausgleichung in derjenigen Philosophie, welche damals gleichzeitig mit Schleier-

Schleiermacher.

203

macher in Berlin blühte. Allein hier war es mit einer entgegeng e s e t z t e n Einseitigkeit verbanden, so dass die beiderlei Denkweisen sich erst in schroff ausschliesslichem Gegensatz ausprägen mussten. Die beiden grossen Männer, die als Kollegen an Einer Anstalt sie vertraten, Schleiermacher und Hegel, waren beide so prononcirte Persönlichkeiten entgegengesetztester Natur, dass sie einander nicht annehmen, nicht zur Ausgleichung an einander stimmen konnten. Und was bei den Meistern nicht möglich war, das war es vollends nicht bei der grossen Zahl der nächsten Schüler: da wurde der Gegensatz — wie das der menschliche Lauf der Dinge ist — vollends zur Parteisache. Erst musste das Unwahre beider Standpunkte an den Konsequenzen augenfällig zu Tage treten; dann erst konnte das W a h r e , das beide vertraten, sich zu einer Einheit verbinden, die beiden gegenüber einen höhern, aber aus ihnen selbst hervorgewachsenen Standpunkt bildet, an dem aber für die Theologie der Schwerpunkt von Schleiermacher herrührt. Während Schleiermacher die Religion als Gefühl spezifisch vom Denken ausschied, schmolz Hegel sie in den Einen allumfassenden Prozess des G e d a n k e n s ein. Wahr ist daran das Festhalten an der w e s e n h a f t e n Einheit des menschlichen Geistes, da dieser im Gedanken sich selbst durchsichtig wird. U n w a h r und einseitig aber war daran ein Doppeltes. Unw a h r , dass die Philosophie auch den Inhalt der ßeligion durch den aprioristischen Prozess des reinen Denkens zu erzeugen habe: das gehört zu dem allgemeinen Fehler, durch den diese spezielle Form der Philosophie dem Gericht der Geschichte verfallen ist. Nur einseitig dagegen war, dass die Religion in eine bestimmte Form des Bewusstseins vom Absoluten, in die der Vorstellung, gesetzt wurde. Hier stand Hegel, in schneidendem Gegensatze zur Gefühlstheorie Schleiermachers, auf gleichem Boden mit ihren gemeinsamen Gegnern, die Glauben und Glaubenslehre als unmittelbar Eins nehmen und diese dem Denkenden als religiöse Autorität gegenüberstellen. Bei Hegel dagegen war das Schicksal der religiösen Vorstellung zum voraus umgekehrt entschieden: nämlich in den Gedanken aufgehoben zu werden. War aber die

204

Schleiermacher.

Religion Eins mit der religiösen Vorstellung, so war auch für sie dasselbe Schicksal entschieden. Im E r s t e m nun hatte die Philosophie Recht und wird dieses immer vollständiger behaupten, dass keine Vorstellung, unter welcher Autorität sie auch auftreten mag, sich der Kritik des Gedankens entziehen könne. Und es ist auch gar nicht etwa bloss die Hegel'sche Philosophie, sondern das gesammte unabhängige wissenschaftliche Denken der Neuzeit, das für dieses Recht einsteht und damit auch die religiöse Geschichte und alle Dogmen ausnahmslos der Verstandesprüfung unterstellt. Aber weil von den Vertretern des Autoritätsglaubens der Vorwurf immer in erster Linie auf die Hegel'sche Philosophie gewälzt wird, als wäre sie die allein Schuldige: so darf von der andern Seite doch wohl auch das Verdienst in erster Linie für •sie in Anspruch genommen werden, obgleich Vorwurf oder Verdienst nicht auf sie allein, sondern auf alle freie Wissenschaft fällt; und in der Theologie sind es allerdings wesentlich Solche, die von der Hegel'schen Philosophie herkamen, gewesen, die das Recht der freien Kritik ohne vermittelnde Klauseln eingeführt haben. Also im E r s t e m , dass die Glaubenslehren der Religion unter den Bereich der Wissenschaft fallen, hatte die Philosophie Recht und auch Schleiermacher, der Philosoph, steht im Grundsatz dafür ein. Das Zweite aber, was für die Hegel'sche Philosophie daraus folgen müsste, dass somit auch die Religion selbst sich gelind in Philosophie aufzulösen habe, ist ebenso entschieden unwahr und Schleiermacher mit seiner Selbstständigkeit der Religion gegenüber der auf ihrem eigenen Gebiet unbedingt selbstherrlichen Philosophie entschieden im Recht. — Wahr also ist bei Schleiermacher die spezifische Verschiedenheit und darum die S e l b s t s t ä n d i g k e i t der beiden Gebiete, und bei Hegel die Wesenseinheit des menschlichen Geistes in Gefühl und Denken und die U n t e r o r d n u n g der religiösen Vorstellung unter das wissenschaftliche Denken. Das Unwahre aber bei S c h l e i e r m a c h e r war, dass er jene Verschiedenheit und Selbstständigkeit zugleich als eine G e t r e n n t h e i t ihrer Gebiete fasste; bei Hegel dagegen, dass er umgekehrt die Religion ganz in ihre Eine unter die Wissenschaft fallende Seite aufgehen liess. Die

Schleiermacher.

205

Konsequenzen des Unwahren bei Schleiermacher waren die falschen schillernden Vermittlungen, nicht zwischen Glauben und Denken, — wie es hiess und Schleiermacher eigentlich wollte —, sondern zwischen geschichtlich gegebenen und philosophisch gewonnenen Glaubenslehren, zwischen positiver Autorität und freier Wissenschaft. Die Eonsequenzen des Unwahren bei Hegel waren die Verkennung des innersten eigensten Wesens der Religion und ihre vermeintliche Auflösung in Philosophie. Diese Konsequenzen beiderseits mussten erst in der Entwicklung beider Richtungen in ihrer thatsächlichen Unwahrheit augenfällig hervortreten, um Die, welche offene Augen dafür hatten, ob sie nun von der Schule Schleiermachers oder Hegels herkamen, die Eine gemeinsame Aufgabe darin erkennen zu lassen: die Selbsts t ä n d i g k e i t von Religion und W i s s e n s c h a f t als zweier v e r s c h i e d e n a r t i g e r , aber im einheitlichen Wesen des menschlichen Geistes gleich wesentlich und nothwendig b e g r ü n d e t e r und zum ganzen vollen wahren Menschenleben gleich nothwendig g e h ö r e n d e r Beziehungsweisen des e i n e n und selben menschlichen Geistes mit denselben Geisteskräften und in letzter Instanz auf denselben Gegenstand, auf den in der endlichen Welt sich offenbarenden unendlichen Gott, zu fassen, und diesen Gedanken der selbstständigen W i s s e n s c h a f t der Theologie konsequent zur Grundlage zu geben. Das ist die auf Schleiermachers Grundgedanken wirklich w e i t e r b a u e n d e Theologie. Wie Viele Schleiermacher im Laufe der Zeit, in diesen 34 Jahren seit seinem Tode, nach der rechten Seite hin verloren hat, Alle, für die der Faden seiner künstlichen Vermittlungen mit dem positiven Autoritätsglauben so riss, dass sie wieder ganz in dessen Arme zurückfielen, und die damit preisgaben, was Schleiermacher der Philosoph für die Theologie errungen hatte: ebenso Viele — unter uns wenigstens steht das Verhältniss so — sind ihm dafür von der andern Seite hinzugewachsen, Alle, welchen gerade jener Riss seiner unhaltbaren Vermittlungen geholfen hat, seine reformatorischen' Grundgedanken einer auf das Wesen der Religion gegründeten wissenschaftlich selbstständigen

206

Schleiermacher.

Theologie aufzunehmen, losgelöst von der ihm noch daran haftenden Schranke. Heut aber sammeln sich Alle, die irgend die Bedeutung des grossen Mannes zu erfahren bekommen haben,, zur dankbaren Feier seines Andenkens. Wieder vereint er, wie im Leben, weit aus einander gehende Richtungen um seine Person. Gewiss in sehr v e r s c h i e d e n a r t i g e r Weise wird heute in ähnlichen Versammlungen, wie diese hier, Zeugniss abgelegt für Schleiermachers noch in der Gegenwart weithin wirkende Bedeutung, und schon diese Thatsache ist das sprechendste Zeugniss dafür. Mag nun auch ein Jeder, der heute seiner gedenkt, von dem, was er von ihm gelernt und angenommen zu haben und wofür er ihm Wissenschaft und Kirche zu Dank verpflichtet bekennt, das abstreifen, worin er nicht mit ihm einig gehen kann, — das hat Jeder an seinem Orte zu vertreten: aber d i e Verwechslung begehe Keiner, dass er das, was ihm als das Wahre an Schleiermacher bleibt, mit Abstreifung des Andern kurzweg für den wahren ächten Schleiermacher erkläre, dass er die Hand über den grossen Todten schlage und dessen gefeierte Autorität brauche, um mit ihr Andere zu schlagen, wo beim Lichte besehen Schleiermacher selbst zuerst mitgetroffen würde. Hier gilt: der Todte hat Recht, das Recht, ganz und unverfälscht als das genommen zu werden, was er war. Nur der g a n z e Schleiennacher war der w a h r e Schleiermacher. Und das gerade ist die wahre Bedeutung und kann das Fruchtbringende der heutigen allgemeinen Feier sein, dass wir in dem Mann dieser Feier Elemente zu einer grossartigen, um ihrer Wirkungen willen einer Säkularfeier würdigen Persönlichkeit vereinigt sehen, die sonst in schroffem Gegensatz sich bekämpfen. Diese einfache Thatsache stellt Allen, die jene Elemente für wirklich u n v e r e i n b a r e Gegensätze halten, eine Frage, die eine befriedigende Antwort heischt, wenn die gemeinsame Feier des Todten nicht eine Lüge der Lebenden sein soll. Dass die gemeinsame Feier an alle Parteien der Gegenwart diese Frage stellt und sie auffordert, nach der Antwort zu suchen, dies ist die Frucht des Tages, die am Unmittelbarsten im Sinn des Gefeierten selbst ist.

Schleiermacher.

207

Da haben wir vor uns einen Mann, der durch und durch religiös war, der den reichen Strom seines religiösen Lebens von der Person Christi abgeleitet, die ganze Glaubenslehre der christlichen Gemeinschaft in sein persönliches religiöses Gefühlsleben aufgenommen und darin verarbeitet hat, — und dieser Religiöse, dieser spezifisch christlich Fromme war nicht nur daneben auch ein Mann des schärfsten Verstandes, der umfassendsten wissenschaftlichen Bildung — das findet sich auch sonst —; nein, dieser spezifisch christlich Fromme hatte zum theoretischen Hintergrund seiner christlichen Frömmigkeit eine Weltanschauung, die Allen, welche christlichen Glauben und geschichtlich mit dem christlichen Glauben verbundene Glaubenssätze für untrennbar zu halten gewohnt sind, als das baarste Gegentheil alles christlichen Glaubens erscheinen muss, — eine Weltanschauung, die sich in einen Gottesbegriff zusammenfasst, welchen die gewöhnliche Vorstellung nur unter dem Namen des Pantheismus kennt, eine Weltanschauung, in der für das Wunder, des Glaubens liebstes Kind, kein Raum ist, kein Raum für die menschliche Freiheit nach den gewöhnlichen Begriffen, j a für die Unsterblichkeit, diese letzte Zuflucht der supranaturalen Vorstellung, nur eine zweifelhafte Stätte, — kurz, eine Weltanschauung, die von dem, was gewöhnlich als christlicher Glaube gilt, als das vollständige Gegentheil erscheint. Ein Frommer, ein spezifisch christlich Frommer — und solcher Unglaube! Es ist nicht möglich! Und es ist doch so: beides war Schleiermacher vereint und zwar durch sein ganzes wissenschaftliches Bewusstsein vermittelt zu einer, wie Wenige, in denkender und sittlicher Durcharbeitung sich klar und fest selbstbewussten Persönlichkeit. Diese Thatsache giebt nach der Einen Seite hin zu denken: nicht wie sie abzuläugnen, oder abzuschwächen, oder zu verdecken oder nur als Ausnahme auf ihn zu beschränken, — nein, wie sie zu begreifen, wo im tiefsten Grunde die Lösung des Räthsels zu suchen sei. Nicht erst die wirkliche volle Lösung, nur schon die ungeschmälerte Anerkennung, dass in Schleiermachers Persönlichkeit dies Problem zur Lösung gestellt sei, sollte das heutige Theologengeschlecht davor bewahren, dass das Wort vom Schmücken der Phrophetengr^ber nicht auch an

208

Schleierraacher.

ihm sich erfülle, wo Viele von denen, die heute den grossen Todten geschäftig mitfeiern helfen, wenn er wiederkehrte an die Stätte, die Zeuge seiner glänzenden und gesegneten Wirksamkeit gewesen ist, ihn jetzt nicht mehr als Privatdozenten der Theologie zuliessen und nicht mehr als Prediger an der Charité duldeten, geschweige denn an der Dreifaltigkeitskirche. Wenn aber Angesichts jener Thatsache ' Viele zu Schleiermachers Entschuldigung und zu ihrer eigenen, dass sie ihn mitfeiern, nur das Eine, zu sagen wissen: „ihm sind viele Sünden vergeben, denn er hat viel geliebt": so kommen sie mit dieser Entschuldigung nicht durch, so lange sie an Ändern zum voraus als theologische Todsünde verdammen, was sie bei Schleiermacher mit einer Heilandsliebe verbunden bekennen müssen, die der Kirche zum nachhaltigsten Segen gereicht hat. Die Frage kehrt wieder: Wie war und ist also beides mit einander möglich? Die heutige Feier möge die Einen veranlassen, über diese Frage nachzudenken: das sei ihre fruchtbare Schleiermacherfeier. Oder es müsste denn auf dieser Seite doch das Wahre sein, die Feier eines solchen Theologen zu verdammen und trotz Allem, was er der Kirche Grosses geleistet, mit dem Patriarchen dabei zu verharren: „Thut nichts, der Jude wird verbrannt." Aber auch nach der andern Seite hin richtet die heutige Feier eine Frage: an die Verächter der Religion unter den Gebildeten unserer Zeit. Sie stellt vor sie hin einen Mann- von eminentem Geist, der alle Elemente moderner Bildung mit einem für alles Menschliche empfänglichen Sinn in sich aufgenommen, mit einem alle Erscheinungen des geistigen Lebens durchforschenden Scharfsinn in sich verarbeitet hat, dem kritisches Denken sein wissenschaftliches Lebenselement war, — und dieser Mann ist nicht etwa bloss in einer Periode enthusiastischer Jugendbegeisterung für die Religion in die Schranken getreten, aber für die Religion in einer so unbestimmten Allgemeinheit, dass allenfalls auch jede Begeisterung für menschlich Hohes und Edles, wie auch die Kunst sie weckt und ausdrückt, darunter könnte befasst werden; — nein,, ein langes Leben im Dienst der strengen Wissenschaft hat er der kritischen Durchforschung aller Probleme, die

Schleiermacher.

209

die christliche Religion an den denkenden Geist stellt, gewidmet, und zugleich hat er ein ganzes Leben hindurch unmittelbar sein Gemüth daran genährt und seine höchste Befriedigung ist es bis zum Tode gewesen, diesen Inhalt christlichen Gefühls in religiöser Gemeinschaft auszusprechen. Das stellt an die Verächter der Religion unter den Gebildeten unserer Zeit eine Frage, für die eine befriedigende Antwort zu suchen i h r e fruchtbare Mitfeier dieses Tages sein möge. Ihnen ist die Religion wie ein Nebel im aufgehenden Sonnenlichte der Wissenschaft zerronnen und auch die christlichen Nebelbilder als Illusionen in den eigenen Geist aufgegangen. Wie nun? Ist jener Mann, den Gebildetsten an Bildung, den Scharfsinnigsten an Scharfsinn ebenbürtig, wirklich wohl nur von den Jugendeindrücken einer beschränkten Religiosität zeitlebens beherrscht, auch nachdem er vom Baum der Erkenntniss gekostet, beim Theologenberufe geblieben und hat als Solcher all seine Gaben daran verschwendet, Feuer und Wasser mit einander zu verbinden? Oder lohnte es sich nicht vielleicht doch auch für diese Gebildeten, das Problem, an das ein Schleiermacher sein Leben gesetzt, erst aufs Neue in sich zu bewegen, ob nicht doch ein freies Denken und nicht bloss frommer Sinn überhaupt, sondern christliches Glauben zu vereinen und damit auch ein positives Gemeinschaftsverhältniss mit dem religiösen Glauben Anderer auf jeder Stufe der Bildungsentwicklung zu finden sei, ehe sie den Versuch einer Lösung dieses Problems für Danaidenarbeit erklären? Regt es sie an, eine t i e f e r e Lösung zu suchen, als Schleiermacher selbst sie gefunden, — wohlan, das wäre gerade in seinem Sinn die würdigste Feier seines Andenkens. — Oder sollten nach dieser Seite hin Diejenigen Recht haben, welche verächtlich von der Feier dieses Tages sich abwenden, die ja doch nur einem Schleiermacher gelte, während die Zeit für das Schleierlüften gereift sei? An uns aber, welche die Gedächtnissfeier des Theologen Schleiermacher am Unmittelbarsten angeht, stellt diese Feier eine einfache Mahnung. Nicht bloss dadurch, dass er ein tief religiöses Gemüth, und nicht bloss dadurch, dass er ein grosser freier Denker war, sondern dadurch, dass er b e i d e s in E i n e m gewesen B i e d e r m a n n , Vorträge und Aufsätze.

14

210

Schleiermacher.

ist und sein Leben lang mit aller Energie seines Geistes darnach gerungen hat, beides immer voller und ganzer in sich zu vereinen, ist er der Erneuerer unserer Wissenschaft geworden. Damit weist er uns unsere Bahn. Und wenn in der fortschreitenden Entwicklung unserer Wissenschaft seine persönliche Fassung der Vereinigung ihrer beiden Elemente schon längst in eine höhere wird aufgegangen sein und all seine einzelnen grossartigen Leistungen längst überholt sind: so bleibt doch, auch nach andern hundert Jahren, Schleiermacher auf dieser Bahn eines wahren Theologen noch wie heute ein leuchtendes Vorbild.

YII.

Strauss und seine Bedeutung für die Theologie. Rektoratarede, gehalten an der Stiftungsfeier der Züricher Hochschule, den 29. April 1875.

Wenn voriges Jahr an diesem Festtag unsrer Hochschule nicht ein besondrer Anlass*) einen andern Kollegen statt meiner an diese Stelle gerufen hätte, welcher fraglos das nächste Anrecht darauf besass, der Erinnerung an unsern grossen O r e l l i den würdigen Ausdruck zu geben, — mir hätte es damals am nächsten gelegen, von einem andern Manne zu Ihnen zu sprechen, der kurz vorher zu den Todten gegangen war, der unsrer Hochschule zwar nie wirklich angehört hat, dessen Namen aber bleibend mit ihr verknüpft ist, indem seine durch eine Erschütterung unsers ganzen Gemeinwesens wieder rückgängig gemachte Berufung wie für ihn selbst so auch für Zürich verhängnissvoll geworden ist. Ich rede von David F r i e d r i c h Strauss. Wie gleich sein erstes Werk vor nunmehr vierzig Jahren nicht nur die ganze theologische Welt in eine unerhörte Aufregung versetzt, sondern weit über den Kreis derselben hinaus den Namen des bis zur Stunde noch unbekannten jungen Gelehrten in aller Leute Mund gebracht und bei uns sogar förmlich zu einem Ketzer*) Die Enthüllung der Büste von Joh. Caspar Orelli in der Aula der Hochschule und des Polytechnikums. Die Festrede hielt Prof. Dr.-Heinrich Schweizer-Sidler. 14*

212

Strauss und seine Bedeutung für die Theologie.

appellativum gestempelt hat: so war wiederum, nachdem man sich mittlerweile längst daran gewöhnt, Strauss die Anerkennung als einer der ersten literarischen Grössen Deutschlands nicht mehr zu versagen, von seinem letzten Werk, in dem er sein geistiges Testament niedergelegt hat, eine ähnliche Sturmwirkung auf die ganze gebildete Welt ausgegangen und hatte alle Denkarten und Richtungen der Zeit herausgefordert, ihm gegenüber Stellung zu nehmen und Farbe zu bekennen. Auch mir lag die Aufforderung dazu, vor vielen Andern, besonders nahe. Es ist aber auch heute, nach einem Jahr, nicht zu spät; denn Strauss ist keine ephemere Erscheinung gewesen. Ich hätte vielmehr d§s Gefühl, eine mir nächstliegende Pflicht zu versäumen, gegen den Todten wie auch gegen mich selbst, wenn ich den Anlass der heutigen akademischen Feier vorüberliesse, ohne mich über Strauss und seine Bedeutung für diejenige Wissenschaft auszusprechen, die an unsrer Hochschule ich gewissermaassen als sein, wenn auch nicht unmittelbarer, Nachfolger und — ich werde mich darüber erklären, wie ich dies verstehe — als sein Erbe zu vertreten habe. Wenn ich aus meiner persönlichen Stellung heraus auch persönlicher rede, wie i c h die Bedeutung von Strauss für die heutige Theologie und die Erbschaft, die er ihr hinterlassen hat, auffasse, so möge dieser Anlass es entschuldigen. Ich habe vom Beginn meiner theologischen Studien an Anregung und Wegleitung vor allen Andern Strauss zu verdanken gehabt und mich keinem meiner Lehrer und Vorbilder in unsrer Wissenschaft von vornherein so tief und innerlich sympathisch verbunden gefühlt, wie ihm, aus der Ferne, ohne persönliche Beziehung. Früh wurde ich mir dabei allerdings auch des Punktes klar bewusst, wo er mich nicht mehr befriedigte, wo ich, von ihm im Stiche gelassen, meinen Weg selbst weiter zu suchen hatte. Allein wie ich dem Mann in's Herz, in's Centrum seines wissenschaftlichen Denkens zu sehn überzeugt war, so glaubte ich auch mein Eigenes in seinen Sinn hinein ergänzen und in letzter Instanz auch hierin an Uebereinstimmung glauben zu dürfen. Ist nun auch schliesslich die Differenz in ihren Endergebnissen klaffend hervorgetreten: es

Strangs und seine Bedeutung für die Theologie.

213

hat meine innere Stellung zu Strauss im Wesentlichen nicht verändert. Von jeher, je allgemeiner ich die Theologen beeilt sah, immer in erster Linie und aufs nachdrücklichste ihren Gegensatz gegen Strauss hervorzukehren, desto mehr ftihlte ich mich stets getrieben, umgekehrt vorab die Uebereinstimmung zu betonen und erst auf dieser klar und rund anerkannten gemeinsamen Basis die weitere Differenz geltend zu machen. Es ist das wahrhaftig nie Oppositionsrenommisterci von mir gewesen, und auch nicht bloss persönliche Pietät. Der sachlich mich bestimmende Grund war vielmehr der: erst mttsse das, was bei Strauss stets der Nerv war, womit er aber zunächst und am meisten angestossen hat und womit er doch gerade im Hechte stand, in diesem Recht auch rUckhaltslos anerkannt sein, — dann erst sei die verhängnissvolle Schranke, die ihm dabei immer anhaftete, auch wahrhaft zu aberwinden. Und dies ist meine Stellung zu ihm auch heute noch, wo sein Tagewerk mit einem ftlr mich schrillen Misston abgeschlossen ist. Ich würde das, um deswillen ich vor allem Strauss als mein wissenschaftliches Vorbild verehrt und persönlich geliebt habe, den unbestechlichen, furchtlosen kritischen Wahrheitssinn übel zu bewähren glauben, wenn ich denselben schliesslich nicht auch in meinem Urtheil über ihn selbst bewährte. Amicus Socrates, amicus Plato: sed magis amica veritas. Strauss war keine Persönlichkeit, deren Züge, wie verschiedenartige er auch in sich vereinte, sich mischend und gegenseitig abdämpfend in einander verschwammen; er war ein ganzer Charakter in der Wissenschaft und im Leben: alle Züge scharf geschnitten und abgegrenzt, und in dieser Grenze bis zur typischen Vollendung ausgeprägt. Sich aber als das, was er so war, auch der Welt ganz zu geben, das war das Feuer seines sittlichen Pathos. So ist es mir von selbst an die Hand gegeben, zuerst zu fixiren, was seine Grösse gewesen ist, und dann die S c h r a n k e , die scharf davon abgegrenzt ihm angehaftet und um so verhängnissvoller gewirkt hat, je unmittelbarer sie die Kehrseite seiner Grösse war. Aus beidem zusammen wird sich das Gesammtresultat der Leistung von Strauss und deren Bedeutung ergeben.

214

Strauss und seine Bedeutung für die Theologie.

Ich beschränke mich aber, nur von der für die theologische Wissenschaft zu reden, und auch da nur von dem, was mir hier als der Schwerpunkt erscheint. Worin die S t ä r k e von Strauss lag und worauf sein bleibendes Verdienst in der Wissenschaft beruht, das lässt sich in Ein Wort fassen: es war die Kritik. In einem akademischen Kreise brauche ich nicht erst zu sagen, dass damit nicht ein blosses Niederreissen gemeint ist, sondern diejenige wissenschaftliche Operation, welche in all und jeder Wissenschaft, die nur überhaupt Wissenschaft sein will, die erste, unerlässliche Bedingung für jeden wirklichen Fortschritt der Erkenntniss bildet: die Prüfung der gegebenen Vorstellungen mit dem Maassstab des an der bisherigen Erfahrung geschulten, seiner Gesetze bewusst und der konsequenten Handhabung derselben iahig gewordenen Verstandes. Hier vereinte sich in Strauss alles, um ihn zum ersten Kritiker seit Lessing, zum klassischen theologischen Kritiker unsers Jahrhunderts zu stempeln: ein durchdringender, scharf zergliedernder, durch keine Nebel verwirrbarer Verstand, verbunden mit einer gesunden, plastischen Anschauung und der Gewissenhaftigkeit einer säubern und sorgfältigen gelehrten Beherrschung des Stoffes; eine gemüthlich völlig ruhige und darum heitere Objektivität demselben gegenüber, und zu all dem der rückhaltslose, unzwiespältige, keiner andern Bestechung als etwa durch die Furcht vor inkonsequenter Halbheit zugängliche Wahrheitsmuth, den Maassstab seiner Kritik bis auf die letzte Konsequenz hinaus zu handhaben. Hiezu kam die klassische Formvollendung seiner Darstellung, in der künstlerischen Anordnung des Ganzen wie im Ausdruck des Einzelnen: allerdings schon die natürliche Folge der Klarheit und rückhaltslosen Ganzheit seiner Gedankenbeherrschung des Stoffes; immerhin aber noch eine besondere ästhetische Begabung. Doch über dies, die Darstellungsgabe von Strauss, verliere ich kein weiteres Wort. Seine Meisterschaft darin ist gleich von seinem ersten Werk an allgemein anerkannt worden, so dass erst am Ende ein Schopenhauer'seher Pessimist kommen musste, um

Strauss und seine Bedeutung für die Theologie.

215

in „unzeitgemässen Betrachtungen" mit der Welt in globo natürlich auch den Styl von Strauss schlecht zu finden*). Mit dieser formalen Meisterschaft hat nun Strauss die Kritik an den zwei Hauptgegenständen der theologischen Wissenschaft, an der e v a n g e l i s c h e n Geschichte und an der christlichen Glaubenslehre vollzogen, und zwar an beiden umfassend und durchgreifend, wie vor ihm nie geschehn war. Man haf zwar gleich anfangs seinem ersten Werk gegenüber die durchschlagende Wirkung durch das crheuchelt kaltblütige, geringschätzige Urtheil abzuschwächen versucht: er bringe ja eigentlich gar nichts Neues. Bis auf einen gewissen Grad ist dies schon wahr. Allein d a s war das Neue, dass er alles unter einen bestimmten Gesichtspunkt gesammelt und auf ein einheitliches Gesammtergebniss konzentrirt hat, was bisher von der rationellen Theologie nur vereinzelt, auf diesem und auf jenem Punkte, bald schüchtern und unsicher, bald schief und inkonsequent, bald nur halb ausgedacht, bald wenigstens halb verschleiert vorgebracht worden war; dass er die rationelle Kritik der evangelischen Geschichtserzählung unumwunden, ganz und vollständig durchgeführt und dies mit der furchtlosen Offenheit, der heitern Ruhe des vollen Rechtsbewusstseins ausgesprochen hat. Diese Konsequenz und Ganzheit, diese Zuversicht, — das war das Neue, welches geeignet war Epoche zu machen, indem es eine Periode abschloss und eine neu anbahnte. An den E v a n g e l i e n wies Strauss nach, wie die meisten ihrer Erzählungen Wunder, und zwar ächte, durch keine Exegetenkünste abschwächbare Wunder enthalten, und schon deswegen als nicht wirklich geschehn sondern als Produkte der religiösen Phantasie zu betrachten seien, welche in unbewusster, unwillkürlicher Versinnbildlichung Ideen des Glaubens, dass in Jesu der Christus erschienen sei, zn geschichtlichen Vorgängen verdichtet habe. Auf diesem mythenbildenden Wege sei aus der tiefen religiösen Anregung, welche die geschichtliche Person Jesu hervor*) Vortrefflich hierüber G u s t a v R ü m e l i n : „Reden und Aufsätze." S. 402.

216

Strauss und seine Bedeutung für die Theologie.

gerufen, die mythologische Gestalt des Christus deB urchristlichen Glaubens erwachsen, in der als Wesen und That einer übernatürlichen Person angeschaut wurde, was nur als Idee, deren Träger die Menschheit, deren Geschichte die Weltgeschichte, eine Wahrheit habe. Der Stamm historischer Thatsächlichkeit aber, den dies Mythengebilde umrankt, sei, wie nun einmal die einzig vorhandenen Quellen beschaffen, nur noch in wenigen GrundzUgen von der Wissenschaft mit Sicherheit zu ermitteln. Als Maassstab für diese Kritik wandte Strauss ohne Rückhalt und Klauseln den Satz an: in der Geschichte keine Wunder. Für die positive Erklärung der evangelischen Wundererzählungen aber setzte er einerseits eine summarisch gehaltene Ansicht von den nachapostolischen Abfassungsverhältnissen der Evangelien und andrerseits das Vorhandensein nicht bloss der messianischen Erwartung überhaupt, sondern eines bestimmten, rabbinisch ausgebildeten Messiasbildes im damaligen Judenthume voraus. Hier aber stossen wir nun auf die Schranke bei Strauss auf dem historischen Gebiete. Wie die evangelische Geschichte, so unterwarf er auch die aus diesem Grund erwachsene christliche Glaubenslehre einer nicht minder durchgreifenden Kritik. Er führte diese mit Meisterhand als einen geschichtlichen Prozess der Ausbildung und Wiederauflösung der christlichen Vorstellungswelt durch, den er auf jedem Punkt mit dem negativen Resultat abschloss, dass diese sämmtlichen religiösen Vorstellungen, nicht bloss in ihrer zur Kirchenlehre zugespitzten Gestalt sondern auch in ihrer Reduktion auf den einfachsten supranaturalen Rest, durch ihre innern Widersprüche sich selbst aufreiben, indem sie in mythologisirender Anschauung einen der natürlichen Welt immanenten geistigen Inhalt in ein Jenseits hinüber verlegen, um ihn von da aus erst wieder auf die Welt zurückwirken zu lassen. Als Maassstab für die positive Fassung des in diesen Lehren enthaltenen Wahrheitsgehaltes aber wandte Strauss wieder nur summarisch die Weltanschauung der Hegel'schen Philosophie in ihrer rationellen Fassung an, aber ohne selbst nun denselben weiter positiv zu entwickeln. Hier stossen wir auf seine Schranke auf dem systematischen Gebiet. — Die n e g a t i v e Arbeit der Kritik mit dem Maassstab des

StrauBS und Beine Bedeutung für die Theologie.

217

autonomen Verstandes in der Hand hat Strauss, wie viel Andre ihm darin auch voran und zur Seite gegangen sind, doch vor allen Andern klar und rttckhaltslos durchgeführt, so dass er dadurch gerade für seine Gegenfllssler, die Theologen der positiven Bibel- und Kirchengläubigkeit, zur höchsten Autorität für die Kritik geworden ist. Zu ihren übrigen Glaubenssätzen haben sie auch den angenommen: „Strauss vertritt den Standpunkt des ungläubig kritisirenden und philosophirenden Verstandes allein ganz konsequent und ganz ehrlich; darum in letzter Instanz nur entweder — oder: der alte — oder sein neuer Glaube." Eine Autorität müssen ja gewisse Leute immer haben, auf die sie um so zuversichtlicher schwören, je weniger sie selber die Sachen geprüft-, und je unbedingter sie sich zu ihrer Autorität bekennen, desto weniger haben sie es nöthig, selbst zuzusehen. Kein Theologe der Neuzeit kann sich rühmen, einen so fröhlichen Autoritätsglauben gefunden zu haben, wie Strauss unter den „gläubigen" Theologen. Und doch ist jenes Entweder — Oder, auf dem allein die Fröhlichkeit dieses Autoritätsglaubens an Strauss bei ihnen beruhen kann, ein ganz gefährliches, zweischneidiges Schwert. Woran liegt's denn, dass sie gleichwohl so zuversichtlich damit spielen? Dies hat einen nur allzuguten Grund. Mit der Verstandeskonsequenz, welcher der einige Verstand direkt so schwer zu widerstehn oder zu entrinnen vermag, treten bei Strauss zugleich solche Mängel in der Würdigung dessen hervor, was dem Gläubigen, gerade dem wahrhaft Gläubigen, den innersten Nerv und Kern an seinem Glauben ausmacht, dass beides, die negative Verstandeskonsequenz und dies mangelnde Verständniss, wie es bei Strauss sich findet, überhaupt solidarisch für einander haftbar zu machen, keine so ungeschickte Taktik war. Wenn wirklich nur das Entweder — Oder gälte, entweder Verstandskonsequenz ohne Glaubensinhalt — oder Fhantasieglaube: dann würde der letztere immer das Feld behaupten, — und wir müssten sagen: mit Recht. Zwar allerdings bei Strauss hängt der Mangel jenes Etwas, das vom Gläubigen mit allem Recht als der eigentliche Nerv und als die von keiner Kritik getroffene Lebenswahrheit in den Leh-

218

Strauss und seine Bedeutung für die Theologie.

ren des Glaubens empfunden, dessen Würdigung aber von ihm bei Strauss vermisst wird, so dass er daraus den falschen Trost schöpfen konnte, der Verstand sei in Sachen der Glaubenslehre überhaupt nicht kompetent, — bei Strauss hängt jener Mangel allerdings als Schranke seiner geistigen Kraft aufs engste zusammen mit seiner kritischen Virtuosität. Sein geistiges Wesen war so spezifisch darauf organisirt, dogmatische Vorstellungen in erster Linie kritisch zu zersetzen, und die Unbill, welche er darob mehr als irgend ein Andrer gleich vom Beginn seiner literarischen Laufbahn an im Namen der Religion zu erfahren bekommen hat, diese Unbill, welche ihm die akademische Wirksamkeit abgeschnitten, seinen Lebensgang einsam gemacht hat, — statt ihn einzuschüchtern, hat sie seinen kritischen Wahrheitseifer zur förmlichen Leidenschaft aufgestachelt, so dass ihm seine Lebensaufgabe in der Theologie, von der er doch nie lassen konnte, immer einseitiger nur in der Zerstörung des Unwahren aufging, die andere Aufgabe der Wissenschaft aber, für welche die kritische Arbeit doch stets nur den Boden zu ebnen hat, immer mehr und mehr für ihn zurücktrat: die positive Aufgabe, den geistigen Wahrheitsgehalt hinter jenen kritisch aufgelösten Vorstellungen in möglichst adäquater Form auszuprägen und zur Geltung und Anerkennung zu bringen. Sinn und Gabe hierfür war schon von Haus aus geringer bei ihm; aber er kam vollends nicht dazu, weil er sich immer neu veranlasst sah, erst das zu thun, worin er seinen nächsten Beruf erkannte und zugleich seine Stärke fühlte. An den E v a n g e l i e n nachzuweisen, dass sie keine zuverlässigen Geschichtsquellen seien und ihre Berichte keine Thatsachen enthalten, — darauf kam's ihm immer zunächst und am meisten an: wie sie als Schriftwerke entstanden, das interessirte ihn immer erst in zweiter Linie. Nun hatte sich wesentlich auf den Anstoss seiner direkt stofflichen Kritik hin die Neutestamentliche Wissenschaft auf die von ihm fast ganz zur Seite gelassene literar-historische Untersuchung der Neutestamentlichen Schriften geworfen und auf diesem Weg eine Reihe der wichtigsten positiven Ergebnisse zu Tage gefördert, welche auf die Entwicklungs-

Strauss und seine Bedeutung für die Theologie.

219

geschichte des urchristlichen Geistes ein neues Licht warfen und das Mittel boten, auch über die geschichtliche Person Jesu zu bestimmtem und reichern Resultaten zu kommen, als dies ihm noch gelungen war. Dies geschah wesentlich von der liberalen Theologie aus, von solchen, die im Grossen und Ganzen die sachlichen Verneinungen von Strauss in Beziehung auf die Geschichtlichkeit der evangelischen Wundererzählungen zur offenen, noch öfter freilich nur zur stillschweigenden Voraussetzung hatten. Als Strauss, der mittlerweile sich von der Theologie ab und anderen Gebieten zugewandt hatte, endlich nach einem Vierteljahrhundert auf sein erstes Feld, das Leben Jesu zurückkehrte, da war er wohl gewillt anzuerkennen und aufzunehmen, was seither Stichhaltiges geleistet worden. Allein er fand sich doch, und nicht unberechtigt, veranlasst mit Ironie zu bemerken, dass die literarhistorische Evangelienkritik in's Kraut geschossen sei, zum Theil wohl darum, weil man sich von seinem Schicksal abstrahirt habe, dass es unverfänglicher sei, zunächst nur den Berichten, nicht direkt auch den Geschichten zu Leibe zu gehen. Es war weiter natürlich, dass ihn ein bitteres Gefühl anwandelte, wenn er sah, wie Viele vor allem sieh beflissen zeigten, erst ihre Differenz von ihm so laut als möglich zu betonen und „den schwarzen Topf so weit als möglich von sich wegzustellen"; wie Viele „zur Entschuldigung, dass sie auf seinen Schultern standen, ihre Schuhe an ihm abputzten", und Andere vor dem Publikum ihr Verdienst herausstrichen, seine mythische Auffassung der Evangelien widerlegt zu haben, während es beim Lichte besehn mit dieser Widerlegung auf das Gegentheil dessen, was das Publikum darunter verstehen musste, hinauslief: sie hatten seine Behauptung von hundert Thaler Schulden mit dem Nachweis von zweihundert widerlegt. Und auch die verdienstvollen, mit grossen wissenschaftlichen Mitteln unternommenen Versuche, auf streng historischem Wege eine inhaltsreichere Geschichte Jesu zu gewinnen, konnten ihn nur in seiner Zurückhaltung bestärken, wenn er sah, wie Vieles dabei doch nicht über willkürliche Kombinationen hinaus kam und Vieles sich nur auf dem Kothurn zu erhalten vermochte. Er wollte aus wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit lieber zu wenig

220

Strauss und seine Bedeutung für die Theologie.

als zu viel sagen, lieber zu trocken and knapp als zu überschwenglich reden, — waren doch immer zehn Andere dafür da, die des Guten hierin zu viel thaten. In alledem muss ich ihm Recht geben. Aber allerdings ist er darob nicht dazu gekommen, der historischen Person Jesu gerade in der Hauptsache gerecht zu werden, nämlich das religiöse Grundwesen dieser Persönlichkeit seinem vollem Inhalte nach zu fassen und von da aus ihre geschichtliche Bedeutung vollständig zu würdigen. Theils hatte er sich, so oft er darauf kam, nun einmal in das Geleise eines kritischen Gedankengangs festgefahren, das am Kernpunkte vorüber führte; theils fehte ihm, auch wenn er ihn etwa traf und nannte, die produktive Gedankenkraft religiösen Tiefsinns, ohne die alle kritische Virtuosität der Aufgabe eines Lebens Jesu nicht gewachsen ist. Wird auch im Grossen und Ganzen Strauss mit dem Recht behalten, was über die eigentliche Lebensgeschichte Jesu als geschichtlich nicht sicher und als sicher nicht geschichtlich zu ermitteln sei: — das, was Jesus gewesen ist, das, was aus ihm den Christus des Glaubens gemacht hat, das gerade hat Strauss, wie viel Treffendes er auch als Beitrag dazu geliefert, dennoch nicht bloss nicht erschöpft, sondern im Kern geradezu verfehlt. Und so gebrach es ihm auch der christlichen Glaubenslehre gegenüber an der Kraft der Vollendung der wissenschaftlichen Arbeit gerade in ihrer Hauptsache: sie hatte sich erschöpft an der, allerdings mit Meisterschaft abschliessend durchgeführten kritischen Vorarbeit. Wer in der dogmatischen Kritik — wie Strauss — nicht bloss ein wenig obenabmäht, sondern bis auf den Grund dringt, indem er alle religiösen Vorstellungen als äussere Realitäten zersetzt und auf das Innere des Geistes zurückführt, dem bleibt dann auch die Aufgabe, von diesem Grund aus die Probleme zu lösen, die nur schon in der Thatsache der Entstehung jener Vorstellungswelt gestellt sind. Dies aber ist die Arbeit positiven philosophischen Denkens, und hieran gebrach es Strauss. Wohl besass er ja auch eine seltene Virtuosität darin, das Ganze einer philosophischen Weltanschauung zu überblicken und mit seinen Konsequenzen in klarer Abrundung darzustellen.

StrausB und seine Bedeutung für die Theologie.

221

Welche heutzutage unglaubliche, damals aber noch allgemein herrschende Nebel in der Hegel'schen Philosophie hat er mit Einem Schlage zertheilt! Und ebenso hat er in der Kritik der christlichen Vorstellungswelt die entscheidenden positiven Begriffe wie allem spekulativen Schwindel so auch aller seichten Aufklärungsoberflächlichkeit gegenüber mit sicherer Meisterschaft gehandhabt. Allein um nun aus dem innersten Grund und Wesen des Geistes, wohin doch seine Kritik auf jedem Punkte die Probleme zurückführte, diese in positiver Denkarbeit wirklich zu lösen, nicht bloss auf sie hinzuweisen, dazu fehlte ihm die spezifische Gabe produktiven philosophischen Denkens. Und was er noch davon besass, ruhig anzubauen, dazu liess ihn das Heer theologischer Vermittlungsphilosophen nicht kommen und trieb ihm schliesslich allen Sinn dafür aus. Immer aufs neue sah er sich herausgefordert, zuerst wieder unwahre Vermittlungen und Verkleisterungen kritisch zu zerstören. Was ihm von je sein nächster Beruf' gewesen, auf das warf er sich je mehr und mehr mit leidenschaftlicher Ausschliesslichkeit: gegen theologische Falschmünzerei Polizei zu üben. Darob kam er selbst aber nie zu der Arbeit, das reine Gold des Gedankens aus den Schachten des Geistes heraufzuholen. Er musste überhaupt zu positiver Gestaltung schon einen gegebenen Stoff vor sich haben, und den nahm er dann lieber auf Gebieten, wo nicht erst die nothwendige Vorarbeit kritischer Verneinung ihm die Lust des Schaffens verdarb. Auf dem Gebiete des religiösen Geistes war seine Lust und Kraft mit der säubern Vollendung der verneinenden Arbeit erschöpft. So hängen bei Strauss seine S t ä r k e und seine' S c h r a n k e aufs engste mit einander zusammen, und je wirkungskräftiger jene, desto verhängnissvoller in ihrer Wirkung auch diese. In all seinen Werken, vom ersten bis zum letzten, tritt uns immer beides entgegen; nur liess theils schon der Stoff, theils Veranlassung und Stimmung bald mehr das eine, bald mehr daB andere dominirend hervortreten. — Was ist nun aber schliesslich das G e s a m m t e r g e b n i s s der wissenschaftlichen Arbeit von Strauss gewesen? Man verweist,

222

Strauss und seine Bedeutung für die Theologie.

als auf das authentische Zeugniss, auf seinen „alten und neuen Glauben": hat er doch selbst dieses Buch der Welt als sein Testament Übergeben. Da haben wir ja seine eigenste bündigste Erklärung! Und doch: dass sein Leben mit diesem Buch abschliessen musste, ist ein geradezu tragisches Verhängniss, das als ein solches ganz verstehn und empfinden nur der kann, der den Mann ganz gekannt und geschätzt hat. Wird der Gesammtwerth von Strauss nach diesem Buche gewogen, so geschieht ihm das schwerste Unrecht; aber freilich — er selbst ist Schuld daran, wie ja kein tragisches Verhängniss ohne eigene Schuld kommt. In dieser Schrift, wie sie angelegt und durchgeführt ist — wohl die Frucht ernster Arbeit, aber abgelöst von der Arbeit nur die glatt polirte Oberfläche der Resultate dem grossen Publikum dargeboten, — da bleibt fortwährend die eigentliche Stärke von Strauss im Hintergrund, je seine schwächsten Seiten dagegen füllen den Vordergrund; seine Lichtseiten stehn im Schatten und seine Schattenseiten treten in's Licht, und das um so geller, je durchsichtiger und vollendeter auch hier die äussere Form ist. Sind wir noch C h r i s t e n ? Diese Frage hatte Strauss schon wiederholt gestellt. Sie ist zweideutig: je nachdem „Christ" nur heissen darf, wer noch in der altchristlichen und konsequent zur Kirchenlehre ausgeprägten Vorstellungswelt als in seiner eigenen lebt; oder derjenige „Christ" ist, der denselben religiösen Geist, welcher jene altchristliche Vorstellungswelt aus dem Kulturstoff jener Zeiten ausgeprägt hat, noch als den Sauerteig centraler Lebenswahrheit anerkennt, der in kontinuirlichem Frozess auch die Gegenwart und alle Zukunft sammt all ihrem Kulturstoff durchdringen soll. Im Gefühl dieses Doppelsinnes hatte auch Strauss selbst früher stets mit der Entscheidung der Frage geschwankt. Jetzt schliesst er mit einem dezidirten N e i n ab, — unter jubelndem Applaus der positiven und negativen Positivisten. Aber wie und warum? Er greift kurzweg die Spitzen der alten Kirchenlehre heraus und hält sie uns vor: „theilt ihr diese Anschauungen noch auf irgend einem Punkte?" Nein. „Also —". Was also? Auch ich halte mit Strauss auf Konsequenz; auch ich sehe mit ihm in der orthodox zugespitzten alten Kirchenlehre

Strauss und seine Bedeutung für die Theologie.

223

nichts als die vollendete Eonsequenz des christlichen Geistes in seinem ursprünglichen Vorstellungsmaterial; auch ich vollziehe mit ihm die auflösende" Verstandeskritik an dieser ganzen Vorstellungswelt vom ersten bis zum letzten Punkt, und ich denke durch die That bewiesen zu haben, dass ich in beidem keinen Schritt in der Konsequenz hinter Strauss zurückgeblieben bin. Aber von dem, was nun erst mir die Hauptfrage ist, was ftir ein religiöser Geistesinhalt es denn sei, der in jenem Material vorstellungsmässiger Weltanschauung sich zur Form der Kirchenlehre habe ausprägen müssen und wie derselbe, ebenso konsequent und tief in unsere Denkformen gefasst, sich herausstellen müsse, — davon bei Strauss kein Wort. Man verlangt doch sonst heutigen Tages von der Geschichte, dass sie Kulturentwicklung darstelle und nicht bloss von Kriegen und Schlachten erzähle: Strauss aber zählt in der Geschichte des christlichen Geistes nur die Todtenlisten aus den Schlachten zwischen der modernen Wissenschaft mit der alten Kirchenlehre auf; von der Entwickelung des christlichen Geistes dagegen in diesen Kämpfen um die Form seines Bewusstseins, — davon kein Wort. Doch Strauss selbst will einen Augenblick davon absehn, dass wir nicht mehr urchristlich und altkirchlich denken; er will den Christennamen uns noch gelten lassen, wenn wir nur wirklich noch auf Jesum als den Anfänger, sei's auch nicht den Vollender, unsers Glaubens zurückgehen können. Allein wie steht's damit? Alles das gerade, was ftir den alten Glauben Jesum zum Christus gemacht hat, das gilt uns nicht mehr ftir wahr; was wir dagegen als geschichtlich wahr von ihm annehmen können, das ist theils religiös ganz gleichgültig, theils nichts ihm Besonderes, das Besondere aber uns entfremdet. Weltflucht aus idealistischem Dualismus, das ist die Religiosität Jesu gewesen, und dies macht darum auch den religiösen Grundzug alles ächten Christenthums aus. Diesen gerade aber haben wir abgestreift; wir anerkennen die Religion nur als monistische Weltverklärung. Kurz, „Wir", die Konsequenten der modernen Welt, können weder der Weltanschauung noch auch der Religion nach uns noch Christen nennen. Hier hat Strauss nicht nur die negativen Resultate seiner

224

Strauss und seine Bedeutung für die Theologie.

Kritik des Lebens Jesu geradezu unwahr übertreibend zugestutzt; sondern, was noch wichtiger, in der positiven Auffassung des religiösen Grundcharakters Jesu den Nerv vollständig verfehlt, indem er die Weltüberwindung aus dem Gotteskindschaftsbewusstsein heraus kurzweg als dualistische Weltflucht taxirt. Diesen ganzen Abschnitt konnte ebensogut ein formgewandter Literat geschrieben haben, der sich aus den kritischen Werken von Strauss und Andern etwas mit den Verhandlungen über diese Dinge bekannt gemacht, und nun die negativen Resultate, dilettantisch obenabgelesen aber dafür pikant zugestuzt, für sein Unterbaltungspublikum zusammenstellte. Hinter dieser Oberfläche — oder nenn ich's geradezu: hinter diesem Schaum obenab — bleibt ebensowohl was wirklich kritische Arbeit uhd wissenschaftliches Verdienst von Strauss ist, verborgen, wie was den eigentlichen Kernpunkt der Sache ausmacht, unberührt zurück. Ich hebe nur ein Beispiel hervor: das berüchtigte Wort vom Humbug der Auferstehungsgeschichte. Strauss hatte früher selbst schon die wahre, auch nach meiner Ueberzeugung allein richtige Würdigung dieses Schlusssteins der .evangelischen Geschichte allseitig ausgeführt. Mit jener pikanten Bezeichnung als Humbug wollte er im Grunde nichts davon zurücknehmen: er nannte die Auferstehungsgeschichte einen weltgeschichtlichen Humbug in keinem anderen Sinn, als wie etwa ein Naturforscher, um die populäre Darstellung der Farbenlehre pikant zu würzen, es einen Humbug der Natur nennen könnte, dass wir den unbewölkten Himmel blau sehn. Mit solchen mehr als nur schiefen Pikanterien aber, auf die ein dilettantischer Literat hätte gerathen mögen, seine „Wir" irre zu führen, das war eines Strauss einfach nicht würdig. Die Strafe dafür ist aber auch, dass er sich nicht beklagen durfte und wir ihn nicht in Schutz nehmen können, wenn nun der einfältigste Theologe sich Uber solche Oberflächlichkeiten erhaben fühlen und damit den ganzen Strauss abgethan wähnen mag. Ihm geschieht Unrecht, — aber in diesem Stück nicht seinem Buche. Ganz besonders bezeichnend und lehrreich für die Gesammtwürdigung der Leistungen von Strauss ftlr die Theologie und Religionsphilosophie, aber auch zugleich dafür, wie dieselben in

Strauss und seine Bedeutung für die Theologie.

226

seinem „Bekenntniss" in's allerungünstigste Licht zu stehn kommen, ist der zweite Abschnitt des Buches: Haben wir noch Religion? zusammengenommen mit dem, was aus den zwei folgenden Abschnitten damit zusammenhängt. Hier treffen seine stärkste und seine schwächste Seite auf Einem Punkte zusammen, um von diesem aus zur grellsten Dissonanz, zum unbefriedigendsten Resultat auseinander zu gehen. Darin nämlich beruht die Stärke und das macht das unverwischbare Verdienst von Strauss aus, dass er mit völliger Freiheit und rückhaltsloser Sicherheit die Verstandeskritik an allen Vorstellungen von einer jenseitigen Existenz des Gegenstandes des religiösen Glaubens vollzieht, von der ersten an bis zur letzten, vom Dasein Gottes an bis zur Unsterblichkeit der Seele, während die Meisten, auch wenn sie sonst den ganzen jenseitigen Rahmen entleert haben, doch wenigstens vor diesen Postulaten der Vorstellung und wär's zuletzt auch nur mit einem vorsichtigen non liquet stille stehn. Dann ist es aber j a radikal aus mit aller Religion? J a , wenn die Religion besteht im Glauben an die, wie auch immer sublimirte, doch wesentlich sinnliche Objektivität irgend einer transcendentalen Vorstellung. In Wahrheit aber n e i n ; denn das innerste Wesen der Religion besteht nicht in irgendwelcher Vorstellungsweise über das, was, so oder so gefasst, das Absolute, das letzte Objekt der Metaphysik ist; sondern im Abhängigkeitsgefühl von demselben und in der Gesinnung, die aus diesem hervorgeht, in freudiger Erhebung, in Dankbarkeit und ruhiger Ergebung demselben gegenüber, in Begründung und Läuterung des sittlichen Lebens durch Konzentration auf jenes Eine Unendliche im Wechsel der Welt, im Flusse des zeitlichen Daseins. — Hier einmal hat Strauss das wahre Wesen der Religion in seinen Grundzügen ganz richtig positiv ftxirt, während er es sonst immer, vor- und nachher in demselben Buche, mit einer bestimmten Vorstellungsart vom Objekte der religiösen Beziehung identifizirt und sie deswegen auf den Aussterbeetat setzt. Beiläufig nur will ich erwähnen — aber erwähnt werden darf es doch, besonders für die, welche sonst es j a lieben, die Gründe wider ihren Glauben mit der erbaulichen Berufung auf den allB i e d e r m a n n , Vorträge und Aufsätze.

15

226

Strauss und seine Bedeutung für die Theologie.

einigen Trost desselben zu widerlegen —, dass Strauss seinen religiösen Glauben, so, wie er ihn hier in seinem wahren Kern und nach seinen besten Früchten schildert, auf seinem letzten langen Krankenlager bewährt hat, wie nur jedem zu wünschen ist, dass er seine Religion ebenso bewähre. Dass soll ihm vom Feind wie Freund unvergessen bleiben! Nicht minder richtig bezeichnet Strauss, im Zusammenhang mit dem Wesen der Religion, als das Problem der Metaphysik den Monismus: eine substanziell einheitliche Auffassung der Welt gegenüber dem Dualismus, der Komposition derselben aus zwei existenziell getrennten und nur mit einander verbundenen Substanzen. Bis zu diesem Punkte der Aufstellung des Problems hat er Recht; dass er kritisch alles negirt, was irgendwie hindern will bis zu diesem Punkte vorzugehen und von ihm aus die Welt zu fassen, das ist wieder sein Recht, und die einfache Entschiedenheit, mit der er dies ausspricht, sein Verdienst. Allein hier hört's nun mit Einem Schlage bei ihm auf. Dem Dualismus gegenüber erscheint ihm der Gegensatz von Materialismus und Idealismus nur als ein „Wortstreit." Noch trifft er mit dem, was er damit meint, den Nagel auf den Kopf; — aber freilich verhängnissvoll schief, so dass der Nagel in verkehrter Richtung in's Holz geht. Nur ein Wortstreit?! Also s a c h l i c h einerlei, ob man die Welt n u r von unten, oder n u r von oben betrachte? n u r von der Materie, oder n u r vom Geist aus? n u r kausal, oder n u r teleologisch? Denn gerade dies n u r auf der einen oder auf der andern Seite macht den Materialismus und den Idealismus aus, die im Streite liegen. Strauss schwebte vielmehr das gerade Gegentheil hie von vor; aber die umfassende Kraft des Denkens versagte ihm, es richtig zu sagen und auszuführen: das Ganze von oben und unten zugleich zu fassen, so, dass beides sich deckt, das Eine als die ganze materielle Aussen-, das Andre als die ganze ideelle Innenseite des Einen substanziell untheilbaren, nicht erst zusammengesetzten Universums, — das sei das Problem einer monistischen Metaphysik. Also nicht ein dualistisches t h e i l s — t h e i l s ; nicht ein (materialistisch oder idealistisch) abstrakt monistisches e n t w e d e r — o d e r , sondern ein

Strauss und seine Bedeutung für die Theologie.

227

sich deckendes sowohl — als, im Sinn einer untrennbaren Einheit zweier correlativer Momente, deren jedes das Ganze umfasst und eben darum, vom andern abgelöst und für sich existirend gedacht, nichts als eine blosse Gedankenabstraktion von uns ist. Dies offenbar wollte Strauss sagen; aber mit seinem unglücklichen „Wortstreit" hat er nicht bloss Philosophen wie Huber*) eine Handhabe für wohlfeile Tiraden in's Blaue hinaus geböten, sondern in der That das Gegentheil von dem angebahnt, was ihm vorgeschwebt hatte; in seinem Uebereifer gegen allen Dualismus ist er damit selbst in eine haltlose Zwiespältigkeit verfallen. W i e b e g r e i f e n wir die W e l t ? — hier bekommt in jenem „Wertstreit" sachlich der Materialismus vollständig Recht, und der Idealismus wird bis auf den Grund verläugnet. Hingegen: wie ordnen wir das Leben? — da kommt auf allen entscheidenden Punkten der Idealismus wieder oben auf. Aber freilich, weil ihm vorher der Materialismus den Boden unter den Füssen weggezogen hat, so schwebt er nun ohne- rechte Zuversicht zu sich selbst in der Luft und sieht sich auf allen Punkten der ethischen Weltgestaltung nach sehr materiellen Stützen um. Statt einer einheitlichen Auffassung der Welt bleiben uns zwei auseinanderklaffende Hälften in der Hand. Nichts in dem ganzen Buch ist auch dem blödesten Auge so sehr aufgefallen wie dies, und hat auch dem Schwächsten das Hochgefühl hinterlassen, am Ende noch ein grösserer Philosoph zu sein als Strauss. Doch kehren wir wieder zur Religion zurück. Sie ist Abhängigkeitsgefühl vom „All", oder vom „Universum". Dieses ist nach der Seite der „Vielheit" das was wir die Welt, nach der Seite' der „Einheit" das was wir Gott nennen: beides aber ist nicht von einander zu trennen, das Eine Universum. Bis zu diesem Punkte bricht Strauss richtig sich die Bahn. Aber hier hört's wieder mit Einem Schlag auf; für den nächsten Schritt geht ihm die philosophische Kraft positiver Gedankenentfaltung aus, und er fallt in bodenlose Verschwommenheit. Die „Vielheit" und die „Einheit" des All, — sind denn das nur leere Worte bloss sub* ) Der a l t e und d e r n e u e G l a u b e etc., kritisch gewürdigt von Dr. Johannes H u b er. S. 65.

15*

228

Strauss und seine Bedeutung für die Theologie.

jektive Rahmen, beliebige Gesichtspunkte der Anschauung? Hat nicht wie das Moment der Vielheit am Universum, der Begriff der Welt, so auch nicht minder das entgegengesetzte der Einheit, das den Begriff des Objektes der religiösen Beziehung ausmacht, — hat nicht jedes dieser beiden correlativen Momente des Universums seine ganz ernstliche objektive Bedeutung, seine volle, das All in sich schliessende Realität? Und wenn wir nun Ernst damit machen, dieses Moment der E i n h e i t am All einmal fertig zu denken, springt uns daraus nicht der ganze wesentliche Inhalt der Gottesidee entgegen, wie aus dem der Vielheit am All der Welt begriff? Nun ist aber die Religion unser Leben im Abhängigkeitsgefühl vom „All" nach der Seite seiner „Einheit", während wir selbst im Elemente der „Vielheit" unsre Existenz haben, als Ich aber zugleich auch die „Einheit" in uns tragen. Machen wir nur Ernst damit, diese Kategorien — ich habe express keine andern herbeigezogen, als die Strauss selbst anwendet — konsequent fertig zu denken: so bekommen wir als den wesentlichen Inhalt der Religion, logisch wohl begründet, alles das, was auch Strauss mit Recht als das Wesentlichste der Religion andeutet, was aber bei ihm, nur kurzweg ans vage All geknüpft, selbst so vag und fad und verschwommen herauskommt. Dass er negativ den Weg bis zum entscheidenden Punkte gradaus durchbricht; dass er noch mit gesundem Sinn diesen Punkt fixirt; dass ihm aber sofort für das Weitere der Trieb versiegt und die Kraft versagt, von hier aus die Welt des religiösen Gedankens zu entwickeln, in welcher, was der lebendige Kern der aufgelösten Vorstellungswelt gewesen, wieder zu seinem Recht und nun erst zu seinem vollen, reinen Rechte kommt, — da haben wir auf Einem Punkte den g a n z e n Strauss: seine Stärke und seine Schwäche; aber so, dass seine Stärke, das kritische Bahnbrechen, nur summarisch angedeutet, im Schatten zurückbleibt, seine Schwäche in der positiven Gedankenentwicklung dagegen, in's grellste Licht hervortritt und jedem Bich aufdrängt, so dass unter seinen Widersachern auch der schlechteste Schütze aus dem Hintertreffen, ohne das Schwarze geschweige das Centrum zu sehn, doch wenigstens die Scheibe nicht ganz verfehlen konnte. —

Strauss und seine Bedeutung für die Theologie.

229

Von der Wirkung des fatalen Baches auf die Welt will ich weiter nicht reden; sie ist bekannt, aber noch nicht abgeschlossen. Am meisten war die freie Theologie llber dasselbe betroffen; denn sie schien anch am direktesten von ihm getroffen. Die lauteste unverholenste Schadenfreude über das Erscheinen des Buches, dem vollends der bald darauf erfolgte Tod des Verfassers das Siegel eines unwiderruflichen letzten Wortes aufdrückte, äusserten ja auch Uberall die, welche darin den Todesstoss begrtlssten, den ihrem verhasstesten Feinde, der Wissenschaft des freisinnigen Protestantismus, dessen eigener Vorfechter versetzt habe. Allein auf sie gerade, die von dem Buch am meisten kompromittirt erscheint, kann es am wohlthätigsten wirken und hat dies zum Theil bereits schon gethan. Es ist die eindringlichste Mahnung an sie, über ihren Haushalt sich selbst und der Welt Rechenschaft zu geben und sich zu besinnen, was ihr am meisten Noth thue. Wenn sie sich freilich verleiten liesse, um die Mitschuld an dem letzten Ergebniss von Strauss von sich abzuwälzen, ängstlich und unsicher auf irgend welchen Schleichwegen den Rückzug anzutreten auch hinter die Positionen zurück, die sie bisher an der Seite von Strauss eingenommen, — das allerdings wäre der sicherste Weg in das Verderben, welches der Chor der blindlings nachbetenden „Wir" des Straussischen Buches ihr als ihr unvermeidliches Schicksal verheissen, und ihre theogischen Widersacher an den Hals wünschen. Ich aber wenigstens, den das Buch von Strauss um des grossen Mannes selbst willen bemüht hat wie vielleicht kaum einen zweiten, ich ziehe an meinem Ort die entgegengesetzte Folgerung, — und fasse darin die Bedeutung zusammen, welche die Gesammtwirksamkeit von Strauss für die freie Theologie der Gegenwart hat: sie t r e t e nur getrost in sein Erbe ein; sie übernehme, was er g e l e i s t e t , frei und f r a n k ; aber d a m i t übernehme sie auch zugleich die P f l i c h t , die Schuld zu tilgen, die er hinterlassen hat. Und zwar je ganzer und rückhaltsloser, mit seinem Wahrheitsmuth und seiner Entschiedenheit sie das Erstere thut, desto sauberer räumt sie sich selber die Hemmnisse weg, auch das Letztere ungetheilt und mit ganzem Erfolg leisten

230

Strauss und seine Bedeutung für die Theologie.

zu können. Sie fahre nur fort, mit der Rückhaltslosigkeit von Strauss das kritische Geschäft zu vollziehen, wissenschaftlich die Religion von aller mythologischen Z u t h a t zu scheiden. Diese Zuthat ist's ja doch vor allem, was die Zeitgenossen der Religion entfremdet, indem sie dadurch verleitet werden Religion für identisch zu nehmen mit mythologischer Weltanschauung, und die positive Theologie thöricht genug ist, ihre besten Kräfte fort und fort daran zu verschwenden, sie in diesem Vorurtheil zu bestärken. Erst wenn wir mit ruhiger Sicherheit und unzweideutig in dieser Beziehung reinen Boden geschaffen haben, so dass endlich einmal nicht mehr nöthig ist, die Arbeit, die Mythologie und alles was daran hängt zu beseitigen, immer wieder mit dem Pathos des Sklaven, der die Kette bricht, von vorn anzufangen, — dann erst können wir mit der Ruhe des freien Mannes der nun erst fruchtbaren Arbeit des positiven Ausbaues der Wissenschaft vom religiösen Leben obliegen, mit der vollen, ungelähmten Konsequenz, die Strauss mit Recht so hochgehalten hat, die ihm aber hier ausgegangen ist, weil er im Vorkampf für die Befreiung noch nicht zur ruhigen Arbeit in der Freiheit selbst gelangt war. D i e Arbeit, zu der er vor Andern begabt war, hat er auch vor Andern ehrlich gethan: ehren wir ihn dadurch, dass wir sie mit der gleichen Ueberzeugungstreue da fortsetzen, wo er sie gelassen und verlassen hat. Und wenn Zürich durch jene rufung mit daran Schuld getragen logie nicht zum Bauen gekommen eine Genugthuung darin, gerade nach Kräften abtragen zu helfen.

verhängnissvolle vorzeitige Behat, dass Strauss in der Theoist; so empfinde ich wenigstens von Zürich aus diese Schuld

Vili.

Voltaire von Strauss.*) Dem weitern Publikum ist Strauss zunächst als der schärfste theologische Kritiker unserer Zeit bekannt; man ist gewohnt, seinen Kamen zu hören, wo es gilt, das Einschneidendste und Durchschlagendste von verneinender Kritik zu bezeichnen. „Der geht noch ttber Strauss hinaus:" — das muss ein ganz Extremer sein. „Das lässt auch Strauss gelten: — dann steht's gewiss unantastbar fest. Er gilt als die verkörperte Kritik. Gleichwohl hat er nicht minder sich als einen Meister ersten Sanges in einer Reihe literarischer Leistungen von wesentlich positiver Art bewährt: in der Biographie. Er ist ein ebenso eminent künstlerisch gestaltender, wie scharf zersetzender Geist. Beides wurzelt bei ihm in Einem Grunde: in einem ebenso tiefen als feinen Sinn ftlr reine Menschlichkeit. Dieser humanistische Geist ist auf der einen Seite drauf aus, alle Illusionen der Phantasie in der Religion, das Beste und Eigenste des menschlichen Wesens erst in eine andere Welt hintlberzuverlegen, um es als ein Fremdes dann von dort zurttckzubeziehen, mit scharfem und unbestechlich nüchternem Verstand zu zerstören, oder vielmehr in den Menschen selbst zurückzunehmen, um auf der andern Seite die Fülle des wirklichen Gehaltes der menschlichen Natur in ihrer naturwahren Gestalt *) V o l t a i r e . Sechs Vorträge von Dr. Fr. Strauss. Leipzig, Verlag von S. Hirzel 1870. 445 Seiten. Bereits ist eine zweite Auflage erschienen.

232

Voltaire von Strauss.

zum Ausdruck, zu bringen. Das Erstere, Negative, ist der Grundzug der theologischen Kritik von Strauss, das Zweite, Positive, in seinen biographischen Darstellungen. Man könnte sagen, das erste kritische Hauptwerk von Strauss, das Leben Jesu, sei ebenfalls schon eine Biographie gewesen. Doch war es das nur dem Titel nach. Für ein Leben Jesu fand eben Strauss alle zu Gebote stehenden Quellen nicht nur so historisch unsicher, sondern so sicher unhistorisch, dass ihm an diesem Stoff die biographische Aufgabe, aus den Quellen ein geschichtstreues Bild einer Persönlichkeit zu gewinnen, fast ganz in die Vorarbeit einer kritischen Auflösung des mythologischen Bildes der Quellendarstellung aufging und für die geschichtliche Persönlichkeit dahinter ihm nur wenige Grundzüge und auch diese nicht in bestimmten sichern Umrissen übrig blieben. Auch in seinem zweiten Leben Jesu, für das Volk bearbeitet, konnte Strauss, obgleich er diesen letztern, positiven Zweck nun voranstellte, auch nach allem, was mittlerweile über den historischen Charakter der Evangelien erörtert worden war, doch zu einem wesentlich andern Resultate nicht gelangen. Warum? ob mit Recht oder Unrecht? das untersuchen wir hier nicht weiter. Kurz, nachdem Strauss durch seine rückhaltslose historische und philosophische Kritik sich von der offiziellen Theologie nur den Dank fast allgemeiner Verketzerung geholt und dadurch veranlasst gesehen hatte, nun auch seinerseits ihr den Rücken zu kehren, wandte er sich mit Vorliebe biographischen Arbeiten auf dem Gebiete der Kultur- und Literaturgeschichte zu. Diese fanden allgemeine Anerkennung als künstlerisch mustergültige Darstellungen auf Grund einer bis ins Kleine hinein wissenschaftlich sorgfältigen, säubern Sichtung und Verwerthung der Quellen. Bei einigen derselben konnte man nur etwa das aussetzen, dass die von ihm dargestellten Persönlichkeiten zu wenig allgemeine Bedeutung hätten. Ein Meister adelt zwar jeden Stoff; aber es ist Schade, wenn er seine Kraft an einen zu unbedeutenden verschwendet. Dies gilt nun freilich nicht von Hutten. Vollends aber nicht von Voltaire. An diesem hat Strauss seine biographische Kunst in vollstem Maasse bewähren können. Besteht die künstlerische Aufgabe der Bio-

Voltaire von Strauss.

238

graphie darin, das Leben und Treiben einer Persönlichkeit objektiv so darzustellen, wie dieselbe sich von innen heraus entwickelt hat, aus ihrer individuellen Naturbegabung und unter dem Zusammenwirken aller Faktoren, die ihre Bildung beeinflusst, ihre Lebensgestaltung und Wirksamkeit mitbedingt haben, so dass schliesslich die ganze Persönlichkeit als das einheitliche Produkt all dieser Faktoren, als Werk vorab ihrer selbst auf Grund ihrer Naturanlage und zugleich als Werk und Spiegel ihrer Zeit zur Darstellung [kommt und eine allseitig gerechte Würdigung ihres menschlichen Gesammtwerthes findet: so lässt sich ftlr diese Aufgabe der Biographie nicht leicht ein schwierigerer, in jeder Richtung reichhaltigerer, aber eben damit auch dankbarerer Vorwurf finden, als gerade Voltaire. Er war eine ungewöhnlich reich und glänzend begabte Natur, von einer ganz einzigartigen Elastizität und Beweglichkeit selbst bis in das höchste Alter hinein. Er war der eminenteste, dem Geist der Nation gemässeste Schriftsteller der Franzosen, der literarische Repräsentant und Beherrscher des, eben wesentlich französischen, 18. Jahrhunderts; als dies bewundert oder geschmäht, vergöttert oder verdammt, wie kaum ein zweiter, während doch gerade bei keinem der Gesammtwerth der Person sich so wenig auf Einen einzigen Ausdruck bringen lässt. „Wenn auch die Wirkungen, die er hervorbrachte, so ziemlich in einer Richtung lagen, so war doch jede von ihnen das Ergebniss des Zusammenspiels verschiedener Kräfte, die in ihm durch einander gingen. Mein Name ist Legion! konnte Voltaire's Dämon mit jenem des Gergeseners sprechen; in der Legion aber waren neben den bösen auch zahlreiche gute Geister;und selbst von den erstem eigneten sich wenige, in Schweine, wohl aber manche, in Katzen und Affen zu fahren (S 2f.). u All diese Geister in Voltaire weist uns nun Strauss mit Unparteilichkeit vor, die guten und die bösen. Von den erstem hebt er besonders auch die hervor, die im Gesammtbild Voltaire's sich eher verstecken, und lässt ihnen, gegenüber der gewöhnlichen Verdammung Voltaire's in Bausch und Bogen, volle Gerechtigkeit widerfahren; aber ebenso zeigt er uns die Katzen und Affen ungeschminkt, allerdings mit humaner Behandlung, ohne Thier-

234

Voltaire von Strauss.

quälerei: jenes aus Humanität, dieses mit Humanität. Der deutsche Schriftsteller ist dem urfranzösischen in der Gesammtwürdigung auch vor dem französischen Urtheil gerecht geworden: dafür hat R e n a n in seinem bekannten Schreiben an Strauss das schönste Zeugniss abgelegt, und Strauss konnte in seinem Antwortsschreiben mit Recht seine Arbeit ein „internationales Friedenswerk" nennen, das auch künftig in der Literaturgeschichte schon dadurch eine doppelte Bedeutsamkeit erhalten wird, dass es unmittelbar vor dem Ausbruch des je mehr und mehr nicht bloss politischen, sondern nationalen Krieges beider Nationen erschienen ist. Strauss giebt uns diesmal nicht eine bis in alles Detail ausgeführte Biographie; sondern im Rahmen von sechs Vorträgen, die er ursprünglich in einem ausgewählten Kreise vor der Prinzessin Alice von Hessen, Tochter der Königin Viktoria, gehalten und dieser auch gewidmet, für den Druck aber wohl in Einzelnem weiter ausgeführt hat, zeichnet er in sorgfältig gewählten Zügen ein auf das Wesentliche konzentrirtes Gesammtbild Voltaire's, seines Lebens und seines literarischen Schaffens. Es ist natürlich, dass er dabei das Verhältniss Voltaire's zur Religion und seine Wirksamkeit in dieser Richtung besonders eingehend beleuchtet, und hierin liegt auch für uns das Hauptinteresse des Buches. Das Leben Voltaire's theilt Strauss in vier Perioden. Wir geben den allgemeinen Rahmen am besten mit seinen eigenen Worten: „Die e r s t e Periode ist die der Jugend Voltaire's, während deren sich sein Talent, sein Naturell und seine Lebensführung entwickeln, bis ihr im Jahr 1726, seinem zweiunddreissigsten Lebensjahre (Voltaire ist geboren 1694), eine gesellige Katastrophe, die ihn nach England treibt, ein Ende machte. Der beinahe dreijährige englische Aufenthalt sodann, mit dem seine zweite Lebensperiode beginnt, ist von der eingreifendsten Bedeutung, indem er Voltaire's Geist mit den gediegenen Stoffen der englischen Bildung bereichert, die er nach seiner Rückkehr in die Heimath in den verschiedensten Formen und mit immer steigendem Erfolge zu verwerthen suchte. In seinem weitern Verlauf ist der Charakter dieses Lebensabschnittes vornämlich durch

Voltaire von Strauss.

