Aus der Jugendzeit: Erinnerungen [Reprint 2019 ed.]
 9783111579788, 9783111207155

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Aus der Jugendzeit

Robert Busse als Student in Heidelberg

Aus der Jugendzeit Erinnerungen von

Dr.

d.

Robert Bosse

weil. Königs, ssreuß. Staatrminister

Wit einer Silhouette

Berlin Verlag von Georg Reimer 1911

I. Vorfrühling Schicht»

Bosse, AuS der Jugendzeit

1

1. Aaser Familienname er Name Bosse wird in einer vor Jahren ein­

mal von mir durchgesehenen Sammlung nieder­

deutscher Familiennamen als gleichbedeutend mit Buchse, plattdeutsch Büsse, bezeichnet. An welche

Art Büchsen dabei zu denken sei, war nicht gesagt. Die Sprach­ forschung wird es auch schwerlich ermitteln können, ob die

Familien Bosse, Busse, Basse, Bose ihren Namen auf eine Schießbüchse, Nadelbüchse, Butterbüchse, Sandbüchse oder auf welche andre Art Büchsen zurückzuführen haben. Ungemein ver­

breitet ist der Name Bosse in der Stadt und dem Herzogtum

Braunschweig.

In dem ehemals hannoversch -lüneburgischen

Amte Ahlden liegt ein Dörfchen namens Bosse, das eine recht

armselige Sandbüchse sein soll.

Ob wir damit Zusammen­

hängen, weiß ich nicht. Ein Offizier von Bosse in Hannover hat

mir aber einmal erzählt, daß nach den Überlieferungen ferner Familie alle Bosses aus dem Braunschweigischen stammten. Das ist auch mir nicht unwahrscheinlich.

Unser Zweig der

Familie stammt nach den Angaben meines seligen Vaters aus

dem Dorfe Walbeck bei Weferlingen oder aus dem benach­

barten Schöningen bei Helmstedt, und das weist also auch

uns stark genug auf den braunschweigischen Ursprung hin.

Die Zurückführung des Namens Bosse auf Büchse oder Büsse ist

aber nicht unbestritten.

Als ich im Jahre 1884 zum

mündlichen Borttag einmal mehrere Tage in Friedrichsruh

4 war, kam das Gespräch bei Tische auch auf den Ursprung

unsrer Familiennamen, und ich teilte die vermutliche Zurück­ führung unsers Namens Bosse auf Büchse mit. Fürst Bismarck,

der sich früher mit solchen Dingen, wie er sagte, viel be­

schäftigt hatte, wies diese Etymologie als völlig unrichtig zurück.

Er erklärte es für unzweifelhaft, daß die Namen

Bosse oder Busse nichts andres seien als volkstümliche Dimi­ nutivformen (Koseformen) des Vornamens Burghard (BorgHard, Borchert), der im Volksmunde in Busso und dann weiter

in Busse oder Bosse (vergleiche auch den Namen Boshard) umgewandelt sei.

Diese Erklärung gefiel mir gut, wenn ich

auch ihre Richtigkeit nicht kontrollieren kann. Für diese Auf­

fassung des Fürsten Bismarck spricht aber, daß in der Ge­ schichte des Stifts Quedlinburg ein Ritter Bosse von Ditfurt als stiftischer Lehnsvasall vorkommt. Es ist wohl kaum zweifel­ haft, daß Bosse hier — ursprünglich wenigstens — der Vor­

name gewesen ist.

2. Die Vaterstadt ch bin am 12. Juli 1832 in Quedlinburg geboren und am 12. August desselben Jahres in der

evangelischen Markt-

oder Benediktigemeinde

dort getauft worden.

Die herrlich am Fuße

des Unterharzes, nur eine Meile von der granitnen Pforte des Bodetals inmitten einer lieblichen und fruchtbaren Land­ schaft malerisch liegende, schöne alte Kaiserstadt ist mir fest

ans Herz gewachsen. Ihre auf einer besondern geschichtlichen

Entwicklung beruhende Art ist nicht ohne Einfluß auf mein Leben geblieben.

Ich habe mich immer als Quedlinburger

gefühlt, und mit dankbarer Treue werde ich meiner Vater­

stadt zugetan bleiben bis ins Grab. Quedlinburg ist eine Schöpfung König Heinrichs des

Ersten, des Vogelstellers und Städtegründers. Das auf hohem Sandsteinfelsen von ihm erbaute stattliche Schloß überragt mit

der schönen, großen, romanischen Kirche die vieltürmige Stadt. Heinrich und seine Gemahlin Mathilde sind in der noch heute

wohl erhaltnen Krypta unter der Schloßkirche begraben, und ihre Gräber sind dort noch jetzt zu sehen. Ziemlich dicht unter

dem Schlosse heißt eine städtische Straße auch heute noch der

Finkenherd.

Nach der wenn auch nicht geschichtlich beglau­

bigten, so doch auch nicht widerlegten Sage soll hier der Ort gewesen sein, wo Herzog Eberhard von Franken, der Bruder

des Königs Konrad, dem Sachsenherzoge Heinrich, den er beim

6

Vogelfang in der Nähe des Harzes traf, die Nachricht von dessen Wahl zum deutschen König überbracht hat. Geschichtlich

unterliegt es keinem Zweifel, daß Heinrich auf Veranlassung seiner Gemahlin neben der Burg über dem Dorfe Quitlingen an der Bode ein Kloster oder Stift begründet und „begiftet"

hat, dessen Glieder, Frauen aus edeln Geschlechtern, dort, frei von strengern Klostergelübden, ihren Unterhalt finden und

dabei die Freiheit haben sollten, das Stift wieder zu verlassen

und sogar, wenn es ihnen beliebte, zu heiraten.

Unter den

Ottonen wurde dieses Stift weiter ausgebaut und reich dotiert. Schon Otto der Große etflärte diese Stiftung urkundlich für

ein freies, dem Kaiser unmittelbar unterworfnes Stift, dessen Kapitularinnen die Freiheit hatten, sich ihre Äbtissin selbst zu wählen, und zwar so, daß diese niemand als dem Kaiser selbst

und dessen Nachfolgern zu gehorchen hatte und kein König oder Bischof irgend eine persönliche Leistung von ihr sollte fordern dürfen. Daraus entwickelte sich dann allmählich das

freie, weltliche Reichsstift Quedlinburg mit der vollen, nur

dem Kaiser unterworfnen Souveränität nicht nur über die

Stadt, sondern auch über das dazugehörende, zuzeiten recht beträchtliche Gebiet. So wurde aus dem Stift ein — zuletzt freilich nicht viel mehr als zwei Quadratmeilen umfassender —

deutscher Kleinstaat mit einer höchst eigentümlichen Verfassung und Entwicklung.

Das Stift gehörte, obwohl ursprünglich

unzweifelhaft niedersächsisch, zum obersächsischen Kreise. Seine Äbtissin war eine unmittelbare Reichsfürstin und hatte Sitz

und Stimme auf dem Reichstage. 1803 bestanden.

Es hat bis zum Jahre

Früher stand es unter kursächsischer, seit

1698 unter kurbrandenburgischer und sodann unter preußischer

Schutzherrschaft, bis es infolge des Friedens von Luneville(1801)

und des Reichsdeputationshauptschlusses (1803) seine reichs­ unmittelbare Selbständigkeit verlor und unter die unmittel-

7 bare Herrschaft Preußens kam. Mein Vater hatte die letzte Äbtissin Sophie Albertine, eine königlich schwedische Prinzessin aus dem Hause Wasa, noch gekannt. Diese, eine Tochter der

Prinzessin Luise Ulrike von Preußen, einer Schwester Fried­ richs des Großen, hatte sich in Quedlinburg die Liebe ihrer

Untertanen in hohem Grade erworben, und als sie im Jahre 1803 Quedlinburg für immer verließ, um nach Stockholm zurückzukehren, war der Abschied von chr rührend und tränen­

reich gewesen. Sie ist im Jahre 1829 in Stockholm gestorben. Als ich mich im Jahre 1858 in Stockholm aufhielt, wurde

mir dort, nahe bei der Nordbrücke, ihr stattlicher Palast gezeigt,

und nie bin ich dort ohne das Gefühl eines gewissen heimat­ lichen Zusammenhanges mit diesem Hause vorübergegangen. Merkwürdig, wie weit in die Welt hinaus solche heimatliche

Beziehungen reichen können.

Zur Zeit der Chicagoer Welt­

ausstellung im Jahre 1893 traf ein Bekannter von mir vor

dem Eingänge zum Dellowstonepark in Wyoming, also im fernen Westen von Nordamerika, einen deutschen Mann, der dort mit allerhand Naturmerkwürdigkeiten und Andenken aus

dem berühmten Nationalpark handelte und sich als Quedlin­ burger, namens Otto Schmidt, zu erkennen gab.

Das hatte

zu einem Gespräch über Quedlinburg und auch über mich

und mein Ergehen geführt. Dieser Otto Schmidt, der Sohn eines ehrsamen Quedlinburger Glasermeisters, war vor fast

sechzig Jahren mit mir in unsrer Vaterstadt in die Volksschule

gegangen.

Er sandte mir, seinem alten Schul- und Spiel­

kameraden, über das große Wasser hinüber herzliche Grüße.

Natürlich spielte das stolze Kaiserschloß in Quedlinburg mit den sich daran anknüpfenden geschichtlichen Erinnerungen,

die in den Bürgerhäusern der Stadt lebendig waren, auch bei der Heranwachsenden Jugend eine große Rolle.

Ebenso,

vielleicht noch mehr die Zeit, in der die Stadt zum Bunde der

8 Hansa gehört und sich durch die Mannhaftigkeit und den Un­ abhängigkeitssinn ihrer Bürger hervorgetan hatte. Namentlich

aber war es die Fehde, oder wie sich die alten Chroniken aus­

drücken, der Krieg, den die Quedlinburger Bürger im Bunde mit den Nachbarstädten Halberstadt und Aschersleben im vier­ zehnten Jahrhundert gegen die von der Äbtissin Jutta mit der Vogtei oder Schutzherrschaft über die Stadt beliehenen

Grafen von Reinstein (Regenstein) geführt hatten.

In diesem

Kriege hatten die tapfern Quedlinburger Bürger gegen den

sein Schutzrecht arg mißbrauchenden Grafen Albert von Rein­ stein schließlich obgesiegt und den Grafen in dem sumpfigen

Terrain am Hackelteiche hinter der Bockshornschanze — die Quedlinburger sprechen diesen Namen aus: Boxohren schanze —

auf dem Wege nach der ihm gehörenden Gersdorfer Burg im Jahre 1336 gefangen, ihn in die Stadt geschleppt und dort auf dem Rathause in einem aus starken eichnen Bohlen eigens

dazu gezimmerten, kleiderschrankartigen Kasten zwanzig Monate

lang gefangen gehalten, ihm den Prozeß gemacht und ihn zum

Tode verurteilt. Dieses Todesurteil war vom Kaiser bestätigt

worden.

Das Tuch war schon beschafft, auf dem der Graf

gerichtet werden sollte, und das Schafott im Felde vor der Stadt hergestellt, als am 20. März 1338, wahrscheinlich dem

zur Hinrichtung bestimmten Tage, der Graf in letzter Stunde sich dazu verstand, in feierlichen Reversen die Rechte der Stadt

und der Äbtissin anzuerkennen, Urfehde zu schwören und die Mauern der Stadt durch die Erbauung von sieben Türmen zu verbessern. Diese Türme stehn der Mehrzahl nach, wenn

nicht alle, noch heute, und der alte Kasten, worin der Graf geschmachtet hatte, ist noch jetzt auf dem Rathausboden. Man

kann sich denken, welchen Zauber die Erinnerung an jene Zeit auf die Quedlinburger Jugend ausübte.

Wie ost haben wir

als Jungen auf dem alten Rathausboden mit den Söhnen

9 des Marktmeisters, der zugleich Rathauskastellan war, oder auch draußen an der Bockshornschanze und am Hackelteich „Albert von Reinstein" gespielt! Mein Landsmann, der Dichter

Julius Wolff, hat diesen Grafen Albert von Reinstem zum

Helden seines bekannten historischen Romans „Der Raubgraf" gemacht und damit dieser Episode in der Geschichte unsrer

Vaterstadt ein schönes und rühmliches Denkmal gesetzt. Dem Schlosse unmittelbar gegenüber, hart an der Stadt,

liegt der Münzenberg (Mons Sion), ein schroff abfallender Bergkegel, auf dessen Spitze in alter Zeit ebenfalls ein Frauen­ kloster, das Marienkloster, gestanden hat. Bis auf ganz wenige

dürftige Mauerreste ist dieses Kloster längst verschwunden. Jetzt ist an seiner Stelle ein Komplex kleiner Wohnhäuser, eine Art Straße, zu der man in meiner Jugendzeit auf einer steilen,

wohl über hundert Stufen zählenden Treppe hinaufstieg. Der Münzenberg war damals einigermaßen verrufen. Es wohnten

dort nur arme Leute, und wie man sagte, nicht ganz ehrliche. Man erzählte sich, daß wenn auf dem Münzenberg ein Kind

geboren würde, der Vater es zum Fenster hinaushalte und

sage: Das alles, was du da unten siehst, gehört dir: nur darfst du dich nicht fassen lassen.

Das war eine Schnurre,

die man erzählte, ohne sie zu glauben.

Richtig war nur,

daß dort oben auch eine Anzahl anrüchiger Leute wohnte. Die Eltern sahen es deshalb nicht gern, daß wir auf den

Münzenberg gingen.

Wir aber gingen gern hinauf; denn

die kleinen Häuschen nahmen sich ganz nett und ziemlich sauber aus, und die Aussicht von oben auf das Schloß, die Stadt, deren nächste Umgebung und weiter hinaus auf die langge­ streckten, blauen Harzberge war unvergleichlich schön.

Die Umgebung der Stadt ist von großer landschaftlicher Schönheit.

An den Münzenberg schließt sich im Südwesten

der Osterberg, auf dessen Gipfel die Oster- und die Johannis-

10 feuer abgebrannt wurden, und an diesen langgestreckt in der Rich­ tung nach dem Regensteine zu der Langenberg. Auch im Norden war die Stadt von Bergen umgeben. Da lagen der Galgen­

berg, offenbar die frühere Richtstätte, und der Kanonenbcrg,

auf dem bis zu Ende der stiftischen Zeit die Lärmkanone ge­

standen hatte. Sie wurde gelöst, wenn von der preußischen Garnison Soldaten desertiert waren. Die Ärmsten mußten, wenn sie eingefangen wurden, zur Sttafe Spießruten laufen. Mein Vater hatte auch diese entsetzliche Prozedur noch ge­

sehen, bei der der Delinquent, bevor er seinen Marsch durch die Gasse seiner spalierbildenden und mit Weidengerten auf

seinen entblößten Rücken schlagenden Kameraden anttat, eine Bleikugel in den Mund gesteckt erhielt, um darauf seinen Schmerz zu verbeißen.

Der Kanonenberg wurde hoch überragt durch

die Kuppe der Hamwarte, und hinter dieser lag der poettschc

Kuckuckswinkel, ein einsamer mit Schlehdornbüschen und wilden

Rosen bestandner, blumenreicher Rasenfleck mitten im Felde.

Mein Vater besaß dort oben ein Ackerstück, und an schönen

Sonntagnachmittagen wanderten wir im Frühling oder Sommer mit ihm hinauf in diesen Winkel idyllischer Feldeinsamkeit,

um uns am Stande der Saaten und an der schönen Aus­ sicht zu erfreuen.

Im Osten der Stadt schloß sich an die

Bockshornschanze der Bleicheberg, aus dem jetzt inmitten schöner

Anlagen ein Bismarckturm steht. Jenseits der Bode hinter dem kleinen Lustwäldchen der frühern Äbtissinnen, der Brühl

genannt, erhob sich die jetzt mit Wald angeschonte Altenburg, ein mit einem Wartturm gekrönter, mächtiger Sandsteinhügel mit einer Reihe großer und tiefer, saalartiger Höhlen.

Für

uns Jungen die erwünschtesten Spielplätze, namentlich wenn

wir mit Fackeln in die geheimnisvolle Tiefe der Gänge und Sandsteinhöhlen eindringen konnten.

Rings um die Stadt

zog sich ein Kranz großer, blühender Gärten, zu denen die

11 alten allmählich in Gärten verwandelten Stadtgräben gehörten. Dazu die mitten durch die Stadt fließende Bode mit ihren Mühlen, während ein andrer Arm des Flusses in weitem

Bogen die Stadt umfloß. Und endlich die Nähe des schönen

Harzes, und vor diesem die gigantischen Geschiebe der soge­ nannten Teufelsmauer.

Man kann sich in der Tat kaum

eine Landschaft denken, deren natürlicher Zauber stärker auf

das Gemüt der Jugend wirken könnte als diese. Bald nach dem Aufhören des stiftischen Kleinstaats war die französische Invasion gekommen.

Quedlinburg war dem

neuen Königreich Westfalen einverleibt worden, und die Re­

gierung des Königs Jeröme hatte nichts eiligeres zu tun ge­

habt, als die reichen Stiftsgüter zu parzellieren und sie einzeln gegen bares Geld zu verkaufen.

In Quedlinburg hatte sich

unter den stiftischen Zoll- und Steuerverhältnissen die Brannt­

weinbrennerei zu einem blühenden Industriezweig entwickelt. Fast in jedem fünften Hause war damals eine Brennerei. Neben dieser Spiritusindustrie bestanden einige Tuchfabriken, und an der die Stadt durchfließenden Bode hatten sich Gerbereien und Färbereien etabliert. Zahlreiche große Mühlen innerhalb und außerhalb der Stadt machten gute Geschäfte, und so er­ klärt es sich, daß die meist Ackerbau treibenden Bürger durch­

schnittlich zu Wohlstand gekommen waren, und daß Quedlin­

burg nicht ohne Grund weit und breit als eine reiche Stadt galt. Als die westfälische Regierung die Stiftsgüter verkaufte, nahmen die Bürger, was sie an barem Gelde irgend flüssig

machen konnten, und kauften damit die früher stiftischen Gärten, Güter und Äcker zu wahren Spottpreisen. Auch mein Groß­

vater hatte auf diese Weise in der Quedlinburger und der benach­ barten, ebenfalls stiftisch gewesenen Ditfurter Feldmark einen

ansehnlichen Grundbesitz erworben.

Während der Kriegs­

zeiten florierte begreiflicherweise das Brennereigeschäft, und so

12 gelang es den Bürgern, den Besitz ihrer der westfälischen Re­

gierung abgekauften Grundstücke während der Kriegs- und

der darauf folgenden knappen Jahre zu halten.

Nach den

Befreiungskriegen wurde Quedlinburg wieder preußisch. Die

preußische Regierung erkannte die Verkäufe der Stistsgüter als giltig an, der Wert des Grundbesitzes stieg später ganz bedeutend, und so geschah es, daß eine Anzahl Quedlinburger Bürgerfamilien zu sehr beträchtlichem Wohlstände gelangte. Das gilt auch von meinem Großvater Johann Andreas Bosse.

Man sollte meinen, die Quedlinburger hätten hiernach

allen Grund gehabt, gut preußisch zu sein. Jetzt sind sie es auch, und offiziell waren sie es auch in meiner Jugendzeit.

Es ist mir aber, als ich ein Knabe war, oft genug aufgefallen,

wie kühl die Quedlinburger Bürger, wenn sie unter sich waren,

den preußischen Verhältnissen gegenüberstanden. Für sie war die gute alte Zeit die stiftische Zeit. Wenn sie davon erzählten, wurden sie warm und konnten sogar begeisterte Worte finden.

Erklärlich genug. Leute mit einigermaßen engem Gesichtskreise kommen immer wieder darauf zurück, die Vergangenheit auf

Kosten der Gegenwart zu überschätzen. Das ist und war bei den Verhältnissen Quedlinburgs psychologisch ganz verständlich.

Die Strammheit des preußischen Dienstes, ein gewisses Maß

bureaukratischer Rücksichtslosigkeit, die preußischen Steuerver­

hältnisse, das alles wich von der bequemen und mit einem

starken bürgerlichen Selbstbewußtsein empfundnen Behaglich­ keit der stiftischen Zeit nicht wenig ab.

Bürgermeister und Rat hatten der Äbttssin gegenüber von jeher ein nicht geringes

Maß von Selbständigkeit beansprucht und auch durchgesetzt. Sie hatten das alles als einen besondern Vorzug, als eine Art

Würde empfunden, die sie vor den Nachbarstädten voraus hatten. Und wenn das auch im achtzehnten Jahrhundert nur noch wenig materielle Bedeutung gehabt haben mag, so hatten

13 sich doch gewisse Formen erhalten, die an die alte Bürger­ herrlichkeit erinnerten.

Schon daß Bürgermeister und Rat

zu der fürstlichen Landesherrin in einem unmittelbaren Ver­

hältnis standen, daß diese mit der Pröpstin, Dekanissin und deren Damen in der Stadt lebten und verkehrten, daß die Bürgerschaft bei den großen Festlichkeiten auf dem Schlosse gewisse Ehrendienste tat, war etwas Absonderliches, was andre

Städte nicht hatten.

Der regierende Bürgermeister war zur

stiftischen Zeit mit der Würde eines großen Herrn aufgetreten. Noch am Ende des achtzehnten Jahrhunderts ging er zum und vom Rathause auf dem breiten Stein in der Mitte der Straße,

von zwei „Liktoren" begleitet, die für ihn Platz schafften. Ich

selbst habe als Kind von ältern Bürgern erzählen hören, wie stattlich es sich ausgenommen habe, wenn der alfftädtische

Bürgermeister Christian Georg Schwalbe mit Perücke und großem spanischem Rohr durch die Straßen der Stadt stolziert

sei und die Liktoren vor ihm her gerufen hätten: Gaht op de Halbe,*) Jetzt kimmt der Borgemeester Schwalbe!

Mit dieser burgemeisterlichen Herrlichkeit war es natürlich zur preußischen Zeit vorbei. Immerhin ruhte auch in meiner Kindheit noch ein Abglanz dieser hoheitsvollen Würde auf

dem „Herrn Bürgermeister." Ich habe den letzten stiftischen, altstädtischen Bürgermeister, Schwalbes Nachfolger, namens

Donndorf, der zur westfälischen Zeit „Maire" und zur preu­

ßischen einziger Bürgermeister der Stadt geblieben war, noch ge­

kannt. Er war ein kleiner, freundlicher, höchst würdiger Herr, der nie anders als in hohem Hut und blauem Frack mit gelben Knöpfen ausging.

Dabei trug er ein spanisches Rohr mit

goldnem Knopf. Dann blieben die Leute stehn und grüßten

*) Auf die Halbe, d. h. zur Seite.

14 ihn ehrerbietig. Wir Kinder aber gingen an ihn heran und gaben ihm voll Ehrfurcht die Hand.

Er hatte dabei immer

keine neue Kupfermünzen, Pfennige oder Dreier, in der Tasche, die er an die Kinder, die ihn artig begrüßten, verteilte. Wir

hatten einen unbeschreiblich großen Respekt vor dem weiß­ haarigen alten Herrn.

Daß sich die ältere Generatton der Bürgerschaft mit der preußischen Herrschaft nur langsam und nicht ohne inneres Widerstreben befteundete, hing überdies damit zusammen, daß

man sich in Quedlinburg ungeachtet der preußischen Schutz­

herrschast ftüher niemals als preußisch, sondern ausschließlich als stifttsch angesehen und gefühlt hatte.

Gegen das preußische

Wesen hatte man sich gewehrt, und man hatte sich daran ge­ wöhnt, die preußischen Einrichtungen scharf und ganz ungeniert zu kritisieren. Man hatte sich nach außen hin abgeschlossen,

und in dieser duodezstaatlichen Atmosphäre hatte sich, genährt durch die wirtschaftlich günstigen Verhältnisse, ein engherziger,

in gewissem Sinne hochmüttger, kleinstaatlicher und kleinstädttscher Lokalpatriottsmus ausgebildet, der sehr geneigt war, alles, was „draußen" passierte, mit einer nicht immer berech­ tigten Geringschätzung zu betrachten und die eigne Persönlichkeit

mit großer Rücksichtslosigkeit zur Geltung zu bringen. Darauf wird es wohl zurückzuführen sein, daß die Quedlinburger bei

ihren Nachbarn im Geruch einer sehr naturwüchsigen, massiven

Grobheit standen. In der Tat gab es in meiner Vaterstadt eine ganze Reihe höchst eigner, grobkörniger Originale, deren

zum Teil witzige, ungeleckte Derbheit alles überstteg, was einem anderwärts von ähnlicher Art begegnete.

Bon diesen

ölten, originellen, groben Quedlinburger Bürgern zirkulierten

in meiner Jugend eine Menge höchst amüsanter Geschichten. Sie sind aber meist allzu drasttsch, als daß sie sich hier wieder­ geben ließen. Immerhin herrschte durchschnittlich in den Bürger-



15



Häusern ein guter, höflicher und sogar feiner Ton, und auf

gute, anständige Umgangsformen wurde mit Strenge gehalten.

Vielleicht war das doch auch ein Nachllang der ehemaligen Berührung zahlreicher, besser situierter Bürgerfamilien mit den

das Stift regierenden Damen, oder wie man sich in Quedlin­

burg ausdrückte, „mit dem Schlosse."

3. Das Eroßellernhaas ie Nachrichten über die Geschichte unsrer Fa­

milie sind zu meinem Leidwesen recht dürftig. Das Wenige, was ich davon habe ermitteln können, beruht wesentlich auf mündlicher Über­ lieferung und reicht nicht über das erste Viertel des acht­

zehnten Jahrhunderts zurück.

Mein Urgroßvater Johann Ernst Bosse ist in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts von Walbeck bei Wefer­

lingen aus als Böttchermeister in Quedlinburg eingewandert.

Er erwarb dort ein Haus, betrieb sein Handwerk und ist, 79 Jahre alt, im Jahre 1792 an der Brustwassersucht ge­

storben. Mein Vater war damals zwar erst fünf Jahre alt, hing aber an seinem Großvater mit besondrer Liebe. Er be­ hauptete, daß er selbst mehr nach diesem Großvater als nach

seinem Vater geartet sei, und war, als er noch kerngesund

war, überzeugt, daß er wie sein Großvater einmal an Brust­ wassersucht sterben werde.

Merkwürdigerweise hat sich diese

Annahme auch erfüllt.

Mein Großvater Johann Andreas Bosse war am 3. Fe­ bruar 1754 geboren und ist im Jahre 1836 im Alter von

82 Jahren infolge eines Schlagflusses gestorben.

Ich ent­

sinne mich nur noch dunkel seiner großen, hagern Gestalt.