235

Voltaire's Verhältniss zu geiner geistvollen Freundin, der Marquise du Chätelet (der Frau von Stein im Leben Voltaire's) und das gelehrte Stillleben auf deren Schlosse Cirey bestimmt; wie auch der Tod der Marquise im Jahr 1749 es ist, der dieser Periode ein unerwartetes Ziel setzt. Nun erst giebt der FünfundfÜnfzigjährige den schon seit 10 Jahren wiederholten Einladungen seines gekrönten Verehrers, Friedrichs von Preussen, nach und der Aufenthalt in Berlin und Potsdam eröffnet eine dritte Periode, die nach einem glänzenden Anfang die unruhigste und unbehaglichste, zum Glück auch nur kurze Uebergangsperiode in Voltaire's Leben bildet. Von Deutschland abgestossen, von den Regierenden in Frankreich nicht, wie er es wünschte, willkommen geheissen, lässt sich Voltaire nach allerlei Irrfahrten erst in der französischen Schweiz, dann in einem Grenzstrich seines Heimathlandes nieder, und von dem Erwerb und bald der bleibenden Ansiedlung in Ferney um 1758 und 1760 datirt sich die letzte, zwanzigjährige Periode seines Lebens (er starb auf seinem Triumphbesuch in Paris 1778), die in jeder Hinsicht, wir mögen auf die Stellung und Haltung des Mannes, die Zahl und das Gewicht seiner Arbeiten, oder auf den Umfang seines Wirkens und die Höhe seines Ruhmes sehen, als die bedeutendste und schönste seines langen und reichen Lebens zu betrachten ist (S. 6ff.). u In den drei ersten Vorträgen füllt Strauss diesen Rahmen der drei ersten Perioden von Voltaire's Leben aus, indem er in kunstvoller und doch zugleich einfacher Anordnung und Darstellung je am geeigneten Ort Voltaire als Schriftsteller, zunächst als Dichter in den verschiedenen Gattungen, charakterisirt. Ich verweise unsre Leser hiefür einfach auf die genussreiche Lektüre des Buches selbst. Mit der Ansiedelung am Genfersee wird Voltaire's Leben äusserlich ein Stillleben, das aber durch die regste Geistesarbeit in der lebhaftesten innern Bewegung bleibt, indem Voltaire niemals so thätig, so produktiv gewesen, wie in dieser letzten Periode vom sechszigsten bis zum vierundachtzigsten Jahre, mit einer Vielseitigkeit und Bastlosigkeit des Schaffens, die in diesen Jahren geradezu ohne Beispiel ist. Diese veränderte Beschaffenheit des Stoffes brachte es für den Biographen mit

236

Voltaire von Strauss.

sich, dass er nun die bisherige chronologische mit der Sachordnung vertauscht, die der Thätigkeit Voltaire's auf den verschiedenen Gebieten nachgeht. Diese war im vorrückenden Alter, neben den fortgehenden dichterischen und geschichtlichen Arbeiten, vorzugsweise den damaligen Zuständen von Recht, Kirche und Staat und im Zusammenhang damit philosophischen und theologischen Forschungen zugewandt. Die Darstellung der letztern im fünften Vortrag ist denn auch von besonderem Interesse für uns. Es ist dies der wissenschaftliche Schwerpunkt des Buches, in dem sich zugleich die geistige üeberlegenheit des deutschen Denkers und Kritikers über den französischen in diesen Gebieten aufs glänzendste darlegt. Strauss beginnt zwar diesen Abschnitt gerade damit, der Unterschätzung Voltaire's als Philosophen entgegenzutreten, indem er gegen den gewöhnlichen Vorwurf blosser Frivolität und Oberflächlichkeit einmal auf die Fälle hinweist, wo seine rastlosen Bemühungen für unschuldig Verurtheilte und ungerecht Unterdrückte in dem Spötter zugleich auch einen ernsten Sinn und ein warmes Herz gezeigt haben; dann aber darauf, wie die grossen Fragen nach dem Dasein Gottes, der Natur und Bestimmung des Menschen, der Freiheit des menschlichen Willens und der Unsterblichkeit ihn lebenslänglich umhergetrieben und wie er immer neue Versuche gemacht habe, diesen Fragen gerecht zu werden und wenigstens so viel Licht darüber zu verbreiten, als ihm bei der so tief empfundenen Beschränktheit des menschlichen Erkenntnissvermögens erreichbar schien. Voltaire war, seinen atheistischen Freunden von der Encyklopädie gegenüber und hierin mit seinem sonstigen Gegenfüssler Rousseau übereinstimmend, entschiedener Deist. Er hielt am Dasein eines Gottes fest: nicht bloss wegen der Unentbehrlichkeit dieses Glaubens für den Bestand der Gesellschaft, „indem man Gott erfinden müsste, wenn er nicht existrrte", sondern aus wirklicher Ueberzeugung, indem der teleologische Beweis von der zweckmässigen Anordnung der Natur auf einen intelligenten Werkmeister der Welt für ihn volle Beweiskraft besass. Ein allmächtiger und allweiser Gott war ihm damit freilich noch nicht bewiesen.

Voltaire von Strauss.

237

Im Gegentheil; denn die Welt ist trotz ihrer kunstreichen Naturordnung doch herzlich schlecht. „Das Uebel existirt und es ist absurd, es zu läugnen. Die Erde ist ein ungeheurer Schauplatz des Mordens und der Zerstörung. Der Mensch insbesondere ist ein sehr elendes Wesen, das einige Stunden der Erholung, einige Minuten der Befriedigung und eine lange Folge von Schmerzenstagen in seinem kurzen Leben hat." Das einzige Mittel, Gott wegen des Uebels zu entschuldigen, fand Voltaire darin, zu gestehen, dass seine Macht es nicht habe überwinden können; er will lieber einen beschränkten Gott anbeten als einen bösen. Flir den praktischen Glauben an Gott als Vergelter hatte er dagegen nur den Ntttzlichkeitsbeweis aus der Unentbehrlichkeit dieses Glaubens für die Menge. Und diesem Argument kommen dann erst noch die Ansichten, die er über die Seele und deren Unsterblichkeit hatte, in die Quere. War nämlich Voltaire in Beziehung auf das Verhältniss von Gott und Welt Dualist, glaubte er zur Erklärung der Welt Gott als ein ausser ihr besonders für sich existirendes Wesen annehmen zu müssen: so dachte er in Beziehung auf Leib und Seele in eigentümlicher Inkonsequenz entgegengesetzt. Die geistigen Thätigkeiten des Menschen veranlassten ihn nicht, eine vom Leibe verschiedene Seele als besonderes Subjekt fUr dieselben anzunehmen. Warum sollte Gott nicht einem Theil des Körpers, dem Gehirn, die Fähigkeit zum Denken so gut wie zu andern Verrichtungen haben mittheilen können? Ob die Sache begreiflicher werde, wenn man jene Thätigkeit einem immateriellen X, Seele genannt,, als wenn man sie dem Körper zuschreibe? Es ist doch immer dasselbe Wesen, das verdaut und das denkt. „So viel ich mir auch Mühe gab, zu finden, dass wir unser Zwei seien, habe ich doch schliesslich gefunden, dass ich nur Einer bin." Darum ist ihm die Unsterblichkeit im höchsten Grad unwahrscheinlich. Entschieden will er sie zwar nicht läugnen, namentlich vor dem grossen Publikum nicht; davon hält ihn die Nützlichkeitsrücksicht ab, dass ihm der Glaube an einen vergeltenden Gott für das Volk unentbehrlich scheint. „Nun aber laufen — so bindet Strauss die beiden bei Voltaire auseinanderstrebenden Gedanken richtig zusammen — die Wege der

238

Voltaire von Strauss.

göttlichen Vergeltung, der gemeinen Meinung zufolge, ganz hauptsächlich durch das Jenseits." Wo Voltaire diese Rücksicht bei Seite setzt, da redet er gelegentlich von der vollen inneren Vergeltung von Tugend und Laster. „Freilich sehr schön — fügt Strauss hinzu — aber hinwiederum fast allzu schön für Voltaire. Seine Meinung war das so ungefähr, aber nicht seine Stimmung." Er kleidet sich etwas gegen seine Natur in den „Prediger- und Stoiker-Mantel." Dagegen aus seinem eigensten Wesen heraus schreibt Voltaire in seinem 78. Jahr: „Ich habe einen Mann gekannt, der fest überzeugt war, dass nach dem Tode der Biene ihr Summen nicht fortdaure . . . . ., der uns mit einem musikalischen Instrumente verglich, das keinen Ton mehr giebt, wenn es zerbrochen ist. Er behauptete, es sei augenscheinlich, dass der Mensch, wie alle andern Thiere, wie die Pflanzen und vielleicht alle andern Wesen der Welt überhaupt, gemacht sei, um zu sein und nicht mehr zu sein. Seine Meinung war, dass diese Vorstellungsweise über alle Widerwärtigkeiten des Lebens tröste, weil diese vorgeblichen Widerwärtigkeiten unvermeidlich sind; auch pflegte dieser Mann, nachdem er so alt geworden, wie Demokrit, wie dieser Uber alles zu lachen." „Das ist der ächte, unkostümirte Voltaire, das die Mischung von Pessimismus, Skeptizismus und Ironie, die das eigentümliche Gepräge seines Geistes und Sinnes bildet." Strauss lässt es in seiner objektiven Darstellung dieser Ansichten von Voltaire bei zwei kritischen Bemerkungen bewenden. Einmal macht er im allgemeinen auf den seltsamen Widerspruch in Voltaire's philosophischen Anschauungen aufmerksam zwischen seiner dualistischen Auffassung der Welt, die ihn am Dasein eines persönlichen ausserweltlichen Gottes festhalten, und seiner monistischen Auffassung des Menschen, die ihn die Unsterblichkeit aufgeben hiess. Dann hebt er die Aeusserlichkeit hervor, mit der Voltaire die Naturggsetzmässigkeit in seiner Verwendung derselben zum Beweis für seinen ausserweltlichen Gott durchgängig auffasse. Mit beidem hat Strauss Recht; um aber die Ansichten von Voltaire über diese beiden wichtigsten Punkte der religiösen Vorstellung, womit alle übrigen im Geist Ubereinstimmend sind,

Voltaire von Strauss.

239

vollständig zu würdigen, müssen wir noch etwas Weiteres hinzufügen. Voltaire zeigt sich in beiden Fragen — ganz abgesehen von der leichten, respektive auch leichtfertigen Eleganz in der Behandlung selbst der ernstesten Probleme — als einen nüchtern scharfsinnigen Geist, der doch nirgends durch die Oberfläche in den innersten Kern dringt, der oft richtig den Nagel auf den Kopf und doch die Sache nie eigentlich in's Herz trifft. Er hat in der ersten Frage Recht, dass er für die Natur den Zweckbegriff festhält; in der zweiten, dass er den Menschen nur als wesentliche Einheit gelten lässt. Aber beides fasst er so ungeistig, dass er ein tieferes Denken nach keiner Seite hin befriedigt. Das ist auch der Grund, warum er seine Eonsequenzen aus dem Richtigen, von dem er beidemal ausgeht, hier links und dort rechts hinauszieht; im Kern beidemal gleich schief, obschon es ja richtig ist, dass er, äusserlich betrachtet, in der Unsterblichkeitsfrage das Rechte trifft, in Betreff des Gottesbegriffs aber nicht. Allein der wahren Lösung des Problems, von Gott und dem Menschen wirklich geistig zu denken, bleibt er gleich fem, ob er dort Gott als eigenes Wesen annimmt, oder ob er hier die Seele als solches nicht annimmt. Sein Raisonnement bleibt daher in beiden Fragen schliesslich gleich sehr wie philosophisch oberflächlich, so religiös leer und ist dort nicht minder als hier nur der Ausdruck von Pessimismus, Skeptizismus und Ironie. Voltaire hat sich zeitlebens angelegentlich in mannigfaltigster Weise mit der Frage nach dem Uebel in der Welt und dessen Vereinbarkeit mit einer göttlichen Vorsehung beschäftigt; aber zu einer andern Lösung, die schliesslich nicht doch ebendahin ausmündete, ist er nie gelangt. Sein Glaube an Gott war nicht geheuchelt; es war seine Ueberzeugung. Aber dem Gehalt nach war dieser Glaube so kahl und fadenscheinig, dass er nur zu den dürftigsten Ansätzen einer wirklich religiösen Beziehung zu diesem Gott reichte und das Bekenntniss dieses Glaubens oft kaum vom Spott über den Glauben zu unterscheiden ist. Zum wirklichen Verständnis» der Religion — ich meine nicht bloss ihres gegenständlichen, sondern auch nur ihres subjektiven Gemüthsinhaltes — fehlte es

240

Voltaire von Strauss.

ihm an Oeistes- und Gemilthstiefe. Sein glänzender Geist ging auf in den allerdings durchdringendsten Scharfsinn fllr alles Inkorrekte in den religiösen Vorstellungen; und sein erregbares Gemtlth in eine allerdings lebhafte Empfindlichkeit gegen alles Schlechte, das auf dem Gebiete der Religion die praktische Folge des Aberglaubens und seiner Ausbreitung ist. Jenes forderte seinen Spott heraus und dieses erregte seinen Zorn. Nun aber tritt beides, was den Spott eines nttchtern scharfsinnigen Kopfes und was den Zorn eines gesund fühlenden Gemttthes hervorrufen kann, auf keinem Gebiete des gesammten Menschheitslebens so augenfällig und so widerwärtig hervor als in der Religion, weil es mit dem von jedem doch instinktmässig gefühlten wahren Wesen der Religion in ernstem Widerspruch steht: wo die höchsten Berge, da sind auch die tiefsten Schluchten. So konnte es Voltaire gegenüber dem Aberglauben und dem Fanatismus, der Bich ihm gerade in der positiven Religion, deren Luft er zunächst athmen musste, in der katholischen Kirche seiner Zeit und seines Landes auf jedem Schritt und Tritt als der mächtigste und giftigste Feind aller gesunden Vernunft und Moral fühlbar machte, als seine eigentlichste Lebensaufgabe ansehen, alle positive Religion und deren Trägerin, die Kirche, mit aller Schärfe seines Spottes und mit der ganzen Wucht seines Zornes zu bekämpfen. Daher sein „écrasez l'infame." Diese Infame — denn er bezeichnet mit dem Wort immer ein Femininum — ist „die christliche Kirche, ohne Unterschied der Konfessionen, als die Trägerin des Aberglaubens und des Fanatismus." Um der Person Voltaire's ganz gerecht zu sein, muss man beides gleich sehr psychologisch verstehen und anerkennen: seiner Antikirchlichkeit lag auf der einen Seite allerdings ein ungewöhnlich entwickelter Wahrheitssinn nicht bloss als Verstandesstachel, sondern als wahres Gemüthspathos zu Grunde; dass aber dieser ihm in einen rückhaltlosen Fanatismus ausschlug, der nicht minder blind und darum bornirt war als der, welchen er bekämpfte, das lag daran, dass es ihm wie an unmittelbarer Tiefe des GemUthes so auch an Tiefsinn des denkenden Geistes für das Verständniss des innersten Wesens der Religion im menschlichen Geiste und

241

Voltaire von Strausa.

zugleich an wahrhaft geschichtlichem Sinn und Verständniss für die Bedeutung, die Natur und die Bedingungen der positiven Religion in der Menschheitsgeschichte fehlte. Darum hat weder eine unmittelbare Gemüthspietät, noch ein tieferes psychologisches und geschichtliches Verständniss seinem vom Aberglauben in der Religion zum Spott gereizten Vertand in ihm selbst Zaum und Zügel angelegt, sondern sein Wahrheitspathos nur darin rolle Befriedigung gefunden, seinem Zorn auf jede ihm wirksam erscheinende Weise rückhaltslos die Zttgel schiessen zu lassen. Die Waffe aber, die er am virtuosesten und wirksamsten handhabte, war der Spott. Voltaire hatte ein grosses Interesse an der Geschichte und besass und mehrte unermüdlich eine ausgebreitete Geschichtskenntniss von allen Völkern und Zeiten; er hat ohne Frage auch grosse, ja epochemachende Verdienste um die Geschichtswissenschaft, indem er besonders es war, der als ihren Hauptzweck die Erkenntniss der menschlichen Kulturentwicklung betonte: und dennoch fehlte ihm zum grossen Geschichtsforscher nicht bloss der Pflichtsinn gewissenhafter Treue, sondern überhaupt der tiefere Geschichtssinn, der in der Geschichte durch alle menschlichen Thorheiten und Schlechtigkeiten hindurch den Faden nicht einer blinden, sondern einer vernünftigen Gesetzmässigkeit im Zusammenwirken aller Elemente der menschlichen Natur verfolgt, kurz an eine Vernunft in aller Geschichte glaubt und in letzter Instanz diese zu erkennen sucht. Dieser Geschichtssinn fehlte dem Pessimismus und Skeptizismus Voltaire's. Was in der Geschichte seinem eigenen Verstand und Geschmack nicht entspricht, damit ist er kurzer Hand fertig: es ist ihm, gleichgültig auf welchem geschichtlichen Boden gewachsen, kurzweg ungereimt und abgeschmackt. Der Sinn für gerechte allseitige Würdigung geschichtlicher Notwendigkeiten und darum relativer Wahrheiten in der Geschichte geht ihm bis zur Bornirtheit ab. Er ist darin der ausgeprägteste Repräsentant und der Patriarch der geschichtlos in der Geschichte aufräumenden Aufklärung, Auf dem Gebiete der Religion tritt dies natürlich am stärksten hervor. Wer für die Würdigung der geschichtlichen Erscheinung auf dem religiösen Gebiete nicht ein psychologisches Verständniss ihres Wesens B i e d e r m a n n , Vorträge und Aufsätze.

lg

242

Voltaire von Strauss.

und der Gesetze ihres Wirkens mitbringt, dem steht hier kurzweg Meinung gegen Meinung als letzte Instanz und im Verhalten vom eigenen Glauben aus gegen fremden sind Fanatismus und indifferentistische Tolerenz, ein wie verschiedenes Gesicht sie auch machen, doch Zwillingsbrüder von Einem Stamm, die darum auch beide unter Umständen unversehens auf die gleiche Waffe des Spottes verfallen. Voltaire mochte die Juden nicht leiden (ausser wo sie ihm zu Geldgeschäften dienlich schienen); am Alten Testament, für das doch die Kirche die Anerkennung einer göttlichen Offenbarung verlangte, war sehr vieles — und sehr mit Recht — für seinen Verstand im höchsten Grad anstössig: darum ist ihm nun gleich die ganze alttestamentliche Religion absurd und abgeschmackt. Aber dadurch prostituirt sich vielmehr nur die Oberflächlichkeit seines eigenen Urtheils und dessen Verstandlosigkeit bei allem Verstand und man hat die wörtlichste Erfüllung des „da sie sich- für weise hielten, sind sie zu Narren geworden" vor sich. — Jesu kommt bei Voltaire das zu gute, dass er die jüdische Pfaffenschaft bekämpft hat und ein Opfer ihres Fanatismus geworden ist. Voltaire lässt ihn darum mit kühlem Respekt als Urheber der Religion einer guten Moral gelten, an dem immerhin etwas nicht Gewöhnliches müsse gewesen sein, um auch nur einigermaassen sich damit Eingang zu verschaffen. Allein mit dem bittersten Hohn übergiesst er unermüdlich das Christenthum, dass dieses Jesum selbst zum Gegenstand göttlicher Verehrung gemacht habe, und mit unverhehltem Widerwillen lässt er es nur als eine einstweilen nothwendige Anbequemung an die eingewurzelte Gewohnheit zu, diesen für uns eigentlich völlig überflüssigen Namen doch auch ferner noch bei der Predigt der einfachen Moralreligion zu brauchen. Von einem tiefern Verständniss, auch nur rein geschichtlich, geschweige denn religiös, auch hier keine Spur. Eine höchst merkwürdige Persönlichkeit, zu der Voltaire ganz ähnlich gestanden, wie Lessing zu Reimarus, hat Strauss erst in's rechte Licht gestellt, j a überhaupt erst eigentlich an's Licht gezogen. Es ist dies der Pfarrer Meslier. Ein katholischer Dorfpfarrer, der in dem Dorfe Etrepigny in der Champagne 1729 ge-

Voltaire von Strauss.

243

storben war, hatte ein „Testament" hinterlassen, von dem Voltaire schon 1735 Eenntniss bekam und von dem er 1762 einen Aaszug durch den Druck verbreitete. Warum er das Testament nicht vollständig mittheilte, das hatte seinen Grund darin, dass dasselbe ihm in manchen Stücken denn doch zu weit, in seinen sozialen Tendenzen aber geradezu wider den Strich ging, wenn es schon nur der Schalk Voltaire ist, der von „schauderndem Entsetzen" schreibt, mit dem er das Buch gelesen. Unter dem „Lesenswerthen" des Buches verstand Voltaire alles, was gegen das Christenthum ging; unter dem „Nichtlesenswerthen", was auch gegen den Gottesglauben überhaupt gerichtet war, und unter dem „Empörenden" vorzugsweise die Stellen, wo. der auch über die politisch-sozialen Zustände seiner Zeit erbitterte Pfarrer sich bis zur Empfehlung des Königsmordes hinreissen liess. Von dem Erstem giebt Voltaire einen bündigen Auszug; das Uebrige bedeckt er mit vorsichtigem Schweigen. Was er mittheilt, sind die Beweisführungen des Pfarrers, dass die christliche Religion weder göttlich noch wahr sei; dass überhaupt alle Religionen auf Lüge und Betrug beruhen; dass die biblischen Bücher weder von Gott eingegeben, noch als menschliche Bücher glaubwürdig oder bedeutend seien; dass die Lehre der christlichen Kirche ein Gewebe des krassesten Aberglaubens, dass Jesus selbst, weit entfernt von jedem Anspruch auf eine höhere Würde, ein äusserst unbedeutender und verächtlicher Mensch gewesen sei (S. 257). Erst 1864 ist das „Testament" des Pfarrers Meslier vollständig veröffentlicht worden und Strauss giebt uns in der zweiten Beilage nähere Eenntniss von dessen Verfasser und Inhalt. Von 1692 bis wahrscheinlich 1729 war derselbe Pfarrer in Etrdpigny. Er zeichnete sich durch Strenge und Eingezogenheit des Wandels, durch Uneigennützigkeit und Wohlthätigkeit aus. Die Zerwürfnisse, in die er mit dem Edelmann des Orts und weiter selbst mit dem Erzbischof gerieth, zeugen nur für den sittlichen Ernst, mit dem er ohne Menschenfurcht die Pflichten seines Amtes erfüllte. Und dieser Pfarrer hinterliess handschriftlich in drei Exemplaren ein „Testament", worin er seinen Pfarrkindern, denen er zeitlebens den christkatholischen Glauben und Gehorsam gegen ihre Obrig16*

244

Voltaire von Strauss.

keit gepredigt hatte, seine wahren und eigentlichen Ueberzeugungen eröffnete. „Ich habe gesehen und erkannt die Irrthümer, die Missbräuche, die Eitelkeiten, Thorheiten und Schlechtigkeiten der Menschen, ich habe sie gehasst und verwünscht; ich habe nicht gewagt, es zu sagen bei meinem Leben; aber ich will es wenigstens im Tode und nach meinem Tode sagen." Sein Testament ist eine philosophisch-theologische, aber eben so sehr eine politische Absageschrift, in der ein Verstorbener im Tod den Mund über einen Gegensatz öffnet, der ihn im Leben um so schwerer gedrückt hatte, je fester er denselben in sich hatte verschliessen müssen (S. 391). Und fürwahr, schwer muss es den guten Pfarrer gedrückt haben; denn schneidend genug bricht er nun hervor. Die Religion ist für Meslier nur eine Erfindung des Staates, um seinen Ungerechtigkeiten einen höhern Stempel zu geben. Er greift sie (und zwar mit Waffen aus der cartesianischen Philosophie) radikal bis auf die Wurzel an, während Voltaire doch noch das Dasein Gottes unangetastet lassen wollte. Aber das letzte Ziel seines Angriffs war der Staat. Von den schreienden Missständen in Staat und Gesellschaft, unter denen der Dorfpfarrer das Volk seufzen sah und selbst mitseufzte, im Gefühl der allgemeinen Menschenrechte bis in's Innerste seines redlichen Herzens empört, malte er sich das Ideal eines sozialistischen Naturstaates aus. Der Widerspruch, der in diesem Begriff liegt, spiegelt sich in den Gefühlswidersprüchen ab, die in naivem Kontrast bei ihm hervorbrechen. Der Mann, dessen weiches Gemüth es erbarmte, ein Huhn schlachten zu lassen, beschwört mit glühendem Fanatismus die edeln Tyrannenmörder der Vorzeit herauf, nicht bloss die in der französischen Rhetorik bis auf unsere Zeit als landläufige Redefigur unschuldigen des klassischen Alterthums, sondern ans der nahen Vergangenheit einen Jacques Clement, einen Ravaillac. Dies Gemisch von Sentimentalität und Blutfanatismus, und weiter in den Ansichten über Staat und Gesellschaft von zutreffend scharfem Urtheil über die Wirklichkeit nnd kindische Phantasterei über das anzustrebende Ideal, — wie abstossend sonst, bei diesem Mann erweckt es das tiefste Mitgefühl für eine edle Se6le, wel-

Voltaire von Strauss.

245

eher die zermalmende Last einer nach allen Seiten hin widerspruchsvollen Wirklichkeit einen solchen Nothschrei auspresste. Welche Kämpfe müssen ein ganzes langes Leben hindurch in der Brust dieses offenbar ernstgesinnten Dorfpfarrers, ohne Versöhnung zu finden, gewühlt haben! Wer mag den ersten Stein auf ihn werfen? Und wer wird, obgleich er in der Verneinung aller religiösen Lehren noch viel weiter geht, als Voltaire, bei ihm nicht doch einen ungleich tiefern Fond von Religion herausfühlen, als bei dem letztern? Doch kehren wir nun wieder zu diesem zurück, und zwar nur, um noch auf Einen Punkt einzugehen, auf dem unser Weg von Strauss abgeht. Es betrifft Voltaire's Verhalten zu* den Uebungen der Kirche. Strauss erzählt uns das Possenspiel, das der 74jährige Voltaire mit einer für dieses Alter staunenswerten physischen Zähigkeit und — nicht Jugendlichkeit zwar, aber doch Jungenhaftigkeit durchführte, um sich von seinem Pfarrer in Ferney Beichte und Absolution zu erzwingen. Später, vor seinem Sterben, liess er 6ich's ebenfalls nicht nehmen, die letzte Beichte abzulegen, bei welchem Anlass er auch ein christ-katholisches Glaubensbekenntniss von sich gab, das er freilich schon zum voraus durch ein anderes dementirt hatte. Nachher, von einem Freund befragt, ob er also wirklich geheichtet habe, gab er die Antwort: „Je nun, Sie wissen ja, wie es hier zu Lande zugeht; man muss ein wenig heulen mit den Wölfen; und wenn ich an den Ufern des Ganges wäre, wollt ich mit einem Kuhschwanz in der Hand sterben:" — der unverwüstliche Spötter auch noch auf dem Todbette. Strauss bemerkt bei der Erzählung der ersten Geschichte: „Die Stellung, die sich Voltaire zu den Gebräuchen seiner Kirche gab, ist von der Art, wie sich in unseren Tagen Männer von entsprechender Denkart dazu stellen, so ziemlich das Gegentheil. Wir lassen. uns mit jenen Dingen nur insoweit ein, als wir es ohne bürgerliche Verdriesslichkeiten für uns und die Unsrigen nicht vermeiden können. Voltaire im Gegentheil betrachtete es als Ehrensache, sich von der Geistlichkeit den Antheil an jenen Uebungen, so lächerlich sie ihm auch im Innern waren, nicht entziehen zu lassen. Und das that er nicht bloss, um den

246

Voltaire von Strauss.

bürgerlichen Nachtheilen zu entgehen, die sich an solche Ausschliessung knüpften and die damals allerdings noch ungleich bedeutender waren, als sie es heute selbst in der katholischen Kirche sind" (S. 311). Es war allerdings bei Voltaire zunächst, aus seinem Spötternaturell heraus, ein Possenspiel mit der Geistlichkeit, das ihm unendliches Vergnügen machte. Uns stösst nun freilich dies ab; auch ganz abgesehen davon, dass — mir wenigstens — ein greiser Farcenmacher ein nicht minder widrige Erscheinung ist, als ein greiser Geck. Aber die Sache hat noch eine andere Seite, die nicht sowohl in der Beurtheilung Voltaire's, als für die Beurtheilung der entgegengesetzten Stellung, welche „in unsern Tagen die Männer von entsprechender Denkart" zu den Gebräuchen der Kirche einnehmen, in Betracht kommt. „Die Männer von entsprechender Denkweise in unsern Tagen" — wer sind denn eigentlich die? Etwa diejenigen, welche die gesammte Denkweise über religiöse Dinge, die damals vor andern Voltaire zu allgemeiner Verbreitung gebracht hat, heute noch in seiner Weise theilen, die Voltaireaner, denen die Kirche, überhaupt jeder Organismus der religiösen Gemeinschaft, nur als Träger des Aberglaubens gilt? Allein dies wären in Wahrheit nur noch Nachzügler, während Voltaire immerhin ein Bahnbrecher war: Nachzügler, die zurückgeblieben sind — ich meine nicht hinter dem Zug einer seither neuerstarkten Altkirchlichkeit, wohl aber hinter dem wirklichen Fortschritt der allgemeinen Bildung, hinter dem Fortschritt im Verständniss des Wesens der Religion und ihrer Bedeutung im Menschheitsleben. Diese blossen Nachzügler, wo Voltaire Bahnbrecher war, kann doch Strauss mit jenen Männern von entsprechender Denkart in unsern Tagen nicht meinen, wenn er im Namen der letztern redet: „wir" lassen uns mit jenen Dingen etc." Nein die Männer von entsprechender Denkart in unsern Tagen, die Strauss allein wird vertreten , wollen, sind vielmehr die, welche in der Verstandesaufklärung auf religiösem Gebiete herrschender Autorität gegenüber in unserer Zeit ebenso frei und der Menge voran sind als Bahnbrecher, wie Voltaire zu seiner Zeit gewesen ist. In dieser Namen kann Strauss allerdings reden, denn er ist unter ihren Ersten. Nun aber: ist jenes einfache

Voltaire von StrausB.

247

Sichfernhalten von der Kirche, jenes indifferente Unbehelligtbleibenwollen von ihr wirklich die wahre Stellung dieser Männer zur Kirche? Dass sie sehr allgemein jene Stellung zu derselben einnehmen, ist richtig, und ebenso richtig, dass manchenorts von der Kirche aus alles geschieht, um eine solche Stellung der Gebildeten zu ihr gerechtfertigt erscheinen, j a als allein möglich übrig zu lassen. Aber, ist es an und für sich die wahre Stellung der Träger der Bildung der Kirche? Liegt in dem, dass Voltaire — in der Fratze allerdings und in zu frivolem Maass — die Kirche gelegentlich zwingen wollte, auch ihm zu Wilsen zu sein, nicht doch eine Wahrheit? Wenn die Religion — in welcher Form ihrer Vorstellungen und Aeusserungen immer — ein wesentlicher Bestandtheil des menschlichen Geisteslebens ist, eine n o t wendige Aeusserung aus dem Grund seines Wesens heraus; wenn die Aeusserung der Religion in ihren Vorstellungen und in ihren Gesellschaftsformen psychologischen und geschichtlichen Gesetzen unterworfen ist; wenn diese nichts Gleichgültiges für das Gesellschaftsleben sind, sondern von tiefsteingreifender Bedeutung; wenn dies alles ist — und d a s s es sei, ohne diese Einsicht ist der Anspruch, auf der Höhe der Verstandesbildung unserer Zeit zu stehen, in wessen Mund immer, nur eine hohle Nachbeteranmaassung —, wenn also dieses alles ist: ist es dann die wahre Stellung, wenn die Gebildeten, die sich als die Träger der Aüfklärüng in religiösen Dingen betrachten, das Gebiet der Kirche und all ihr Thun indifferent denen überlassen, die sich noch damit abgeben mögen? wenn sie für ihre Person nichts anderes von ihr begehren, als möglichst unbehelligt von ihr zu bleiben? Nein. Es wäre das Wahre, wenn die Religion und ihre gesellschaftliche Gestaltung zur Kirche wirklich etwas für die gesunde Entwicklung des gesammten Gesellschaftslebens Gleichgültiges wäre. Es könnte das Wahre sein, wenn durch die indifferente Nichtbetheiligung der vernünftig und gesund Denkenden das Ungesunde und Unvernünftige von selbst zum Absterben gebracht würde, indem die Kirche sich dann endlich von sich aus herbeiliesse, den ihr den Rücken Kehrenden ihrerseits wieder entgegenzukommen. Das ist aber nicht der Fall. Das Erste nicht und auch nicht das

248

Voltaire von Strauss.

Zweite. Das Erste nicht. Wenn schon schliesslich es eines jeden persönliche Sache ist und bleiben muss, in welcher Façon er versuchen will, selig zu werden, indem er es doch nur in einer seiner ganzen Geistesweise entsprechenden werden kann, so ist es für die Gesellschaft doch nichts weniger als einerlei, in welcher Façon ihre Glieder dies versuchen. Ob auf gesunde oder auf ungesunde Weise, das bleibt durchaus nicht blosse Privatsache, die andere nicht berührt; es influenzirt direkt und indirekt durch hundert Kanäle auf die Gesundheit des Gesellschaftslebens überhaupt, und keiner, wie indifferent er sich für seine eigene Person dazu verhalten zu können meint, bleibt — um nur den schwächsten Ausdruck zu brauchen — davon unbehelligt. Nur Hohlköpfe von Politikern ziehen aus dem modernen Staatsgrundsatz der Glaubens- und Kultusfreiheit die Folgerung, die Religion der Staatsangehörigen sei überhaupt eine für's Allgemeine ganz gleichgültige Privatsache, resp. Privatliebhaberei. — Aber auch das Zweite nicht. Wenn die Gebildeten sich indifferent von der Kirche abwenden, so bewirken sie damit nicht etwa, dass die Kirche, um sie wieder zu gewinnen, von selber abzustreifen anfange, was jene von ihr abstösst. Im Gegentheil. Dann aber schrumpft sie nicht etwa in sich zusammen und stirbt zuletzt ganz ab, um etwas Gesunderem und Lebenskräftigerem von selbst Platz zu machen, sondern die unvertilgliche Lebenskräftigkeit der Religion im Menschengeiste treibt dann nur, wenn nicht in fortwährender Wechselwirkung mit der intellektuellen Bildung in Zucht erhalten, aus dem sinnlichen Boden der menschlichen Natur Unkraut hervor, das, ungehemmt sich selbst überlassen, immer weiter wuchert, bis die, welche sich einfach nicht darum bekümmern wollten, bald genug inne werden, dass es seine Wurzeln auch in ihren Garten hinein verbreitet. Kurz, es ist nicht das Wahre, wenn die Männer, die wirklich an der Spitze der Aufklärung stehen, vom Leben und Treiben der Kirche, innert deren gesellschaftlichem Boden sie leben, sich indifferent abwenden, weil diese, naturgemäss schwerfälliger, ihnen nicht nachkommt; sie verstärken damit nur das Bleigewicht, das jene der Freiheitsentwicklung anhängen kann, und haben schliesslich doch ebenfalls mit

Voltaire von Strauss.

249

an demselben zu tragen. Ich spreche das als allgemeinen Grundsatz aus,-nicht als Forderung an den Einzelnen und für den einzelnen Fall. Am wenigsten Strauss gegenüber. Wer in der Theologie für wissenschaftliche Aufklärung gearbeitet hat, wie er, und wer dafür den Dank geerndtet hat, den er, dem mag es schliesslich schon verleiden, sich wieder um die Kirche zu bemühen. Aber als allgemeinen Grundsatz für das Verhalten der Freidenkenden gegenüber der wie immer auch unfreien Kirche kann ich jenes indifferente, nur unbehelligt bleiben wollende Gehenlassen nicht anerkennen. Es ist etwas an dem, was Voltaire, freilich nur fratzenhaft und spottweise, that: die Freidenkenden sollen die Kirche nöthigen, auch ihnen zu dienen. Man kann von der kirchlichen und von der andern Seite dieses Wort mit wenig Witz leicht verdrehen und in verkehrter Ausdeutung lächerlich machen. Sei's; wie ich's verstanden wissen will, liegt doch auf der Hand; wie angewendet, das auszuführen ist hingegen hier nicht der Ort. War doch schon das Gesagte nur eine Abschweifung, zu der mich eine beiläufige Aeusserung von Strauss auch nur beiläufig veranlasst hat.

IX. Welches sind die dringendsten Aufgaben der protestantischen Apologetik in der Gegenwart? Vortrag an der 34. Jahresversammlung der Schweiz, reformirten Predigergesellschaft in Zürich am 25. August 1874.

Liebe Väter und Brüder! Es sind mir über mein Thema sieben Referate zugekommen: zwei aus Genf und W a a d t , positiver Richtung, die in geistreicher Behandlung mir einen interessanten Einblick in den Stand der Dinge in der französischen Wissenschaft gegeben haben; zwei frisch und kurz angebunden polemische, baslerischen Ursprungs, aus Thurgau und S c h a f f h a u s e n , und drei bernische, von verschiedenen Schattirungen der Vermittlungstheologie; von der sogenannten Reformtheologie keins: man dachte wohl, das werde ich schon selber besorgen. Diese Referate gehen in Auswahl und. Behandlung des Stoffes so auseinander, dass schon dies allein mich würde darauf angewiesen haben, meinen eigenen Weg einzuschlagen. Immerhin aber bin ich den Herren Referenten allen sehr dankbar; wenn ich auch nur selten direkt auf sie Bezug nehmen werde, so halte ich doch stets, in Zustimmung oder Widerspruch, Fühlung mit ihnen. Unter Apologetik, über deren dringendste Aufgaben in der Gegenwart ich zu reden habe, versteht man gemeinhin die Wissenschaft von der Vertheidigung, oder die wissenschaftliche Verteidigung des Christenthums nach aussen dem Nichtchristlichen gegenüber, und unterscheidet von ihr die Polemik, den wissen-

Welches sind die dringendsten Aufgaben der prot. Apologetik etc.?

251

schaftlichen Streit innerhalb des Christenthums über die wahre Erfassung semer Heilswahrheit. In einer Predigerversammlung, einer Versammlung also von Männern, die alle die Verkündigung des Evangeliums zum Amt und zur Lebensaufgabe haben, sollte die Frage nach den dringendsten Aufgaben der Apologetik ein so natürliches Thema sein, wie vor einer Versammlung von Aerzten die nach den wichtigsten Aufgaben der Heilkunde. Nun sind aber in unserer schweizerisch-reformirten Predigerversammlung — so notorisch, dass davon abzusehen ebenso unmöglich, als durch Bekenntnisse apart Zeugniss abzulegen unnöthig wäre — verschiedene diametral auseinanderstrebende Richtungen vertreten. Darum hat vor einer solchen Versammlung das Thema der Apologetik zur Verhandlung zu bringen die irenische Voraussetzung der Anerkennung eines gemeinsamen Grundes hinter den Streitfragen, und den irenischen Zweck, diese Anerkennung aufzufrischen, wenn sie Uber dem Streit drohte verloren zu gehen. Allein wird, j a nrass die Verhandlung über die gemeinsamen Aufgaben nicht vielmehr sofort wieder in einen solchen Streit über dieselben ausmünden, dass als Resultat doch nur der Widerspruch auf dem Platze bleibt? Immerhin anerkennen auch solche unter meinen Referenten, die sich dies nicht anders denken können, übrigens ganz kampflustig dazu bereit sind, wenigstens die irenische Absicht in dem Ausdruck: die „dringendsten" Aufgaben. Gewiss, m. H.; nur verstehe ich dies nicht etwa bloss im Sinn eines N o t h d ü r f t i g s t e n von Gemeinsamkeit, sondern des für Alle gleicherweise Nothwendigsten; nicht als irgend ein Restchen, sondern als den Mittelpunkt. Und nur deswegen habe ich die Behandlung dieses Themas übernommen, um wo möglich diesen Mittelpunkt wieder einmal in den Vordergrund von unser Aller Bewusstsein zu rücken. Ja, grad heraus, wie wir dies Thema mit einander verhandeln können, soll mir die Probe sein, ob unsere Predigergesellschaft, als freie Vereinigung aller unter uns vorhandenen Richtungen, überhaupt noch die Berechtigung einer innern Wahrheit habe. Mir hat sie es, und darum rede ich und rede ich gern. Mir fällt dabei nicht ein den Vogel Strauss zu spielen und den Kopf in den Flugsand apologetischer Allgemein-

252

Welches sind die dringendsten Aufgaben der prot. Apologetik etc.?

heiten zu stecken, um nur unsern Hausstreit nicht zu sehen-, ich muthe das auch keinem von Ihnen zu. Aber ich will beidem, der Vertheidigung nach aussen und dem Streit unter uns, seine Stelle in ihrem Verhältniss zu einander zu bestimmen suchen und werde dabei an das theologische Gewissen aller Eichtungen anklopfen. Eines dabei — und ich bitte Sie es nicht zu vergessen —: wenn ich „Sie" anrede, so spreche ich zu Ihnen, unsern hier versammelten Gästen und Freunden allen persönlich; wenn ich aber zu „Euch" rede, dann habe ich die Richtungen der gegenwärtigen Theologie im Ganzen, wie sie sich literarisch darstellen, im Auge und gebe es dem Selbstbewusstsein eines jeden Einzelnen unter Ihnen anheim, ob und wie weit er meine Ansprache auch auf sich zu beziehen habe. Ich zerfalle mein Thema in die Beantwortung der Fragen: was soll vertheidigt werden? gegen wen? vor wem? von wem? Was muss der Zielpunkt der Vertheidigung sein? und nach all dem: was also sind gegenwärtig die dringendsten Aufgaben dieser Vertheidigung? Nur noch drei Vorbemerkungen. Erstens: das Thema redet von p r o t e s t a n t i s c h e r Apologetik. Das wollte nicht sagen: Apologie des Protestantismus; sondern nur: eine solche Apologie des Christenthums, die durch ihren Geist sich als ächt protestan-, tisch erwiese. Der Zusatz sollte unsere Versammlung nur daran mahnen, dass wir doch alle protestantische Geistliche heissen und uns darum auch als solche bewähren sollen. Zweitens: wir haben hier unmittelbar nur Von der theoretischen Vertheidigung der christlichen Wahrheit zu reden. Lassen wir diese Nutzanwendung auf die p r a k t i s c h e , wie sehr Ihnen als Geistlichen diese am nächsten liegen und am wichtigsten sein mag, auch in der Diskussion bei Seite. Auch das an seinem Ort Beherzigenswertheste aus diesem Kapitel könnte in der Diskussion Uber unser Thema leicht nur als Phrase herauskommen. Drittens endlich: ich habe nur die A u f g a b e n der Apologetik zu fixiren; rechnen Sie es mir daher nicht als unvollständige Erfüllung meiner gegenwärtigen Aufgabe an, dass ich nicht auch die Lösung derselben von meinem Standpunkt aus ausführe. Wie reichte hiezu der Rahmen einer

Welches sind die dringendsten Aufgaben der prot. Apologetik etc.?

253

Stunde? Und ohnehin darf ich vielleicht hieftlr geltend machen, dass ich dies bereits anderwärts zn thun versucht habe. Und nun zur Sache. Was soll von der Apologetik vertheidigt werden? Nun, das Evangelium von der christlichen Heilswahrheit. Doch dies ist von vornherein doppelsinnig. Will es bedeuten: das Christenthum als die Heilswahrheit? oder: die Heilswahrheit im Christenthum? Und ist dabei gemeint — verzeihen Sie um der Kürze willen den profanen Ausdruck — das Christenthum brutto? oder das Christenthum netto? die ganze historische Gestalt desselben in Lehre und Leben? oder sein Wesen? Doch auch jenes ist ja nicht einfach nur Eine gegebene Grösse, und welche spezielle geschichtliche Gestalt des Christenthums auch damit gemeint ist und als die Heilswahrheit kurzweg will vertheidigt werden — das Christenthum als die Eine katholische Kirche, als der Protestantismus im altorthodoxen Rahmen, als das Urchristenthum in seiner in der Schrift dokumentirten Gestalt —, jedesmal wird diese spezielle Gestalt eben darum genannt, weil sie mit dem wahren Wesen des Christenthums zusammenfalle, und dasselbe nicht bloss in ihr enthalten sei. Also meinen doch Alle: das Christenthum netto, das was sein Wesen ausmacht, das ist die Heilswahrheit, und dieses hat die Apologetik als solche darzustellen und zu vertheidigen. Allein worin besteht nun dasselbe? Mit andern Worten: wie hat die Apologetik ihr Objekt von vornherein zu beschreiben, damit man doch wisse, was sie vertheidigen will? Hier kommen wir gleich an einen entscheidenden Funkt. Die Apologetik hat den Gegenstand ihrer Verteidigung vorab nicht in irgend welche Sätze, in welchen der christliche Glaube selbst seinen Inhalt ausgesprochen, zu fassen, so dass die Vertheidigung dieser Sätze einfach Eins wäre mit der Vertheidigung des Wesentlichen am Christenthum: mag nun der Inhalt dieser Sätze als eine Thatsache, oder als eine Lehrwahrheit ausgesprochen sein; mag ma.n sie in die Form exakt formulirter Dogmen fassen, oder in Kautschouk-Dogmen, deren Elastizität jeder gerade so berechnet, dass just er selbst noch mit hineinpasst, jede grössere Ausweitung

254

Welches sind die dringendsten Aufgaben der prot. Apologetik etc.?

aber sie zersprengen würde; oder ob man endlich nur einen einzelnen Satz aus dem ganzen christlichen Dogmenkomplex mit Preisgebung aller andern herausnimmt und festhält. Dogma ist Dogma, ob spröde, oder elastisch, oder nur ein Stück. Die Vertheidigung des Wesentlichen am Christenthum von vornherein mit der Vertheidigung irgend eines solchen Dogmas des christlichen Glaubens identificiren ist doktrinäre Befangenheit, welche Heilswahrheit und Lehrsatz für einerlei nimmt. Vielmehr — dies ist meine erste, fundamentale Forderung — hat die Apologetik damit zu beginnen, das Christenthum nach aussen hin auf das Gebiet abzugrenzen, auf dem überhaupt allein von Heils Wahrheit, Wahrheit, die Heilskraft hat, die Rede sein kann: auf das geistige Gebiet der Lebensbeziehung zwischen der einzelnen Persönlichkeit und dem Grund, der Norm und dem Zweck ihres Lebens, kurz auf das Gebiet der Religion. Auf diesem Gebiete hat die Apologetik dann weiter das Wesen der christlichen Religion in dasjenige religiöse Prinzip zu setzen, das in der religiösen Persönlichkeit Jesu sich in der Menschheit und flir die Menschheit aufgeschlossen hat. Damit, dass ich dies, und irgend einen christlichen Lehrsatz, als das Vertheidigungsobjekt der Apologetik bezeichne, setze ich nicht etwas Bestimmtem ein Unbestimmtes gegenüber, nicht einen Satz von fest umgrenztem Sinn und Inhalt etwas vag Yerchwimmendes. 0 nein, etwas in sich sehr Bestimmtes, das die ganze geschichtliche Thatsache des Christenthums von innen heraus bestimmt hat und aus jeder geschichtlichen Gestalt desselben als ihr christlicher Kern zu erkennen ist, wenn man nur überhaupt einmal weiss, worauf man zu sehen hat, — dieses geschichtlich sehr Bestimmte stelle ich als Seele des ganzen geschichtlichen Christenthums gegenüber einer einzelnen, spröd oder elastisch gefassten Gestalt desselben, deren Lebensgrund es ebenfalls ist, in die es aber nicht aufgeht. Worein setzen Sie das Wesen eines lebendigen Individuums? in seine Gestalt als Kind, als Jüngling, als Mann oder als Greis? in seinen Kopf, oder in sonst eines seiner Glieder? oder etwa in ein Atom, von dem sie annehmen, dieses wenigstens bleibe durch seinen ganzen Lebenslauf hindurch im Stoffwechsel unverändert dasselbe?

Welches sind die dringendsten Aufgaben der prot. Apologetik etc.?

255

Nein, Sie setzen es einfach in seine Seele, und fassen diese als das reale Lebensprinzip seines ganzen Daseinsprozesses, das anf jedem Stadium desselben seine Gesammtgestalt und die all seiner einzelnen Glieder im äussern Stoff aus der Natur auspräge. Ist sie darum etwas Unbestimmtes, weil sie selbst nicht in irgend eine einzelne äussere Form iixirt ist? Einfach so aber und nicht anders verhält es sich, wenn ich das Wesentliche am Christenthum als ein religiöses Prinzip fasse und von der Apologetik verlange, sie habe damit zu beginnen, was sie vertheidigen will in das religiöse Prinzip des Christenthums zu setzen und nicht auf irgend einen Lehrsatz desselben, aus irgend einer Zeit, in irgend einer Form, spröd oder elastisch, eng oder weit zu fixiren. Damit stelle ich nicht etwa einer orthodox eng begrenzten eine liberal ins Unbestimmte erweiterte dogmatische Basis gegenüber, sondern einer da wie dort falsch bestimmten die richtig bestimmte, dogmatistischer Befangenheit wie konservativer so liberaler Art die richtige freie wissenschaftliche Methode, mit der dann ein jeder von der bestimmten Form ausgehen mag, in welcher das Christenthum ihm selbst persönliche Glaubensüberzeugung ist. Also das Wesen der Religion als eines Gebietes des geistigen Lebens soll die Apologetik vorab bestimmen in ihrem Verhältniss zu den übrigen Formen des geistigen Lebens und deren Gebieten. Dies Gebiet der Religion soll sie zunächst im Allgemeinen als eine W a h r h e i t vertheidigen gegenüber jeder Auffassung des menschlichen Lebens, die ihr Wesen überhaupt als etwas, in dem Wahrheit enthalten sei, verneint. Nämlich dadurch verneint, dass sie entweder rundweg das eine Glied des Wechselverhältnisses, das die Religion , zu sein beansprucht, in Abrede stellt, oder doch wenigstens die Bedingungen, unter denen allein ein wirkliches Wechselverhältniss zwischen beiden stattfinden kann: irgend welches reales Sein Gottes dem Menschen gegenüber; oder auch nur irgend welche Art von realer Selbstständigkeit beider einander gegenüber. Dies ist der Apologetik fundamentale Aufgabe. — Dann aber hat sie speziell das Verhältniss zwischen Göttlichem und Menschlichem im menschlichen Geistesleben, wie es geschichtlich in der religiösen Persönlichkeit Jesu sich für das religiöse

256

Welches sind die dringendsten Aufgaben der prot. Apologetik etc.?

Leben der Menschheit aufgeschlossen hat, als die religiöse Wahrheit zu vertheidigen, d. h. einfach als das Verhältniss, welches dem Wesen beider Glieder der religiösen Wechselbeziehung allein wahrhaft und ganz entspreche. Sie hat die Aneignung dieses Verhältnisses zum eigenen religiösen Lebensbestand als das Heil für den Menschen, als die wirksame Kraft für seine Bestimmungserfüllung, zu vertheidigen. Vorerst auch wieder im Allgemeinen als Heil überhaupt, gegen einen ausserreligiösen Optimismus, der findet, ein anderes Heil als einfach in der Erfüllung der unmittelbaren Naturbestimmung sei gar nicht nöthig; und gegen einen ausserreligiösen Pessimismus, im allgemeinen Uebel des Daseins überhaupt sei ein positives Heil nicht möglich. Dann aber im Speziellen: in der Aneignung des in Jesu aufgeschlossenen religiösen Verhältnisses zum eigenen Leben wurzle d a s Heil, das wahre, volle, ganze Heil für den Einzelnen wie für die menschliche Gesellschaft. Sie sehen, ich wenigstens bin weit davon entfernt, die Aufgabe der Apologetik inhaltsarm und unbestimmt zu fassen, wenn ich ihr schon verbiete, für dieselbe irgend eine bestimmte dogmatische Basis, eng oder weit, zu fixiren. Das aber ist nun natürlich, dass ein jeder, der die Apologie des Christenthums als Heilswahrheit unternimmt, sie von der ganz bestimmten Form aus unternehmen und durchführen wird, wie er persönlich von ihr erfasst ist und sie erfasst hat. Das kann und soll auch nicht anders sein. Was ich vertheidigen will, muss so, wie ich es vertheidige, von meiner persönlichen Ueberzeugung getragen sein. Darum wird nun allerdings der Apologetik die Polemik gegen andere Fassungen der christlichen Heilswahrheit, die dem Apologeten als Verkehrung und Verkümmerung, als unwahre Verengung oder als unwahre Verflachung, oder auch nur als indirekte Gefährdung derselben erscheinen, Schritt für Schritt zur Seite gehn. Und da sage ich, je schärfer und genauer jeder an seinem Ort die Sache nimmt, zu nehmen befähigt ist, desto besser. Allein ein anderes ist: bei der Vertheidigung des Christenthums gegen seine Verneinung zugleich im Streit gegen andere Vertreter desselben nach seiner wahrsten Fassung zu ringen, und

Welches sind die dringendsten Aufgaben der prot. Apologetik etc.?

257

wieder ein anderes: den eigenen Ausdruck desselben, spröd oder elastisch, für die christliche Heilswahrheit selbst zu erklären und jeden Gegner derselben als Feind des Christenthums anzugreifen. Denn — und damit komme ich zur zweiten Frage — wogegen hat die Apologetik das Christenthum zu vertheidigen? Nun, gegen alle seiner Anerkennung als Evangelium im Wege stehenden Mächte. Das aber ist in allen Gestalten wesentlich Eine: das Fleisch, die materielle Naturbestimmtheit des Menschen so, wie sie sich als die letztbestimmende Macht seines geistigen Lebens geltend macht; denn die Religion will ja wesentlich Erhebung des Menschen aus seiner Naturbestimmtheit zu einer Lebensgemeinschaft mit Gott sein, die christliche speziell zu der der Eindschaft durch Aneignung des Geistes aus Gott. Das Christenthum hat zu allen Zeiten seine Wahrheit gegen die Lehren zu vertheidigen, die aus dem Fleisch als ihrem letzten Bestimmungsgrund stammen. Dies ist der bleibende, der prinzipielle Gegensatz. Zu jeder Zeit aber in der Form, wie auch das Fleisch aus ihr seine Lehre formt: auf dem Boden, wo der Feind steht, muss ihm auch die Vertheidigung entgegentreten und ihre Sache vor dem Bewusstsein der jeweiligen Gegenwart fuhren. Darum reden wir auch jetzt von der Aufgabe der Apologetik in der Gegenwart. Unter dieser Gegenwart haben wir aber hier doch wohl zu verstehen: den menschlichen Geist in seinem gegenwärtigen, auf das Gesammterbe der Vergangenheit und auf den eigenen Erwerb gegründeten geistigen Besitzstand. Auf diesem Boden steht mit dem Feind auch die Jury, vor der die Vertheidigung zu fuhren ist, und darum muss sie auch mit Waffen geführt werden, die auf diesem Boden Anerkennung beanspruchen können. Sonst giebt sie sich preis, auch wenn sie sich in die Trostphrase hüllt, als ewige bedürfe die christliche Wahrheit der Vertheidigung vor der Gegenwart nicht. Den geistigen Boden der Gegenwart glaube ich nun für das, was hier in Betracht kommt, am präzisesten durch eine Doppelforderung, die sie stellt, bezeichnen zu können. Erstens: in geistigen Dingen darf in letzter Instanz nie blosse Autorität, B i e d e r m a n n , Vorträge und Aufsätze.

[7

258

Welches sind die dringendsten Aufgaben der prot. Apologetik etc.?

sondern kann nnr eigene Einsicht entscheiden, was als Wahrheit anzuerkennen sei: — das formale Prinzip freier Forschung auf allen Gebieten. Und zweitens: wirkliche Einsicht giebt aber nur Verstandesverarbeitung der objektiven Erfahrung, nicht blosse subjektive Phantasieanschauung; d h. den Anspruch auf Anerkennung als etwas Reales und Wirkliches fttr uns hat nur, was uns in objektiver Erfahrung gegeben ist und aus dieser nach den ebenfalls durch die Erfahrung bewahrheiteten logischen Gesetzen des Verstandes kann erschlossen werden; nicht aber Vorstellungen, die sich nur als Produkte unseres eigenen Geistes auszuweisen vermögen: — dies das Materialprinzip aller Wissenschaft der Gegenwart. Halten Sie im Geist Umschau über alle Gebiete des modernen Geisteslebens: Sie werden mir zugestehen, dass der spezifische Charakter der Gegenwart in jenen zwei Forderungen seinen Nerv hat. Und die Gegenwart steht mit denselben im Recht. Oder wollte jemand es im Ernst wagen, sie in dieser Allgemeinheit zu bestreiten? Das aber ist etwas ganz anderes, wie sie im Speziellen verstanden und verwendet werden. Der wahre und der falsche Verstand, die richtige und verkehrte Anwendung derselben in allen möglichen Abstufungen und Mischungen, — dies alles zusammen macht den Geist der Gegenwart aus, mit all seinen charakteristischen Licht- und Schattenseiten. Daher fallt es mir auch im Traume nicht ein, das „moderne Bewusstsein" kurzweg zum entscheidenden R i c h t e r in irgend einer geistigen Frage, am wenigsten in unserer vorliegenden, zu machen. Aber die J u r y ist es, vor der die Vertheidigung des Christenthums auf der Grundlage jener zwei Forderungen zu führen ist. Der Lehren nun, die auf diesem Boden der Gegenwart der Anerkennung des Evangeliums am gefährlichsten im Wege stehn, giebt es wesentlich zwei Arten, die, obgleich einander direkt entgegengesetzt, doch auf den gleichen letzten Grund zurückgehn, auf das Fleisch als bestimmende Macht in geistigen Dingen. Der einen Art sind solche Lehren, welche sich als die allein wahre Auffassung und konsequente Durchführung jener zwei Forderungen der Gegeuwart geltend machen und dadurch, wie

Welches sind die dringendsten Aufgaben der prot. Apologetik etc.?

259

sie es thun, das Christenthum in seinem Kern aufzuheben vermeinen. Der andern Art aber sind solche Lehren des Christenthums selbst, die sein Wesen mit einer jenen Forderungen notorisch widersprechenden und darum von ihnen ebenso entschieden antiquirten Form grundsätzlich so identifiziren, dass, wenn sie damit Recht hätten, ebenso sicher und gewiss auch das Christenthum auf dem Boden der Gegenwart mit antiquirt wäre. Diese beiden Arten von Lehren rufen einander durch den Gegensatz hervor und dienen daher auch einander immer wieder unwillkürlich zum Stützpunkt. Sie gehen auf denselben letzten Grund zurück, sind Kinder der Einen der christlichen Heilswahrheit essentiell widerstrebenden Macht, des Fleisches, nur Kinder aus verschiedener Ehe. Feinde des Christenthums von der ersten Art sind alle die Theorien, welche jene Forderungen der Gegenwart, so oder so modifizirt, in letzter Instanz dahin zuspitzen: Nur die Sinne und der ihnen erschlossene Naturlauf geben Einsicht; o b j e k t i v e Erf a h r u n g ist daher nur die sinnliche, und deswegen ist ein w i r k l i c h e s , r e a l e s Sein nur dem den Sinnen wahrnehmb a r e n , der Materie und ihrer Bewegung, zuzuschreiben. Was wir das Geistige nennen, ist nur deren P r o d u k t , ein Accidens an ihr als Substanz. Es kommt ihm auch in der Gestalt, wie es das Geistesleben des Menschen ausmacht (in welcher Form es allerdings unser nächstes Erfahrungsobjekt ist) kein Realgrund als die Materie, kein reales Sein in sich selbst seinem materiellen Substrat gegenüber, kein Zweck für sich selbst, keine Freiheit der Selbstbestimmung zur Erfüllung seiner Bestimmung und darum auch keine auf ihm selbst haftende Schuld der Nichterfüllung zu. Kurz, es sind dies alle die Theorien, welche, so oder so modifizirt, den Namen des Sensualismus und Materialismus verdienen. Dass alle Lehren, die wesentlich dahin ausmünden, im Grundwiderspruch stehn .mit dem Christenthum und es im innersten Kerne verneinen, liegt so sehr auf der Hand, dass es zu sagen fast eine Tautologie ist. Denn als Religion will das Christenthum ja nichts anderes sein als die Beziehung des 17*

260

Welches sind die dringendsten Aufgaben der prot. Apologetik etc.?

menschlichen Ich in einer Eigenschaft, die ihm hier gerade abgesprochen wird, auf ein Objekt, dessen Realität hier ebenfalls von Grand aus verneint ist. Diesen Theorien gegenüber wird die Aufgabe der Apologetik die sein, aufzuzeigen, wie aus jenen Forderungen der Gegenwart dergleichen Konsequenzen wohl mit Schein gezogen werden können, sobald dabei das Fleisch das Denken beherrscht; aber auch nachzuweisen, dass und warum es in Wahrheit nur Konsequenzen eines geistlosen Denkens sind. Die Lehren der zweiten Art, die das Wesen des Christenthums mit einer jenen Forderungen der Gegenwart in ihrem Kern widersprechenden geschichtlichen Form seines Ausdrucks so identifiziren, dass, wenn dies wahr wäre, die Gegenwart das Christenthum selbst mit derselben für antiquirt erklären müsste, — die Lehren dieser zweiten Art, gegen welche die Apologetik sich in der Gegenwart ebensosehr zu kehren hat wie gegen die entgegengesetzten, weil sie der Anerkennung des Christenthums auf dem Boden der Gegenwart nicht minder im Wege stehen, will ich hier ebenfalls nur nach ihrem Kernpunkt bezeichnen: nach der formalen Seite als Positivismus, nach der materialen als Mythologie. Positivismus oder positivistische Theologie (noch wohl zu unterscheiden von positiver) nenne ich hier alle diejenigen Lehren vom Christenthum, welche eine notorisch menschlich bedingte und damit endlich umschriebene Autorität als letztinstanzliche Autorität für das, was Heilswahrheit sei, geltend machen, — sei's nun die infallible katholische Kirche, mit oder ohne Papst, sei es der Lehrbegriff eines altprotestantischen Orthodoxismus (wieder nicht eins mit Orthodoxie), sei's endlich die Bibel, kurzweg als das Wort Gottes hingestellt. Mythologie nenne ich alle die Auffassungen der christlichen Heilswahrheit, welche die religiösen, im Geistesleben des Menschen vorgehenden Prozesse zwischen dem Uebersinnlichen und dem Sinnlichen, zwischen Gott und Welt, vor allem die christlichen Offenbarungs- und Heilsprozesse, notorisch nach Analogie physischer sinnlicher Vorgänge nehmen, nur von einer den natürlichen Vorgängen entgegengesetzten Art,- und dies nun gerade für die Realität der christlichen Wahr-

Welches sind die dringendsten Aufgaben der prot. Apologetik etc.?

261

heit erklären, die wirklich geistige Fassung jener Prozesse aber für eine Verflüchtigung derselben. Doch — bin ich hier nicht selber mitten in die vorhin von mir verpönte Unterschiebung der Polemik an die Stelle der Apologetik gerathen? Mit nichten! Für's erste wollen ja auch die allergläubigsten Theologen in der Gegenwart — alle unter Ihnen werden dies ganz gewiss des allerangelegentlichsten versichern — alles notorisch bloss Autoritätsmässige und alles notorisch Mythologische durch geistige Vermittlung von ihren Theo-rien des christlichen Glaubens unterscheiden. Und für's zweite fallt es mir gar nicht ein — auch wenn ich für mich überzeugt bin, dass es mit den meisten dieser Vermittlungen doch auf einen nur durch Phrasen verdeckten Rest blossen Autoritätsglaubens und wirklicher Mythologie hinausläuft —, es fällt mir gar nicht ein, zu verlangen, dass die Vertheidigung der christlichen Wahrheit damit beginnen solle, dergleichen Anschauungen für widerchristlich, also für einen Ausdruck des Gegentheils der christlichen Wahrheit zu erklären. Ich müsste ja nicht wissen, dass dieselbe einst, ja ursprünglich, wirklich in solchen Vorstellungen aus der Anschauungsweise jener Zeiten sich ihren natürlichen Ausdruck gegeben hat. Aber die christliche Wahrheit als religiöse Heilswahrheit steht und fällt nicht mit diesen mythologischen Vorstellungen. Glaube jeder unter Ihnen z. B. an Wunder, wie er kann und mag. DaSs er sich diesen seinen Glauben irgendwie geistig vermittle, dass muss und will ich ihm vor der Hand glauben und habe insoweit in der Apologetik nichts wider ihn. Nur mache er den Glauben an Wunder, Wunder im physischen Sinn, die dem Bewusstsein der Gegenwart eine mythologische Vorstellung sind, nicht zum nothwendigen Bestandtheil des Christenthums. Hiegegen freilich müsste die Apologetik sich kehren; denn damit wäre es mit der Anerkennung des Christenthums auf dem Boden der Gegenwart vorbei. Gleich gerecht und billig nach beiden Seiten habe ich darum als Lehren, welche auf dem Boden der Gegenwart dem Christenthum gefahrlich sind, weil sie, wenn sie Recht behielten, es von diesem Boden verdrängten, und gegen welche daher die Apolo-

262

Welches sind die dringendsten Aufgaben der prot. Apologetik etc.?

getik die christliche Wahrheit zu wahren hat, nur solche bezeichnet, die notorisch diese Wirkung haben mtissten: die einen mit, die andern wider ihren Willen; auf der einen Seite die, welche selbst darauf aus sind, es zu verneinen, auf der andern die, welche die Gegenwart zwingen würden ihm den Rücken zu kehren. — Uneingeschränkt aber bleibe dabei der Polemik ihr Spielraum, dass alle Theorien, die das Christenthum vertreten wollen, einander darauf ansehen und prüfen, ob die gegnerische in Wahr,heit nicht doch zuletzt auf das eine oder das andere hinausmünde. Hingegen als Bundesgenossen sollen ihre Träger einander gelten lassen und behandeln, so lange sie sich zur Bundesgenossenschaft in der Vertheidigung des Christenthums zusammenfinden. Befugt aber ist hierzu nicht bloss, sondern muss sich auch aufgefordert fühlen ein jeder, dem 1) in seinem persönlichen Glauben die religiöse Wahrheit des Christenthums Heilswahrheit ist, der 2) diese seine persönliche Glaubensüberzeugung auch wissenschaftlich zu vertreten sich getraut und der 3) auf dem Boden der Gegenwart nicht ein Fremdling, sondern zu Hause ist. Nun ist es aber nicht ein blosser Uebel- oder N o t h s t a n d der Gegenwart, sondern der ganz natürliche Zustand, der überall nothwendig eintritt, sobald die Freiheit des Denkens einer kirchliehen Autorität gegenüber zum Worte kommt, dass diese Bundesgenossen nicht alle einer Art sind und die Vertheidigung nicht nach einer Richtung hin führen, sondern wesentlich nach drei Richtungen hin. Dies ist im Wesen der Religion selbst begründet und in der Natur des menschlichen Geistes, der zwei Seiten einer Sache immer erst in ihrem Gegensatz fasst und dann erst durch diese Einseitigkeit hindurch in ihrer Einheit verstehen lernt. Die Religion will ein Lebensverhältniss zwischen dem Menschen und Gott sein: soll sie als dies eine innere Wahrheit haben, so muss es mit dem göttlichen und mit dem menschlichen Faktor in ihr gleich ernst gelten. Da legt nun aber die eine Theorie über die Religion ihren Schwerpunkt vorab auf die Betonung der wirklichen Realität des göttlichen Faktors, der Offenbarung; die a n d e r e dagegen auf die Wahrung des menschlichen Faktors; eine dritte endlich, die aus dem Streit beider hervorgeht,

Welches sind die dringendsten Aufgaben der prot. Apologetik 'etc.?

263

in die Vermittlung zwischen den auf beiden Seiten drohenden Einseitigkeiten. Alle Parteinamen für diese relativen Gegensätze in der Auffassung religiöser Dinge, ob selbstgewählt, ob von Gegnern als Spitznamen gegeben, klappen nicht. Entweder sind sie logisch disjunktiv: dann entsprechen sie dem Thatbestand nicht, der nur in einem relativen Gegensatze besteht; oder sie bezeichnen wirklich den Schwerpunkt jeder Richtung: dann schiessen sie logisch an einander vorbei. Dies letztere ist aber gerade ihr wahres Verhältniss; deswegen ist nnd bleibt diejenige Parteibezeichnung, die dies am entschiedensten ausdruckt, doch immer die zutreffendste, wie altmodisch sie, weil geschichtlich für eine spezielle Form des allgemeinen Gegensatzes gestempelt, auch lauten mag: S u p r a n a t u r a l i s m u s und Rationalismus. Jener betont das Supranaturale in der Religion, d. h. den göttlichen Faktor; dieser das Rationelle, das dem menschlichen Geist wirklich entsprechende. Jener aber hätte zum eigentlichen Gegensatz den Naturalismus und dieser den Irrationalismus. Allein dies beides will keine der beiden Richtungen sein; die VermittlungsTheologie aber vermitteln, dass sie es nicht werden. Alle diese Richtungen stehn noch auf dem Boden der Religion und sind damit noch theologische, so lange sie nicht ausschliessende Gegensätze vertreten. Mit dem aber, dass eine darin aufgeht, gerade nur das zu verneinen, was den Schwerpunkt der andern ausmacht, fallt sie über die Grenze des Gebietes, innert dessen die Religion eine Wahrheit ist, hinaus und krystallisirt sich zu einer im Kern religionswidrigen Theorie, hie des Aberglaubens, dort des Unglaubens. — So liegen auf der Linie der natürlichen theologischen Richtungen, die auf die Bundesgenossenschaft zur allseitigen Vertheidigung der religiösen Wahrheit angewiesen sind, abstrakte Extreme, in welchen das menschlich Einseitige, das schon in jenen liegt, in fleischlichen Widerspruch mit dem innersten Wesen der Religion ausgeschlagen hat. — Und nun, nach all dem, welches sind die d r i n g e n d s t e n Aufgaben der Apologetik in der Gegenwart? in der Gegenwart, die keine bloss äussere Autorität gelten lässt, die nur die wirkliche Erfahrung und was der menschliche Geist aus ihr zu er-

264

Welches sind die dringendsten Aufgaben der prot. Apologetik etc.?

härten vermag, als Wahrheit im Vollsinn des Wortes anerkennt, der Gegenwart, in welcher deswegen alle mythologischen Anschauungen der Religion entwurzelt sind und dafür die Neigung zu naturalistischen Theorien sich eingewurzelt hat, — was sind auf diesem Boden die dringendsten Aufgaben, um nicht bloss einem dürftigen Rest von Religion eine dürftige Duldung zu retten, sondern das Christenthum als die Heilswahrheit für das menschliche Geschlecht, also kurzweg das Evangelium zu vertheidigen? Alles, was ich zu antworten habe, kann ich in Eins zusammenfassen und von diesem Einen aus in drei Forderungen aussprechen. Konzentration aller theologischen Richtungen auf den Kern des Christenthums! Wo liegt aber dieser Kern? In nichts anderem als in seinem Wesen als Religion. Nicht zufällig ist's, dass schon einmal, am Anfang unsers Jahrhunderts, Schleiermacher durch diese Konzentration die ganze theologische Wissenschaft neu belebt hat, so dass Unzählige, auch wenn sie dann nachher ganz andere wissenschaftliche Bahnen einschlugen, doch laut es bekannt haben, dass sie ihm ihren christlichen Glauben weder verdankten. Aber was Schleiermacher gethan, ist nicht bloss rühmend unter den Geistesthaten der Vergangenheit zu verzeichnen, sondern stets neu zu thun. Sollte die Mahnung daran etwa nicht nöthig sein? Sie ist es gegenwärtig mehr als je. Jeder Schüler in der Theologie weiss einem Schleiermachers Religionsbegriff herzusagen; aber in den gegenwärtigen Kämpfen um Sein oder Nichtsein der Religion reden nicht bloss die lautesten Schreier, sondern nur allzuoft auch die wirklichen Meister so, als wäre alles, was Schleiermacher über das Wesen der Religion gesagt, von Grund aus und nicht bloss in der besondern Form, in der er es gethan, wieder vergessen. Thun wir alle, was Schleiermacher gethan, stets neu und zwar auf dem Boden der Gegenwart. Was Religion sei, die Gegenwart zu lehren und dieselbe vor ihr zu rechtfertigen als etwas, das innere Wahrheit hat und ist, — fangt nicht damit an, ihr irgend einen, und wär's auch den allerallgemeinsten Glaubenssatz zuzumuthen; lehrt sie, ihren Forde-

Welches sind die dringendsten Aufgaben der prot. Apologetik etc.?

265

rungen gemäss, die Einsicht darein selber finden aus der Erfahrung, wie die Religion im einzelnen Menschengeist und in der Geschichte der Menschheit als Thatsache vorliegt. Lehrt sie aber diese Erfahrungsthatsache der Religion mit Verstand auffassen. Jede Thatsache hat-ihre Ursachen, ein gesetzmässiges Wirken derselben, und in all diesem zusammen offenbart sich ihr Grund. Führt den Verstand der Gegenwart darauf, diesen zu suchen, wie er in den Thatsachen selbst vorliegt-, fallt dabei nicht mit der Thür in's Haus, ihm ohne diese Vermittlung eure eigene Ueberzeugung vom positiven Inhalt der Religion, und wäre es die allerwahrste, zumuthen zu wollen. Als die Erfahrungsthatsache der Religion liegt aber vor, dass im Geistesleben des Menschen eine Wechselbeziehung stattfindet zwischen Endlichem, das er als seine eigene individuelle Bestimmtheit erfährt, und einem Unendlichen dieser gegenüber, welche Wechselbeziehung, aktiv und rezeptiv, unmittelbar vorgeht in seinem Gemüth, wo er beides zusammen und in lebendiger Beziehung aufeinander als Vorgang in seinem Selbstbewusstsein inne wird. Jede Thatsache hat ihren Grund: die psychische Thatsache der Beziehung zwischen Endlichem und Unendlichem im menschlichen Seelenleben muss ihren Grund haben in einem metaphysischen Wesensverhältniss von beidem, das der Verstand, wenn er nicht in abergläubischer Furcht vor Metaphysik, hervorgerufen von einem abergläubischen Missbrauch der Metaphysik, den Kopf verloren hat, auf seinem einfach logischen Wege gar wohl aus der Thatsache der Religion zu finden vermag. Führt ihn darauf, dies zu thun. Dann habt ihr ihn schon darauf geführt, dass selbst der Begriff der Offenbarung in der Thatsache der Religion mitgegeben ist. Was ihr nun aber auch für eure eigene Person für weitere Ueberzeugungen haben möget von Form und Inhalt der Offenbarung, hütet euch davor, diese dem Verstand der Gegenwart auf irgend eine Autorität hin aufdrängen zu wollen. Legt ihm nur die Thatsachen vor, aus denen er den Inhalt der in ihnen enthaltenen Offenbarung auf dem von ihm selbst anerkannten Wege finden kann, um ihn dann in der ihm natürlichen Sprache auszudrücken. Denn als Thatsache der ge-

266

Welches sind die dringendsten Aufgaben der prot. Apologetik etc.?

sammten Religionsgeschichte liegt ebenfalls vor — und das Bewusstsein der Gegenwart weiss so viel, dass je nur der autoritätsgläubige Positivismus jeder Religion dies von der eigenen Religion läugnet, von allen andern aber einsieht —, dass alle Lehren, die den Inhalt der religiösen Offenbarung ausdrücken wollen, stets sich im natürlichen Stoff des menschlichen Geisteslebens haben ausdrücken müssen. Wollt der Gegenwart nicht wehren dasselbe zu thun; weist ihr vielmehr nur den Weg, es auf die rechte Weise zu thun. Dies Vertehe ich darunter, die Vertheidigung des Christenthums vor der Gegenwart auf seinen religiösen Kern zu konzentriren. Und was ist nun das spezifisch Christliche dieses religiösen Kerns? Nichts anderes als dasjenige Verhältniss zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen, zwischen Gott und Welt im Seelenleben des Menschen, welches uns in der religiösen Persönlichkeit Jesu als geistige Thatsache entgegen tritt und in dieser dem religiösen Leben der Menschheit aufgeschlossen ist. Diese Grundthatsache des Christenthums, sein Wesen als Religion, ist das G o t t e s k i n d s c h a f t s v e r h ä l t n i s s . Beachten Sie wohl: ich meine dies nicht als Dogma des christlichen Glaubens, sondern einfach als geschichtliche Thatsache eines religiösen Selbstbewusstseins. Worin besteht nun dies Gotteskindschaftsverhältniss? was alles schliesst es in sich? was setzt es voraus? was verlangt es? was bedingt es? — dies seinem ganzen, aber auch wirklich seinem ganzen Inhalt nach ist der Kern des Christenthums, das Christenthum netto. Konzentrirt euch auf diesen Kern. Sucht ihn aber auch ganz zu fassen und wetteifert nicht miteinander in der Oberflächlichkeit, ihn recht dürftig zu nehmen, um euch dadurch zu rechtfertigen, dass ihr euch nicht darauf konzentriren mögt, sondern allerlei Anderes als die Hauptsache festhaltet und als Christenthum vertheidigt. Führt der Gegenwart allerdings alle Lehren vor, in welchen das Christenthum von seinem Ursprung an sich über seine religiöse Grundthatsache, über deren Voraussetzungen und Konsequenzen Rechenschaft gegeben; führt ihr alle Gestaltungen der sittlichen Welt vor, in welchen es deren Aneignung zum eigenen Lebensgrund ausgeprägt hat; führt der

Welches sind die dringendsten Aufgaben der prot. Apologetik etc.?