Auch er war ursprünglich Böttchermeister gewesen und muß schon als solcher, also auf dem goldnen Boden des ehrsamen

17

Handwerks, zu einigem Wohlstände gelangt sein. Gegen Ende

des achtzehnten Jahrhunderts verkaufte er sein bescheidnes Haus mit der Böttcherwerkstatt und erwarb das nahe dabei

an der Ecke des Klinges dicht an der Bode liegende große und mit weitläufigen Nebengebäuden versehene Haus, worin

ich geboren bin. In diesem Gehöft betrieb er eine nach da­ maligen Verhältnissen schwunghafte Brennerei.

Das Bren­

nereigewerbe in Verbindung mit einer ausgedehnten Bieh-

mastung und einer in mäßigen Grenzen gehaltnen Landwirt­ schaft muß damals sehr einträglich gewesen sein.

Es ent­

wickelte sich in Quedlinburg zu einer ganz auffälligen Blüte.

Dies hing ohne Zweifel mit den stiftischen Steuer- und Zoll­ verhältnissen zusammen.

Sie waren weit günstiger als in

den benachbarten unmittelbar Preußischen, anhaltischen, braun­ schweigischen und hannoverschen Gebieten.

Nach diesen hin

hatte die Quedlinburger Produktion einen flotten Absatz. Überdies muß an der nahen braunschweigischen und anhaltischen Grenze ein starker und einträglicher Schmuggelverkehr bestanden haben. Über dessen Einzelheiten waren noch in

meiner Jugendzeit, nachdem der Schmuggel an den Landes­ grenzen durch den Zollverein längst sein Ende gefunden hatte, die abenteuerlichsten Schauergeschichten im Schwange. Genug,

das Brennereigeschäft meines Großvaters prosperierte in hohem Grade.

Das spätere ungewöhnliche Anwachsen seines Wohl­

stands verdankte er jedoch hauptsächlich wohl den schon er­ wähnten Erwerbungen aus den westfälischen Domänenver­

käufen. Mein Großvater war verheiratet mit Anna Rebekka gebornen Fritze.

Von beiden existieren noch gute Pastell­

bilder aus dem Jahre 1807.

Danach hatte der Großvater

ein scharf ausgeprägtes, kluges Gesicht.

Hell und mit un­

verkennbarem Humor blickt sein blaues Auge in die Welt. Bosse, 9fii3 der Jugendzeit

2

18

Die Großmutter erscheint als eine stattliche, noch immer anmuttge Frau mit freundlichen, einnehmenden Zügen. Ihr rundes, charakteristtsches Kinn findet sich bei der großen Zahl ihrer Enkel und Enkelinnen wieder, sodaß wir, die Kinder ihrer Söhne und Töchter, sehr oft auf unsre Ähnlichkeit untereinander angeredet und für Geschwister gehalten wurden, obwohl wir nur Vettern und Basen waren. Das schöne, braunseidne Kleid mit erhaben eingewirkten, kleinen Blumensträußen, worin meine Großmutter sich hat malen lassen, besitze ich noch heute. Es kann sich noch jetzt, nach fast hun­ dert Jahren, sehen lassen und ist tadellos erhalten. Die heuttgen Damenkleider werden schwerlich von derselben Halt­ barkeit sein. Meine Großeltern hinterließen fünf Kinder, zwei Söhne und drei Töchter. Eine von diesen war die Gatttn des Kaufmanns Ludwig Adolf Kramer. Er besaß am Markt ein stattliches Haus, dessen erstes Stockwerk die Großeltern be­ wohnten, nachdem mein Vater das Haus am Klinge mit der Brennerei im Jahre'1819 übernommen und der Großvater sich zur Ruhe gesetzt hatte. Es gehört zu meinen frühsten Erinnerungen, daß ich als zwei- oder dreijähriger Knabe von den Fenstern der Wohnung der Großeltern aus den damals berühmten Seiltänzer Kolter gesehen habe. Dem Kramerschen Hause gegenüber lag auf der andern Seite des Marttes der städtische Ratskeller. Aus einer Dachluke des Ratskeller­ gebäudes war ein Sell in beträchtlicher Höhe quer über den Martt gespannt und auf dem Boden eines der gegenüber­ liegenden Häuser befestigt. Auf diesem Seil überschritt Kolter mit einer langen Balancierstange den Markt. Sein größtes Kunststück aber war, daß er aus dem Dachbodenfenster des Rathauses eine zu diesem Zweck besonders konsttuierte Schieb­ karre mit einem vergitterten Kasten auf dem Seile vor sich

19

herschob, in der Mitte des Seiles Halt machte, den Kasten öffnete nnd damit einer Anzahl Tanben die Freiheit gab, die lustig davonfiogen. Bei dieser Gelegenheit wurden wir bei unserm Großvater mit Kaffee und Pfannkuchen, die man in Quedlinburg Prilken nennt, bewirtet. Bon den Geschwistern meines Vaters besaß sein älterer Bruder Ernst ebenfalls eine Brennerei in Quedlinburg, und zwar am Finkenherde. Er ist früh gestorben und hat nur einen Sohn, Karl Bosse, hinterlassen. Diesem gehörte der ehemalige große Propsteigarten vor dem Neuweger Tor. Er war einer der ersten, die damals die nachher zu großer Blüte gelangte Kunst- und Handelsgärtnerei in großem Umfange betrieben. Die drei Schwestern meines Vaters waren sämt­ lich in Quedlinburg verheiratet und lebten in solidem Wohl­ stände. Die älteste, Elisabeth, war die Gattin des Kauf­ manns Kohlmann, eine strenge, aber untadlige, kluge Frau. Ihr Rat gab in allen Familienangelegenheiten den Ausschlag. Die zweite war die schon erwähnte Gattin des Schnittwaren­ händlers Kramer am Markt, eine feine, wohl allzu zartbe­ saitete Frau. Sie hat sich nach der Erzählung meines Vaters darüber zu Tode gegrämt, daß ihr übrigens trefflicher Mann Freimaurer geworden und dadurch genötigt gewesen sei, ein Geheimnis vor ihr zu haben. Die dritte war an den Weiß­ gerbereibesitzer Ernst Ahlemann verheiratet. Sie steht mir als eine kleine, liebreiche Matrone vor Augen. Sie beschenkte uns Kinder, wenn wir mit einer Bestellung zu ihr kamen, regelmäßig mit den herrlichsten Äpfeln und Birnen, die sie in ihrem an der Bode gelegnen Hausgarten in Fülle erntete. Sie las mit Vorliebe Klopstocks Messias und schrieb sich lange Stellen daraus ab. Ich hatte aber immer den Eindruck, daß sie sich unter dem Druck ihres worckargen, mürrischen, ja finstern Mannes nicht recht glücklich fühlte.

20

Die Geschwister meines Vaters und dieser hielten unter­ einander gute Freundschaft. Die Großeltern wurden von ihnen respektvoll noch mit Sie angeredet. Untereinander redeten sich die Schwäger mit „Herr Bruder" an, obwohl sie sich duzten. Sie besuchten sich von Zeit zu Zeit, um Rat miteinander zu Pflegen. Einen eigentlich geselligen Familien­ verkehr untereinander aber hatten sie nicht. Ich entsinne mich nicht, daß diese unsre nächsten Tanten und deren Männer jemals festlich bei uns gegessen hätten. Das war nicht Mode, mag aber auch an den eigentümlichen Verhältnissen meines Vaterhauses gelegen haben, die meinen Vater der Geselligkeit entfremdeten. Zweifellos gehörte mein Großvater zu den angesehensten Bürgern der Stadt. Auch seine Kinder hatten sämtlich einen untadligen, guten Namen. Um ihre Häuser schwebte ein Hauch unantastbarer, bürgerlicher Solidität.

4. Da- Elternhaus ein Vater war am 17. April 1787 geboren. Er war ein

stattlicher, kerngesunder Mann,

freundlichen und wohlgebildeten Angesichts, mit blauen Augen und vollem, natürlich gelocktem, dunkelm Haar, das er in seiner ganzen Fülle fast ohne einen Schimmer von grau mit ins Grab genommen hat.

Seine

Haltung war gerade, sein Wesen offen und herzgewinnend,

sein Gang schnell und sicher.

In seinen Bewegungen leb­

haft, ließ er sich gleichwohl in seiner äußern Haltung nie­ mals gehn.

Er war streng in seinen Grundsätzen, mild in seinem Urteil über andre, sehr schlicht und einfach in seiner Lebens­

weise, von kirchlicher, aber der Zeit entsprechend rationalistischer Gesinnung.

Diese gewann erst im letzten Jahrzehnt seines

Lebens eine positivere Gestalt. Er ging gern und fleißig zur

Kirche.

Der Predigt folgte er mit Aufmerksamkeit, und er

wußte ihren wesentlichen wiederzugeben.

Inhalt mit sicherer Geläufigkeit

Er respektierte die Obrigkeit

und

die ihm

zunächst stehende Autorität, den Landrat, den Bürgermeister, die Geistlichen

und

namentlich

die Lehrer

seiner Kinder.

Politisch war er seiner innersten Neigung nach liberal.

Nicht

immer konsequent in liberalen Anschaltungen, aber doch immer

geneigt, einem gesunden Fortschritt zu huldigen, neue Ideen, die er als gut erkannte, zu acceptieren. Bor dem Alten und

22 Hergebrachten hatte er, nur weil es das Herkömmliche war, wenig, und wie ich glauben möchte, zuweilen wohl etwas zu

wenig Respekt. Gleichwohl schützten chn die ungemeine Soli­ dität seiner Persönlichkeit und sein gesunder Menschenverstand vor Neuerungssucht und unpraktischen Experimenten.

Er

war nicht philiströs und konnte sich bei heiterer Laune auch wohl einmal über die kleinliche Philisterei höher stehender

Personen in seiner harmlosen Weise belustigen. Er war ein Mann der guten Sitte und der bürgerlichen Ordnung, aber von dem spezifisch preußischen Sinne, wie er sich namentlich

seit dem Jahre 1848 — oft vielleicht etwas gar zu anspruchs­

voll und aufdringlich — geltend machte, hielt er nicht viel. Über unsre preußischen Könige, von Friedrich dem Großen bis zu Friedrich Wilhelm dem Merten, konnte er recht hart

und nicht immer gerecht urteilen. Das lag wesentlich an den

Verhältnissen, unter denen er ausgewachsen war. Uns Jungen wurde in der Schule die preußische Geschichte, wenn auch ziemlich dürftig, doch immerhin so gelehrt, daß wir stolz darauf waren, Preußen zu sein. Mit Staunen und nicht ohne eine

gewisse Betrübnis merkte ich schon früh, daß mein Vater und auch einzelne Leute seines Umgangskreises dieser unsrer naiven preußischen Begeisterung oft recht kühl gegenüberstanden. Den

alten Fritz ließ man als Feldherrn und als Kriegshelden allenfalls gelten. Archenholtzens Geschichte des Siebenjährigen

Krieges war in meines Vaters Besitz und wurde auch fleißig

gelesen. Aber über die Regierung Friedrichs, über seine Zoll­ einrichtungen, seine Münzpolitik, seine mit dem Alter ge­

wachsene tyrannische Strenge und seine Hofverhältnisse hörte

man desto härtere und oft ganz ablehnende Urteile. Friedrich Wilhelm dem Dritten ließ man für seine Person ein gewisses Maß von Gerechtigkeit widerfahren, aber warm oder gar be­

geistert sprach man nicht von ihm.

Erst als nach seinem

23 Tode sein „letzter Wille" bekannt wurde, schlug diese kühle Stimmung um, und mein Vater kaufte ein damals viel ver­

breitetes Kunstblatt, auf dem dieser „letzte Wille" mit goldnen Lettern abgedruckt war, ließ es einrahmen und hängte es in

unsre Wohnstube.

daß man die

Das hinderte aber nicht,

staatlichen Einrichtungen oft sehr herb beurteilte.

Für die

Armee, oder wie man sich damals ausdrückte, das Militär hatte man wenig Sympathien, obwohl die Bürger mit ihrer

Garnison, zwei Schwadronen des siebenten Kürassierregiments, jetzt Seydlitz-Kürassiere, und namentlich auch mit den Offi­ zieren auf gutem, zum Teil sogar freundschaftlichem Fuße standen. An Krieg glaubte man überhaupt nicht mehr. Das

ganze Militärwesen galt darum den alten Bürgern, die nicht Soldat gewesen waren, als ein ziemlich überflüssiges, kost­ spieliges Spielwerk. Mein Vater war ein entschiedner Gegner

der Mahl- und Schlachtsteuer, der sogenannten Accise.

Er

schwärmte und in gewissem Sinne agitierte er auch für direkte Steuern.

Auch die Maischraumsteuer für die Branntwein­

brennerei mit ihren in der Tat sehr lästigen Deklarationen und Kontrollen war ihm ein Dorn im Auge. Über alle diese

Dinge habe ich als Kind in meinem Elternhause oft dispu­ tieren hören, und nicht immer war ich überzeugt, daß die kritischen und unzufriednen Stimmen Recht

hätten.

Am

wenigsten Verständnis hatte ich für die kühle, zuweilen eisige

Haltung, die mein Vater unsrer vielleicht unklaren, aber be­ greiflichen preußischen patriotischen Begeisterung entgegensetzte. Ich hing an meinem Vater mit der innigsten Liebe und dem

größten Respekt, und meine Zweifel über die Berechtigung der von ihm vertretnen politischen Ansichten taten dieser Liebe und diesem Respekt auch keinen Abbruch.

Aber zuweilen

empfand ich diese Zweifel doch als einen dunkeln Punkt, über den ich mir recht törichte Gedanken machte.

24 Mein Vater war seit dem Jahre 1819 verheiratet mit Do­

rothea gehonten Sachse aus dem nahen anhaltischen Städtchen

Gernrode. Dieser Ehe waren vier Kinder, zwei Töchter und zwei Söhne entsprossen.