267

Gegenwart alles dies vor, lehrt sie es in seinen geschichtlichen Bedingungen kennen, — freilich etwas gründlicher, als es gegenwärtig Literatenmode ist: — aber bleibt auf keinem Punkte dabei stehn, zu sagen: das ist nun das Christenthum kurzweg, nicht mehr und nicht weniger. Zielt vielmehr mit all euerer Belehrung aus der Geschichte des Christenthums auf jenen religiösen Kern in dieser Geschichte hin und konzentrirt sie endlich darauf, was also die Gotteskindschaft als Prinzip des christlich-religiösen Lebens sei, der Gegenwart in der Sprache, die sie als ihre eigene spricht und nicht bloss als eine fremde verstehen gelernt hat, aufzuschliessen. Dann habt ihr das Ohr wieder gewonnen, vor dem ihr dies Christenthum als Heilswahrheit vertheidigen könnt. Anders aber nicht. Konzentrirt euch auf den religiösen Kern des Christenthums, — das gilt euch Theologen allen. Alle Richtungen zusammen sind berufen, aber auch nur alle zusammen im Stande, den Ring der Vertheidigung zu schliessen. Für j e d e gilt aber diese Forderung auf ihrer eigenen Linie. Habt in redlicher wissenschaftlicher Selbstkritik Acht auf euch selbst, dass ihr, ein jeder vom Standort seiner Ueberzeugung aus, im Eifer der Vertheidigung des Christenthums gegen feindliche Mächte von der euch entgegengesetzten Richtung her, nicht unvermerkt in's Ausserchristliche auf euerer eigenen Linie gerathet. Ihr seid S u p r a n a t u r a l i s t e n ; ihr legt euern Schwerpunkt darein, die Realität des Göttlichen in der Religion, im Christenthum die göttliche Offenbarung in der Person Christi, zu wahren; ihr nennt euch darum vorzugsweise g l ä u b i g e , positive Theologen: gut, ihr thut recht daran. Allein zum Wesen der Religion gehört, dass Gott sich dem Menschen wirklich aufschliesse zu einem real gott-menschlichen Verhältniss in ihm selber. Seht euch darum wohl vor, dass ihr mit euerer Vertheidigung der Realität des Göttlichen in der Religion ihren wahrhaft menschlichen Charakter nicht aufhebt, indem ihr auf die schiefe Ebene des Positivismus und der Mythologie gerathet. Je mehr ihr dies beides nicht etwa bloss verblümt und versteckt, sondern wirk-

268

Welches sind die dringendsten Aufgaben der prot. Apologetik etc.?

lieh als fleischlichen Sauerteig aus euerer supranaturalistischen Auffassung der Religion zu entfernen euch bemüht, desto mehr wird es euch gelingen, das Bewusstsein der Gegenwart, das vollberechtigt keinen Positivismus und keine Mythologie mehr will und eher das Christenthum mit verwerfen würde, wenn auch noch nicht sofort davon zu überzeugen, dass ihr wirklich beides von euerer Façon des Christenthums ganz abgestreift habet; aber vorerst doch davon, dass ihr mit euerer Betonung des Supranaturalen in der Religion denn doch etwas Wahres, etwas wirklich Bedeutsames und eine nähere Würdigung Verdienendes vertretet. Ist euch dies zu wenig? gut, so streift nur alles Positivistische und Mythologische noch gründlicher und unzweideutiger ab. Ihr r a t i o n a l e n Theologen, die ihr umgekehrt euer Hauptgewicht darauf legt, der Religion ihren wahrhaft menschlichen Charakter zu vindiciren, die ihr euch deswegen vorzugsweise freisinnig und f o r t s c h r i t t l i c h nennt, weil ihr alle Beschränkung ihrer menschlichen Auffassung abzustreifen bemüht seid: gut, ihr thut recht daran. Allein zum Wesen der Religion gehört wieder, dass in ihr wirklich Gott es ist, Gott dem Menschen gegenüber, der sich in ihr dem Menschen aufschliesst zu einem gott-menschlichen Verhältniss. Sehr euch darum wohl vor, dass ihr in euerem Eifer fllr den wahrhaft menschlichen Charakter (und in diesem Sinn für die Natürlichkeit) der Religion nicht auf die schiefe Ebene des Naturalismus gerathet, indem ihr den göttlichen Faktor in ihr, beim Lichte besehen, zu einem blossen Erzeugniss der menschlichen Vorstellung herabsetzt, und auf diese Weise im Eifer, die Religion von allen ihren Trübungen zu reinigen, nicht auch das, was erst ihr wahres Wesen als Religion ausmacht, für das Bewusstsein der Gegenwart, dass ohnehin diese Neigung hat, mit abwaschet. Ihr endlich, die ihr euch Vermittlungstheologen nennt, weil euer Angelegentlichstes ist, zwischen den Einseitigkeiten, die auf beiden anderen Richtungen dröhn, zu vermitteln: ihr thut ganz recht daran; aber konzentrirt auch ihr euch dabei auf den Kern der Religion. Doch, ihr steht ja schon in der Mitte: gut, so sehet zu, dass ihr nicht fallet, nämlich ins Leere und Hohle,

Welches Bind die dringendsten Aufgaben der prot. Apologetik etc.?

269

indem ihr statt zu vermitteln vielmehr bloss Widersprechendes frachtlos zusammenzukitten euch abmüht. Hütet euch in theologischer Selbstkritik vor euerer spezifischen Gefahr, der theologischen Phraseologie*); konzentrirt euch in Wahrheit auf den Kern der Religion, wie in ihrem Wesen das, was ihr vermitteln wollt, die zusammengehörenden Faktoren einer wirklichen Einheit bildet. Ginget ihr, die ihr euch und die man vorzugsweise die Vermittlungstheologen nennt, noch näher in den Fussstapfen des grossen Meisters der Vermittlungstheologie, so würde ich euch noch vor einer andern Gefahr falscher Vermittlung warnen. Allein euch gegenüber wäre die Warnung unnöthig, da ihr ohnehin schon Angst genug vor diesem Abwege habt. Ich spreche die Warnung aber doch aus, da man sie gewöhnlich nur an eine andere Adresse richtet. Hütet euch vor der falschen Vermittlung, Göttliches und Menschliches in der Religion dadurch ausgleichen zu wollen, dass ihr es identifizirt, und so auf die schiefe Ebene des Pantheismus gerathet. Die mit Recht auf eine einheitliche Weltanschauung ausgehende Gegenwart könnte leicht die naturalistische Seite davon behalten, die Betrachtung von der göttlichen dagegen euch als überflüssige Phrase heimschlagen. Warum aber stelle ich diese Forderung der Konzentration der Apologetik auf das Wesen der Religion als dringendste Aufgabe für alle theologischen Richtungen in der Gegenwart an die Spitze? Ist sie etwa nicht nöthig, weil die verschiedenen Richtungen alle von selbst schon in dieser Bewegung begriffen seien? Einzelne wohl, auf jeder Seite, gewiss; aber im Grossen und Ganzen ebenso gewiss das Gegentheil. Bei der fortschreitenden Abschliessung der theologischen Richtungen zu kirchlichen Parteien, wobei der wissenschaftliche Kern sich unwillkürlich mit einer gröbern populären Schaale zu umgeben bemüht ist, vergröbern sich naturgemäss auch die Richtungen selbst in ihrer Theologie. Das schlechte Beispiel, das Strauss in seinem letzten Bekenntniss gegeben, hat nicht bloss auf seiner eigenen Seite, *) Siehe die Note am Schluss.

270

Welches sind die dringendsten Aufgaben der prot. Apologetik etc.?

sondern auch auf der entgegengesetzten schlimm gewirkt, und dies droht so bald nicht aufzuhören. Der Einzelne folgt der Fahne der Führer und macht's mit den polemischen Stichwörtern um so zuversichtlicher und kürzer ab, je wèniger er sich selbst um ihren Inhalt redliche Mühe gegeben. — Darum reiht sich hier unmittelbar an die erste meine zweite Forderung an die Apologetik in der Gegenwart: T r e u e und Glauben gegen die theologischen Gegner, die man in der Vertheidigung des Christenthums bon gré mal gré zu Bundesgenossen hat. Was zu vertheidigen ist, wird von zwei entgegengesetzten Seiten bedroht: so wird auch die Vertheidigung in entgegengesetzter Richtung geführt werden müssen. Ebendarum sind die verschiedenen Richtungen zur Bundesgenossenschaft angewiesen. „Allein, wenn diese Bundesgenossen in Wahrheit Verräther sind und als verkappte Feinde drinnen gefährlicher als die offenen Gegner draussen? Soll man dann die Vertheidigung nicht damit anfangen, reines Feld zu machen und sie alle hinauszuwerfen?" Das alte Schauspiel: um die Stadt lagert der Feind — und drinnen zerfleischen sich die Parteien! „Aber wenn's nun einmal verkappte Feinde sind? Muss denn nicht, wenn doch Selbstkritik Pflicht sein soll, um nicht den christlichen Schwerpunkt zu verlieren, die Kritik der Andern ebensogut Recht und Pflicht sein? soll man nicht die gegnerischen Richtungen darauf ansehn dürfen, ob sie nicht etwa jenen Schwerpunkt verloren haben und in ihrer vermeintlichen Vertheidigung des Christenthums nicht gerade das vertheidigen, was an ihnen selber das Un- und Widerchristliche ist?" — 0 ganz gewiss! allein, das lautet ja ganz anders: einander prüfen — oder über einander herfallen und einander von vornherein hinauswerfen wollen. Es fällt mir nicht ein, faulen Frieden, oder auch nur Waffenstillstand der theologischen Richtungen in ihrer Vertheidigung des Christenthums zu verlangen. Im ehrlichen Wettstreit um die wahre Fassung der Wahrheit müssen ja nur die Waffen zu ihrer Vertheidigung nach aussen sich schärfen. Was ich verlange, ist vorab nur Treue. und Glauben gegen alle

Welches sind die dringendsten Aufgaben der prot. Apologetik etc.?

271

die, welche sich, wenn auch Rücken an Rücken, als Bundesgenossen der Vertheidigung stellen. Treue und Glauben, dass der theologische Gegner, was er sagt, auch wirklich so glaube und meine, selbst wenn ihr von euch aus urtheilt, er müsste eigentlich das Gegentheil glauben. Wir dürfen keinem Gegner mit subjektiver Konsequenzmacherei unsere Eonsequenzen als seine eigenen zuschieben. Gewiss, zieht einander — ein Standpunkt dem andern — nur alle Konsequenzen nach vor- oder nach rückwärts und nach allen Seiten; je schärfer, desto besser, desto förderlicher für die Wahrheit. Aber seht zu, dass ihr sie für's erste Bachlich richtig zieht. Es ist unendlich viel leichter, die Dinge von seinem eigenen Standpunkt aus in ihrem richtigen Verhältniss zu einander aufzufassen, und was man in der eigenen Ueberzeugung vereint, auch in den sachlichen Zusammenhang zu bringen, der sie rechtfertigt. Zwar schon dies ist eine Sache, mit der in den religiösen Fragen keiner leicht fertig wird, der es nicht leichtfertig damit nimmt. Aber doch ist dieses noch unendlich viel leichter, als sich mit seinem Denken objektiv richtig in einen fremden Standpunkt hinein zu versetzen und die Konsequenzen so zu ziehen, wie sie von diesem aus sich ergeben. Hiezu gehört beides, eine eigene allseitige Prüfung der fraglichen Probleme und eine genaue Kenntniss des fremden Standpunktes. Drum sind's auch zumeist die nachbetenden Schüler, die nach überkommener Schablone euch jeden Augenblick flink an den Fingern herzuzählen wissen, was von jedem Standpunkt aus eigentlich behauptet und was eigentlich geleugnet werden müsse — und also richtig auch wirklich behauptet und geleugnet werde. Diese Liederlichkeit leichtfertigen Aburtheilens geht gerade gegenwärtig im Reden und Schreiben über Religion und Christenthum, für oder wider, im vollen Schwang, bei der wachsenden Süffisance, mit der alle Parteien sich für allein kompetent in Sachen erklären. Dazu kommt noch die natürliche Neigung des menschlichen Herzens, einem gegnerischen Standpunkt seine Konsequenzen so zu ziehn, wie es die Widerlegung am meisten erleichtert. Kehre darum ein jeder erst vor seiner eigenen Thür und sehe erst zu, wie er mit allen Konsequenzen seiner eigenen Grundanschauung

272

Welches sind die dringendsten Aufgaben der prot. Apologetik etc.?

in's Reine komme, damit nicht das Wort vom Splitter und Balken ihn treffe. Ihr gläubigen Theologen von auch nur einiger theologischen Bildung werdet z. B. wissen, was es einem strengen Denken kostet, die menschliche Freiheit der kirchlichen Prädestinationslehre (ich meine nicht bloss der streng calvinischen) gegenüber zu wahren. Ihr solltet darum zurückhaltender sein, als ihr es in der Regel seid, aus Eonsequenzmacherei den Gegnern den Vorwurf der Leugnung der Freiheit an den Kopf zu werfen. Für's zweite seht euch alle vor, dass ihr eure Konsequenzen nicht an die falsche Adresse richtet. Ihr habt Stichwörter für allgemeine Standpunkte; ihr zieht Konsequenzen aus diesen, zugegeben sie seien richtig; ihr subsumirt dann weiter diese und jene Theorie und den, der sie vertritt, mit unter jenes Stichwort, und schiebt nun diesem kurzweg alles zu, was ihr unter die Konsequenzen des mit jenem Stichwort bezeichneten Standpunktes rechnet, — wenn ihr auch schwarz auf weiss nicht nur nichts davon, sondern das direkte Gegentheil vor euch habt. Ich könnte hier aus meiner eigenen Erfahrung ein langes Kapitel erzählen, zu welchen — ich sage nicht verkehrten Urtheilen, nein, einfach thatsächlichen Unwahrheiten mir gegenüber das Hantieren mit dem ehemaligen Modestichwort Pantheismus selbst bessere Gegner verleitet hat, und wie oft ich dadurch in den Fall gekommen bin, mich erstaunt zu fragen, ob der Konsequenzmachcrei des Parteieifers gegenüber das neunte Gebot: „Du sollst kein falsches Zeugniss geben wider deinen Nächsten," seine warnende Kraft denn ganz verloren habe. Der Grundsatz von Treue und Glauben gilt natürlich für alle Polemik; doppelt und dreifach aber gilt er da, wo die Gegner in der Doktrin thatsächlich als Bundesgenossen zusammenstehn zur Vertheidigung dessen, Uber dessen Doktrin sie sich streiten. Denn hier ist von vorne herein eine armselige doktrinäre Befangenheit, die Vertheidigung mit der Kriegserklärung gegen die, welche sie anders fuhren, zu eröflhen. Wenigstens sollte jener Grundsatz die Kampflust der Heisssporne so weit zügeln, dass ihnen nicht unversehens begegnete, dem gegen den Feind gesattelten Streitross verkehrt in den Sattel zu springen. Oder wie soll ich es

Welches sind die dringendsten Aufgaben der prot. Apologetik etc.?

273

anders nennen, wenn in einem der mir eingegangenen Referate „über die Aufgaben der Vertheidigung des Christenthums" die ausführlichste Partie in einem (an Bich ganz geistreich durchgeführten) Versuch des Nachweises besteht, dass die Theologie von Freund Lang eine wesentlich widerchristliche sei? wenn ein anderer den Sammelruf unseres unvergesslichen Hirzel: helft uns wider den Materialismus! mit den trockenen Worten zurückweist: was vertretet ihr denn im Grunde viel Anderes? oder wenn wieder von einem andern kurzweg die „Reformtheologie" als das nächste Objekt dei Apologetik (will natürlich nicht sagen der Vertheidigung, sondern der Abwehr) bezeichnet wird ? Die Naivetät, dies alles an m i c h zu richten, als Beitrag zur Beantwortung der Frage nach den dringendsten Aufgaben der Vertheidigung des Christenthums, hat mich wahrhaft gerührt als Zeichen grossen Vertrauens zu meinem unbefangenen Gleichmuth, dass ich ein auf den Feind gerichtetes, im Eifer aber auf mich angeschlagenes Gewehr schon ruhig zur Seite pariren werde. Warum ich aber Treu und Glauben der theologischen Gegner unter einander zu den dringendsten Aufgaben der Apologetik in der Gegenwart rechne, ist dies. Alle Richtungen hätten, um nicht selber bornirt zu werden und damit auch das Christenthum mit ihrer Vertheidigung bornirt zu machen, es dringendst nöthig, fortwährend von und an einander zu lernen. Je mehr sie sich zu kirchlichen Parteien krystallisiren, hätten sie es um so nöthiger, und thun es um so weniger, so dass faktisch die doktrinäre Befangenheit hüben und drüben in der Zunahme begriffen ist. Ihr schreibt Zeitschriften, alle mit der Tendenz, das Christenthum zu vertreten, die einen als „freies", die andern als „biblisches", oder als „kirchliches", oder wie ihr es nennen mögt. Ihr streitet darüber miteinander: wohl und gut, das versteht sich von selbst. Aber wie viel bemüht ihr euch, auch ehrlich von einander zu lernen, wozu — dies Lob darf ich geben — in den positiven Arbeiten in all euern Blättern Stoff und Anlass genug wäre? Wie oft geht ihr bei den gegnerischen Blättern nur darauf aus, das Gift zu suchen, und antwortet mit Gift? Verlangen Sie nicht von mir, dass ich sage, auf welcher Seite ich die grössere Schuld B i e d e r m a n n , Vorträge und Aufsätze.

jg

274

Welches sind die dringendsten Aufgaben der prot. Apologetik etc.?

finde; Sie würden mich ja doch auch nicht für ganz unparteiisch halten. Aber dessen kann ich Sie versichern, dass es mich gleich sehr bemüht, wenn ich von .hüben wie von drüben durch plumpe Konsequenzmacherei, durch Karrikiren, durch kleinliches Hasseln and Giftein sündigen sehe. Es bemüht mich im Interesse des Gemeinsamen, das ihr doch hüben und drüben vertheidigen wollt und durch solch ärmliches Parteitreiben nur auf das empfindlichste schädigt. Durch jede unwahre, plumpe Konsequenzmacherei gegen einander verstärkt ihr das Widerchristliche nicht nur auf der entgegengesetzten Linie, — das nehmt ihr vielleicht nicht so schwer auf das Gewissen —; sondern auch auf der eigenen, und davon fällt die Schuld ganz auf euch zurück. Wenn euer beidseitiger Laienanhang von der sogenannten gläubigen oder der sogenannten freisinnigen Richtung immer schroffer auseinander geht, — der bornirte Parteigeist unter euch Theologen ist daran Schuld. Endlich hat die Apologetik noch eine d r i t t e dringendste Aufgabe: G e r e c h t i g k e i t gegenüber auch den wider das Christenthum gerichteten Lehren und Billigkeit gegenüber den Vertretern derselben. Nicht leicht wird ja irgend eine Theorie ganz falsch sein und rein aus dem Leeren; an irgend einer Wahrheit hat sie immer ihren Anhalt, und nur so lang diese verkannt und bestritten wird, behält sie einen festen Boden und Stutzpunkt. Mit der Anerkennung und besseren Verwerthung derselben entzieht ihr einer schiefen Theorie diesen Stutzpunkt. Darum muss wer auf dem Boden der Gegenwart das Christenthum wissenschaftlich vertheidigen will, fragen, ob in den widerchristlich auftretenden Lehren der Gegenwart nicht doch auch Wahrheitsmomente vertreten seien, an denen sie einen wirklichen Halt haben; ferner, ob es einerseits bei ihren Vertretern nicht wesentlich nur auf einem Missverstand der christlichen Wahrheit beruhe, dass sie dieselben gegen das Christenthum kehren; ob aber andrerseits an diesem Missverstand nicht etwa auch Unverstand in der gewöhnlichen Verteidigung die Schuld trage. Und allerdings ist dies alles der Fall und zwar in unendlich viel ausgedehnterem Maass, als wir Theologen aller Richtungen, die wir

Welches sind die dringendsten Aufgaben der prot. Apologetik etc.?

275

die Wahrheit so sehr nur ein jeder in seiner Façon zu sehen und wieder zuerkennen gewohnt sind, es gestehen mögen. Erst in unserer eigenen Konzentration auf den innergeistigen religiösen Kern der christliehen Wahrheit gewinnen wir die Unbefangenheit und den freien Boden für die Würdigung von Lehren, die in einem fremdartigen, ja feindlich aussehenden Gewand und verflochten mit wirklich feindlichen Gedanken uns entgegentreten. Wie viele der wirklich Gebildeten und noch mehrere freilich der sogenannten Gebildeten verwerfen in unserer Zeit das ganze Christenthum als antiquirten Aberglauben, weil sie es in der That nur in einer solchen Form kennen gelernt haben, und in solcher Form angreifen und vertheidigen sehen. Seid billig gegen die Leute; ihre eigentliche Meinung ist oft nicht halb so widerchristlich, als sie sich anhört und als sie es selber meinen. Nur ein Beispiel statt vieler, aber das schneidigste. Es erschreckt euch, wie Viele heutigen Tages nackt und rund heraus bekennen, dass sie keinen Gott glauben. Erklärter Atheismus! — kann's einen gründlicheren Widerspruch wider das Christenthum geben? Aber seht ruhig zu, was sie denn eigentlich mit dem Atheismus meinen : im Grunde nichts anderes, als was eine rationale Theologie zur notwendigen Voraussetzung eines vernünftigen Gottesglaubens hat. Sie kennen nur eine sinnliche Gottesvorstellung; der thörichte Eifer supranaturalistischer Theologen bestärkt sie darin: von einem solchen mythologischen Wundergott aber, gegenüber der vernünftigen Weltordnung, wollen sie nichts mehr wissen, — und sie haben soweit ganz Recht damit. Ihr Theologen, konzentrirt euch erst selbst auf den religiösen Kern des Gottesglaubens: dann werdet ihr nicht mehr so viele Atheisten wider euch haben; sondern nur die, welche es in der That sind. Wollt ihr den widerchristlichen Theorien der Zeit ihren Nerv durchschneiden, so müsst ihr aber die Wahrheiten, die ihnen zum Stützpunkt dienen, nicht etwa nur widerwillig, wenn ihr nicht mehr anders könnt, und auch dann nur halbwegs anerkennen; ihr müsst sie vielmehr selber aufsuchen und ihnen zu ihrer vollen Anerkennung helfen. Was Wahrheit am Christenthum ist, das muss sich mit jeder Wahrheit vertragen, auch wenn diese erst im 18*

276

Welches sind die dringendsten Aufgaben der prot. Apologetik etc.?

widerchristlichen Gewände mag aufgetreten sein; denn alle Wahrheit in der Welt stimmt im letzten Grunde zusammen. Diese Aufgabe vertheilt sich nun aber ganz natürlicher Weise verschieden zwischen den verschiedenen Richtungen der christlichen Wissenschaft, je nach der Seite, von welcher die feindliche Lehre herkömmt. Jeder theologischen Richtung ist ja doch zuzutrauen, dass sie am ehesten die Fähigkeit habe zu erkennen und zu würdigen, was Wahres auch noch im widerchristlichen Extrem auf der eigenen Linie enthalten sei. Sie hat daher zunächst die Aufgabe, dasselbe zu Ehren zu ziehen. Sie wird aber auch zugleich die dringendste Aufforderung haben, dies Wahrheitsmoment loszutrennen von seiner widerchristlichen Verkehrung; sonst wird sie von ihren theologischen Gegnern für mitschuldig derselben erklärt. So werdet ihr s u p r a n a t u r a l i s t i s c h e n Theologen vor den anderen befähigt sein und euch ja auch berufen fühlen, was selbst in einer solchen positivistischen Autoritätsgläubigkeit und in einer solchen naiv mythologischen Vorstellungsweise, wie ihr selbst ebenfalls sie als einen dem evangelisch lautern Glauben schädlichen Aberglauben verwerfet, doch noch von Wahrheitsmomenten wirklichen Glaubens enthalten sei, und ihr werdet es, als Protestanten selbst an katholischer Glaubensweise, in Schutz nehmen gegen hohle Aufklärerei, der Glauben und Aberglauben all-eins gilt. Vertretet nur dieses Wahrheitsmoment, und ihr habt ein positives Verdienst um die christliche Wahrheit; denn den Neigungen unserer Zeitbildung gegenüber ist es nöthig. Seht dabei nur zu, dass ihr es für euch sauber haltet, und auf der schiefen Ebene nicht selbst ausgleitet. Ob ihr das thut, — darüber wird Hausstreit unter uns sein. Ihr rationellen Theologen aber, wenn ihr anders den Namen verdienen wollt und nicht blinde Lichtanbeter seid, ihr werdet vor den andern dazu angethan sein, und darum fallt euch zunächst die Aufgabe zu: die Wahrheit, die auch im Materialismus enthalten ist, und ihm auf dem Boden der Gegenwart seinen Stützpunkt giebt, nicht bloss widerwillig einzuräumen, sondern selbst zu erfassen und mit energischer Furchtlosigkeit durchzuführen. Dadurch gerade werdet ihr dem Materialismus seinen widerchrist-

Welches sind die dringendsten Aufgaben der prot. Apologetik etc.?

277

liehen Nerv durchschneiden. Es ist mit Einem Wort das grosse Problem einer wahrhaft monistischen Weltanschauung, in welcher der Religion nicht bloss die zweifelhafte Duldung einer pathologischen Erscheinung gewährt, sondern ihrem innersten Kern und Wesen nach ihre vollberechtigte Stellung im Menschheitsleben gewahrt wird. Gerade hierin wird der Schwerpunkt einer stichhaltigen Vertheidigung des Christenthums in der Gegenwart ruhen. Dies ist eure Aufgabe; seht nur zu, dass ihr eurerseits auf der schiefen Ebene nicht ausgleitet, wie es leider selbst einem Strauss begegnet ist, dass der Gegensatz von Idealismus (ohne welchen freilich von Religion keine Rede sein kann) und Materialismus nicht auch euch wie ihm, zum blossen Wortstreit zusammensinke. Darüber werdet i h r euch im theologischen und philosophischen Hausstreit auszuweisen haben. Aber wenn nun jede theologische Richtung nach bestem Vermögen und ehrlich der ihr zunächst obliegenden Aufgabe nachlebt, mit dem widerchristlichen Extrem auf der eigenen Linie um den reinen Besitz der Wahrheit, die auch in diesem liegt, zu kämpfen, so soll nun die andere, die Rucken an Rücken mit ihr für die christliche Wahrheit im Felde steht, sie darum nicht rücklings zum Feinde hinausstossen wollen, weil sie denselben aus der Ferne auf einer Linie mit ihr erblickt. Hütet euch darum, mit Phrasen, die in ihrer Allgemeinheit auf alles zielen, was auf jener andern Linie liegt, Feind und Bundesgenossen kurzweg in Eine Verdammniss zusammenzuwerfen. Ihr dient damit der Wahrheit schlecht, die ihr vertheidigen wollt. — Hiemit biegt aber die dritte Aufgabe in die zweite zurück und ich bin am Schluss angelangt. Doch ä propos P h r a s e n noch ein letztes WWt. Hütet euch, ihr Theologen jeder Färbung und Richtung, in eurer Vertheidigung der christlichen Wahrheit vor den Phrasen. Sie sind nicht nur eine, wenn auch für den Augenblick effektvolle, so doch für die Dauer unwirksame, sie sind eine für den, der sie führt, verderbliche Waffe. Ich meine mit Phrasen hier nicht bloss leere Worte da, wo Begriffe fehlen: knallende Peitschenhiebe in die Luft. Dass solche nichts leisten, sollte sich von selbst verstehen.

278

Welches Bind die dringendsten Aufgaben der prot. Apologetik etc. V

Und doch ist's nicht ohne Grund und Veranlassung, auch davor zu warnen. Dass das Publikum so oft durch geistliche Phrasen, in "Wort und Schrift, an das paulinische Wort vom tönenden Erz und der klingenden Schelle erinnert wird, thut der amtlich kirchlichen Predigt des Evangeliums wesentlich Eintrag. Viel allgemeiner, als ihr's euch gestehen mögt, gewöhnen sich die Leute dran, alles religiöse Reden nur als obligates, zum geistlichen Gewand gehörendes Beiwerk von Phrasen zu betrachten, und zwar nicht bloss als unnöthigen Redeschmuck für Dinge, die sich einfacher und natürlicher sagen Hessen, sondern schlimmer, als Deckmantel der Leerheit und Verschwommenheit, wo nicht von noch Schlimmerem. — Doch ich verstehe hier unter den Phrasen, vor denen ich euch Theologen alle in der Polemik und Apologetik ganz besonders warnen möchte, etwas Spezielleres. Phrasen nenne ich hier den Gebrauch nicht leerer, sondern inhaltvoller, auch für den, der sie braucht, inhaltvoller Worte, die mit ihrem tiefen Sinn eine grosse Tragweite und vielseitige Anwendung haben, nun aber in einem engern und ganz speziellen Sinne verstanden andern Auffassungen entgegengehalten werden, die doch ebenso gut mit unter sie befasst sind. Zu Phrasen in diesem Sinne dienen am häufigsten j e die tiefinnigsten Kernworte der Bibel. Aber in diesem Gebrauch sinken sie zu Phrasen herab. Im Streit gebraucht vom Einen gegen den Andern, sagen sie zuviel und eben damit gar nichts. Sie machen ein Gemeinsames geltend, als hätte dieses nur der Eine; gerade über das aber, was innerhalb des durch das grosse Schlagwort bezeichneten Gemeinsamen streitig ist, darüber sagt und entscheidet es gar nichts. Wer in wissenschaftlicher Debatte mit Phrasen in diesem Sinne sich zu helfen liebt, der verräth damit nur, dass er jeweilen den Streitpunkt, um den es sich handelt, entweder gar nicht bestimmt in's Auge zu fassen im Stande ist, oder im Gefühl seiner Schwäche hinter eine anerkannte Allgemeinheit, die Niemand bestreitet, verstecken möchte. Das Fechten mit dergleichen Phrasen ist eine allgemeine, nicht bloss eine theologische Schwachheit und Untugend; aber den Theologen geht sie ganz besonders nach. Ihr verdankt die Theologie zum nicht geringen Theil den Misskredit, in dem

Welches sind die dringendsten Aufgaben der prot. Apologetik etc.?

279

sie gegenwärtig so allgemein bei denen steht, die auf exakte Wissenschaft halten, — bei vielen von diesen freilich auch nur auf Phrasen hin. Drum hütet euch im Streit unter einander und in der Vertheidigung der christlichen Wahrheit nach aussen vor den Phrasen*). Halten Sie mir nun nicht, da ich zum Schlüsse gelangt bin, entgegen, ich habe in meinem Vortrag mehr nur formale Forderungen gestellt über die Art, wie die Vertheidigung des Christenthums zu führen sei, als die sachlichen Aufgaben, die am dringendsten zu lösen, angegeben. Ich hoffe Ihnen doch fahlbar gemacht zu haben, dass in meinen formalen Forderungen die materiellen Aufgaben allerdings mit enthalten und bezeichnet sind. Ich hielt es aber an diesem Orte fttr erspriesslicher, in dieser Form von denselben zu reden. Das A und 0 aller Vertheidigung des Christenthums gegen die seiner Anerkennung als Heilswahrheit auf dem Boden der Gegenwart im Wege stehenden Mächte und Lehren ist, theoretisch wie praktisch, die Konzentration auf sein i n n e r g e i s t i g e s Wesen als Religion. Dies ist die dringendste Aufgabe für Alle. Je mehr jede theologische Richtung unter uns von ihrem *) Diesen Passus, von den Worten: „Doch k propos Phrasen" an, habe ich der Kürze wegen beim mündlichen Vortrag weggelassen, was mir nachher bei der Diskussion leid gethan hat; denn auf einige der gefallenen Voten hätte das Gesagte seine nächste Nutzanwendung gefunden. Ich füge nun gleich noch eine Bemerkung hinzu. Dass ich oben die P h r a s e o l o g i e als spezifische Klippe der V e r m i t t l u n g s t h e o l o g i e bezeichnet habe, hat seinen Grund in der Natur der Sache. Wenn es sich darum handelt, zwischen den Einseitigkeiten zweier Richtungen zu vermitteln, so liegt die Gefahr und Versuchung ja nahe, dies mit allgemeinen Phrasen zu thun, die als gemeinsamer Mantel Uber beide sich breiten lassen. Dies gilt jedoch als Vorwurf wesentlich nur für die wissenschaftliche Debatte. Denn was in dieser vielleicht nichts als eine Phrase ist, weil es nichts entscheidet, was im Streit liegt, sondern nur zudeckt, das kann hingegen umgekehrt der ganz zutreffende Ausdruck des Gemeinsamen im praktisch religiösen Leben über und hinter den theoretischen Differenzen sein. Darum liegt auch das Schwergewicht und das spezifische Verdienst der Vermittlungstheologie nicht in der Wissenschaft als solcher, sondern in der Unterhaltung des praktisch kirchlichen Einheitsbandes zwischen den streitenden Parteien.

280

Welches sind die dringendsten Aufgaben der prot. Apologetik etc.V

Standpunkt aus diese Aufgabe nach ihrem Vermögen redlich zn erfüllen bestrebt ist, desto näher rücken sie alle von selbst auf das Gentrum hin zusammen, und ihr daneben fortgehender Hausstreit, wenn nur mit ehrlichen Waffen und nicht eitler Rechthaberei der verrufenen rabies theologorum geführt, muss schliesslich doch nur der Allseitigkeit der gemeinsamen Konzentration dienen: so dass diese nicht etwa bloss auf eine nothdürftige Zusammenstimmung in einem nothdürftigen Rest hinausläuft, sondern durch die gegenseitige Korrektur einen jeden zur Vertiefung in den wirklichen Mittelpunkt der christlichen Wahrheit führt, von welchem aus diese die Menschheit heute noch so gewiss, wie in der Vergangenheit und in alle Zukunft hinaus, als Sauerteig zu durchdringen und dadurch sich ihr als die Heilswahrheit zu bewahrheiten die Macht bewahren und bewähren wird. Dies ist mein Glaube; ich hoffe aber, es sei auch der Ihrer aller, und wir alle d a r i n wenigstens einig. Ich fasse zum Schluss mein Referat in folgende Thesen zusammen: 1. Die Apologetik, als wissenschaftliche Verteidigung des Christenthums, hat als Thema für die Diskussion in der Predigerversammlung eine irenische Voraussetzung und einen irenischen Zweck. 2.

Sie hat ihre Aufgabe jeweilen auf dem Boden der Gegenwart. 3.

Den Boden unserer Gegenwart bezeichnet die Doppelforderung: a) nicht blosse Autorität, sondern eigene Einsicht entscheidet in letzter Instanz; b) wirkliche Einsicht giebt aber nur Verstandesverarbeitung der objektiven Erfahrung, nicht bloss subjektive Phantasieanschauung. 4.

Der Lehren, die auf diesem Boden dem Christenthum im Wege stehen, sind wesentlich zwei einander entgegengesetzte Arten:

Welches sind die dringendsten Aufgaben der prot. Apologetik etc.?

281

a) solche, die sich als konsequente Durchführung der Forderung der Gegenwart geltend machen und damit, das Christenthum im Kern aufheben wollen: Sensualismus und Materialismus; b) solche, die das Christenthum mit einer von jener Forderung antiquirten Form so identifiziren, dass, wenn sie Recht hätten, das Christenthum damit ebenfalls antiquirt wäre: Positivismus und Mythologie. 5.

Das Ziel der Apologetik muss sein: das Wesen des Christenthums von den letztern zu unterscheiden und die ersten als falsche Anwendung der wahren Forderung der Gegenwart nachzuweisen. 6. Nur durch Konzentration aller theologischen Richtungen auf den Kern des Christenthums kann dies Ziel vollständig erreicht werden. 7.

Die dringendsten Aufgaben gleichmässig für alle Richtungen sind daher: a) Konzentration auf den Kern von der eigenen Linie aus; b) Treu und Glauben gegen die Bundesgenossen auch auf der andern Linie ohne subjektive Konsequenzmacherei; c) Gerechtigkeit auch gegen die widerchristlichen Theorien durch Anerkennung und Verwerthung der Wahrheitsmomente auch in ihnen.

X.

Unsere Stellung zu Christus. Vortrag, gehalten in der Versammlung des „Schweizerischen Vereins filr freies Christentham", Zürich, den 4. Juli 1882.

Liebe F r e u n d e ! „Unsere S t e l l a n g zu Christus" ist das Thema, über das ich zu euch sprechen soll; ich denke dasselbe euch unter einem Gesichtspunkte nahe zu legen, der seine Wahl rechtfertigen dürfte. Man hat nämlich die Frage aufgeworfen, ob es für den heutigen Anlass nicht näherliegende Gegenstände, nicht dringendere Fragen zu besprechen gäbe; über unsere Stellung zu Christus „seien die freisinnigen Theologen doch im allgemeinen klar und einig", und darum wohl auch die zu ihnen haltenden Gemeindeglieder hinlänglich aufgeklärt. Wenn dem wirklich so ist, — um so besser: dann brauche ich nicht erst lange im allgemeinen davon zu reden, sondern darf euere Aufmerksamkeit direkt für den speziellen Gesichtspunkt in Anspruch nehmen, unter welchem die Frage nach der Stellung zu Christus sofort als eine „religiös-soziale" Frage — wenn man doch vor allem nach einer solchen verlangt — von fundamentaler Bedeutung sich herausstellt. Die Stellung zu Christus ist nämlich — das möchte ich ausführen — der echteste P r ü f s t e i n der Bedingungen für das kirchliche Zusammenbleiben e n t g e g e n g e s e t z t e r theologischer Richtungen: unter welchen dasselbe durch das Wesen der protestantischen Kirche geradezu g e f o r d e r t und das Aufgeben der

Unsere Stellung zu Christus.

283

kirchlichen Gemeinschaft widerprotestantisch ist; unter welchen-eB zwar noch möglich bleibt, aber s c h w i e r i g wird; ohne welche dagegen es zum w i d e r n a t ü r l i c h e n Zwang würde, der nur aus ausserkirchlichen Gründen noch länger könnte festgehalten werden. Ich denke, dies Thema sollte für eine Versammlung, wie unsere gegenwärtige, ganz besonders angemessen, am wenigsten aber überflüssig sein. Wozu nämlich solche Versammlungen derer, die sich zur gleichen Anschauungsweise religiöser Dinge bekennen, aus den verschiedenen Kantonalkirchen unseres Vaterlandes? Etwa, um durch solche Vereinigungen sich erst das Existenzrecht in denselben zu erringen? Anderwärts in der protestantischen Kirche mag dies für die freisinnige Kirche noch nöthig, sehr nöthig, ja zur Zeit noch aussichtslos und darum nur um so nöthiger sein. Bei uns, allerwärts in unsern Kirchen, ist es gottlob nicht mehr nöthig, auf welch gespanntem Fuss und in welch verschiedenem Stärkeverhältniss auch die verschiedenen Hauptrichtungen da und dort zu einander stehen mögen. — Oder bezwecken solche Versammlungen, wie die geschlossener politischer Parteien, sich im Streben nach der Herrschaftsmacht fester zu verbinden? Dann stände ich wenigstens nicht hier. — Oder wollen wir nicht vielmehr an solchen Versammlungen uns vor allem innerlich im guten Recht unserer Sache stärken? Wie können wir aber dies wahrer und nachhaltiger tlmn als dadurch, dass wir uns auch in den P f l i c h t e n stärken, durch deren Versäumniss wir auch unser Recht verscherzten. Diesen Beitrag aber möchte ich gerade zu unserm Feste leisten: in der Stellung zu Christus unser gutes Recht in der protestantischen Kirche begründen, und zugleich die P f l i c h t e n , an deren Erfüllung es haftet, daraus ableiten und unBer Gewissen dafür schärfen. Ich muss hiefür ein paar Voraussetzungen voranschicken: einige t h a t s ä c h l i c h e , die ich bloss zu nennen brauche, und einige g r u n d s ä t z l i c h e , für die ich in dieser Versammlung wohl auch ohne lange Begründung allgemeine Zustimmung erwarten darf. Ich gehe vorab von der Thatsache aus, dass heutigen Tages innerhalb der protestantischen Kirche nicht bloss in der theologischen Wissenschaft sondern allgemein auch im Bewusstsein ihrer

284

Unsere Stellung zu Christus.

Gemeindeglieder, nicht bloss einzelne verschiedene Ansichten, sondern einander geradezu entgegengesetzte Gesammtanschauungsweisen in Glaubenssachen vorhanden sind und sich bekämpfen, ein Kampf, der nicht erst seit gestern und heute von aussen hereingetragen, sondern die natürliche Frucht des Antheils der protestantischen Welt an dem allgemeinen Gang der modernen Geistesentwicklung ist. Die Hauptrichtungen, die grundsätzlich auseinander gehn, lieben es natürlich, ihren Gegensatz j e mit andern Parteinamen zu bezeichnen, indem jede für sich einen Namen vorzieht, der mit einem schönen Wort ihr Recht betont, während sie der anderen gern mit dem Namen schon einen Makel anhängen möchte. Dies schon giebt leider zu hohlen Phrasen hinüber und herüber überreichen Stoff. Gerecht zutreffende Namen, die auf beiden Seiten den eigentlichen Nerv bezeichnen, sind in der Regel am wenigsten populär, und doch muss man allbekannte Namen brauchen, nur um kurz zu bezeichnen, wen man damit meine. Thun wir's wenigstens ohne von vornherein ein abschliessendes Urtheil an den Namen zu heften. Für die Richtung, zu der wir stehen, ist uns der Name schon durch den unseres Vereines gegeben: die f r e i e oder f r e i s i n n i g e . Sie bekennt sich damit zu dem Grundsatz, auch in religiösen Dingen jeder Autorität gegenüber das Recht der freien Prüfung in Anspruch zu nehmen, und. nur eine auf diesem Wege sich bezeugende Wahrheit als Norm für den persönlichen Glauben anzuerkennen. Die grundsätzlich entgegengesetzte Richtung nennen wir darum am zutreffendsten die p o s i t i v e , im Sinn von a u t o r i t ä t s g l ä u b i g ; sie schattirt sich natürlich darnach, was ihr in letzter Instanz als positive Autorität gilt: ob der Papst und Concilien, ob Bekenntnisschriften oder die Bibel. Dass aber diese positive Richtung von irgend einer Schattirung ihres Autoritätsglaubens sich schon deswegen kurzweg die „ g l ä u b i g e " nenne, die unsrige dagegen um ihres Grundsatzes willen die „ u n g l ä u b i g e " , das weisen wir rund und kurzweg ab. Denn darum dreht sich j a gerade ihr Streit in der Kirche, welche dem religiösen Glauben, der allein diesen Namen verdient, der persönlichen Lebensbeziehung des ganzen inwendigen Menschen zu Gott, wahrer diene. — Von

Unsere Stellung zu Christus.

285

Geistesrichtungen aber, die nicht auf dieses Ziel gerichtet sind, reden wir hier überhaupt gar nicht. Meine zweite thatsächliche Voraussetzung ist die: beide vorhandenen Richtungen, die f r e i s i n n i g e und die positive sammt ihren Mittelgliedern, wollen in der Gegenwart legitimer Erbe der protestantischen Kirche aus der Vergangenheit sein. Keine will darum dies Erbe freiwillig der andern allein überlassen. Jede würde es auch für eine schwere Gesammtschädigung des protestantischen Volkes ansehen, wenn dessen Kirche aus einem Gemeingut, was sie bisher als Kirche des Landes war, in Parzellen auseinander fallen müsste. Jede will daher zum voraus die Schuld, wenn es dennoch je dazu kommen sollte, der anderen Richtung zuschieben, — und zwar ganz abgesehen von allen etwaigen anderweitigen unbequemen Folgen im bürgerlichen Leben, lediglich schon in Betracht des Segens, den eine mit der ganzen Kulturgeschichte eines Volkes verwachsene Kirche, wenn sie auch äusserlich noch das Volk in seiner Gesp.mmtheit umfasst, voraus hat vor der Zersplitterung in eine Vielheit wenn auch 'noch so rühriger privater religiöser Konkurrenzgesellschaften. Dies führt mich direkt auf meine erste grundsätzliche Voraussetzung. Diese geht auf das der gegenwärtigen Kulturentwicklung der Welt allein natürlich entsprechende Verhältniss zwischen Staat und Kirche, die nach beiden Seiten hin durchgeführte saubere Unterscheidung — nicht Scheidung — der staatsbürgerlichen und der kirchlichen Gemeinschaft: dass innerhalb des allgemeinen Gesellschaftsrahmens des Staates, der aus der Geschichte hervorgegangenen organisirten Gemeinschaftsmacht eines Volkes, auch die religiösen Gemeinschaften, vorab die in dieser Geschichte sich mit gebildet haben und auch die erst hereingekommen sind, die Freiheit haben sollen, nach ihren eigenen religiösen Grundsätzen sich zu organisiren und zu leben. Ich wollte, ich könnte dies Verhältniss auch als t h a t s ä c h l i c h bei uns zu Recht bestehend voraussetzen. Allein unsere Zeit ist bei uns, wie allerwärts, erst auf dem Wege dazu und zum Theil auf allen möglichen Abwegen. Wohl sind in unsern Staatsverfassungen, in der eidgenössischen wie in kantonalen, die Grundsätze im all-

286

Unsere Stellung zu Christus.

gemeinen ausgesprochen: Unabhängigkeit der bürgerlichen Rechte und Pflichten vom religiösen Bekenntniss einerseits, und andrerseits die Freiheit der Selbstorganisation der religiösen Gemeinschaften. Allein dies grosse Wort ist gerade für diejenige religiöse Gemeinschaft, die zunächst in Betracht kommen sollte, fiir die, welche einen integrirenden Theil der Geschichte unsers Volkes ausmacht und darum den Namen der Landeskirche trägt, so wenig schon allseitig durchgeführt, ja nach mancher Seite hin so sehr noch verleugnet, dass man den wirklichen Zustand jenen Grundsätzen gegenüber nur darum nicht einen geradezu verlogenen nennen darf, weil mehr noch als schlechter Wille — obgleich dieser auch stets seine Hand mit im Spiele hat — doch die innern Schwierigkeiten eines glimpflichen Ueberganges von altgewohnten zu neuen, erst theoretisch vorschwebenden Gesellschaftsordnungen daran Schuld sind. Ich setze aber hier für das, was ich ausführen will, den Grundsatz des gesunden Verhältnisses zwischen Staat und Kirche als Maassstab voraus. Meine zweite grundsätzliche Voraussetzung ist die innerkirchliche Freiheit in unserer Kirche. Es gilt — so allgemein wie Naturgesetze gelten — ein Kanon für alle menschlichen Gemeinschaften, von der engsten an bis zur weitesten: eine Gemeinschaft ist um so reicher und stärker, erfüllt den Zweck zu dem sie da ist, um so wahrer, je s t ä r k e r einerseits das Einheitsband ist, das sie zur Gemeinschaft macht, und je grösser gleichzeitig andrerseits die F r e i h e i t und der Spielraum der persönlichen Selbstständigkeit ihrer Glieder innerhalb dieser Einheit. S t a r k e Einheit und f r e i e S e l b s t s t ä n d i g k e i t innerhalb der Einheit — dies ist das Geheimniss aller menschlichen Gemeinschaft; auch der Kirche, der Gemeinschaft des religiösen Glaubens und zur Pflege desselben. Ja, für die Kirche macht sich diese fundamentale Doppelforderung geradezu am schärfsten geltend: Einheit des Glaubens, als Uebereinstimmung in der Richtung auf das gleiche heilige höchste Gut auf der einen, und persönliche Selbstständigkeit in diesem Glauben als Gewissensfreiheit auf der andern Seite. Der Staat kann seinen Bürgern nur Glaubens- und Gewissensfreiheit überhaupt garantiren, abgesehen

Unsere Stellung zu Christus.

287

von den religiösen Gemeinschaften und jeder einzelnen von diesen gegenüber; für das innerkirchliche Leben der einzelnen Gemeinschaften dagegen darf er bei normalem Verhältniss seine Souveränität nicht dazu missbrauchen, sie selbst normiren zu wollen. Er kann ihnen die innere Freiheit weder wegerkennen, noch aufoktroyiren. Die Norm ihrer innerkirchlichen Freiheit kann nur aus dem Wesen und der Geschichte einer kirchlichen Gemeinschaft selbst herauswachsen. Nun macht aber die Freiheit der persönlichen Form der Glaubensüberzeugung innerhalb der gemeinsamen Grundsätze des Glaubens, die Freiheit der Prüfung jeder Autorität gegenüber, gerade das Prinzip, den Grundsatz der Existenzberechtigung unserer p r o t e s t a n t i s c h e n Kirche gegenüber der katholischen aus. Die Freiheit der persönlichen Ueberzeugungsform verneinen, ist kurzweg widerprotestantisch. Auf der andern Seite aber kann das Gemeinschaftsstatut einer kirchlichen Gemeinschaft nicht etwa auch die Verwerfung der religiösen Grundsätze, auf welche sie gegründet ist, mit in ihre Freiheit einschliessen, und auch der Staat kann bei normalem Verhältniss ihr eine solche schrankenlose Freiheit nicht oktroyiren. Der Staat garantirt mit seiner staatsbürgerlichen Glaubensfreiheit nur einen allgemeinen Sprechsaal der öffentlichen Diskussion über religiöse wie über alle anderen Dinge; allein er kann es keiner religiösen Gemeinschaft als i h r e Glaubensfreiheit vorschreiben, sich selbst zu dieser Allmend herzugeben, d. h. sich als Glaubensgemeinschaft aufzugeben. Der wahrhaft freigesinnte Protestant soll daher seine protestantische Freiheit in der Kirche nie von den Rockschössen des Staates erbetteln wollen, sondern sie vor der Kirche selbst als sein kirchliches Recht geltend machen. Einheit in den Glaubensgrundsätzen, nach freier Zustimmung des Gewissens, und n a t ü r l i c h e M a n n i g f a l t i g k e i t der Glaubensauffassungen, gemäss der Mannigfaltigkeit der allgemeinen Bildungselemente einer Zeit, aus denen der Einzelne 6eine persönliche Bildung sich aneignet, — dies beides gehört zum normalen Leben einer protestantischen Kirche. In ihrer Ausweitung zu einem „konfessionslosen" Sprechsaal löst der Staat, trotz aller schönen Worte, sie unbefugterweise thatsächlich auf. In der Glaubensuniformität da-

288

Unsere Stellung zu Christus.

gegen, auch wo sie eine Zeitlang sich ganz von selbst erhalten sollte, erstickt zuletzt der protestantische Geist, und wenn sie erzwungen festgehalten werden will, bricht er sich gelegentlich Bahn, aber dann wie ein Sklave, der die Ketten bricht. Allein — und dies ist meine d r i t t e und letzte grundsätzliche Voraussetzung — über ein gewisses Maass von Verschiedenheit hinaus nehmen die natürlichen Bedingungen für ein ungezwungenes, gesundes und förderliches Zusammenwirken zur gemeinsamen Pflege des protestantischen Glaubens in gemeinsamer Ordnung ab und hören von einem gewissen Punkt an geradezu ganz auf, so dass das fernere Zusammenbleiben unter Einem als Landeskirche gemeinsamen Eirchendache nur noch durch äussere Faktoren, durch Staatsraison, durch ökonomische Interessen, durch Klugheitsrücksichten, durch Herrschaftshintergedanken äusserlich aufrecht erhalten werden kann. Wohl hat die Scheu vor völliger Lösung des Gemeinschaftsbandes ihre Vollberechtigung. Je echtere — ich sage nicht bloss theologische Bildung, sondern je echtere protestantische Gesinnung und, füge ich mit Wohlbedacht hinzu, je echtere vaterländische Gesinnung einer hat, desto tiefer muss er diese Scheu empfinden. Aber alles in der Welt hat seine Grenzen, weil seine natürlichen Bedingungen. Darum mahnt das Festhalten am eigenen Recht an das Erbe der alten gemeinsamen Landeskirche und die Scheu vor der Schuld an einem muthwilligen Bruche; — beides mahnt alle Richtungen und Parteien zur gewissenhaften Prüfung der religiös-sozialen Frage nach den unerlässlichen Bedingungen ihres innerkirchlichen Zusammenlebens. Hiefür ist aber die Stellung zu Christus der wahre und zugleich der am einfachsten anzulegende Maassstab. Jesus von Nazareth der Christus — das ist das ursprüngliche Glaubensbekenntniss der christlichen Gemeinschaft. Christus aber bedeutete damals, wo Jesus als dieser auftrat und geglaubt wurde, in der Form des jüdischen Gottesglaubens den E r f ü l l e r der Verheissungen Gottes, mit welchem und durch welchen das Reich Gottes, der E n d z w e c k Gottes mit der gesammten K r e a t u r und dem Menschen, als ihrer Krone und seinem Ebenbild in derselben, in die Geschichte

289

Unsere Stellung zu Christus.

e i n t r e t e n werde. Dass in J e s u Person dies Heil und höchste Gnt für die Welt geoffenbaret nnd thatsächlich der Menschheit aufgeschlossen sei, — das ist der Kern alles Christenglaubens. Was aber dieser Jesus als geschichtliche P e r s ö n l i c h k e i t gewesen, wieso er darum der Christus sei, und worin also das in ihm aufgeschlossene Heil und höchste Gut bestehe, — das bedingt die verschiedene Form und den verschiedenen innern Werth dieses allgemeinen Christenglaubens. In welchem Grade dieser Glaube auf das geht, was wirklich die göttliche Offenbarung in Jesu Person ist, kommt ihm sachliche Wahrheit zu; in welchem Grad dieser Glaube das ganze Leben eines Menschen durchdringt, die Grundbestimmung all seines Fuhlens, Denkens und Wollens ausmacht, kommt ihm persönlicher Werth zu. Hiervon wollen wir jetzt nicht reden. Wem nur überhaupt nur Jesus so, wie er von ihm weiss, der Christus ist, der hat, wie dürftig oder wie voll der Inhalt dieses seines Glaubens auch sein mag, Anspruch auf den Christennamen. Das Urtheil, ob er damit der wahren Gemeinde Christi, dem Reiche Gottes auf Erden, angehöre, was unsere Alten mit dem verhängnissvoll schiefen Namen der „unsichtbaren Kirche" bezeichnet haben, das sollen wir Gott überlassen, der — ich rede menschlich — zugleich schärfer und milder, gerechter und gnädiger urtheilt, als wir über einander urtheilen. Ich rede hier nur von Kirchen im engern und eigentlichen Sinne, von geschichtlich bestimmten und abgegrenzten Gemeinschaften zur Pflege des Christenglaubens in gemeinschaftlicher gottesdienstlicher Ordnung und Sitte, in gemeinsamer religiöser Unterweisung und Erbauung. Was ist nun für das Zusammensein und Zusammenbleiben in einer und derselben christlichen Kirche, und zwar in einer, die auf den Namen einer p r o t e s t a n t i s c h e n Kirche Anspruch haben soll, die nothwendige Bedingung? was ist für sie das Band der Einheit? worauf geht die persönliche F r e i h e i t und damit die mögliche Verschiedenheit innerhalb dieser Einheit? so dass durch die K r ä f t i g k e i t des Einheitsbewusstseins und zugleich durch die K r ä f t i g k e i t der f r e i e n Betheiligung daran der Zweck der Gemeinschaft, das EvanBiedermann, Vorträge und Anfsätze.

jg

290

Unsere Stellung zu Christus.

gelium Jesu von dem in ihm als dem Christus erschienenen Reiche Gottes als S a u e r t e i g in die natürliche Menschheit einzuwirken, am kräftigsten und allseitigsten erfüllt wird? Die Stellung zu Christus giebt uns für beides den sichersten Prüfstein. Der Name Christus weist uns direkt auf das Centrum der nothwendigen Glaubenseinheit; Jesus dagegen, in dem wir den Christus anerkennen, ist die geschichtliche Person, über deren geschichtliches Wesen auch geschichtliche Forschung nothwendig und darum Verschiedenheit der Fassung offen ist. Nun aber ist Christus nicht bloss ein allgemeiner Ehrentitel, sondern der Name für den höchsten religiösen W e r t h , den wir demjenigen zuerkennen, dem wir diesen Namen geben. Wir sagen damit nichts geringeres als das von ihm aus: in seiner Person ist die w a h r e Religion, in seinem Leben das wahre Lebensverhältniss zwischen Gott und Mensch als Thatsache geoffenbart und darin das Heil und höchste Gut für mich und die ganze Menschheit. Das ist kein magerer Ueberrest von religiösem Glauben, wie ihn zur Noth alle noch theilen, die nicht aller Religion abgesagt haben. Dies ist ein bejahendes Welturtheil kurzweg darüber, worin die wahre Religion bestehe, und dass dies das höchste Gut sei. Und worüber spricht man dieses Welturtheil aus? Ueber das religiöse L e b e n , das t h a t s ä c h l i c h in der Person Jesu in die Geschichte eingetreten ist. So wird das höchste religiöse Welturtheil an die gleiche geschichtliche religiöse T h a t s a c h e geknüpft. Damit ist doch der Punkt der Glaubenseinheit auf das allerbestimmteste fixirt. Das aber, wie sich's mit dieser geschichtlichen Person verhalten, wie sie geschichtlich in Wort und That in ihrem persönlichen Leben die wahre Religion dargelebt habe, und wie daher dieses die Christuswirkung auf die Menschheit ausübe, — das ist eine geschichtliche Frage und eine Frage der Theorie Uber die Wirkungsweise einer Thatsache; darüber ist Forschen nothwendig und also auch. Verschiedenheit der Antwort möglich und offen. Das also ist der Punkt der nothwendigen F r e i h e i t inner-

Unsere Stellung zu Christas.

291

halb der Einheit in dem höchsten religiösen Welturtheile, dass Jesus der Christus sei. Doch, hat nicht etwa das altprotestantische Wort von der Bibel als dem Worte Gottes das Forschen darnach überflüssig gemacht, für die protestantische Kirche das weitere Fragen abgeschnitten und die nöthige Antwort darauf schon fix und fertig gegeben? Das kann auch der strengste Alt-Protestant, wenn ihm der Ausdruck „Wort Gottes" nicht zur Phrase gedankenlosen Aberglaubens geworden, doch nicht sagen wollen. Nicht die Schrift, sondern Jesus als der Christus ist ja auch ihm das wahre und eigentliche „Wort Gottes", die Kundgebung des göttlichen Heilswillens in der Menschheit. Aus der Schrift, als dem geschichtlich dieser Thatsache nächsten menschlichen Zeugniss, haben wir nur in erster Linie gemäss den Gesetzen menschlichen Forschens nach der religiösen Grundthatsache, die Jesus zu unserem Christus gemacht hat, zu forschen. An dem ist protestantisch nicht vorbeizukommen: das ist das Gebiet der F r e i h e i t , wie wir in der protestantischen Kirche den gemeinsamen Christusglauben, Jesus der Christus, uns zur persönlichen Glaubensüberzeugung aneignen. Wie nun aber auf der einen Seite eben dieser gemeinsame Glaube nicht etwa ein magerer, nicht viel mehr als nichts sagender Ueberrest von religiöser Ueberzeugung ist, sondern vielmehr das intensivste religiöse Welturtheil: so treten auf der andern Seite gerade auf dem Punkte, der das Feld der F r e i h e i t in dieser Einheit sein und bleiben muss, die möglichen Verschiedenheiten in der Auffassung religiöser Dinge am all erk l a r s t e n und h a n d g r e i f l i c h s t e n hervor, viel unmittelbarer greifbar für jeden Verstand und schneidiger als in irgend einer anderen religiösen Frage, z. B. über das Wesen Gottes. Da fuchteln auch die, welche Männer von Fach heissen, oft ganz thöricht mit phrasenhaften Worten, wie Persönlichkeit, oder Pantheismus und was sonst so Stichwörter sind, im Nebel herum, und die Laien vollends können nicht herausfinden, um was in Wahrheit der Streit sich dreht. Aber wie man das geschichtliche Wesen und Leben der Person Jesu und seine Christusbedeutung 19*

292

Unsere Stellung zu Christus.

flir uns verschieden auffassen kann, das liegt ganz greifbar vor. Darum ist die Stellung zu Jesus Christus der nächste und allerbeste Prüfstein für die nothwendige Einheit und für die Freiheit in der protestantischen Kirche, und für das innere Verhältniss dieser zwei gleich notwendigen Centra der Erdbahn der Kirche um ihre Sonne, das sie allein in ihrer Bahn erhält and nicht in Stücke auseinander fahren lässt. Ich will den Prüfstein in aller Schärfe anlegen und die vorhandenen Gegensätze auf dem Punkte, wo Freiheit sein muss, nicht vertuschend abschwächen. Was hilft das, wenn man prüfen will, ob sie noch verträglich seien ohne die Einheit zu sprengen ? Wenn man untersuchen soll, ob eine Wunde zum Tod, oder noch zu heilen sei, muss man mit der Sonde bis auf ihren Grund gehn und darf sie nicht einfach überkleisternd zudecken. Ich stelle daher einfach die „ p o s i t i v e " und die „ f r e i e " Auffassung der Person Jesu und deren Christuswirksamkeit in ihrem wesentlichen, für einen jeden greifbaren Unterschied einander gegenüber, ohne auf die Schattirungen, in denen sie einander sich annähern, vollends ohne auf die wundersamen theologischen Kunststücke einzugehn, mit denen beide oft so ineinander gemengt erscheinen, dass ein einfaches Laienauge der Mischung gar nicht mehr auf den Sprung kommt. Dann frage ich, wie beide einander so entgegengesetzt erscheinenden Auffassungen gleichwohl, jede auf ihrem Wege ganz gradlinig, im gleichen religiösen Werthurtheile zusammentreffen können, und zwar gerade in dem Werthurtheil, das die Grundbedingung für die kirchliche Einheit bildet. Endlich aber frage ich, welche Versäumniss in der Freiheit gleichwohl die Gemeinschaft sprengen müsste, so dass die Verantwortung dafür auf diejenigen fiele, welche diese Versäumniss sich zu Schulden kommen Hessen. Ihr kennt alle von Kind an das Bild Jesu nach der „posit i v e n " Auffassung, das Bild Jesu nach dem Evangelium der neutestamentlichen Schriften, dessen Grundztige freilich schon hier verschieden ausgeführt und mannigfach übermalt sind; ihr kennt, zum Theil wenigstens, auch die weitere Ausführung, welche im Laufe der Zeit die Kirchenlehre diesen Grundzügen gegeben hat:

Unsere Stellung zu Christus.

293

Jesus schon seinem Wesensbestande nach uns natürlichen Menschen gegenüber ein schlechthin einzigartiger Gottessohn, einzigartig in die Welt gekommen, ja schon vorher, ja schon ewig vor der ganzen Welt, das persönliche Urbild der Menschheit, j a ein GottSohn gleicher göttlicher Natur mit Gott dem Vater. Vom Vater aus Liebe gesendet, kam er selber aus Liebe in die Welt, nahm freiwillig unsere menschliche Fleischesnatur an, offenbarte und vollbrachte darin den ewigen Heilsrathschluss Gottes, beglaubigte durch Wunderthaten die ihm vom Vater verliehene persönliche Macht über die Naturwelt und ist nach seinem freiwillig übernommenen Sühnopfertode mit seinem in's Ueberirdische umgewandelten Leib aus dem Grab auferstanden und in den Himmel aufgefahren, von wo er ebenso wieder auf Erden kommen wird zum Weltgericht und zur Vollendung des Reiches Gottes am Ende der natürlichen Welt. W i r dagegen fassen die geschichtliche Person Jesu von vornherein ihrem ganzen Wesensbestande nach als natürlichen Menschen, sein Leben im natürlichen Rahmen aller menschlichen Lebensbedingungen. Wir suchen, was er geschichtlich gewesen, nach den allgemeinen Gesetzen aller Geschichtswissenschaft, soweit alle dafür vorhandenen Quellen, aus denen zunächst jenes andere Bild stammt, dies möglich machen. Es ist dies das höchste und wohl allerschwierigste Problem aller Geschichtswissenschaft, eben wegen der Beschaffenheit dieser Quellen einerseits und andrerseits wegen der nur in seinem inneren Leben wurzelnden einzigartigen Bedeutung dieses Mannes. Diese Aufgabe wird darum dem äussern Umfange nach auch niemals so gelöst werden können, wie die Wissenschaft es wohl wünschen möchte. Und viele Versuche, älterer und neuerer Zeit, sind darum auch so ganz unzulänglich, viele geradezu als Zerrbild ausgefallen. Allein gerade für den Kern lassen sich die Grundzüge des Bildes Jesu geschichtstreu gewinnen, die Grundzüge, welche die Thatsache seines eigenen Christusbewusstseins und des Glaubens an ihn als den Christus geschichtlich natürlich und religiös wahr erklären. Es ist die innere religiöse Thatsache eines Gotteskindschaftslebens, das mit seiner Erfalirung upd Bewährung der Liebegemeinschaft mit Gott

294

Unsere Stellung zu Christus.

all sein Fühlen, Denken und Wollen ausgefüllt, seine ganze Lebensdarstellung in Wort und That und Leiden zu einer Thatoffenbarung des Reiches Gottes in der Menschheit gemacht und die blosse Aussicht auf dies höchste Gut in einer unendlichen Zukunft zur Glaubensgewissheit des Gnadeneintrittes in die Gegenwart erfüllt hat. Alles dies im natürlichen Rahmen und unter den natürlichen Bedingungen der Anschauungsweise und der sittlichen Bethätigung, unter denen das Leben Jesu zu seiner Zeit und in seinem Volke gestanden hat. Der Gegensatz zwischen diesen beiden Anschauungen liegt fassbar genug vor; er wird auch von beiden Seiten kurz und schneidend geltend gemacht. Die Positiven sagen: da stehn einfach Glaube und Unglaube einander gegenüber; wir umgekehrt sagen: vielmehr mythologisirende P h a n t a s i e und g e s c h i c h t l i c h e Wahrheit. Wie kann da noch von Gemeinschaft der Pflege des Glaubens an diesen Jesus als Christus, wie kann da noch von kirchlicher Gemeinschaft zwischen J a und Nein die Rede sein?! Denn wenn sie auch darin noch übereinstimmen, dass beide Jesum den Christus nennen: so ist der Gegensatz, wie sie dies verstehen, natürlich nicht minder gross. Dort ist es eine persönliche Erlösungsthat. Um der in ihrem natürlichen Stammvater gefallenen und damit der gerechten Verdammniss verfallenen Menschheit das von der ewigen Liebe bestimmte Reich Gottes wieder zu bringen, ist der Sohn dieser Liebe in die Menschheit eingegangen, hat ihr die Erfüllung dieses Liebewillens geoiTenbart, durch seinen Tod stellvertretend für die Menschheit die Sühne der göttlichen Gerechtigkeit vollbracht und durch seine leibliche Auferstehung der Menschheit ihr Ziel, das Reich der künftigen Verklärung aufgethan. — Hier dagegen ist Jesus einfach dadurch der Christus, dass er in der sittlichen Machtbewährung seiner Gottesliebe die göttliche Bestimmung des Menschen, das wahre Leben aus Gott und den Sieg über die Welt, in seiner Person thatsächlich geoffenbart und damit der Menschheit das Reich Gottes, ihr höchstes Gut und Ziel, aufgeschlossen hat. Wieder der gleiche Gegensatz und das gleiche, gegenseitig

Unsere Stellung zu Christus.

295

sieh abschliessende Urtheil. Dort: nur wir haben in Jesu den wirklichen Christus, die vollbrachte Erlösung der Welt; euer Jesus hat nur den Weg gezeigt, an dessen Ende das Ziel vielleicht liegen möge; aber nach wie vor bleibt die Menschheit von diesem Ziele durch eine Kluft, die sie nicht ausfüllen kann, getrennt; euer Jesus ist höchstens Lehrer und Vorbild, nicht aber der Christus. Wir dagegen sagen: eure Erlösungslehre ist ein Phantasiedrama, dessen Anfang, Mitte und Ende nur als ein Bild geistiger Wahrheiten Sinn hat, als wirkliche Geschichte dagegen geltend gemacht, alle vernünftige, nüchterne Betrachtung der Welt aufhebt; unsere Erlösungslehre dagegen ist geistige Wahrheit, welche uns die Menschheit im Licht ihrer wahren Bestimmung zeigt und die Möglichkeit der Erfüllung uns schon als Thatsache aufschliesst. So stehen die beiden Anschauungen von Jesu Person und seinem Christuswerk einander gegenüber. Wie soll da noch eine religiöse Gemeinschaft möglich sein?! Das sind zwei verschiedene Religionen, die nur widernatürlicher Zwang unter Einem Kirchendach könnte beisammen halten wollen! Ja, das scheint so einfach und unwidersprechlich! Und doch? Schon das sollte stutzig machen, dass eine ununterbrochene Kette von unmerklichen innern U e b e r g ä n g e n von der einen Anschauung zur andern hinüber und herüber führt, und das nicht erst von gestern und heute, sondern von jeher. Es ist rein unmöglich, einen Grenzstein zu setzen, der beide bestimmt und unzweideutig von einander schiede. Nur die pure Unwissenheit oder eine plump massive Vorstellungsweise kann meinen, dies sei doch eigentlich eine sehr leichte und einfache Sache: wer wenigstens diese und diese Hauptthatsachen glaubt, der gehöre auf die eine, gläubige; wer nicht, auf die andere, ungläubige Seite. Allein sobald man fragt: was verstehst du denn aber genau unter jenen Hauptthatsachen (z. B. unter der Auferstehung Jesu, die man j a zu diesem Zweck am liebsten nennt!), da steht die Unwissenheit verblüfft da; denn ihre vieldeutigen Redensarten erweisen sich ganz untauglich zum durchschneidenden Messer. Da ist es mit einem blossen Ja oder Nein nicht abgethan. Und auf welche

296

Unsere Stellung zu Christus.

Seite sollten denn, wenn die Scheidung so einfach wäre, alle diejenigen hin, welche als Vermittelungspartei den innern Uebergang von der einen zur andern leibhaftig darstellen? Das schon sollte stutzig machen. Allein auch die, welche allerdings in klar und unzweideutig ausgeprägtem Gegensatze stehn, der lautet wie Ja und Nein, — Ein Gemeinsames haben sie eben doch, gerade das religiöse Bekenntniss: unser Jesus ist uns der Christus. Unser Jesus? Es ist j a doch die eine und selbe geschichtliche Person, von deren Wesen und Leben wir aus denselben geschichtlichen Quellen unser Bild geschöpft haben, deren persönliche Lebensgemeinschaft mit Gott beide als den inneren Grund ihres Christusglaubens an ihm anerkennen. Es gab eine Zeit, wo man den Grundgegensatz beider Anschauungen durch die Stichwörter „historischer Christus" und „idealer Christus" zu bezeichnen liebte. Allein das war durchaus schillernd und schief. Zuerst hiess es von Seiten derer, welche die Unterscheidung aufbrachten: „nicht der historische Christus (man meinte die geschichtliche Person Jesu), nein der ideale Christus (man meinte eine in ihm als Ideal angeschaute Idee) ist das, worauf es für den Glauben ankommt." Als aber dem gegenüber die Positiven — und zwar mit allem Rechte — darauf bestanden, der Glaube müsse sich auf Realitäten gründen und nicht bloss auf Ideale der Phantasie, da kehrten auch die Freisinnigen, besonders da mittlerweile überhaupt in der, allgemeinen Strömung der Zeit der Respekt vor den Thatsachen gegenüber blossen Ideen wieder zu grösserer Anerkennung gekommen war, die Stichwörter einfach um: „wir gerade wollen den historischen Christus, d. h. Jesus, wie die Geschichtsforschung ihn ermittelt; euer Christus dagegen, der Christus der Evangelien, ist ein Idealbild, das erst aus dem Eindruck des geschichtlichen Jesus im Glauben der Urgemeinde entstanden ist." So war der Gegensatz von „historischem" und „idealem" Christus ein ganz schiefer Ausdruck für das, was in Wahrheit vorschwebte, und ist darum mit Recht ausser Kurs gekommen. Der christliche Glaube will auf etwas gehn, das als Realität eingetreten ist, und zwar

Unsere Stellung zu Christus.

297

in der geschichtlichen Person Jesu, und zwar als Thatoffenbarung des Heilsgrundes, der Heilskraft und des Heilszieles der Menschheit. Der wahre Gegensatz liegt vielmehr darin: ist die Person Jesu selbst die an die Menschheit sich aufschliessende persönliche Gottheit, und die Erlösung eine persönliche That für die Menschheit? Oder ist die Religion Jesu, d. h. das innere Lebensverhältniss, in welchem der Mensch Jesus persönlich zu Gott gestanden und das er durch sein Leben bewahrheitet hat, diese Offenbarung Gottes? Ist Jesus selber für uns der Gott unsers Glaubens, den darum auch die Kirchenlehre mit zwingender Folgerichtigkeit wirklich zu einer göttlichen Person, aus einem menschlichen Gottessohne zu qjnem Gott-Sohn gemacht hat, — ist dieser der geoffenbarte Gott des christlichen Glaubens, der in die Welt gekommen ist und das Christuswerk der Erlösung vollbracht hat? Oder ist der einige ewige Gott, wie Jesu persönliche Religion ihn als Vater offenbart, der Gott unseres Glaubens, Jesus aber dadurch der Christus, dass in seinem religiösen Leben der Welt ihr religiöses Heil aufgeschlossen ist? Das ist der Kern des Gegensatzes. Ist das nun aber wirklich nur Gegensatz, ausschliessender Gegensatz? Ist das gemeinsame Wort, mit dem von beiden Seiten Jesu die höchste religiöse Bedeutung für uns beigelegt wird, ist der Name Christus wirklich ein blosses Wort, eine leere Phrase ohne gemeinsamen Kern? Jawohl, es ist keinerlei Gemeinschaft mehr, wenn auf der einen Seite der sogenannte „ F r e i s i n n i g e " in der mythologisirenden Phantasieanschauung des biblisch-kirchlichen Christusbildes nur eine Phantasie sieht; nicht ein auf geschichtlich-natürlichem Weg entstandenes Bild von einer geistigen Thatsache, von der in der persönlichen Religion Jesu der Menschheit aufgeschlossenen Heilswahrheit, anerkennt, — und wenn auf der anderen Seite der sogenannte „Positive" nur an das Drama des Erlösungswerkes denkt, das für seine Phantasie zwischen Himmel und Erde gespielt hat; nicht aber daran, dass der eigentliche Kern dieses Dramas denn doch das sei, dass sein Gott-Sohn, der

298

Unsere Stellung zu Christus.

Mensch geworden, nun eben als m e n s c h l i c h e s Gotteskind, unter unsern menschlichen Lebensbedingungen seine "Gotteskindschaft als das wahre Lebensverhältniss zu Gott, als unsere wahre Religion uns vorbildlich dargelebt habe. Ja, wenn so auf beiden Seiten der K e r n des Christusglaubens f e h l t , da ist freilich keine weitere Gemeinschaft. Denn da fällt für beide einfach das ausser Betracht, worin sie allein zusammentreffen könnten, einfach die p e r s ö n l i c h e R e l i g i o n J e s u , in deren Erweis er der Christus ist. Wenn dagegen der „ F r e i s i n n i g e " w i r k l i c h e n Christusglauben an Jesum hat, dass ihm zwar das biblisch-kirchliche Christusbild theilweise eine Phantasieanschauung ist, dass er aber in der Thatsache des persönlichen Glaubenslebens Jesu den realen Wahrheitsgrund und Wahrheitskern dieser Anschauungen erfasst hat und sein eigenes Leben auf diesen Glauben baut, — und wenn auf der anderen Seite der „ P o s i t i v e " w i r k l i c h e n Christusglauben hat, dass er nicht bloss jene Erzählungen alle für geschichtliche Thatsachen hinnimmt, sondern in des Gottessohnes m e n s c h l i c h e r Erweisung seiner Gotteskindschaft das erblickt, was er als den Geist Christi nun auch zur eigenen Glaubensgesinnung in sich aufzunehmen habe, um des Erlösungswerkes Christi überhaupt theilhaft zu werden: — dann treffen diese beiden — und diese allein können jeder in seiner Anschauungsform von wirklichem Christusglauben reden — doch auf einem Punkte zusammen und zwar gerade auf dem Punkte, der den religiösen K e r n in sich schliesst. Sie treffen zusammen nicht bloss in einer geschichtlichen Thatsache abgesehen von ihrer religiösen Bedeutung, und nicht bloss in einer religiösen Idee abgesehen davon, ob und wo sie Thatsache geworden; sondern in der T h a t s a c h e des r e l i g i ö s e n L e b e n s Jesu als des menschlichen O f f e n b a r u n g s q u e l l s der g ö t t l i c h e n L e b e n s w a h r h e i t für d i e Welt. Wer darum nur in unbesonnenem Parteieifer von httben oder drüben erklärt, das scheinbar gemeinsame Bekenntniss zu Jesu als dem Christus sei aus dem Munde der beiden Richtungen doch bloss ein täuschender Schein, eine Phrase ohne Kern, — der sehe

Unsere Stellung zu Christus.

299

sich wohl vor, dass seine eigene Rede gerade in dem, wo er den Hebel gegen die andern aufsetzen will, nicht als pure Phrase zum Vorschein komme. Ja, wenn's bei dem sogenannten „Freisinnigen" darauf hinausläuft, dass ihm eigentlich alle Religion nur als Poesie gilt, und wenn des sogenannten „ P o s i t i v e n " Glaube sich entpuppt als ein blosses Träumen in Bildern und Erwartungen von einer anderen sinnlich-übersinnlichen Welt, ohne Gegenwart dieser höheren Welt als Erlebniss in seinem Innern und als Erweis ihrer Kraft im natürlichen Leben: — dann haben beide allerdings nichts mit einander gemeinsam von Religion; denn beiden besteht die Religion gerade nur in dem, wozu der eine J a sagt, der andere aber nein: in Mythologie. So wahr aber der Kern aller Religion im inwendigen Menschen sich aufschliesst als persönliches L e b e n s v e r h ä l t n i s s zu Gott, so wahr sie d a sich bewahrheiten und von d a aus das ganze natürliche Leben in der Welt durchdringen soll: so wahr treffen jene beiden einander entgegengesetzten Auffassungen Jesu, wenn beide, jede in dem Vollsinn, den das Wort für sie hat, in Jesu ihren Christus anerkennen, nicht bloss überhaupt noch in irgend etwas zusammen, sondern gerade in dem religiösen Mittelpunkte, im Bekenntniss zur Religion Jesu als dem Quellpunkt, aus dem das Heil der Welt fliesst. Für die religiöse Gemeinschaft aber, die als evangelische Kirche nichts anderes will, als das Evangelium von dem Heil in Jesu Christo, kommt gerade dieser Punkt einzig und allein in Betracht als der Einigungspunkt ihrer Gemeinschaft. Gerade dieser aber stellt sich bei der natürlichen wie bei der übernatürlichen Vorstellung von Jesu als die gleiche geistige T h a t sache des religiösen Selbstbewusstseins des Menschen Jesus und der Bewährung desselben in seinem ganzen Leben heraus: als das gleiche Liebeverhältniss zum himmlischen Vater, von dem er sich schlechthin getragen und mit dem er sich eins weiss; als das gleiche Selbstbewusstsein von dem unendlichen, überweltlichen Werthe des inwendigen Menschen gegenüber allen Gütern der natürlichen Welt; als das gleiche sittliche Bewusstsein, dass alle diese Güter der Welt nur Mittel sind zum Zwecke der

300

Unsere Stellung zu Christus.

höhern. Bestimmung zur Gottesgemeinschaft und darum treu zu verwalten nach dem Willen dessen, der sie zeitlich geliehen; als die gleiche Liebe zu allen Menschen als zu derselben Gottesgemeinschaft Berufenen; als der gleiche heilige Ernst gegen die Sttnde; als das gleiche Mitleid mit dem Sünder in seiner unseligen Fremde vom himmlischen Vater; als das gleiche Bewusstsein von der ihn erfüllenden Liebe Gottes als dem Gnadenwillen, den Sünder vom Tode wieder zum Leben zurückzubringen; als die gleiche Bewährung endlich der Treue in seinem Christusberuf bis in den freiwilligen Opfertod zu seiner Besiegelung. Das ist bei der ü b e r n a t ü r l i c h e n und bei der natürlichen Auffassung Jesu der gleiche I n h a l t des Christusglaubens; und diesen als Sauerteig der Welt einzuwirken, das ist der Zweck, der alleinige Zweck der christlichen Gemeinschaft als evangelischer Kirche. Alle Standpunkte der theoretischen Auffassungsweise religiöser Dinge, die innerhalb der protestantischen Kirche aus der allgemeinen Entwickelung des menschlichen Denkens überhaupt sich gebildet haben, halten darum mit ihrem Christusglauben auch den R e c h t s a n s p r u c h fest, der evangelischen Kirche anzugehören und in ihr zu bleiben, nicht bloss als geduldete stumme Beisassen, sondern als stimmberechtigte Vollbürger. Die Positiven — nun, von diesen versteht es sich von selbst: sie wollen j a nichts anderes als das Erbe treu bewahren, das sie von den Vätern erhalten haben. Nur usurpatorische Gewaltthat fremder Eindringlinge könnte sie hinausdrängen wollen, so lange sie nicht selber die Pflichten des Erben gänzlich verleugnen und das Erbe als todtes Gut im Sacktuch vergraben, oder als blosses Feuerwerk der Phantasie in die Luft verpuffen. Wir Freunde des freien Christenthums machen unsern Rechtsanspruch nicht minder geltend, im Vollbewusstsein, denselben Rechtsgrund dafür zu haben, den die altprotestantische Kirche der katholischen gegenüber gehabt hat. In der Religion Jesu die Christusoffenbarung des Reiches Gottes in der Welt, — das ist unser allgemeines ChristenbekenntniBS. Freiheit, von der Wahrheit dieses unsere Christenglaubens Rechenschaft zu suchen

Unsere Stellung zu Christus.

301

und zu geben nach dem Maassstab wissenschaftlicher Auslegung der Quellen und des wissenschaftlichen Gebrauches unserer Vernunft und nicht nach der Vorschrift irgend einer menschlichen Autorität, — das ist unser p r o t e s t a n t i s c h e s Recht. Die Ueberzeugung unsere wissenschaftlichen Gewissens endlich, unsre von der alten Kirche abweichende Auffassungsweise der religiösen Dinge überhaupt, der Person Jesu speziell, nicht willkürlich und feindselig von aussen herzugebracht zu haben, sondern nur durch gewissenhaften Gebrauch der protestantischen Freiheit darauf geführt worden zu sein (Irrthümer natürlich und darum bessere Belehrung stets vorbehalten), — das ist unser R e c h t s a n s p r u c h , rechtmässig im Erbe der alten protestantischen Kirche zu stehen. Wenn aber beide Richtungen, die positive und die freie, den gleichen Anspruch auf das überkommene und rechtmässig erworbene Erbe derselben Landeskirche erheben und nicht bloss das Strandrecht auf ein herrenlos gewordenes Gut geltend machen: so kann keine, ohne sich selbst zu desavouiren, ausscheiden wollen; sie könnte nur durch unprotestantische Gewaltthat der andern (oder des Staates in deren Dienst) direkt ausgestossen, oder indirekt gewissenshalber zum Austreten gezwungen werden. Die Schuld fiele auf die andere, und diese Schuld wäre darum keine geringere und würde früher oder später sich doch als Fluch an ihr rächen, wenn sie auch eine derartige unprotestantische Vergewaltigung der Gegenpartei sich im Gegentheil jetzt zum hohen Verdienst anrechnete: am einen Orte, die Kirche wieder zu ihrer alten „Glaubensreinheit" hergestellt zu haben; am andern Orte, sie nun ganz „freisinnig" gemacht zu haben. Die Versuchung aber, sich ein derartiges Verdienst erwerben zu wollen, liegt nahe; denn jede Richtung sieht j a ganz natürlich sich nicht bloss als ebenfalls echten, sondern als den echtern, ja leicht als den allein echten Erben an; und je grösser diese Zuversicht, desto grösser auch die Versuchung, dies Recht ausschliessend geltend zu machen. — Da giebt es aber schlechterdings keinen andern Bescheid, als den des Richters im Nathan: beweise jeder die Echtheit seines Ringes durch dessen Wirkung! Wenn jede Richtung, jede frei.in ihrer Weise, ihre Aufgabe in der Kirche

302

Unsere Stellung zu Christus.

ganz auf das konzentrirt, was auch allein die Aufgabe der Kirche ist, nach Luthers Ausdruck „Christum zu treiben", die Welt mit dem Geiste Jesu zu durchdringen, weil darin das Geheimniss des Reiches Gottes aufgeschlossen ist, — dann ist auch ihr Zusammenbleiben in der äusseren Gemeinschaft derselben evangelischen Landeskirche immer noch möglich. Es ist auch einfach unvermeidlich, da die Verschiedenheit, wenn sie durch irgend einen unprotestantischen Gewaltakt heute unterdrückt oder ausgeschieden würde, ganz gewiss schon morgen wieder neu auflebte. Sie ist endlich auch allein v e r n ü n f t i g und sittliche P f l i c h t , da die Gemeinschaft zur Pflege des Glaubens, der Richtung der Seelen auf ein höchstes heiliges Gut, nichts Indifferentes ist fllr die bürgerliche Volksgemeinschaft, sondern allein ihr den wahren sittlichen Halt giebt. — Damit aber dies protestantisch allein vernünftige und in Wahrheit gar wohl mögliche Verhältniss nicht durch menschliche Eigenwilligkeit doch zur Unmöglichkeit werde, legt die positive Stellung zu Christus, die jeder Richtung ihr Recht begründet, jeder auch P f l i c h t e n auf, die davon unzertrennlich sind, mit deren Versäumniss eine jede, die eine so gut wie die andere, ihr Recht verscherzte und es nur sich selber zuzuschreiben hätte, wenn sie auch thatsächlich desselben verlustig ginge. Welches sind nun diese P f l i c h t e n ? Es ist nicht meine Art, um die Ecke herum zu predigen, denen an's Gewissen zu reden, die nicht da sind. Darum will ich heute nicht den Positiven ihre Pflichten vorhalten, an denen ihr Recht an unsrer Landeskirche hängt. Nur damit ihr seht, dass ich unparteiisch beide gleich sehr im Auge habe, will ich andeuten, was ich jenen Bagen würde. Ich würde ihnen sagen: wie ihr das alte Wunderbild von Jesu rechtfertigen, wie ihr euch überhaupt zur „modernen Weltanschauung" stellen wollt, die ihr in geistlichen Reden gelegentlich verspottet, im Alltagsleben aber ganz selbstverständlich mit uns theilt, - das ist eure Sache. Nicht in der Kirche, wohl aber in der Wissenschaft haben wir einander darüber Rede zu stehen. In der Kirche aber hängt euer Rechtsspruch — ihr sagt, die allein rechtmässigen Erben

Ungere Stellung zu Christus.

303

und treuen Verwalter ihrer Güter zu sein; wir sagen, es neben und mit uns zu bleiben, — an ihrer zwiefachen Pflicht. Vorab an der H a u p t p f l i c h t , dass ihr wirklich das Evangelium von Jesus dem Christus auch heute noch als frischen Sauerteig in die Menschheit der Gegenwart und ihre Bedürfnisse einwirket und ihr nicht bloss steinhart gewordenes Brot, oder bloss gesundheitsschädliches Zuckerzeug bietet. Wer nichts gelernt und nichts vergessen hat, der giebt sein Recht an die Gegenwart preis. Ich wäre der letzte, der es bestreiten und nicht vielmehr freudig anerkennen wollte, dass jeder wahrhaft Gläubige unter euch an seinem Ort diese Pflicht übe. — Eure zweite Pflicht aber, an der die Behauptung euers Rechtes hängt, ist die: denen, die neben euch aufgekommen sind und in anderer Weise von Christus zeugen, sollt ihr dies Recht wenigstens nur mit ehrlichen Waffen des Geistes streitig machen wollen. Hütet euch nicht bloss vor direkt falschem, sondern auch schon vor leichtfertigem Zeugniss wider Andersdenkende. In diesem Stück aber haben auch Hochgestellte unter euch ein furchtbar laxes Gewissen. Das würde ich den Positiven sagen — und mit Beispielen belegen. Heute aber rede ich zu den Freunden des „freien Christenthums". Je entschiedener ich unsers Rechtes bewusst bin und meine ganze Lebensaufgabe darauf konzentrirt habe, in der Wissenschaft dafür einzustehen, desto tiefer bin ich mir auch unsrer Pflichten bewusst und fühle mich in meinem Gewissen gedrungen, sie heut allen Ernstes uns vorzuhalten. Oder sollte das überflüssig sein? Wissen wir alle von selbst, wie wir unser Recht zu behaupten haben, und erfüllen wir schon von selbst die Bedingungen, unter denen es unser Recht bleibt? Mir will im Gegentheil oft vorkommen, viele seien nur allzusehr geneigt, das Recht des „freien Christenthums" in der Kirche nur wie das Faustrecht des Stärkern, oder — in modern-humanerer Gestalt — als das Stimmrecht der Mehrheit geltend zu machen. An solchem begehre ich keinen Theil, weder als Verdienst, noch als Schuld. Die erste Grundvoraussetzung für unser Recht, ungeachtet unsers entschiedenen Gegensatzes gegen die ganze Vorstellungs-

304

Unsere Stellung zu Christus.

weit der alten Kirche, mit unserm Christusglauben in kirchlicher Gemeinschaft mit denen zusammenzuleben und zusammenzuwirken, die an jener alten Vorstellungswelt festhalten, ist die bestimmte Unterscheidung zwischen dem religiösen Glauben und der Form der Anschauung, in der wir seinen Gegenstand vor der Seele haben, zwischen der Aufgabe der Kirche, das Glaubensleben zu pflegen, und der Aufgabe der W i s s e n s c h a f t , nach der möglichst reinen Erkenntniss, wie auf allen andern Gebieten, so auch auf dem der Religion zu forschen. Wir ziehen daher unserm Recht in der Kirche geradezu den Boden unter den Füssen weg, wenn wir in direktem Widerspruch mit diesem unserm Grundsatz gleichwohl in unserm kirchlichen Wirken, in Religionsunterricht, Predigt und kirchlicher Ordnung doch immer zuerst den Schulgegensatz gegen die alte Kirche zum nächsten und uns am meisten am Herzen liegenden Zweck unsers kirchlichen Wirkens machen; wenn wir vor allem predigen, was wir alles von Jesu „nicht glauben", statt, wie wir an ihn als den Christus glauben; wenn wir in der Kirche nur verdünnte und oft sehr oberflächlich absprechende Reform-Theologie und „moderne Weltanschauung" treiben wollen, welche mit der „alten" sich nicht mehr vertrage, statt „christliche" Weltanschauung, die im Rahmen der modernen wie der alten Naturanschauung dieselbe ist. Und auch die Gemeinden erweisen sich noch sehr zweifelhaft als Gemeinden des freien Christenthums, wenn ihre Ohren nur auf dergleichen gespitzt sind. Freier Christ ist man noch nicht damit, dass man dies und das nicht glaubt. Wenn wir's so treiben, dann können die Bekenner der alten Glaubensanschauung mit Recht sagen: „Sucht euch dafür eine andere Stätte als die Kirche. Ihr habt ja die volle Freiheit dazu. Aber in Ein Haus gehört Ja und Nein nicht zusammen. Ja, so lange der Widerspruch gegen die alte Lehre sieh nur schüchtern regte, sich nur auf einzelne Nebensachen warf, da mochte die Kirche das Streiten auf den Kanzeln um ein Mehr oder Weniger noch ertragen. Zwar war das schon damals ein unerbauliches Ding. Jetzt aber, wo es zum vollen, klaren Gegensatze gekommen, wo ihr geschlossen mit der sogenannten modernen Weltanschauung

305

Unsere Stellung zu Christus.

gegen den ganzen alten Glauben der Kirche anrückt und selber die Unverträglichkeit beider als den ersten eurer Glaubenssätze wollt geltend machen, — jetzt ist das Tischtuch zwischen uns zerschnitten, und es ist gut, dass es zerschnitten ist. Ihr habt den Ast durchsägt, auf dem ihr noch am Stamm der Kirche sasset; seht nun zu, ob euer zur Erde gefallener Ast auch Wurzeln schlägt und selbst wieder ein Baum werden kann. Nur in der alten Kirche habt ihr nichts mehr zu suchen." So sagen die andern, und wo sie die Macht dazu haben, thun sie auch darnach. Uns aber geschieht ganz recht damit, wenn wir die Grundbedingung, unter der wir unser Recht an die Kirche allein kennen geltend machen, dass unser Gegensatz ein Gegensatz der Schule, nicht aber der Kirche, der Glaubensvorstellung, nicht aber des Glaubens sei, thatsächlich selber verleugnen und das Gegentheil thun. „So? also sollen wir unsere freien Ansichten in der Kirche verheimlichen und vertuschen und nur etwa mit kluger Zurückhaltung allmälig einschmuggeln?" Der hätte nichts von allem verstanden, der mich so verstehen wollte. Ich stehe ja ganz offen zu unserm Rechte, mit unsrer ganzen freien Wissenschaft in der Kirche zu leben und zu wirken. So wenig, wie als ein Räuber einbrechen, will ich als ein Dieb einschleichen. Nein, offen und frei wollen wir mit unsrer Theologie neben den Andern in der Kirche sein und wirken, aber an der uns und ihnen gemeinsamen allgemeinen religiösen Aufgabe der Kirche, das Evangelium Christi zu pflegen. Sind wir für diese Aufgabe nicht über den Schulgegensatz hinaus, und liegt uns statt der Glaubenseinlieit immer nur dieser im Sinn, dann stehen wir noch auf dem Stadium des Sklaven, der die Kette bricht, und der kann nicht in Einem Haushalt mit dem leben, dessen Kette er bricht. Es bemüht mich genug, dass ich sehen muss, wie viele nicht über dies Stadium hinauskommen wollen und nicht zur wirklichen Freiheit hindurchgedrungen sind. Das Treiben solcher schädigt am meisten das Recht des freien Christenthums. Ich komme zu einer zweiten Bedingung für dasselbe. Unser Recht beruht nicht .darauf, dass es nun etwa umgekehrt ganz B i e d e r m a n n , Vorträge and Aufsätze.

90

306

Unsere Stellung zu Christus.

einerlei wäre, was einer für Meinungen über Dinge des Glaubens in die Kirche mitbringt. Wir können unser Recht in der Kirche vielmehr nur darauf gründen, dass unsere Glaubensüberzeugung, in deren Form wir den christlichen Glauben in der Kirche pflegen wollen, nichts anderes sei, als nach unserem besten Wissen und Gewissen die. wohlbegründete F r u c h t der P r ü f u n g der Form, in welcher die Kirche in der Vergangenheit ihn gepflegt hat; unsere Auffassung Jesu die geschichtliche Wahrheit, aus welcher der Christusglaube der alten Kirche hervorgegangen; unsere Fassung der Christusbedeutung Jesu der Wahrheitskern der alten Lehre von seinem Christuswerk. Das ist der Rechtstitel, den wir für uns in der Kirche geltend machen. Für den müssen wir aber auch einstehen können; sonst fällt er dahin. Wir haben einmal zur bösen Stunde ein böses Wort aus gegnerischem Munde gehört von der „windigen ostschweizerischen Theologie". Lassen wir vorab die Ostschweiz aus dem Spiel; der Wind weht woher und wohin er will, von West und Ost, von Nord und Süd. Geben wir auch nicht einfach den Vorwurf massiver Theologie zurück. Lassen wir uns vielmehr den gegnerischen Vorwurf zur warnenden Mahnung dienen. Erweisen wir unsere. Theologie als solid in der Wahrheit begründet und von der Wahrheit durchdrungen. Wenn wir das versäumen, so verweht sie allerdings bald in alle Winde. Warum wird das unter uns oft versäumt? Man sagt, es sei nicht mehr nöthig. Wir seien doch wohl nun einmal im reinen und klaren, was wir vön dem evangelischen Bilde Jesu, vollends was wir von der in der Kirche weiter gesponnenen Lehre von seiner Person und seinem Christuswerke zu halten haben. Das sei doch endlich abgemacht. Jetzt gelte es einfach, von Jesu Beispiel einer praktisch in allgemeiner Menschenliebe sich erweisenden Religion die Anwendung auf die Aufgaben der Gegenwart zu machen. Das §ei der Kern, der geblieben. Nein, das ist erst die Frucht des Kerns. Was aber der Kern selbst sei, was die göttliche Lebenskraft in der Religion Jesu, wie sie in unserm Innern Wurzel schlagen, was innerlich von der Macht der Welt frei und zu Kindern Gottes machen und von innen heraus

Unsere Stellung zu Christus.

307

die Welt an und ausser uns umgestalten kann und soll, — damit nimmt man es flüchtiger und überhebt sich allzusehr der Mühe, mit denen, die diesen Kern in seiner geschichtlich ursprünglichen Schaale festhalten, sich auseinanderzusetzen und vor sich selbst und vor ihnen unsern Anspruch zu rechtfertigen, dass wir den Kern reiner haben. Allein die Freiheit hat und behält nur der, der sie fortwährend selber erwirbt und bewährt. Der freisinnige Theolog darf nicht darauf ausruhen, diese Dinge seien von der Wissenschaft ja schon längst abgemacht. Wer bloss vom Erwerb des Früheren zehren will, der ist bald auf dem Boden damit. Dies ist nicht eine leere Befürchtung von mir; die Thatsache liegt zu offenkundig vor, dass die freisinnige Theologie vieler zum fadenscheinigsten Rationalismus herabgesunken ist, — wenn sie je sich darüber erhoben hatte. Wo die wahre Wissenschaft am alten Glauben Spreu und Weizen sondert, behält er richtig nur etwas von der Spreu zurUck und giebt gerade den Weizen preis. Diese Sorte von allerdings windiger Freisinnigkeit, von religiöser Oberflächlichkeit hält dem alten positiven Glauben auf die Dauer nicht Stand; und es geschieht ihr nur ihr Recht, wenn sie früher oder später von der Tenne der Kirche weggefegt wird, — wie das auch schon geschehen ist. Andere rechtfertigen ihre Versäumniss eigener freier Denkarbeit damit, die Religion sei ja überhaupt nur Sache des Gefühls, nicht des Verstandes; fromme Gefühle in der Kirche anzuregen und zu empfangen, das sei die Hauptsache. Gewiss soll die Wahrheit des Evangeliums unser Gemüth erfassen, darin richtend, läuternd, aufrichtend, tröstend, stärkend wirken; sonst ist all unsre Religion eine taube Nuss. Aber ebensowenig als ein blosser S p r e c h s a a l für religiöse Meinungen, ist die Kirche ein blosser K o n z e r t s a a l zum Austönen religiöser Gefühle. Die Gefühle müssen doch ihren bestimmten Grund, die Töne ihren Text haben; sonst verklingen sie leer in der Luft. Und was man dem Verstand entzieht, das nimmt bald der Unverstand in Beschlag. Nein, wir Freisinnigen geben geradezu unsern Rechtsanspruch an die Kirche preis, wenn wir nicht fortwährend ein jeder sich selber dessen gewiss erhalten, dass und warum unsere abweichen20*

308

Unsere Stellung zu Christus.

den Anschauungen die religiöse Wahrheit im Glauben der Kirche auch, und nur reiner, enthalten. Wir verscherzen ihn aber auch dann, wenn wir nicht fortwährend positive Fühlung unterhalten mit der Form, in welcher die alte Kirche den christlichen Glauben gelehrt hat, wenn wir nicht fortwährend auch unsre Gemeinden in dieser Fühlung erhalten. Und das wird viel zu viel unter uns versäumt, wenn wir von vornherein schon den Kindern fix und fertig den christlichen Glauben nur in der Form der modernen Theologie beibringen und diesen Unverstand damit rechtfertigen wollen, dass wir dem gegenwärtigen Geschlechte doch endlich die Wiederholung des Umwegs durch die alte Geschichte ersparen möchten. Ja, erspart den Kindern das Kindsein! Macht sie schon in der Kleinkinderschule recht altklug! Was hat das aber für einen Sinn und Verstand, in ein- und derselben Kirchengemeinschaft mit Andern bleiben zu wollen, weil man in letzter Instanz j a doch dasselbe Ziel mit ihnen habe, — wenn man es aber unterlässt, das gegenseitige Yerständniss zu unterhalten? Wenn die Andern uns nicht verstehen wollen, so ist das ihre Beschränktheit, und das bringt selbst ihr älteres Recht in Gefahr, wenn sie es zu arg damit treiben. Allein das ist an ihnen immer noch entschuldbarer, als wenn wir uns nicht mehr die Mühe geben wollen, sie zu verstehen. Wir sind's doch, welche die neue Sprachweise in der Kirche einbürgern wollen. Wir haben das Recht dazu: aber an uns liegt es darum auch, uns fortwährend über unser Recht dazu auszuweisen. Es droht aber noch eine andere Gefahr, wenn wir uns angewöhnen, ohne eigene Arbeit freisinnig sein zu wollen. Ich deute sie nur an; mein Herz wäre freilich schon so voll, dass der Mund gern überfliessen möchte; allein es führte mich seitab von meinem Thema. Es ist die Gefahr, überall ohne eigene Prüfung auf blosse Parole hin sich freisinnig zu dünken. Allein der Fortschritt im Gänsemarsch, einer hinter dem andern her, weil eine Fahne mit bestechendem Stichwort vorausflattert, ist nicht die ächte Gangart der Freiheit. Blindlings geräth man so auf schlimme Wege und kann bei Zielen anlangen, vor denen man zu spät selber erschrickt. Freiheit wovon? Freiheit wozu? darnach fragt

Unsere Stellung zu Christus.

309

ein vernünftiger Mensch. Freiheit in's blaue hinaus, das ist das Programm der Gedankenlosigkeit, — oder denn arger Gedanken. Es ist ja offenkundig, wie gerade das Stichwort religiöser Freiheit im Munde so vieler tonangebender Stimmfilhrer der öffentlichen Meinung nur den Sinn der oberflächlichsten Indifferenz hat. Wie kommen wir da zum Vorschein, wenn wir blindlings hinter jedem von da ausgegebenen Stichwort freisinnigen Klanges herlaufen? Es gehört — offen gestanden — zu dem allerbemtthendsten, was es in gegenwärtiger Zeit für mich giebt, dass ich sehen muss, wie unbedacht viele, nur um das Prestige der Freisinnigkeit nicht zu verlieren, alle dergleichen Stichwörter aufschnappen und kurzweg zur Parole des „freien" Christenthums machen. Ich wenigstens bin da oft im Fall, für meine Person absolut dagegen protestiren zu müssen. Ueber manches behalte ich mir durchaus das freie Urtheil vor; manches aber ist in meinen Augen geradezu nur hohle Oberflächlichkeit. Darum verbitte ich mir's für meine Person, das» das „freie" Christenthum Pathenstelle bei solchen Bastardtheorien vertreten soll. Doch, wie gesagt, es sei genug an dieser Hindeutung auf eine Gefahr für die Sache der wahren kirchlichen Freisinnigkeit, von der kein Ernstgesinnter unter uns sagen wird, das sei blosse konservative Schwarzseherei von mir. Ich habe bis jetzt bloss von den Vorbedingungen unseres Rechtes an ein gemeinsames Zusammenleben in der Kirche mit den Positiven gesprochen. Unmittelbar aber üben wir dieses Recht nur dann aus, wenn wir in der Kirche nichts anderes wollen und thun, als was überall die alleinige, uns mit den Andern gemeinsame Aufgabe der protestantischen Kirchfe ist: „Christum zu treiben", das Evangelium von dem in Jesu aufgeschlossenen Gottesleben als den wahren Heilsgrund für jedes einzelne Menschenherz und für die ganze menschliche Gesellschaft mit all ihren sozialen Aufgaben in den engsten und weitesten Kreisen der Welt mit Wort und That zu bezeugen, ein jeder in der Form, in welcher sein religiöser Glaube daran auch seine theoretische Ueberzeugung ist, und alle mit einander so, dass wir das gegenseitige Verständniss unter einander zu erhalten redlich und ehrlich bemüht sind. Das ist doch eine nächste Gemeinschaftspflicht unter denen,

310

Unsere Stellung zu Christus.

die unter Einem Dach, in Einem Haushalt mit einander zu wohnen begehren. Sonst wäre nur das Auseinandergehen natürlich. Ganz sicher behielten dann aber die Positiven das Recht der Erstgeburt, wenn auch, bei der gegenwärtig trotz aller Verfassungsgrundsätze noch herrschenden Verquickung der Kirche mit dem Staate, bei uns die Reformer — hier würde der Name mit seinem Übeln Beigeschmack, den er allerdings immer für mich hat, zutreffen — durch staatliche Protektion sich vor der Hand noch den Besitz der Kirche für sich zu sichern vermöchten, — wie anderwärts auch nur der Staat gerade diejenigen Positiven, die ihr Recht an die protestantische Kirche durch schmähliche Verleugnung des Protestantismus verscherzen, in ihrem Alleinbesitz derselben zu erhalten vermag. Das Auseinandergehenmüssen aber, weil das Zusammenbleiben nur noch erzwungen heraus käme, wäre für beide Theile ganz gleich ein Zeugniss innerer Armuth und Beschränktheit. Und diese Armuth und Beschränktheit — das, was von je Sekten charakterisirt hat — würde im Sonderleben beider, einer sogenannten Orthodoxen- und einer sogenannten Reformer-Kirche ganz sicher bald und allmählig immer schreiender zu Tage treten. Die Anzeichen davon sind schon auf beiden Seiten vorhanden. Ich kann, was zur Abwehr dieses Unheils für Alle auch als gemeinsame Pflicht für Alle gilt, zum Schlüsse kurz in den alten Kanon zusammenfassen, den man auf den grössten Theologen des kirchlichen Alterthums zurückführt, als Kanon schon für die Gemeinschaft der katholischen Kirche: „in n e c e s s a r i i s u n i t a s , in d u b i i s l i b e r t a s , in omnibus C h a r i t a s " : im N o t h w e n d i g e n E i n h e i t , im F r a g l i c h e n F r e i h e i t , in Allem L i e b e . Im N o t h w e n d i g e n E i n h e i t : im Christusglauben, dass wir in derjenigen inneren Lebensgemeinschaft mit Gott, die Jesus, wie aus dem Zeugniss der Schrift erkennbar ist, in seinem ganzen Leben erwiesen hat, das wahre Heil der Welt erkennen, und in der Kirche nichts anderes wollen, als der Welt dies Evangelium vom Reiche Gottes bezeugen, ihr das Bild Jesu als des Christus einprägen, und die seinem Geist entspringende christliche Gesinnung allen menschlichen Lebensverhältnissen einpflanzen, —

Unsere Stellung zu Christus.

311

ein jeder in der Weise, wie dieser Christusglaube in ihm selbst persönliche Lebensüberzeugung geworden ist. Im F r a g l i c h e n F r e i h e i t : in dem, wie die göttliche Heilswahrheit menschliche Heilsthatsache geworden und wie sie vom menschlichen Geist in seinen Vorstellungen und Begriffen zu fassen sei, in dem Gebiet also, wo Fragen schlechterdings nothwendig, wo Zweifel an anderer menschlichen Fassung möglich und erlaubt, wo eigenes Forschen geboten und darum Verschiedenheit natürlich ist, — da Freiheit. Zunächst unverwebrte und unverkümmerte Freiheit fllr einen jeden, das geschichtliche Bild Jesu und das Evangelium von dem in ihm aufgeschlossenen Heil auf die seiner eigenen Geistesbildung entsprechenden Weise sich anzueignen und in dieser Form seiner persönlichen Ueberzeugung auch in der Gemeinde zu bezeugen. Dann aber auch, innerhalb der sittlichen Pflichten der gemeinsamen kirchlichen Ordnung, unverkümmerte und unbemäkelte Freiheit der Assoziation zu engerer Gemeinschaft von Gleichgesinnten und Gleichgestimmten nach individuellem religiösem Bedürfniss und zu speziellen Zwecken dieses Bedürfnisses. Endlich in omnibus Charitas, in Allem L i e b e : die Liebe, die der Apostel als wahrsten Erweis des Geistes Christi preist: Liebe sowohl im Zusammenwirken in der Einheit, als im Verhalten zu einander in der Verschiedenheit. Liebe, wo die verschiedenen Richtungen im gleichen Bekenntniss zu Jesu als dem Heiland der Welt, im gleichen Dringen auf christliche Gesinnung und deren Erweis in allen Verhältnissen des Lebens zusammentreffen; Liebe, die sich durch dies Zusammentreffen nicht zu feindseliger, neidischer, missgünstiger Rivalität, zu hämisch verkleinerungssüchtiger Konkurrenz gestachelt fühlt, sondern nur angetrieben zum ehrlichen Wetteifer; Liebe, die sich nicht freut, wenn sie auf der andern Seite irgend einen Mangel und Flecken aufstöbern kann, sondern sich aufrichtig freut der Wahrheit, wo sie auch auf der andern Seite ächte christliche Gesinnung findet; Liebe, die im Kampf der Gegensätze nicht hochmüthig prahlt und sich süffisant aufbläht, sich nicht zum Zorn reizen lässt, nicht in Argwohn alles zum Argen deutet und verdreht; kurz Liebe, die in allem nicht das ihrige, die Sache der Partei, sondern die Wahrheit Christi sucht.

312

Unsere Stellung zu Christus.

W i e s t e h n nun a b e r a l l e u n s r e P a r t e i e n , a l s P a r t e i e n und a l s e i n z e l n e P e r s o n e n , G e i s t l i c h e u n d N i c h t g e i s t l i c h e , M ä n n e r und o f t a u c h d i e F r a u e n v o r d i e s e m S p i e g e l d a ? ! Wollen wir, eine jede Partei zuerst der andern diesen Spiegel vorhalten? Das ist nie der Weg zum Besseren gewesen! Nein, jeder zuerst sich selbst und den Seinigen! Wenden wir das oft gebrauchte Wort des Apostels, gutes zu thun gegen jedermann, am meisten gegen die Genossen des Glaubens, einmal auch ?n diesem Sinn an. — Als der Parteigeist die Gemeinde zu Korinth zu zerspalten drohte mit seinen Stichwörtern: ich bin des Paulus! ich des Apollos! ich des Petrus! da hat Paulus selbst, der doch alle drei als Diener und Mitarbeiter Christi wollte anerkannt wissen, allen das Eine Bekenntniss: ich aber bin Christi!*) entgegengehalten. Ueber unsern Parteinamen: ich bin P o s i t i v e r ! ich bin R e f o r mer! stehe darum unser g e m e i n s a m e r Christenname und unser gemeinsames Bekenntniss sei und bleibe; w i r w o l l e n miteinander Christi sein!

*) Nach meiner exegetischen Ueberzeugung ist es einfach eine Ironie der Geschichte, dass erst die Ausleger das Christusbekenntniss, das Paulus den Parteistichwörtern der drei faktischen Parteien in Korinth als das seine, als das, welches das alleinige aller sein sollte, gegenüberstellt, selbst zum Stichwort einer vierten Partei, der sogenannten „Christiner", gestempelt und unter diesen stets j e diejenige theologische Richtung verstanden haben, die dem betreffenden Ezegeten in der Gegenwart die widerwärtigste war.

XL Aus dem Leben meines Vaters. 1. Ans der Jugendzeit. 1779-1880. Die Familie Biedermann war in Folge der Bedrängnisse, welche nach dem unglücklichen Aasgang des schmalkaldischen Krieges über die Protestanten im deutschen Reich ergingen, von Eonstanz nach der Schweiz ausgewandert; wir finden sie im Jahr 1556 in Winterthur eingebürgert, wo sie sich im Laufe der nächsten Jahrhunderte zu Wohlstand und Ansehen emporschwang. Mein Vater, Emanuel Biedermann, der mittlere von drei Söhnen des Arztes und Amtmanns Jakob Biedermann, zum „Steinadler", wurde geboren den 17. Mai 1779. Der ältere Bruder, Jakob, war ein äusserst begabter Knabe; ich besitze noch ein Bändchen zierlicher Gedichte von ihm, im Gessner'schen Schäferstyl, nebst der humoristischen Beschreibung einer Badenfahrt der ganzen Familie im Jahr 1787. Er starb jedoch schon im Mai 1794 zu Paris auf der Strasse an einem Herzschlag. Ihm folgte im gleichen Jahr auch der jüngere Bruder, und von mehreren Schwestern blieb ebenfalls nur eine, die spätgeborne jüngste, am Leben. Nachdem mein Vater die damals noch höchst mittelmässigen Bürgerschulen seiner Vaterstadt durchlaufen, kam er im Herbst 1795 für ein Jahr nach Vivis, wo er „blutwenig lernte, hingegen viel Geld kostete." Als die Revolution von 1798 die Franzosen

314

Aus dem Leben meines Vaters.

in's Land brachte, besorgten die Eltern, der Jüngling, der schon früh grosse Lust zum Militär zeigte, möchte von denselben zum Kriegsdienst weggenommen werden, und schickten ihn deshalb in das Orell-Steiner'schc Handelshaus nach B e r g a m o . Sein Aufenthalt hier wurde ihm besonders dadurch angenehm und fruchtbar, dass er ausser einigen seiner Schulkameraden auch seinen verehrtesten Lehrer, Joh. Rudolf Sulzer (später bekannt unter dem Namen J e a n o t Sulzer) dort wieder fand. Eine für ihn besonders interessante Episode war der Durchmarsch eines Theiles von S u w a r o w ' s Heer im Sommer 1799. Eines Tages engagirte ihn ein Kosakenoffizier, unnöthiger Weise mit dem Kantschu drohend — denn freiwillig hätte er es gern gethan —, ihm den Weg in die obere Stadt zu zeigen. Da führte ihn der über solche Behandlung ergrimmte junge Republikaner expvess in ein Gewirr von Gässchen und entsprang dann, mit allen Schlupfwinkeln wohl bekannt, dem ihm vergeblich nachiluchenden Reiter. Im Frühjahr 1800 kehrte er mit Sulzer und einem befreundeten jungen St. Galler Kaufmann, W i e k , in die Heimath zurück. Doch sollte ihnen noch an der Schwelle derselben ein Abenteuer begegnen, das leicht ein böses Ende hätte nehmen können. Sie waren kurz vor der Schlacht bei Möskirch in L i n d a u angekommen, wo sie das Vorrücken der einen oder der andern Armee abwarten mussten, ehe sie nach Hause reisen konnten. Sie benutzten die unfreiwillige Müsse zu einem Ausflug nach Lauterach, wo sie eine Weile den Arbeiten der Oesterreicher an einem Brückenkopf zusahen und dann ihren Rückweg über Bregenz antraten. „Hier hatte sich ein alter Schwätzer an Wiek gemacht; da mir sein Geplauder zu lange dauerte, sagte ich zu meinem Freund auf Italienisch: ,Lassen Sie den Laffen stehen; es ist Zeit.' Der Alte verliess uns nun plötzlich, und Wiek sagte mir, es sei der Kammerdiener des in dem nahen Kloster Meererau sich aufhaltenden ehemaligen Abtes P a n k r a t i u s von St. G a l l e n gewesen, der mich gar wohl verstanden habe. Scherzend über den Vorfall, kamen wir wieder in Lindau an. Kaum hatten wir uns nach dem Mittagessen in den anstossenden Gesellschaftssaal begeben, so erschien ein bürgerlich gekleideter Mann, den wir für einen

Aus dem Leben meines Vaters.

315

Lohnbedienten hielten, und fragte nach Herrn Wiek, den ein Fremder zu sprechen wünsche. Wiek ging hinaus; nun kam der Lohnbediente wieder und brachte für den jungen Italiener, der mit Herrn Wiek in Bregenz gewesen, die gleiche Einladung. Eben als ich ihm folgen wollte, trat Herr Ruprecht, ein reicher Kaufmann von Lindau, an den wir empfohlen waren, herein, hiess mich noch einen Augenblick verweilen und erzählte dem anwesenden Herrn Jakob Zellweger von Trogen, dass soeben ein österreichischer Husarenoffizier in die Stadt gesprengt sei und mit grosser Wichtigkeit den Befehl ertheilt habe, das Thor zu schliessen, indem ein paar französische Spione von Bregenz her in der Stadt seien; wie er sich nach der Ursache des dadurch auf der Strasse entstandenen Lärms habe erkundigen wollen, sei er vier Grenadieren begegnet, die Wiek zum Kommandanten William führten, und er habe vernommen, auch mir stehe ein gleiches bevor. Das geschah denn auch. Der Kommandant empfing mich sehr barsch, und seine Gemahlin sagte in gebrochenem Deutsch zu mir: ,Ab Sie nur kein Bang; wenn Sie ist unschuldig, Sie kann wieder lauf; wenn Sie ist schuldig, so muss Sie halt hang!' Ein schlechter Trost; denn in Kriegszeiten untersucht man oft nicht so genau. Nun sollten wir kreuzweise geschlossen nach Bregenz abgeführt werden. Vergebens anerboten sich die Herren Zellweger und Ruprecht, mit ihrem Vermögen zu bürgen; erst auf ihre persönliche Bürgschaft wurde der Befehl dahin geändert, dass wir ohne Ketten, aber unter starker Bedeckung zu Wasser dorthin gebracht werden sollten. Ueber Land wären wir kaum lebend nach Bregenz gekommen; denn das über die Franzosen äusserst erbitterte Landvolk würde uns gesteinigt und unsere Bedeckung sich wohl schwerlich dem widersetzt haben. Wir blieben jedoch im Bewusstsein unserer Unschuld getrost; aber bald sollte uns anders zu Muthe werden. Der Kommandant von Bregenz fuhr uns hart an und legte uns vielerlei Fragen vor, schloss uns aber bei jedem Versuch zu einer Antwort den Mund mit einem: ,nicht raisonnirt!' und endigte das sonderbare Verhör mit dem Befehl: ,die Kerls nach der Hauptwache geführt und wohl verwahrt!' Hier wurden wir von den ungarischen Soldaten wie

316

Aus dem Leben meines Vaters.

schon überwiesene Verbrecher behandelt. Stühle waren keine da, und auf der Pritsche wimmelte es von Ungeziefer. Ich stellte mich an's Fenster und harrte drei lange Stunden, bis ich endlich Herrn Zellweger vorübergehen sah, der auf mein Rufen, welches mir einige Rippenstösse zuzog, kam und versprach, sich beim Fürsten Reuss für uns zu verwenden. Darauf hin wurden wir auch wirklich eine halbe Stunde später in's Gasthaus zum Löwen gebracht, wo wir eine Wache in's Zimmer und eine vor die Thür erhielten. Am' Abend des zweiten Tages kam Herr Zellweger und verkündigte uns ganz niedergeschlagen, es stehe recht schlimm um unsere Sache; wir seien vom Abt von St. Gallen hart angeklagt und würden wahrscheinlich nach dem unter seiner Herrschaft stehenden Städtchen Neu-Ravensberg gebracht werden. Wiek, der früher als ein Anführer der „Harten" den Abt Pankratius hatte vertreiben helfen, erblasste, und mir schien es auch kein Spass, einem rachedurstigen Mönch ausgeliefert und zu dessen Zeitvertreib wohl gar gehangen zu werden. Doch wirkte Herr Zellweger wenigstens so viel aus, dass unsere Auslieferung an den Pfaffen unterblieb und unsere Angelegenheit von einer Kriegsbehörde untersucht werden sollte. Des andern Tages aber trat statt des angekündigten Verhörrichters der freundliche österreichische Major Geiger zu uns. in's Zimmer, entliess sogleich unsere Wächter und sagte, er wisse, dass wir nur des rachcdürstenden Abtes wegen gefangen sässen; er hätte zwar den Befehl, da das Heer im Rückzug begriffen sei, uns vorerst nach Scheidegg und von da nach Ingolstadt bringen zu lassen. Er rathe uns aber, den Bürgermeister von Bregenz um einen Pass nach Lindau zu ersuchen, uns dann ungesäumt auf Nebenwegen dorthin zu begeben und bis zum Einrücken der Franzosen das Zimmer zu hüten. So kamen wir nach drei langen Tagen bei den um uns besorgten Reisegefährten wieder in Lindau an. Zwei Tage nachher rückten die Franzosen daselbst ein, und der Weg in die Heimath war uns geöffnet." —

Aua dem Leben meines Vaters.

317

2. In den Wirren der Helretik. 1802-1804. In Winterthur begann mein Vater sich selbstständig zu etabliren, und fand bald Veranlassung, sich auch am öffentlichen Leben zu betheiligen. Seit Einführung der H e l v e t i k hatte der politische Kampf zwischen den Anhängern der von den Franzosen aufgezwungenen neuen Freiheit, den „ Z e n t r a l i s t e n " oder „Helv e t i s c h e n " , und den franzosenfeindlichen „ F ö d e r a l i s t e n " auf und ab gewogt. Vier Miniaturstaatsstreiche, je mit partieller Veränderung der Regierung und Verfassung, hatten bald der einen, bald der andern Partei relativ die Oberhand verschafft. Französische Truppen hielten zwar noch immer das Land besetzt; allein der Gewalthaber in Frankreich, der erste Konsul, liess den Parteikampf ruhig gewähren, wie er denn auch im Frieden von Luneville, 1801, der helvetischen Republik ausdrücklich das Recht der Selbstkonstituirung hatte garantiren lassen. Die Schweizer sollten es selber erproben, dass sie nur durch ihn wieder zu Ordnung und Frieden gelangen könnten. Nach dem Sturz der Föderalisten am 17. April 1802 wurde eine neue Fusionsverfassung entworfen, die, obgleich sie keine Partei befriedigte, dennoch durch die allgemeine Volksabstimmung angenommen wurde, weil NichtStimmen als Zustimmung galt, und nun hatten zwar nur 70000 mit Ja, gegen 90 000 mit Nein, dagegen 100000 gar nicht gestimmt. Die Urkantone hatten fast einstimmig verworfen. Sobald die französischen Truppen auf Bonaparte's malitiöses Anerbieten hin, dass die helvetische Regierung ehrenhalber doch nicht ablehnen durfte, vom 20. Juli an das Land verliessen, brach der Aufstand offen aus. Den Landammann von Schwyz, Aloys R e d i n g , an der Spitze, erhoben sich die Urkantone. Sie erliessen am 14. August ein Manifest, in welchem sie sich von der helvetischen Regierung lossagten, die alte Freiheit und Selbstständigkeit des Schweizervolkes für sich in Anspruch nahmen und alle Bundesglieder, alte und neue, unter Zusicherung der gleichen Freiheit für alle, zur Theilnahme aufforderten. Bald folgten die Landesgemeinden von Glarus und

318

Aus dem Leben meines Vaters.

A p p e n z e l l , und auch in den übrigen alten Kantonen, vorab in Zürich und Bern, bereitete sich der Aufstand gegen die verhasste und verachtete Regierung vor. Auch mein Vater theilte diese Stimmung mit dem ganzen Feuer seiner Seele. Ein „Brausekopf" — wie er sich selbst gern bezeichnete —, begeistert für die Freiheit und Unabhängigkeit des Vaterlandes, mit Ingrimm erfüllt gegen die französischen Unterdrücker, die schamlosen Aussauger und Sittenverderber des Volkes, und nicht minder gegen ihren mit Freiheitsphrasen prunkenden, selbstsüchtigen und gewaltthätigen Anhang, brannte er vor Ungeduld, das verhasste Joch abschütteln zu helfen. Zurückgekehrt von einer Versammlung schweizerisch gesinnter Zürcher, Berner und Aargauer in Schinznach, fand er in Zürich das eben erschienene Manifest der Urkantone vor, liess sofort in Winterthur ein paar Hundert Exemplare davon drucken und sorgte für deren Verbreitung in der Stadt und Umgebung. Die helvetischen Kantonsbehörden ordneten unter dem Vorvvand, die junge Mannschaft wieder etwas in den Waffen zu üben, zu ihrem Schutz die Aushebung von zwei Eliten-Grenadierkompagnien in jedem MilitärArrondissement an. Als jedoch der Bürger Wuhrmann, Kommandant des Winterthurer Arrondissements, am 28. August dort diese Aushebung vornehmen wollte, setzte mein Vater mit gleichgesinnten Freunden ihm einen so entschiedenen Widerstand entgegen, dass er nichts ausrichtete. Um aber nicht unbesonnen isolirt vorzugehen, begab sich mein Vater mit einem Freunde nach Zürich und setzte sich dort mit Gleichgesinnten i n s Einverständniss. Sie erhielten den Rath, behutsam zu Werke zu gehen, vor der Hand nur die Schweizerischgesinnten auf der Landschaft zu ermuntern, einen Vorrath von Waffen imd Schiessbedarf zu sammeln und den geeigneten Zeitpunkt abzuwarten; innert zehn Tagen werde der helvetischen Regierung der Gehorsam aufgesagt werden. Die nächsten Tage gingen unter geheimen Zurüstungen vorüber. Da aber von Zürich her alles still blieb und zugleich ein von dem helvetisch gesinnten Statthalter erlassenes Verbot von Pulver verkauf verrieth, dass die Gegner Wind bekommen, ritt mein Vater am 8. September wieder nach Zürich. An eben diesem

Aus dem Leben meines Vaters.

319

Tage waren die helvetischen Truppen unter General A n d e r m a t t vor der Stadt angelangt, um von hier aus gegen die Urkantone vorzugehen. Allein Z ü r i c h verschloss ihnen die Thore, sagte sich offen von der helvetischen Regierung los und rüstete sich zum Widerstand. Mein Vater eilte daher noch in derselben Nacht nach Winterthur zurück und veranstaltete am folgenden Tag einen bewaffneten Zuzug nach Zürich, der jedoch zum Theil den Helvetischen in die Hände gerieth. Von Zürich, das in der Nacht des 10. von der Brandschenke aus beschossen worden war, kam ein erneuertes Begehren um Hülfe. Allein eben als die Eidgenössischen die helvetische Munizipalität von Winterthur zwingen wollten dem Begehren zu entsprechen, kam, von dieser herbeigerufen, eine starke Schaar helvetischen Landvolks in die Stadt, besetzte die Thore und verlangte die Lieferung von Lebensmitteln und Munition und zugleich die Verhaftung der eifrigsten Eidgenössischen. Mein Vater ging verkleidet mit dem Dragoner, der den Befehl, auf ihn zu vigiliren, an's Thor brachte, und entkam glücklich in's Freie. Mit einigen andern Geflüchteten wartete er den weiteren Verlauf der Dinge im Toggenburg ab und kehrte auf die Nachricht von der zweiten Beschiessung von Zürich (vom 12./13. Sept.) und vom Abzug der Helvetischen (am 15.) in die Vaterstadt zurück. Da hier vor der Hand nichts weiter zu thun war, ritt er am 18. nach Zürich und liess sich unter die freiwilligen Dragoner einschreiben. Mittlerweile war von Bern aus durch General von Erlach das Aargau insurgirt worden, und rückte ein täglich durch Zuzug von allen Seiten verstärkter Heerhaufe gegen Bern vor, wo die von aller Welt verlassene, auch von den Franzosen mit Hohn preisgegebene helvetische Regierung einem kläglichen Ende entgegen ging. Am 19. kapitulirte die Stadt nach kurzer Beschiessung; die helvetische Regierung floh, begleitet von dem französischen Gesandten Verninac, nach L a u s a n n e , und Andermatt's Truppen, die schon bis Kirchberg herangekommen waren, beeilten sich, ihr mit einem Umweg um Bern herum nachzufolgen, während der Landsturm aus dem Oberland einrückte, und die alte Regierung

320

Aus dem Leben meines Vaters.

wieder hergestellt wurde. Auch in den übrigen Kantonen wurden provisorische Regierungen eingesetzt. R e d i n g erliess an alle Stände den Aufruf zur Beschickung einer Versammlung in Schwyz, welche, auf Grundlage der Souverainetät der alten und der neuen Kantone und der Beseitigung aller Vorrechte und UnterthanenVerhältnisse, sich zur eidgenössischen T a g s a t z u n g konstituiren sollte. Das geschah denn auch am 26. September; R e d i n g wurde zum Landammann, und zugleich General B a c h m a n n zum Befehlshaber des eidgenössischen Heeres ernannt, welches ungesäumt auf geordneterem Wege, als dies inzwischen durch den rohen, militärisch undiszipjinirten Schwyzer General Aufdermaur an die Hand genommen war, der helvetischen Regierung vollends eine Ende machen sollte. Bachmann drängte nach einem glücklichen Treffen bei Murten — Schweizer gegen Schweizer! — die Truppen der helvetischen Regierung am 4. Oktober bis auf L a u s a n n e zurück. Da erschien an eben diesem Tage von Genf her der französische General Rapp mit einem auf diesen Zeitpunkt schon vorgesehenen Schreiben des ersten Konsuls, welches die sofortige Einstellung aller Feindseligkeiten gebot, wo nicht — mit dem Einrücken des an der Grenze stehenden Heeres unter General Ney drohte. Reding, der Held von Morgarten, war so recht der Mann nach dem Ideal meines Vaters. Freilich, um ganz der rechte Staatsmann in der damaligen Situation der Schweiz zu sein, dazu fehlte ihm sowohl eine Uber die Verhältnisse des Vaterlandes hinausreichende Bildung, als auch die diplomatische Geschmeidigkeit, sich den jeweiligen Umständen vor- und nachgebend anzubequemen. Er war ein gerader, grundehrlicher Charakter, den selbstlos nur die Liebe zum Vaterlande beseelte. An dem, worauf in der Vorzeit die Freiheit und das Glück des Schweizervolkes beruht hatte, daran hielt er als an einem heiligen Erbe der Väter fest; aber ohne die Hintergedanken mancher Berner und Solothurner Patrizier gab er loyal alles Faule und alles Verknöcherte an den alten Zuständen preis. Sein Ziel war eine aus den Stürmen der Revolution geläutert und gekräftigt hervorgehende Eidgenossenschaft, auf Grundlage der Freiheit und Selbstständigkeit

Aus dem Leben meines Vaters.

321

aller ihrer Bundesglieder unter einander und der gemeinsamen Unabhängigkeit nach Aussen. Nach der Konstituirung der Tagsatzung in Schwyz hatte mein Vater Depeschen der Zürcher Regierung an Beding zu überbringen. Als dieser bei der Verabschiedung den Wunsch gegen ihn äusserte, etliche so gut berittene Ordonnanzen für den Dienst der Tagsatzung zu haben, versprach er, sogleich zu ihm zurückzukehren, und zwar in Begleit einiger gleichgesinnter Mitbürger. In der That fand er auch in Winterthur sofort dreizehn Kameraden bereit, dem Rufe zu folgen. Ihrer sieben ritten als erste Abtheilung am 8. Oktober nach Schwyz ab, obgleich am Abend vorher die drohende Erklärung Bonaparte's eingetroffen war, die alle Schweizer aufforderte die Waffen niederzulegen. Sie erklärten dem Uber ihr Erscheinen erfreuten Landammann, dass sie nicht Bonaparte's Befehl, sondern nur dem Rufe der Tagsatzung folgen würden. Der Dienst war streng; Tag und Nacht waren die Ordonnanzen im Sattel auf dem Weg zwischen Schwyz, Arth, Küsnacht und Zug, um die Kommunikation der Tagsatzung namentlich mit Luzern und Zürich zu unterhalten. Für Reding wäre mein Vater durch's Feuer gegangen. Den Einwohnern der Dörfer am Wege waren die Grünen bald wohlbekannte Gäste, denen sie alle nur erdenkliche Dienstleistung erwiesen. „Wir mussten ordentlich Sorge tragen, dass unsere Pferde nicht überfüttert wurden." Am '20. kehrte mein Vater mit der ersten Abtheilung nach Hause zurück. Schon am folgenden Tag erhielt er von dem die Truppen um Winterthur kommandirenden Oberstwachtmeister Holzhalb die Aufforderung, einen Streifzug nach B a u m a zur Entwaffnung der dortigen helvetisch gesinnten Bevölkerung mitzumachen. Er leistete mit Freuden Folge und brachte noch eine Anzahl freiwilliger Reiter und Scharfschützen auf. Doch die Zahl drohte zusammen zu schmelzen, da die Zeitung die Nachricht von dem Heranrücken des französischen Heeres brachte. Und in der That ist es zu verwundern, dass die Regierung noch den Muth hatte, das Unternehmen ausfuhren zu lassen, wo doch das angedrohte französische Heer bereits über die Grenze gerückt und die geflüchtete helveB i e i l e r m a m i , Vortrüge Ulli] Aufsiitze.

"

21

322

Aus dem Leben meines Vaters.

tische Regierung schon am 18. von Lausanne wieder nach Bern zurückgekehrt war. Gleichwohl wurde in diesen letzten Tagen der Zug nach Bauma zur Entwaffnung der Helvetischen noch ausgeführt. Am 23. Oktober rückte ein Bataillon von ca. 500 Mann nebst 40 Scharfschützen und einigen 20 Reitern gegen Bauma aus. Von Wyla wurden die Reiter zur Gefangennehmung der helvetischen Matadoren und zur Besetzung von Kirche und Kirchhof, um das Sturmläuten zu verhindern, vorausgeschickt. Mein Vater sollte selbsechst unter Anführung eines gedienten preussischen Husaren, Ryner, den Bürger Wolfensberger im Schwendihof gefangen nehmen. Allein dieser hatte Wind bekommen und war bereits entflohen, als die Reiter das Haus umzingelten. Ryner und mein Vater drangen hinein, fanden aber nur noch dessen Sohn und Knecht. Draussen sammelte sich eine Volksmenge so drohend an, dass zwei der Wache haltenden Kameraden sich kaum zurückhalten Hessen, sofort Reissaus zu nehmen. Als die Beiden mit ihren Gefangenen heraus kamen und wieder zu Pferde sassen, ging die Menge zu thätlichen Angriffen mit Steinwürfen über; da brannten die beiden Hasenfüsse wirklich durch und nöthigten damit die Uebrigen ebenfalls zu beschleunigtem Rückzug in's Dorf, wo sie bereits Anstalten zur Verbarrikadirung getroffen fanden, das Bataillon aber noch nicht angelangt war. Sie ritten zu demselben zurück und beschleunigten dessen Einmarsch. Den Tag über wurden Streifwachen zur Gefangennehmung der bezeichneten Häupter ausgeschickt, doch nur theilweise mit Erfolg. In der Nacht bivouakirte das Bataillon, statt einquartiert zu werden, auf dem Kirchhof, weil der Plan einer nächtlichen . Ueberrumpelung in den Häusern verrathen worden war. In Gegenwart eines gefangenen Knechtes des Gemeindspräsidenten wurde die Drohung hingeworfen, das Dorf werde in Brand gesteckt, so wie etwas passire. Man liess absichtlich den Knecht entwischen, und die Drohung that ihre gewünschte Wirkung. Am folgenden Tag wurden alle Waffen eingesammelt und das Dorf blieb auch diese Nacht ruhig. Am 25. wurden bei Tagesanbruch Waffen und Gefangene unter Bedeckung der Scharfschützen und einiger Dragoner auf der Strasse nach Winterthur vorausgeschickt. Nach

Aus dem Leben meines Vaters.

323

einer Stunde wurde jedoch diese Vorhut von einer beträchtlichen Zahl Helvetischer heftig angegriffen und hatte Mühe, sich des Ueberfalls zu erwehren, bis die Hauptmacht nachgerückt kam und ihr Luft schaffte. Ueber Wyla hinaus wurde der Zug nicht weiter beunruhigt. Als er aber gegen Abend auf der Höhe oberhalb Seen anlangte, sah man eine geordnete Truppenmacht heranrücken und setzte sich schon in Bereitschaft, sie zu empfangen. Da zeigte es sich aber bald, dass es eine befreundete Schaar war, die zu Hülfe kommen wollte. Ein beim ersten Angriff auf die Vorhut abgesprengter Dragoner hatte sich durchgeschlagen und durch die Nachricht von der Bedrängniss des Korps, die natürlich von Mund zu Mund sich vergrösserte, die Stadt alarmirt, worauf sich sofort eine ansehnliche freiwillige Hülfsschaar organisirte und unter Anführung des Major Hess von Wülflingen zugleich mit einem heimkehrenden Schaffhauser Bataillon sich auf den Weg machte, um den Bedrängten schnelle Hülfe zu bringen. Jubelnd zog nun die vereinigte Schaar bei Anbruch der Nacht in das wieder beruhigte Winterthur ein. So lief die Expedition, die übrigens mehr Schrecken und Pulver als Blut gekostet hatte, zu allgemeiner Befriedigung ab. Den andern Tag wurden die eingebrachten Gefangenen, die man ohnehin mehr als Geissein zur Sicherung des Rückzuges mitgenommen hatte, wieder freigegeben, weil bereits die Franzosen im Anzüge waren. Am 29. wurde das Bataillon mit Dankbezeugungen von Seite der Regierung entlassen. An eben diesem Tage rückten in Zürich und am folgenden in Winterthur die Franzosen ein, „von denen wir dann sehr geplagt wurden." Zunächst musste die Schweiz sich widerstandslos der mit Waffengewalt aufgenöthigten Vermittlung fügen. Die Tagsatzung in Schwyz hatte die Aufforderung Rapp's, sich zu unterwerfen, am 15. mit einer würdigen Proklamation beantwortet, in welcher sie erklärte, zwar der Gewalt zu weichen, aber niemals das Recht der selbstständigen Konstituirung der Schweiz preiszugeben; am 26. löste sie sich vollends auf. Die von den Franzosen wieder zurückgeführte helvetische Regierung suchte ihre schmachvolle Flucht nun durch ein übermüthiges Auftreten vergessen zu machen 21*

324

Aus dem Leben meines Vaters.

und legte der unterlegenen Partei eine drückende Kriegssteuer auf. Auch der französische Befehlshaber, General N e y , obgleich er die Gegner edler zu würdigen wusste, ordnete „im Interesse des Friedens" eine demüthigende allgemeine Waffenablieferung an. . Als eine Abordnung von Winterthur bei dem in Zürich mit der Ausführung betrauten General Serras sich auf die gut helvetische Gesinnung der Stadt berief und um Milde bat, bekam sie von diesem, unter Hinweis auf die Winterthurer Ordonnanzen dçr Tagsatzung, die Antwort: „Votre commune renferme beaucoup de têtes exaltées." Zugleich wurden die einflussreichsten Mitglieder der Tagsatzung, Eeding, Hirzel und Zellweger, eine Zeitlang in Aarburg gefangen gehalten. Doch stellte B o n a p a r t e nicht den Zustand der Helvetik wieder her, sondern gab mit staatsmännischem Scharfsinn, natürlich zunächst im Interesse seiner eigenen Politik, dem zerrissenen Land in der „ M e d i a t i o n s a k t e " vom 19. Februar 1803 eine den Bedürfnissen der Vermittlung zwischen dem Alten und dem Neuen möglichst entsprechende Verfassung, unter welcher die Schweiz, freilich als ein nur dem äussern Scheine nach unabhängiger Vasallenstaat Frankreichs, während der folgenden Kriegsjahre sich eines ruhigen, relativ glücklichen Zustandes zu erfreuen hatte. Auch mein Vater befreundete sich, und zwar nicht bloss um der im März 1804 erlassenen allgemeinen Amnestie willen, mit der Mediation, wenn er es auch tief empfand, sie aus der Hand des verhassten Feindes empfangen zu müssen. Indessen ging die Einführung der neuen Ordnung der Dinge nicht ohne ernstliche Unruhen ab, namentlich im Kanton Zürich. Dass die Mediation in Manchem wieder mehr den alten Zuständen sich näherte, und die neu eingesetzten Regierungen oft mehr als nöthig die Zügel wieder im Geist der alten Zeit in die Hand nahmen und „mit unnützen Freiheiten auch nützliche" beschnitten, rief ein allgemeines Misstrauen und die Furcht vor völliger Reaktion hervor. Höchst unnöthiger Weise glaubte die Regierung von Zürich im März 1804 eine feierliche Huldigung in allen Gemeinden des Kantons anordnen und bei diesem Anlass dem Volke die Zusage eines „väterlichen Regimentes" geben zu

Aus dem Leben meines Vaters.

325

sollen: eine unglückliche Maassregel, die natürlich nur den entgegengesetzten Erfolg hervorrief. Jede Regierung, auch eine vom Volke gewählte, soll allerdings in erster Linie vom Pflichtgefühl väterlicher Fürsorge für das Wohl des Volkes beseelt sein, sonst ist's eine nichtsnutzige Regierurig, die jedenfalls den ehrenvollen Namen einer Obrigkeit nicht verdient. Aber viel von ihrer väterlichen Autorität reden? — nein! wenn ein Hausvater sich mit seiner väterlichen Autorität in die Brust wirft, erweckt dies auch nicht die beste Meinung vom innern Stand seines Hauses. In vielen Gegenden des Kantons trat bei Anlass der Huldigungsfeier offene Widersetzlichkeit hervor, und am See brach der Aufstand in hellen Flammen aus. Der Landammann der Schweiz, Schultheiss Nikiaus Rudolf v. W a t t e n w y l von Bern, ein ächt vaterländisch gesinnter, weitblickender, eben so besonnener als fester Staatsmann, hatte der Zürcher Regierung die Veranstaltung der Huldigungsfeier widerrathen; jetzt aber bot er ihr ungesäumt eidgenössische Hülfe zu energischer Unterdrückung der „Uebelgesinnten." Auch mein Vater war der Ansicht, dass vor Allem dies nöthig sei; denn er theilte den wohl nicht grundlos verbreiteten Argwohn, der ganze Aufstand werde von Frankreich aus angeschürt, um unter dem Vorwand, die Schweiz vermöge die Ordnung in ihrem Innern nicht selbst aufrecht zu erhalten, die völlige Einverleibung vorzubereiten. Er suchte daher sofort wieder, wie vor 1 '/2 Jahren, in Winterthur und Umgebung eine Anzahl Freiwilliger für die Sache der Regierung unter die Waffen zu rufen. Allein diesmal misslang es ihm gänzlich; zu seiner Verwunderung wollte kein Einziger seinem Beispiele folgen. Die Sache war aber natürlich: auch in Winterthur herrschte allgemeine Missstimmung gegen die neue Ordnung der Dinge, welche die Stadt wieder in die alte Untertänigkeit unter Zürich zurückzubringen drohte, so dass die althergebrachte Eifersucht auf die Hauptstadt wieder in erster Linie die Gemüther beherrschte. Für meinen Vater aber haben dergleichen Eleinstädtereien niemals existirt; ohne Ortsgeist sah er nur immer kurzweg aufs Ganze. So ritt er am 23. Mai allein nach Zürich, um sich unter die leichten Reiter der Standeslegion

326

Aus dem Leben meines Vaters.

einschreiben zu lassen, und kehrte dann, um seine Ausrüstung zu besorgen, nach Winterthur zurück. Am 27. wurden drei zürcherische Offiziere, Oberstlieutenant Füessli, Major Michel und Hauptmann Füessli, die zur Aushebung der jungen Mannschaft in's Amt jenseits des Albis geschickt worden waren, von den Insurgenten in A f f o l t e r n gefangen gesetzt. Da unternahm eine Schaar von 28 leichten Reitern, unter der Führung von Lieutenant B o d m e r , in der Nacht vom 28./29. einen kühnen Ritt zur Befreiung der Gefangenen, was auch aufs Glänzendste gelang, obgleich das Dorf von mehreren Hundert Aufständischen besetzt war. Als mein Vater am folgenden Morgen nach Zürich kam, verdross es ihn nicht wenig, um die Theilnahme an dem flotten Reiterstreich seiner Kameraden, dieser einzigen rühmlichen Waffenthat im „ B o c k e n k r i e g " , gekommen zu sein. Am Nachmittag dieses Tages, an welchem der unglücklichc Auszug der Regierungstruppen nach B o c k e n stattfand, wurde er zur Theilnahme an einem geheimen Streifzug nach F r e i e n s t e i n beordert, um dort einige Häupter der Empörung gefangen zu nehmen. Nachmittags 3 Uhr ritt die kleine Schaar unter dem Befehl von Junker Meiss v. Teuffen aus Zürich ab, verstärkte sich in Bulach mit einigen Mann Fussvolk und rückte Nachts 11 Uhr in Freienstein ein. Sofort wurden die bezeichneten Häuser umzingelt. Im ersten, in das mein Vater mit einem Gefährten eingedrungen war, hatte sich der Gesuchte willig ergeben. Da riefen ihn ein paar andere Reiter zum Beistand herbei, da man das Haus, zu dessen Durchsuchung sie beordert waren, nicht hatte öffnen wollen. Als er kam, schloss ein Weib nun ohne Weigerung die Thür auf und leuchtete selbst zur Untersuchung mehrerer Gemächer. Bei der letzten Thür jedoch wehrte sie mit sichtlicher Verlegenheit ab. Die Reiter schöpften natürlich Verdacht und drangen ein, fanden aber Niemanden. Schon im Weggehen begriffen, strich mein Vater zufällig über die Decke des Bettes hin; da flog die Decke weg, zwei Männer sprangen aus dem Bett, griffen hinter einen Schrank, der eine nach einem Stock, der andere nach einem Spiess, und drangen auf ihn ein. Er rief ihnen zu, sich ruhig zu verhalten und nur ihre Namen anzugeben. Allein sie

Aus dem Leben meines Vaters.

327

fuhren wüthend auf ihn los, und seine beiden Begleiter suchten das Weite. Nun galt es, sich seiner Haut zu wehren. Er drückte sein Pistol ab; im selben Augenblick wurde hinter ihm das Licht ausgelöscht, und mit dem Säbel um sich hauend, suchte er rückwärts die Hausthüre zu erreichen. Zum Glück war der Hausgang so schmal und niedrig, dass die ihm zugedachten Hiebe sich meist an der Decke schwächten; aber auch er hieb seinen Säbel ein paar Mal darin fest. Plötzlich fühlte er sich am Halskragen seines Mantels gepackt und nach vorn gezogen; rasch drang er stechend nach, ward so wieder frei, und da nun eine Stille eintrat, gewann er das Freie. Der Lärm und das Schiessen im Hause hatte die übrigen Kameraden herbeigerufen; allein statt zur Hülfe einzudringen, blieben sie schlagfertig vor der Thür und hätten, als mein Vater herausstürzte, ihn auf ein Haar niedergemacht. Mittlerweile war auch der erste Gefangene wieder entwischt; die Verhaftung eines dritten war ebenfalls misslungen, und es begann im Dorf unruhig zu werden. Da fand es die kleine Schaar gerathen, ungesäumt ihren Rückweg nach Zürich anzutreten. Als bald nachher durch einen zweiten Auszug der Aufstand am See blutig unterdrückt worden war, und die gefangenen Häupter der Empörung, Willi, Schneebeli und H ä b e r l i n g , von einem Kriegsgericht am 25. April zum Tode verurtheilt und hingerichtet wurden, machte ihr Schicksal einen erschütternden Eindruck auf meinen Vater. Er dachte, welches Loos wohl bei andern Ausgang der Insurrektion von 1802 die eifrigsten Theilnehmer an derselben möchte betroffen haben. „Das ist der Bürgerkrieg!" — schliesst er seine handschriftlichen Aufzeichnungen darüber. Dass aber die Gährung, die nicht bloss im Kanton Zürich geherrscht hatte, durch die energischen Maassregeln rasch wieder gedämpft worden war, konnte er nur als ein Glück betrachten, da er sonst einen allgemeinen Bürgerkrieg und dahinter das Aergste, die völlige Einschmelzung in Frankreich, hätte voraussehen müssen.

328

Aus dem Leben meines Vaters.

3. Krisis in Italien. 1805-1810. Ende Januar 1805 verlor er durch einen Unglücksfall seinen Vater. Auf der Heimkehr von einem ärztlichen Besuch auf dem Lande war das neu gekaufte junge, wilde Pferd am Rain herwärts Oberwinterthur mit demselben durchgegangen; das Kabriolet wurde an einem Baum zerschmettert, und der am Kopf schwer Verwundete starb, ohne wieder zur Besinnung gekommen zu sein, am andern Morgen im Landhaus seines Bruders, „zur Pflanzschule", in dessen Nähe das Unglück begegnet war. Einige Wochen später ritt mein Vater, dem zur selben Zeit eine liebste Lebenshoffnung in Trümmer gegangen war, auf dem gleichen Pferde nach dem einsamen Bergdorf B r ü t t e n , um seinen Kummer in das Herz seines vertrautesten Freundes, des Pastors A p p e n z e l l e r , auszuschütten. Da wollte das Thier jenseits der Töss wieder durchgehen; aber diesmal kam es übel an. Mein Vater, ein fester, kühner Reiter und ohnehin jetzt in desperater Stimmung, Hess es auf der Landstrasse dahinrasen. Als es aber an der „Steig" erschöpft nachliess, trieb er es aufs Neue an, bis es endlich, mit Schweiss und Schaum bedeckt und an allen Gliedern zitternd, stille stand. Nun lenkte er um und ritt langsam nach Hause; er bedurfte des Besuches bei seinem Freunde nicht mehr, um den Sturm in seinem Innern zur Ruhe zu bringen. Gleich nachher aber verkaufte er das Unglücksthier. Durch den Tod seines Vaters und einer gleichzeitig kinderlos verstorbenen Schwester desselben in den Besitz eines beträchtlichen Vermögens gelangt, Hess er, da ihm ohnehin der Aufenthalt in Winterthur durch die Erlebnisse der letzten Zeit verbittert war, sich bereden, sein Geschäft durch Zuziehung einiger Genossen zu erweitern und einen Theil desselben nach L i v o r n o zu verlegen. Diese Handelsverbindung sollte ihm aber Glück und Frieden des Lebens auf lange Jahre hinaus gründlich zerstören und ihn ganz aus der natürlichen Lebensbahn hinauswerfen. Schon im Herbst 1806 rief ihn der Tod seiner geliebten Mutter aus Italien zurück. Auf der Heimreise hatte er, nach einem Besuche bei Vater Reding

Aus dem Leben meines Vaters.

329

in Schwyz, das ihm von 1802 her so wohl bekannte 6Oldau wenige Tage vor dem Bergsturz (6. September) passirt und manchen der treuherzigen Bewohner wieder begrtlsst. Erschüttert von der Schreckenskunde, eilte er gleich nachher wieder an die Stätte der Verwüstung, bei welchem Anlass er die rührende Szene erlebte, die er unter dem Titel „Das Glas der Liebenden" im zweiten Theil seiner „Erinnerungen" erzählt hat. So oft er nach Jahrzehenden jene Gegend mit mir durchwanderte, bewegte ihn stets die Erinnerung aufs tiefste. Den Rest des Jahres blieb er in der Heimath. In Zürich lernte er die Erzieherin seiner jüngsten Schwester kennen, eine ungewöhnlich gebildete, geistreiche Waise, deren angesehener Vater bei seinem frühzeitigen Tode eine zahlreiche Familie mittellos hinterlassen hatte. Er gewann bald ihr Herz und ihre Hand und brachte nun die nächsten Jahre abwechselnd in Toskana und in idyllischem Landleben auf seinem kleinen Landgute „ Vogelsang " bei Winterthur zu. Allein diese Idylle sollte nicht lange dauern. Das Handelsgeschäft in Livorno nahm einen verhängnissvollen Gang, wie es unter ähnlichen Verhältnissen sich oft wiederholt, damals aber bei der widernatürlichen Spannung der Weltlage unter der napoleonischen Herrschaft doppelt so leicht geschah, wo durch gewagte Spekulationen grosse Vermögen gewonnen, aber noch leichter verloren gehen konnten. Das Geld der Handlung kam zum grossen Theil von meinem Vater; aber den Geschäftsbetrieb überliess er zu sehr den Genossen. Er war so gar nicht zum Kaufmann geboren! und hatte viel mehr von der Art eines schlichten, philanthropischen Landedelmannes. Er schwärmte für Natur und Landleben, für einfache und ungeschminkte Sitten. Ihm schwebten die Ideale des Alterthums und der alten vaterländischen Zeit vor, wie er sie — ohne wissenschaftliche Bildung — aus seiner Lieblingslektüre, Homer und Plutarch und den alten Schweizerchroniken, schöpfte: Aristides, Epaminondas, Timoleon waren seine Ideale. Daneben beschäftigte er sich aus Liebhaberei mit Geometrie und Kriegswissenschaften. In allen Geldsachen bis zur Skrupulosität gewissenhaft und bis zum Exzess uneigennützig,

330

Aus dem Leben meines Vaters.

für seine Person in allen äussern Dingen einfach und bedürfnisslos, traute er in seinem arglos offenen Wesen auch Andern, denen er einmal sein Vertrauen geschenkt hatte, keinen Eigennutz und vollends keine Unredlichkeit zu. Wenn er sich aber einmal in seinem Vertrauen getäuscht sah, konnte er rücksichtslos in Zorn und Verachtung aufbrennen und dann etwa auch den besonnenen Rath wohlmeinender Freunde mit Heftigkeit von sich stossen, wenn er sah oder zu sehen glaubte, dass sie die in seinen Augen unehrenhafte Handlungsweise Anderer nach einem mildern Maassstab beurtheilten. So überwarf er sich vorübergehend auch mit den treuesten Freunden. Sah er aber ein, dass er sich zu ungerechtem Urtheil hatte hinreissen lassen, so bot er auch offen und loyal die Hand zur Versöhnung. Sein Mangel an eigenem kaufmännischem Sinn und sein sorgloses Vertrauen wurde von Genossen der Handlung missbraucht, indem sie mit dem fremden Gelde sich in allzu gewagte, leichtsinnige Spekulationen einliessen, welche das Haus in's Schwanken und zuletzt zu Fall brachten. Eine solche verdriessliche Geschäftsverwicklung war die Veranlassung zu der Reise nach Malta im Winter 1808/9, mit deren Erzählung die „Erinnerungen" beginnen. In der damaligen Zeit war auch eine kleine Seereise nicht ohne Gefahr. Schiffe unter französischer oder Frankreich befreundeter Flagge riskirten auf allen Meeren von den Engländern, unter englischer Flagge von den Franzosen gekapert zu werden. Zwar ging die achttägige Fahrt von Triest nach Malta auf einer englischen Brigantine ohne weiteres Abenteuer von Statten; doch war mein Vater Zeuge, wie bei Capo d'Istria ein ehrwürdiger Greis von Bari, dessen mit Oel nach Triest befrachtetes Schiff von den Engländern aufgebracht- worden war, selber mit Hand anlegen musste, um sein geraubtes Eigenthum auf die Brigantine überzuladen. Die fromme Ergebung, mit welcher der Greis, als sie an Bari vorüberfuhren, von den Seinigen sprach, die ihn jetzt vergeblich erwarteten, rührte ihn tief; aber ebenso lebhaft theilte er dann auch die Freude des Alten, als er in Malta erfuhr, dass ihm seine Ladung wieder freigegeben worden sei. Da die Person, die mein Vater in Malta treffen sollte, nach

Aus dem Leben meines Vaters.