Ich war das dritte Kind und zwei

Jahre älter als mein Bruder Gustav.

Er ist später nach

Brasilien ausgewandert und dort während des Krieges gegen

Paraguay in einem Lazarett gestorben.

Während die Ehe meiner Eltern anfänglich sehr glücklich

gewesen war, trat im Jahre 1835 ein tiefer Riß zwischen ihnen ein.

So tief, daß er zur Trennung der Ehe führte.

Meine Mutter zog nach Gernrode, wo ihre Eltern bei einer mit dem Bürgermeister Sobbe verheirateten jüngern Tochter

lebten. Ich erinnere mich aus jener Zeit nur, daß wir Kinder trotz der Scheidung öfter für längere Zeit bei der Mutter

in Gernrode sein durften.

Dort habe ich die Masern über­

standen und die ersten Stiefel bekommen, auf die ich stolz war.

Ebenso entsinne ich mich, daß meine Mutter, eine

schöne, stattliche Frau, einmal in Quedlinburg war und mich zu einem Besuche bei Bekamtten aus dem väterlichen Hause

abholte.

Sie starb, als ich noch nicht vier Jahre alt war,

plötzlich an den Folgen eines Nervenfiebers.

Diese Krankheit

hatte sie sich durch ein heftiges Erschrecken über Diebe, die

Nachts bei ihr einbrechen wollten, zugezogen.

Einen tiefen

Eindruck hat aber ihr Tod bei mir nicht hinterlassen.

Ich

werde davon kaum etwas gewußt und begriffen haben. Wie ich später erfuhr, ist mein Vater vor ihrem Tode zu ihr hinaus nach Gernrode geritten, und es hat auch noch eine

volle Versöhnung auf dem Sterbebette stattgefunden.

Unser

jüngster Bruder wurde in Gernrode erzogen, tat aber nicht

gut und ist später auf meine imb meiner Tante Sobbe Kosten nach Amerika ausgewandert.

Dort lebte in Pennsylvanien

ein Bruder meiner Mutter, der hier als das enfant terriblc

25 der Familie gegolten hatte.

Er sollte drüben Quäker und

seitdem ein ordentlicher Mann geworden sein. Mein jüngster Bruder aber ist in Amerika vollständig verschollen und später

hier gerichtlich für tot erklärt worden.

Die Katastrophe der Ehescheidung hatte meinen Vater bis in das innerste Mark seines Lebens erschüttert. Noch in

spätern Jahren sprach er davon, wenn auch selten und immer

nur kurz und andeutungsweise, mit tiefer seelischer Erregung als von der furchtbarsten Zeit seines Lebens.

Begreiflicher­

weise hat dieses Ereignis auch über meine Kindheit manchen

düstern Schatten geworfen. Mein Vater hatte keine wissenschaftliche Bildung em­

pfangen.

Er hatte die Volksschule und dann bis zu seiner

Konfirmation das Gymnasium besucht, war aber nicht über die Tertia hinausgekommen.

Dann hatte ihn sein Vater in

das Geschäft genommen und ihn schon früh mit selbständigen

geschäftlichen Aufttägen betraut.

Deren resolute und glück­

liche Erledigung erwähnte er gern und nicht ohne Genug­ tuung.

Als er zur westfälischen Zeit Soldat werden sollte,

wurde für ihn ein Stellvertteter gekauft.

Dieser wurde zur

Armee nach Spanien geschickt und ist dort vor Barcelona gefallen.

Als es sich später im Jahre 1813 um die Ab-

schüttlung der französischen Fremdherrschaft handelte,

trat

mein Vater als Freiwilliger bei den Thaddenschen Jägern ein, equipierte sich selbst und wurde auch in dem benach­

barten Blankenburg ausexerziert. nicht, aus

hat

darum

nommen.

Er ist aber — ich weiß

welchen Gründen — nicht mit ausgerückt und an

den

Befreiungskriegen

aktiv

nicht teilge­

Das hinderte aber nicht, daß an den Sonntags­

nachmittagen, wenn seine Freunde und Altersgenossen ihn

besuchten, die Einzelheiten der von diesen mitgemachten Ge­

fechte und erlittnen Strapazen

bei uns sehr eingehend er-

26 örtert wurden. Einer von ihnen hatte bei Ligny im Vorbei­ marschieren Blücher unter seinem Pferde liegen und Nostiz

mit blankem Säbel über ihn wachen sehen.

Wie oft habe

ich den berühmten Gewaltmarsch von Ligny nach Quatrebras,

die Ankunst des Blücherschen Korps bei Belle-Alliance, den Angriff der stanzösischen Garden und die schließliche Flucht Napoleons von Augenzeugen in höchst lebendiger Darstellung schlldern hören! Man kann sich vorstellen, mit welchem Ver­

gnügen und welcher Begeisterung wir Jungen diesen Er­ zählungen atemlos lauschten.

Mein Vater war für die zur Zeit seiner Geschäftsüber­ nahme einfachen gewerblichen Verhältnisse ein praktischer und

ruhiger Geschäftsmann. Was ihm aber abging, war die kauf­

männische Schulung. Er hat diesen Mangel in spätern Jahren oft bitter beklagt. Er war ungemein wissensdurstig und las viel, sodaß er als gebildeter Mann gelten konnte und galt. Auch schrieb er gewandt und gern.

Aber seine geschäftliche

Buchführung war, obwohl er die Geschäftsvorkommnisse sorg­ fältig in seine gewissenhaft geführten Bücher eintrug, nicht

übersichtlich genug, und seine wiederholten Versuche, dies zu bessern, hatten auf die Dauer keinen Erfolg. Das Betriebs­ kapital, der Umsatz und die Einnahmen aus seinem Grund­

vermögen, namentlich die Pachten und die Zinsen, waren nicht

immer streng gesondert. Das erschwerte natürlich einen sichern Überblick über seine geschäftliche Lage. Solange die Konjunk­ turen günstig blieben, trug das wenig aus. In spätern Jahren aber mußte er doch allmählich wahrnehmen, daß das Geschäft

zurückging und sein Vermögen sich verminderte. Seine gesamte Geschäftslage mit Klarheit und Sicherheit zu kalkulieren, ge­

lang ihm nur unvollständig.

Das bedrückte ihn, und in der

Mitte der fünfziger Jahre entschloß er sich, das Geschäft zu verpachten und als Rentner zu leben.

Bei seiner einfachen

27 Lebenshaltung reichte sein väterliches Erbe dazu aus.

So­

lange er aber sein Geschäft betrieb, war er unermüdlich fleißig

und rührig. Er war ein Frühaufsteher und tat seine Pflicht ohne jede Rücksicht auf persönliches Behagen.

Gegen uns

Kinder war er gütig und liebreich, in seinen Anforderungen aber streng.

Unarten ließ er nicht durchgehn, und Zärtlich­

keiten waren in unserm Hause nicht Mode.

Die einfache, schlichte Art meines Vaters, sein sicherer Takt, seine Selbständigkeit und Selbstzucht, seine ernste Pflicht­ treue, seine durch und durch gesunde, bürgerlich einfache Lebens­

haltung, seine jederzeit hilfsbereite Menschenfteundlichkeit ver­ schafften ihm nicht nur bei uns Kindern und in unserm Hause, sondern in weiten Kreisen großes Vertrauen, Ansehen und

Respekt. Er war wiederholt Stadtverordneter, und für viele Leute war er in aller Stille Vertrauensmann und autori­ tativer Ratgeber.

Er war durchaus bescheiden und für sich

anspruchslos, aber niemals furchtsam, nie unsicher in seinem Auftreten, dabei durch

und durch wahrhaftig und Höher­

gestellten gegenüber ganz unbefangen und von einem edeln

Freimut. Er hielt auf Anstand und gute Sitte auch in äußern

Dingen.

Bei aller Sicherheit seines Auftretens ist er mir

immer als ein wahrhaft vornehmer Mann erschienen. Meine spätern Lebensführungen haben mich vielfach mit den höhern Gesellschaftsschichten in Verbindung gebracht. Dabei ist es mir oft zum Bewußtsein gekommen, welche guten, sichern, gesell­ schaftlichen Formen mein Vater aus seiner innerlich vornehmen Gesinnung gewonnen hatte. Er hatte die wahre, rein mensch­

liche Herzensbildung, und diese deckt sich mit echter Vornehm­ heit.

Ohne diese Bildung des Herzens sind alle vornehmen

Allüren doch nur Tünche und Scheinwesen.

Wo aber diese

Herzensbildung die tiefste Triebfeder des persönlichen Handelns und Auftretens ist, da sind auch gute äußere Formen und

28 Manieren ihr natürlicher Ausfluß. Nur da, wo es so steht,

vollenden diese das wohltuende Bild einer harmonischen, ge­ schlossenen Persönlichkeit.

Mein Vater hatte nach der Trennung von meiner Mutter

eine schon in reifern Jahren stehende Tochter seiner jüngern Schwester, der schon erwähnten Tante Ahlemann, zur Führung

der Wirtschaft in sein Haus genommen. Er selbst war durch den lebhaften geschäftlichen Verkehr stark in Anspruch ge­

nommen und konnte sich um uns Kinder tagsüber nicht viel kümmern. Unsrer Cousine Hannchen Ahlemann fiel somit bis zu einem gewissen Grade auch die Pflege und Erziehung der

Kinder zu. Sie mag es auch recht gut mit uns gemeint haben.

Die Mutter aber ersetzte sie uns in keiner Weise. Sie war schon damals eine wunderliche, religiös überspannte alte Jungfer.

Sie gefiel sich in allerhand Seltsamkeiten und Pedanterien,

die natürlich auch uns Kindern nicht entgingen.

Sie hatte

farbige Karten mit biblischen und andern Sinnsprüchen an­

geschafft.

Jeden Sonnabend Abend bekamen wir von ihr je

nach unserm Betragen eine rote, grüne oder weiße Karte, die

wir dem Vater vorzeigen mußten.

Diese Einrichtung der

farbigen Karten, die den Kindern am Wochenschluß gleichsam

als Quittung über ihr sittliches Verhalten gegeben wurden, war damals auch in den Volksschulen eingeführt.

Es sollte

auf den Ehrgeiz der Kinder wirken. Diese mußten die Karte

zuhause den Eltern vorlegen

und sie am Montag in der

Schule zurückgeben. Bewährt hat sich diese Einrichtung nicht.

Die weißen Karten — sie waren die niedrigste Sorte — wurden wenig oder gar nicht beachtet.

Die grünen und die

roten aber wirkten mehr auf die falsche Eitelkeit der Kinder, als daß sie ein gesunder Antrieb zu Fleiß und Wohlverhalten gewesen wären.

Bei den ärmern Kindern bestand überdies

ein Mißtrauen, als ob bei der Verteilung der Karten die

29

Kinder der angesehenern und besser gestellten Eltern begünstigt werden möchten. Die ganze Einrichtung wurde auch in der Schule bald wieder abgeschafft. Ich entsinne mich nur, daß ich noch in der untersten Schulklasse solche Karten bekommen habe. Sie waren ein falsches und unpraktisches pädagogisches (Sgperiment. Am allerverkehrtesten aber war die Übertragung dieses Experiments auf das häusliche Leben. Unsre Cousine Hannchen Ahlemann hat jedenfalls bei uns damit keine be­ sondern Geschäfte gemacht. Ihre ganze wunderliche Persön­ lichkeit hatte für uns einen leichten Stich ins Komische und hinderte den für eine gesunde Erziehung unentbehrlichen Re­ spekt. Die Ärmste hat später im Irrenhause geendigt. Uns Kindern aber fehlte die Mutter.

5. Dir Weite Mutter m März 1838 verheiratete sich mein Vater wieder,

und

zwar

mit

einer

Tochter

des

Strumpfwarenfabrikanten Eberhard Fritsch in

Halle an der Saale.

Sie hatte ihrem Groß­

vater von mütterlicher Seite, einem wohlbegüterten Landwirt Koch in Quedlinburg, die Wirtschaft geführt, und nach dessen Tode hatte mein Vater sie kennen gelernt, Gefallen an ihr

gefunden und sich mit ihr verlobt.

Sie war im Jahre 1813

in Halle geboren, bei ihrer Verheiratung also fünfundzwanzig

Jahre alt.

Schon als Braut gewann sie unser kindliches

Vertrauen.

Sie ist uns eine gute und sorgsame Mutter

gewesen.

Sie hat meinen Vater lange überlebt, und ich bin

mit ihr bis zu ihrem Tode in Liebe und Dankbarkeit ver­

bunden geblieben.

Ihrer Ehe sind noch zwei Kinder ent­

sprossen, Arnold, geboren 1838, und Anna, ein Nachkömmling aus dem Jahre 1848. Beide haben mir sehr nahe gestanden.

Mein Bruder Arnold war von jeher von großer Herzens­

reinheit, eine durch und durch gesunde, fröhliche, tief religiöse und praktische Natur.

Er wurde ein tüchtiger Landwirt und

starb im Jahre 1863 in Hackpfüffel unter dem Kyffhäuser als Ökonomieinspektor auf dem dortigen gräflich Kalkreuthschen

Gute an einer Darmzerreißung. alten Friedhofe in Roßla beerdigt.

Wir haben ihn auf dem

Sein früher Tod gehört

zu den schwersten Führungen meines Lebens. Meine jüngste

31

Schwester Anna verheiratete sich später mit dem Kaufmann Koch in Quedlinburg, starb aber früh an den Folgen eines Wochenbetts.

Sie ruht in unserm Erbbegräbnisgewölbe auf

dem Brühlkirchhof in Quedlinburg.