331

Sizilien verreist war, wollte er die nächste Gelegenheit zur Rückfahrt benutzen und miethete sich auf einem Schiff nach Messina ein. Er hatte schon sechs Nächte, vergeblich der Abfahrt gewärtig, auf dem unreinlichen Schiffe zugebracht. Da benutzte er denn gern noch die Einladung von Bekannten zu einer Lustparthie und blieb, da ihm der Kapitän die bestimmte Zusicherung gegeben hatte, das Schiff werde in keinem Fall vor dem folgenden Tag abfahren, auch über Nacht auf dem Lande. Als er aber am Morgen an den Hafen kam, war das Schiff weg, und mit ihm sein ganzes Gepäck. Aus seinei' Verlegenheit half ihm jedoch bald die Gefälligkeit des englischen Gouverneurs, der ihm auf einer eben nach Messina abgehenden Kriegsbrigg unentgeltliche Ueberfahrt verschaffte. Als das Schiff nach einer stürmischen Fahrt in den Hafen von S y r a k u s eingelaufen war, fuhr mein Vater zum Besuch der Stadt mit andern Reisenden in einem Boot an's Land. Allein die Barke kehrte, da die Begleiter an ihrem Bestimmungsort angelangt waren, ohne weiteren Verzug zum Schiffe zurück, und dieses segelte fort. Er merkte zu spät das Missverständniss und stand nun aufs neue in bitterer Verlegenheit da, mit fünfzehn spanischen Thalern in der Tasche und einem österreichischen, in Triest der Franzosen wegen nicht nach Malta, sondern nach Smyrna ausgestellten Passe. Doch auch hier führte ihn sein Glück zu einem freundlichen Gouverneur, der, über das genaue Signalement in seinem Passe lachend, ihm auf sein ehrliches Gesicht die einfache Erlaubniss ausstellte, „das Königreich Sizilien zu durchreisen." Ohne auf die Rede des Wirthes zu achten, der ihm mit seiner wortreichen Schilderung von der Gefährlichkeit des Weges nur ein Pferd aufschwatzen zu wollen schien, trat Vater am andern Morgen früh seine Weiterreise zu Fuss an, da er ohnehin ein passionirter Fusswanderer war. Er erfuhr aber, dass es mit der Oede der Route längs des Meeresufers nicht so ganz ohne war, und auch nicht mit ihrer Gefährlichkeit. Zwar stiess er auf keine Briganten; wohl aber setzten ihn bald Sümpfe, bald brückenlose Bergbäche und anderwärts wieder Büffelheerden und die sie bewachenden Hunde in allerlei Ungelegenheit. Nach einem müh-

332

Aus dem Leben meines Vaters.

seligen Tagmarscli langte er mit völlig zu Grunde gerichtetem Schuhwerk in A g o s t a an und sah sich daher genöthigt, da in dem Nest kein Ersatz zu finden war, andern Tages seine Reise doch zu Pferd fortzusetzen. Als er sich Catania näherte, entzückte ihn der grossartige Anblick des Aetna. Wie gern hätte er nähere Bekanntschaft mit ihm gemacht; allein daran war jetzt nicht zu denken. In C a t a n i a traf er am Abend tisch mit einer Gesellschaft von Klosterleuten zusammen. Er Hess sich mit ihnen in's Gespräch ein und erzählte, wie er hieher gekommen, wobei ihm nur auffiel, dass die Herrn immer einsilbiger wurden. Früh am andern Tag setzte er, wieder mit dem Nöthigsten ausgerüstet, seine Reise zu Fuss fort. Er gerieth aber gleich vor der Stadt auf einen Abweg, und als er die Strasse endlich wieder fand, kam gerade der Zug der Herren daher, beritten und wohlbewaffnet, eine Sänfte in der Mitte. Er schloss sich ihnen unbefangen an und gab sich im Verlauf des Gespräches als Schweizer zu erkennen. Anfangs waren sie wieder sehr wortkarg geblieben; nun aber bekam er vollauf zu thun, ihre neugierigen Fragen nach seinem Vaterlande, von dem sie die absonderlichsten Vorstellungen verriethen, zu beantworten. Am Mittagessen endlich gestanden sie ihm, völlig aufgethaut und zutraulich geworden, sie hätten ihn gestern für einen sie ausforschenden Briganten gehalten, da sie eben in der Sänfte einen Klosterschatz mit sich fahrten, den sie nach Palermo abzuliefern hatten. Nun aber, da sie sich überzeugt, dass er ein Schweizer und also ein Galantuomo sei, so suchten sie auf alle Weise ihre anfängliche Unfreundlichkeit wieder gut zu machen. Sie theilten ihren köstlichen Klosterwein mit ihm; j a sie thaten es nicht anders, er musste abwechselnd mit zu Pferde sitzen. Er war für diese gutmüthige Gesellschaft bis in die Nähe von Messina um so dankbarer, als er unterwegs nichts als Spuren der traurigsten Verwahrlosung des Landes wahrnahm, was eine einsame Fusswanderung durch die sonst so entzückende Landschaft ihm zu einem geringen Vergnügen würde gemacht haben. In Messina traf er zu seiner grossen Herzenserleichterung das Schiff, das ihm in Malta durchgegangen war, mit seinem

Aua dem Leben meines Vaters.

333

Gepäck glücklich weder an. Da er aber den Mann, dessen habhaft zu werden der Hauptzweck seiner ganzen Reise war, auch hier nicht mehr vorfand, so nahm er die nächste Schiffsgelegenheit zur Rückreise nach T r i e s t auf einer g r i e c h i s c h e n Polakra, die aber, um unter sizilianischer Flagge fahren zu dürfen, zum Schein messinesische Schiffsleute mitnehmen musste. Schon bei der Ausfahrt erwiesen sich jedoch dieselben so untauglich, dass sie das Schiff in der Strömung der Meerenge in die grösste Gefahr brachten, hätte nicht der griechische Kapitän, ein roher, aber seetüchtiger Mann, die Leitung noch rechtzeitig in die Hand genommen. Auf dem Schiffe waren ausser der sizilianischen Scheinbemannung und der griechischen Genossenschaft, der das Schiff gehörte, noch einige Griechen und Türken, — bis auf zwei junge gebildete Griechen, an die sich mein Vater bald anschloss, ein rohes und unsauberes Volk. Kaum war man auf offener See, so nahm der griechische Schiffsherr eine Untersuchung des Gepäckes aller Passagiere vor. Alles, was bei einer englischen Untersuchung den Besuch französischer Orte verrathen konnte, wurde ohne Umstände in's Meer geworfen. Auch den Papieren meines Vaters, die als deutsch von vornherein verdächtig vorkamen, drohte dasselbe Schicksal, dem sie nur die freundschaftliche Vorsicht eines der beiden griechischen Freunde entzog. Dann wurde das Schiff in Verteidigungszustand gesetzt, wie es hiess, gegen die Algeriner, von denen eben damalB eine Korsarenflotille ausgelaufen sein sollte. Das Schiff zeigte sich so wohl mit allen Waffen versehen, und die Griechen nahmen ein so martialisches Aussehen an, dass meinem Vater der Verdacht aufsteigen wollte, er sei bereits auf ein Piratenschiff gerathen. Auf der Höhe von Taormina tauchte am Horizont ein verdächtiges Schiff auf. „Die Algeriner, die Algeriner!" Der Wind verhinderte nach der sizilianischen Küste zurückzufahren, und an der calabresischen wäre man den Franzosen in die Hände gefallen; dartm wurde beschlossen, es zu versuchen, mit dem schnell segelnden Schiff nach den jonischen Inseln zu entkommen. Allein die feindliche Fregatte näherte sich von Stunde zu Stunde, und es war deutlich, dass sie Jagd auf das Schiff machte. Die Sizilianer

334

Aus dem Leben meines Vaters.

heulten und beteten; die Griechen machten sich schweigend kampfbereit, und meinem Vater wurde unheimlich bei dem Gedanken an eine unfreiwillige Reise nach Algier. Die Fregatte kam heran und gab das Signal zum Beidrehen; aber erst auf den dritten Kanonenscliuss gehorchte die „Maria", als die englische Flagge aufgehisst wurde. Es war in der That eine englische Fregatte, welche eine Handelsflotille nach Triest begleitete. Das Schiff erhielt Befehl, sich derselben anzuschliessen. Nun, nachdem die Gefahr vorüber war, hielten die Sizilianer sich für die ausgestandene Angst und Frömmigkeit durch ebenso ausgelassene Lustigkeit und Frivolität schadlos. Die Griechen dagegen blieben sich gleich und sannen nur darauf, bei nächster Gelegenheit sich wieder aus der Gesellschaft der langsamer fahrenden Flotte davon zu machen. Sie führten das auch richtig gleich in der folgenden Nacht aus. Allein nun wurde das Schiff, da bald ein heftiger Sturm und dann wieder Windstille eintrat, acht Tage lang in beständiger Furcht vor den Korsaren, vor den Franzosen und nun auch vor den Engländern, im adriatiseben Meere umhergetrieben. Und zuletzt, schon nahe bei Triest, stiess es im Nebel dicht bei dem von den Franzosen besetzten P i r a n o aufs Land. Zum Glück machte bei Tagesanbruch, als eben der Nebel sich hob, die Fluth noch rechtzeitig das Schiff wieder flott, und so entrann es mit knapper Noth der Gefahr, hart vor dem Ziele noch den Franzosen in die Hände zu fallen.

4. Nach Rnssland. 1811. Bald nachher sollte Vaters Lebensschifflein in Stürmen zerschellen, denen er die ganze Ladung preisgab, um nur seine Ehre zu retten. Leichtsinn des einen, falsche Spekulationen des andern seiner Genossen in dem Handelsgeschäft, das theils in Winterthur, theils in Livorno betrieben wurde, führten dieses dem Ruin entgegen. Das Hauptvermögen kam von meinem Vater; um seinerseits wenigstens aus diesem die Schulden zu bezahlen, drang er

Au« dem Leben meines Vaters.

335

auf Auflösung der Verbindung und auf Herausgabe der Gelder von Livorno. Da diese aber verweigert wurde, legte er die Liquidation in die Hände der Gerichtsbehörden der Vaterstadt. Allein auch hier wurde die Sache so lange hingehalten, bis das ganze Vermögen vollständig verloren war. Dieser Ruin zog auch den meinem Vater noch viel schmerzlicheren seines häuslichen Glückes nach sich. Schon in den ersten Jahren hatte es zwischen den beiden lebhaften, energischen, ideal gerichteten, aber in auseinanderliegenden Lebensanschauungen aufgewachsenen Gatten wohl ab und zu Feuer gegeben; aber nun trat durch die unglücklichen Verhältnisse, ohne persönliche Verschuldung, allmählig eine unglückselige Entfremdung zwischen ihnen ein. Sie, die durch ihre Ehe aus einer abhängigen Lage zu Wohlstand und, was ihr noch mehr wog, in eine gesellschaftlich angesehene Stellung gekommen war, ertrug es schwer und legte es ihm zur Last, nach wenigen Jahren wieder daraus zurücktreten zu sollen. Mein Vater dagegen, der den Verlust äusserer Güter leichter ertrug, wenn er nur Ehre und Gewissen unverletzt bewahrte, Hess sich durch den ihn am tiefsten verletzenden Argwohn von ihr entfremden, dass sie ihn, der ihr eine leidenschaftliche Liebe entgegengebracht, also doch nur um des Geldes willen genommen habe. So war ihm das Leben in der Heimath zum zweiten Male vergällt. Verwandten zur Last zu fallen, war ihm unerträglich. Und so reifte der Entschluss in seiner Seele, in die Fremde zu gehen, um da wenigstens sein Leben in den Dienst einer grossen Sache, der Befreiung der Völker vom Joche Napoleon's, zu stellen. Da schon Anfangs 1811 der Bruch mit Russland in Aussicht stand, entschloss er sich in russische Kriegsdienste zu treten. Ende März 1811, gerade als die Kanonen der Welt die Geburt des Königs von Rom verkündigten, verliess er die Heimath und reiste, mit warmen Empfehlungen von Vater Reding an den Grafen S t a c k e l b e r g , den russischen Gesandten am österreichischen Hofe, versehen, nach Wien. Der Gesandte nahm ihn gut auf und machte ihm grosse Hoffnungen auf baldige Anstellung. Nachdem endlich der Kurier einen Reisepass für ihn von Peters-

336

Aus dem Leben meines Vaters.

bürg gebracht, konnte er am 13. Juli, vom Grafen Stackelberg reichlich mit Briefen und Empfehlungen an den russischen Kriegsminister und mit Reisegeld versehen, die Reise nach P e t e r s b u r g antreten. Diese war, namentlich damals, mit Mühsalen und Strapazen aller Art verbunden, besonders für jemanden, dem Sprache und Sitten noch völlig unbekannt waren. Auch Vater musste reichliches Lehrgeld bezahlen. Er genoss zwar den Vortheil, in militärischer Kleidung und im Dienst der Regierung zu reisen, was ihm, als zur zwölften Menschenklasse gehörend, durch seinen Postpass das Recht auf zwei Pferde vor die elende Kibitke zusicherte. Allein er brachte es doch nicht fertig, sich dieses Vortheils in ächt russischer Weise zu bedienen. So viel lernte er bald, „dass man sich in diesem Land als unter Wilden betrachten muss, die unter der Leibeigenschaft zwar die meisten Fehler, aber lange nicht alle guten Eigenschaften der freien Wilden besitzen, und wie diese, lüstern nach allem, was sie sehen, sich nur mit Mühe von der Befriedigung ihrer Gelüste abtreiben lassen." Gegen Strapazen aller Art war er abgehärtet; den Mangel an allem Coiüfort ertrug er in seiner Bedürfnisslosigkeit leicht; aber sein Interesse, Natur und Menschen eines neuen Landes aus erster Hand kennen zu lernen, fand wenig befriedigende Nahrung. Einige Edelsitze und Städte ausgenommen, kam ihm das Land vor, wie er sich Deutschland vor tausend Jahren vorstellte. Und vollends die Menschen, mit denen der Reisende in Berührung kam, schmutzige, zudringliche Juden, grobe oder betrügerische Posthalter, besoffene und diebische Postillone, brutale Offiziere, in deren Gesellschaft er ein paar Male gerieth, — das war für ihn eine schlechte Bereicherung seiner Menschenkenntniss. Um so mehr freute ihn wenigstens Eine Ausnahme, ein Kosak, der ihm einen abhanden gekommenen Beutel mit Kupfergeld triumphirend wieder verschaffte. „Seine Augen funkelten von der reinsten Freude, so dass ich mich beinahe scheute, ihm ein Trinkgeld zu geben, so uneigennützig war seine Freude," — was nun freilich von Vater mehr rein menschlich als russisch empfunden sein mochte. Am 28. Juli langte er in der prächtigen Kaiserstadt an der

Aus dem Leben meines Vaters.

337

Newa an. Gleich andern Tages beeilte er sich, seine Briefe bei dem Kriegsminister B a r c l a y de T o l l y abzugeben. Dieser empfing ihn über alle Erwartung freundlich, wie einen alten Bekannten, und versprach, ihn seinem Wunsche gemäss bei den Husaren anzustellen. Zwei Tage nachher war wieder Audienz beim Kriegsminister. „Einsam und verlassen stand ich da, in meiner einfachen Kleidung zwischen all den Herren in reichgestickten, mit Orden behangenen Uniformen, zwei lange Stunden im Yorsaal. Ich fühlte mich recht unter Fremden. Da kam aus dem Kabinet des Kriegsministers ein besternter Herr, nannte mich grüssend mit Namen und fragte mich, ob ich glücklich gereist sei. Es war ein General, in dessen Gesellschaft ich einmal in Wien beim Gesandten gespeist hatte. Unsere Unterhaltung war kaum zu Ende, so drängten sich viele der glänzenden Herren um mich, den armen Fremdling, als hätte ich Stellen zu vergeben, weil — ein Liebling des Kaisers freundlich mit mir gesprochen hatte! Endlich erlöste mich das Kommen des Kriegsministers aus einer Lage, die mir zehnmal peinlicher war als die vorige." Er bekam die gewünschte Anstellung bei einem Husarenregiment und die Anweisung, sich zu einer Kurier-Reise nach Kurland in Bereitschaft zu halten, mit der Eröffnung weiterer Aussichten, die hoch Uber seine kühnsten Erwartungen hinausgingen. Freudetrunken theilte er, in den Gasthof zurückgekehrt, diese Glucksnachrichten einem Landsmann, dem Oberstlieutenant beim Generalstab P a r a v i c i n i , mit. Ruhig hörte ihn dieser an, stellte einige Fragen über seine Vermögensverhältnisse und zeigte ihm dann ganz nüchtern die Kehrseite der Medaille. Je länger er selbst nun diese betrachtete, desto schwerer ward ihm um's Herz: er, ein Fremder, ohne eigene Mittel, auf blosse Protektion gestellt, aber seinem ganzen Charakter nach unfähig, auf russisch gebräuchlichem Wege diese Protektion auszunützen, zu all dem ein Mann, dessen republikanisches Herz sich wider alles empörte, was an Leibeigenschaft erinnerte, und der gewohnt war sein Herz auf der Zunge zu tragen, — nein, für ihn konnte Russland nur zum Gefängniss werden, in das er im Begriffe stand, durch glänzende Trugbilder sich hineinlocken zu lassen. Das russische B i e d e r m a n n , Vortrüge und Aufs&tze.

22

338

Aus dem Leben meines Vaters.

Sprichwort: „der Himmel- ist hoch und der Kaiser weit weg!" klang ihm stets mit dem Nachsatz in den Ohren: und Sibirien nahe! Er hatte nnn allen Sinn fttr Freude verloren und blieb meist traurig und nachdenkend zu Hause. Eines Tages kam Paravicini, der mit ihm im gleichen Gasthofe wohnte, um ihn aus seinem trüben Brüten heraus zu reissen, indem er ihm die angenehme Bekanntschaft eines gelehrten Waffenbruders zu verschaffen versprach. Mein Vater lehnte ab: er sei nicht in der Stimmung und brauche das nicht; er habe an seinem Scharnhorst und Valentini genug. „Das ist freilich etwas Anderes," bemerkte lächelnd Paravicini, nahm ihn aber bei der Hand, führte ihn in das anstossende Zimmer und — stellte ihn V a l e n t i n i , dem Verfasser seines Lieblingsbuches „Ueber den kleinen Krieg," leibhaftig vor. Diese Bekanntschaft trug nicht wenig dazu bei, ihm den Aufenthalt in Petersburg angenehmer zu machen. Aber auch Valentini theilte ihm noch manches mit, was den Entschluss in ihm zur Reife bringen musste, um jeden Preis wieder loszukommen. Nach ein paar schlaflos zugebrachten Nächten suchte er mit schwerem Herzen beim Kriegsminister um eine Audienz nach. „Treu und offenherzig, wie es einem Schweizer ziemt, eröffnete ich ihm den Beweggrund meines Dienstgesuches, stattete ihm meinen Dank ab für eine so schnelle Anstellung, entdeckte ihm eben so offenherzig meine ganze Lage, meine frühern und jetzigen Ansichten, meine Bedenklichkeiten und Wünsche, bat, das wankelmüthig Scheinende in meinem Betragen durch die mir früher unbekannt gewesenen Umstände zu entschuldigen, und in gütiger Beherzigung alles dessen mir die Entlassung zu gewähren. Ich entdeckte ihm auch die Absicht, in englischen Kriegsdienst zu treten, in welchem ich j a auch der gleichen grossen Sache dienen würde. Gütiger, als ich zu hoffen gewagt, hörte er mich an, schwieg einige Augenblicke und gab mir endlich eine Antwort, die mich nicht daran zweifeln liess, es sei meine Offenheit ächt menschlich von ihm beherzigt worden. Mit schwerem Herzen hatte ich den sauren Gang gethan, mit erleichtertem kehrte ich nach meiner Wohnung zurück. Am nächsten Audienztag ertheilte

Aus dem Leben meines Vaters.

339

mir der würdige Mann die willkommene Freiheit wieder und gab mir zugleich einen Wink, dass weder mein Betragen missdeutet worden sei, noch ich das mir geschenkte Zutrauen verscherzt habe." B a r c l a y de T o l l y , ein Schotte von Herkunft, kannte aus eigener Erfahrung das Schwere in der Stellung eines Fremden im russischen Heere; wurde sie ihm doch im folgenden Jahr selbst auf der höchsten Stufe, als Oberfeldherr im grossen Kriege, nicht erspart. Nun athmete mein Vater wieder auf und konnte frohen Muthes den Best seines Petersburger Aufenthaltes gemessen. Besonders interessant war ihm die Bekanntschaft des Weltumseglers K r u b e n s t e r n , an welchen dessen zürcherischer Reisegefährte, Hofrath H o r n e r , ihn empfohlen hatte. Er durchwanderte in allen Bichtungen die prächtige Stadt und bewunderte ihre grossartigen Bauten. Mit noch grösserem Interesse mischte er sich in das Treiben des russischen Volkslebens in den Strassen. Allein nach allem, was er von Russland gesehen, kam ihm Petersburg vor „wie ein Diamant in Blei gefasst". Und trotz all des Guten, mit dem er überhäuft worden war, sehnte er sich aus dem ihn beengenden Lande hinweg. Die Abreise verzögerte sich wegen der weitläufigen Passformalitäten. Endlich erhielt er seinen Pass und zugleich vom Kriegsminister Briefe und Depeschen an verschiedene Gesandte in London. Das anerbotene Beisegeld aber glaubte er nicht annehmen zu dürfen, indem er sich durch die anvertrauten Aufträge, die ihm auch in England zur Empfehlung dienen würden, für geehrt und belohnt genug fühlte. Am 6. September ging er von R i g a aus auf einem Bremer Schiff unter Segel, eben als der grosse Komet am Himmel erschien. Die Stürme, auf welche die Matrosen diesen deuteten, liessen auch nicht lang auf sich warten. Ueberhaupt sollte die ganze Fahrt ungewöhnlich lang und mühselig werden. Er musste während derselben nicht weniger als fünf Mal das Schiff wechseln. Er hatte nämlich auch Aufträge an den Admiral der englischen Kriegsschiffe, welche die letzte diesjährige, bei Karlskrona sich sammelnde Handelsflotte auf der Bückkehr nach England zu 22*

340

Aus dem Leben meines Vaters.

beschützen hatte. So kam er als Offiziersgast auf ein prächtiges englisches Kriegsschiff, die „Defence", die bei Trafalgar mitgekämpft hatte, und erhielt so Gelegenheit, am Jahrestag von Trafalgar der Sieges- und Trauerfeier auf der „Victory", auf welcher Nelson gefallen war, beizuwohnen. Da er auf der Defence von Seite der Offiziere die liebenswürdigste Aufnahme gefunden, bedauerte er sehr sie sobald wieder verlassen zu müssen, weil das Schiff eine andere Bestimmung erhielt. Einige Monate später aber erfuhr er in England, däss das Schiff bald nachher an der norwegischen Küste mit der ganzen Mannschaft untergegangen sei! Allein auch auf den andern englischen Schiffen, auf die er übergehen musste, zuletzt auf der Korvette „Pylades", traf er es gleich gut, so dass er in sein Tagebuch bemerkte: „Wenn alle Engländer denen gleichen, mit welchen ich bis dahin in Berührung gekommen bin, so denke ich mit diesem Volke gut auszukommen. Von französischer Höflichkeit fand ich bei diesen Menschen wenig; dagegen Gastfreiheit, Herzlichkeit, Offenheit und eine natürliche, nicht zudringliche, aber dafür desto redlichere Dienstfertigkeit, die einen nicht beengt, sondern gleich heimisch unter ihnen werden lässt." Vom 25. Oktober an wurde der Pylades von einem rasenden Sturm in der Nordsee herumgeworfen. Am 28. traf er auf ein untergehendes Danziger Handelsschiff, dessen Bemannung nur mit der äussersten Anstrengung der Matrosen gerettet werden konnte. Das Benehmen der Seeleute bei diesem Anlass war für meinen Vater, der elend seekrank darniederlag, erhebend: „Ja bei solcher Gelegenheit offenbart es sich, dass Gott den Menschen in's Herz geschrieben: ihr seid alle Brüder!" Später stiess man noch auf ein verlassenes Schiff, auf dessen Deck sich nur noch ein halbverhungerter Pudel vorfand. Am 3. November endlich legte sich der Sturm, und der übelzugerichtete Pylades konnte in den kleinen Hafen von P e t e r s head im nördlichen Schottland einlaufen. Da die Ausbesserung der Korvette geraume Zeit erforderte, mein Vater aber seiner Briefschaften wegen nicht länger glaubte säumen zu dürfen, verliess er, des Seefahrens ohnehin herzlich satt, das Schiff und eilte so schnell als möglich mit der Post

Aus dem Leben meines Vaters.

341

nach London. Alles, was er auf der schnellen Durchfahrt beobachten konnte, Land und Leute, machte ihm durch den grösstmöglichen Kontrast mit dem, was er von Russland gesehen, den wohlthuendsten Eindruck. Es wehte ihn heimathlich an und er athmete, wie einem Kerker entronnen, tief auf.

5. In englischem Kriegsdienst. 1811—1813. Am 9. November früh kam er in London an. Der erste Empfang beim portugiesischen und beim sizilianischen Gesandten, die er ungesäumt aufsuchte, war zwar kein ermuthigender, da er zum Dank den Vorwurf eines saumseligen Eilboten hören musste. Doch, da er an diesem Vorwurfe höchst unschuldig war, verschmerzte er ihn leicht, zumal ihn das Glück in seinem Hauptanliegen, eine Anstellung zu finden, vom ersten Tag an über alle Erwartung begünstigte. Wie er so planlos durch die Strassen schlenderte, um sich vorläufig ein wenig in der riesigen Stadt umzusehen, hörte er neben sich die deutschen Worte: „Sieh da, ein französischer Lumpenhund." Unwillkürlich wandte er sich um und sah, dass der schöne Gruss von zwei Unteroffizieren der schwarzen Jäger des Herzogs v. B r a u n s c h w e i g - O e l s herkam und ihm galt. Rasch trat er auf sie zu: „Sie irren sich, meine Herren; ich bin weder ein Franzose, noch ein Lumpenhund, sondern ein Schweizer, und bin hier, bereit derselben Sache zu dienen, wie Sie." Nun entschuldigten sie sich sehr, sie hätten ihn seiner Kleidung nach für einen französischen Offizier gehalten. Um ihre Unhöfiichkeit gut zu machen, gaben sie ihm über den Herzog und seine Heldenschaar alle gewünschte Auskunft und machten ihn gleich mit einem ihrer Offiziere bekannt. Dieser verschaffte ihm am andern Tag nach der Wachtparade eine Audienz bei dem Herzog, der ihn freundlich empfing und ihm sofort die nächste vakante Offiziersstelle versprach, wenn er inzwischen als Wachtmeister eintreten wolle. Schon war er beinah entschlossen den Antrag anzunehmen, als er beim Nachhausegehen

342

Aus dem Leben meines Vaters.

von dem ihn begleitenden Offizier zufällig erfuhr, dass ein Kamerad mit einem Landsmann von ihm im gleichen Hause wohne. Er suchte, da er keine bekannte Seele in London hatte, diesen sofort auf und fand zu seiner freudigsten Ueberraschung statt eines Unbekannten einen Schulkameraden und nachherigen Schreiber in seinem väterlichen Hause, der in sehr guten Verhältnissen in London etablirt war. Den andern Tag machte er durch dessen Vermittlung die Bekanntschaft des Generalmajors von der D e c k e n von der deutschen Legion. Dieser stellte ihn dem Herzog v. Cambridge, dem Oberbefehlshaber der Legion vor, und von diesem erhielt er schon am 16., acht Tage nach seiner Ankunft in London, eine Anstellung als Offizier beim zweiten Jägerbataillon der Legion. Die deutsche Legion war ein Korps von 10—12 000 Mann in englischem Sold, das zum grössten Theil aus Norddeutschen, besonders Hannoveranern, bestand, welche sich der französischen Gewaltherrschaft entzogen hatten. Ein Theil der Legion stand gegenwärtig unter Wellington in Spanien; der andere sollte sich in England wieder ergänzen, um dann, je nach dem Gang der Weltereignisse, vielleicht auf ein näher liegendes Feld der Thätigkeit geworfen zu werden. Dieser Theil der Legion hatte ein stehendes Lager bei Bexhill an der Sttdkttste von England bezogen, wohin nun auch mein Vater sich begab, sobald seine Ausrüstung besorgt war. Dies Lagerleben in Bexhill dauerte das ganze Jahr 1812 hindurch, ohne grosse Abwechslung, aber ohne die. Langeweile eines Garnisonlebens im Frieden. Die meisten Offiziere waren gebildete Norddeutsche, die nicht als Söldner dienten, sondern in patriotischer Begeisterung, den Boden des Vaterlandes von der Fremdherrschaft zu befreien, so dass mein Vater, von der gleichen Idee erfüllt, sich in keiner Hinsicht als Fremdling unter ihnen fühlte. Die Ergänzung und Einübung der Mannschaft zu einer mustergültig kriegstüchtigen Truppe gab immer Beschäftigung genug. Und für die Annehmlichkeit der Offiziere war auf' alle Weise gesorgt. Freilich gab gerade dies dann jedesmal gegen Ende des Quartals, vor der Auszahlung des Soldes, auch hinlänglich Anlass, „die sehr nützliche Kunst zu

Aus dem Leben meines Vaters.

343

lernen, sich nach der Decke zu strecken." Nun, zu dieser Kunst hatte Vater von Natur schon die besten Anlagen und war durch sein bisheriges Schicksal tüchtig darin geschult worden; so wurde sie ihm denn auch für sein ganzes Leben zur andern Natur. Zwei Dinge lernte er aber weder damals noch später: Rauchen und Spielen; er hat in Beinem Leben nie eine Karte angerührt. Die Legion hatte ein buntes, schmuckes Aussehen. Die Linienregimenter trugen die rothe englische Uniform, die Jägerbataillone dagegen grüne, und zwar jedes wieder von anderem Schnitt; das zweite besonders eine nicht bloss überflüssig sondern geradezu unpraktisch prunkvolle, mit der reichverschnürten Husarenjacke, der grossen rothseidenen Schärpe und dem wallenden Federhut selbst für die untern Offiziersgrade. Der Gang des Feldzuges in Bussland, 1812, hielt die Blicke erwartungsvoll nach Osten gespannt. Die dunkeln Gerüchte von der über die grosse Armee hereingebrochenen Katastrophe drangen fast noch früher nach England als nach dem nähern Deutschland, und als endlich das 29. Bulletin den Schleier vollends zerriss, sah die Legion mit gespannter Ungeduld dem Augenblick entgegen, wo sie auf deutschem Boden mit theilnehmen konnte an der allgemeinen Völkerbefreiung. Ende März 1813 kam endlich der Befehl zur Einschiffung und wurde mit allgemeinem Jubel aufgenommen. Der Haupttheil der Legion wurde nach Mecklenburg geworfen, eine kleinere Abtheilung nach Hamburg, wo schon Mitte März die Franzosen abgezogen und unter unendlichem Jubel der Kosakenoberst Tettenborn am 18. eingerückt war. Die Begeisterung und Opferwilligkeit der Bürgerschaft war grenzenlos; aber leider fehlte den Behörden das Geschick, sie praktisch zu organisiren, und auch die militärische Leitung lag nicht in den besten Händen, während eine starke französische Macht unter Davoust und Vandamme wieder im Anzüge war. Die Schreckensgerichte und Bluturtheile in Osnabrück und Bremen stellten Hamburg das härteste Schicksal in Aussicht, so bald es wieder in ihre Hände fallen sollte. Eine Zeit lang hielten die Dänen, die noch schwankten, welche Partei sie ergreifen wollten, die Stadt zur Verteidigung besetzt,

344

Aus dem Leben meines Vaters.

bis sie mit den Franzosen Frieden schlössen und Hamburg verliessen. Das Hülfskorps von der Legion hatte nach einer durch Stürme verzögerten Ueberfahrt erst am 28. April nach Hamburg gelangen können. Es wurde ihm die Vertheidigung der wichtigen Elb-Insel Wilhelmsburg zwischen Hamburg und Harburg übertragen. Allein durch das verrätherische Einverständniss eines dänischen Oberoffiziers mit dem Feinde gelang es diesem, am 8. Mai die Insel zu überrumpeln und die Besatzung auf den Vödel, eine kleine Insel näher bei Hamburg, zurückzudrängen. Zum Schein wichen die Franzosen am 12. wieder von der Wilhelmsburg zurück und lockten dadurch die zur Wiedereinnahme übergesetzte Schaar in einen Hinterhalt, bei welchem Anlass der Verräther zum Feind überging, ein anderer aber, der seinem Beispiele folgen wollte, von den Jägern erschossen wurde. J)ie kleine Schaar wurde von allen Seiten mit Uebermacht angegriffen und an die Elbe zurückgedrängt, wo die Anfangs in Ordnung begonnene Einschiffung bald in eine regellose Ueberfüllung der Kähne ausartete. Mein Vater befehligte die den Rückzug deckende Nachhut; als der letzte warf er sich in's Wasser, um dem bereits vom Lande gestossenen letzten Boote nachzuschwimmen. Allein er sank in den nassen Kleidern nnd wäre verloren gewesen, wenn ihm nicht ein Kamerad, der selbst am Fusse verwundet war, zu Hülfe gekommen wäre. Ohne weitere Schädigung durch die nachgesandten Kugeln wurde das andere Ufer erreicht. Am 29. Mai wurde Hamburg geräumt, und am 30. rückte D a v o u s t ein. Die Drangsalszeit, die seine eiserne Härte bis zum Frühjahr 1814 über die unglückliche Stadt verhängte, hat seinem militärisch unbefleckten Ruhmeskranz ein schwarzes Blatt eingeflochten. Wenn Vater von ihm erzählte, nannte er ihn nie anders als „dä Waest." Die englische Besatzung von Hamburg vereinigte sich mit dem Armeekorps, das unter Walmoden in Mecklenburg stand und während des Sommers dieses Land gegen Davoust zu vertheidigen und namentlich dessen Vordringen nach Berlin zu verhindern hatte. „Gegen den 50000 Mann starken Feind ist das

Aus dem Leben meines Vaters.

345

Heer Walmoden's zwar bedeutend schwächer und zudem aus sehr verschiedenen Bestandtheilen zusammengesetzt, jedoch dem Feind überlegen an Artillerie, namentlich aber an dem Alle beseelenden Geist des Gemeinsinns und der Vaterlandsliebe, während unsere Gegner einzig für einen ehrgeizigen Eroberer streiten," — so schrieb mein Vater aus dem Feldlager an seinen Freund Appenzeller. Besonders hatte er seine Freude an den Lützowern, die zu ihnen gestossen waren: „ein herrlicher Aufwuchs der kräftigsten Jünglinge, wie sie das Vaterland jetzt bei seiner Wiedergeburt bedarf!" In Mecklenburg war er Zeuge der allgemeinen Begeisterung, mit der alle Stände wetteiferten, an der Befreiung von dem verhassten Franzosenjoch Antheil zu nehmen: die Einen, indem sie selber zu den Waffen strömten, so dass die Einübung der neuen Mannschaft auch während des Waffenstillstandes Arbeit genug gab; die Andern, indem sie über die Kräfte des armen Landes hinaus dem befreundeten Heer alle mögliche patriotische Unterstützung boten. Nur Eines wollte meinem Vater in dem Lande nicht gefallen: die vielen Leibeigenen. Sonst aber gehörten „die braven Mecklenburger" stets zu seinen liebsten Erinnerungen. Darum habe ich, unter dem Eindruck seiner Erzählungen, als Knabe mir Mecklenburg immer als ein wahres Eldorado vorgestellt, und ist mir vielleicht auch von daher später Fritz R e u t e r doppelt lieb geworden. Im Herbst war das Heer dem aus Schwerin auf Hamburg zurückweichenden Davoust bis an die Elbe nachgerückt und drang über dieselbe in's Lüneburgische vor, wo es im Görder Walde •einem französischen Korps unter General Pecheux am 16. September eine empfindliche Niederlage beibrachte. Dann zog es sich aber wieder über die Elbe zurück und bereitete sich auf den Vormarsch gegen Hamburg vor. Da traf am 23. Oktober die Siegesnachricht von der Völkerschlacht bei Leipzig ein, die einen unbeschreiblichen Jubel hervorrief.

346

Aus dem Leben meines Vaters.

6. Reise in's Vaterland, im Winter 1813/14. Nun kam in meinem Vater ein Gedanke, mit dem er sich schon lange getragen, zur Reife. „An den Kriegszügen gegen Napoleon nahm ich nicht als blosser Söldling, sondern weil ich sie als einen Kampf für Freiheit und Menschenrechte ansah, mit Leib und Seele und einem uneigennützigen Eifer, der mir freilich oft missdeutet worden ist, Antheil." Er war Zeuge gewesen der begeisterten Volkserhebung in Norddeutschland. Wie die Verhältnisse in der Schweiz standen, die in den Jahren der Napoleonischen Herrschaft weniger unter dem Drucke gelitten, war ihm im Einzelnen nicht bekannt; aber der Gedanke gewann immer mehr Gestalt in ihm, auch sein engeres Vaterland sollte dem allgemeinen Völkerbündniss wider den Unterdrücker beitreten. Nach der Schlacht von Leipzig schien ihm der Augenblick dazu gekommen. Schriftlich und mündlich theilte er General Walmoden seine Gedanken mit. Dieser gab ihm einen Urlaub zur Reise nach F r a n k f u r t in's Hauptquartier des Fürsten S c h w a r z e n b e r g , wo er seinen eingereichten Plan schriftlich und mündlich noch näher entwickeln musste, und nach einer Audienz bei Metternich von diesem angewiesen wurde, nach Stockach zu reisen, wo er mit dem k. k. Kämmerer Graf Salis zusammentreffen und dessen weitere Anweisungen erhalten sollte. Am 29. November traf er bei demselben ein, erhielt aber zunächst ein paar Tage Urlaub zu einer Reise nach seiner Vaterstadt: dann sollte er sich in Waldshut wieder bei Salis einfinden. Am 1. Dezember langte er nach dritthälbjähriger Abwesenheit in W i n t e r t h u r an. Unerkannt in der fremden Uniform, kam er bis mitten in das Städtchen. Er wollte zunächst den Freund besuchen, der ihm bei seiner Abreise in die Fremde zuletzt noch das Geleit gegeben hatte; da erhielt er vom ersten Bekannten, den er auf der Strasse antraf, den Bescheid: vor einigen Wochen gestorben! Er begab sich darauf zu dem Kaufmann, dem während seiner Abwesenheit die Besorgung seiner ökonomischen Angelegenheiten übertragen war, um einiges Geld

Aus dem Leben meines Vaters.

347

bei ihm zu erheben: der theilte ihm mit, dass Alles verloren sei und er keinen Gulden mehr sein nennen könne. Endlich ging er zu einem Freund, der mittlerweile durch die Verheirathung mit der Schwester seiner Frau sein Sehwager geworden war. Seine Frau selbst lebte seit der Trennung wieder in Zürich. Von dem Schwager erfuhr er, dass sie, von anderen Verwandten gedrängt, eben die Scheidungsklage wider ihn, den Landesabwesenden, eingereicht, habe, und dass ihm der Zutritt zu ihr wtirde verweigert werden. Das war der Empfang in der Heimath. Am späten Abend dieses Tages wurde heftig an die Thür des stillen Pfarrhauses in BrUtten gepocht, und als die Magd öffnete, stürmte zu ihrem Schrecken ein fremder Offizier in's Haus. Die Freude der Ueberraschung für den treuen Freund Appenzeller verwandelte sich in tiefstes Mitgefühl mit dem desperaten Seelenzustand des so grausam um all seine an die Heimath geknüpften Hoffnungen Betrogenen. Diese Nacht kam kein Schlaf über die Augen der beiden Freunde. Aber aufgerichtet und mit wiedergewonnenem Glcichmuth schied Vater am andern Tag von dannen, und begab sich, seine persönlichen Hoffnungen begrabend, nach Waldshut, wohin er bestellt war, um wenigstens noch für sein Vaterland thätig zu sein. Allein auch hier erwartete ihn eine bittere Enttäuschung. Die Schweiz war mit der Napoleonischen Mediationsverfassung im Grossen und Ganzen zufrieden gewesen. Immerhin aber hatte sich die thatsächliche Abhängigkeit von dem allmächtigen Mediator drückend genug zu empfinden gegeben. 1805 und 1809 hatte die Tagsatzung um Anerkennung der Neutralität bei ihm nachgesucht, war aber kurz abschlägig beschieden worden: es fiel Napoleon nicht ein, der Schweiz ihren Menschentribut von 16000 Mann zu erlassen. Sobald nach der Katastrophe in Bussland im Frühjahr 1813 Preussen sich erlfob, und die Aussicht auf einen Umschwung der Weltverhältnisse sich aufthat, hielten weitblickende patriotische Staatsmänner in Bern es für angezeigt, dass die Schweiz nun selbst ihre Neutralität erkläre, dann aber auch mit aller Energie für dieselbe einstehe. Allein der damalige Landammann der Schweiz, Bürgermeister R e i n h a r t von Zürich,

348

Aus dem Leben meines Vaters.

wollte vor der Hand nicht darauf eingehen. Bei seiner Bewunderung des Feldherrn-Genie's Napoleon's war es ihm noch sehr fraglich, ob dieser nicht schliesslich doch wieder siegreich aus dem Kampfe hervorgehen werde. Darum schien ihm das Rathsamste, die Schweiz halte sich so lang als möglich ganz still und warte den Gang der Ereignisse ab, ohne sich nach irgend einer Seite hin zu kompromittiren. So Hess er selbst die ordentliche Tagsatzung im Sommer vorübergehen, ohne dass diese Fragen auch nur berührt wurden. Als jedoch nach der Schlacht von Leipzig die verbündeten Heere gegen den Rhein vorrückten, die deutschen Bundesgenossen Napoleon's einer nach dem andern abfielen, und die Aussicht immer drohender nahe trat, dass die Alliirten ihren Vormarsch nach Frankreich auch durch die Schweiz würden nehmen wollen, da wurde endlich auf Mitte November eine ausserordentliche Tagsatzung nach Zürich berufen. Wenige Tage vorher waren, zwar geheim und ohne offiziellen Charakter, als russischer Gesandter Graf Gapo d ' I s t r i a , und als österreichischer Baron v. L e b z e l t e r n eingetroffen, um vorerst zu sondiren und dem Landammann der Schweiz vertraulich die Erwartung der Alliirten mitzutheilen, dass die Schweiz sich offen der gemeinsamen Sache anschliessen werde. R e i n h a r t , aus lauter Diplomatie naiv, lud die beiden Herren mit dem französischen Gesandten, Graf August v. T a l l e y r a n d , zusammen zu sich ein. Am 18. November beschloss die Tagsatzung einstimmig, ihre vollständige Neutralität zu erklären, beide kriegführenden Mächte gleichzeitig durch Gesandte hievon in Kenntniss zu setzen, sofort mit dem ersten Aufgebot von 20000 Mann die Grenzen zu besetzen, das zweite auf das Piquet zu stellen und in einer Proklamation an das Volk die feierliche Erklärung zu geben: „die Freiheit und Unabhängigkeit des Vaterlandes zu bewahren, seine gegenwärtige Verfassung zu erhalten, unser Gebiet unverletzt zu behaupten, das ist der einzige, aber grosse Zweck aller unserer Anstrengungen." Bald nachher wurde zum Oberbefehlshaber General v. W a t t e n w y l , der ehemalige Landammann der Schweiz, ernannt, der loyal fest entschlossen war seine Pflicht zu thun.

Aus dem Leben meines Vaters.

349

Napoleon nahm die Neutralitätserklärung sehr gut auf; denn jetzt war sie ihm nur zum Vortheil. Auch in Frankfurt wurden die beiden Gesandten, Reding und Escher, mit ihrer Neutralitätserklärung von den Monarchen „ehrenvoll und wohlwollend" aufgenommen; immerhin aber gab man ihnen sehr deutlich zu verstehen, die Schweiz hätte zu ihrem eigenen Vortheil besser gethan, der gemeinsamen Sache der Unabhängigkeit Europa's freiwillig und offen beizutreten. Und obgleich Kaiser Alexander sich entschieden günstig für die Respektirung der Neutralität und der durch die Mediation geschaffenen innern Verhältnisse der Schweiz aussprach, musste die Gesandtschaft doch heimkehren, ohne eine ganz bestimmte Zusicherung erhalten zu haben. Man behielt sich immer offen, dass die diplomatischen Rücksichten zuletzt doch den militärischen würden nachstehen müssen. Und österreichischerseits liess man sehr deutlich die Geneigtheit durchblicken, zu einer Wiederherstellung der frühern Zustände die Hand zu reichen, so bald nur von der Schweiz aus ein Wunsch darnach laut würde. Dies aber blieb nicht aus. In Bern hatte schon seit einiger Zeit die Partei der extremen Patrizier, die „Unbedingten", oder „die Clique der Exaltirten", wie Bie etwa auch genannt wurden, sich zu einem „Wiederherstellungsverein" verbunden. Sie standen zwar ausserhalb der Regierung, und die einsichtigeren Mitglieder derselben missbilligten ihr Treiben, am entschiedensten Wattenwyl. Aber die natürliche Neigung des ganzen Patriziates ging eben doch nach dieser Seite, und liess sich die Regierung während der Abwesenheit Wattenwyl's zu der Thorheit verleiten, die Proklamation der Tagsatzung in einer abgeänderten Form, welche nur von der Neutralität sprach, den Passus von der Aufrechterhaltung der Verfassung dagegen wegliess, im Kanton Bern zu veröffentlichen. Dadurch wurde das allgemeine Misstrauen gegen Bern gesteigert und traf unverdienter Weise auch die Berner Besatzung von Basel unter Oberst H e r r e n s c h w a n d und den General Wattenwyl selbst. Der „Wiederherstellungsverein" ging aber noch weiter. Um schneller an's Ziel zu gelangen, begaben sich einige seiner exal-

350

Aus dem Leben meines Vaters.

tirtesten Mitglieder, Oberst Gatschet, Hauptmann v. Steiger, OberKommissär Wyss und Hauptmann Werdt von Toffen, Uber die Grenze und bildeten unter der Leitung des Grafen Salis-Soglio, der in österreichischen Diensten stand und wegen seiner Besitzungen im Veltlin ein persönliches Interesse an der Wiederherstellung der Verhältnisse vor 1798 hatte, das sogenannte „ Waldshuter-Komitö." Dieses setzte sich mit dem österreichischen Hauptquartier in direkte Verbindung und rief unter der Vorspiegelung, es sei dies die allgemeine Stimmung in der Schweiz, die fremde Hülfe zur Abschllttelung der Mediationsverfassung an. Dieser Ruf fand bei der österreichischen Diplomatie bereitwilligstes Gehör; denn nun hatte sie den gewünschten Vorwand, dem militärischen Plan, durch die Schweiz in Frankreich einzurücken, nicht länger diplomatische Bedenken entgegen zu setzen, und bald schob sich das Hauptquartier nach F r e i b u r g im Breisgair vor. Diese ganze Sachlage nun war meinem Vater unbekannt, als er sich am 3. Dezember zu W a l d s h u t bei dem Grafen Salis einstellte. „Dieser ertheilte mir den Auftrag, die Schweiz zu bereisen, die Stimmung gegen die Alliirten, besonders aber die Gesinnung der Befehlshaber der schweizerischen Grenzbesatzung und die Zeughäuser von Aargau und Waadt auszuforschen; auch womöglich das Fort l'Ecluse; und zwar sollte ich diese Heise in der Verkleidung eines Schweizeroffiziers machen. Da gingen mir die Augen auf, dass ich zu ganz anderen Zwecken Dienste leisten sollte als zu dem, der allein mich in die Heimath gerufen hatte. Ich schlug es rund aus, meine englische Kriegskleidung gegen eine andere zu vertauschen, und nahm einen Reisepass unter meinem wahren Namen und Stand. In Zürich bemerkte ich wenig Neigung, sich an die Verbündeten anzuschliessen, und Landammann R e i n h a r t lehnte den Antrag, wenigstens den Schweizertruppen in französischem Dienst die Erlaubniss zum Uebertritt zu gestatten, mit edler Würde ab. Auf der Landschaft des Kantons Zürich fand ich allgemeine Anhänglichkeit an die Mediationsverfassung, ebenso im Aargau, und dabei grosses Misstrauen und Abneigung gegen Bern. In Bern dagegen gab sich die Bereitwilligkeit zum Anschluss an die Verbündeten offen kund,

Aus dem Leben meines Vaters.

351

und nicht viel weniger unverhohlen wurde selbst die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung des Aargau und der Waadt unter die alte Herrschaft der Stadt und Republik Bern ausgesprochen. „Was ich da sah und hörte, liess mich eher einen Bürgerkrieg fürchten, als einen freien Beitritt meiner Landsleute zu dem grossen Bunde hoffen. Schon am 10. Dezember kehrte ich von Bern nach Zürich zurück, ohne mich um die Zeughäuser von Waadt und Aargau zu bekümmern, und theilte den dort anwesenden Abgeordneten Russlands und Oesterreichs, Capo d'Istria und Lebzeltern, meine Bemerkungen mit und reiste am 13. nach F r e i b u r g im Breisgau, wo ich den Grafen Salis im Hauptquartier antraf. Er empfing mich sehr frostig und schickte mich nach L a u f f e n b u r g , um da auf der faulen Haut zu liegen. Hier sah ich mit Verwunderung, wie die Offiziere des Berner Bataillons im schweizerischen Lauffenburg zu Zusammenkünften mit den Oesterreichern in's Badische herüber kamen." Inzwischen nämlich hatten die Dinge einen für die Schweiz wenig ehrenvollen Verlauf genommen. Die Tagsatzung hatte zwar feierlich die Neutralität und ihren Entschluss proklamirt, dieselbe kräftig aufrecht zu erhalten; — allein sie hatte dazu überhaupt nur 20 000 Mann unter die Waffen gerufen und von diesen nur 12 000 Mann an die allein bedrohte Nordgrenze geworfen, gegen welche ein Heer von 180000 Mann direkt heranrückte. Das sah von vornherein mehr der Schaustellung einer diplomatischen Protestation gleich, als dem Entschlüsse, wirklichen Widerstand zu leisten. R e i n h a r t , durch die guten Worte, die Kaiser Alexander fortwährend geben liess, in Sicherheit eingewiegt, hielt Weiteres nicht für nöthig, aber auch nicht für möglich. Er sah es daher für seine höchste diplomatische Aufgabe an, zu sorgen, dass die Schweiz'wenigstens so ungeschlagen als möglich durchkomme, und zwar — wie denn Sparsamkeit im eigenen wie im Staatshaushalt ein hervorragender Charakterzug bei ihm war - mit Vermeidung aller unnützen Kosten. Die Früchte der verhängnissvollen Thätigkeit des „Waldshuter-Komite" reiften rasch. In Abwesenheit des Kaisers Alexander wurde der Einmarsch in die Schweiz beschlossen und am

352

Aus dem Leben meines Vaters.

19. Dezember von dem Feldmarschall Bubna dem zu einer Unterredung nach Lörrach eingeladenen Befehlshaber der Besatzung von Basel schon auf den folgenden Tag angezeigt. Herrenschwand hatte auf diesen Fall hin bereits von General Wattenw y l die Ermächtigung erhalten, zur Verhütung unnützen Blutvergiessens sich vor der Uebermacht zurückzuziehen. Schon am 17. nämlich war im Auftrag von Metternich, aber ohne offizielle Beglaubigung, ein Graf S e n f f t - P i l s a c h in Aarau erschienen und hatte Wattenwyl den Durchmarsch der Alliirten als unwiderruflich beschlossen angekündigt. So überschritten denn die fremden Heere am 21./22. Dezember den Rhein bei Basel, Lanffenburg und Schaff hausen. Und in Bern brachte es Senfft-Pilsach durch sein kategorisches Auftreten dahin, dass der Rath nach einigem Widerstreben am 23. die Regierung in die Hände des alten Regimentes von „Schultheis«, Räthen und Bürgern der Stadt und Republik Bern" niederlegte, als gerade die Vorhut des österreichischen Heeres in die Stadt einrückte. Mein Vater war Zeuge des Rheinübergangs bei Lauffenburg gewesen und musste dann den Grafen Salis in Bern aufsuchen. Da er aber mit all dem, was hier vorging, nichts zu thun hatte und nichts zu thun haben wollte, begehrte er von ihm die Entlassung und kehrte in den ersten Tagen des Januars 1814, in all seinen Hoffnungen getäuscht und mit wundem Herzen, wieder zu seinem Heer in Norddeutschland zurück, das er am 18. in Holstein antraf, im Begriff, bei Blankenese über die gefrorene Elbe zu setzen, gerade in dem Moment, wo Thauwetter eintrat. Der Schlitten, auf dem er mit einem kranken Hauptmann von den Lützowern überfuhr, brach auch richtig ein, als sie fast das jenseitige Ufer erreicht hatten; doch kamen sie noch mit einem kalten Fussbad davon. In nassen Kleidern musste er aber unverzüglich eine Kurierreise nach Hannover antreten. Zum Ueberfluss verfehlte der Postknecht im tiefen Schnee der Lüneburger Haide den Weg und warf um, wobei der Wagen in Stücke ging. Anderthalb Stunden musste Vater im schmelzenden Schnee zur nächsten Station waten und die Reise im offenen Bauernwagen fortsetzen. Mit erfrorenen Füssen langte er in Hannover an und

353

Aus dem Leben meines Vaters.

traf im Gasthof mit einem befreundeten Offizier zusammen, der aber in der Stadt ebenfalls fremd war. Da erinnerte er sich eines Herrn H a u s m a n n von Hannover, mit dem er im Spätherbst 1805 auf einer Schweizerreise zusammen getroffen war und zu Brunnen in fröhlicher Gesellschaft „eine ossianische Nacht" bei Föhnsturm zugebracht und auch nachher in Toskana schöne Tage verlebt hatte. Diesen Hess er bitten, ihm einen Arzt zu schicken. Sofort aber nahm ihn Herr Hausmann in sein eigenes Haus auf und verpflegte ihn wie einen Bruder bis zu seiner völligen Wiederherstellung. Nur dieser sorgfältigsten Pflege hatte es Vater zu verdanken, dass er nicht einen Fuss verlor. Im März endlich konnte er wieder zum Heere zurückkehren und musste bald nachher eine Schaar Neuangeworbener nebst einer Anzahl jüngerer Offiziere nach E n g l a n d hinüber begleiten. Als sie von der Weser in die offene See kamen, hörten sie heftiges Schiessen; erst bei der Ankunft in England erfuhren sie, dass es der Nachricht vom Einzug der Verbündeten in Paris gegolten hatte. Als sie an's Land stiegen, war überall Jubel. „Es ist Friede! scholl es uns entgegen. Mit diesem Zauberworte verbindet man so gern die hoffnungsvolle Erwartung von Ruhe, Ueberfluss, vermehrtem Erwerb und verminderten Lasten. Aber der Krieg ist eine Krankheit, von der sich die Länder nur langsam erholen, und die Nachwehen schmerzen um der getäuschten Hoffnungen willen oft mehr noch als der Krieg selbst."

7. Waterloo. 1815. Wenn je, so blieben in der That diese Enttäuschungen jetzt nicht aus. Der Wiener Kongress schickte sich an, sie den Völkern im grössten Maasstab zu bereiten. Die deutche Legion hatte sich im Laufe des Sommers fast vollständig wieder in ihrem alten Lager bei Bexhill zusammengefunden, wurde aber im September nach B e l g i e n übergesetzt, und die Jäger zu ihrem minderen Vergnügen als Besatzung nach O s t e n d e verlegt. Meinem B i e d e r m a n n , Vorträge und Aufsätze.

23

354

Aus dem Leben meines Vaters.

Vater behagte es in diesem „Land der unendlichen Ebene" — wie er seine Briefe an den geistlichen Freund in der Heimath datirte — grundschlecht. „Zwar scheint meine Gesundheit auch in diesem Fröschenklima ausdauern zu wollen, noch hin ich frisch und gesund, während wir sehr viele Kranke haben. Aber Hütten lasst uns hier nicht bauen; denn dies Land ist eine völlige AntiSchweiz. Zwischen Holland und Frankreich gelegen, haben diese Menschen von den Erstem das Niedrige des Krämergeistes und von ihren französischen Nachbarn die Unreinlichkeit angenommen. Wir sind hier gar nicht beliebt, obgleich wir alles, selbst die Wohnungen, reichlich bezahlen und die beste Mannszucht halten; denn — wir sind ja Ketzer, wie diese armen Menschen glauben. Vom Ausgang des Kongresses in Wien hängt auch das Schicksal unserer Legion ab; endigt er friedlich, so werden wir abgedankt und die Offiziere mit Halbsold entlassen." — Noch am 1. März 1815 schrieb er von T o u r n a y , hart an der französischen Grenze: „Jetzt geht's bald nach Haus, und das Beduinenleben nimmt ein Ende. Schon die Hälfte unserer Leute ist verabschiedet und auf dem Weg nach der Heimath. Bald werde ich Dich umarmen!" Aber schon nach zehn Tagen musste er schreiben: „Wie hat sich alles geändert: N a p o l e o n ist g e l a n d e t ! Zwar hat König Ludwig ihn für einen Verräther erklärt und allen Behörden Befehl ertheilt, Jagd auf ihn zu machen. Diese Jagd möchte jedoch ihre Schwierigkeit haben; denn Napoleon ist wohl kaum zurückgekommen, ohne eines grossen Anhangs versichert zu sein, und in seiner rastlosen Thätigkeit wird er die Zeit der ersten Bestürzung zu benutzen wissen. Dem sei nun, wie ihm wolle, bis diese Adlerjagd zu Ende ist, bleibt unsere Abdankung aufgeschoben." — Schon wenige Tage nachher kamen die Bourbon's auf ihrer Flucht nach G e n t durch die Stadt. Anfangs April formirte sich das Heer für den bevorstehenden Feldzug in Brigaden und Divisionen. Die zwei Jägerbataillonc und zwei Linienregimenter der Legion bildeten unter Oberst O m p t e d a die zweite Brigade der von General von Alten kommandirten dritten Division. Das Heer konzentrirte sich langsam von der französischen Grenze ostwärts in der Richtung gegen

355

Aus dem Leben meines Vaters.

Brüssel. Einen vollen Monat lag die Brigade in Escaussines d'Engliien, 3 Stunden von Nivelles. Mein Vater lag bei einem Grobschmied im Quartier, der mit zwei Schwestern, alle drei unverlieirathet, in geschwisterlicher Eintracht zusammenlebte. „Alles in diesem Hause — schrieb er — geht zu wie in einem Bienenkorb. Stets sind diese Menschen thätig, dazu fröhlich und sehr gutmüthig, und auch ihre Wohnung ist reinlich. Wie manche frohe Stunde bringe ich bei diesen traulichen Menschen zu. Nebenan wohnt der Reichste des Ortes; aber Unfriede herrscht in seinem Haus. Reichthum allein macht also auch hier so wenig glückliche Menschen als anderswo." Diese Idylle nahm plötzlich ein Ende. Am 15. Juni Abends sassen die Offiziere noch ganz ruhig und ohne Ahnung von einer nahen Heeresbewegung bei der gemeinschaftlichen Mahlzeit, als auf einmal die Nachricht von einem Angriff der Franzosen auf die P r e u s s e n das Heer allarmirte. Noch in der Nacht wurde aufgebrochen und nach Nivelles marschirt. Am 16. wurde die Brigade nach Süden gegen Charleroy vorgeschoben, weil von dorther ein Angriff der Franzosen erwartet wurde. Seitwärts hörte man den Kanonendonner des Treffens von Q u a t r e b r a s und konnte aus dem allmähligen Schwächerwerdcn desselben abnehmen, dass der Feind sich zurückziehe. In der Nähe von Quatrebras wurde bivouakirt, und nun erfuhr man, dass gestern hier nach heftigem Widerstand Marschall Ney zwar zurückgedrängt worden, der heldenmüthige Herzog von Braunschweig aber gefallen war. Der Vormittag des 17. verging unter Plänklergefechten, doch ohne ein entscheidendes Ereigniss. Nachmittags aber wurde in Folge der Nachricht von dem für die Preussen unglücklichen Ausgang der Schlacht von Ligny der allgemeine Rückzug auf der grossen Heerstrasse nach Brüssel angeordnet. Wellington war entschlossen, diesseits des grossen Waldes von Soignes auf den Höhen vor Waterloo Stellung zu nehmen und am andern Tag der nachdrängenden Hauptmacht der Franzosen zu einer Entscheidungsschlacht Stand zu halten, im felsenfesten Vertrauen 23*

356

Aus dem Leben meines Vaters.

auf die Zusage des rastlosen B l ü c h e r , trotz der schweren Verluste von Ligny und Fleurus ihm zu Hülfe zu kommen. Die Brigade Ompteda bildete auf dem Rückzug die Nachhut und hatte gegen den stark nachdrängenden Feind oft einen harten Stand. Zugleich zog ein unerhört heftiges Gewitter auf und entlud sich in einem wolkenbruchartigen Regen. „Wir mussten durch die in Bäche verwandelten Hohlwege und über grundlos gewordene Getreidefelder, im Trabe laufend, durch G e n a p p e nach der Brüsseler Heerstrasse hinziehen. In Genappe, wo uns das Wasser bis an die Kniee reichte, trafen wir mit unserer eben erst aus dem Innern des Landes herbeieilenden Reiterei zusammen. Im Freien angelangt, hiess es: die Heerstrassc für die Reiterei und das Geschütz freigelassen, das Fussvolk rechts und links in die Kornfelder! Das Getreide stand aber dicht und hoch, und der Thongrund war ganz weich. Hungrig und schwerbepackt, wie unsere Leute waren, hatten wir ein hartes Stück Arbeit, uns mit den auf der Heerstrasse Ziehenden in Richtung zu halten. Links und rechts drangen zahlreiche feindliche Haufen heran; zum Glück aber konnte die feindliche Reiterei zu unsrer Linken in den bodenlosen Kornfeldern nicht mehr fortkommen und musste, wie das Geschütz, das unsre rechte Seite beunruhigte, der Heerstrasse zuziehen, und so gewannen wir wieder Vorsprung. Unser Geschütz scheuchte den Feind durch ein gut gerichtetes Feuer zurück, so oft er zu grob nachdrang. Dennoch versuchte die französische Reiterei ein paar Mal einzuhauen und warf auch wirklich ein englisches Husaren-Regiment. Schnell bildeten wir Vierecke; zugleich stürmte die schottische Garde-Reiterei wie ein Gewitter heran und verjagte den Feind; sonst wären wir wohl in ein ernsthaftes Nachzugs-Gefecht verwickelt worden. Sowie der Feind geworfen war, setzten wir uns wieder in Bewegung. Vor uns her hatten wir den traurigen Anblick, ganze Schaaren von Landleuten ihre Wohnungen verlassen zu sehen, um sich und ihre bewegliche Habe in Sicherheit zu bringen. Männer, ihr Vieh vor sich her treibend, andere mit Bündeln bepackt, Weiber, ihre Kinder tragend und nachziehend, flohen jammernd nach allen Seiten landeinwärts.

Aus dem Leben meines Vaters.

357

„Kurz vor Nacht langten wir auf der Höhe vor dem Dorfe M o n t - S a i n t - J e a n an, wo unser Heer Halt machte und seine Schlachtordnung einnahm. Ernst und still zog jede Brigade in die ihr angewiesene Stellung. Der Feind drang scharf nach, und schien nicht übel Lust zu haben, uns noch durch den Wald von Soignes zurückzudrängen. Allein unser zahlreiches Geschütz donnerte ihm ein nachdrucksvolles Halt! entgegen. Schon war es dunkel, und noch immer hörten wir links und rechts und hinter uns in verschiedenen Sprachen den Befehl ertheilen, in die Schlachtordnung einzuschwenken. Als es Nacht war, erhielt unser Bataillon Befehl, den 500 Schritt vor dem Centrum der englischen Linie im Thalgrund an der grossen Heerstrasse gelegenen Meierhof la H a y c S a i n t e zu besetzen. Zwei Kompagnien wurden in die Gebäude und den ummauerten Hof verlegt, drei in den davorliegenden Baumgarten, den eine Hecke umgab. Unter den Letzteren war auch ich. Wieder strömte der Regen auf uns hungrige und ermüdete Krieger herab. Feuer durften wir nicht halten, weil wir dicht vor dem Feinde lagen. Und wenn wir es auch gedurft, so hätten wir es des Regens wegen kaum unterhalten können. So unangenehm uns dieser Regen war, so verschaffte er uns doch für den folgenden Tag den grossen Vortheil, dass das feindliche Geschütz nur schwer von der Stelle konnte, und seine Kugeln in dem weichcn Grunde stecken blieben. „Auf das Getümmel des Tages folgte tiefe Ruhe und Stille. Dass am folgenden Tag eine entscheidende Schlacht bevorstand, unterlag keinem Zweifel, und ernste Gedanken beschäftigten wohl die Meisten in dieser Nacht, die für Viele von uns die letzte sein konnte. Auch ich frug: wirst du wohl die Heimath und deine Thcuren wiedersehen, oder rafft auch dich ein feindliches Schwert aus diesem unruhigen Leben hinweg? Dann werden wohl jene bei der Nachricht von deinem Tod in liebevoller Erinnerung deiner gedenken und sagen: endlich ist ihm Ruhe geworden! So an der Pforte des Todes erscheint einem Vergangenheit und Zukunft in weit ernsterm Licht als sonst. Doch der Mensch ist j a stets an der Pforte der Ewigkeit; nur wird er durch seine Umgebungen

358

Aus dem Leben meines Vaters.

nicht immer so ernst daran gemahnt. So verfloss die feierliche Nacht vor dem verhängnissvollen 18. Juni." Der Regen hörte gegen Morgen auf, und denr ganzen Tag bedeckte nur schweres Gewölk den Himmel. Die Leute erhielten Erlaubniss, ein Feuer anzuzünden, um sich ein wenig zu trocknen. Unvorsichtiger Weise wurde auch das grosse Thor der Scheune, das in's Freie führte, dazu benutzt, was später die Vertheidigung wesentlich erschwerte. Von Lebensmitteln wurde nur ein Schwein und ein Sack Erbsen vorgefunden und nicht sehr brüderlich vertheilt; mein Vater musste froh sein, nur ein wenig Erbsen und Salz zu bekommen. Den ganzen Vormittag hatte man Zeit, das Gehöfte in möglichst guten VertheidigungszustaRd zu setzen. Und auch als gegen Mittag zur Rechten und bald darauf auch zur Linken der Kampf aufs Heftigste entbrannt war, blieb das Centrum und sein vorgeschobener Posten noch unangegriffen. N a p o l e o n hatte die Morgenstunden zu einem prunkvollen Aufmarsch seines Heeres verwendet, wobei zum letzten Mal die Regimenter ihn mit dem berauschenden „Vive l'Empereur!" begrüssten. Er wollte mit dem Angriff warten, bis das aufgeweichte Terrain für Artillerie und Kavallerie, woran er den Engländern bedeutend überlegen war, praktikabler würde, und zugleich hoffte er auf ein rechtzeitiges Eintreffen von Grouchy, der gestern die Preussen hatte verfolgen und vollends abtreiben sollen, um dann mit seiner gesammten Macht das englische Heer um so vollständiger zu vernichten. Die Möglichkeit, da.ss statt Grouchy's die Preussen auf dem Kampfplatz erscheinen könnten, lag ausser seiner Berechnung. W e l l i n g t o n dagegen baute fest auf die Zusage B l ü c h e r ' s ; für ihn war jede Stunde Verzug des Angriffs ein unschätzbarer Gewinn. Darum sah das englische Heer von seiner Aufstellung auf dem gegenüberliegenden Höhenzug dem prächtigen Schauspiel des französischen Aufmarsches still und unbeweglich zu. Erst um halb 12 Uhr ertönte der erste Kanonenschuss, der die mörderische Entscheidungsschlacht eröffnete. Zuerst warf sich der Feind auf die beiden Flügel, doch nur in der Absicht, das durch die Entsendung von Verstärkung geschwächte Centrum dann im Hauptangriff zu durchbrechen. Allein schon der Angriff

Aus dem Leben meines Vaters.

359

auf den r c c h t e n Flügel verbiss eich bei dem fieberhaften Ungestüm, welcher an diesem Tag das französische Heer noch mehr beseelte als sonst, in die erfolglose Bestürmung des heldenmüthig vertheidigten Schlosses Huguemont, das seitwärts von la Haye Sainte das Vorwerk des rechten englischen Flügels bildete. Vollends entwickelte sich der Angriff auf den l i n k e n Flügel bei P a p e l o t t e zur ersten Hauptaktion des Tages. Hier war nämlich der Angriff bis halb- 2 Uhr verzögert worden, weil eben, als er beginnen sollte, Napoleon die ersten Anzeichen von einer zu seiner Rechten herannahenden Heermasse erhielt, über die er bald ausser Zweifel gesetzt wurde, dass es nicht der erwartete G r o u c h y , sondern die P r e u a s e n waren. Nun verstärkte er die Wucht des Angriffs, um noch vor der Ankunft des neuen Feindes die Engländer von ihrem linken Flügel ab auf das Centrum zu werfen und so ihre Vereinigung mit den Preussen zu vereiteln. Der ganze rechte Flügel der Franzosen stürmte an la Haye Sainte vorbei die Höhen hinan, wurde aber nach blutigem Handgemenge geworfen und von der britischen Kavallerie in den Thalgrund hinunter verfolgt. Da aber diese vom Siegesrausch sich zu weit fortreissen liess, wurde sie von den französischen Kürassieren unter grossen Verlusten wieder zurückgetrieben. Mittlerweile war ein Theil der französischen Angriffskolonne auf der Heerstrasse vorgedrungen, um zunächst la H a y e S a i n t e wegzunehmen. Erst dichte Tirailleurschwärme, dann geschlossene Kolonnen drangen von vorn und von der Seite her gegen den Baumgarten vor, aus dem die Jäger sie mit lebhaftem Feuer empfingen. Eine der ersten Kugeln tödtete den Hauptmann, der noch vor 3 Tagen gegen meinen Vater eine Flasche gewettet, es werde in den ersten 8 Tagen zu keiner ernsthaften Aktion kommen. Haufenweise sanken die Jäger, und die Franzosen drangen mit immer grösserer Uebermacht heran. Es gelang ihnen, stellenweise die Hecke niederzureissen, und in den Lücken wurde erbittert mit Bajonett und Kolben gekämpft. Als mein Vater einmal einem jungen Offizier rückwärts einen Befehl zugerufen, sah er beim Umwenden dicht vor sich einen Flintenlauf gegen sich gerichtet, und im selben Moment den Blitz. Unwillkürlich schloss

360

Aus dem Leben meines Vaters.

er die Augen und sagte der Welt Lebewohl. Da hörte er den Schuss, fühlte sich unverletzt; aber hinter ihm lag der junge Kamerad niedergestreckt. Dieser hatte für den Festtag der Schlacht den Gallahut mit dem Federbusch behalten, während mein Vater des Regens wegen nur das unscheinbare Wachstuchkäppi trug. Da ertönte das Horn zum Rückzug aus dem Baumgarten ; allein um sich mit den Kameraden in dem ummauerten Hof zu vereinen, musste man aussen herum. Gleichzeitig kam ein zur Unterstützung gesandtes Bataillon Hannoveraner herbei. Das geschah aber in dem Moment, wo die französischen Kürassiere in der Verfolgung der englischen Kavallerie daherstürmten, und ehe das heraneilende Bataillon sich zum Carré formiren konnte, wurde es über den Haufen geworfen und fast ganz vernichtet. Auch die Jäger wurden in die Verwirrung desselben hineingerissen, und nur dem kleinern Theile gelang es, in den Hof hinein zu kommen. Die Andern wurden abgesprengt, und nun galt es zu laufen, um vor den Kürassieren und den von der hintern Seite des Hauses herandringenden französischen Jägern die Höhen der englischen Hauptlinie zu erreichen. Noch Viele wurden von den verfolgenden Kürassieren niedergehauen. Als mein Vater das nächste Viereck der Legion erreichte, lagen die Leute schon im Anschlag, so dass er sich nur noch schnell niederwerfen konnte, um kriechend unterzukommen. Die Kürassiere kehrten jedoch diesmal noch ohne Angriff auf die Vierecke zurück. Es war ungefähr 3 Uhr. Für kurze Zeit trat auf diesem Theile des Schlachtfeldes eine Pause der Sammlung ein. Mit den übrigen Geretteten trat mein Vater in die Reihen des Vierecks. Und nun mussten sie den ganzen langen Nachmittag hindurch an derselben Stelle den unaufhörlichen, immer heftiger wiederholten Angriffen der französischen Kavallerie Stand halten. Das englische Centrum vor M o n t - S a i n t - J e a n war schachbrettförmig in Vierecken, etwas gedeckt hinter dem Höhenrand, aufgestellt. Vorn am Rand erwiederten die Batterien das Feuer der französischen Artillerie. So lang diese spielte, lagen die Bataillone am Boden-, in jedem stand nur ein Offizier, zum Kommando bereit. Sobald aber die Helme der feindlichen Kürassiere am Rand der

Aus dem Leben meines Vaters.

361

Höhe erschienen und darum die französische Artillerie ihr Feuer einstellen musste, vcrliessen die Kanoniere die Geschütze, eilten in die Vierecke und nun hiess es: Auf! Wenn dann die Kürassiere, oben angelangt, die Batterien verlassen sahen, jubelten sie schon begeistert ihr vive l'Empereur! Aber vor ihnen standen die festgeschlossenen Vierecke im Anschlag. Diese waren vier Glieder tief formirt; die zwei vordem knieten. Sie Hessen den Feind bis auf 30 Schritt heranstürmen und gaben dann mit der Präzision des Exerzierplatzes eine mörderische Salve, welche die Reihe der Panzerreiter in Unordnung auseinander riss. Seltener nur geschah es, dass einzelne unbeschädigte Reiter weiter gradaus in die Linien einstürmten und hie und da Lücken rissen, die sich aber bald wieder über ihren Leichen zusammenschlössen. Gewöhnlich schwenkten die Schwadronen, von der ersten Salve erschüttert, links und rechts ab und suchten mit ihren weithinreichenden Schwertern dem Feind von der Seite beizukommen. Allein damit geriethen sie in's Kreuzfeuer, und dann brach die englische Kavallerie durch die Zwischenräume hervor und trieb sie wieder zurück bis an den Abhang hinunter. Aber kaum gesammelt, wiederholten sie den Ansturm, bis die Erschöpfung sie zwang, sich in den Thalgrund zurückzuziehen. Dann wurden die kurzen Pausen benutzt, die Verwundeten so viel als möglich fortzuschaffen und die Glieder wieder fest zusammen zu schliessen. Mein Vater hat mich immer versichert, es sei während des ganzen Nachmittags von diesen berühmten, zwölfmal mit der grössten Bravour wiederholten Reiterangriffen kein einziges Viereck der Legion zersprengt worden. Wohl aber wurden einige ihrer Bataillone, die überrascht wurden, bevor sie sich formiren konnten, von den Kürassieren fast vollständig zusammengehauen. Furchtbar schmolzen die Haufen zusammen. Das Viereck, in dem mein Vater stand, konnte sich, wenn es sich ringsum gegen die Reiter schliessen musste, zuletzt nur noch nothdürftig zu einem schwachen Dreieck formiren. „Das waren die längsten Stunden meines Lebens", pflegte mein Vater zu sagen, wenn er mir die Schlacht erzählte. Auch W e l l i n g t o n , der in der Nähe hielt, mochte Aehnliches empfinden,

362

Aus dem Leben meines Vaters.

als er auf die Uhr sah und sagte: „wenn nur die Preussen kämen, oder die Nacht!" Als aber im kritischen Moment des zweiten grossen Hauptangriffes der gesammten französischen Kavallerie Lord Hill ihn um seine Instruktion bat, im Fall ihm ein Unglück begegnen sollte, gab der eiserne Herzog die kurze spartanische Antwort; „Aushalten bis auf den letzten Mann!" Und dies war, unausgesprochen, das Losungswort seines ganzen Heeres. Es war nach 3 Uhr gewesen, als N e y seinen ersten Reitersturm auf Mont-Saint-Jean unternommen hatte. Da erschien um 47a Uhr das erste p r e u s s i s c h e Armeekorps in der rechten Flanke und im Rücken der Franzosen auf dem Schlachtfeld, und ohne die Ankunft der andern abzuwarten, warf B l ü c h e r die ersten Brigaden gleich mit aller Wucht auf das Dorf P l a n c h e nois. Napoleon schickte ihm einen Theil seiner Reserve, die junge Garde, entgegen, worauf sich ein wüthender Kampf um den Besitz des Dorfes erhob, der zwei Stunden lang mit wechselndem Erfolg hin und her wogte. Napoleon aber wollte, so lange er sich dieses Feindes zu seiner Rechten glaubte erwehren zu können, das englische Heer vor sich um jeden Preis durchbrechen und vernichten. Ney ging daher aufs neue, diesmal mit der ganzen Kavallerie, 77 Schwadronen, zum Sturme vor. Zunächst musste aber das Vorwerk la H a y e S a i n t e endlich genommen werden, welches das heldenmüthige Häuflein seiner Vertheidiger bis dahin noch immer zu halten vermocht hatte. Und auch jetzt Uberliessen sie erst, als die letzte Munition verschossen und der Brand von Scheune und Haus nicht mehr zu bemeistern war, die Trümmerstätte der feindlichen Uebermacht und suchten sich zu den Ihrigen durchzuschlagen, Avas aber nur wenigen mit ihrem tapfern Befehlshaber, Major B a r i n g , gelang. Die meisten von denen, wclche im Hause gefangen genommen wurden, machten die Franzosen nieder, wüthend über den hartnäckigen Widerstand dieser „coquins verts"*). Das geschah ungefähr um 5 Uhr. *) In „ W a t e r l o o " von E r k m a n n - C h a t r i a n ist die letzte Erstürmung von la Haye Sainte von französischer Seite bis in's Detail genau so erzählt, wie mein Vater diese Vorgänge mir oft aus dem Munde der Vertheidiger geschildert hat.

Aus dem Leben meines Vaters.

363

Nun aber hatte das englische Centrum zwei Stunden lang den zweiten Hauptsturm der .Reitennassen N e y ' s auszuhalten. Dieser, vom Dämon seines an den Bourbonen begangenen Verrathes heut zum fieberhaftesten Ungestüm angestachelt, trieb seine Schaaren immer neu in die englischen Vierecke hinein. Doch umsonst; diese schmolzen zusammen, aber hielten fest. Zuletzt musste die Reiterei, erschöpft und gebrochen, vom Angriff abstehn. Da endlich, es war 7 Uhr, gab Napoleon Ney seine G a r d e zum letzten, entscheidenden Stoss auf die erschütterte englische Linie in die Hand. Ohne sich von dem konzentrisch auf 6ie gerichteten Geschützfeuer aufhalten zu lassen, stürmte die Angriffskolonne der vier Bataillone alter Garde, etwas rechts seitwärts von der Heerstrasse, an der die Trümmer der Legion hielten, die Anhöhe heran. Aber wie sie oben angelangt war, tauchte, bisher ungesehen, plötzlich wenige Schritte vor ihr, auf Wellington's helles Kommandowort: „Auf, Garden, Feuer!" die rothe Mauer der englischen Garde empor. Einen Augenblick standen die beiden Garden, zum ersten Mal während all der Kriege, einander Aug', in Auge gegenüber. Dann der Sturmruf: „Vive l'Empereur! u von der einen Seite, von der andern aber im selben Moment die mörderische Salve, und drauf mit Bajonnett und Kolben. Nach wenig Minuten wich die französische Garde in Verwirrung den Abhang hinunter. Ihre tapfersten Führer waren gefallen. Ney, dem heute das sechste Pferd unter dem Leib erschossen war, baarhaupt, mit zerrissenen Kleidern, zerbrochenem Degen, aber unverwundet, suchte wie ein Rasender die Weichenden zum Stehen zu bringen; umsonst, er wurde mit fortgerissen. In diesem Augenblick, um halb 8 Uhr, erschien auch das zweite p r e u s s i s c h e Armeekorps zur Seite der Engländer auf dem Kampfplatz und warf die Franzosen auf ihr zurückweichendes Centrum zurück, 'so dass das ganze französische Heer, in einen Knäuel der Verwirrung zusammengeballt, sich rückwärts wälzte und bald in die wildeste Flucht auflöste. Nur der von •Minute zu Minute zusammenschmelzende Ueberrest der alten Garde bewahrte, den Kaiser in der Mitte, noch eine Zeit lang die Ordnung, bis dieser sich auf die Flucht warf, die Garde aber unter-

364

Aus dem Leben meines Vaters.

ging. Um 8 Uhr Hess Wellington die ganze englische Linie von ihren Anhöhen in den Thalgrund vorrücken. Allein die Vollendung des Sieges und die rastlose Verfolgung, durch die das französische Heer vollends vernichtet wurde, übernahmen die Preussen; das englische Heer war erschöpft. Um 9 Uhr trafen die beiden siegreichen Feldherrn bei la b e l l e A l l i a n c e zusammen. Kurz vor ihrem Untergang brach die Sonne durch das schwere Gewölk, das den ganzen Tag den Himmel bedeckt hatte, und warf beim Scheiden ein grelles Licht über das schauerliche Schlachtfcld. „Unsre Brigaden rückten bei einbrechender Nacht wieder auf die Stellen, die sie zuletzt besetzt gehalten. Von unserm Bataillon fand sich nur noch eine kleine Schaar vor; die Uebrigen waren todt, verwundet oder vermisst. Von den ungeheuren Anstrengungen ermattet, legten wir uns zwischen den verstümmelten Leichnamen von Freunden und Feinden schlafen. Der Mond beleuchtete das grauenvolle Schlachtfeld, dessen tiefe Stille nur durch das Geächze der armen Verwundeten unterbrochen wurde. Mühsam suchten wir am andern Morgen die Leichen der getödteten Offiziere von unsrer Brigade zusammen und legten sie in ein grosses Grab." Von dem nicht ganz 400 Mann starken Bataillon der Vcrthcidiger von la Haye Sainte waren 12 Offiziere und 172 Soldaten todt oder verwundet. Mein Vater war unter den wenigen unverwundeten Offizieren; aber nachher fand er die Spuren von Kugeln, die ihm durch die Kleider gegangen*). „Gegen Mittag endlich langten die Wagen mit Lebensmitteln an und sogleich ging's an's Austheilen und Kochen. Entstellt von Pulverdampf, Blut und Koth, setzten wir uns in Gruppen mitten unter den Todten zusammen und bedienten uns der in Menge umherliegenden Sättel, Tornister und Trommeln als Stühle, und der Mantel manches Kürassiers, der uns gestern noch das Essen *) Hingegen stellte sich nach ein paar Tagen herauB, dass am Schlachttag der Gepäckstrain hinter dem Heer durch einen panischen Schrecken in Verwirrung gerathen und dabei auch Vaters Gepäck abhanden gekommen war, was ihm während des Krieges nun schon zum dritten Mal passirte. „Doch Gottlob, dafür habe ich keines meiner Glieder verloren."

Aus dem Leben meines Vaters.

365

für immer hatte entbehrlich machen wollen, musste uns als Tischtuch dienen. Es brauchte einen Hunger, wie der unsrige war, um uns in solcher Umgebung das Essen so gut schmecken zu lassen, wie es wirklich der Fall war. „Am 21. wurde mit klingendem Spiel die französische Grenze überschritten. Von allen Dächern wehte die weisse Fahne; aber mit Ausnahme von wenigem Lumpengesindel sahen die Einwohner mit stummem Unmuth unserm Einzüge zu. Das ist aber auch ein sauberer Bürger, der beim Einrücken eines Feindes in sein Vaterland sich freuen, oder Freude auch nur heucheln kann." Dass Wellington als Richtschnur für das Verhalten des Heeres auf französischem Boden mit seiner gewohnten Zähigkeit die Fiktion festhielt, „der Krieg werde einzig gegen Napoleon geführt, Ludwig XVHI. sei unser Bundesgenosse, mithin alle Franzosen unsre guten Freunde", das wollte namentlich den Deutschen im Heere nicht einleuchten; die hatten es noch zu lebendig in Erinnerung, wie die Franzosen als Sieger in Feindesland zu verfahren pflegten. Als man am 5. Juli auf dem Montmartre angelangt war und sich freute, endlich in das gedemtithigte Paris einzuziehen, — da hiess es an der Barriere: rechts um! und das englische Heer musste ein Lager im Bois de Boulognc beziehn. „Da behandeln die Preussen das Ding ganz anders als wir! — schrieb mein Vater damals ganz ingrimmig —. „Wie übrigens zu diesem verzärtelnden Verschonen des Franzosenvolkes der Hauptstadt das schonungslose Futterpressen auf viele Stunden im Umkreis sich zusammen reimen soll, begreife ich nicht. Mit empörtem Gefühl helfe ich den armen Bauern ihr Getreide vom Feld wegholen, so oft der Dienst mich zu diesem grausamen Geschäfte zwingt. So recht con amore dagegen würde ich mithelfen, den reichen Blutsaugern, die halb Europa ausgeplündert haben, jetzt ihren Kaub wieder abzufordern." Mit Anfang November wurde das Lager verlassen und Quartier in den Vorstädten von Paris bezogen. Am 8. Dezember trat endlich die Legion zur allgemeinen Freude den Heimmarsch an, über Brüssel, Lüttich, Düsseldorf, durch Westphalen nach dem Hannover'schen. Derselbe aber war erst durch die grimmige Kälte und dann durch das eingetretene

366

Aus dem Leben meines Vaters.

Thauwetter, das namentlich in den ersten Januartagen 1816 den Uebergang über den hochgeschwollenen Rhein mehrere Tage unmöglich machte, sehr erschwert und erreichte sein Ende erst Anfangs Februar. Am 18. konnte mein Vater schreiben: „Endlich werden wir in wenigen Tagen abgedankt und wir Ausländer jeder nach seiner Heimath zurückkehren. Gottlob, dieses Söldnerleben hat ein Ende! Mag es für angenehm und ehrenhaft halten, wer da will: pach meiner Ueberzeugung kann es beides nur dann und nur so lange ehrenhaft sein, als man fttr's Vaterland, für irgend eine wahrhaft gute Sache, oder im Kampf gegen den Despotismus die Waffen führt. Nun, da der Friede gesichert ist, konnte für uns Ausländer kein Ereigniss erwünschter sein, als mit Halbsold aus dem Aktivdienst entlassen zu werden. Nun wird mir's endlich möglich, wieder in's liebe Vaterländchen zurückkehren!"

8. Heimkehr and Lebensabend. 1816—1836. Im März 1816 kam er nach fünfjähriger Abwesenheit wieder in der Heimath an. Allein was nun? Alle Wurzeln im heimischen Boden waren ihm abgegraben, durchschnitten. Er hatte gehofft, in irgend einem schönen Winkel des Vaterlandes aus den Ueberbleibseln seines Vermögens ein kleines Gütchen sich erwerben zu können, um als Landwirth ein stilles Leben fern vom Getriebe des ihm vergällten Stadtlebens zu führen. Allein er fand, dass er bei der in seiner Abwesenheit vorgenommenen Liquidation um sein ganzes Vermögen gekommen war. „Was meine treulosen Handelsgenossen übrig gelassen, das hatten vollends, mit ihnen unter einer Decke steckend, gewissenlose Beamte gestohlen." Er machte zahllose Versuche, gütlich und vor dem Richter, wenigstens etwas zu retten; doch umsonst. Erst 15 Jahre später erhielt er, unter der neuen Ordnung der Dinge, wenigstens Satisfaktion seiner Ehre. In dieser rathlosen Lage war es ihm eine Wohlthat, dass er im Herbst 1816 von dem Präsidenten der Linthkommission,

Aus dem Leben meines Vaters.

367

C o n r a d E s c h e r , „welcher Mann mich anzog, wie der Magnet das Eisen", die Erlaubniss erhielt, an den Arbeiten der Linthkorrektion Theil zu nehmen, da er sich von jeher aus Liebhaberei mit praktischer Geometrie befasst hatte. Diese Arbeit gab ihm auch für den grössten Theil des folgenden Jahres Beschäftigung und half ihm, den Dämon der Melancholie, der oft über ihn kommen wollte, besiegen. Er hatte schwer mit dem Gefühl der Heimathlosigkeit zu kämpfen, und mit der Bitterkeit, bei seinem Glauben an die Menschheit doch immer neue Täuschungen von den Menschen zu erleben. Zudem waren mit der Rückkehr in die Heimath alte Wunden des Herzens neu aufgebrochen. Er hatte sich bisher nie aufs Dichten verlegt; allein nun machte er oft seinem gepressten Herzen in kunstlosen Versen Luft, die, holprig in der Form und schlichten moralisch-religiösen Inhaltes, ihm wenigstens halfen, seinen natürlichen frischen Lebensmuth, den Frieden der innern Welt und ein einfaches, kindliches Gottvertrauen über Wasser zu halten. „Ehrliches Schwarzbrod und Freiheit!" war sein Motto. Die treue Freundschaft seines A p p e n z e l l e r war sein Haupttrost, und der Briefwechsel mit diesem tief gemüthvollen und zugleich fein gebildeten Mann oft fast das einzige Band, das ihn noch in wohlthuendem Zusammenhang mit der Menschheit erhielt. An der L i n t h war es auch die schöne Bergnatur, in der er Ruhe des Gemüthes und Erhebung suchte. Besonders war das idyllische „Fly" hinter W e e s e n sein Lieblingsplätzchen. „An einem dieser Tage, — erzählt er seinem Freunde — verliess ich meine Arbeiter eine halbe Stunde früher als sonst, und setzte mich dort am Ufer des Wallensee's unter einen Baum. Schon war die Sonne hinter dem Biltnerberg untergegangen und vergoldete nur noch die Hörner des Mürtschenstock, Wiggis und Glärnisch: Bilder des Scheidens! Hinter mir ertönte das Geläute der Heerden, und der Klang der Klosterglocken rief die Nonnen zum.Gebet. Da kamen zwei Bettelweiber an mir vorüber. Sie hielten an. ,Der Herr muss schon weit in der Welt herumgekommen sein, ich habe ihn auch schon an andern Orten gesehen,' wandte sich die eine an mich und bat um eine Gabe. Stillschweigend gab ich ihr etwas

368

Aus dem Leben meines Vaters.

hin. Noch immer blieb sie stehen: ,Wo seid Ihr denn eigentlich zu Hause, guter Herr?' ,Nirgends!' antwortete ich, mit dem ganzen Gefühl der schrecklichen Wahrheit dieser Antwort. ,Grosser Gott! nirgends!' rief sie aus, und mitleidig sahen mich die beiden Bettlerinnen an und gingen stillschweigend ihrer Heimath zu. Heimath! ich habe keine mehr! In Gedanken, die du dir vorstellen kannst, kehrte ich zu meiner Lagerstätte zurück." Bald nachher konnte er seinem Freund von einer anderen Begegnung erzählen. „Gestern, wie ich am Kanal war, sah ich einen Menschen daherkommen, der mir von weitem bekannt vorkam. Da ich gerade im Gespräch mit den Arbeitern war, ging er unbeachtet an mir vorüber, hielt aber in einiger Entfernung still, um sich nach dem Weg auf den Speer zu erkundigen. Ich gehe näher und erkenne in ihm — N. N. (den, welchem er stets die Hauptschuld an seinem Unglück hatte beimessen müssen). Er zitterte und ward leiclienblass, wie er mich auf sich zukommen sah. Mein ohnehin nicht kaltes Blut gerieth in die heftigste Wallung; einige Augenblicke war ich unschlüssig, welchem der Gedanken, die mich wie Blitze durchfuhren, ich folgen sollte. Mein Feind stand wie Lot's Salzsäule vor mir. Sein Schrecken entwaffnete mich. Ich trat auf ihn zu: ,Ich verzeihe dir; alles, alles soll vergessen sein!' Wie ich seine zitternde Hand ergriff, ward mir so wohl zu Muth; ich fühlte meine Brust sich froher heben. In der Gegend von Winterthur hätte ich nicht mit ihm zusammentreffen mögen; aber hier in dieser grossen, herrlichen Natur, und vollends am Linthkanal, diesem Werke hochherziger Menschenliebe, da bleibe engherzig und unversöhnlich, wer kann. Ich vermöchte es nicht, ohne mich selbst zu verachten. Wir blieben den Tag über beisammen und feierten ein Versöhnungsfest." Das war nicht bloss eine vorübergehende schöne Aufwallung gewesen: ich selbst habe in spätem Jahren den Mann nur als einen guten Freund meines Vaters gekannt und erst nach seinem Tode erfahren, was früher zwischen ihnen vorgegangen war. Im Sommer 1817 war Pastor Appenzeller von Brütten als Pfarrer und Schuldirektor nach B i e l berufen worden. Er gab sich alle Mühe, dem Freund in seiner Nähe irgend eine Stellung

369

Aus dem Leben meines Vaters.

zu verschaffen; doch vergeblich. Mein Vater hätte selbst den Posten eines Schulmeisters in dem Bergdörfchen Magglingen angenommen, — wenn er sich nicht zum Gesangunterricht untauglich gefunden hätte. — Im Sommer 1818 zog im „Münchhof" bei Bendlikon, einem einfachen Bauernhaus am See, damals noch einsam an dem nussbaumbeschatteten Fussweg nach Zürich gelegen, ein junges Ehepaar ein, das bei den Nachbarn einiges Aufsehen und nicht wenig Neugierde erregte. Der Herr war — so hiess es — ein aus fremden Diensten heimgekehrter Offizier, den man fleissig bei ländlicher Arbeit im Garten und Weinberg beschäftigt sah, und ihm half rüstig und, wie man bald sah, der Arbeit so kundig wie nur irgend eine Bäuerin, sein kräftiges junges Weib. Und als dann ihr Erstgeborner im Frühjahr 1819 erst nach 3 Wochen zur Taufe gebracht wurde und vollends einen Namen von ganz katholischem Klang erhielt (zum dankbaren Andenken an den zwei Jahre vorher verstorbenen Aloys Reding), kam das den Leuten des Dorfes gar sonderlich vor. Mein Vater hatte Verena Kern, die Tochter eines bäuerlichen Kleinbürgers von Bulach, als Dienstmädchen bei einem Freund in Zürich kennen gelernt, sie wegen ihrer blühenden Schönheit, ihres an Leib und Seele kerngesunden natürlichen Wesens, ihrer lautern Herzensgute und ihres praktischen Verstandes bald lieb gewonnen, und in seinem Verlangen, endlich wieder einmal einen eigenen Herd zu besitzen, ohne langes Zögern den Hausstand mit ihr begründet. Bei seiner Einfachheit und Bedürfnisslosigkeit hoffte er mit seiner englischen Pension durchzukommen. Er bedurfte in der That, wie wenige Menschen, zum Glück keiner äussern Güter, nur innern Frieden und um sich ein einfaches, naturwahres, treuherziges Menschenwesen. Dass meine Mutter nur die allerelementarste Schulbildung besass, liess ihn wenig vermissen; verband sie doch mit ihrer Herzensgüte und ihrer praktischen Tüchtigkeit so viel ächt weiblichen, natürlichen Takt, dass sie auch später in andern gesellschaftlichen Verhältnissen, für die sie nicht vorgebildet war, gerade durch ihre einfache und ungezwungene Weise die Achtung und Liebe Aller gewann und bewahrte. Fehlte meinem Vater l i i e d e r m a n n , Vorträge und Aufsätze.

94

370

Aus dem Leben meines Vaters.

vor der Hand auch noch eine bestimmte Stellung und feste Beschäftigung, so hatte er doch nun wieder seinen eigenen Herd und häusliches Glück. Neben etwas Landbau beschäftigte er sich viel mit Lektüre, besonders geschichtlicher und mathematischer Bücher. Dass er aber auch seine Foliobibel fleissig gelesen, das beweisen die vielen Bleistiftzeichen aller Art auf jeder Seite derselben. Daneben schrieb er bisweilen Aufsätze, meist moralisch-religiösen Inhaltes, in irgend einer halb-poetischen Form, mitunter im Dialekt. Einiges hat er in den zweiten Band seiner „Erinnerungen" aufgenommen, so ein Gespräch über „die Früchte der Reformationsfeier 1819", und „die Gemeinde Seewyl oder das Christendorf". Als er später in einer Rezension der „Erinnerungen" im Jenenser Literaturblatt das günstige Urtheil darüber las: der Geist, der in dieser Erzählung walte, sei ohne Frage ein würdigerer, als der in dem (damals) vielgepriesenen „Goldmacherdorf" von Zschokke, bemerkte er dazu: „das ist sehr natürlich; Zschokke wollte Goldmacher, ich aber Christen schildern." Da er an keinen Ort gebunden war, wechselte er im Suchen nach einer angemessenen Lebensstellung mehrmals den Aufenthalt der kleinen Familie: in verschiedenen Gemeinden am Züriclisec, im Glarnerland und in der Nähe von Zürich. 1826 siedelte er mit uns nach T r o g e n im Appenzellerland über, hauptsächlich um mich den Unterricht, den er mir bisher selber ertheilt hatte, in der dortigen Kantonsschule unter K r ü s i gemessen zu lassen. Dieselbe hatte damals als eine der besten pestalozzischen Anstalten einen guten Ruf und wurde namentlich von Zürich aus viel besucht. Vater Krüsi war auch in der That von den unmittelbaren Schülern und Mitarbeitern Pestalozzis vielleicht der, welcher am meisten den ächten Geist des grossen Pädagogen ohne seine Schwächen und Schattenseiten geerbt hatte. Es waren vier glückliche Jahre, die wir in Trogen verlebten. Wie sie es für mich und meine einzige Schwester waren, davon habe ich hier nicht zu reden; aber auch für meinen Vater war es eine besonders glückliche Zeit; er fühlte sich in der frischen, freien Appenzellerluft so heimisch wohl. Er genoss, was er in den letzten Jahren doch entbehrt hatte, den Umgang mit einer Anzahl

371

Aus dem Leben meines Vaters.

gebildeter Männer verschiedener Art. Da waren einige Lehrer der Kantonsschule, vorab Krtlsi selbst, und der feinsinnige, leider kränkliche Pfarrer Bänziger, der von Bergamo gekommen war, wo er als reformirter Pfarrer J. Caspar Orelli's Nachfolger gewesen. Mit diesem unterhielt er sich auf den gemeinsamen Spaziergängen am liebsten italienisch von alten schönen Erinnerungen. Einen angenehmen Umgang hatte er auch an Dekan F r e y , der mit grosser Amtswürde ein freies, joviales Wesen liebenswürdig zu verbinden wusste. Ganz besonders aber schätzte er den Verkehr mit dem ehrwürdigen Joh. Caspar Zellweger*). Die Herausgabe seiner „Erinnerungen" führte ihn näher mit seinem Verleger, dem Arzte Meyer, zusammen, der von Mitte 1828 an die „Appenzeller Zeitung" redigirte, ein Blatt, dessen bis dahin ungewohnte Freimüthigkeit nicht wenig dazu beitrug, den politischen Umschwung im Jahr 1830 vorzubereiten. Auch mein Vater, dessen leidiger Prozess sich noch durch alle diese Jahre hindurchschleppte, trat darin mit offenem Visier in den schneidigsten Anklagen gegen einige hochstehende Gerichtspersonen im Kanton Zürich auf. Ebenso, bald nachdem im Sommer 1829 die Pressfreiheit in Zürich gewährt worden war, in dem neu gegründeten Blatt „Der Beobachter", was nicht geringes Aufsehen erregte und manchen Anhänger der alten Zustände das gefährliche Geschenk der Pressfreiheit bereuen liess. Die energische Beendigung des Prozesses erheischte die persönliche Anwesenheit in Zürich, und so siedelte die Familie im Frühjahr 1830 dahin über. Im Sommer konnte sie endlich ihren bleibenden Sitz in der Vaterstadt W i n t e r t h u r nehmen. Nach Vaters Gewohnheit wanderte die Familie zu Fuss dorthin aus. Als wir am 1. August in Töss übernachteten, kam eben die Nachricht von der Julirevolution in Paris an. Im Juli des folgenden Jahres erlebte Vater die für ihn grosse Genugthuung, dass, unmittelbar nach der endlichen Erledigung *) R e d i n g , E s c h e r v o n der L i n t h und Z e l l w e g e r waren die drei Männer, die er vor allen Andern als Vorbilder ächter Schweizer in seinem Andenken hoch hielt. 24*

372

Aus dem Leben meines Vaters.

seines Prozesses, seine Mitbürger ihn mit grossem Mehr zum Zunftrichter wählten, während sein bisheriger Hauptgegner vollständig unterlag, und kurze Zeit darauf auch zum Mitgliede des Stadtrathes. Als Stadtrath übernahm er das Spitalamt. Nun war er ganz glücklich und befriedigt und konnte so nach vielen Stürmen einen friedlichen Lebensabend gemessen. Unter seinen Mitbürgern wieder in allen Ehren rehabilitirt und geachtet, hatte er im Dienste seiner Vaterstadt, an der er in aller Ferne doch stets mit Liebe und Heimweh gehangen, in der zu leben ihm nur durch die bittersten Erfahrungen so lang unmöglich gemacht war, nun einen schönen Wirkungskreis erhalten, der seinem philanthropischen Wesen so ganz entsprach. Er Hess sich's mit allem Eifer angelegen sein, im Spital einen wohlgeordneten Haushalt herzustellen, worin er namentlich auch von dem jungen Pfarrer Strauss unterstützt wurde. Er besorgte unter Anderm selber eine genaue Vermessung der Güter, die der Spital damals noch in Fischenthal besass. Auch im Kleinen stellte er alles ab, was ihm, wenn auch herkömmlich, doch nur als eingerissener Missbrauch erschien. So war es z. B. von jeher bräuchlich gewesen, dass wenn der Butterbedarf des Spitales eingesotten wurde, die Frau Spitalmeisterin für ihre Mühwalt dabei einen Antheil in ihren Privathaushalt vorweg bekam. Dies schaffte mein Vater von vornherein ab, was freilich der guten Mutter, die sich der Besorgung der ganzen Sache doch persönlich mehr angenommen hatte als wohl die meisten Frauen Spitalmeisterinnen vor ihr, zuerst gar nicht eingehn wollte: das sei wieder einmal Vaters übertriebene Uneigenntttzigkeit, von der er doch im- Leben so viel Schaden und so wenig Dank gehabt habe. Allein in diesem Stück hatte er allerdings die allerstrengsten Begriffe, von denen er weder im Kleinen noch im Grossen das Geringste nachliess. Im Jahr 1835 wurde er veranlasst, das Spitalamt an das Waisenamt zu vertauschen. Bei der Reorganisation des Waisenhauses hielt er eine Rede an die Angestellten und Waisenkinder, von der ein Ohrenzeuge mir später sagte, kein Pfarrer hätte ergreifender reden können, als er in seiner schlichten Herzlichkeit. So glücklich und befriedigt er während dieser Jahre in seiner

Aus dem Leben meines Vaters.

373

städtischen Wirksamkeit lebte, so wenig war er mit dem Gang der politischen Dinge in den ersten Dreissiger-Jahren zufrieden. Eine „Reform" hatte er freudig begrüsst und an seinem Ort auch dazu mitgewirkt, eine solche herbeizuführen; dass aber eine „Staatsumwälzung" daraus geworden, das ging durchaus wider seinen konservativen Sinn. Er hielt sich entschieden zu der Partei, die damals in dem „Vaterlandsfreund" ihr Organ hatte. Und da die geniale Frivolität, die einige Häupter der radikalen Partei förmlich zur Schau trugen, ihn mit Entrüstung und Verachtung erfüllte, schnitt er mit seinem geraden und dezidirten Wesen das Tischtuch zwischen sich und allem Radikalismus kurzweg durch. Er hatte einen ältern Lehrer an der Stadtschule zum Freund, den er sonst sehr hoch schätzte, der aber, wenn auch ohne persönliche Betheiligung an der Politik, sehr eifrig radikalen Theorien huldigte. Sie kamen überein, nie mehr ein Wort von Politik zu reden, um nicht am Abend ihres Lebens noch auseinander zu kommen, „was denn doch den Preis einer bewährten Freundschaft nicht werth wäre." Sein Widerwille gegen den in Zürich herrschend gewordenen Geist ging 60 weit, dass er mich, als ich im Frühjahr 1834 die Stadtschulen von Winterthur absolvirt hatte, durchaus nicht an das reorganisirte Gymnasium in Zürich wollte übergehen lassen. Es kam ihm sogar der Gedanke, mich nach Hannover zu schicken, wo er von den Kriegsjahren her eine Anzahl trefflicher Freunde besass. Er wandte sich deshalb an seinen alten Freund Hausmann, der damals Stadtdirektor von Hannover war. Dieser gab ihm zwar über das dortige Lyceum sehr günstige Auskunft, und dass ein alter Waffenbruder gern bereit sei, mich bei sich aufzunehmen; doch glaubte er meinen Vater auf das Missliche und Bedenkliche einer solchen Verpflanzung auf einen so ganz fremden Boden aufmerksam machen zu sollen, und schloss seinen Brief mit den Worten: „Die Zustände in Ihrem schönen Vaterlande müssen ja recht traurig sein, dass sie zu dem Entschlüsse gebracht worden sind, Ihren Sohn so früh und so weit von Hause zu thun." Mein Vater gab dem abmahnenden Winke Gehör, versetzte mich aber nach Basel, dem damals in der ganzen radi-

374

Aus dem Leben meines Vaters.

kalen Schweiz vervehmten Basel! Auf die letzte Aeusserung seines Freundes aber antwortete er: „Dass es in meinem theuren Vaterlande nicht zum erfreulichsten aussieht, davon kann die Zulage Sie überzeugen*). Wir sind im Bau eines babylonischen Thurmes begriffen, und diese zweite Auflage wird wohl nicht besser ausfallen, als einst die erste. In Zürich haben wir ein gänzlich umgewandeltes Gymnasium und eine nagelneue Hochschule. Die Professoren sind uns grossentheils aus Deutschland zugeflogen, und auch die fremden Schüler mögen wohl meist solche sein, die in Folge der misslungenen glorreichen Frankfurter Apriltage ihren Aufenthalt zu verändern für gut fanden. Zur grössern Vereinfachung und Veredelung unsrer Sitten mögen auch die ca. 700 neuen Weinschenken das ihrige beitragen, welche seit der neuesten Staatsumwälzung in unserrn Kanton patentirt worden sind und sich immer noch vermehren." - Was würde er heut erst sagen! Ein Grundzug im Wesen meines Vaters war von je eine einfach kindliche, tief innerliche, praktisch stramme, aber dogmatisch unbefangene Religiosität, im Geist jenes philanthropischen Rationalismus gewesen, dem das Christenthum einfach als die Religion der wahren Humanität galt, und der alle Frivolität gleichsehr wie alle Engherzigkeit und allen Aberglauben verabscheute. Im letzten Jahr seines Lebens, wo er die Zukunft des Vaterlandes in trüberem Lichte sah, und auch die Krankheit seine Kräfte langsam aufzehrte, vertiefte er sich immer mehr in apokalyptische Zukunftsbilder, aber merkwürdig, nicht für seine Person — da dachte er immer gleich einfach und natürlich —, wohl aber für die Weltzukunft überhaupt. Seine Lieblingslektüre in den letzten Monaten seines Lebens waren die „Beleuchtungen des Zeitgeistes", eine politisch-religiöse Zeitschrift, in welcher der Berner Patrizier L. May von Ruod einen politisch und kirchlich

*) Anmerkung in der Kopie des Briefes: „Ich theilte ihm nämlich den erbaulichen Antrag mit, welcher vom Oberrichter und Kirchenrath (!) Füessli in der Grossrathssitzung vom Dezember 1883, betreifend die künftige Gestaltung der kirchlichen Angelegenheiten, gemacht worden war."

Aus dem Leben meines Vaters.

375

ultra-konservativen Standpunkt mit Geist und Feuer vertrat, aber in excentrisch mystischem Tone dem gottentfremdeten Geschlechte die Zeichen des nahenden Weltendes vorhielt. Es war eben im Jahr 1836, wo auf die apokalyptischen Berechnungen Bengel's hin die Erwartung des Weltendes in sehr weiten Kreisen verbreitet war. Der damals mit Vater und nachher mit mir nahe befreundete liberale Pfarrer Strauss hat später oftmals gegen mich geäussert, wie wohl das Yerhältniss zwischen meinem Vater und mir in religiösen Dingen sich würde gestaltet haben, wenn er meine theologische Entwicklung noch erlebt hätte. 0 , wie gerne möchte ich dies erlebt haben! Dass es zwischen ihm, der mir stets der beste Vater und in dem Maass, als ich heranwuchs, ein auf alles, was mich beschäftigte, verständniss- und liebevoll eingehender Freund gewesen, und mir j e zu 'einem Zwiespalt, geschweige denn zu einem Riss hätte kommen können, das liegt für mich ausserhalb des Gesichtskreises der Möglichkeit. Vaters von Natur zarte und reizbare Konstitution — er war in seiner Jugend stark Nachtwandler gewesen — war durch seine äusserst einfache Lebensweise und seine Strapazen aller Art zwar abgehärtet, aber durch die letztem doch zugleich frühzeitig mitgenommen. Ein Emailbild aus seinem 28. Jahre zeigt mir ein frisches Gesicht mit dichten braunen Locken, aus dem ich aber kaum noch die Grundzüge herauszufinden vermag. Vor meiner eigenen Erinnerung steht nur ein hageres, tief durchfurchtes Gesicht, mit kleinen, freundlich blickenden blauen Augen und schlichtem, weissem Haar. Noch im Jahr 1834 machte der Fünfundfttnfzigjährige, dem man dem Aussehen und der vorgebeugten Haltung nach wohl zehn Jalir^ mehr gegeben hätte, mit mir und einigen meiner Schulkameraden eine zehntägige Fussreise über den Gotthard in's Tessin und über den Bernhardin zurück, stets den Tornister auf dem Bücken, und so rüstig und munter, wie nur irgend einer von uns Jungen. Gegen Ende 1835 fing ein tödtliches Uebel an sich zu entwickeln, eine Verhärtung von Blutgefässen am Hals, was ihm steigende Athmungsbeschwerden bei Tag und Nacht verursachte und durch Schlaflosigkeit die Kräfte aufzehrte. Von Zeit zu Zeit

376

Aas dem Leben meines Vaters.

stellte sich ein gewaltsamer Bluterguss ein, der jedesmal mit Erstickung drohte und zunächst die äusserste Erschöpfung hinteriiess, aber doch wieder für einige Zeit Erleichterung verschaffte. Die Nachricht vom ersten dieser Anfälle rief mich im Sommer 1836 — ich war damals in der obersten Klasse des Pädagogiums in Basel — schleunig nach Hause, und nun blieb ich das letzte Vierteljahr fortwährend an seinem Krankenlager. Wie friedlich schloss er mit dem Leben ab und ging ruhig dem Tod entgegen! Er sprach mit mir von seinem Sterben, wie wenn von einer dritten Person die Rede gewesen wäre. Vor Jahren hatte einmal ein Kriegskamerad aus der französischen Schweiz mit seinem Töchterlein, meiner ersten Jugendgespielin, eine Zeit lang in unsrcr Nähe gewohnt. Der Mann war auszehrend, und da hielt es mein Vater für Freundespflicht, endlich einmal mit ihm offen vom Tode zu reden und ihm auf diesen Fall hin die Zusicherung zu geben, dass er sich seiner Waise annehmen werde. Das aber hatte den Mann in die höchste Aufregung gebracht; er wollte nichts vom Tode hören, ja auch nichts mehr von dem grausamen Mahner daran. „Es war doch seltsam" — sagte mir Vater einmal, als er sich in jenen letzten Wochen mit mir in^ Erinnerungen erging — „Herr La Roche war in der Schlacht doch ein ganz tapferer Offizier — und auf dem Krankenlager hat er sich vor dem Tode gefürchtet!« Bisweilen, so lang er noch einen kleinen Spaziergang machen konnte, setzte er sich auf dem Heimweg erschöpft auf die Bank vor unsrer Wohnung, der zufallig sein elterliches Haus gerade gegenüberstand. Da hatte einmal jemand die Unvorsichtigkeit, ihm zu sagen, wie ein Nachbar geäussert, es müsse doch recht wehmüthig für ihn sein, so an sein schönes väterliches Haus als fremder Leute Eigenthum hinüberzusehen. „Kennen mich die Leute denn noch nicht besser, dass sie mir solche Armseligkeit zutrauen?" gab er tief verletzt zur Antwort; aber von da an setzte er sich nicht wieder auf die Bank. Als ich am Morgen des 16. Oktober nach einer leidlichen Nacht wie gewöhnlich neben ihm meine Bücher zur Hand nehmen

Aus dem Leben meines Vaters.

377

wollte, sagte er: „Lass jetzt die Bücher; die behältst du allezeit; mich aber wirst du nicht mehr lange haben." Der Tag verging still in ruhigen, unvergesslichen Gesprächen, und Abends 5 Uhr verschied er ganz sanft im Lehnstuhl. Alle, die ihn gekannt, haben ihm das Zeugniss gegeben, dass er seinen Namen mit Recht und Ehren getragen. Und dies ist auch das kostbarste Vermächtniss, (las er mir hinterlassen hat.

XII. Erinnerungen. i. „ G e s c h i c h t e der t h e o l o g i s c h - k i r c h l i c h e n E n t w i c k l u n g in der d e u t s c h - r e f o r m i r t e n K i r c h e s e i t den D r e i s s i ger Jahren," so lautet der Titel der neuesten Schrift von Herrn Antistes Dr. F i n s l e r , die wir dem verehrten Verfasser aufs Wärmste verdanken und den Anhängern aller kirchlichen Richtungen unter uns, deren Geschichte 6eit 40 Jahren sie mit einer seltenen Unbefangenheit und Unparteilichkeit erzählt, angelegentlich zur Lektüre und Beherzigung empfehlen. Die Schrift begrenzt sich enger, als der Titel erwarten lässt; sie- beginnt ihre Darstellungen erst nach den Dreissiger Jahren, indem die ganze Straussengeschiclite von 1839 nur als Voraussetzung für die Kämpfe der Vierziger Jahre kurz erwähnt, aber nicht erzählt wird. Wir rechten mit dem Herrn Verfasser nicht darüber: wollte er überhaupt diese Geschichte noch in den Bereich seiner Darstellung hineinziehen, so konnte das nicht bloss so in der Kürze geschehen-, in ihrer Allgemeinheit aber ist sie Jedermann sattsam bekannt, und zudem hat sie zwar die ganze für die Theologie epochemachende Bedeutung von Strauss zum Hintergrund; wie sie sich aber bei uns abgespielt hat, wie es zur Berufung von Strauss kam, wie diese dann wieder aufgehoben wurde, und was weiter daraus folgte, das bietet für sich in der That wenig theologische Ausbeute. Erst die unmittelbare Folge dieser Katastrophe des

Erinnerungen.

379

überstürzten und darum gestürzten Liberalismus der Dreissiger Jahre, die Reaktion der nächsten Zeit, bildet den Ausgangspunkt für das eigentliche Thema der Schrift: die theologischen Kämpfe, welche nun seit vollen vierzig Jahren die kirchlichen Richtungen, die positive, die liberale und die vermittelnde, hauptsächlich in kirchlichen Zeitschriften und auf Predigerversammlungen mit einander geführt haben, und welche in ihrem allgemeinen Resultat, der anerkannten Gleichberechtigung der verschiedenen Richtungen in der Kirche, zwar natürlich nicht ihre völlige Endschaft, ihren definitiven innern Abschluss erreicht haben, wohl aber damit in ein wesentlich neues Stadium getreten sind. Der Herr Verfasser ist an diesen Kämpfen selbst in hervorragender Weise als Vertreter der vermittelnden Richtung betheiligt gewesen, und als solcher im besten Sinne des Wortes bewährt er sich auch in seiner Darstellung. Diese ist durchweg objektiv treu; sie anerkennt mit sicherm, unparteiischem Urtheil das Moment von Berechtigung, das jede Richtung d e r . andern gegenüber vertreten hat, und schildert mit ruhiger Unbefangenheit und gelegentlich mit feinem Humor, was beides den wohlthuendsten Eindruck auf alle, die selber mit dabei gewesen sind, nicht verfehlen kann, die gelieferten Kämpfe und Scharmützel, in Lob und Tadel gerecht und billig gegen Gegner von rechts und links, wie gegen Verbündete. Nennen wir nur kurz die Bilder, die uns vorübergeführt werden: zur Einleitung, als Zeichen des Anbruchs einer neuen Zeit in der Theologie auch bei uns, in den Dreissiger Jahren die „ E v a n g e l i s c h e K i r c h e n z e i t u n g " von Pfr. Schinz, als Vertreterin der orthodoxer und pietistischer gewordenen positiven Richtung, und ihr gegenüber seit 1836 als Organ der durch Schleiermacher und Neander neubelebten Theologie die „ N e u e K i r c h e n z e i t u n g f ü r die r e f o r m i r t e S c h w e i z ; " — nach dem Sieg der anti-straussischen Reaktion, als „Rakete, welche den Aufmarsch einer neuen Streitmacht, der spekulativen Theologie, ankündigte," meine „ f r e i e T h e o l o g i e " (1844);—das Auftreten dieser neuen Richtung, besonders an der Predigerversammlung in Z ü r i c h (1845); — die Gründung der neuen kirchlichen Organe

380

Erinnerungen.

von links und rechts, unserer „Kirche der G e g e n w a r t " (1845 bis 1850), und der „Zukunft der K i r c h e " von E b r a r d , und die Stellung, welche das kurz vorher gegründete „ K i r c h e n b l a t t für die reformirte Schweiz," von H a g e n b a c h (später Hagenbach und dem Verfasser, 1845—68), das allgemeine Organ für die mittleren Richtungen, „mit vorsichtigem Anstand diskutirend", zwischen den beiden hitzigen Gegnern einnahm; — die Streitigkeiten bei Anlass der Berufung von Zeller nach Bern (1847) und mein Handel mit Eomang (1847—49); — die Abschliessung der „Evangelischen G e s e l l s c h a f t " in Zürich gegen die Liberalen durch das Apostolicum (1847); — der versuchte Widerstand gegen meine Aufnahme in's Zürcher Ministerium bei meinem Antritt der Professur (1850); — der Ausschluss von Kandidat Rumpf aus dem Basler Ministerium (1858); — der Angriff auf meinen Religionsunterricht am Gymnasium an der Zürcher Synode 1858; — die Gründung der „Zeitstimmen" und das Auftreten von L a n g (seit 1859); — die Verhandlungen, respektive Kämpfe zwischen „Zeitstimmen" und „ K i r c h e n b l a t t " und was sonst von theologischen Verhandlungen (z. B. von Joh. Hirzel über das Wunder) sich daran schloss; — die ephemere, besonders die Damenwelt faszinirende Erscheinung von Held in Zürich (1860 bis 1863), und das ritterliche Turnier zwischen Tlioluk und H. Hirzel (1860); — das Auftreten der Gebetsversammlungen und der evangelischen Allianz in der Schweiz (seit 1861); — die wiederholten Anfechtungen der b e r n e r theologischen Fakultät in den Fünfziger und Sechziger Jahren und der Sturm auf E d u a r d Langhans' „Leitfaden für den Religionsunterricht" (1865); — die Gründung der „ R e f o r m b l ä t t e r aus der bernischen K i r c h e " (1866) und von positiver Seite des „Kirchenf r e u n d e s " (1867); — die Erklärung der 78 gegen Vögelin und die Vorträge von Stutz (1865); — die Ablehnung der Motion Wolfensberger auf Handhabung eines kirchlichen Bekenntnisses an der Zürcher Synode (1865); — die Bewegungen für Beseitigung des L i t u r g i e z w a n g s in Zürich, Bern, Schaffhausen, Thurgau und Basel; — das Auftreten und der Fortschritt der „Reform" in Basel seit 1870 und ihr Sieg in der Ostschweiz; — die Bil-

Erinnerungen.

381

dnng der förmlichen P a r t e i v e r e i n e durch die ganze Schweiz (1870): des „schweizerischen Vereins für f r e i e s Christenthum" der „Reformer", mit der „Reform" als Organ; des evangelisch - kirchlichen Vereins der Positven, mit dem „ K i r c h e n f r e u n d " , und der „schweizerisch - kirchlichen G e s e l l s c h a f t " der Vermittler, mit dem „Volksblatt für die r e f o r m i r t e Schweiz", daneben die mehr praktisch-religiösen Blätter der Parteien; — und endlich das friedliche Nebeneinander der Richtungen in den Kantonen mit voller Gemeindesouveränetät. — Dies sind die Bilder, in welchen der Herr Verfasser die vielbewegten letzten 40 Jahre unserer theologisch - kirchlichen Vergangenheit an uns vorüber führt und auch uns, die wir mit dabei gewesen sind, manchen halbvergessenen Strauss wieder lebendig vor die Seele ruft. Zum Schlüsse zeichnet der Verfasser als Resultat dieser Kämpfe der Vergangenheit die Gegenwart. Er beginnt mit der Charakterisirung einiger schweizerisch-theologischer wisssenschaftlicher Werke, die für die dargestellte Entwicklung von Bedeutung geworden, wobei er sich jedoch auf S c h w e i z e r s Glaubenslehre, meine Dogmatik, Immer's Hermeneutik und Theologie des N. T., H a g e n b a c h ' s Kirchengeschichte und Fr. L a n g h a n s ' „das Christenthum und seine Mission im Lichte der Weltgeschichte", beschränkt. Im Weitern legt er die Grundzüge der „ kirchenr e c h t l i c h e n u Vermittlung dar, durch welche namentlich die Vermittlungstheologie, aber unterstützt von allen Besonnenen auch der andern theologischen Richtungen, in dem freien Ringen der verschiedenen natur-nothwendigen Richtungen der Theologie in der Gegenwart, den allein vernünftigen modus vivendi, die Existenzberechtigung der verschiedenen Richtungen neben einander, nachgerade zur thatsächlichen Anerkennung in allen unsern kantonalen Landeskirchen gebracht hat. Den Hauptantheil an diesem Verdienste hat unbestritten der Herr Verfasser selbst, der als Vorstand der Zürcher Kirche in den schwierigsten Zeitlagen stets das Beispiel einer besonnenen, maassvollcn, allseitig liberalen Kirchenleitung gegeben hat, — eine Anerkennung, welche ihm nur solche versagen werden, deren Ideal das gegenwärtige

382

Erinnerungen.

preussische Kirchenregiment ist, die aber mit ihren Theorien, bei uns an's Steuer der Kirche berufen, in kürzester Frist das Schiff vollständig würden auf die Seite gelegt haben. Die Schilderung der gegenwärtigen Situation der Parteien ist nach meiner Auffassung nach im Wesentlichen ganz zutreffend. Das, was der Herr Verfasser dabei über die Reformpartei bemerkt, im Zusammenhang mit dem, wie er meinen Antheil an der ganzen Bewegung von Anfang an dargestellt und mir so vieles Halbvergessenes wieder in die Erinnerung zurückgerufen hat, giebt mir willkommene Veranlassung, auch von meiner Seite einiges Persönliche zur Erläuterung und Ergänzung beizufügen, und ihm damit thatsächlich meinen Dank für die verdienstvolle Arbeit auszusprechen.

II. Herr Antistes Finsler nennt meine „freie T h e o l o g i e " „eine Rakete, die (1844) den Aufmarsch einer neuen Streitmacht, der spekulativen Theologie, ankündigte." Mag sie auch vielfach einen solchen Eindruck gemacht haben: mir selbst war sie nur das natürliche Ergebniss meiner bisherigen Entwicklung, mit dem ich nicht ein Neues einzuführen, sondern nur ein Altes in seinem Rechte zu vertreten gedachte. So weit ich mich in meine Jugendgedanken zurückversetzen kann, weiss ich nichts Anderes, als dass ich Theologie zu studiren wünschte, ohne dass etwa eine Familientradition mich auf diese Bahn gewiesen hätte. Auch war es nicht sowohl die Aussicht, dereinst auf der Kanzel zu stehen, die mich dahin zog, als der früh in mir erwachte Trieb, die Dinge der Religion zu erforschen und mit meiner Vernunft in Einklang zu bringen. Die erste naturgemässe Nahrung fand dieser Trieb in der häuslichen Erziehung, der mein Vater am ruhigen Abend eines vielbewegten Lebens, neben der gewissenhaften Verwaltung eines bescheidenen bürgerlichen Amtes in der Vaterstadt Winterthur, sich fast ausschliesslich widmete. So Schweres ihm auch vom Schicksal und von Menschen widerfahren war, den idealen Glauben an die

Erinnerungen.

m

Menschheit und ein heiteres, fröhliches Gottvertrauen hatte er sich durch Alles hindurch bewahrt. Sein religiöser Sinn trug aber den Charakter schlichter, einfacher Herzlichkeit an sich, im Geiste jenes aufgeklärten Humanismus unserer edlen Philanthropen vom Anfang dieses Jahrhunderts, der bei seiner instinktiv rationalistischen Weise des Denkens sich aller bestimmten kirchlichen Form gegenüber mit einer unserer Zeit kaum noch möglichen naiven Unbefangenheit frei und unabhängig erhielt. Was die Lebensverhältnisse ihm versagt, die wissenschaftliche Ausbildung, das wollte er wenigstens mir nach Möglichkeit zu Gute kommen lassen. Bei seinem für mich allzufrühen Tode hinterliess er die testamentarische Bestimmung, dass mein ganzes bescheidenes Erbe an meine Studien verwendet werden solle. Mir aber steckte der Rationalismus im Blute, der Trieb, den natürlichen Gang der Vernunft in der Entfaltung ihrer religiösen Begriffe, die mir von vornherein die höchsten und wichtigsten und ihrer Substanz nach von keinem Zweifel berührt waren, so vollständig, als meine Denkkraft dazu ausreichte, durchzumachen. Auf der Schule führte ich von meinem zwölften Jahr an mit einem Paar Kameraden, die gleich mir Theologie studiren wollten, aber zu Hause eine streng positive Erziehung genossen, in aller Freundschaft schon sehr eifrigen theologischen Disput — ein Vorspiel späterer Kämpfe. Er entspann sich zunächst über den Satan. Unser Religionslehrer, damals noch ein guter Rationalist, hatte uns beim Bibellesen verschiedene Auffassungen der Versuchungsgeschichte mitgetheilt. Die wörtliche, welche meine Freunde eifrig verteidigten, konnte ich nun von vornherein nicht glauben; allein diejenigen, welche unserm Lehrer offenbar plausibler waren, der Versucher sei eigentlich ein verkappter Pharisäer gewesen, oder die ganze Erzählung eine Parabel Jesu, wollten mir auch nicht natürlich vorkommen, und ich gerieth von mir aus auf die Fassung, die ich dann später zu meiner Freude im Wesentlichen in der mythischen von Strauss wiederfand. Nach Jahren traf ich einmal mit einem jener Schulfreunde zu Berlin in der Aufführung des Faust zusammen. Die bekannte klassische Art, wie Seydelmann den Mephisto gab, veranlasste meinen Freund, in Erinnerung an

384

Erinnerungen.

unsem ehemaligen Streit, zu der Aeusserung: „Mau kann ihn so natürlich geben, warum will man denn nicht an ihn glauben?" — „Eben darum wird's nicht nöthig sein" — gab ich zur Antwort. Theoretische Zweifel an der Geschichtlichkeit biblischer Erzählungen, an der Richtigkeit einzelner Glaubenslehren haben mich niemals als religiöse Zweifel beunruhigt und mich niemals die Frage nach den Vernunftgründen des Glaubens schon als halbe Sünde des Unglaubens hemmend und verwirrend empfinden lassen. Vielmehr stand mir von Hause aus fest, dass diese Frage ja nur zur Läuterung niemals zur Aufhebung der religiösen Wahrheit führen könne, und dass sie für den, der sich durch die Wissenschaft zum Geistlichen vorbereiten wolle, die erste Aufgabe sei, an deren Lösung er rückhaltslos alle seine Geisteskräfte zu wenden habe. Auch der abgeblasst supranaturalistische, aber mit gemüthlicher Wärme ertheilte Konfirmationsunterricht, an dem ich mit gleichem Verstands- wie Gemüthsinteresse theilnahm, war nicht geeignet, mich in meiner rationalistischen Grundstimmung irre zu machen. Für meine spätere Art dürfte das bezeichnend sein, dass ich den angelegentlichsten Fleiss darauf wandte, den Inhalt jeder Stunde so klar, kurz und knapp als möglich zusammen zu fassen, so dass unser geistliche Lehrer mir einmal bemerkte: es ist schon recht gut, aber doch auch gar kurz, wie wenn Papier und Tinte dich reuten. Nachdem ich die Schulen meiner Vaterstadt absolvirt, wäre nun das Nächstliegende für mich gewesen, an das obere Gymnasium in Zürich überzugehen. Allein mein Vater, welcher am Anfang die Regeneration von 1830 mit Begeisterung begrüsst und auch selbst dazu mitgewirkt hatte, war bald von dem frivolen Geist, den einige Tonangeber in der neuen Aera immer rückhaltsloser zur Schau trugen, mit so ingründigem Widerwillen gegen den ganzen Gang der Dinge in Zürich erfüllt worden, dass er mich den dortigen neuen Unterrichtsanstalten nicht anvertrauen wollte. Er dachte eine Zeitlang sogar an Hannover, wo er von den Befreiungskriegen her, die er als Offizier in der englischdeutschen Legion mitgemacht hatte, noch eine Anzahl hochgeschätzter Freunde besass. Diese riethen ihm jedoch selbst ab,

385

Erinnerungen.

seinen Sohn in eine dem schweizerischen Geiste doch gar zu fremdartige Atmosphäre zu versetzen. Was wäre aus mir geworden? habe ich mich später oft fragen müssen. Ich glaube aber, die Natur hätte sich doch nicht unterdrücken lassen. Endlich entschloss sich mein Vater für Basel, das damals, unmittelbar nach der Trennung von der Landschaft, in der ganzen liberalen Schweiz — in Wahrheit sehr mit Unrecht — vervehmt war. Ein aus der Ostschweiz nach Basel kommender Schüler war damals allerdings eine ungewohnte Erscheinung. Die höheren Unterrichtsanstalten von Basel waren unter der Wucht der Ereignisse und der Unbill der Eidgenossenschaft tief herabgedrückt, d. h. nur quantitativ, nicht qualitativ. Im Gegentheil: am Pädagogium wirkten treffliche Lehrer in jugendlicher Frische, und vor Allem konnte die theologische Fakultät, mit De Wette und Hagenb a c h an der Spitze, sich jeder andern in der Pflege eines ächt wissenschaftlichen, freisinnigen Geistes an die Seite stellen. Den einzelnen Studirenden aber kam dies, je weniger sie an Zahl waren, nur um so intensiver zu Gute. Für mich war es, als ich 1834 nach Basel kam, allerdings nun noch nicht an dem. Doch lebte ich von vornherein in theologischer Luft. In der mit Hagenbach befreundeten PfarrfamiKe, in der ich fünf Jahr lebte, fanden ein der herrschenden Orthodoxie gegenüber muthig zäher kantischer Rationalismus, Schleiermacher'sche Vermittlungstheologie und positiv herrnhutische Frömmigkeit sich friedlich beisammen. Namentlich wurde die persönliche Erinnerung an den kurz vorher dahingegangenen Schleiermacher mit warmer Pietät gepflegt, und so gehörte es alljährlich zur Feier des Christabends, dass ich der Familie Schleiermacher's „Weihnachtsfeier" vorlas. _ Gleichwohl ging ich, als endlich die Universitätszeit für mich begann (1837), nur sachte und allmählig an's theologische Studium heran, wie freundlich anregend auch H a g e n b a c h ' s Encyklopädie in dasselbe einführte. Nicht dass irgend religiöse Skrupeln mich zurückgehalten hätten; vielmehr waren es nur die humanistischen Studien, Literatur und Kunst, die mich vom Pädagogium her in der ersten goldenen Zeit der akademischen Freiheit noch vollauf in Beschlag nahmen. Bald aber trat die Philosophie in erste B i e d e r m a n n , Vorträge und Aufsätze.

25

38G

Erinnerungen.

Linie. Unser Professor der Philosophie, Friedrich F i s c h e r , war wenigstens in Einer Beziehung ganz der geeignete Mann, uns in dieselbe einzuführen, — aber freilich auch nur einzuführen, und uns durch seinen musterhaft klaren, geordneten Vortrag an ein nüchternes, methodisches Denken zu gewöhnen. Er gab sich mit Nachdruck als Empiriker und abgesagten Feind aller vom Boden der Erfahrung in's Blaue sich versteigenden Spekulation, und doch liess er sich gelegentlich selbst auf spekulativen Wegen betreten, auf denen ich ihm instinktiv gerade vorzugsweise mit Interesse folgte. Namentlich bin ich ihm bleibend dafür dankbar geworden, dass er in der Religionsphilosophie, so wenig er irgendwie eine theologische Orthodoxie zur Schau tragen wollte, uns doch auf den Scharfsinn aufmerksam machte, mit dem die altkirchlichen Dogmatiker die tiefsten religiösen Probleme in ihrer Weise behandelt hatten. In Einer Hinsicht dagegen hat sein Unterricht mir einen positiven Schaden zugefügt, den ich in der Folgezeit nur mit doppelter Mühe wieder einzubringen vermochte: das war durch die Art, wie er in der Geschichte der Philosophie zur gründlichen Abschreckung uns die spekulativen Philosophen vorführte. Da war immer nur von „dem wunderlichen Kauz" Spinoza die Rede; F i c h t e wurde mit dem Argument vom Heuwagen abgefertigt, der dem Philosophen des absoluten Ich doch sicher bei der Begegnung auf der Strasse seine Lehre vom NichtIch sofort thatsächlich widerlegt haben würde, und dergleichen mehr. Auch von K a n t ' s eigentlicher Bedeutung, obgleich dieser immerhin mit mehr Respekt behandelt wurde, bekamen wir kaum eine Ahnung, so dass mir das Verständniss davon erst nachher von Hegel aus, also sozusagen von hinten her, aufzugehen anfing. H e g e l freilich kam bei Fischer natürlich noch schlimmer weg. Allein diesen gerade lernte ich um dieselbe Zeit durch Strauss in einem andern Lichte ansehen: da mochte wohl auch hinter den andern Philosophen Tieferes stecken. S t r a u s s , dessen „Leben Jesu" eben damals das grosse Aergerniss der theologischen Welt geworden war, wurde bald ganz mein Mann. Die schneidige und doch ohne Einmischung von ungehörigem Pathos so ruhige Kritik, die den exegetischen Quälereien, durch welche die Wunder der

387

Erinnerungen.

evangelischen Erzählungen, diese sinnvollen Bilder des religiösen Glaubens, unserm dem naiven Wunderglauben nun doch einmal entfremdeten Bewusstsein gleichwohl als irgendwie geschichtliche Thatsächlichkeiten sollten gerechtfertigt werden, ein Ende machte, und dabei zugleich die Eröffnung wenigstens der Perspektive auf eine denkende, tiefere Fassung des rein geistigen Kerns der Religion, — das Alles entsprach ganz dem, was mir selbst schon von Anbeginn als die wissenschaftliche Aufgabe der Theologie vorgeschwebt hatte. Schon die klassisch schöne, ruhig heitere Sprache eines furcht- und rückhaltslosen Wahrheitssinnes bei Strauss war mir wie ein erfrischendes Bad. An diesem Gegensatz ward mir erst klar, was es war, das mich so oft bei theologischen Büchern gewöhnlichen Schlages so ungeduldig machte: dieses Mehl im Mund, diese jede Schärfe des Gedankens ängstlich abstumpfende Mischung von ungehöriger Erbaulichkeit und Wissenschaftlichkeit zu einem mir unverdaulichen phraseologischen Brei. Dieselbe Klarheit und Nüchternheit, wie bei Straus, nur milder, herrschte auch in den exegetischen Vorlesungen unseres De Wette, und es trug nicht wenig zu meiner Bestärkung in der Verehrung gegen unsern grossen und wegen seiner väterlichen Leutseligkeit gegen uns besonders geliebten Lehrers bei, dass er im Gegensatz zur Mehrzahl der damaligen Theologen in ruhiger Unbefangenheit vor uns mit Strauss verhandelte. In dem, was mir für einmal' die Hauptsache war, schien er mir im Wesentlichen mit Strauss übereinzustimmen, wenn er auch nicht so weit gehen wollte wie dieser, überhaupt dessen philosophischen Standpunkt nicht theilte. Nun aber hatten wir an ihm doch zugleich auch ein vorleuchtendes Beispiel, wie freie Wissenschaft mit positiv religiösem Sinn und warmer Liebe zur Kirche sich gar wohl vertragen. Freilich die Art, wie De Wette beides wissenschaftlich vermittelte, befriedigte mich nun allerdings gar nicht. Seine Theorie von der Religion, dass der Geist die dem frommen Gefühl sich aufschliessende göttliche Wahrheit nur mit der Ahnung im Sinnbild zu fassen und nicht auch mit dem Verstände zu erkennen vermöge, schien mir die Theologie doch auf gar zu schwache und schwankende Füsse zu stellen. Darum blieb 25*

388

Erinnerungen.

ich auch von De Wette's Vorlesung über die Glaubenslehre, sowie es über die Kritik des Kirchlichen hinausging, sehr unbefriedigt. Es hat mir daher einen eigenthümlichen Eindruck gemacht, als voriges Jahr bei Anlass des 100jährigen Jubiläums von De Wette's Geburtstag Lipsius, offenbar speziell an meine Adresse, gerade diese Seite an dem grossen Mann als das Höchste von Theologie pries. Sollten wir wirklich nicht über den Punkt hinausgekommen sein, der mich schon vor 40 Jahren an dem doch so sehr von mir verehrten Lehrer so unbefriedigt gelassen hatte?! — Die Berufung von Strauss nach Zürich freute mich natürlich hoch, obgleich sie mich persönlich vor eine peinliche Wahl stellte: sollte ich nach Berlin oder nach Zürich? Dorthin zogen mich vorausgegangene Freunde und das Verlangen nach der Metropole der Philosophie; — das hätte ich sehr ungern aufgegeben. Aber nicht nach Zürich, wenn Strauss hinkam, — das wäre mir noch schwerer gefallen. Doch dankte ich es den Zürchern wenig, dass sie mir durch die Beseitigung von Strauss diese Wahl ersparten. Als dann im Herbst von 1839 die Bewegung weiter ging, fühlte auch ich mich gestachelt, ein Wort in Sachen der kirchlichen Freiheit zu reden. Ich schrieb eine kleine Schrift, in welcher ich an der Auferstehungsgeschichte zu zeigen suchte, dass man bei voller kritischer Fassung derselben nicht nur ein im wahren Sinn gläubiger Christ, sondern auch ein freudiger Osterprediger sein könne. Ein älterer geistlicher Freund in Zürich, der unter den Weniger* war, welche auch in der gefährlichsten Zeit unentwegt blieben, rieth mir jedoch von der Veröffentlichung ab, und ich that sehr gut daran, ihm zu folgen; denn wenn das Schriftchen auch so war, dass ich im Wesentlichen heute noch dazu stehen könnte, so würde man mir doch, und zwar mit vollem Recht, den unberufenen studentischen Vorwitz recht übel vermerkt haben.

Erinnerungen.

389

m. Im Herbst 1839 ging es also nach Berlin. Die Nachricht von der Katastrophe des 6. September traf uns in München, nachdem ich noch kurz vorher, was wenige Wochen später nicht mehr möglich gewesen wäre, ohne allen Anstoss meine erste Predigt in meiner Vaterstadt gehalten hatte. In Berlin ging uns ein schönes, reiches Studienleben auf. Fast alle meine nächsten Freunde aus allen Theilen der Schweiz trafen allmählig zusammen, und wir warfen uns mit Lust und Eifer auf alles, jeder nach seinem speziellen Zug, was die grosse Stadt an Wissenschaft und Kunst uns Neues bot. Schenkel, der in meiner letzten Basler Zeit seine Laufbahn dort als Privatdozent begonnen und mit voller Begeisterung uns in Schleiermacher's Theologie eingeführt hatte, gab mir noch brieflich die Mahnung mit auf den Weg, wenn ich mich doch nun einmal auf die Hegel'sche Philosophie einlassen wolle, so möge ich das doch wenigstens cum grano salis thun. Ich aber war gesonnen, nicht bloss am Rande zu nippen. Auch W a c k e r n a g e l , der jahrelang väterlich ein poetisches Kränzchen einer Anzahl von Freunden geleitet, hatte mich gewarnt, in Berlin die Poesie nicht im Sande der Philosophie verkommen zu lassen. Auch diese Warnung schlug ich in den Wind: wenn mich die Philosophie wirklich für die Poesie verderben sollte, so war j a wohl von Haus aus nicht viel daran verloren. Ich warf mich vielmehr, neben den theologischen Fachstudien, mit konzentrirtem Eifer auf die Hegel'sche Philosophie. Bald fügte sich mein gesammtes Denken an die grossartige Architektonik dieses Systems ein, und auch die Sprache wurde mir mehr und mehr natürlich zu eigen, während, was doch als der eigentliche Kern dieser Philosophie galt, die aus dem reinen Denken spinnende aprioristische Weltkonstruktion der Begriffsdialektik, mir von Anfang an als nur eine andere Art von philosophischer Mythologie, gegenüber der religiösen, verdächtig war. Ich stand vor dem Räthsel, dass der am tiefsten in die Dinge sich versenkende und am strengsten wahrhaft geistig denkende Philosoph doch wieder ganz den Eindruck eines Taschenspielers machen konnte, welcher vor dem

390

Erinnerungen.

verblüfften Publikum, das nicht weiss wie ihm geschieht, die ganze Welt nur so aus dem Aermel zupft. Ich glaubte je mehr und mehr die Lösung dieses Räthsels darin zu finden, dass ich die, durch dialektische Selbstbewegung des reinen Gedankens unternommene aprioristische Weltkonstruktion nur für eine verhängnissvolle Uebertreibung des tiefen, in Wahrheit Hegel's System zu Grunde liegenden Gedankens ansah, dass in allem, was ist und geschieht, Vernunft enthalten, diese Vernunft in den Dingen aber durch unser eigenes vernünftiges, streng logisches Denken als das schöpferische Wesen derselben, als der innere Grund ihrer Erscheinung zu erkennen sei. Durch diese Uebertreibung, die doch eigentlich und ursprünglich nur im Ausdrucke lag, kam freilich die Sache selbst geradezu auf den Kopf zu stehen:*) Hegel fing mit dem reinen Denken an und schien so aus diesem die Erfahrungswelt herausspinnen zu wollen, während mir war, in Wahrheit könne das „reine Denken" durchaus immer nur das letzte Ziel sein, das wir von der Erfahrung und der in unserer sinnlichen Natur bedingten Vorstellungsform unseres Bewusstseins aus erst anzustreben hätten. Immer entschiedener schlug ich in meinem Philosophiren den letztern Weg ein. Ob ich damit dem ächten Geiste Hegel's treu blieb, oder prinzipiell von ihm abging, konnte mir gleich sein: ich wollte ja nicht Hegel, sondern die Wahrheit. Für mich war ich allerdings der erstem Ueberzeugung — und bin es noch. In alle Wege aber war und bin ich Hegel vor allen andern Philosophen für die reichste Befruchtung meines eigenen Denkens dankbar. Von vornherein trat ich also schon damals — es ist dies keine Selbsttäuschung von meinem spätem Standpunkt aus — als nüchterner Rationalist in die Hegel'sche Philosophie ein, wenn auch noch ohne die exaktere kabtische Schulung. Mein Denken ging von einigen Grundbegriffen Hegel's, als leitenden Gesichtspunkten, aus*, das dialektische Begriffsspiel der Hegel'schen Logik dagegen, wie z. B. W e r d e r es mit der Fertigkeit eines Jongleurs *) Etwas Aehnlichea ist entschieden ja auch an seinem Ort bei K a n t der Fall.

Erinnerungen.

391

vor unsern Augen tanzen Hess, erschien mir als ein sehr zweifelhaftes und. jedenfalls unfruchtbares Kunststück, mehr geeignet, gläubige Schüler zu verblüffen, als kritische zu eigenem wirklichem Denken anzuleiten. Auch M i c h e l e t mit seinem fast komischen Pathos imponirte mir wenig. Und selbst Papa G a b l e r , Hegel's unmittelbaren Nachfolger, hörte ich mit mehr Respekt als eigentlichem Einverständniss. Hingegen bei V a t k e fand ich ganz, was ich suchte, und zwar je länger, desto mehr, sowohl in der alt- und neutestamentlichen Kritik, als in der Rcligionsphilosophie. Im Alten Testament konkurrirte er mit H e n g s t e n b e r g , und zwar hielten sie sich damals noch ziemlich die Waage; doch bekamen die einheimischen Studenten schon zu merken, bei welchem zu hören für das Examen rathsamer sei: eine Erwägung, die wie damals, so heute noch auf einer grossen Anzahl von Universitäten draussen im Reich, vorab in Berlin, eine Rolle spielt, wie unsere Studenten bei ihrer auch nicht i n d i r e k t beschränkten Lernfreiheit keine Ahnung davon zu haben brauchen. Ich hospitirte ab und zu bei Hengstenberg; aber jedesmal ging ich, wie seiner Zeit schon in Basel, wenn ich B e c k gehört, mit dem Eindruck davon: für diese Art bin ich in Gottes Namen verdorben. Das Ideal eines philosophischen Vortrags wurde für mich ein Publikum von Vatke „über die Sünde". Da wurde man auch streng systematisch in den innersten Kern der schwersten Probleme eingeführt und zur denkenden Lösung derselben angeleitet. Den ganzen Gewinn davon erhielt ich vollends, als ich Vatke persönlich näher treten durfte, und er in vertrautem Umgang mich Schritt für Schritt an seiner Ausarbeitung jener Vorlesung zu seinem tiefen aber schweren Buch über „die m e n s c h l i c h e F r e i heit"*) theilnehmen liess. Auch M a r h e i n e k e hörte ich mit grosser Befriedigung. Die hohepriesterliche Salbung, mit der er mir allerdings viel zu viel in orthodoxen Formeln hantierte, machte mich in seinen Vorlesungen so wenig als in seinem Lehrbuch der Dogmatik an dem gediegenen freien Gedankenkern irre. Denn

*) „Die menschliche Freiheit in ihrem Verhältniss zur Sünde und zur göttlichen Gnade." Berlin 1841.

392

Erinnerungen.

die vollständige Verstandeskritik der mythologisirenden Vorstellungsform der kirchlichen Lehre — für mich die erste Anforderung, wie für die „Gläubigen" der eigentliche Stein des Anstosses — erschien mir bei Marheineke, bei der Hegel'schen Philosophie überhaupt, ebenso sehr als die selbstverständliche, und darum nur eben zu wenig ausgeführte Voraussetzung, wie auf der andern Seite bei Schleiermacher. Das Studium S c h l e i e r m a c h e r ' s aber war bei mir von Anfang an mit dem H e g e l ' s friedlich Hand in Hand gegangen. Ehe einige meiner nächsten Freunde von Zürich nach Berlin nachkamen, hatte ich mit diesen, besonders mit F r i e s , schon eifrig über dieses Thema Korrespondenz gepflogen. Ueberhaupt habe ich meine Studien fast ebenso sehr in der Form brieflichen Austausches getrieben, wie durch Kollegienhören. Welch wuchtige Episteln gingen da fortwährend hin und her! Nun, es lohnte sich schon der Mühe, was Rechtes zu schreiben, wo jeder Brief noch sechs alte Batzen kostete. Ich weiss nicht, ob das gegenwärtige Geschlecht von Studirenden dieses Mittel der Ausbildung, nachdem es so viel wohlfeiler geworden, auch noch so eifrig pflegt. Meine Freunde hatten in Zürich die Sclileiermacher'sche Theologie an der lautersten Quelle geschöpft, bei A. S c h w e i z e r , dem ächtesten Erben von Schleiermacher's wissenschaftlichem Geiste. Sie waren durch ihn ebenso begeistert für dieselbe, wie ich durch Strauss und Vatke für Hegel. Allein wir kamen einander von beiden Seiten Schritt für Schritt immer näher, und fanden je mehr und mehr, dass nur aus einer gegenseitigen Ergänzung, beim Einen von der subjektiven, beim Andern von der objektiven Seite aus, der volle Religionsbegriff und damit die rechte Basis sowohl für die wissenschaftliche, als auch für die praktische Theologie zu gewinnen sei. Aber freilich von dem f r e i aufgefassten Schleiermacher und Hegel aus. In Berlin jedoch standen damals die Schüler derselben im zweiten Geschlecht, wie ehedem zn den Lebzeiten der Meister, einander im Ganzen noch schroff und ausschliessend gegenüber, besonders unter den Norddeutschen. Und wie Schleiermacher damals in Berlin vertreten war, mussten wir schon entschieden auf der andern Seite stehen,

Erinnerungen.

393

anf welcher wir denn auch unter den Theologen eine geschlossene Phalanx bildeten. „Wenn die Schwaben und Schweizer nicht wären — äusserte damals Marheineke einmal —, so könnten wir unsere Bude schliessen." — N e a n d e r hatte, so lange Schleiermacher noch lebte, an ihm seine hinreichende Deckung gegen links gehabt; seither aber fühlte er diese Flanke entblösst, und da seit dem Auftreten von Strauss diese gerade doppelt bedroht war, trat er, der sonst so milde und weitherzige Mann, um so mehr mit dem ganzen Pathos seines frommen Gemttthes vor den Riss, je weniger seine wissenschaftliche Stärke nach dieser Seite hin lag. Ich war mit einer Empfehlung an ihn nach Berlin gekommen und freundlich von ihm aufgenommen worden. Ich hörte auch bei ihm; aber an seinem Kränzchen .nahm ich nach einem ersten Besuche nicht mehr Theil. Es war bei einigen seiner Schüler die Unsitte eingerissen, das Gespräch express auf die Hegel'sche Philosophie zu bringen, um sich dann an den heftigen Expektorationen des sonst so kindlich sanften, trefflichen Mannes zu ergötzen. Dies unwürdige Spiel sticss mich ab, und da ich ohnehin nicht hätte dazu schweigen können, so blieb ich lieber ganz weg. Alljährlich am 16. Januar erhielt Neander ein solennes Geburtstagsständchen. Bei diesem Anlass brachte er 1841 sein berühmtes Pereat „dem Moloch der Philister, dem Gott der Hegelianer." Am andern Tage sagte Marheineke im Kolleg über die Symbolik, wo er gerade an der Darstellung der alten konfessionellen Streitigkeiten zwischen den Lutheranern und Reformirten stand, in seinem gewohnten feierlichen Ton: „Ich muss Ihnen doch mittheilen, wie damals polemisirt wurde. Da steht in einem lutherischen Katechismo zu lesen: Frage: Was ist der Kalvinisten Gott? Antwort: Der Kalvinisten Gott ist ein schrecklicher, blutdürstiger Moloch." Als ich Vatke von dem Ständchen erzählte, erwiederte er nur lächelnd: „der gute Neander!" Wir aber verschafften uns die Satisfaktion, auch für V a t k e einen Fackelzug zu Stande zu bringen, bei dem ihm ein Pokal überreicht wurde. Friedrich Tschudi (später berühmt geworden als Verfasser des „Thierlebens der Alpenwelt") hielt — wenn ich nicht irre — die Rede.

394

Erinnerungen.