Durch die Wiederverheiratung meines Vaters wurde das Leben im Elternhause wieder traulicher.

Ich habe das, so

jung ich noch war, dankbar empfunden.

Zuhause war ich

das älteste Kind.

Meine älteste Schwester war von der

zweiten Schwester

unsrer rechten Mutter, der kinderlosen

Gattin des Hofgärtners Ernst Bornemann in Ballenstedt, an Kindesstatt angenommen worden und wurde dort wie ein Kind des Bornemannschen Hauses erzogen.

Im Jahre 1838

verheiratete sie sich mit dem jüngern Bruder ihres Pflege­

vaters, dem Oberförster Wilhelm Bornemann in Tilkerode.

Seitdem war meine zweite Schwester Friederike im Borne­ mannschen Hause in Ballenstedt an ihre Stelle getreten.

Zwischen uns und den Ballenstedtern bestand aber unaus­

gesetzt ein reger Verkehr.

Die Dienstwohnung meines Onkels

Bornemann war das am äußersten Ende der weitläufigen Schloßgärten vor Ballenstedt liegende grüne Haus.

Dort

hatte er seinem Bruder und meiner Schwester eine überaus glänzende Hochzeit ausgerichtet.

Für diese Hochzeit war auf

dem Hofe des grünen Hauses ein besondrer bretterner großer Saal hergerichtet und mit grünem Tannenreisig und Blumen

dergestalt befleidet worden, daß man von den Holzwänden nichts sah.

Hier wurden der Polterabend und die Hochzeit

in großartiger Weise gefeiert.

Die Trauung fand in der

Schloßkirche statt, und unvergeßlich ist mir der stattliche

Brautzug, der sich an einem herrlichen, sonnenhellen Herbst­

tage durch den schönen Schloßgarten hinauf nach der Schloß­ kirche bewegte, der Bräuttgam in großer Galauniform mit hohen Süefrln und weißen ledernen Beinkleidern, neben ihm

32 meine ungewöhnlich hübsche Schwester Julie im weißen Braut­

kleide und Myrtenschmuck, und hinter ihnen der lange, fest­ liche Hochzeitszug.

Damals

habe

ich zum erstenmal die

Ahnung eines poetischen Eindrucks von einer lebensvollen Festfeier bekommen.

Freilich stach dagegen die Prosa des

von dem unruhigen, alltäglichen Geschäftsverkehr durchfluteten

Vaterhauses in Quedlinburg grell genug ab. In meinen spätern Jugendjahren habe ich während der

Schulferien im grünen Hause vor Ballenstedt oft sehr glück­

liche Tage verlebt.

Wenn Onkel und Tante Bornemann

mich für einige Tage zu sich einluden, dann wanderte ich

mutterseelenallein, aber fröhlich durch die füllen Felder von

Quedlinburg über den Bicklinger Turm nach dem Zehling. So hieß eine Fasanerie und große Obstplantage unter dem Gegensteine, einem Stück der Teufelsmauer.

Bon der Höhe

des Zehlings konnte ich dann das grüne Haus schon liegen

sehen.

Das Nachtzeug brachte mir die Botenfrau mit, die

an zwei Tagen der Woche regelmäßig von Ballenstedt nach Quedlinburg unb zurück ging.

Das grüne Haus war für

mich das Ideal einer mit Geschmack eingerichteten, harmonischen

und poetischen Wohnung.

Meine Verwandten waren wohl­

habend, der Onkel ein schöner, geistvoller und gebildeter Mann mit weltmännischen Manieren, die Tante etwas peinlich, aber

gegen mich

voll liebenswürdiger Freundlichkeit, ihr ganzer

Haushalt ein Muster sauberer Akkuratesse und eleganter Be­

haglichkeit.

Der Onkel nahm mich dann mit durch die ihm

unterstellten herzoglichen Gärten und Obstplantagen und er­ zählte dabei von seinen Reisen — er hatte zu seiner Aus­

bildung einige Jahre in Holland und Frankreich gelebt —, und die Tante suchte mich äußerlich ein wenig mehr zuzu­

stutzen, als es zuhause üblich war.

Ich ließ mir das gern

gefallen und fühlte mich dort immer ungemein wohl.

Wenn

33 ich nach Quedlinburg zurück mußte, so hatte ich regelmäßig einige Tage lang förmliches Heimweh nach Ballenstedt. Da­

von durste ich mir steilich zuhause nichts merken lassen. Aber ich habe, so schnell nach der Art der Jugend und bei meinem

lebhaften Temperament diese Heimwehsttmmung auch wieder verflog, damals oft das klare Bewußtsein gehabt, daß ich mich im grünen Hause glücklicher fühlte als im väterlichen. Gewiß hätte es nicht so sein sollen.

doch nicht bloß auf meiner Seite.

Die Schuld lag aber

Das unruhige, geschäft­

liche Treiben und Hasten im Elternhause trat so stark in

den Vordergrund, daß wir kaum jemals ttaulich zu den Eltern flüchten und unsre kleinen Anliegen vor ihnen aus­ schütten konnten.

Die schöne, sttlle, idyllische Harmonie des

Zusammenlebens, die ich im grünen Hause fand, suchte ich

daheim nur zu oft vergebens.

Zuweilen durste ich die Ferien auch in Gernrode im Hause der überaus liebreichen jungem Schwester meiner ver­ storbnen Mutter verleben.

Onkel Sobbe, ihr Mann, war

Bürgermeister und besaß dort ein schön gelegnes,

großes,

ertragreiches Landgut, das er selbst bewirtschaftete.

Auch

dort habe ich mich als Kind immer sehr wohl gefühlt.

Das

Leben war hier freier, ungezwungner und in gewisser Hinsicht

großartiger als in Ballenstedt.

Der große, überaus wohl-

häbige Sobbesche Haushalt war ungemein gastlich. Das Haus

wurde kaum leer von Besuch.

In dem viele Morgen großen

Garten konnten wir uns nach Herzenslust austoben, auf die Bäume klettern, von dem im Überfluß vorhandnen Obst aller Art so viel essen, wie wir Lust hatten.

Vor den Fenstern

des Wohnhauses lag der Wiesenhof, eine mit Hecken und Bäumen eingefaßte, von Bewässerungsgräben durchschnittne,

große Wiese, die ebenfalls zum Gute gehörte.

Da wurden

von uns Dämme gebaut und Wasserrillen gegraben, Vögel Losse, ÄU6 der Jugendzeit 8

34 in Sprenkeln gefangen, Schalmeien aus frisch abgeschälter

Weidenrinde hergestellt, kurz alle für einen Jungen erdenk­

liche Kurzweil getrieben.

Nachmittags gab es gemeinsame

Spaziergänge in den nahen Wald, hei denen draußen das mitgenommene Abendessen verzehrt, auch gesungen und getanzt wurde.

Der lebhafte Verkehr

von Gästen aller Art im

Sobbischen Hause, der Umgang mit meinem nur einige Jahre

ältern Vetter Eduard Sobbe und mit dessen Schwester Antonie, einem sehr hübschen, fein erzognen, jungen Mädchen, die länd­

liche Freiheit und das Bewußtsein, nicht lästig zu fallen, sondern von der gütigen Tante mit besondrer Liebe gehegt

zu werden, das alles verlieh dem Aufenthalte in Gernrode einen noch heute unvergessenen, poetischen Zauber.

Ganz

großartig war die Hochzeit meiner Cousine Antonie Sobbe mit dem Gutsbesitzer Franz Hogrefe.

Sie wurde kurz nach

der Hochzeit meiner ältesten Schwester und mit nicht geringerm

Aufwande auf dem Stubenberge bei Gernrode gefeiert.

Mit

mir war eine Anzahl gleichaltriger, entfernter Bettern da,

und wir haben uns in dem Hochzeitstrubel sehr unnütz gemacht

und viel Unfug getrieben.

Obwohl ich noch ein kleiner Junge

war, machte doch die Traurede in der Kirche einen tiefen

Eindruck auf mich.

Ja ich kann sagen, daß dies der erste

religiöse Eindruck war, den ich empfangen habe. Der Trau­

text war aus dem Buche Ruth, Kapitel 1, Vers 16 und 17 entnommen: „Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch.

und dein Gott ist mein Gott.

Dein Volk ist mein Volk,

Wo du stirbst, da sterbe ich

auch, da will ich auch begraben werden.

Der Herr tue mir

dies und das, der Tod muß mich und dich scheiden."

Ich

habe diesen Text und diese Traurede nie wieder vergessen.

Die schöne Braut weinte bei der Trauung bittere Tränen.

Sie kam mir, weil sie so weit von dem schönen Gernrode wegziehn sollte, äußerst bedauernswert vor.

Sie ist aber in

35 Ostpreußen sehr glücklich geworden.

Ihr Mann war später

konservativer Abgeordneter und ist viel später als seine Frau, nämlich erst im Jahre 1896 gestorben.

Wir sind uns aber

seltsamerweise im spätern Leben nie näher getreten. Zu solchen Festlichkeiten fuhr unsre zweite Mutter mit uns.

Der Vater blieb, wenn er es schicklicherweise irgend

einrichten konnte, lieber zuhause.

Ganz hat er die Schatten

niemals mehr verwunden.

der Vergangenheit

Je länger,

desto mehr entzog er sich der Geselligkeit außer dem Hause.

Zuhause aber konnte er zuzeiten wieder heiter und fröhlich sein.

Er hatte ein

treffliches Gedächtnis und wußte un­

gemein lebendig und anschaulich zu erzählen.

Am meisten interessierten uns Jungen seine Erzählungen aus der Franzosenzeit.

An einem Sonntagmorgen des Jahres

1806 — so schilderte er das erste Eintteffen der Franzosen

in Quedlinburg — war ein nahe bei unserm Hause wohnender

Schneider Kampf, wegen seiner Statur der kleine Kampf genannt, nach dem etwa eine Meile westwärts gelegnen Dorfe

Warnstedt gegangen, um einem seiner dortigen Kunden einen neuen Anzug hinauszuttagen.

Noch ehe er Warnstedt erreicht

gehabt, hatte er gesehen, daß fremde Truppen ihm entgegen­

marschierten.

Bevor diese seiner habhaft werden konnten,

hatte der kleine Kampf flugs kehrt gemacht und war über Hals und Kopf nach Quedlinburg zurückgerannt.

In den

Sttaßen der Stadt hatte er durch den Ruf „Die Franzosen kommen!" die Einwohnerschaft mobil gemacht und in Be­

stürzung versetzt.

Im ersten Schreck hatten viele Bürger

ihre Häuser verschlossen und verrammelt, Geld und Wert­ sachen zusammengerafft und sie, so gut es in der Eile hatte gehn-wollen, in den Kellern oder auf den Hausboden versteckt. In der Tat kamen denn auch die ersten französischen Sol­

daten dem Schneider Kampf auf dem Fuße nach und drangen

in kleinen Trupps marodierend in die Häuser ein. 3*

Die

36

verschlossenen Haustüren wurden mit Äxten eingeschlagen, und bald standen auch in unsrer guten Stube Franzosen vor meinem Großvater und verlangten drohend de Fargent Mein Großvater hatte vorsorglich einige Geldrollen voll Groschen und kleinen, sogenannten Silbersechsern zurückbe­ halten. Davon gab er einige den kauderwelschenden fran­ zösischen Soldaten. Sie zerbrachen die Rollen, und als sie die winzigen Münzen sahen, warfen sie diese auf den Fuß­ boden und drangen mit den Worten: „Nix, Bauer, nix de Fargent" oder rien d’argent auf meinen Großvater ein. In diesem krittschen Augenblick ertönte in den Sttaßen der französische Generalmarsch, dessen Melodie mein Vater uns mit dem untergelegten Texte vorsang: „Kamerad komm, Ka­ merad komm, Kamerad komm mit Sack und Pack." Fluchend und lärmend bückten sich die Soldaten nach den am Boden liegenden kleinen Münzen, rafften davon zusammen, was sie eben erhaschen konnten, nahmen noch ein paar neue, un­ mittelbar vorher vom Schuhmacher abgelieferte steife Ledersttefel mit, und weg waren sie. Für dieses mal war die Gefahr vorüber und alles gut abgelaufen. Später haben meine Großeltern häufig französische Einquartterung, und zwar immer Offiziere mit ihren Burschen in ihrem Hause beherbergt und sind immer sehr gut mit ihnen ausgekommen. Mein Vater war, wenn er davon erzählte, immer voll An­ erkennung für die anständigen und höflichen Manieren der Franzosen im Gegensatz zu der ungeschlachten Grobheit und Begehrlichkeit späterer russischer oder bayrischer Einquar­ tterung. Da Quedlinburg unmittelbar nach dem ersten Er­ scheinen der Franzosen dem neu gebildeten Königreich West­ falen einverleibt wurde, so war die Stadt für die französischen Truppen kein feindliches Gebiet, sondern Freundesland. Im allgemeinen haben sich die Franzosen auch bei uns als Freunde betragen. Immerhin haben sie durch ihre Leichtferttgkeit und

37

Liederlichkeit auch in Quedlinburg in manchen Bürgerhäusern viel Verwüstung angerichtet. Für Frauen und Mädchen waren sie eine große Gefahr. Von religiöser Sitte und Zucht hielten sie nichts und spotteten darüber. Die alther­ gebrachte Solidität der Bürgerschaft hat während der Zeit der ftanzösischen Invasion schwer gelitten. Freilich machten sie dem Puder und bei den Männern dem Haarzopf, aber ohne Zweifel auch in andern Verhältnissen manchem alten, langen oder kurzen Zopf ohne viel Federlesens ein Ende. Bor dem russischen Feldzuge Napoleons hatte ein französischer Offizier bei meinen Großeltern längere Zeit im Quartier gelegen und sich mit ihnen und den Kindern des Hauses angefteundet. Als ihm am ersten Morgen nach seiner Ankunft Kaffee zum ersten Frühstück serviert wurde, hatte er diesen mit den Worten zurückgewiesen: Ah caf6, nix pour soldat Meine Großmutter war in der größten Verlegenheit, was sie ihm vorsetzen sollte. Da hatte er plötzlich nach seinem Tschako gegriffen und war fortgerannt. Er kam aber bald vergnügt schmunzelnd zurück, und zwar mit einem Hering, den er quer durch den damals üblichen schmalen Latz seiner Beinkleider gesteckt hatte. Den Hering brachte er in die Küche. Dort suchte er meiner Großmutter durch Pantomimen und mit den Worten: Melez, madame, mtiange deutlich zu machen, daß er Heringssalat haben wolle. Der wurde denn auch gemacht, und zwar nach Quedlinburger Art äußerst schmack­ haft. Der Franzose war glücklich und bekam seitdem täglich seine Portion Heringssalat zum Frühstück. Dafür war er so dankbar, daß er im Winter 1812/13, als er aus dem russischen Feldzuge mit einem Kollert, von dem an den Wacht­ feuern die Schöße abgesengt waren, zurückkam, in Quedlin­ burg auf das Rathaus eilte und ein Quartierbillett chez monsieur Bosse verlangte. Er erhielt es auch, aber auf den Namm des ältesten Sohnes meiner Großeltem Ernst

38 Bosse.

Als er in dessen Haus geführt wurde, schüttelte er

unwillig mit dem Kopfe und zerriß das Billett mit den Worten: Nix monsieur Bosse.