Im Uebrigen kamen wir mit Anhängern der entgegengesetzten Richtung unter den deutschen Studenten vielfach in freundschaftliche Beziehung. So wohnte ich gleich Anfangs nebst einigen Freunden mit einer Anzahl gut lutherisch-orthodoxer Bayern aus Erlangen in einem Hause, der damals sogenannten Schweizerkaserne, zusammen. Ich war hier der Zimmernachfolger von E b r a r d , dessen Amtsnachfolger ich einst in Zürich werden sollte. Mit diesem, der sich bekanntlich von je als den ächten reformirten Orthodoxen gerirte, hatten sie stets in heftigem konfessionellem Hader gelebt. Wir befreundeten uns bald mit den liebenswürdigen Leuten, und sie gestanden, dass sie mit uns weit besser auskämen, als mit ihrem streitsüchtigen Landsmann, obgleich sie bald mit Erstaunen wahrnehmen mussten, dass gegenüber der Differenz zwischen u n s e r e r Weltanschauung die alten konfessionellen Gegensätze, die ihnen bisher als die höchsten erschienen waren, zur wahren Bagatelle zusammenschrumpften. — Später brachte uns das homiletische Seminar bei dem Domprediger S t r a u s s mit andern Gegnern in lebhafte Berührung. Wir hatten eigentlich nur Homiletik bei ihm hören wollen und an das Seminar nicht gedacht. Einer von uns jedoch hospitirte zufällig das erste Mal und berichtete uns nachher, wie es da hergehe: erst werden zwei Predigten gehalten und kritisirt, und dann sollten freie Disputirübungen gehalten werden, wobei aber nur über die Philosophie losgezogen werde, ohne dass eine Stimme sich für sie erhoben hätte. Da müssen wir hin! hiess es, und gleich am nächsten Seminarabend rückten wir als geschlossene Phalanx auf den Plan. Strauss nahm uns sehr freundlich auf; wir brachten durch unsere Opposition ein ungewohntes Leben in die Sache, und so ging es das ganze Wintersemester 1840/41 durch recht lebhaft her. „Sie Schweizer sind geborene Redner," pflegte Strauss öfters zu sagen. Das hatte er sich aber doch eigentlich mehr a priori konstruirt, weil wir in der Republik von Jugend auf mehr an öffentliche Verhandlung gewöhnt würden. In Wirklichkeit waren die Norddeutschen uns an Suada gewiss überlegen; hingegen fühlten wir uns allerdings sachlich solider auf den Füssen. Den einzigen Norddeutschen, der, so viel ich mich erinnere, uns sekundirte,

Erinnerungen.

395

hätten wir gern abgeschüttelt, da er uns mit seiner philosophischen Phraseologie doch nur blamirte. Die Reihe, zu predigen, traf mich zusammen mit einem, dessen ganze Art allerdings den grösstmöglichen Kontrast zu der meinigen bildete: er sprach in überschwenglichem Redefluss, gefühlig verschwommen und blumenreich. Ein älterer holländischer Kandidat, von Strauss zuerst nm sein Urtheil über beide Predigten befragt, gab dasselbe kurz und bündig genug ab: „die erste Predigt hat mich sehr erbaut; die zweite Predigt (die meinige) hat mich gar nicht erbaut." Strauss selbst war dann anerkennender; er lobte, was zu loben war: die Ordnung im Gedankengang und auch die Gedanken selbst. Darüber, dass ich einmal stecken geblieben war, tröstete er mich damit, dass keiner ein guter Reiter geworden sei, den das Pferd nie abgeworfen habe. Auch dem grossen Chrysostomus sei das öfters begegnet. „Allein dieser machte in dem peinlichen Momente so (Stauss faltete die Hände), während Sie so gemacht haben (er hielt die Hand vor die Stirn). Denken Sie künftig an Chrysostomus." Ueberhaupt war Strauss fortwährend recht freundlich gegen uns Schweizer und lud uns öfters in's Haus und zu Spaziergängen ein, wo er es dann liebte, mich etwa mit einem Gegner vom Seminar her zur Fortsetzung des dort geführten Streites zusammenzubringen. Auch sonst fanden wir uns mit mehreren unserer Hauptgegner bei einigen ächten Vermittlungstheologen unter uns gastlich zusammen. So lernte sich in persönlichem Austausch auf freiem neutralem Boden nicht nur vertragen, sondern fruchtbar und freundschaftlich austauschen, was im prinzipiellen Kampfe sich wie Feuer und Wasser nur gegenseitig ausschliessen zu müssen schien. Es wäre gut, wenn auch die Geistlichen im Amte, besonders die in hohen Aemtern der Kirchenleitung sitzen, allerorten noch Veranlassung, ja die Nöthigung hätten, mit Andersgesinnten ebenfalls auf freiem Boden persönlichen Austausch zu pflegen. Es unterbliebe vielleicht mancher Skandal von bornirter Engherzigkeit und Ausschliesslichkeit. In meinen eigenen philosophischen Studien herrschte damals allerdings auch eine Ausschliesslichkeit, die mich Manches versäumen liess, was ich nachher bereut habe. Die selbstständige

396

Erinnerungen.

Vertiefung in den Geist der Hegel'schen Philosophie nahm mich eben so ganz in Anspruch, dass ich weder Zeit noch Lust fand, mich gleichzeitig mit andern Philosophen tiefer einzulassen. Ich hedaure aber in .der That, auf diese Weise z. B. T r e n d e l e n b u r g versäumt zu haben. Im Sommer 1840 kam ich auf einer Ferienreise auch nach Göttingen, und hospitirte unter Andern bei H e r b a r t. Wohl imponirte mir die Person des alten ehrwürdigen Herrn mit seinem klaren, fliessenden Vortrag; aber was den Inhalt des Vortrags betraf — es war ein Kapitel aus der Psychologie —, da stand mir jedes Hegel'sche Haar auf dem Kopfe zu Berg ob dieser mechanischen Auffassung des geistigen Lebens. Hatte ich bisher erst eine dürftige Kenntniss von der Herbart'schen Philosophie gehabt, so schreckte mich dies vollends auf weite Jahre hinaus ab. Ich nehme es daher Andern nicht übel, wenn es ihnen als Studirenden mit der Hegel'schen Philosophie ähnlich ergangen ist. Nur wenn einer einmal urtheilen will, muss er sich schon näher herbeilassen, und darf nicht bloss Andern nachbeten. Gegen Ende meines Aufenthaltes in Berlin, im Sommer 1841, schrieb ich meine erste wissenschaftliche Arbeit, die zum Drucke gekommen ist: „Ueber die Persönlichkeit Gottes"*). Eine Rezension des ersten Bandes der „Glaubenslehre" von S t r a u s s , von R o s e n k r a n z , hatte mir die Veranlassung dazu gegeben. Dieser geistreiche Hegelianer „vom Centrum" hatte Strauss gegenüber die Persönlichkeit Gottes philosophisch zu rechtfertigen gesucht, was mir nun als eine philosophische Inkonsequenz erschien, eine falsch vermittelnde Halbheit in der Durchführung der durchgehenden Aufgabe der Philosophie, die religiösen Vorstellungen auf den ihnen wesenhaft [zu Grunde liegenden Gedanken zurückzuführen, und zwar mit reiner und ganzer Abstreifung ihrer von der Sinnlichkeit herstammenden, nur subjektiv natürlichen, aber objektiv unwahren Vorstellungsform. Mir war es Ernst mit der rUckhaltslosen Durchführung dieser Aufgabe; nicht aus Verneinungssucht, im Gegentheil in der guten und darum auch furchtlosen Zuver*) In den t h e o l o g i s c h e n J a h r b ü c h e r n von Z e l l c r , Jahrg. 1842, 2. Heft.

Erinnerungen.

397

sieht, gerade dadurch den Kern des religiösen Glaubens ganz und voll zu gewinnen. In der Negation stimmte ich Strauss daher ganz bei und suchte Rosenkranz gegenüber nachzuweisen, dass Persönlichkeit die natürliche Individualität zur nothwendigen Voraussetzung habe, Gott also, dem absoluten Geist, Persönlichkeit beilegen, ihn vorstellungsmässig verendlichen heisse. Im Positiven dagegen, wie denn Gott als „absolute Idee", als „absoluter Geist" zu denken sei, ging ich über Strauss hinaus. Es freut mich, dass eine Stelle es mir ausdrücklich dokumentirt, dass ich damals schon, und nicht erst später, zu der Einsicht eines Strauss durchgängig anhangenden Mangels gekommen war. Eine Aeusserung von Vatke hatte fruchtbar bei mir eingeschlagen: Strauss sei wohl in der Kritik ein tadelloser Meister, aber nicht spekulativ genug. Ich war indess damals, und noch lange hinaus geneigt, diesen Mangel bei Strauss mehr nur als formelle Kehrseite seiner Virtuosität in der anschaulichen Ausdrucksweise aufzufassen und nicht als wirkliche Unzulänglichkeit seines Denkens zu taxiren. Ich lebte des guten Glaubens, seiner Zustimmung sicher tzu sein, auch wo ich über seine blossen Negationen zur positiven Fassung des Gedankens in den negirten Vorstellungen fortging. Ja, gestützt auf Dokumente, die ich in Händen habe, glaube ich heute noch, dass ich wenigstens halbwegs mit dieser Schätzung von Strauss doch Recht hatte, trotz des argen Dementi, dass sein „Alter und neuer Glaube" mir schliesslich allerdings gegeben hat. Meine Arbeit bewegte sich noch streng in der Hegel'schen Terminologie, und ist mir selber in dieser Hinsicht etwas fremder geworden, während ich zum Wesentlichen des Inhaltes heute noch stehe. Der Sprachgebrauch wechselt eben mit dem, dass ein ausgeprägtes System im Vordergrunde der philosophischen Debatte steht. Was davon nur mit der spezifischen Form desselben zusammenhängt, kommt seiner Zeit mit dieser in Abgang; anderes aber verdient als wirkliche Bereicherung der Sprache, wie der Gedanken, zu bleiben. So ist von Hegel's Terminologie sicher vieles mit Recht hinfällig geworden, und so wird 6s gewiss mit dem, nicht nur mit Recht wieder zu Ehren gebrachten, sondern auch vielfach bloss wieder aufgewärmten Kant nicht anders ge-

398

Erinnerungen.

schehn. Wer aber darum bei jeder von Hegel herstammenden Ausdrucksweise gleich von hegelschem „Jargon" spricht, der verräth nur, dass seine philosophische Bildung auf dem Niveau der allgemeinen Bildung eines Pfahlbürgers steht, der schimpft, was man doch jenseits der Grenze für ein Kauderwelsch rede. — Die Bezeichnung „ T h e i s m u s " heftete ich damals noch an die Persönlichkeit Gottes, während ich seither exakter und konsequenter jeden Gottesbegriff unter diesen Namen befasste, der nur überhaupt mit der Idee des „absoluten Geistes" Ernst machen will. Die Bezeichnung „ P a n t h e i s m u s " wies ich dagegen schon damals so bestimmt, wie heute, für meinen Gottesbegriff ab: nicht aus Scheu vor dem übelbeläumdeten Stichwort, sondern weil ich mit Wahrheit bezeugen kann, dass meinen Gedanken niemals etwas ferner gelegen hat, als wirklicher und eigentlicher Pantheismus, der in meinen Augen ebenso gut nur eine vosstellungsmässige Fassung der Gottesidee ist, wie die entgegengesetzte Vorstellung von der Persönlichkeit Gottes. Und zwar dient die letztere der Religion, dem geistigen Verhältniss zwischen Gott und Mensch, unendlichem und endlichem Geiste, viel unmittelbarer und wahrer zum Ausdruck, während die pantheistische Vorstellung nur die allgemeine Grundlage der Religion veranschaulicht, aber, für das Ganze der Religion geltend gemacht, diese ganz sicher, ob früher oder später, in ihr Gegentheil, den puren Naturalismus resorbirt. Indem ich jene meine erste Arbeit von 40 Jahren her nach langer Zeit wieder ansehe, habe ich mehr, als ich selbst geglaubt, die Genugthuung, es in ihr bezeugt zu finden, dass ich schon damals das Problem eines streng geistigen Gottesbegriffes fest in's Auge gefasst und darum von Anfang an das Recht gehabt habe, den Vorwurf des Pantheismus stets als Unverstand oder als Verdrehung von mir zu weisen, — und, wo ich umgekehrt von gewisser philosophischer Seite her, z. B. von H a r t m a n n , dafür nicht wollte belobt werden, dieses Lob als unverdient abzulehnen.

Erinnerungen.

399

IV. Als meine Tage in Berlin dem Ende nahten, erwartete ich mit steigender Ungeduld noch das Erscheinen des zweiten Bandes der Glanbenslehre von Strauss. Ich wollte auf meiner Heimreise den Mann, der mir so viel geworden war, besuchen, und da musste ich doch dies sein neuestes Buch gelesen haben. Endlich kam es gerade noch in den letzten Tagen, und ich las es Bogen um Bogen — damals erhielt man die Bücher noch selten brochirt — in Einer Nacht ganz durch. Ich habe sonst niemals ein starkes Wortgedächtniss gehabt; allein von dieser ersten Lektüre blieben mir doch ganze Seiten wörtlich im Gedächtniss: so prägnant fand ich darin, was meinem eigenen Denken entgegenkam. Doch nur nach der einen, der kritischen Seite; ebenso fühlbar wurden mir auch gleich die Punkte, wo Strauss mich nicht befriedigen konnte. Hier sah ich meine eigene Aufgabe vor mir. Auf Reisen Jagd nach flüchtiger Bekanntschaft mit gelehrten Celebritäten zu machen, dazu bin ich von je zu schüchtern und auch zu spröde gewesen, und so habe ich mir manches entgehen lassen, was mir vielleicht zur werthvollen Erinnerung hätte werden können. Nur wo Dankbarkeit und Sympathie mich bereits einem Manne verbanden, da kehrte ich gerne an. So war mir ein Hauptziel auf meiner Rückreise von Berlin im Herbst 1841 Stuttgart und Tübingen. Zu Stuttgart suchte ich S t r a u s s in dem Gartenhäuschen auf, das er in dieser Zeit vor seiner Verheirathung bewohnte. Wie war ich überrascht durch die Einfachheit der Wohnung und des berühmten Bewohners, der mich mit meinem Gruss von Vatke gleich aufs Freundlichste aufnahm. Da letzterer auch meiner Abhandlung, die eben nach Tübingen gewandert war, Erwähnung gethan, fragte mich Strauss etwas schalkhaft: „Nun, wissen Sie bessern Rath für den persönlichen Gott?" — „Die Lösung der Quadratur des Zirkels?" — antwortete ich — „Nein! Doch glaube ich etwas zur Ergänzung des Problems beigebracht zu haben, und es wäre mir eine Genugthuung, wenn es Ihre Zustimmung finden könnte." Viele Jahre später, nach meiner Dogmatik, schrieb mir Strauss freilich über meinen Gottesbegriff:

400

Erinnerungen.

„Die Botschaft hör ich wohl; allein mir fehlt der Glaube." Auf einem Spaziergang nach Cannstadt sprachen wir über den Ausgang seiner Berufung nach Zürich, über dessen verhängnissvolle Bedeutung für seine ganze Zukunft er sich keine Illusion machte. Aus der Fülle meines Herzens sprach ich ihm meinen Vorsatz aus, in meiner künftigen Wirksamkeit mich des Unrechtes, das ihm von meinen Landsleuten widerfahren, an meinem Orte wenigstens nicht mitschuldig zu machen, und nach meinen Kräften zu beweisen, dass man sein offener und treuer Schüler und dabei doch ein rechter Theologe sein könne. Wenn Strauss auch später für seine Person sich immer schroffer von der Kirche, wie er Bie zu erfahren bekommen, abgewendet hat, daB hat er auch noch in der letzten Zeit wiederholt und mit einem Verständniss für die positiv religiösen Aufgaben der Kirche, die vielleicht Niemand bei dem Verfasser des „Alten und neuen Glaubens" suchen würde, mir zugestanden: unter den Bedingungen kirchlicher Freiheit, wie wir jetzt sie errungen, könne er sich eine heilsame kirchliche Wirksamkeit im Volke gar wohl denken, und wäre gewiss auch seine theologische Wirksamkeit friedlicher und gedeihlicher, als die Leute meinen, ausgefallen. In Tübingen traf ich's, Dank dem Umstand, dass dort das Stift länger aushält, als anderwärts Sitte ist, gerade noch zum Schluss der Vorlesungen und konnte so noch alle die Männer sehen und hören, zu denen, als den nächsten um Strauss, es mich am meisten hinzog: Baur vor Allen, Vischer und Zeller. Namentlich der letztere bereitete mir durch die liebenswürdige Weise, mit der er mich in seine Kreise einführte, ein paar unvergessliche genussreiche Tage. Von Landsleuten traf ich nur noch den Bündtner Trippi. Wer hätte ahnen können, dass die Hoffnungen, zu denen dieser geist- und gemüthvolle Jüngling berechtigte, so bald ein jähes Ende finden sollten! An der Synode zu Thusis, im nächsten Frühjahr, stürzte er aaf einem Spaziergang am Abend des ersten, mit Glanz bestandenen Examentages, vom Schwindel, an dem er öfters litt, ergriffen, von einem schmalen Steg in den Rhein. Nach meiner Rückkehr in die Heimath wandte ich mich

Erinnerungen.

401

wieder zunächst nicht nach Zürich, wo die nach-straussische Reaktion noch in voller Blüthe stand, sondern nach B a s e l , um mit meinen dortigen alten Studienfreunden vorerst das theologische Examen zu bestehen und dann mich auf die akademische Laufbahn vorzubereiten. Das Examen jedoch ging nicht ohne ernstliche Anstände ab und zog sich darum bis in den Sommer 1842 hinein. Es waren unser vier Studienfreunde. Zwei gaben keinen Anstoss; mein nächster Freund aber und ich erweckten bei einem Theil der Prüfungsbehörde (sie bestand aus den vier Professoren und den vier Hauptpfarrern der Stadt) ernstliche Bedenken wegen der kritisch-spekulativen Richtung, zu der wir uns ohne Rückhalt bekannten. Wir waren unserer persönlichen Ueberzeugung nach durch dieselbe in keiner Weise mit der Aufgabe des geistlichen Berufes in der Kirche in Zwiespalt gerathen, lebten im Gegentheil der unbeirrten Ueberzeugung, durch das rückhaltslose Streben nach einer freien wissenschaftlichen Glaubenserkenntniss uns nach der theoretischen Seite am wahrsten und fruchtbarsten auch für den praktischen Dienst der Kirche vorbereitet zu haben. Von der theoretischen Seite; denn das wussten wir wohl, dass allerdings noch wichtiger als dies die Wahrhaftigkeit und Lauterkeit der Glaubensgesinnung sei, und dass Schaden hieran allerdings schwerer wiege als mangelnde Examenkenntnisse. Und auch das verhehlten wir uns nicht, dass der Gang unserer theoretischen Ausbildung nicht gerade als der nächste und direkteste Weg unmittelbarer Ueberleitung zum praktischen Berufe gelten könne. Zunächst aber galt es, von unserer wissenschaftlichen Ueberzeugung Rechenschaft abzulegen. Je offener wir dies thaten, desto mehr hofften wir auch Vertrauen in die Redlichkeit unseres Willens bei der Kirchenbehörde zu finden. Und wir täuschten uns nicht. Zwar erregte die runde Darlegung des philosophischen Standpunktes, zu dem unsere Studien uns geführt hatten, im curriculum vitae, und die Anwendung, die wir in der grossen Examenarbeit über das aufgegebene, uns willkommene Thema: „Das alttestamentliche Gesetz im Neuen Testament und in der Kirche", davon machten, bei der Einen Hälfte der Examinatoren (den Pfarrern und einem der Professoren) grosse Bedenken, die Biedermann, Vortrüge und Aufsätze.



402

Erinnerungen.

sie um so reiner als Glaubensbedenken geltend machten, je mehr sie bereit waren, unsere wissenschaftliche Qualifikation fast über Verdienen anzuerkennen. Wenigstens hätten einige philologische Böcke in einer Klausur-Arbeit, die mir zu spät in den Sinn kamen, die Note I nicht verdient. Hätten unsere Lehrer De Wette und Hagenbach sich nicht warm unser angenommen, wir wären abgewiesen worden. Da fand die von dem uns wohlwollenden freisinnigen und weitherzigen Antistes Burckhardt vorgeschlagene Auskunft Anklang: diejenigen Examinatoren, welche Gewissensbedenken gegen unsere Zulassung hätten, sollten noch in einer Privatglaubensprüfung sich Gewissheit in dieser Gewissensfrage zu verschaffen suchen. So geschah es denn auch, und das Resultat war ein diese redlichen Männer wenn auch nicht vollbefriedigendes, so doch beruhigendes. Namentlich gerade bei dem, vor dessen streng kirchlicher Denkweise und, wie es selben, calvinischer Art uns am meisten bange gewesen, nahm diese Glaubensprttfung einen unerwartet befriedigenden Verlauf und Ausgang. Es war eben ein Mann, dessen strenge Rechtgläubigkeit in wahrem religiösem Sinn wurzelte und zugleich mit feiner theologischer Bildung und liebreichem Wesen verbunden war. Mit ihm kamen wir tiefer in den Text und fanden für unsere Darlegung unserer Herzensstellung zum christlichen Glauben ein liebevoll entgegenkommendes Verständniss. „Ja", — sagte er mir von meiner Arbeit über das Gesetz — „das bewegt sich in den Vorhöfen; nur am Ende, wenn man fein hinhorcht, hört man etwas vom Wehen des christlichen Geistes." Bei einem andern Herrn freilich, dessen trockenem Supranaturalismus wir schon die Stirne zu bieten gedachten, bekamen wir, ohne dass er sich tiefer einliess, nur die Mahnung zu hören, die Kirche verlange Diener Christi und Schüler der Apostel, nicht aber Hegel's. Der unter unsern Lehrern endlich, der uns ebenfalls noch vorlud, der in seinem Fach kritisch gelehrte, aber in dogmatischen wie noch in andern Dingen unendlich naive Stähelin, dem wir nun unsrerseits dogmatisch zu Leibe gingen, entliess uns mit dem gutherzigen Bescheid: „Pantheistische Ungläubige sind Sie halt doch, aber liebe Ungläubige." Kurz, diese nachträgliche Glaubensprttfung hatte

403

Erinnerungen.

ein für beide Tlieile befriedigendes Ergebniss. Unsere Examinatoren konnten sich damit beruhigen, wenn unser Glaube auch noch eine wissenschaftlich bedenkliche Form habe, so liege ihm doch ein aufrichtiges Streben zu Grunde, und es dürfe wohl das Wort der Jünger auch auf uns seine Anwendung haben: Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben. Und wir auf der andern Seite hatten den wohlthuenden Eindruck, dass wir nicht vor einem engherzigen oder gar böswilligen Ketzergerichte gestanden, sondern dass die sehr elirenwerthen Männer, die nur aus aufrichtigem Gewissensbedenken Anstand genommen hatten uns ohne Weiteres zuzulassen, doch auch uns einen aufrichtigen Willen zutrauten und in diesem guten Zutrauen uns weitherzig entgegenkamen. Mehr konnten wir in der That nicht verlangen. Damals wurden die Kandidaten noch auf die erste Basler Konfession verpflichtet. Ich gab, da unsere Stellung dazu natürlich auch in Frage gekommen war, eine Erklärung ein, in welcher ich Artikel für Artikel auseinandersetzte, was ich als den religiösen Kern derselben auffasse, den ich als Ausdruck der Grundsätze der evangelischreformirten Kirche auch für mich als Norm meines Wirkens in der Kirche anerkenne. Auch diese Erklärung wurde von der Behörde angenommen, und so kam das Examen zu seinem glücklichen Abschluss. Die Sache war zu einer cause célèbre in Basel geworden, nicht sowohl wegen meiner, des Fremden, als weil mein Freund und Schicksalsgenosse einer angesehenen, in jeder Beziehung gut baslerischen Familie angehörte. Darum war beim letzten öffentlichen Akt, wo gerade wir beide, unmittelbar vor der Ordination,» noch unsere Probepredigt zu halten hatten, der Chor des Münsters, der damals noch ein abgeschlossenes gottesdienstliches Lokal bildete, von einem auf das Ende gespannten Publikum überfüllt. Der Schluss krönte aber auch das Ganze auf die für uns befriedigendste Weise. Der ehrwürdige Antistes legte in seiner Ordinationsrede den ganzen Fall der Gemeinde offen dar, welche Bedenken im Schooss der Behörde wegen unserer wissenschaftlichen Richtung gegen unsere Zulassung zum Dienste der Kirche anfänglich gewaltet, wie aber dieselbe im Vertrauen auf die Macht der göttlichen Wahrheit aufrichtig strebenden Geistern 2G*

404

Erinnerungen.

das Zutrauen schenke, dass auch sie nach bestem Wissen und Gewissen zu ihrem Dienste sich stellen wollen. So gingen wir aus diesem Prüfungsfeuer, in dem wir monatelang — und ich zeitweise mit Ungeduld — gestanden, schliesslich mit ungetheilter Hochachtung gegen die wahrhaft weitherzige Kirchenbehörde, freien Hauptes und mit dem freudigen Vorsatz hervor, uns des entgegengebrachten Vertrauens würdig zu erweisen. Weniger befriedigend, wenigstens innerlich, wenn auch äusserlich mit dem gleichen Erfolge, verlief einige Zeit später das Examen einiger gleichgesinnter Freunde in Zürich. Hier war die kirchliche Reaktion noch im Stadium der leidenschaftlichen Aufregung und zum Theil des Neophyteneifers. Darum hatten unsere Freunde sich auch nicht der ruhigen und unparteiischen Loyalität von Seite der Kirchenbehörde zu erfreuen, wie wir in Basel. Die geistlichen Glieder der Behörde suchten sie womöglich schon im Wissenschaftlichen zu Fall zu bringen, oder doch wenigstens möglichst herabzudrücken, während es eigentlich doch nur ihrem Glauben, resp. Unglauben galt. Doch schlugen sie sich tapfer durch, wobei ihre alten Lehrer sich treulich für sie wehrten. Allein als endlich Alles so weit glücklich bestanden war, wurde schliesslich bei der Ordination, wo keine Antwort und Rechtfertigung mehr möglich war, ihnen ihr in der Kirche nicht zu duldende Unglaube noch in einer Weise vorgehalten, dass Fries, wie er mir später öfters erzählte, auf dem Punkte stand, empört den Herren noch im letzten Moment den Sack vor die Füsse zu werfen. — Und doch, was waren das am Ende noch für verzeihliche Menschlichkeiten! verglichen mit der jinqualifizirbaren Ketzerrichterei, durch welche gegenwärtig preussische und hannoverische Oberkirchenbehörden von Fall zu Fall immer ärger sich prostituiren, so dass es mitunter selbst die „Neue evangelische Kirchenzeitung" sichtlich in Verlegenheit setzt, die theologische Roheit wenigstens einigermaassen anständig zu überfirnissen! Das Noblesse oblige! sollte doch wohl auch auf diesem Gebiete seine Geltung haben: vorab in dem ursprünglichen Sinn, dass eine hohe Stellung auch einen höhern Standpunkt mit weiterm Blick und Herzen verlange, wenn man nicht eine klägliche Figur machen

Erinnerungen.

405

will. Sicher aber gilt es in dem andern Sinn, dass eine noble, vertrauensvolle Behandlung am festesten dazu verpflichtet, entgegengebrachtes Vertrauen auch zu rechtfertigen. Wir wenigstens haben dies damals lebhaft empfunden und traten darum mit dem ganzen bisherigen Erwerb unserer wissenschaftlichen Vorbereitung ungetheilten Sinnes in den Dienst der Kirche, die uns so, wie wir kamen, nicht von sich gestossen hatte. Ich zwar gedachte zunächst mich diesem Dienste nur mittelbar zu widmen, durch Vorbereitung zum akademischen Lehramt. In stiller Zurückgezogenheit zu Basel, in der zweiten Hälfte von 1842, ging ich an die Vorstudien zu einem grösserem Werke, mit dem ich mich vor der wissenschaftlichen Welt ausweisen wollte. Ich hatte nichts Geringeres zu meinem Thema gewählt als „das e w i g e L e b e n " . Ich wusste, dass dies der Punkt war, wo die Konsequenz meines Standpunktes am alleranrüchigsten war und auch von sonst frei Denkenden perhorreszirt wurde; aber gerade auf diesem Punkte war ich der selbstgewissesten Zuversicht in meiner Grundüberzeugung, dass alle religiöse Wahrheit im inw e n d i g e n Leben und nicht a u s s e r uns in einer andern jenseitigen Welt zu suchen sei, und dass darin, und darin allein, wie alle Wahrheit, so aller Segen der Religion und zugleich die Bedingung ihres Friedens mit der Wissenschaft wurzle. Es ist nicht Renommisterei, sondern nur freudige Glaubenszuversicht von mir gewesen, was mich stets angetrieben hat, meine Ueberzeugung gleich je auf dem äusserstcn angefochtesten Posten ganz und rückhaltslos zu vertreten. Im Straussenhandel hatte ich die Stellung 4er freien Theologie zum Glauben an der Behandlung der Auferstehung Christi rechtfertigen wollen; meine erste Abhandlung hatte die Persönlichkeit Gottes zum Gegenstande gehabt, und nun wählte ich zum Thema das ewige Leben, um dies Ziel der Religion aus dem sinnlichen Jenseits der Unsterblichkeit in das Diesseits eines wahren gottgeeinten Geisteslebens zurückzunehmen. Ich legte meine Schrift auf breiter Basis an: in einem ersten, prinzipiellen Theile sollten die philosophischen Grundbegriffe für die wissenschaftliche Behandlung religiöser Fragen entwickelt, in einem zweiten, historischen, die Vorstellungen vom

406

Erinnerungen.

ewigen Leben durch die ganze Religionsgeschichte und dann speziell die christliche Lehre durch die Dogmengeschichte durchgeführt, und endlich in einem dritten, positiv religiösen Theile der aus der Kritik aller Vorstellungen resultirende rein geistige Begriff des ewigen Lehens in seinen religiösen Inhalt auseinander gelegt werden. Da, eben als ich mit den Vorarbeiten fertig war und an die Ausarbeitung selbst ging, brachten mich die Verhältnisse des Lebens von meinem ursprünglichen Lebensplan ab und in's Pfarramt. Da sah ich bald, dass die Ausführung meines Gesammtplanes sich in's Unbestimmte hinausziehen mtlsste, und so entschloss ich mich, vor der Hand die allgemeine Einleitung weiter auszuführen und zu einem Ganzen abzurunden. So entstand im Laufe des Jahres 1843 „Die freie Theologie". Sie sollte von meiner Auffassung des Wesens der Religion im Verhältniss zur Wissenschaft und darauf begründet von meiner Stellung zur Kirche Rechenschaft geben.

V. Herr Antistes Finsler stellt das Verhältniss meiner „freien T h e o l o g i e " zu ihren nächsten Vorgängern richtig dar, wie es sich aus einiger Entfernung ausnehmen mochte. In Wahrheit stand ich aber doch etwas anders zu denselben. Unsere Berge scheinen, aus der Ferne gesehen, oft auch ganz einfach sich in einer Kette aneinander zu reihen; wenn man aber mitten in der Bergwelt selbst steht, so sieht man schon, wie die Gebirgszüge sich vielfach kreuzen, und Gipfel, die aus der Ferne ganz nahe zusammenrücken, in der Wirklichkeit oft durch tiefe und breite Thäler getrennt sind, ja einem ganz entgegengesetzten Gebirgszug angehören können. H e g e l hatte die Religion als ^vorstellungsmässige Anschauung des philosophischen Gedankens der Versöhnung des Endlichen mit dem Unendlichen" bezeichnet, und darauf hin die H e g e l i a n e r rechter Seite sie kurzweg zur vollen Einheit mit der Philosophie erhoben, indem sie in den religiösen Vorstellungen lauter spekulative Gedanken nachwiesen. Da trat Strauss auf und legte

Erinnerungen.

407

durch seine kritische Zersetzung jener Vorstellungen vielmehr den Widerspruch beider zu Tag, und F e u e r b a c h setzte die Religion vollends zu einer blossen Illusion des menschlichen Herzens herab, das in seinen religiösen Vorstellungen nichts anderes als sein eigenes Wesen, nur verunendlicht, sich als eine höhere Macht gegenüberstelle. Da kam endlich i c h , war mit dieser letztem Auffassung einverstanden, gab ihr dann aber die ganze Wendung rechtsum: was theoretisch zwar als Illusion erscheine, das sei hingegen praktisch etwas sehr Berechtigtes und Notwendiges; denn die Wahrheit der Religion bestehe gerade darin, dass der Mensch sich in ihr zu seiüem eigenen allgemeinen Wesen in Beziehung setze. So mochte in der That, aus der Ferne gesehen, Eins sich einfach an's Andere anreihen, und so standen dann allerdings, wie es auch schon auf dem Titel des Buches lautete, „Philosophie und Christenthum in Streit und Frieden" zu einander*). Näher besehen, war aber die Stellung, welche ich zu meinen nächsten Vorgängern einnahm, diese: F e u e r b a c h — um mit dem letzten anzufangen und rückwärts zu gehen — hatte den geistreichen Ueberstiegenheiten und Spielereien gegenüber, die in der Hegel'schen Philosophie vielfach im Schwange gingen, und an denen er sich den Magen verdorben, das Prinzip dieser Philosophie mit derbem, fast cynischem Naturalismus des gesunden Menschenverstandes einfach auf den Kopf gestellt. So wurde ihm die Religion zu einer blossen Selbsttäuschung, mit welcher das menschliche Herz, das sich in seinen natürlichen Schranken nicht bescheiden möge, sich ein illusorisches Genüge damit thue, dass es sein eigenes Wesen, nur in's Unendliche erweitert, sich als Gott gegenüberstellt und nun von diesem, als einer andern, höhern

*) Auch A. S c h w e i z e r " auf seinem Schleiermacher'schen Standpunkte stand dem meinigen fern gegenüber, und ich selbst war ihm damals noch ein persönlich so gut wie unbekannter Mensch. Aber gerade darum hat in der Schrift von Finsler kaum etwas mich so gefreut wie das, dass sie mir die Erinnerung daran aufgefrischt hat, wie Schweizer gleichwohl damals schon meine wahre Intention mit weitem Blick und unbefangenem Sinn aus der ihm gegnerisch fremden Umgebung herausgefunden und wohlwollend zum Guten deutend anerkannt hat.

408

Erinnerungen.

Macht, erwartet und begehrt, was es gern haben möchte, aber in seinen natürlichen Schranken nicht haben kann. — Da nun die Religion unendlich Vieler ihrem Inhalt, wenn auch nie ihrem wahren Grund und Wesen nach, in der That in nicht viel Besserem besteht, auch wenn sie sich in erlernte höhere Redensarten kleidet, so imponirte Feuerbach allerdings Vielen mit dieser furchtlosen, nüchternen Enthüllung ihrer eigenen Illusionen. Mir hat er nie einen Augenblick imponirt; denn das, wogegen er einfach Recht hatte, die sinnlichen Vorstellungen, die der Mensch von sich aus auf Gott überträgt, hatte ich von vornherein vom Wesen der Religion selbst abgestreift. Der Mensch verhalte sich in der Religion zu „seinem eigenen Wesen." Nun ja, wenn man es recht verstehen will. Feuerbach freilich verstand naturalistisch darunter nur das sinnlich natürliche Wesen des einzelnen Ich, welches dieses selbst, nur verunendlicht, sich gegenüberstelle, als wäre es ein anderes Wesen ihm gegenüber: dies liefe allerdings auf eine einfache Illusion hinaus. Ich dagegen verstand darunter mit Hegel, idealistisch, das wahre „ a l l g e m e i n e " Wesen des Menschen, seinen W e s e n s g r u n d und zugleich den schöpferischen Grund der Natur, aus welcher der Geist als Zweckobjekt desselben hervorgeht. Das war eine Kluft, die bis auf den Grund hinab mich von Feuerbach trennte: dort Naturalismus, hier Idealismus. Mein Idealismus ruhte aber dabei nüchtern auf so breiter, natürlicher Erkenntniss-Basis, dass er keinen Augenblick in die Versuchung oder in die Gefahr gerieth, sich von Feuerbach den Schwerpunkt verrücken zu lassen. Allein eben damals, als ich meine „freie Theologie" schrieb, verkehrte ich viel mit einem geistreichen Anhänger von Feuerbach, den dieser, wie noch manch Anderen, zum Abfall von der Theologie gebracht hatte. Dies veranlasste mich, gerade so weit mit Feuerbach zu gehen, als irgend seine Ausdrucksweise noch eine Wahrheit in sich schloss, um dann um so schärfer den Punkt zu bezeichnen, von dem an der vernünftige Sinn derselben bei ihm in's Gegentheil umschlägt. So mochte es dann freilich kommen, dass flüchtige oder böswillige Leser mich mit Feuerbaeh zusammenwerfen konnten. An dergleichen Leser habe ich eben nie gedacht, wenn ich

Erinnerungen.

409

schrieb. Und in der That, wenn ich jenes „allgemeine Wesen," als Objekt der religiösen Beziehung, noch vollends ausdrücklich als das „ s c h ö p f e r i s c h e allgemeine Wesen" des Menschen bezeichnete, so meinte ich meinen diametralen Gegensatz zu Feuerbach bestimmt genug angegeben und als den Inhalt dieses Begriffes das angedeutet zu haben, was den Kern der christlichen Vorstellung von Gott als S c h ö p f e r und V a t e r bildet. — Dies also mein Verhältniss zu Feuerbach; ein diametraler Gegensatz, trotz des gemeinsamen Stichwortes. Aber freilich, was spielen Stichwörter nicht für eine Rolle! Das hatte ich in meiner Unbefangenheit zu wenig bedacht. Und wie stand ich nun zu S t r a u s s ? den doch gerade, wie er selbst bekennt, Feuerbach vollends zum Umschlagen gebracht hatte. Das hatte aber nur darum geschehen können, weil Strauss schon vorher eine Auffassung der Religion mitgebracht hatte, für die dann dje Werthung Feuerbach's nahe lag. Ihm war die Religion ganz in eine Thätigkeit der Vorstellnng aufgegangen: mir dagegen war sie die reale, praktische Beziehung des ganzen menschlichen Ich, im einheitlichen Zusammenwirken aller seiner Geistesvermögen, auf Gott als den geistigen Urgrund alles Seins. Die religiösen Vorstellungen in den nur unangemessen in ihnen ausgedrückten Gedanken aufzuheben, das betrachtete ich mit Strauss als Aufgabe der Philosophie: ihm aber bekam diese Aufgabe die Bedeutung, die Religion selbst in die Philosophie aufzulösen; mir dagegen umgekehrt, sie nach ihrer theoretischen Seite hin zu läutern und überhaupt zur Erkenntniss ihres Wahrheitsgrundes zu bringen. Was ihm A u f h e b u n g , war mir R e i n i g u n g der Religion. Ja, um ganz genau zu reden, nur Reinigung ihrer E r k e n n t n i s s ; Läuterung ihrer selbst dagegen nur mittelbarer Weise, sofern ja die Zurückfuhrung ihrer Vorstellungen auf deren geistigen Kern doch nothwendig auch zur Folge haben soll, sie selbst, die praktische Beziehung auf Gott, von den ihr von der sinnlichen Vorstellung her noch anhängenden Schlacken zu läutern, während freilich die schlimmsten Schlacken nicht von den sinnlichen Vorstellungen, sondern aus dem sinnlichen Herzen stammen. In der rückhaltslosen Kritik der religiösen Vorstellungen ging ich

410

Erinnerungen.

daher mit Strauss vollständig einig, auch auf den Punkten, wo ich Andere zurückweichen oder in ein vorsichtiges Schweigen sich hüllen sah. Ihm jedoch war eine Theologie, je entschiedener sie diese Aufgabe durchführte, eine der Kirche, als Pflegerin der Religion, gegenüber nur n e g a t i v e ; denn die Religion bestand ihm gerade in den von ihr aufgelösten Vorstellungen. Mir dagegen war die Durchführung dieser kritischen Aufgabe nur ein Theil, aber ein unerlässlicher, integrirender Theil einer f r e i e n Theologie, die allein diesen Namen im Vollsinn des Wortes ververdiene : einer Theologie, die einerseits für sich selbst als Wissenschaft frei, autonom, nur an den innern Gesetzen des Denkens und nicht an irgend welcher Satzung die oberste Norm für die Durcharbeitung ihres Gebietes anerkennt; die andrerseits aber dies ihr Gebiet in seiner Eigenart wahrt, den Inhalt der Religion in seiner Nichtabhängigkeit von irgend einer einzelnen Form des theoretischen Geistes, aber zugleich in seiner natürlichen Verbindung mit jeder, zur Geltung bringt, und ebendamit endlich drittens auch die Kirche, die praktische Anstalt zur Pflege der Religion, auf ihren eigenen Zweck verweist und sie so von jeder Gebundenheit an irgend etwas anderes, als was im Wesen dieses ihres alleinigen Zweckes liegt, befreit. Für Strauss v e r n e i n t die kritische Theologie den Gegenstand, dessen Pflege die alleinige Aufgabe der Kirche ist; für mich löst sie ihn von der Abhängigkeit von allem, was nicht zu seinem Wesen gehört, los. Das war schon damals mein Verhältniss zu Strauss und ist es noch heute. Trat später der Gegensatz schärfer hervor, so lag der Wandel nur auf seiner Seite. In dem, worin Strauss gross und durch seinen rückhaltslosen Wahrheitsmuth ein seltenes Vorbild war, habe ich mich so, wie ich ihm von Anfang an gefolgt war, nie von ihm getrennt und ihn nie verleugnet, auch als ich urtheilen musste, dass er durch seine letzte Wendung selbst in eine Verleugnung seines Besten gerathen sei. Was war endlich meine Stellung zu unserm gemeinsamen Ausgangspunkt in H e g e l ? Strauss hatte sich ausschliesslich an dessen verhängnissvoll einseitige und darum schiefe Definition der Religion in ihrem nächstliegenden Wortsinn gehalten: die Religion

Erinnerungen.

411

sei „das Bewusstsein des Absoluten in Form der Vorstellung." Von dieser aber hatte ich gerade die dem Ausdruck anhaftende Einseitigkeit abgestreift, in der Ueberzeugung allerdings, sie damit auf den wahren Sinn und Geist Hegel's zurückgeführt zu haben. Die Einseitigkeit war eine doppelte; die eine freilich nur die natürliche Folge der andern. Die Religion „ein B e w u s s t s e i n des Absoluten?" Ich will hier gar nicht von d e r Zweideutigkeit reden, ob dabei „das Absolute" als Subjekt oder als Objekt des Bewusstseins gemeint sei; ob es selbst dies Bewusstsein haben solle, oder ob darunter ein Bewusstsein des Menschen von ihm verstanden sei. Offenbar doch nur das Letztere; denn durch den Beisatz: „in Form der Vorstellung", werden Subjekt und Objekt des religiösen Bewusstseins als Mensch und Gott, als endlicher und absoluter Geist, einander gegenüberstellt. Ja, wenn es hiesse, oder auch bei Hegel gelegentlich heisst, „ S e l b s t bewusstsein des Absoluten", da wäre es allerdings von Hegel selbst auf die Hand gelegt, „das Absolute" zugleich als Subjekt und Objekt der Religion bezeichnet zu nehmen und, da doch der Mensch Subjekt dieses Bewusstseins ist, Gott und Mensch pantheistisch als Ein und dasselbe Subjekt dieses Bewusstseins zu fassen. Die Frage, wie weit dies wirklich der Sinn Hegel's sei, hängt mit der allgemeinen nach dem Pantheismus Hegel's überhaupt zusammen. Ich kann diese hier unerörtert lassen, da ich wenigstens, wenn auch ich selbst die Religion kurz als „praktisches Selbstbewusstsein des Absoluten" bezeichnet habe, dies ausdrücklich nie in pantheistischem Sinn wollte verstanden haben, sondern als ein Bewusstsein des Menschen vom Absoluten, das in einer praktischen, realen Wechselbeziehung zwischen beiden, in einem Innewerden Gottes im eigenen Selbst auf Grund einer Selbstoffenbarung Gottes in ihm bestehe. Freilich die meisten, denen der Pantheismus als ein Gespenst vor der Seele steht, glauben es exakt von dem Punkt an leibhaftig vor sich zu haben, wo ein streng geistiger Gottesbegriff, der jede mythologische Anschauung abschneidet, ihnen entgegentritt. Und um einen solchen Gottesbegriff gerade habe ich mich- allerdings von jeher bemüht. Doch, wie gesagt, lassen wir diese Zweideutigkeit in Hegel's Definition der Religion

412

Erinnerungen.

hier auf sich beruhen. Hingegen tritt uns eine andere darin entgegen: der Ausdruck „Bewusstsein" nämlich ist doppelsinnig. Man versteht darunter bald allgemein das ideelle Sein des Geistes überhaupt im Gegensatz zum dinglichen Dasein des Körperlichen; bald aber auch, und zwar gewöhnlich, speziell nur die eine Seite des geistigen Lebens, das gegenständliche Bewusstsein, das Vorstellen und Denken im Unterschied von Wille und Gefühl. Mit dem letztem Sinn von Bewusstsein wäre Hegel's Definition der Religion nun entschieden einseitig; denn sie setzte ihr Wesen in ein blosses Bewusstsein von Gott, also in eine blosse Vorstellungsthätigkeit. Zwar korrigirt Hegel diese Einseitigkeit selbst nachträglich durch seine Lehre vom Kult, in welcher aufs Tiefsinnigste die praktische -Seite der Religion zur Geltung bringt. Allein er verführt auf der andern Seite doch selbst wieder dazu, die Sache in jenem einseitigen Sinne zu nehmen: durch die Zweideutigkeit seiner ganzen Methode, den gesammten Wcltprozess, sinnlichen wie geistigen, als einen Denkprozess rein denkend reproduziren zu wollen. Damit lastet j a ohne Frage auf Hegel die Schuld einer üherstiegenen, j a geradezu Uberschnappten Ausdrucksweise des Grundgedankens, dass der ganze Weltprozess nur die Verwirklichung absoluter Vernunft sei. Immerhin aber ist das wenigstens ein einfaches Missverständniss, er wolle, was er als objektive Denkprozesse des Absoluten spekulativ deduzirt, damit zu blossen subjektiven Denkakten des Menschen im gewöhnlichen Sinne des Wortes machen. Und doch gerade hier, bei der genannten Definition, verfängt er sich wirklich in diese Einseitigkeit, wenn er die Religion als Bewusstsein des Absoluten „in Form der Vorstellung" bestimmt. Denn da kann man nun in der That an nichts Anderes denken. Und da steckt nun auch gleich eine zweite Einseitigkeit, oder vielmehr genauer, da Wahres und Falsches dabei durcheinander geht, eine weitere Zweideutigkeit. „Die Religion Bewusstsein des Absoluten in Form der Vors t e l l u n g ? " Wahr allerdings, — erklärt sich aber ganz natürlich aus dem wirklichen Wesen der Religion einerseits, als einer Beziehung des menschlichen Ich auf Gott als einer realen Macht sich g e g e n ü b e r , und andrerseits aus dem psychologischen Wesen

Erinnerungen.

413

der Vorstellung, als dem Bewusstsein von etwas dem Ich real Gegenüberstehendem —, ist dies: dass ftir die B e w u s s t s e i n s seite an der Religion die Form der V o r s t e l l u n g die entsprechende und darum allgemeine ist, die auch bei demjenigen, der das Denken als wissenschaftlichen Beruf treibt, bei jedem religiösen Vorgang in ihm sich ganz von selbst einstellt. Das ist das Wahre an der "Betonung der V o r s t e l l u n g für die R e l i g i o n , im Gegensatz zum reinen D e n k e n als der Aufgabe der P h i l o s o p h i e . Allein das Schiefe dabei liegt nun darin, dass das Wesen der Philosophie zwar gerade in nichts Anderem als im Denken besteht, aber durchaus nicht in gleicher Weise das Wesen der Religion im Vorstellen; dass der Schwerpunkt der Religion vielmehr in der ganzen persönlichen Beziehung des Ich zu Gott liegt, welche sich einheitlich mit seinem Denken, Fühlen und Wollen vollzieht, welche daher inhaltlich gar nicht auf der Vorstellungsform beruht und auch nicht an ihr hängt, sondern für welche diese sich nur psychologisch natürlich einstellt, wie überall, wo es sich für unser Bewusstsein direkt nur um den Inhalt und nicht um die Form handelt. Ob ich mir von Gott überhaupt nur eine Vorstellung bilde, oder ob ich mich dessen, was in dieser Vorstellung für mich enthalten ist, auch rein denkend bewusst mache, — mein thatsächliches Verhältniss zu ihm bleibt das gleiche; aber in dem Moment, wo ich mich — und das, das allein ist die Religion — wirklich in diese thatsächliche, praktische Beziehung zu Gott setze, ist mir von selbst die Vorstellung, diese abbrevirte Zusammenfassung meiner Gedanken zu einem einheitlichen Bilde, die natürliche Form, in welcher ich Gott vor meiner Seele habe. Wenn ich neben dieser unmittelbaren religiösen Beziehung zu Gott meine Vorstellung von ihm dann auch noch auf ihren Gedanken reduzire, so hat das für meine religiöse Beziehung nur die Folge, dass sich inhaltlich nichts Sinnliches darein mischen, sondern dass sie für mich wirklich bleiben soll, was sie in Wahrheit ist, Nährung meines innersten Geisteslebens aus dem ewigen Quell des Geistes. Das ist, von meiner „freien Theologie" an bis heute, meine Stellung zu Hegel und seiner Definition der Religion, die Strauss

414

Erinnerungen.

in ihrer ganzen Einseitigkeit ä la lettre genommen hatte. Ob diese Stellung im Kern als Uebereinstimmung oder als Gegensatz zu taxiren sei, darüber will ich Niemandem meine Ueberzeugung aufdrängen. Aber darauf wenigstens habe ich von jeher geglaubt Anspruch machen zu dürfen, dass man mich in meinem Verhältniss zu Hegel so nehme, wie ich selbst mich von je zu ihm gestellt habe, und dass man mich nicht einfach mit der Vorstellung zudecke, die man sich sonst woher von ihm mag gebildet haben. Mein Grundgegensatz gegen meine philosophischen Vorgänger, mit dem ich mich darum näher an Schleiermacher anschloss, war also, dass ich das Hauptgewicht darauf legte, das Wesen der Religion in seiner spezifischen Eigenthümlichkeit von jedem andern Geistesgebiete zu unterscheiden und in der Theologie alle wahren Eonsequenzen dieser Unterscheidung durchzuführen, nichtsdestoweniger aber der Theologie das volle Recht freier Wissenschaft auf diesem ihrem Gebiete zu wahren. Persönlich fühlte ich mich allerdings mehr angelegt zur wissenschaftlichen Thätigkeit des Theologen, als zur praktischen des .Geistlichen. Allein die Verhältnisse des Lebens führten mich dazu, meine theologischen Grundsätze von vornherein auch praktisch zu erproben durch meinen Eintritt in's P f a r r a m t , und zwar in einer ländlichen Gemeinde. Ich habe dies aber als grossen Gewinn auch für meine Theologie zu erfahren bekommen.

VI. Sieben Jahre, von 1843 bis 1850, war ich Pfarrer in Mönc h e n s t e i n , einer kleinen basellandschaftlichen Gemeinde im untern, zum grössern Theil katholischen Bezirk Birseck, eine Stunde von Basel. Es war dies die Zeit des Nachfrühlings und Vorsommers in meinem Leben,* wo nach den Knospen und Blüthen die Früchte sich ansetzen, die im Laufe des Sommers ausreifen sollen, wo aber etwa auch vorübergehend lioffnungszerstörende Nachtfröste oder Hagelschläge eintreten. Doch in den Rahmen dieser theologischen Erinnerungen gehört nur, was von meinem Landpfarrerleben zur Theologie in Beziehung steht.

Erinnerungen.

415

Die Gemeinde von ca. 900 Einwohnern bestand aus zwei ganz getrennten, fast gleich grossen Theilen, aus dem Dorf und aus der eine Viertelstunde nach Basel gelegenen grossen Fabrik, „die n e u e Welt." Und zwar gewährte mir die letztere bei leichterer Mühe grössere Befriedigung. Das Etablissement, Anfangs der zwanziger Jahre von einem grossen Basler Hause gegründet, befand sich in jeder Hinsicht in musterhafter Ordnung. Wäre es überall so bestellt, so würde die soziale Frage, wenigstens von den Fabrikarbeitern aus, kaum zu diesem beängstigenden Alp für die heutige Gesellschaft geworden sein. Die Arbeiter•bevölkerung war eine Kolonie vou Familien aus den Kantonen Zürich, Bern, Aargau und Solothurn, die zum grossen Theil seit der Gründung hier lebten. Neben dem Fabrikgebäude standen das grosse Arbeiterhaus, einige kleinere Wohnungen urfd die Schule. Die letztere, von einer Kleinkinderschule an, war vortrefflich gehalten und liess die Dorfschule in jeder Beziehung weit hinter sich zurück. Die humanen Fabrikherren erleichterten es den Arbeiterfamilien auf jede Weise, die Parzellen des umliegenden Gartenlandes eigenthümlich zu erwerben. Dadurch hatte sich ein Stamm sesshafter Bevölkerung gebildet, von der zu meiner Zeit eben die dritte Generation heranwuchs. Und wenn schon damals von Montag Morgen bis Samstag Abend die Arbeit ununterbrochen lief, und auch die Kinder vom zwölften Jahr an dabei mit in Anspruch genommen wurden, so war doch von einer Ausnützung der Arbeitskraft der Einzelnen keine Rede, und im Grossen und Ganzen stand es in sittlicher wie in ökonomischer Beziehung gut. Es waren freilich überhaupt" andere Zeiten als heute; allein vor allem waltete von oben der ächte humane Geist, der zu allen Zeiten für die Lösung der sozialen Fragen die Hauptsache ist und immer bleiben wird, der auch fehlende äussere Einrichtungen und Ordnungen ersetzen kann, dessen Fehlen dagegen durch keine Fabrikgesetze aufgewogen wird. Wie gesagt, für mich war die Fabrik der leichtere und unmittelbarer befriedigende Theil meiner Gemeinde, was sonst kaum der gewöhnliche Fall sein wird. Doch kam ich auch mit meiner Dorfbewohnerschaft gut aus;

416

Erinnerungen.

nur war das ein härteres, zäheres, knorrigeres Holz: ein Volksschlag, der mehr Sinn für Freiheit als für Ordnung hatte, wie denn überhaupt Ordnungssinn und Ordnungsliebe, auch im Aeussern, nicht gerade ein Grundzug der Einwohner von Baselland ist; das verrieth, damals wenigstens, schon das weniger schmucke und freundliche Aussehen der Dörfer, als man es bei gleicher Wohlhabenheit in andern Kantonen anzutreffen gewohnt ist. Ohnehin lebte die Landschaft damals noch etwas in den Flegeljahren der blutig errungenen Selbstständigkeit, und meine Gemeinde gerade war, nach dem übereinstimmenden Urtheil aller, welche die Verhältnisse von früher her kannten, mehr als andere durch die Revolution verwildert, besonders unter dem bösen Einfluss einiger Matadoren der Revolution, deren Stern allerdings damals bereits im Erbleichen oder schon ganz untergegangen war. Die Gemeinde stand in dem Ruf, früher sehr wohlhabend, aber auch häbig gewesen zu sein. Dieser Ruf musste schon alt sein, stand doch auf dem Titelblatt des Pfarrbuches von der Hand eines launigen Pfarrers aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts (vorsichtig mit griechischen Buchstaben) das Zeugniss über sie: „Ihr Sinn ist nur erpicht aufs Schaben und aufs Schinden." Nun aber war in mancher Familie eine bedauerliche Verlotterung eingerissen. Der Hauptreichthum der Gemeinde, der vortreffliche Wein, war auch ihr Hauptfeind — und zwar auch für die Frauen, und das nicht bloss mittelbar. Dies war einer der schlimmsten, hässlichsten Schäden. Immerhin war aber ein Stock still solider, tüchtiger Haushaltungen da, und gerade damals standen einige ehrenfeste Männer von verständigem, thatkräftigem Wesen an der Spitze, mit denen etwas ausgerichtet war, und auf die man sich bei aller Zurückhaltung, aus der sie, einem allgemeinen Charakterzug des Volkes gemäss, selten heraustraten, doch verlassen konnte. Andere freilich spielten durch eine wilde Leidenschaftlichkeit und oft unglaubliche Derbheit eine allzu einflussreiche Rolle im Leben der Gemeinde. Ein Pfarrer, der sich ein idyllisches Landvolk geträumt hätte, würde sich kläglich getäuscht gesehen haben. Sentimental, oder mit dem Amtsnimbus durfte man diesem Schlag von Leuten nicht kommen; einfach natürlich, gradaus, immer

417

Erinnerungen.

furchtlos und gelegentlich auch derb, — so kam man am besten mit ihnen aus, gewann ihr Zutrauen und so viel Einfluss, als sie überhaupt in ihrem Selbstständigkeitsgefühl vertrugen. Im Kirchlichen war die Gemeinde von meinem Vorgänger, einem gutherzigen, aber schwachen alten Rationalisten, weder verwöhnt, noch leider auch gewöhnt. Da hatte ich ein Brachfeld vor mir; nur bei einigen ältern Leuten waren noch Traditionen von früher her lebendig. Aber kirchlich frei war damals ein Pfarrer in Baselland, — sogar mehr, als in meiner „freien Theologie" stand! Wir hatten einfach so viel wie keine kirchliche Organisation, nur das ungeschriebene Gesetz der Sitte. Der Gemeinderath war alles in allem: auch Schulpflege, Armenpflege, Kirchenpflege — doch nein, Kirchenpflege war eigentlich der Pfarrer allein, selbstherrlich, so weit seine persönliche Autorität reichte. Besass einer nur diese, so hätte er, wenn sein Sinn darauf stand, in „Reformen" weit gehen können. Mein Sinn stand nun aber gerade nicht darauf. Es fehlte mir überhaupt die Initiative dafür; ich suchte meine Hauptaufgabe einfach darin, durch meine Amtstätigkeit in dem durch die kirchliche Sitte gegebenen Rahmen unmittelbar auf den religiösen Sinn zu wirken, diesen zu wecken, mit gediegener Speise zu nähren und so mittelbar dahin zu arbeiten, dass er auch im öffentlichen und privaten Leben der Gemeinde gesunde Früchte bringe. Es entsprach mir ganz, dass der Pfarrer in Baselland viel weniger, als z. B. im Kanton Zürich, mit Sitzungen und bureaukratischen Geschäften behelligt war, sondern fast ausschliesslich nur von den eigentlich geistlichen Funktionen, Predigt, Religionsunterricht, Seelsorge und Krankenbesuchen, in Anspruch genommen wurde. Im Predigen — ob vor meiner, oder vor einer ganz fremden Gemeinde, ob zu Land oder zu Stadt, ob vor Ungebildeten oder Gebildeten; denn diese Unterschiede gelten mir für die Predigt im Grund als sehr untergeordnet — ist es von je mein erstes Bestreben gewesen, orthodox zu sein, d. h., wohlverstanden, vor meinem eigenen theologischen Gewissen, über dem ich nie einen andern kirchlichen Richter anerkannte: ich wollte meinen Zuhörern stets nur rein und ganz den christlichen Wahrheitskern B i e d e r m a n n , Vortrüge und Aufsätze.

27

418

Erinnerungen.

des Themas aufschliessen und diesen ihren Seelen nahebringen. Auch alle theologische Erörterung grenzte ich ganz auf diesen religiösen Zweck ab; hingegen sogenannte theologische Standpunktspredigten zu halten, überhaupt Fragen von bloss theoretischem Interesse auf die Kanzel zu bringen, lag mir immer seitab. Zu verschiedener Zeit und an verschiedenen Orten haben Leute schon in meiner Predigtweise einen pietistischen Zug finden wollen. Nun, die hatten jedenfalls von Pietisten nur eine vage Vorstellung; allein etwas Richtiges spürten sie doch heraus, 60 gut reformerisch als positiv räsonnirenden Standpunktspredigten gegenüber. Zu meinen liebsten Funktionen gehörten immer die Leichenpredigten, und deren hatte ich viele zii halten; denn die Sitte verlangte für jedes getaufte Kind eine solche. Meine theologische Ueberzeugung brachte mich dabei nie in Verlegenheit; im.Gegentheil war jeder einzelne Fall mir eine Veranlassung, dieselbe in ihrer speziellen Anwendung fruchtbar zu bewähren. Gerade hier, wo sie sonst so wohlfeil sind, hütete ich mich am sorgfältigsten davor, blosse Phrasen zu machen. Freilich, wem gerade die Dinge des inwendigen Menschen gegenüber den sinnlichen Bildern der Vorstellung blosse Phrasen sind, der konnte leicht nichts anderes als Phrasen bei mir finden. Wenn ich aber mit all dem doch ein sonderlicher Prediger nie gewesen bin, so hat jedenfalls die Schuld nicht an meiner Theologie und an meiner Theorie von der Bestimmung der Predigt gelegen. Wir Pfarrer hatten allein allen Religionsunterricht in der Schule zu ertheilen. Das wäre natürlich überall das einfachste und natürlichste Verhältniss; und zwar gerade da, wo in der Verfassung die Trennung des Staatlichen und des Kirchlichen proklamirt ist. Allein wo- die Verhältnisse der Kirchgemeinden so sind, wie z. B. im Kanton Zürich, da wäre dies einfach physisch nicht möglich; in Baselland dagegen hatte es keine Schwierigkeit, und nahm auch in Gemeinden mit mehreren Schulen den Pfarrer nicht zu viel in Anspruch. Im Unterricht in Schule und Kirche waren wir natürlich absolut frei; da bestand keinerlei Vorschrift über Stoff und Lehrmittel. Jeder konnte ganz nach Gutdünken verfahren: für ihn gewiss das Angenehmste und, wenn

419

Erinnerungen.

er überhaupt pädagogischen Verstand hatte, auch das Erspriesslichste. Ob aber auch immer und überall für die anvertraute Jugend? Diese konnte, auch Pflichttreue bei sämmtlichen Pfarrern vorausgesetzt, doch zu wunderlichen Versuchen und Liebhabereien herhalten müssen. Hier war der Freiheit, d. h. des Mangels an kirchlicher Ordnung, entschieden zu viel. Ich glaube, dass kaum in Einem Punkte die Geistlichen aller Richtungen so übereinstimmen werden, wie darin, dass ihnen der Konfirmandenunterricht die liebste und wichtigste Funktion ihres ganzen Pfarramtes ist. Mir, bei meinem Zug zum Lehrhaften, natürlich doppelt. Den Leitfaden, den ich für diesen Unterricht entworfen hatte und Jahr für Jahr zu verbessern strebte, arbeitete schliesslich Fries, dem ich denselben zur freien Verfügung überlassen hatte, zu seinem Leitfaden „der christliche Glaube für Konfirmanden" aus, der zuerst in unserer „Kirche der Gegenwart" 1850 erschienen ist. Der meine war viel kürzer und auch in der Anordnung viel einfacher gewesen. — Ganz besonders lieb waren mir von je die Kipderlehren, wo ich mich ganz frei fast ausschliesslich im geschichtlichen Stoff der Bibel bewegte. Wenn ich später in Zürich ab und zu einem Freund auf dem Lande im Sonntagsdienst aushalf, da fühlte ich mich doch immer mit dem Katechismus wie in spanische Stiefel eingeschnürt. Was mir die Kinderlehre, in der ich mich auch stets eines ganz ordentlichen Besuches von Seite der erwachsenen weiblichen Welt zu erfreuen hatte, besonders lieb uqd traulich machte, das war, dass wir uns hier nach ziemlich allgemein, damals zum Theil selbst in der Stadt üblicher Sitte ganz einfach des Dialektes in Rede und Gegenrede bedienten. Es gehört zwar zur modernen Schulorthodoxie, den Dialekt ganz aus der Schule zu verbannen; ich habe aber auch hierüber zum Theil ketzerische Ansichten. Wo sich's rein nur um den Stoff handelt und vor allem' darum, diesen den Herzen der Kinder nahe zu bringen, da spricht eben die unmittelbare Muttersprache, der Dialekt, näher zum Herzen. Und zudem kann erst noch, wenn nicht immer in gleicher Weise Schriftdeutsch geradebrecht wird, der Unterschied gerade dazu dienen, Ohr und Sinn für das Schriftdeutsche zu schärfen. Es ist mir immer noch 27*

420

Erinnerungen.

eine liebe Erinnerung, wie ich nach meiner Abschiedspredigt im letzten Morgengottesdienst, Nachmittags noch in der von Kindern und Erwachsenen gefüllten Kirche meine letzten Abschiedsworte anmittelbar vom Herzen weg im Dialekt an meine Gemeinde richten konnte. Baselland war, wenn ich nicht irre, damals noch der einzige Kanton, wo die Pfarrer einer periodischen Wiederwahl auf fünf Jahre unterlagen. Seither ist dies allgemeine Schablone in den neuern „liberalen" Kirchenverfassungen geworden. Wenn ich sie gleichwohl für verkehrt halte, so geschieht es, meiner Erfahrung gemäss, nicht etwa aus dem Grunde, den man oft gegen die Einführung der periodischen Wahl vorgebracht hat, dass der Pfarrer dadurch für die freie Ausübung seiner Pflichten zu sehr in Abhängigkeit gerathe. Ich wenigstens darf von mir und kann von all meinen damaligen Kollegen bezeugen, dass der Gedanke an die Wiederwahl auf die Führung unsers Amtes und auf unsere freie Meinungsäusserung nie einen hemmenden Einfluss ausgeübt hat. Ich muss aber auch dem Volk in Baselland das Zeugniss geben, dass es die Freiheit, die es für sich eifersüchtig wahrte, auch an Andern respektirte. Als im Jahr 1832 bei der erst faktischen, noch nicht rechtlichen Trennung von der Stadt sämmtliche Geistliche auf der Landschaft vertrieben worden waren, weil sie bis auf Einen, nach Weisung ihrer • bisherigen Obrigkeit in Basel, den Eid auf die neue Verfassung verweigert hatten, da kamen natürlich gar verschiedene Elemente an die vakanten Stellen, und diesen gegenüber hatte das neue Pfarrwahlgesetz die wohlthätige Wirkung, allmählig eine Sichtung herbeizuführen, die sich nun nach einem Dezennium so ziemlich vollzogen hatte. Während meiner Zeit kam ein einziger Fall entschieden unverdienter (wenn auch wegen übereifriger Taktlosigkeit nicht ganz unverschuldeter) Nichtwiederwahl vor. Und doch fiel in jene Periode die politisch kritische Zeit der Freischaarenzüge, an denen die Landschäftler bekanntlich sich in erster Linie mit Eifer betheiligten. Wir Geistlichen, fast einstimmig, hielten unser verwerfendes Urtheil über diese Politik der Gewaltthat nicht zurück. Für einige nun kam gerade damals der Zeitpunkt der Wieder-

Erinnerungen.

421

wähl; allein keinen liess es seine Gemeinde entgelten. Ich selbst stellte meine Gemeinde in dieser Hinsicht auf die schärfste Probe, was sie an freimttthigem politischem Urtheil ertragen konnte, und zwar gerade während der Zeit, wo von den 19 Mann, die aus der kleinen Gemeinde am zweiten Freischaarenzuge theilgenommen hatten, nur 5, zum Theil nach abenteuerlichen Fährlichkeiten, heimgekehrt waren; 2 waren todt und die übrigen 12 sassen gefangen in der Jesuitenkirche zu Luzern. Ich half das Mögliche thun, ihnen ihr Loos zu erleichtern; aber mein Verwerfungsurtheil Uber die ganze Geschichte hielt ich auch auf der Kanzel nicht zurttck. Es fiel darum doch Niemandem ein, mich als Jesuitenfreund zu verdächtigen. Als die Gefangenen endlich heimgekehrt waren, sagte mir einer von ihnen, der bald nachher Gemeindepräsident wurde, als er mir seine Erlebnisse erzählte: ich solle ihm nicht übel nehmen, wenn er nun eine Zeitlang nicht in die Kirche komme; er sei jetzt lang genug unfreiwillig in der Kirche gewesen. Ich bemerkte ihm freilich, die Sache liesse sich auch von einer andern Seite ansehen. Kurz, in der Zeit jener Wirren in der eidgenössischen Politik wirkte das Pfarrwahlgesetz nicht schädlich. Anders freilich drohte es zu werden, als dann später der Kanton selbst in den Gegensatz der Anti- und Revi- gespalten war. Da maassen sich eben die Parteien in den Gemeinden bei jedem Anlass, es mochte sich handeln um was es wollte. Fiel eine Pfarrwahl in diese Zeit, so war der Pfarrer das reine Objekt des Parteistreites. Es kam da der Fall vor, dass ein Pfarrer, der immer im vollsten Frieden mit seiner Gemeinde gelebt hatte, mit knapper Noth wiedergewählt wurde — und 14 Tage nachher feierte die ganze Gemeinde einmüthig sein 25jähriges Jubiläum! Ganz unschuldig und gefahrlos sind also auch in dieser Hinsicht die periodischen Pfarrwahlen doch nicht. Für mich jedoch ist nie dies der Grund gewesen, sie für verwerflich zu erklären; mir sind sie eine prinzipielle Verkehrheit. Gewiss ist der Pfarrer um der Gemeinde willen, nicht die Gemeinde um des Pfarrers willen da, und das Pfarramt soll nie zur Sinekure werden. Darum soll das Yerhältniss ein gegenseitig lösbares sein. Dem entspricht aber einzig und allein die Anstellung ohne Termin, mit Ab-

422

Erinnerungen.

berufungsrecht der Gemeinde, wie dies auch in den naturwüchsigen demokratischen Kantonen von j e Uebung war. Nur dass schlitzende Bestimmungen gegen Ueberrumpelung einer Gemeinde durch momentane Einflüsse in dem Grade nöthig erscheinen können, als nicht die althergebrachte Sitte hinlänglichen Schutz gegen muthwilligen MiBsbrauch bietet. Die periodische Wahl dagegen ist nichts als eine ganz gedankenleere, urtheilslose Uebertragung von Bestimmungen, die bei administrativen Gemeindeämtern ganz naturgemäss sind, auf das Pfarramt in der Kirche, dessen innerstem Wesen sie widersprechen. Es ist dies freilich nur ein Stück von der Gedankenleerheit überhaupt, Schablonen von der politischen Organisation kurzweg auf die kirchliche überzutragen. Und das nennt sich überall — denn an keinem Ort will man weniger liberal sein, als am andern — „liberale" Kirchenverfassung! während die allererste Bedingung für alles, was mit Recht frei heissen soll, doch die ist, dass es sein Gesetz von den Bedingungen, die in seinem eigenen Wesen liegen, erhalte, und nicht nach einer fremden Schablone zugeschnitten bekomme. Erst der sogenannten demokratischen Aera des Kantons Zürich war es aber vorbehalten, das Tüpfchen des Absurden auf das i jener gedankenlosen Schablonenreiterei zu setzen, indem sie in der Staateverfassung jedes künftige Organisationsgesetz der reformirten „Landeskirche" zum Voraus dadurch verpfuschte, dass sie für die Geistlichen nicht wenigstens eine individuelle, nein, eine für alle gleichzeitige Erneuerungswahl, wie für die politischen Bcamtungen, fixirt hat. Doch ich werde vielleicht später noch Veranlassung haben, auf dieses Kapitel zurückzukommen. Ein freies Wort durfte man sich in Baselland, wie gesagt, schon erlauben, wenn man nur den Muth hatte, es zu vertreten. Es wurden mir von dem paritätischen Bezirksgericht Arlesheim öfters Eidesunterweisungen überbunden. Ich kam dadurch bald zu der Einsicht, dass da eine ganz unverantwortlich leichtfertige Praxis im Zuschieben von Reinigungseiden eingerissen war. Selbst in Bagatellsachen schien es den Richtern das Bequemste, eine Untersuchung durch Auferlegung eines Eides kurz zu. beendigen, wobei man nur etwa die Vorsicht beobachtete, den Eid derjenigen

Erinnerungen.

423

Partei zuzuschreiben, die ihn aller Wahrscheinlichkeit nach eher mit Wahrheit leisten konnte. Nachdem mir ein paar starke Beispiele vorgekommen waren, wurde es mir, als ich wieder in einem besonders leichtfertigen Fall eine Eidesunterweisung vornehmen sollte, zu arg. Ich schrieb der Behörde zurück, ich werde es nicht thun, da ich finde, viel mehr hätte es das Gericht nöthig, über die Bedeutung des Eides belehrt zu werden. Ich war auf die Konsequenzen gefasst, aber auch entschlossen die Sache nötigenfalls weiter zu führen. Allein die Behörde steckte den Brief stillschweigend ein. Das Mitglied derselben aus meiner Gemeinde war in der Verurtheilung der eingerissenen leichtfertigen Praxis mit mir einverstanden; die Andern mochte das Gewissen schlagen. Von nun an blieb ich mit derartigen Eidesunterweisungen unbehelligt.

vn. Ich würde eine meiner freundlichsten Erinnerungen aus meinem Pfarramt übergehen, wenn ich nicht auch noch unserer Pastoralgesellschaft gedenken wollte. Diese bestand, ohne spezielle Aufnahme und ohne Zwang, aus sämmtlichen Geistlichen der Landschaft. Obgleich sie eigentlich keinerlei offiziellen Charakter trug, diente sie doch der staatlichen Kirchendirektion als ihr Organ. Sie versammelte sich jährlich wenigstens dreimal, an den Nachtagen der grossen Feste Ostern, Pfingsten und Bettag, in dem ziemlich in der Mitte des Kantons gelegenen Bade Bubendorf, zur Behandlung wissenschaftlicher und praktischer Fragen und zur Pflege der kollegialen Gemeinschaft. Einmal im Jahre vereinte sogar eine ökonomische Angelegenheit auch die noch lebenden ehemaligen Pfarrer der Landschaft mit uns, die, seiner Zeit gewaltsam vertrieben, nun friedlich mit ihren Nachfolgern zusammensassen. Alle feindseligen Erinnerungen, wo etwa früher solche vorhanden gewesen, waren versöhnt and getilgt. Ueberhaupt war der Riss der Dreissiger Jahre zwischen Baselstadt und Land auf kirchlichem Gebiete damals wieder in seiner vollen natürlichen Heilung begriffen. Vom Hauptort Liestal aufwärts

424

Erinnerungen.

waren schon zu meiner Zeit fast wieder lauter Basler Pfarrer; von Liestal abwärts, Basel zu, dagegen kein einziger. Die positive Richtung, zum Theil von spezifisch pietistischem, ja selbst herrnhutischem Charakter, herrschte entschieden vor, daneben waren noch einige Rationalisten älteren Schlages da und endlich wir paar Spekulative. Und doch herrschte bei aller Offenheit und Entschiedenheit der theologischen Gegensätze durchgängig ein wahrhaft kollegialischer, ohne Phrase amtsbrüderlicher Geist unter uns, wie ich ihn später im Kanton Zürich lange Jahre sehr vermisst habe. Wir standen alle ganz frei, amtlich durchaus selbstständig einander gegenüber; schon darum fehlte von vornherein aller hierarchische haut-goût. Wenn wir auch theologisch weit — so weit, als es nur irgend heut zu Tage unter Geistlichen möglich ist — auseinander gingen und bei jedem Anlass offen und ehrlich stritten, so fühlten, wussten und anerkannten wir uns doch als nicht bloss durch das äussere — ja sehr lose —, sondern auch durch das innere Band unserer Kirche, durch das Band ihres alleinigen Zweckes, für das Reich Gottes unter unserm Volke zu wirken, zusammengehalten und dadurch zu der für die Kirche allein nöthigen, ja, ernstlich genommen, allein möglichen Einheit des Geistes und Glaubens verbunden, sobald man nur Glauben und Einheit des Glaubens etwas tiefer suchen will als in der Erkenntniss- und Bekenntnissform. Einem liberalen Theologen — wenn er nicht so heissen soll wie lucus a non lucendo — muthe ich diese Weitsichtigkeit und darum von selbst auch Weitherzigkeit des theologischen Verstandes von vornherein zu. Allein damals besassen sie auch die Positivsten unter uns, und ich bilde mir wahrlich nicht ein, dass wir ihnen dies bloss als persönlich freundschaftliche Toleranz abgenöthigt hätten. Heute aber scheint in Basel auf jener Seite der theologische Verstand und die in ihm wurzelnde Toleranz, die allein etwas werth ist und überhaupt diesen Namen verdient, traurig zusammengeschrumpft zu sein. Oder verdienen die „reformerischen" Geistlichen in Basel in der That keine bessere Taxation, als dass auch diejenigen unter ihren Kollegen, die für ihre Person schon die weitsichtigere theologische Bildung hätten, es doch für nicht sach- und zeitgemäss erachten

Erinnerungen.