Dann trollte er ab und fand sich

auch richtig auf eigne Hand zu dem Hause meiner Großeltern. Dort wurde er gastlich ausgenommen und erzählte in seiner

nur halb verständlichen Art von

den Schreckenstagen in

Moskau und den Leiden der grande armöe in den winter­ lichen Steppen Rußlands und an der Beresina.

Er erhielt

seinen Heringssalat und marschierte nach wenig Tagen weiter

nach Westen, der französischen Heimat zu. Diese und ähnliche Geschichten

kursierten

Jugend vielfach in den Bürgerhäusern

in meiner

meiner Vaterstadt.

Auch von dem unglaublichen Treiben des Königs Jeröme und seines Hofes in Kassel wurde viel gesprochen. Jungen haßten

Wir

und verachteten »diesen König Hieronymus

leidenschaftlich. Die Alten aber zuckten die Achseln dazu und lobten seine persönliche Gutmütigkeit und Leutseligkeit.

Sie

wollten ihn nicht als so schlimm gelten lassen, wie er ver­

rufen wäre. Er sei oft in die Kasernen gegangen und habe dort das Essen der Soldaten gekostet, und als einmal ein

Jahr ohne Krieg vergangen sei, habe er seinen Untertanen

sofort die Steuern für ein ganzes Jahr erlassen. Das wollte uns Jungen nicht einleuchten, und leidenschaftlich wiesen wir

darauf hin, daß er seine Kassen aus dem Erlöse der massenhaft

verkauften Güter gefüllt habe, die nicht ihm gehört hätten. Die ältern Quedlinburger und ihre Väter hatten aber dabei gute Geschäfte gemacht, und wenn sie das westfälische Treiben auch nicht billigten, hatten sie doch für den König Jeröme

immer eine milde Entschuldigung bei der Hand. Uns Jungen erschien das als eine schier unbegreifliche Wunderlichkeit.

6. Ne Volksschule chon zu Michaelis 1836 — ich war also nur wenig Monate über vier Jahre alt — schickte

mich

mein Vater in die unterste Klasse der

städtischen Knabenvolksschule. Sie war in einem

dreistöckigen großen Gebäude in der nur wenig Minuten von meinem Elternhause entfernten Bockstraße.

Ich war ein kern­

gesundes Kind mit lebhaftem Temperament und sollte zunächst, wie mein Vater sagte, stillsitzen lernen. der frühe Schulbesuch nicht.

zur Schule.

Geschadet hat mir

Ich ging von Anfang an gern

Der üblichen, mit allerhand Äonfett gefüllten

bunten Tüte, die ich bei meinem ersten Eintritt in die Klasse

von dem Lehrer bekam,

hätte es kaum bedurft,

die Schule zu interessieren.

mich für

Mehr als das Zuckerwerk impo­

nierte mir der neue naturfarbne Tuchrock, den ich aus Anlaß meines erste» Schulbesuchs erhielt.

weder ein

Bis dahin hatte ich ent­

„Habit,< d. h. eine mit der hinten zugeknöpften

Hose vereinigte Jacke

oder einen

Den

„Kittel" getragen.

Rock empfand ich als einen gewalttgen Fortschritt. Ich muß

in dem neuen Rocke

besonders würdig ausgesehen

haben.

Denn die Meinigen stellten mich darin vor sich hin und be­ haupteten, der Junge sähe in dem Bratenrocke wie ein behäbiger

Pachter aus. Eine ganze Weile, wohl solange der Rock hielt,

wurde ich zuhause der „Pachter" genannt und gerufen.

Die Schule, in die ich täglich mit dem Ranzen auf dem Rücken trabte, war vorzüglich.

Sie leistete alles, was man

40 von einer guten Volksschule verlangen sannt.

Klassen.

Sie hatte vier

Jede war mit einem in seiner Airt ausgezeichneten

Lehrer besetzt. Lehrer der untersten (vierten)) Klasse war Herr Thieme, der dritten Herr Kleinert, der zweiiten Herr Scharfe,

der ersten Herr Mahleke.

Jeder von ihnen t war streng, ließ

keine Unart durchgehn und lebte nur für

die Schule.

Sie

wußten die ihnen anvertrauten Kinder ungeeachtet der in jeder Klasse über hundert betragenden Schülerzahll den Altersstufen

gemäß und bis zu einem gewissen Grade

sogar individuell

zu behandeln.

der Schule auch

Ausnahmsweise wurde in

mit „ungebrannter Asche" gestraft. Das gerschah selten, aber wenn es geschah, schmerzte es empfindlich. Mcht bloß äußer­

lich, sondern um der Ehre willen auch imwendig.

In der

vierten Klasse habe ich nie einen Schlag bekommen; in der dritten hat mir Herr Kleinert einmal einem mäßigen Schlag mit dem Haselnußstöckchen über den Rückern gegeben.

Der

Schlag tat weh, war aber durch unzeittges Sprechen während

des Unterrichts wohl verdient. Dieser Nackemschlag war über­ dies typisch für meine Zukunft.

Denn durkch unzeitiges und

vorschnelles Reden habe ich mir später nur zu oft empfind­

liche Nackenschläge zugezogen.

In der zweeiten Klasse habe

ich mit drei oder vier Knaben aus wohlhaibenden Familien einmal sogar „übergelegte" Schläge bekommten, und zwar zu

unsrer tiefen Beschämung vor der ganzen Klafsse. Herr Scharfe setzte bei dieser Prozedur den einen Fuß auf die Wank, auf der wir saßen. Dann legte er uns mit einem scharfem Ruck einen nach

dem andern über sein gekrümmtes Knie, zog mitt der linken Hand

die Hose prall und versetzte mit der rechten imit einem Hasel-

nußstock von der Dicke des Keinen Fingers drei wohlgezielte Hiebe aus das Hinterteil.

Sie taten unglamblich weh.

strampelten mit den Füßen und heulten nnörderlich. half nichts.

Dazu ärgerten wir vier oder

Wir Das

fünf Bestraften,

41 die wir die ersten der ganzen Klaffe waren, uns über die

wohlgefälligen Gesichter der andern Jungen.

Sie

lachten

zwar nicht, denn das hätte sie sicher in dasselbe Gericht ge­

bracht; aber wir sahen ihnen das Wohlgefallen an der unpar­ teiischen Behandlung der Jungen von der ersten Bank an

den Augen an.

Und doch war diese Sttafe unverdient und

eine ganz unverständliche pädagogische Verkehrtheit. Wir be­ kamen die Schläge, weil wir trotz vorhergegangner Belehrung in einem Diktat das Wörtchen „hat" mit einem doppelten t

geschrieben hatten.

Das war sicherlich ein Fehler, der seine

Rüge und vielleicht auch Sttafe verdiente. Aber eine körper­

liche Züchtigung würde in einem solchen Falle heute glück­ licherweise kein Lehrer mehr anwenden. mit Recht übel bekommen.

tige

Es würde ihm auch

Wie der sonst ungemein einsich­

und ruhige Herr Scharfe zu diesem groben Mißgriff

gekommen war, ist mir immer ein Rätsel geblieben.

Immerhin muß ich bezeugen,

daß uns die übel ange­

brachte Sttafe nicht geschadet hat. Wir fanden sie zwar hart und ungerecht, mochten aber wohl das Bewußtsein haben,

daß wir für manche verborgen gebliebne Jungenstteiche Sttafe verdient hatten.

Uns zuhause bei den Eltern über erlittnes

Unrecht zu beklagen, kam uns gar nicht in den Sinn.

Bei

mir wenigstens wäre mit Sicherheit darauf zu rechnen ge­ wesen,

daß der Versuch einer solchen Beschwerde mir noch

eine weitere

häusliche Sttafe eingetragen

hätte.

In den

Augen meines Vaters war der Junge dem Lehrer gegenüber von vornherein im Unrecht. Auch der Respekt vor unserm Lehrer, Herrn Scharfe,

hat unter dieser ungerechten Sttafe nicht gelitten, und ebenso­

wenig unser Verhältnis zu den ärmern Kameraden in der Klasse. Im allgemeinen wurde auch von der Lehrern unsrer Klippschule von der körperlichen Züchttgung ein sehr mäßiger

42 Gebrauch gemacht.

Nur Herr Mahleke in der ersten Klasse

stand in dem Rufe, daß die Jungen zwar viel bei ihm lernten, daß er aber den Stock etwas gar zu lose sitzen habe. Unter uns Schuljungen gab es einen Reim auf die vier Lehrer,

der, wenn richtig verstanden, ihr Verhältnis zu ihrer Klasse vollkommen zutreffend schilderte. Er hieß: „Herr Thieme ist

ein guter Mann, Herr Kleinert der geht auch noch an, Herr

Scharfe ist ein Kribbelkopp, Herr Mahleke hängt die Jungens opp."

Das bedeutete, daß Herr Thieme in der Abcklaffe am

sanftesten, fteundlichsten und väterlichsten mit den Kindern

umging.

Herr Kleinert in der dritten Klasse zog

schon

strengere Saiten auf, machte aber doch auch noch dann und

wann einen kleinen Spaß und streichelte auch wohl dem einen oder andern fleißigen Jungen einmal liebkosend das Haar.

Herr Scharfe, ein hagerer Mann mit einer Habichtsnase, galt als ernst, streng, aber gerecht und kannte kein Ansehen der Person.

Herr Mahleke, unter dessen Schulzepter ich nicht

mehr gelangt bin, machte fteilich keine Umstände und galt als

gefürchteter Schultyrann; er brachte aber die erste Klasse bis

zur Konfirmation sogar über das Schulziel heraus. Nament­ lich war er ein vorzüglicher Rechner und Rechenlehrer, und mein Vater ließ mich später, als ich schon das Gymnasium

besuchte, eine Zeit lang Privatunterricht im Rechnen bei ihm nehmen, weil er —

nicht ohne Grund — behauptete, daß

in den für das praktische Leben so wichtigen Elementen des

Rechnens auf dem Gymnasium nicht alles so gehandhabt

werde, wie es hätte sein sollen.

Genug, di beizuführen. Eines Tags kam der alte Major in das reser­ vierte Zimmer einer Konditorei am Markt in Halle, das in

Ermangelung eines Offizierkasinos dessen Stelle verttat. Er fand dort so ziemlich sein ganzes Offizierkorps versammelt

und schrie es an:

„Meine Herren, wissen Sie schon das

284 Mein Junge hat Griesheimen totgeschossen, das 's

Neueste?

die Hauptsache!"

So traurig die Nachricht war, so komisch

wirkte diese Art des Alten, sie mitzuteilen. Unser Bataillon gehörte zum vierten Armeekorps. Kom­

mandierender General war der General der Infanterie von

Schack. schied.

Während meines Dienstjahrs erhielt dieser den Ab­

An seine Stelle trat der General Fürst Wilhelm

Radziwill.

Dies wurde uns durch Parolebefehl bekannt ge­

macht. Bald nachher aber kam eines Tags unser Major zur

Paroleausgabe, nahm die Herren Offiziere zusammen und sagte ihnen: „Übermorgen haben wir Besichtigung vor dem

neuen kommandierenden General.

Das 's die Hauptsache.

Der Deibel wird uns frikassieren, wenn die Geschichte schief geht.

Das 's die Haupffache!

Vor allen Dingen müssen

die Leute instruiert werden, daß der neue Kommandierende

nicht Exzellenz, sondern Durchlaucht ist. sache!

Das 's die Haupt­

Wenn er ans Bataillon rankommt und den Leuten

einen guten Morgen bietet, dürfen sie nicht mehr antworten:

»Guten Morgen, Euer Exzellenz!« sondern: »Guten Morgen,

Euer Durchlaucht!« Das 's die Hauptsache!

Ich bitte mir

aus, daß das tadellos geübt wird, das 's die Hauptsache!" Es wurde also zuerst kompagnieweise, dann im Bataillon ge­ übt, wie aus einem Munde zu rufen: „Guten Morgen, Euer Durchlaucht!"