425

sollten, dem jetzt in Basel gäng und gäbe gewordenen bornirten Laienurtheil irgendwie korrigirend entgegenzutreten: „unsere Landeskirche ist nun einmal zu einem ordinären (!) Staatsinstitut heruntergesunken, das farblos und matt noch die gute Sitte und den Anstand wahren und pflanzen will, im Uebrigen aber allen und jedem Freiheit lässt, zu predigen, was er will und wie er will"*). Ich weiss ja wohl, was in Basel das unselige Parteiwesen, die Verquickung des Politischen mit dem Kirchlichen, nur allzunatürlich eins um's andere nach sich gezogen hat, woran keine der kirchlichen Parteien die ganze, aber jede einen Theil der Schuld trägt. Allein das muss ich unumwunden sagen: gesunken ist gegenüber den früheren Zeiten eines De Wette und Hagenbach das allgemeine Niveau des theologischen Verstandes in Basel, wenn die kollegiale Verträglichkeit der Geistlichen der Basler Landeskirche wirklich auf das durch und durch hohle „friedlichschiedlich" zusammengeschrumpft sein sollte. Freilich zwischen den Geistlichen allein stünde es — im Ganzen — wohl schon besser, — aber ihr beidseitiger Anhang! Nur dass leider dieser ihnen nicht bloss anhängt, sondern sie gelegentlich auch drängt. Aber eben sich drängen lassen! Es freut mich, dass nach allem, was ich vernehme, in Baselland, Dank dem Fehlen einer kirchlichen Parteiorganisation, noch mehr von jenem alten Geiste lebt, dem ich so viele ungetrübt schöne Erinnerungen aus meinem Pfarrleben verdanke. So freudig ich nun aber auch in meinem kirchlichen Amte wirkte, — mein unmittelbarstes Interesse gehörte doch der theologischen Wissenschaft; in ihr fühlte ich meinen eigentlichen Beruf. Müsse, sie zu pflegen, gewährte mir meine kleine Gemeinde; Anregung und Hülfsmittel bot mir die Nähe von Basel in erwünschtester Weise, und zur Bethätigung nach aussen war ich kontinuirlich engagirt, seit ich, unmittelbar nach der Predigerversammlung in Zürich 1845 und der dort geführten Debatte über das apostolische Glaubensbekenntniss, mit F r i e s „die Kirche der Gegenwart" gegründet hatte. Ich will die Kämpfe, die *) Vgl. „Allgemeine Schweizerzeitung" 1881, No. 144.

426

Erinnerungen.

wir in dieser unserer ersten Zeitschrift (von 1845 bis 1850 in monatlichen Heften erschienen) geführt haben, um unserer Richtung in der vaterländischen Kirche Bahn zu brechen, hier nicht wiederholen, nachdem die Schrift von Finsler ihr Andenken wieder aufgefrischt hat. Man charakterisirt „die Kirche der Gegenwart" im Vergleich mit den später sie ablösenden „Zeitstimmen" unter Lang's Redaktion gewöhnlich dahin, sie habe sich vorerst nur wissenschaftlich an den engern Kreis der" theologisch Gebildeten gewendet, während die letztern dann zur praktischen Aufgabe fortgeschritten seien, durch Popularisirung der Lehren unserer Wissenschaft die Gemeinde der Gebildeten überhaupt für die liberale Richtung in der Kirche zu gewinnen. Das ist im Ganzen schon richtig; es machte sich aber ohne Plan und Absicht von selbst so. Schon persönlich wären weder Fries noch ich für die Führung eines populären Blattes die geeigneten Leute gewesen, wie später vor Allen Lang und Hirzel. Ueberhaupt aber hatte namentlich ich kein anderes Ziel im Auge, als unserer Richtung durch wissenschaftliche Diskussion mit Freunden und Gegnern, durch Berichtigung schiefer und Widerlegung falscher Urtheile über dieselbe, durch Zurückweisung von Verdrehung oder Verdächtigung ihrer Konsequenzen, Raum und Anerkennung der Mitberechtigung in der Kirche zu verschaffen. Die Anerkennung der theologischen Freiheit in der Kirche verstand ich aber nicht bloss in dem Sinn, dass von Seite der Kirche die persönliche theologische Ueberzeugung ihrer Geistlichen unbevormundet geduldet werden sollte; sondern selbstverständlich weiter auch in der Meinung, dass der Einzelne dann auch in seinem kirchlichen Wirken die volle Freiheit habe, innerhalb des gemeinsamen äussern Rahmens der kirchlichen Organisation nach bestem Wissen und Gewissen seine theologische Ueberzeugung auch praktisch zu verwerthen. Unter zwei Bedingungen können die Kirche und die theologische Freiheit in ihr gar wohl mit einander bestehen und beide miteinander gedeihen: 1) wenn die Kirche als Gemeinschaft stets das Recht hat, sich den äussern Rahmen ihres Organismus selbst zu geben, und 2) wenn ihre Geistlichen nach freien, von der Kirche nicht bevormundeten Studien sich erst über ihre theo-

Erinnerungen.

427

logische Reife auszuweisen und daraufhin beim Eintritt in den Dienst der Kirche nicht ein materielles Glaubensbekenntniss, wohl aber das Gelübde der Pflichttreue gegen die Kirche abzulegen haben. Für diese Freiheit, die allen Richtungen zu Gute kommen soll, welche ihre Existenz wissenschaftlich behaupten können, durch Vertretung des Rechtes der unsrigen einzustehen, war unser alleinige praktische Zweck. Dieser aber gab uns schon vollauf Arbeit im Kampf mit den wissenschaftlichen Vertretern der „positiven" Theologie, zunächst in Zürich und bald auch in Bern. Dort stellten Lange und Ebrard der „Kirche der Gegenwart" sofort eine „Zukunft der Kirche" gegenüber, in der sie mit diesen paar jungen Hegelianern kurzen Prozess zu machen gedachten. Ich an meinem Orte vertrat unsere Sache mit vollem Sclbstbewusstsein ihres Rechtes und darum mit fröhlichem Jugendmuth: in ruhiger positiver Darlegung, in unermüdlicher Aufdeckung der Missverständnisse und Entstellungen, aber auch in scharfer Abfertigung hochmüthiger Verhöhnung. Einem Gegner wie Ebrard gegenüber brauchte mich dabei keine Scheu zurückzuhalten, ich könnte vielleicht doch der sancta simplicitas eines wirklich ängstlich frommen Gemüthes, wenn auch sachlich im Recht, doch persönlich Unrecht thun. Hier stand ich einem übermüthigen rabulistischen Klopffechter gegenüber, gegen den nur die schneidigste Waffe am Platze war. Nicht minder scharf war mein erster Zusammenstoss mit Romang, damals Pfarrer im Kanton Bern; allein dieser Streit endete mit einem fruchtbaren und versöhnlichen Resultate. Ich hatte vor Romang's philosophischem Scharfsinn und dem Ernst seiner religiösen Gesinnung, seit ich von ihm wusste, allen Respekt gehabt. Was für bittere Lebenserfahrungen sein sensibles Gemüth krankhaft verstimmt und verdüstert hatten, wusste ich nicht, und so fehlte mir der Schlüssel des Verständnisses, wie schroff, ja verbissen feindselig und kirchlich und konservativ dieser philosophisch doch so rationell denkende Mann in seinen „Junghegelßchen Setzlingen in der Schweiz" gegen uns auftreten konnte. In einem ersten „Sendschreiben" (K. d. G. 1846) antwortete ich mit einer ruhig sachlichen Erörterung. Als aber sein Angriff in eine

428

Erinnerungen.

förmliche Denunziation ausmündete, brach ich mit einem allerdings derben zweiten „Sendschreiben" kurz ab. Die Streitigkeiten in Bern bei Anlass der Berufung Zeller's und die Predigerversammlung in Bern 1847 riefen einen neuen Zusammenstoss. 1848 erschien Romang's Schrift: „der neueste Pantheismus, oder die junghegelsche Weltanschauung nach ihren theoretischen Grundlagen und praktischen Konsequenzen. Allen Denkenden gewidmet," — worin er, mich zwar als „ehrenwerthen Feind" ritterlich begrttssend, darzuthun unternahm, dass „diese junghegelsche Lehre und Geistesrichtung, eine Verirrung, ein Auswuchs, ein Verderbniss der neuesten Bildung, wenn auch nicht bei jedem Einzelnen unter den Höhergebildeten, doch im Ganzen die tiefsten Grundlagen aller lebendigen Religiosität und Sittlichkeit gefährde." Diese Schrift gab mir willkommenen Anlass, meine ganze philosophische Weltanschauung im Zusammenhang darzustellen und gegen alle die Anklagen, die sich seit einigen Jahren gegen sie angesammelt hatten, vor allem gegen diese letzte, wissenschaftlich bedeutendste, gründlich zu vertheidigen. So entstand meine Streitschrift, die sich schon im Titel als Antwort auf die Romang's ankündigte: „Unsere j u n g h e g e l s c h e Weltanschauung oder der sogenannte neueste Pantheismus. Allen Denkenden J. P. Romang's gewidmet." Während des Druckes der Schrift traf ich auf einer Ferienreise im Sommer 1848 ganz unvermuthet in Interlaken mit Romang zusammen und brachte mit ihm in Gesellschaft des Hofpredigers Grüneisen von Stuttgart einen schönen Abend zu. Unsern Streit Hessen wir bei Seite liegen; nur kündigte ich ihm an, meine Gegenschrift befinde sich unter der Presse, und dass ich mich darin nach Kräften gegen ihn wehre, werde er begreifen. Als die Schrift erschienen war, schickte ich ihm ein Exemplar, erhielt aber dasselbe sofort wieder zurück, mit der Bemerkung, seine Ehre verbiete ihm, eine Schrift, in welcher er so angegriffen werde, von ihrem Verfasser als Geschenk anzunehmen. Ich muss gestehen, das that mir weh, und ihn verletzt zu haben, leid; denn das hatte ich am wenigsten gewollt, und in meiner Unbefangenheit gar nicht daran gedacht, dass er es nach nnserer Begegnung so aufnehmen würde. Ich schwieg, begrub

Erinnerungen.

429

die Sache in mir und sagte auch keinem Menschen je ein Wort davon. Da, nach 16 Jahren, veranlassten mich zwei Artikel im „Kirchenblatt", zwei Stimmen aus der Ost-.und der Westschweiz, ihren ungenannten aber von mir gleich erkannten Verfassern brieflich zu antworten. Demjenigen aus der Ostschweiz, weil ich ihn erst an der Predigervers^mmlung zu Frauenfeld 1865 persönlich zu treffen gehofft hatte, dann aber durch Krankheit daran verhindert worden war. Ich erhielt von dem jüngern Mann eine etwas vornehm kühl ablehnende Antwort, auf die hin ich. es unterliess, eine weitere Verständigung mit ihm zu suchen, zu welcher ich ihm in guten Treuen die Hand geboten hatte. Gegen Romang dagegen konnte ich meinen Dank aussprechen für die Art, wie er nach so langer Zeit wieder eine Diskussion mit mir angebahnt habe. Zugleich äusserte ich den Wunsch, ihn, wenn es ihm nicht unangenehm sei, demnächst auf meiner Heise nach dem Bade Gurnigel auf seinem Ruhesitz zu Kiesen, bei Thun, zu besuchen. Umgehend traf von ihm in herzlichstem Tone die Einladung ein, doch ja zu kommen. Es drücke ihn ohnehin schon lange im Stillen eine Schuld gegen mich: er habe sich nachträglich oft Vorwürfe gemacht, dass er damals in der ersten Empfindlichkeit das Geschenk meiner Schrift so kurz zurückgewiesen habe. Nun kam ich mit Freuden und brachte einen gangen Tag bei ihm. zu. Er lebte, von der Welt ganz zurückgezogen, mit Frau und Tochter in einer äusserst bescheidenen ländlichen Wohnung. Seine hagere Eremitengestalt, seine scharfen, an sich edeln, aber durch starkes Schielen entstellten Züge konnten auf den ersten Anblick einen fast abschreckenden Eindruck machen. Um so wohlthuender überraschend kontrastirte damit die Herzlichkeit und Offenheit, mit der er mich wie einen alten Freund aufnahm, und die springende Lebhaftigkeit seiner Unterhaltung. Ich erhielt von ihm den Eindruck eines ungewöhnlich feinen, scharfen Geistes, vor allem einer tief ethischen Natur, die aber durch widerwärtige Lebensschicksale gewaltsam in sich zurückgedrängt, ebenso gewaltsam bald in überreizter Empfindlichkeit, bald in kaustischem Sarkasmus reagiren konnte. Vielleicht die bedeutendste philosophische Kraft, die Bern je hervorgebracht,

430

Erinnerungen.

hatte politische Gewalttätigkeit auf einer Strafpfarrei versauern lassen! Von da an bis zu seinem Tode standen wir in freundschaftlichem Briefwechsel, und meine Dogmatik haben vielleicht Wenige so eingehend studirt wie Romang. Doch damit habe ich in weit spätere Zeiten übergegriffen. Sich immer und immer wieder gegen Missverständnissc wehren zu müssen, wird bald eine langweilige Arbeit und mag einen schon ärgerlich und ungeduldig machen, zumal man dabei leicht in den Schein des Lächerlichen gerathen kann, als ob man nur darum sich stets über Missverständniss zu beklagen habe, weil man selber unklar sei und sich selbst nicht recht verstehe. Gleichwohl habe ich schliesslich dergleichen unaufhörlichen Angriffen dankbar sein müssen: sie haben mich genöthigt, meinen theologischen Standpunkt mit allen seinen Konsequenzen positiv und negativ immer sorgfältiger durchzubilden und nach allen Seiten hin gegen begründete Einwürfe sicher zu stellen. Dies geschah zunächst in der eben berührten Streitschrift gegen Romang, mit der zugleich meine publizistische Thätigkeit in-der „Kirche der Gegenwart" von meinem stillen ländlichen Pfarrsitz aus ihren Abschluss erreichte. Denn bald nachher ging mein höchster Lebenswunsch in Erfüllung, indem der Beruf eines akademischen Lehrers in der engeren Heimath sich mir erschloss: im Herbst 1850 kam ich als ausserordentlicher Professor der Theologie und als Religionslehrer am obern Gymnasium nach Zürich. Hier schliesse ich füglich für einmal den Rahmen dieser theologischen Erinnerungen ab; denn alles Weitere würde bereits in kontinuirlichem Zusammenhang in die lebendige Gegenwart hinüberreichen. Nur eine Bemerkung noch zum Schluss über meine Stellung zu- der gegenwärtigen kirchlichen Parteiung, zu welcher die Finsler'sche Schrift, die ja überhaupt zu diesen Erinnerungen den Anstoss gegeben hat, mich veranlasst. Gleich bei meiner Ankunft in Zürich habe ich durch den Streit über meine Aufnahme in die Zürcher Synode zu erfahren bekommen, dass ich auf einen neuen Boden verpflanzt war, auf einen Boden des praktischen Kampfes

Erinnerungen.

431

schroffer politisch-kirchlicher Gegensätze und Parteiungen. War die in ihrem Ursprung kirchliche Reaktion von 1839 gleich auch als politische aufgetreten, so vollzog sich naturnothwendig der politische Rückschlag in den Vierziger Jahren zugleich auch als Gegenbewegung auf dem kirchlichen Gebiet, und meine Berufung nach Zürich war mit eine Folge derselben gewesen. Neutral kam ich daher nicht auf den Boden dieser Gegensätze, weder theoretisch noch praktisch; aber frei habe ich mich von je auf demselben zu erhalten bestrebt, nicht aus irgend welcher Ueberlegung und Politik, sondern aus meiner innersten Natur heraus, nicht menschliche Autorität und menschliche Rücksicht, sondern nur die erkannte Wahrheit als oberstes Gesetz und als Richtschnur für mich anzuerkennen. Ich habe meine Grundsätze im Politischen und im Kirchlichen, wie sie sich mir aus meiner Ueberzeugung vom Wesen des Staates und der Kirche ergeben, und nach diesen Grundsätzen allein bemesse ich, auf welche Seite ich mich in jeder praktischen Frage zu stellen habe. Darin, glaube ich, bin ich zuverlässig. Als Parteimann dagegen wäre ich nicht zuverlässig; denn ich kann überhaupt keiner sein; ich könnte es nur sein, wenn ich meinem Innersten untreu sein wollte, aber das kann und will ich am wenigsten. Ich habe nun einmal eine gegen Phrasen ganz spezifisch empfindliche Natur. In allem Parteileben aber spielen Phrasen als Stich- und Schlagwörter ganz naturnothwendig eine viel zu grosse und entscheidende Rolle, als dass mich dieser Flitter an die eine oder andere Partei festbinden könnte. Oft spüre ich es erst aus dem Effekt solcher Phrasen auf mich, auf Seiten welcher Partei ich im einzelnen konkreten Fall mit meinen Grundsätzen stehe. Wenn plump massive, oder hochmüthig süffisante Phrasen von politisch- oder religiös-konservativer Farbe nur gesunden Zorn in mir erregen, windige und hohle liberalen Klangs dagegen zunächst Scham in mir hervorrufen, so weiss ich daraus, auf welcher Seite ich im Grunde stehe; und zunächst reagirt's in mir gegen die Phrasen von dieser Seite; am allerschärfsten aber gegen solche, die in hohler Gedankenlosigkeit oder brutalem Egoismus Fundamental-

432

Erinnerungen.

grundsätze für alles Gesellschaftsleben, politisches wie kirchliches, die mir heilig sind, zur Karrikatur verzerren und damit theoretisch der Lächerlichkeit blossstellen, praktisch aber in Gift verwandeln. Was ich auch zur wissenschaftlichen Begründung einer liberalen Theologie unter uns mag beigetragen haben, — an der Entstehung unserer gegenwärtigen allgemein schweizerischen Parteivereine, des reformerischen, des orthodoxen und des vermittlerischen, habe ich weder Verdienst noch Schuld. Ich habe meine nächsten Freunde genug davor gewarnt, das Signal zu einer solchen Organisation eines prinzipiell kristallisirten und dadurch innerlich unfreien Parteiwesens zu geben; so frei sei überall bei uns die Kirchenorganisation immerhin, dass es dieses Mittels bei uns nicht bedürfe, um vernünftiger Freiheit in ihr Baum zu schaffen. Als einer dieser Vereine nach dem andern sich konstituirte, äusserte einmal der Altmeister wissenschaftlich liberaler Theologie unter uns, A. Schweizer, gegen mich: jetzt wäre es bald Zeit, dass wir einen Verein der Vereinslosen bildeten. Ich aber möchte denselben Gedanken so ausdrücken: da die Parteivereine nun einmal bestehen, so sollte wenigstens jeder Theologe von Fach zwar demjenigen angehören, dessen Schwerpunkt in seine Theologie fällt, in den andern aber Ehrenmitglied sein, mit der Verpflichtung, in den letztern das Recht seiner eigenen Partei zu vertreten, im eigenen dagegen auch das der andern. Darin läge für ihn, um nicht als Wetterfahne zu erscheinen, nur eine erhöhte Aufforderung, fest auf den eigenen Füssen zu stehen und das Centrum des eigenen theologischen Denkens zugleich als den Schwerpunkt einer wahren Vermittlungstheologie für die Kirche thatsächlich zu bewahrheiten. Wenn auch kein Vereinsstatut solche Bestimmungen enthält, so nehme ich mir doch die Freiheit, mich so zu unsern gegenwärtigen Parteien zu stellen. Darum denke ich auch ein Bischen anders von der Bedeutung und Aufgabe der schweizerischen Predigergesellschaft als mein etwas zu vornehm abschätzig, zu preussisch hofpredigerlich neuesten Styls urtheilender Kollege Orelli in Basel.

433

Erinnerungen.

Wie ich mich aber von meinem theologischen Standpunkt aus, dessen Werden in meinem persönlichen Entwicklungsgang ich dem Leser mit diesen Erinnerungen in Kürze vorgeführt habe, zu den gegenwärtigen Strömungen in der theologischen Wissenschaft, namentlich zu den verschiedenen Schattirungen der neok a n t i s c h e n Theologie, verhalte, dies gehört an einen andern Ort.

B i e d e r m a n n , Vorträge und Aufsätze.

28

XIII. Eine Ehrenrettung. Ich weiss nicht — geehrte Anwesende — wie weit das Wort unsers grossen Dichters auch Ihren Glauben ausdrückt: „Die W e l t g e s c h i c h t e ist das W e l t g e r i c h t . " Darüber aber werden Sie wohl alle mit mir einig sein, dass es in dem Maasse doch nur unvollständig gelte, als die Weltgeschichte in die äussere Erfahrung fällt, und darum die Wissenschaft der Geschichte ihr Urtheil protokolliren kann. Diese theilt die Natur alles Menschlichen, sie kommt nie zum vollen Abschluss und sieht sich daher oft veranlasst, ihre Urtheilc, und hätten sie auch die längste Zeit gegolten, doch wieder zu revidiren. Hier muss eine Grösse, die von einem Glorienschein umgeben oder mit Lorbeer bekränzt Jahrhunderte lang auf hohem Piedestal gestanden, durch das nüchterne Urtheil einer spätem Geschichtsforschung ihres falschen Ruhmes entkleidclt, herunter auf dasNiveau gewöhnlicher Menschenkinder, wo nicht ganz und gar hinab in den Staub. Oder umgekehrt, eine Persönlichkeit, die bisher durch Geschlechter herab nur mit Abscheu genannt worden ist, wird durch eine spätere, unparteiische Kritik von ihrem Fluche gereinigt, oder doch wenigstens theilweise entlastet. Das sind die E h r e n r e t t u n g e n . Es ist natürlich, dass eine humanere Zeit gerade solche sich angelegen sein lässt, und sich ihrer freut, wenn sie sich wirklich als das gerechtere Urtheil erweisen.

435

Eine Ehrenrettung.

Wohlverstanden, das sind noch k e i n e Ehrenrettungen zu nennen, wenn Persönlichkeiten gerade um dessentwillen, weswegen bisher das allgemeine Urtheil sie verdammt hatte, nun auf einmal erhoben und gepriesen werden, nicht durch eine Berichtigung, sondern durch eine einfache Umkehr des sittlichen Maasstabes. Wenn ein Tor quem ada gerade um seiner Ketzergerichte willen zum Heiligen erhoben werden wollte, wenn die grossen Blutpolitiker der französischen Revolution, ein Danton, ein Robespierre, selbst ein Marat, gerade weil sie das waren, von einem nachgeborenen Affengeschlecht als die wahren Helden der Völkerbefreiung gepriesen werden, — das wären keine Ehrenrettungen. Von Ehrenrettungen darf man nur da reden, wo eine unparteiische Geschichtsforschung sich veranlasst sieht, eine Gestalt in ein anderes Licht zu rücken, durch welches die dunkeln Schatten, die sie bisher ganz bedeckt, wenigstens gemildert, wo nicht völlig gehoben werden; wo es heisst: ja, wenn sie wirklich das, und nur das gewesen wäre, als was sie bisher gegolten, dann müsste auch das bisherige verdammende Urtheil als ein gerechtes auf ihr bleiben; allein nur die Ungunst der Verhältnisse, oder die Unkenntniss der nähern Umstände, oder die Leidenschaft haben der Geschichte das Bild entstellt überliefert. Nur da kann man von Ehrenrettung reden; von partieller wenigstens; selten dürfte der Fall einer vollständigen eintreten. — Schon von der Schule her stand uns der Kaiser Tiberius nur als eine finstere, unheimliche Gestalt vor der Seele, als ein herzloser, von Argwohn und Menschenhass, von geheimer Lust verzehrter Tyrann, dessen letzte Jahre in der Einsamkeit auf Capri ein grauendes Dunkel umhüllte. Eine neuere Geschichtsforschung hat ihn zwar nicht ganz aus diesem Schatten gerückt, aber doch seine kraftvolle, weise Regierung, seine energische Sorge für Ordnung und Sparsamkeit im Staatshaushalte des grossen Weltreiches mehr in den Vordergrund und in's Licht gestellt, und dem grossen Geschichtsschreiber Tacitus, der das Bild des Kaisers mit kohlschwarzem Stifte gezeichnet, nachgewiesen, dass er denn doch oft dem verhassten Tiberius ohne geschichtlichen Anhalt je die 28*

436

Eine Ehrenrettung.

schwärzesten Absichten und Motive pessimistisch insinuirt habe. Das war eine partielle Ehrenrettung. Als eine der schmachbeladensten weiblichen Gestalten in der Geschichte hatte bisher L u c r e t i a Borgia gegolten, als die würdige Tochter des scheusslichsten aller Päpste, und die ebenbürtige Schwester des furchtbaren Cesare, beiden mehr als nur Tochter und Schwester, die „Heldin von Gift und Dolch." Wenn eine genauere Forschung, sie wenigstens vom Aergsten entlastet, sie zwar nichts weniger als zum tugendhaften Weibe erhoben hat, aber doch als fügsames Spielzeug einer ruchlosen Umgebung mehr bemitleidens- als verdammenswerth erscheinen lässt, so dass das authentische Bildniss, das wir aus ihrer späteren Zeit besitzen, ein Gesicht von liebenswürdiger Anmuth, nicht mehr entweder als ein Hohn auf alle Physiognomik, oder denn als Zeugniss der Bekehrung eines Teufels in einen Engel gelten muss, — so war das eine partielle Ehrenrettung. So oft in der neuern Zeit — auch in diesem Saale — Muhamed, den die frühere Christenheit in ihrem Schrecken vor dem Halbmond nur als den Lügenpropheten des Thieres aus dem Abgrund verabscheut, die spätere Aufklärungszeit aber mit ihrem Mangel an Geschichtssinn nur als abgefeimten Betrüger verhöhnt hatte, in's Licht einer unbefangenem Geschichtsbetrachtung gestellt worden ist, so wurde das für ihn zu einer partiellen Ehrenrettung. — Gerechte Veranlassung zu solchen Ehrenrettungen wird namentlich da vorhanden sein, wo nationaler Hass, politische Leidenschaft, religiöser Fanatismus das erste Bild gezeichnet und der Nachwelt überliefert hatte. Doch Sie werden nachgerade ungeduldig sein: wessen Ehrenrettung ich denn in dieser Stunde vorhabe? — G. A. Es ist gar keine P e r s ö n l i c h k e i t , weder Mann noch Weib, aus der Geschichte. — Was denn? — Bevor ich es sage, noch einmal: d a s wäre k e i n e Ehrenrettung, wenn einfach der Maasstab des bisher verdammenden Urtheils nicht anerkannt, und ein entgegengesetzter wollte geltend gemacht werden, wonach als recht und gut und löblich sollte vertheidigt werden, was bisher als verwerflich gegolten. Nor d a s kann eine Ehrenrettung heissen, wenn mit voller Anerkennung, dass das Verwerfungsurtheil Recht

Eine Ehrenrettung.

437

hätte, wenn es mit seinem Gegenstande sieh wirklieh sa verhielte, wie es voraussetzt, der Nachweis geleistet wird, dass das eben nicht der Fall sei, dass der Gegenstand der bisherigen Verdammniss, in sein w a h r e s Licht gestellt, ganz a n d e r s zum Vorschein komme, and nach dem gleichen sittlichen Maasstabe statt Verw e r f u n g vielmehr Anerkennung verdiene. Nur d a s kann eine Ehrenrettung heissen, und nur eine solche möchte ich unternehmen. Nun also, endlich heraus damit! — So sei's denn; es ist nichts geringeres, als der Ihnen allen wohlbekannte, aber übelberüchtigte Grundsatz: Der Zweck heiligt die Mittel. Sic werden gestehen, wenn dieser zu Ehren kommen soll, so hat er eine Ehrenrettung sehr nöthig, und es ist fast gewagt, eine solche zu unternehmen. Ist doch dieser Satz kurzweg als ein j e s u i t i s c h e r Grundsatz bekannt, und wir alle wissen, was man damit sagen will. Ja, die Jesuiten selbst, mit deren Namen man ihn von vornherein für 'gebrandmarkt genug hält, waschen ihre Hände in Unschuld und lehnen die Urheberschaft und alle Mitschuld von 6ich ab. Ein ultramontanes Blatt, „Der Pilger aus der P f a l z " hat 1866 diesen Grundsatz für „infam" und „verrucht", aber zugleich das, dass man ihn den Jesuiten aufbürden wolle, für „eine höllische Erfindung" erklärt. Ja er setzte — freilich mit einer vorsichtigen Hinterthür in den Bedingungen — einen Preis von 1000 fl. aus für den, der den Nachweis zu leisten im Stande sei, dass die „Gesellschaft Jesu" diesen Grundsatz jemals approbirt habe. Da muss er wohl verdammlich genug sein. Wenn ich gleichwohl eine Ehrenrettung für denselben unternehme, so kann sie nur darin bestehen, dass ich erstens zeige, wie der Satz in dem Sinne verstanden, den man gemeinhin mit dem j e suitischen meint, das allgemeine Urtheil der Verdammniss, in das also zu unsrer Ueberraschung sogar die Jesuiten mit einstimmen, allerdings vollständig verdiene; zweitens aber, dass dies gar nicht der wahre Sinn des Satzes sei und sein könne, sondern nur eine — sagen wir jesuitische — Verdrehung desselben; und d r i t t e n s endlich, dass er in seinem tiefsten Grunde vielmehr sich gerade als ein Ausdruck des höchsten sittlichen Werthurtheiles herausstelle.

438

Eine Ehrenrettung.

I. Ja, heillos ist der Satz in dem Sinn, den man als jesuitisch bezeichnet. Die Jesuiten selbst haben die Urheberschaft, ja alle Mitschuld daran — wie wir gehört — mit den stärksten Ausdrücken der Entrüstung abgelehnt. Wir wollen sehen. Auf jene Herausforderung hin wurde sofort nachgewiesen, dass in dem vom Orden approbirten Lehrbuch der Moral des altberühmten Jesuitenpater Busenbaum doch schwarz auf weiss der Satz zu lesen sei — ich muss ihn erst im Originaltext des Jesuitenlateins wiedergeben — si finis est licitus, etiam licita sunt media. Jeder wird das einfach übersetzen: wenn der Zweck erlaubt ist, so sind auch die Mittel erlaubt. Und das ist gerade das, was man unter dem Satz, „der Zweck heiligt die Mittel," versteht. 0 nein, erwidert der Jesuit, so ist nicht zu übersetzen, sondern nur: „wenn ein Zweck erlaubt ist, so giebt es auch erl a u b t e Mittel dazu. Dass aber damit auch schlechte Mittel als allßlllig erlaubt erklärt werden, das ist pure Verleumdung. Natürlich sind nur gute und an sich erlaubte Mittel gemeint, und der Satz sagt nur, wo ein erlaubter Zweck ist, da muss es auch erlaubte Mittel dazu geben." — Gut; lassen wir uns vor der Hand diese jesuitische Auslegung gefallen, und erbitten uns von dem Jesuiten zunächst die Belehrung darüber, wie zu dem erlaubten Zweck erlaubte Mittel zu suchen seien. Diese Belehrung wird uns denn auch mit der wünschenswerthesten Offenherzigkeit ertheit durch die in der jesuitischen Moral berühmte und in ihren approbirten Lehrbüchern mit unzweideutigen Beispielen erläuterte „Methode, die Absicht zu l e i t e n " (methodus d i r i g e n d a e intentionis). Wenn ich mir bei einer Handlung nur einen erlaubten Zweck als meine spezielle Absicht dabei vorsetze, so wird die Handlung um dieser guten Absicht willen erlaubt, auch wenn sie ohne dieselbe allerdings vielleicht unerlaubt wäre. Z. B.: (es sind jesuitische Beispiele) ein Bedienter, der von seiner Herrschaft weniger Lohn erhält, als er zu verdienen überzeugt ist, darf seiner Herrschaft schon das Fehlende entwenden, wenn er es nur in der Absicht

Eine Ehrenrettung.

439

thut, — ja nicht etwa seine Herrschaft zu betrügen; sondern lediglich, um zu dem Seinen zu kommen. — Wer von einem Andern eine Beleidigung erfahren, darf denselben fordern, nötigenfalls auch sonst niederstechen, wenn er dabei nur die Absicht hat, seine Ehre zu wahren, nicht aber, seinem Feind ein Leid anzuthun. Da ist nun freilich das Verhältniss von Mittel und Zweck eigentlich auf den Kopf gestellt: zum Mittel wird ein Zweck gesucht, statt umgekehrt. Doch lassen wir uns vor der Hand auch das gefallen. Wir bekommen also für's erste die Anweisung, für unser Handeln einen guten Zweck zur Deckung zu suchen. Wir bitten uns nun nur noch vom Jesuiten auch die weitere Belehrung aus, wie wir uns dessen zu versichern haben, dass ein Zweck wirklich gut und darum die Handlung, die als Mittel dazu dienen soll, erlaubt sei. Auch darüber giebt uns die jesuitische Moral in ihren approbirten Lehrbüchern die gewünschte Auskunft durch einen zweiten, nicht minder berühmten und für die Beichtväter sorgfältig ausgeführten Grundsatz, durch den Grundsatz des sogenannten Probabilismus. Eine Meinung, was im einzelnen Fall erlaubt sei, ist p r o b a b e l , d. h. zu billigen und darum zu befolgen, s u b j e k t i v nach dem Gewissen, o b j e k t i v nach der besseren Autorität. Wo zwei probable Meinungen einander gegenüberstehen, folge man der probableren. Und das ist noch die s t r e n g e r e Fassung. Die laxere erlaubt auch der minder probabeln zu folgen, wenn sie nur wenigstens etwas Probables für sich habe. Ueber die innere Probabilität aber können nur die gelehrtesten Männer der Kirche sicher urtheilen. In alle Wege probabel ist eine Meinung, die von der Kirche dafür anerkannt wird. Der L a i e also, der für sich doch nie sicher zu entscheiden im Stande ist, folge der für ihn auf alle Fälle probableren Meinung seines B e i c h t v a t e r s , der im Namen der Kirche zu ihm spricht. Nun, da hätten wir beisammen was wir brauchen; ja mehr als wir brauchen: erst sieht der Mensch sich nach einem probablerweise erlaubten Zweck um; den giebt ihm allein sicher, auch der Stimme seines Gewissens gegenüber, die Kirche an; dann

440

Eine Ehrenrettung.

nimmt er eich für sein Handeln diesen als seine leitende Absiebt vor, und seine Handlang ist dadurch gerechtfertigt. Der erlaubte Zweck macht auch die sonst unerlaubten Mittel dazu erlaubt. Darauf kommt der Jesuit, obgleich er es hat leugnen wollen, mit seiner „Methode, die Absicht zu leiten", doch hinaus. An das aber gerade denkt man bei dem Satz: „der Zweck heiligt die Mittel" und schreibt ihn daher in diesem Sinn mit allem Rechte den Jesuiten zu. — Doch es ist in unserm Satze ja von einem Heiligen, nicht bloss E r l a u b e n der Mittel die Bede: da muss auch etwas Heiliges im Zwecke liegen; was aber heilig, also auch wohl unbedingt probabel sei, das kann nur eine Autorität dafür erklären, die selbst heilig ist, und das ist für den Jesuiten nur sein Orden, die Kirche und ihr Oberhaupt. Wenn daher der p r o f a n e r lautende Satz der Jesuiten: „ e r l a u b t e Zwecke machen auch die Mittel dazu erlaubt", populär kurz so formulirt wird: „der Zweck heiligt die Mittel", so spricht sich gerade durch diese Fassung ein gewiss ganz richtiger Instinkt aus, dass jene saubere Lehre wohl einen heuchlerisch geistlichen Ursprung habe und vornehmlich zu heuchlerisch geistlichem Gebrauch erfunden sei. Was nun dieser unzweifelhaft und unbestreitbar jesuitische Sinn des Satzes: „der Zwcck heiligt die Mittel", zur sittlichen Maxime erhoben, in der Welt für Früchte getragen hat, noch trägt und immer und überall tragen muss, und zwar gar nicht etwa bloss in den Kreisen, wo der Einfluss der Jesuiten direkt hinreicht, sondern auch da, wo die Jesuiten zwar aufs höchste desavouirt, — ihre Grundsätze aber befolgt werden, weil diese Grundsätze eben nicht bloss von den Jesuiten erfunden sind, sondern im dunkeln Untergrunde der menschlichen Natur Überhaupt wurzeln, — braucht's von diesen Früchten noch viele Beispiele? Ich denke: nein. Aus verschiedenen Lebensgebieten nur je eins mag genügen. Wir wissen freilich nicht, ob es.gerade ein jesuitischer Beichtvater war, der in einer schwarzen Nacht vor dem 14. Mai 1610 F r a n z R a v a i l l a c in's Ohr flüsterte, König Heinrich IV., wenn schon äusserlich in den Schooss der Kirche zurückgekehrt, im.

Eine Ehrenrettung.

441

Herzen aber doch immer noch den huguenotischen Ketzern zugethan, sei der gefährlichste Feind des Papstes und seiner heiligen Kirche; Frankreich von ihm zu befreien, wäre darum ein heiliges Werk, dem der himmlische Lohn sicher in Aussicht stehe. Wir wissen das allerdings nicht; aber soviel ist sicher, dass die Lehre „der Zweck heiligt die Mittel" in ihrer ächtesten jesuitischen Nutzanwendung es gewesen ist, die dem fanatischen Papisten den Mordstahl in die Hand gedrückt hat, und den Verbrecher die grauenhaften Todesqualen, mit denen er seine That büssen musste, mit dem Muth eines Märtyrers erdulden liess, — wie schon 26 Jahre früher, gerade jetzt vor 300 Jahren, den Jesuitenzögling B a l t h a s a r Gérard, nachdem erden grossen Wilhelm v. Oranien gemeuchelt hatte. Es genüge an diesen zwei Beispielen aus dem direkten Bereiche der Jesuiten. — Wo alle Bürger zur aktiven Theilnahme am Staatsleben berufen sind, da giebt es nothwendig politische Parteien. Jeder gute Bürger muss doch glauben, seine Partei meine es mit dem Vaterlande am besten und unter ihrer Herrschaft gedeihe sein Wohl am sichersten; des Vaterlandes Wohl zu fordern soll aber des Bürgers höchster Zweck sein: darum muss ja wohl jedes Mittel, sie zur Herrschaft zu bringen und darin zu erhalten, eine patriotische That sein: hier eine künstliche Wahlkreisgeometrie, dort die moralische Vernichtung gegnerischer Wahlkandidaten, dort ein alles mögliche Schöne lockend versprechendes utopisches Parteiprogramm. „Der Zweck heiligt die Mittel." — Auch aus diesem doch sehr reichhaltigen Gebiete kein weiteres Beispiel. — Der Handelsmann kann für den Betrieb seines Geschäftes des Kredites nicht entbehren; das ist eine Lebensbedingung für ihn. Ist er nun durch unglückliche Spekulationen an den Rand gerathen, sollte es ihm da nicht erlaubt, ja geboten sein, selbst durch die unprobabelsten Mittel — und wenn er auch das anvertraute Gut von Wittwen und Waisen damit aufs Spiel setzte — sich so lange über Wasser zu erhalten, bis er — vielleicht — wieder festen Boden unter die Füsse gewonnen hat und dann j a alles wieder gut machen kann: „der Zweck heiligt die Mittd."

442

Eine Ehrenrettung.

Die Beispiele sind so alltäglich, dass man selbst in anständiger Gesellschaft kaum davon reden darf. Ueberhaupt, wenn der nüchterne Verstand lehrt: Geld ist der unentbehrliche Schlüssel zu allen Gütern und Genüssen des Lebens: sollte da nicht Geld zu gewinnen auf jedem Weg, der am schnellsten dazu führen kann, das probabelste Mittel sein, zum erlaubten Genüsse des Lebens zu kommen? „der Zweck heiligt die Mittel." — Ist das nicht die Signatur der Moral eines — wie grossen! — Bruchtheils aller Klassen der heutigen Gesellschaft? Kurz, der Grundsatz „der Zweck heiligt die Mittel" in seinem mit Jesuitisch" bezeichneten Sinn ist die Maxime des nackten, gewissenlosen Egoismus, die mit der zweideutigen Phrase von einem „Heiligen" der Mittel die Stimme des sittlichen Bewusstseins, die es ersticken will, erst heuchlerisch übertönt. Auch der Jesuit — wie wir vernommen — kann, wenn er ihn aus fremdem Munde hört, nicht umhin, ihn einen „infamen", einen „verruchten" Satz zu nennen. Das Verdammungsurtheil der Geschichte soll also mit allem Recht und mit vollem Gewicht auf ihm bleiben. — II. Allein, ist das auch wirklich der wahre Sinn des Satzes? kann er es sein? Ist nicht vielmehr damit eine s i t t l i c h e Grundw a h r h e i t nur heillos in ihr Gegentheil verdreht und gerade dadurch zum Fallstrick des Gewissens geworden, weil dieses sich nicht verhehlen kann, dass allerdings etwas Wahres daran sei? Sollte nicht gerade d a s das Jesuitische an der ganzen Sache sein, dem Gewissen einen derartigen Fallstrick zu drehen, und hinterdrein zu leugnen, dass man es gethan? Die Jesuiten sind ja nie plump gradaus auf ihre Ziele losgegangen; sie haben immer kluge Umwege geliebt, die sich nöthigenfalls nachher wieder verwischen Hessen. In der Prüfung dieser Frage und in ihrer Bejahung soll meine Ehrenrettung bestehen. Wir müssen dabei vorab zwei Punkte in's Auge fassen.

Eine Ehrenrettung.

443

F ü r ' s e r s t e : „Der Zweck h e i l i g t die Mittel", — so lautet der Grundsatz. Nun kann aber, was nicht s e l b s t wirklich h e i l i g ist, von vornherein doch ganz gewiss auch nicht etwas Anderes heiligen. Ein Zweck also, der seine Mittel soll heiligen können, muss durchaus selbst ein h e i l i g e r Zweck sein. Was ist aber in Wahrheit heilig? Was dürfen wir, ohne mit einem Betrug anzufangen, allein heilig nennen? Nur etwas, das einen u n b e d i n g t e n , u n a n t a s t b a r e n Werth für uns hat, und zwar nicht etwa darum, weil wir ihm diesen willkürlich beilegen, sondern weil er Eins ist mit dem U r g r u n d unsers Wesens, der hinter und über unsrer Willkür unserm Leben auch seine Bestimmung mit auf den Weg gegeben hat, als heiliges Gesetz für unsere Selbstbestimmung, als Gesetz der F r e i h e i t , d. h. eben der Bestimmungserfüllung aus dem tiefsten Grund unsers eigenen Innern heraus. Das war also die e r s t e heillose V e r d r e h u n g , dass eine a n d e r e , w i l l k ü r l i c h e Autorität, mit dem Anspruch unbedingter höchster Gültigkeit, unserm Handeln, auch entgegen der Stimme des eigenen Gewissens, einen Zweck als heilig solle vorschreiben, oder auch nur probabel machen dürfen. Von dieser Verdrehung kann die jesuitische Moral sich auf keine Weise rein waschen. Sie macht ihre Kirche zum obersten Gesetzgeber über die Gewissen und giebt ihr mit der Lehre des P r o b a b i l i s m u s , als Anweisung für die Beichtväter, vollends alle Macht in die Hand, die Gewissen nach ihrer Willkür zu lenken. Es ist aber die g l e i c h e Verdrehung, nur vom entgegengesetzten Pol aus, wenn der N a t u r a l i s t damit, dass er die sinnliche Natur für- den letzten Grund unsers Wesens erklärt, uns einreden will, ihre Stimme sei unser oberstes Gesetz, und ein im Gewissen sich ankündigendes heiliges Gesetz darüber sei blosser Aberglaube. B e i d e m a l hat unser innerstes Ich keine Selbstgewisshcit eines wirklich h e i l i g e n Lebenszweckes, dessen Nichterfüllung ein Preisgeben unsrer Bestimmung, ein Preisgeben des Werthes unsers Daseins wäre. Damit aber der Satz soll gelten können: „der Zweck h e i l i g t seine Mittel", muss der Zweck selbst ein

444

Eine Ehrenrettung.

heiliger sein. Unser Satz kann nur von einem heiligen Zweck aus seine wahre Anwendung finden. Dies ist das Erste. — Dazu kommt ein Zweites. Eine Handlung, die als Mittel zur Erreichung eines Zweckes dienen soll, fällt durchaus unter einen doppelten Gesichtspunkt ihrer ßeurtheilung: 1) als Handlung für sich, nach ihrer eigenen moralischen B e s c h a f f e n heit, und 2) als Mittel zum Zweck nach ihrer Zweckmässigkeit. Ihre moralische B e s c h a f f e n h e i t erhält sie nicht erst von aussen durch einen Zweck, zu dem sie als Mittel nur in äussere Beziehung gesetzt wird. Der Maasstab dafür liegt in dem, worin sie selbst besteht. Das ist die zweite heillose Verdrehung im jesuitischen Sinn unseres Satzes, dass sie gerade d i e s Uberspringt und das Urtheil über die moralische Beschaffenheit einer Handlung erst von einer nachträglich mit ihr verbundenen Absicht abhängig macht. Auch von dieser Verdrehung kann die jesuitische Moral sich nicht rein waschen: ihre Lehre von der „Leitung der Absicht" ist ja der schamloseste Ausdruck davon. Neben ihrer Beschaffenheit für sich kommt bei einer Handlung als Mittel zu einem Zweck zweitens auch ihre Zweckm ä s s i g k e i t in Betracht. Nun kann aber der Zweck eine Handlung doch gewiss nur so weit decken, als sie das ihm wirklich e n t s p r e c h e n d e Mittel ist. Ein h e i l i g e r Zweck, der in der unveräusserlichen Grundbestimmung unsers Wesens wurzelt, kann seine Heiligkeit doch nur solchen Handlungen mittheilen, die aus dem gleichen Grunde stammen und eben darum und n u r darum die geeigneten Mittel für ihn sind. Eine Handlung, die in ihrer eigenen Beschaffenheit der Heiligkeit unsrer Bestimmung widerspricht, kann doch nicht ein zweckentsprechendes Mittel für ihre Erfüllung sein; sie wird, dennoch angewendet, nicht von dem mit ihr verbundenen Zwecke geheiligt, sondern sie entheiligt umgekehrt diesen Zweck. Nur beides zusammen ist wahr: ein heiliger Z w e c k h e i l i g t a u c h das ihm e n t s p r e c h e n d e Mittel; ein unheiliges Mittel e n t h e i l i g t a u c h einen an sich g u t e n Zweck, zu dem es in's Werk gesetzt wird. Das stellt uns die Erfahrung alltäglich vor Augen.

Eine Ehrenrettung.

445

Ein unlauteres Manöver, zu dem einer vielleicht nur im Uebereifer, um einer wirklich guten Sache ganz sicher zum Siege zu helfen, sich verleiten lässt, kann gerade die beste Sache verderben. Eine politische Partei wird am allermeisten durch Gewissenlosigkeiten, zu denen ihre Heisssporne aus lauter Parteieifer sich verleiten lassen, diskreditirt. Der Religion hat von jeher ein fanatischer Eifer ihrer Vertheidiger am meisten geschadet. Manchem der heutigen S o z i a l d e m o k r a t e n , oder Sozialisten, oder wie sie sich sonst nennen mögen, schweben gewiss ganz ehrlich und aufrichtig die schönsten Zukunftsideale für die menschliche Gesellschaft vor: aber die läppischen oder geradezu frevelhaften Mittel, die er etwa für die Verwirklichung seiner schönen Theorieen in Vorschlag bringt, verderben auch das wirklich Gute, das er dabei als letztes Ziel im Auge hat und fttr das er schwärmt. Noch ein Beispiel von der denkbar höchsten tragischen Natur gerade aus der Gegenwart. Die grauenhaften Mordanschläge, die wir in abschreckender Häufigkeit im Namen und zu den Zwecken des Nihilismus mit fürchterlicher Kaltblütigkeit in's Werk setzen sehen, — haben sie wirklich alle ihren Grund nur in einer völligen Verthierung ihrer Urheber und Vollstrecker? Gewiss nicht; oft ist vielmehr in letzter Instanz die Geburtsstätte solcher Blutthaten nur im Fanatismus der Verzweiflung an einer andern Heilung durch und durch, von oben bis unten verdorbener sozialer Zustände zu suchen, wie ein solcher Fanatismus der Verzweiflung (etwa in russischen Verhältnissen) auch an sich edlere Gemüther erfassen und sie zu den verzweifeltsten Mitteln treiben kann. Allein die verruchten Mittel heften den Fluch der Verruchtheit auch an ihren Zweck, einer bessern Zukunft Baum zu schaffen. Kurz: „der h e i l i g e Zweck heiligt seine Mittel" hat seinen wahren Sinn nur zusammen mit seiner Kehrseite: „das unheilige Mittel entheiligt auch seinen Zweck." Nur beides zusammen giebt uns das wahre Verhältniss von Zweck und Mittel. So aber drückt unser Satz nichts geringeres aus als das Grundgesetz der sittlichen F r e i h e i t , während-seine jesuitische Verdrehung nur die frivole Willkür sanktionirt. F r e i h e i t — und Willkür; s i t t l i c h e r Ernst — und F r i v o l i t ä t , — das ist

446

Eine Ehrenrettung.

genau das Verhältniss zwischen dem wahren und dem jesuitischen Sinn unsers Satzes. Wir müssen ihn aber nach zwei Seiten hin betonen, um in ihm in der That nichts geringeres als das Gesetz der sittlichen F r e i h e i t zu erkennen. Das Eine ist: der Zweck ist's, der erst seine Mittel heiligt; das Andere: er heiligt sie auch wirklich. Der Zweck ist's, der seine Mittel heiligt. Der Zweck ist die S e e l e der Handlung; denn er ist die Handlung so, wie sie noch als Absicht in der Seele wohnt und erst aus ihr sich in die äussere That übersetzt. In seinem Zwecke gehört unser Handeln u n s an; denn den setzen wir in unserm eigenen Innern: das ist unsre Freiheit. Mit der Uebersetzung in die That dagegen tritt unsre Abhängigkeit von den Bedingungen der Aussenwelt ein: da hat unsre Freiheit ihre Schranken. Der Zweck liegt in unsrer Hand; die Mittel nicht. Gerade aber in dem, was in unsre Hand gelegt ist, beruht der Werth unsers Thuns für uns selbst. Es liegt unverlierbar in unsrer Macht, gerade den heiligen Zweck unsers Daseins zu unserm persönlichen Zwecke zu machen; denn heilig ist er dadurch, dass er als die uns innewohnende Bestimmung eins ist mit dem Inbegriff aller Grundbedingungen unsers Daseins, eins mit der Schöpferkraft, die uns im Dasein erhält. Darin liegt die Grundvoraussetzung unsrer Freiheit, unser Beruf zur Freiheit. Dir selbst ist eingepflanzt, und du kannst es persönlich dein eigen machen, was deinem Dasein einen heiligen Werth giebt. Es ist dies nichts anderes, als was unser grosser Dichterphilosoph in das kühne und doch einfach wahre Wort gefasst hat: „Der Mensch ist freigeboren, ist frei, und wär er in Ketten geboren." Der Zweck ist's, der seine Mittel heiligt: das sichert uns unsern Beruf zur Freiheit. Allein was sichert uns die Möglichkeit ihrer Verwirklichung, unsrer Bestimmungserfttllung aus unserm eigenen Innern heraus? Das Andere: dass der Zweck seine Mittel auch wirklich heiligt, ihnen einen heiligen höchsten Werth giebt, den sie für sich nicht hätten, sondern erst von

Eine Ehrenrettung.

447

ihm ans erhalten. Des heiligen Zweckes sind wir sicher, dass wir ihn zu unserm persönlichen Zweck machen können, und auch dessen sind wir sicher, dass es fUr seine Erfüllung stets auch die ihm entsprechenden Mittel giebt, die er heiligt Hier gilt nämlich ein wesentlicher Unterschied zwischen heiligen und bloss erlaubten Zwecken. Sie erinnern sich der Ausrede des Jesuiten: er lehre nicht, wenn der Zweck erlaubt sei, seien auch alle Mittel dazu erlaubt; sondern nur, dann gebe es auch sicher erlaubte Mittel dazu. Aber gerade das ist nicht wahr. Das Erlaubte gehört in's Gebiet des Bedingten, des von den besondern Umständen Abhängigen: da giebt's keine unbedingte, im Zweck gebotene Notwendigkeit. Der Jesuit wird auch bald auf einem sachten Umweg auf das, was er erst geleugnet hat, hinauszukommen wissen: wo es kein anderes Mittel giebt, — in Gottes Namen diesmal auch ein unerlaubtes für erlaubt zu erklären. Ein Ertrinkender hat gewiss ganz natürlich und darum höchst erlaubt die lebhafteste Absicht, sein Leben zu retten. Allein wenn nichts in seinen Bereich kommt, an das seine sinkende Kraft sich anklammern kann? oder wenn nun ein anderer mit ihm in den Wellen Ringender, ein Freund, sein Bruder, sein Weib, sein Vater vielleicht? — wenn's zum erlaubten Zweck ein erlaubtes Mittel gehen muss, — in Gottes Namen, so stösst er eben diesen vom rettenden Brette. Im physischen Kampf um's Dasein sind alle Mittel erlaubt, d. h. eben physisch nicht verwehrt. Aber das ist ebensowenig eins mit sittlich erlaubt, als der physische Kampf um's sinnliche Dasein eins ist mit unsrer sittlichen Bestimmung, dem Lebenszweck unsers inwendigen Menschen. Dass hier schwere Kollisionen von Pflichten eintreten können, weiss ich wohl; allein dies, schwierige Kapitel liegt jetzt seitab von unserm Wege. Was aber für bloss erlaubte Zwecke nicht wahr ist, das gilt dagegen unbedingt für heilige Zwecke: für die giebt es immer das ihnen entsprechende Mittel. Denn heilig ist ein Zweck ja dadurch und nur dadurch, dass er unabtrennbar im Urgrund unsers Wesens wurzelt, und darum ist »auch in jedem Lebensmoment ein aus dem Bewusstsein dieses Grundes entspringendes,

448

Eine Ehrenrettung.

im Gewissen sich bezeugendes Handeln das uns an die Hand gegebene entsprechende Mittel, ihn zu erfüllen. Und dieses Mittel erhält durch seinen heiligen Zweck selbst auch seinen heiligen u n b e d i n g t e n Werth. In sich selber hätte es diesen Werth nicht, als ein einzelnes, immer zugleich auch äusserlich bedingtes und damit beschränktes und unvollkommenes Thun. Die Gesinnung erst, aus der es stammt, giebt unserm Handeln seinen wahren Werth. Der heilige Zweck unsers Lebens — um es express ganz nüchtern und trockcn auszudrücken — ein r e c h t e r Mensch zu sein, ist für uns Alle der gleiche, g l e i c h w e r t h i g e , und zwar gerade der allein u n b e d i n g t werthvolle. Die L e b e n s v e r h ä l t n i s s e dagegen, welche für uns die Mittel bedingen, durch die wir ihn zu erfüllen haben, sind unendlich verschieden. Der am reichsten ausgestattet ist an Leib und Seele und an allen Gütern des Lebens, — auch ihm giebt erst das seinen Vollwerth als Mensch, wie er das alles auch wirklich anwendet als Mittel für den heiligen Zweck seines Daseins, ein rechter Mensch zu sein nach der Bestimmung dessen, von dem er sein Dasein hat. Und der Geringste und Aermste, von der Natur am stiefmütterlichsten Bedachte, vom Schicksal am schwersten Heimgesuchte, dessen äusseres Lebensloos nur Niedrigkeit, Leiden und Entbehrung ist, — auch seinem armseligen Leben giebt das einen unbedingten Werth, wenn er die äusserlich geringen und armen Mittel, die ihm gelassen sind: Pflichttreue iir Kleinsten, Geduld, Entsagung, Ergebung, anwendet zum allein heiligen Zweck seines Lebens, den er unveräusserlich in sich trägt. Darauf beruht und darin besteht die wahre Gleichheit aller Menschen. Eine äusserliche Gleichheit in der Lebensstellung ist leerer Traum von Träumern, oder hohle Vorspiegelung von Betrügern. Ich habe das alles express in trockenen, nicht in den religiösen Ausdrücken ausgesprochen, die es doch am einfachsten und zugleich tiefsten gesagt hätten. Allein nun fasse ich es in, das Wort des Apostels zusammen, welches dasselbe, nur eben direkt von seinem göttlichen Grund aus, sagt: „der Mensch wird vor Gott g e r e c h t nicht durch seine W e r k e , sondern

449

Eine Ehrenrettung.

allein durch den Glauben." Alle, die je den Sinn dieses grossen Wortes verstanden, die Reformatoren vorab, die es wieder zum Centrum ihres Glaubens gemacht, die haben gewusst, dass diese Worte nichts geringeres ausdrücken als das Grundgesetz der F r e i h e i t , der Freiheit, die es für den kreatürlichen Geist allein giebt, die es aber auch w i r k l i c h für ihn giebt. Dies und nichts anderes ist aber auch der wahre Vollsinn unsers Satzes: „der Zweck heiligt die Mittel". — Heilig, von unbedingtem Werth, ist nur der Zweck unsers Lebens, und den können wir gerade stets zu unserm persönlichen Lebenszwecke machen, weil er eins ist mit unserm Wesensgrund. Dieser heiligt aber auch die Mittel, die uns im Leben, einem jeden, zu seiner Erfüllung geboten sind; er giebt ihnen auch einen unbedingten Werth, den Bie fllr sich, als dem äussern, endlichen Bestand unsers Daseins angehörend, nicht haben und nicht aussprechen können. So ist der Vollsinn unsers Satzes das Grundgesetz u n s e r e r F r e i h e i t ; erst seine jesuitische Verdrehung hat ihn zur heuchlerischen Beschönigung der gewissenlosen Willkür gestempelt. In diesem letztern Sinne soll und wird er das ihm von der Geschichte aufgedrückte Brandmal behalten. Meine Ehrenrettung aber gilt seinem w a h r e n Sinn. Insoweit könnte ich meine Aufgabe für erfüllt halten.

in. Folgen Sie mir nun aber von hier aus noch kurz einen Schritt höher hinauf bis dahin, wo unser Satz nicht bloss eine Ehrenrettung e r h ä l t , sondern selbst zu einer solchen wird, — soweit das Wort in dieser Anwendung überhaupt noch erlaubt ist. Ich frage: was ist der Zweck des Daseins der Welt ü b e r h a u p t ? und wie dient sie diesem Zweck als Mittel? — Oder hat sie vielleicht gar keinen Zweck? keinen vernünftigen Zweck, der als heiliger ihr auch erst einen heiligen Werth gäbe? Wenn sie aber keinen hätte, so hätte sie auch keinen vernünfB i e d e r m a n n , Vorträge und Aufstttze.

29

450

Eine Ehrenrettung.

tigen Grund; denn ein solcher schliesst auch einen Zweck in sich für das, was er in's Werk setzt. Dann aber hätte auch die Gesetzmässigkeit, die als Naturgesetz die Welt durchwaltet, keinen andern Grund, als dass sie eben grundlos da wäre. Dann aber wäre auch alles, was ihr alldurchdringendes Walten mit Notwendigkeit im Naturlaufe hervorbringt, weil es keinen zwecksetzenden Grund hätte, bloss Zufall, bloss durch das äussere Zusammentreffen von einzeln nothwendig wirkenden Umständen zuwege gebracht. Zufall wäre dann die doch thatsächlich vorhandne Zweckmässigkeit, die wie den einfachen Beschauer, so, ja noch in viel höherm Maasse, gerade den Forscher in allen Werken der Natur mit Bewunderung erfüllt. Zufall wäre es, dass im Kampf um's Dasein, worin der ganze Naturprozess dann bestände, in seinem höchsten Erzeugniss — auf dieser Erde wenigstens — im Menschenleibe das herauskäme, was wir Geist und Geistesleben nennen. Zufall endlich wäre es, was diesen Menschengeist darauf stösst, nach einem Grunde der Welt und seiner selbst zu fragen und von einer Bestimmung zu träumen, die ihm in's Dasein mitgegeben sei, die von jenseits der blossen Natur stamme und über die blosse Natur hinausweise. Für all diese Fragen gäbe es keine Antwort: das Träumen unsers Hirns von einer Welt des Geistes und der Freiheit hätte keinen Grand. Das alles folgte unweigerlich, wenn das Gesamtdasein der Welt keinen vernünftigen Grund und keinen in diesem wurzelnden heiligen Zweck hätte, d. h. wenn nicht z w e c k s e t z e n der Geist schöpferischer Urgrund der Welt, und das gesammte Weltdasein das Mittel wäre zu seiner Erfüllung. G. A. Es kann mir nicht einfallen, nur so im Vorbeigehen irgendwie erschöpfen zu wollen, was alles ich mit diesen paar Worten nur angestreift habe. Ich habe es aber nur darum wenigstens angedeutet, um fortfahren zu dürfen, dass ich es nicht bloss als ein u n b e g r ü n d e t e s Glauben kann gelten lassen, mit dem es ein jeder — nämlich u n b e s c h a d e t seiner Vernunft — halten möge, wie er wolle, wenn wir glauben, dass das Dasein der Welt allerdings einen v e r n ü n f t i g e n geistigen Urgrund und damit einen Zweck habe, und zwar den heiligen, un-

451

Eine Ehrenrettung.

b e d i n g t e n Zweck, den Geist, welcher der letzte Grund ihres Daseins ist, Gott, auch in seiner u n b e d i n g t e n Vollkommenh e i t , als nicht bloss das höchste, sondern als das alleinige Gut, das rein und schlechthin in sich selbst gut und darum für uns heilig ist — wir Philosophen brauchen dafür das freilich oft unnütz missbrauchte Wort: das Absolute — zu offenbaren. Geben Sie mir nun — und wäre es auch vorerst nur um zu erfahren, wo ich denn eigentlich mit all dem schliesslich hinaus wolle — von hier aus zwei weitere Voraussetzungen zu. E r s t e n s : dass wir, als k r e a t ü r l i c h e r Geist, die Bestimmung in unser Dasein mitbekommen haben, dass jener heilige Zweck der Welt überhaupt, Gott, ihren Grund, als die Vollkommenheit zu offenbaren, in uns zur ErMlung komme, und dass unser ganzes Weltdasein uns als das Mittel zu diesem Zwecke geboten sei. Diese Voraussetzung dürfen Sie mir um so eher ohne Anstand zugestehn, als ich Ihnen damit in keinerlei Weise vorgreifen will, wie ein jedes diesen allgemeinen Gedanken unserer göttlichen Bestimmung in die ihm am besten entsprechende Form bringen mag. Geben Sie mir aber nun auch noch eine zweite Voraussetzung zu: dass die Welt nur dann das wirklich vollständig z w e c k e n t s p r e c h e n d e Mittel für diesen ihren göttlichen Zweck sei, wenn zweierlei ganz und u n t r e n n b a r zusammen ihr Wesen ausmacht, sowohl ihre L i c h t s e i t e , dass sie mit ihrem ganzen Bestand, mit ihrer alles von unten bis oben durchwaltenden Ordnung, der Schauplatz der Allweisheit und Güte, der Heiligkeit und Liebe Gottes, ihres ewigen Urgrundes sei, als a u c h die K e h r s e i t e , dass ihr eigenes Wesen als Welt, als nicht-Gott sondern Kreatur, durch und d u r c h Vergänglichkeit sei, die im Naturprozess und in der Weltgeschichte an allem, aber auch gar allem, was ihrem Wesen angehört, als Uebel, als thatsächliche Erfahrung der Endlichkeit und Nichtgöttlichkeit, sich vollziehe, und vollends im Menschengeiste, der seinem Wesen nach göttlichen Berufes ist, aber auf dem Boden der Welt steht, sich als den Zug niederwärts, als den allgemeinen H a n g zur Sünde kundgebe, und als das g r ö s s t e U e b e l in der Welt 29*

452

Eine Ehrenrettung.

die S ü n d e selbst hervorrufe. Kurz, die Voraussetzung, die Sie mir zugeben sollen, ist also: dass beide nur m i t e i n a n d e r , jene L i c h t - und diese K e h r s e i t e , jede g a n z und beide u n g e t r e n n t , das Wesen der Welt ausmachen, damit sie das ihrem Zweck entsprechende Mittel sein könne, die Vollkommenheit ihres schöpferischen Urgrundes allseitig thatsächlich zu offenbaren. Sie nehmen aber vielleicht Anstand, mir dies zuzugeben. Allein woran nehmen Sie eigentlich Anstoss? Daran, dass ich Ihnen zumuthen wolle, die Welt in diesem Lichte zu betrachten?. Oder daran, dass, wenn Sie dies zugeben, dann ja eine T h e o d i c e e nicht möglich wäre, d. h. die Vereinigung des Glaubens an die Allweisheit, Allmacht und Güte Gottes mit einer so beschaffenen Welt, kurz die Rechtfertigung Gottes gegenüber dem Uebel in der Welt? Dass aber eine solche Rechtfertigung, eine Theodicee, möglich sein müsse, ist ein BedUrfniss nicht bloss für das gläubige Herz, sondern ebensosehr auch für den nüchternen Verstand; denn darauf verzichten, ich sage nicht etwa bloss auf die E i n s i c h t , sondern überhaupt auf den Glauben verzichten, dass das Uebel in der Welt im U r g r ü n d e der Welt gewiss auch seinen Grund und zwar seinen guten Grund haben werde, auf diesen Glauben verzichten, sieht doch eigentlich gar zu sehr einem Anbellen des Mondes gleich, den man nicht greifen kann. Also noch einmal, warum zaudern Sie, mir meine zweite Voraussetzung zuzugeben, dass zum Wesen der Welt ihre Lichtund ihre Schattenseite auf allen Punkten zusammengehören? und dass sie gerade so und nur so das entsprechende Mittel sei für den Zweck ihres Urhebers? Warum zaudern Sie vielleicht, mir das zuzugeben? Weil dem überhaupt nicht so sei? oder: weil dann eine T h e o d i c e e , eine Rechtfertigung Gottes nicht möglich wäre? Und doch ziele ich gerade auf eine solche hinaus, und zwar näher darauf, dass der Satz, dessen Ehre zu retten ich unternommen, der Satz „der Zweck heiligt die Mittel", uns allein den Schlüssel einer w a h r e n und s t i c h h a l t i g e n Theodicee in die Hand gebe, und darin, dass er uns dies leiste, selbst seine höchste Ehrenrettung finde. W a h r ist eine Theodicee doch nur,

Eine Ehrenrettung.

453

wenn sie Gott nicht bloss nothdürftig e n t s c h u l d i g t für das Uebel in der Welt, sondern wenn sie ihn wirklich dafür zu r e c h t f e r t i g e n weiss; und s t i c h h a l t i g ist eine Theodicee doch nur, wenn 6ie die Thatsache des Uebels nüchtern in ihrem ganzen Umfang anerkennt und nicht erst irgendwie vertuscht oder abschwächt. Doch eben dies L e t z t e r e zaudern sie wohl mir zuzugestehen, dass die Welt so beschaffen sei, wie ich das Zugeständniss von Ihnen verlangte, dass ihre Licht- und ihre S c h a t t e n s e i t e auf allen Punkten nur zusammen ihr Wesen ausmachen. Die Lichtseite lassen sich wohl die meisten von Ihnen ohne Bedenken gefallen; aber die von ihr unabtrennbare S c h a t t e n s e i t e ? Das klingt j a ganz pessimistisch. Sie kennen ja wohl alle nicht bloss den Stimmungspessimismus, jene bald mehr nur momentane, bald mehr habituelle, bald mehr ingrimmig verbitterte, bald mehr nur erschlafft blasirte Stimmung, welche ohne Lebensfreudigkeit, ohne Muth, Vertrauen und Hoffnung alles im Leben nur von der trüben Seite ansehen mag und am liebsten die ganze Welt gleich in Stücke schlüge. — Sie haben alle wohl auch schon von dem prinzipiellen Pessimismus gehört, jener philosophischen Weltanschauung, mit der sich heutigen Tags Viele wunder wie gross dünken. Dieser Pessimismus erklärt das Uebel kurzweg für das Grundwesen der Welt. Er sagt: die Welt ist zwar so, wie sie ist, wohl die bestmögliche Welt, indem unbewusste Vernunft sie zweckmässig durchwaltet; allein gar keine Welt wäre doch noch besser; denn das Grundübel der Welt ist gerade ihr Dasein; der vernünftige Zweck der sie unbewusst leitenden Vernunft kann daher nur der sein, sie am Ende mit Bewusstsein wieder in's bessere Nichts zurückzuführen. Das kommt Ihnen w i d e r s i n n i g vor, — und Sie haben Recht. Es kommt Ihnen g o t t l o s vor, — und Sie haben wieder Recht. Und wenn Sie von dem glänzendsten Vertreter dieses Pessimismus, Ed. v. H a r t m a n n , zur Antwort bekommen: umgekehrt, nicht gottlos, sondern gottvoll ist diese Weltanschauung; denn Gott selbst ist das Grundwesen der Welt; vernunftlos war nur

464

Eine Ehrenrettung.

«ein Wille zum unseligen Dasein; allein seine Vernunft leitet ja dieses wieder zum guten Ende; das Ziel seiner vernünftigen Weltordnung ist, sich selbst wieder vom Uebel seines Daseins zu erlöset: — wenn Sie das hören, so haben Sie Recht, wenn Ihnen das vollends gottlos und widersinnig vorkommt. Einem solchen Pessimismus gegenüber fühlen Sie sich aus dem innersten Grund der Seele heraus berechtigt und gedrungen, o p t i m i s t i s c h zu rufen: nein, die Welt ist doch schön und gut und werth, darauf vergnügt zu sein, — es mag mit dem Uebel in ihr sich verhalten, wie es will! Allein, wenn die beiden Weltanschauungen einander sich ausschliessend so gegenüberstellen, dass der Pessimismus sagt: der Kern der Welt ist vom Uebel, das Gute an ihr kommt früher oder später doch nur als Illusion zum Vorschein; — der Optimismus dagegen: der Kern der Welt ist gut, und alles Uebel in ihr doch nur ein Schatten, der, ohne zu ihrem Wesen zu gehören, nur zeitweise über ihre Oberfläche dahingeleitet, um am Ende wieder ganz von derselben zu verschwinden: so haben beide ebensosehr Hecht und Unrecht, indem beide je nur die eine Seite für das g a n z e Wesen der Welt nehmen. Der Pessimismus hat keine Theodicee; er will keine; er braucht ja keine, weil er 1) keinen Gott anerkennt, der für das Uebel in der Welt zu rechtfertigen wäre, und ihm 2) auch nicht einfallen kann, die W e l t s e l b s t rechtfertigen zu wollen, weil er sie -ja für grundschlecht erklärt. Er bellt einfach den Mond an. Wenn er aber Gott selbst für den Kern der Welt erklärt und nur seinem vernunftlosen Willen die Schuld für das Grundübel, für sein Dasein als Welt, aufbürdet, die seine Vernunft am Ende ja wieder quitt mache: so ist eine solche Theodicee viel schlimmer als gar keine und eher ein Hohn auf alle Theodicee. Und doch: in einem Hauptpunkte hat und behält der Pessimismus doch Recht: dass er mit dem Uebel, wie es thatsächlich zum Wesen der Welt gehörend vorliegt, vollen Ernst macht, dass er das Uebel, das Erlebniss der Vergänglichkeit, dem nichts entgeht, was von der Welt ist, eben darum mi£ zum Grundwesen der Welt selbst rechnet und nicht in weltseligem

Eine Ehrenrettung.

455

Optimismus als einen blossen Schatten gelten lässt, der nur so über ihre Oberfläche dahingleite und nicht bis in ihre Wurzel hinab reiche. Er hat R e c h t , dass die Natur, die der Welt selbst eigene Ordnung, wie sie durch und durch zweckmässig waltend und verschwenderisch freigebig ist, so doch nicht minder erbarmungslos mit ihrem Räderwerk alles wieder zerreibt, was sie in's Dasein gerufen, dass der Todtenwurm an allem nagt, was in der Welt zum Leben gekommen. Der Pessimismus hat damit Recht. Er vergisst nur das Eine: dass vielleicht gerade auch diese Grundeigenschaft der Welt als Mittel zum heiligen Z w e c k ihres Urhebers gehört. Aber um diesen Zweck der Welt zu suchen und darin eine wirkliche Rechtfertigung des TJebelfl in der Welt zu finden, darf man freilich nicht zum voraus diesen Urheber g e s t r i c h e n , oder mit dem Wesen der Welt selbst vereinerleit haben. Der Optimismus aber hat R e c h t , dass er an einer Theodicee festhält, festhält an dem- Glauben, dass der vernünftige Urgrund der Welt seine volle Rechtfertigung für die Welt, gerade so, wie er sie begründet, mit allem Uebel, das er ihrem Dasein beigegeben, vollständig in sich selber tragen werde, in seiner Allweisheit, die es so geordnet, in seiner Allmacht, die es so durchführt, und in seiner Liebe, die einen seiner würdigen, heiligen Zweck dabei habe. Aber wie? Da reicht die Theodicee des Optimismus nicht aus, wenn sie das Uebel nicht in seinem ganzen Umfang und bis in seine Wurzeln hinab zum Grundwesen der Welt gehörend anerkennt; — wenn sie Gott doch nur entschuldigt für das Uebel, das er in der Welt zugelassen, und nicht r e c h t f e r t i g t dafür, dass er es unabtrennbar zu ihrer Kehrseite gemacht. Diese Theodicee meint es ja gut, und es schwebt ihr auch wirklich meist die Wahrheit vor (aber in einem irreleitenden Bilde), wenn Bie mit ihrer Entschuldigung Gottes für das g e g e n w ä r t i g e Uebel in der Welt darauf hinauszielt, am E n d e werde auch der letzte Schatten von Uebel von der Bildfläche der Welt wieder verschwinden, und diese dann in der ihres Urhebers allein würdigen Vollkommenheit dastehen. Da baben wir's: auf eine Voll-

456

Eine Ehrenrettung.

kommenheit der Welt selbst hat es diese Theodicee in letzter Instanz abgesehen nnd nicht auf die einzige Vollkommenheit Gottes. Sie ist im Grunde weit seliger, nicht gottseliger Optimismus. Allein nur die Theodicee eines gottseligen Optimismus hält gegenüber der Thatsache der Endlichkeit und Vergänglichkeit, als der ganzen k r e a t t t r l i c h e n K e h r s e i t e der Welt, Stich, nur d i e Theodicee, welche diese g a n z e Kehrseite der Welt, zusammen mit ihrer ganzen Lichtseite zu ihrem Ausgangspunkte nimmt, und die Welt gerade in dieser D o p p e l e i g e n s c h a f t als das z w e c k e n t s p r e c h e n d e Mittel erkennt, um den heiligen Zweck Gottes mit ihr zu verwirklichen: im kreatttrlichen Geiste, wenn dieser vom Boden der Welt aus zu wesenhafter — nicht bloss sentimentaler — Liebegemeinschaft mit seinem schöpferischen Urgründe sich erhebt, oder vielmehr von diesem selbst sich dazu erheben lässt, Gottes r e i n e s Geisteswesen als die a l l e i n i g e , aber auch absolute Vollkommenheit zu offenbaren und an sich selbst zu erfahren^ indem er selbst sein volles kindliches Theil daran erhält und damit in Gott der Sphäre enthoben ist, in welcher das Uebel das letzte Wort hat. Es ist das die Theodicee, die kaum je einer tiefer gedacht und energischer geltend gemacht hat, als nach dem Apostel P a u l u s unser Zwingli mit seinem unbestechlich nttchternem Verstand und zugleich seinem unerschütterlichen Gottesglauben. Der Nerv aber einer solchen allein der Thatsache des Uebels gegenüber stichhaltigen Theodicee beruht einzig und allein in der Wahrheit: „der Z w e c k h e i l i g t das Mittel". Im Zweck allein liegt das Heilige, das Unbedingte. Aber der Zweck h e i l i g t auch das Mittel, durch das er sich erfüllt. Ist Offenbarung des Geistes und Erweis des Geistes als das A und 0 aller Dinge der heilige Z w e c k der Welt; ist es die göttliche Bestimmung des kreatürlichen Geistes, das dieser Zweck der Welt in ihm zur E r f ü l l u n g komme; gehört zum Mittel dazu nothwendig, dass er die V e r g ä n g l i c h k e i t alles Weltdaseins dem allein ewigen Gott gegenüber an sich selber erfahre, aber auch den Sieg darüber an sich selber erfahre und bewähre in weltüberwindender Liebegemeinschaft mit dem ewigen Urgründe

Eine Ehrenrettung.

457

der Welt: — so ist für ihn a l l e s U e b e l und L e i d in der Welt geweiht als Mittel wie zur Erfüllung seiner eigenen heiligen Bestimmung, Kind Gottes zu werden, so auch zur Verwirklichung des heiligen Z w e c k e s der W e l t überhaupt, der sinnliche, zeitliche Boden für das ewige, geistige Eeich Gottes zu sein. Aufs tiefste und erschöpfendste sagt dies alles kurz der Ausspruch des A p o s t e l s : „ d e n e n die G o t t l i e b e n , m ü s s e n a l l e D i n g e zum G u t e n m i t w i r k e n , " — wenn mir jedes Wort dieses Ausspruches in seinem Vollsinn verstehen, wie der Apostel es an sich selber bewährt hat: d e n e n , d i e G o t t l i e b e n : denen Gott ihr A und 0 ist — ; a l l e D i n g e : auch alles Uebel in der Welt; — zum G u t e n m i t w i r k e n : als Mittel zum heiligen Zweck ihres Lebens. Dies ist die höchste Anwendung des Satzes: „der Zweck heiligt die Mittel". Dies darf ich daher auch wohl als das Siegel seiner Ehrenrettung betrachten.

+

D r u c k VOB O . B e r u t t l a in Berlin.