Am dritten Tage danach stand das Bataillon

im Paradeanzuge nach der Mitte in Kolonne früh acht Uhr

auf dem Exerzierplatz vor dem Steintore, der Alte auf seinem Schimmel an unsrer Spitze, neben ihm sein Adjutant.

Der

kommandierende General kam mit seinem Adjutanten ange­ fahren, stieg aus und kam zu Fuß an das Bataillon heran.

Zehn Schritte vor der Front sagte er:

Muskettere!"

„Guten Morgen,

Natürlich schallte es wie aus einem Munde

zurück: „Guten Morgen, Euer Durchlaucht!"

Der Alte sah

285 glückselig aus, als wollte er jeden Augenblick rufen: 's die Hauptsache!" der Major die

„Das

Auf Befehl des Fürsten Radziwill ließ

sogenannte

kleine Bataillonsschule durch­

machen, Points vornehmen, das Bataillon in Linie einrichten,

Wendungen und Griffe machen und dann marschieren, sowohl in Reihen wie in Sektionen.

Das Exerzieren mochte kaum

eine Viertelstunde gedauert haben, wir marschierten gerade in Reihen, da kommandierte plötzlich Fürst Radziwill selbst mit lauter, durchdringender Stimme:

Gewehr ab!

Rührt euch!

„Bataillon halt, Front!

Die Herren Offiziere!"

Nicht

zehn Schritt vom Bataillon entfernt stand der komman­ dierende General im Kreise der Offiziere und sagte ihnen so,

daß wir jedes Wort hören konnten: „Meine Herren, die Leute geben sich die erdenklichste Mühe, aber die Herren Offiziere bummeln.

Das Exerzieren genügt nicht den bescheidensten

Anforderungen.

Das Bataillon ist von allen, die ich im

Bereich des Armeekorps bisher gesehen habe, das schlechteste.

So kann ich das Bataillon jetzt nicht weiter inspizieren. Ich

breche jetzt die Besichtigung ab, werde aber nach sechs Wochen wiederkommen und erwarte mit Bestimmtheit, das Bataillon

dann in besserer Ordnung zu finden. Ihnen,

meine Herren!

Ich empfehle mich

Adieu, Musketiere!"

Unter dem

„Adieu, Euer Durchlaucht!" des Bataillons drehte er um, ging auf seinen Wagen zu, während der Alte ihn begleitete, stieg mit seinem Adjutanten ein und fuhr ab.

Dann kam

der Major an uns herangaloppiert. Es war ja ziemlich klar, daß die ganze —

vielleicht von vornherein beabsichtigt ge­

wesene — Szene für ihn das Todesurteil, nämlich den Ab­ schied bedeutete. Er schien aber davon nichts zu ahnen, son­

dern

machte seinem Herzen mit folgender Anrede an das

Bataillon Luft: „Kerls, ihr habt es selbst gehört, das 's die

Hauptsache!

Ihr seid das schlechteste Bataillon im ganzen

286 Armeekorps, das 's die Hauptsache!

Gebummelt habt ihr,

oder wenigstens die Herren Offiziere, das 's die Haupffache!

Der Deibel wird euch alle miteinander frikassieren, wenn das

in den nächsten sechs Wochen nicht anders wird.

Das 's

die Haupffache. Ich bitte mir aus, daß ohne jede Schonung das Nöttge geschieht, das 's die Haupffache.

Eine ganz ver­

Das 's die Hauptsache!"

Damit ritt er

fluchte Geschichte!

verdrießlich ab.

Natürlich ergoß sich der Zorn der Vor­

gesetzten in den unglaublichsten Redensarten über die Kom­ pagnien, Züge, Korporalschasten.

Bei unsrer achten Kom­

pagnie war es vergleichsweise noch golden, da unser sehr verständiger Hauptmann wußte, daß er sich und seiner Kom­

pagnie nichts vorzuwerfen hatte. Immerhin wurde viel, sehr

angestrengt und von feiten der Unteroffiziere mit dem äußersten Hochdruck exerziert.

Aber den alten, braven Major ereilte

sein Geschick noch vor dem Ablauf der sechs Wochen. Eines

Tags trat er unwirsch in der erwähnten Kondiwrei in die Mitte der Offiziere, griff in die Brusttasche und sagte: „Na,

meine Herren, da is er schon, der blaue Brief! Hauptsache!"

wiedersehen.

Damit

verabschiedete er sich

Das 's die

auf Nimmer­

Wir bekamen nun einen neuen, sehr tüchttgen,

aber sehr strengen Major. Er brachte in der Tat „Zug" in das Bataillon. Auf einem Übungsmarsch, den er mit uns nach dem Petersberge machte, blieben die Soldaten wie

die Fliegen liegen, und das Exerzieren dauerte nicht selten

bis in die dunkle Nacht hinein.

Indessen geschadet hat das

dem Bataillon nicht. Bei der nächsten Besichtigung fand der kommandierende General die Scharte ausgewetzt, und bei dem

Manöver am Schluffe meines Dienstjahrs schnitten wir aus­

gezeichnet ab. Im August rückte das Bataillon aus der Gar­

nison aus und marschierte zunächst nach Erfurt zum Regi­

ments- und Brigadeexerzieren und später in die Gegend von

287 Freiburg an der Unstrut zum Divisionsmanöver. der Höhepunkt unsrer gnügungen.

militärischen Leistungen

Das war

und Ver­

Wir mußten dabei tüchtig heran und wurden

weder geschont noch mit den Quartieren bevorzugt. Ich hatte

in der Kompagnie durch den Feldwebel einen Putzer zuge­

wiesen erhalten, der mir für eine Vergütung von monatlich einem Taler sehr gute Dienste leistete.

Er war im Zivil­

verhältnis seines Handwerks ein Böttcher,

und schon diese

Gemeinsamkeit seines Berufs mit dem meines Urgroßvaters

und Großvaters nahm mich für ihn ein.

Er war mir aber

auch persönlich sehr zugetan und tat für mich, was er konnte. Wenn wir während des Manövers zusammen in dasselbe Quartier kamen und bei kleinen Leuten auf dem Lande oft

nur ein Bett für uns beide bereit war, wußte er sich stets eine besondre Schlafstelle zu verschaffen, sodaß ich das Bett

für mich bekam.

Die Entbehrungen des Manövers waren

übrigens für uns Einjährige ganz nützlich.

In einem Dorfe

bei Querfurt kam ich ins Quartter bei sehr armen, aber

ordentlichen Tagelöhnerleuten, die ein kleines Häuschen be­ saßen.

Ich bekam zu Mittag eine saubere und appetttliche

Kartoffelsuppe vorgesetzt, und meine Wirtsleute freuten sich,

daß ich sie mir schmecken ließ.

der Schlafgelegenheit.

Schlimm aber war es mit

Die Leute hatten nur zwei Betten.

In dem einen schliefen die Wirtsleute, in dem andern ihr

erwachsner Sohn, und eine andre Schlafgelegenheit war nicht zu schaffen.

Da blieb denn nichts übrig, als daß ich das

zweite Bett mit dem Sohne teilte.

Ich behaupte nicht, daß

ich besondre Freude daran gehabt hätte; aber ich konnte die überaus freundlichen Leute, die mir alles Gute antaten, was

in ihren Kräften stand, unmöglich durch die Weigerung ver­ letzen, mit dem Sohn zusammen zu schlafen. Müde, wie ich war, schlief ich auch vorzüglich.

Der Abschied von diesen

288 Leuten war sehr herzlich und beweglich.

Es schadet keinem

Menschen, wenn er sich auch einmal in so einfache Verhält­

nisse schicken muß. Die Strapazen des Manövers, das Herum­ jagen in glühender Sonnenhitze als Bedeckung für Geschütze,

das Biwakieren in kalten Nächten, das Selbstabkochen, auch einmal ein Nachtmarsch zur Überraschung und Gefangennahme einer feindlichen Feldwache, das alles stellte an uns die größten

körperlichen Anforderungen. Es machte aber auch Spaß und wurde glücklich überstanden. Ebenso die Wachen in der Gar­

nison Halle und in den damals noch bestehenden Festungs­ werken von Erfurt.

Wir lernten mit den Soldaten leben,

auch eine Korporalschaft führen, bekamen das Befähigungs­ zeugnis zum Offizier und wurden endlich als Unteroffiziere

mit einer höchst anerkennenden, jovialen Rede unsers Haupt­

manns entlassen. gewesen.

Mir ist dieses Militärjahr sehr nützlich

Wer nicht Soldat gewesen ist, kennt ein wesent­

liches Stück des preußischen Volkslebens nicht aus eigner An­ schauung. Aber auch abgesehen von diesem Einblick in gewisse

Volkskreise möchte ich meine Militärzeit um keinen Preis

missen. Das Freiwilligenjahr ist auch für den Studenten eine höchst wertvolle Erziehung.

Das studentische Leben stand dabei freilich in zweiter Reihe. Der militärische Dienst ging allezeit vor. Aber nach­ dem wir ausexerziert und in die Kompagnie eingestellt waren,

blieb uns doch auch für die studentischen Interessen viel Zeit übrig.

Ja zuweilen traten sie sogar über Gebühr in den

Vordergrund. Kollegien habe ich in Halle nur wenige besucht, und

auch diese nicht regelmäßig. Immerhin hatte ich doch schließ­ lich ein ziemlich vollständiges Heft über das bei Professor

Dr. Göschen gehörte Kirchenrecht.

Die Vorlesung hatte mir

aber kein Interesse abgewonnen.

Logik hatte ich bei Pro-

289 fessor Allihn belegt.

Er war ursprünglich Theolog, aber ich

werde kaum mehr als ein- oder zweimal in seiner Logik ge­

wesen sein.

Dagegen ging ich Abends von sechs bis sieben

Uhr, so oft ich nur konnte, in Professor Heinrich Leos Ge­

schichte der französischen Revolution. Die Lebendigkeit Leos,

der warme Brustton des Herzens, mit dem er seine oft etwas

eigenartige, immer aber von großen und originellen Ideen beherrschte Geschichtsdarstellung vortrug, fesselten mich aufs äußerste. Ich war auch in der berühmten Vorlesung, in der

er zu weinen pflegte, wenn er an die verunglückte Flucht Ludwigs

des Sechzehnten

kam.

Leos ehrlicher, kräftiger,

naturwüchsiger Royalismus sagte mir ungemein zu. Ich hätte

nur noch viel öfter zu ihm gehn sollen. Vereinzelt habe ich auch in den philosophischen Kollegien der Professoren Schaller

und Erdmann hospitiert, von beiden aber wenig gehabt, weil ich nicht im Zusammenhangs blieb.

Gern wäre ich einmal

zu Tholuck gegangen. Er las aber nur zu Zeiten, in denen

ich Dienst hatte.

Dagegen habe ich ihn wiederholt im Dom

im akademischen Gottesdienst predigen hören.

Ich hatte den

Eindruck, daß diese Predigten nicht nur äußerst beredt vor­

getragen

wurden, sondern daß sie auch Ansprüche an das

Denken der Zuhörer stellten.

Das hat mir zwar imponiert,

aber einen tiefern, religiösen Eindruck davon empfangen zu

haben, der mein Gemüt bewegt hätte, entsinne ich mich nicht.

Dazu war ich damals

viel zu oberflächlich und äußerlich

gerichtet. In meinem Fache, der Jurisprudenz, hatte ich von dem

Aufenthalt in Halle wenig Gewinn.

Der einzige, den ich

zu verzeichnen weiß, bestand darin, daß ich Puchtas Kursus

der Institutionen, ein zwar für Anfänger bestimmtes, aber gründliches, wissenschaftliches Werk in drei Bänden für mich allein durcharbeitete und exzerpierte. Bosse, Au? der Jugendzeit

Diese Arbeit war ge19

290 wissermaßen meine Gewissensberuhigung. Sie war im Grunde

ein Repetieren; allein da mein Anfangsstudium in Heidel­ berg unmethodisch gewesen und meine vorbereitenden Studien doch vielfach lückenhaft geblieben waren, so bedeutete dieses

Privatstudium der Puchtaschcn Institutionen für mich noch mehr als eine bloße Wiederholung.

Die allgemeine Ein­

leitung, die sich mit dem Wesen des Rechts und der Rechts­ wissenschaft beschäftigt, imponierte mir durch ihre ideale Auf­ fassung.

Den Gedanken, daß hinter allen,

anscheinend oft

dürren und äußerlichen Rechtsnormen das ganze Leben des Volks pulsiere, daß dieses sich aus seinem innersten Wesen heraus die Formen seines Rechts selbst bilde, und daß es nur darauf ankomme, die Augen dafür zu schärfen, um hinter dem

scheinbar trocknen Gerippe des Rechts das ganze reiche Leben

des Volks in seiner staatlichen Ausgestaltung, den lebendigen Verkehr der Menschen untereinander, die notwendige Abgren­

zung zwischen individueller Freiheit und staatlicher Ordnung

zu erkennen,

habe ich zuerst bei Puchta gefunden.

Dieser

Gedanke erinnerte an gewisse Anschauungen, die mich schon

in Heidelberg bei R. von Mohl gefesselt hatten.

Er war mir

so einleuchtend und zugleich so interessant, daß er mich völlig

hinnahm. lich

Auf diesen Puchtaschen Gedanken hat sich schließ­

meine ganze Rechts- und Staatsauffassung aufgebaut.

Ich empfand eine gewisse Genugtuung dabei,

daß ich diese

frappierenden Gesichtspunkte in Puchta gewissermaßen auf

eigne Hand entdeckt hatte, und daß ich sie mir als eine auf

wissenschaftlichem Wege errungne Überzeugung assimiliert hatte. Meine Kommilitonen, auch die Juristen, gingen auf diese Ge­

danken so gut wie gar nicht ein.

Sie erschienen ihnen für

das Examen unverwertbar und deshalb unprakttsch und un­ fruchtbar.

Das waren sie keineswegs.

Sie waren die An­

fänge einer Art Philosophie des posittven Rechts.

Sie haben

291 mich später durch die Kasuistik des Preußischen Allgemeinen

Landrechts hindurchgeleitet. Als ich im großen Staatsexamen

durch den geiswollen Geheimen Obertribunalsrat Löwenberg

über die Grundgedanken des Eigenwmsbegriffs im Preußischen Landrecht examiniert wurde, da war ich meinen Mitexami­

nanden dadurch wesentlich voraus, daß ich seit meinen elemen­ taren Puchtastudien in gewissem Maße mit Gedankengängen solcher Art vertraut geworden war. Das war ein innerlicher

Gewinn von Halle her. Das Freiwilligenjahr war akademisch im übrigen für mich recht wenig fruchtbar.

Aber an diese

stillen Privatstudien in Puchtas Jnstiwtionen, die ich Abends in meiner weinlaubumrankten Swdentenbude, körperlich müde

vom Exerzieren, geistig aber frisch, anregungsbedürftig und wissensdurstig auf eigne Hand und wahrscheinlich oft recht

ungeschickt und oberflächlich getrieben habe, denke ich doch mit

Genugwung zurück. Das klingt beinahe so, solides Leben

als wollte ich mir über mein

und meinen Privatfleiß in Halle selbst ein

Zeugnis ausstellen.

So ist es aber nicht gemeint.

Denn

nachdem wir ausexerziert und in die Kompagnie eingestellt

waren, ließ auch Abends die Müdigkeit nach, und der alte studentische Leichtsinn stellte sich wieder ein. Zwar hatte ich

mir vorgenommen, auf das Korpsleben in Halle mich nicht

wieder einzulassen, schon um meine ohnehin knappen Mittel nicht so sehr zu belasten.

Indessen allmählich kam ich durch

einen Freund, der früher bei den Altmärkern in Halle Korps­ bursch gewesen war, dann in Heidelberg als Mitkneipant sich

den Schwaben angeschlossen hatte und nunmehr nach Halle

zurückgekehrt und ebenfalls als Einjährigfreiwilliger eingetreten war, ziemlich oft auf die Altmärkerkneipe, und es dauerte

nicht allzulange, da meldete ich mich und wurde als Korps­

bursch der Palaiomarchia rezipiert.

292 Es ist mißlich, das Korpsleben in Halle mit dem in

Heidelberg zu vergleichen.

Schon die landschaftlichen Reize

Heidelbergs und die ersten, unmittelbaren Eindrücke, die ich

dort von dem akademischen Leben empfangen hatte, umgeben

die Erinnerung an Heidelberg mit einem poettschen Glanze, der das Andenken an Halle überstrahlt.

Aber auch in Halle

habe ich innerhalb und außerhalb meines Korps treffliche Menschen kennen gelernt, mich ungemein wohl gefühlt und Freundschaften geschlossen,

die für das Leben vorgehalten

haben. Der Genuß des akademischen Lebens wurde freilich durch den Militärdienst einigermaßen beeinttächttgt.

Die Lebens­

haltung im Korps war durchschnittlich in Halle einfacher, das Leben selbst billiger als in Heidelberg.

Auch der Um­

stand, daß damals in Heidelberg nur die fünf Korps ohne jede Konkurrenz einer Burschenschaft, Landsmannschaft oder

andern Verbindung existierten,

gab dem dorttgen Korps­

leben einen Anstrich sicherer Vornehmheit.

In Halle kon­

kurrierten mit den Korps eine Reihe von Landsmannschaften und Verbindungen, wie die Salinger, die Neoborussen, die Normannen, die Magdeburger, der Pflug, der Wingolf und die Burschenschaft Fürstentaler.

Einige dieser Verbindungen

gaben auch auf Mensur Satisfaktion, und es gab unter ihnen ein paar forsche Schläger.

Das führte auf der Straße und

in Vergnügungslokalen häufig zu sehr unerbaulichen Reibereien und Rempeleien, wie man sie in Heidelberg nicht kannte. Mensuren mit den sogenannten Büchsiers, wie man die farben­ tragenden Mchtkorpsstudenten nannte, waren meistens Folgen

geschärfter Forderungen, und es herrschte denn auch bei solchen Mensuren eine innerlich und äußerlich zum Ausdruck kom­ mende Feindseligkeit, die gegen die vornehme, unpersönliche

Höflichkeit, mit der man in Heidelberg losging, nicht ge­ rade vorteilhaft abstach.

Die Bestimmungsmensuren wurden

293 übrigens auch in Halle mit derselben Höflichkeit ausgefochten wie in Heidelberg. Nur existierte in Halle kein privilegiertes Pauklokal wie die Hirschgasse.

Man ging bald in dieser,

bald in jener Kneipe los, auch in großen Studentenwohnungen.

Und auch dieser Wechsel der Lokale, die nicht immer beson­

ders geeignet waren, beeinträchtigte den poetischen Schimmer,

der die in der Hirschgasse in Heidelberg ausgefochtnen Men­ suren in unsern Augen umgab. Im Sommer freilich hatten

die Hallenser Paukereien vor denen in Heidelberg auch wieder große Vorzüge. Im Sommer paukten wir nämlich im Freien auf der Nachttgalleninsel oder in der Dölauer Heide. Dahin fuhren wir höchst geheimnisvoll mittels Nachen auf der Saale.

Unten im Boot lag das wohlverpackte Paukzeug. Die Ruder

waren mit Wolle umwickelt, um möglichst unhörbar ins Wasser zu tauchen, eine althergebrachte Vorsicht, die mir ziemlich über­

flüssig erschien, weil die Polizei an den Ufern der Saale

schwerlich ahnen konnte, ob wir zum Vergnügen oder mit blu-

tigen Paukgedanken Kahn fuhren. Dieses Heimlichtun gehörte aber einmal mit zur Poesie der Hallischen Sommermensuren.

Es war in der Tat ein eigentümlicher, geheimnisvoller Reiz,

an einem warmen Frühlings- oder Sommermorgen durch die mit grünem Buschwerk üppig besetzten Ufer der Saale nach

der Nachtigalleninsel oder nach der Heide zu gleiten. In der Nähe des Paukplatzes wurde angehalten, das Paukzeug ans

Land gebracht und am Paukplatz im kühlen Waldesgrün aus­

gebreitet und zurecht gemacht.

Dazu kam, daß man in Halle

nicht mit farbengeschmückten Uappernden Korbschlägern, son­ dern mit metallnen Glockenschlägern paukte.

Die Hiebe, die

auf die silbernen oder neusilbernen Glocken fielen, klangen hell wie ein leises Geläut durch den Wald.

Ich habe zwei

solche Mensuren im Freien ausgefochten, die eine mit einem Korpsburschen von den Sachsen, namens Korn, der nachher

294 Stadtrat in meiner Vaterstadt wurde und als Oberbürger­ meister in Insterburg gestorben ist, die andre mit einem Neo­

borussen Biedermann, der später in der Provinz Sachsen

Pastor wurde.

Bei beiden Mensuren kam nichts oder doch

höchstens ein nichts bedeutender Blutiger heraus. Das Fechten

im Walde aber und die Poesie der Bootfahrten zu diesen

Mensuren machte auf mich einen tiefen Eindruck. Man sang im Hinblick auf diese in der Heide ausgefochtnen Mensuren in Halle ein bekanntes Studentenlied: Zu Da Da In

Dölau auf der Heide, Fridolin! hab ich meine Freude, Fridolin! ist so mancher Schläger schon geschwungen und gedrungen manch feistes Biergesicht. Arabella, Fridolin!

Das war ja nicht gerade hochpoetisch; aber ich habe das

Lied am Abend nach einer solchen Paukerei doch mit einer gewissen Begeisterung mitgesungen. Übrigens bin ich auch

noch auf dem Vorsaal einer Studentenwohnung in der Stadt losgegangen, und zwar mit einem Märker von Raumer. Er

war später Berufsoffizier bei dem fünften Jägerbataillon ge­ worden.

Aber auch bei dieser Mensur kam nichts Wesent­

liches heraus.

Das Bataillon und die Kompagnie waren

gegen unsre Mensuren, auch wenn ein Einjähriger einmal ab­

geführt und für ein paar Tage dienstunfähig wurde, äußerst

nachsichtig.

Wie man überhaupt das Korpsleben mit dem

Militärdienst vereinigen konnte, war ein Beweis dafür, wie milde wir Einjährigfreiwilligen dienstlich behandelt wurden.

Freilich wurden, wenn einmal ein Einjähriger bei studen­ tischen Exzessen gefaßt wurde, keine Umstände mit ihm ge­ macht. Er wurde dann als Soldat wie jeder andre bestraft. In Gefahr, gefaßt zu werden, bin ich ein paarmal ge­

wesen. Gefaßt aber bin ich nicht worden, obwohl ich zuweilen

bei sehr leichtsinnigen Streichen beteiligt gewesen bin.

Eines

295 Abends bekamen einige Korpsbrüder von mir beim Nach­

hausegehn von der Kneipe Skandal mit einem Nachtwächter. Ich war mit einem Kommilitonen vorausgegangen, kehrte mit diesem, als wir die lauten Stimmen der Streitenden

härten, um und kam gerade noch zurecht, um zu sehen, wie der Nachtwächter von zweien unsrer Leute festgehalten und

von einem dritten mit dessen Spazierstock geprügelt wurde.

Einmal mußte natürlich diese Exekution aufhören.

Sobald

der Nachtwächter losgelassen wurde, stoben wir nach allen Himmelsrichtungen auseinander, hörten aber hinter uns den

schrillen Ton der Notpfeife. Ich hatte mit meinem Begleiter bald eine Querstraße gewonnen und ging diese höchst ehrbar

in langsamem Schritt und ehrbarem Gespräch mit ihm hin­ unter. Bald kamen zwei Nachtwächter uns entgegen gelaufen

und fragten, ob wir nicht wüßten, wo etwas los gewesen sei.

Wir wiesen sie nicht gerade auf den nächsten Weg zu ihrem geprügelten Kameraden und kamen für unsre Person unbe­

helligt nach Hause.

Ein andermal kam ich mit einigen Kommilitonen am Eingänge zum Jägerplatz Nachts bei strömendem Regen an

einem Nachtwächterhäuschen vorbei, in das sich der Nacht­ wächter, um sich vor dem Regen zu schützen, eingestellt hatte.

Wir sahen sofort, daß das hölzerne Schilderhäuschen für den in seinen Mantel gehüllten Nachtwächter zu eng war, und

daß er nicht ohne Mühe sich würde durch die Eingangs­ öffnung wieder durchzwängen können.

Ohne daß ein Wort

gesagt worden war, hatten wir uns verständigt.

Wie auf

Kommando griffen wir das Schilderhaus an, legten es samt seinem Insassen dergestalt um, daß die Öffnung unten lag,

und setzten uns darauf.

Natürlich beschwor uns der arme

Nachtwächter himmelhoch mit Drohungen und Versprechungen, wir möchten ihn hinauslassen.

Er war wirklich in einer

296 verzweifelten Lage. Endlich standen wir auf, sagten uns gute Nacht und gingen gemächlich nach Hause.

Ehe der arme

Kerl sich noch aus seinem Aasten zu befreien vermocht hatte,

waren wir längst in unsern Wohnungen.

Dieses boshafte

Kujonieren eines ganz unschuldigen Beamten hätte einen empfindlichen Denkzettel verdient.

Recht leichtsinnig war auch ein Pfingstausflug, den ich mit mehreren Korpsbrüdern nach der Rudelsburg und nach Thüringen machte.

Der Feldwebel hatte uns gesagt, Dienst

werde während der Festtage nicht sein.

Wer also nicht länger

als auf drei Tage verreisen wolle, könne das ohne Urlaub tun. Aber am Mittwoch nach Pfingsten Morgens sieben Uhr

stehe die Kompagnie mit dem Gewehr zum Dienst auf dem Exerzierplätze.

Ich wagte es, auf diese Eröffnung hin mit

nach Kösen und der Rudelsburg zu reisen. Dort pflegten zu Pfingsten die Korps aus Halle, Jena und Leipzig zusammen­ zukommen und großen Ulk zu machen. In der Tat war das

von einem mir wohlbekannten Korpsburschen der Hallischen

Thüringer,

dem „dicken Wagner," der in Quedlinburg auf

dem Gymnasium gewesen war,

kommandierte Treiben der

Füchse ganz amüsant.

Mich interessierte auch der unter den

Studenten berühmte,

originelle und unverfrorne Wirt der

Rudelsburg. Er wurde nur „Samiel" angeredet, und hinten und vorn hörte man die bierdurstigen Kehlen ihr „Samiel,

hilf" rufen. Samiel erzählte mit schlauer Miene, wie er die Leipziger, Jenenser und Hallenser Studenten sofort bei ihrer

Ankunft an ihrer ersten Bestellung zu unterscheiden wisse.

Die patenten Leipziger riefen, sagte er, gleich bei ihrem Ein­ tritt in das Burgtor:

„Samiel,

eine Kleiderbürste!"

Die

Jenenser, die es doch am bequemsten hätten, verlangten regel­

mäßig: „Samiel, ein Stübchen Lichtenhainer!" Die Hallenser dagegen

kommandierten:

„Samiel,

en

Schnaps!"

Diese

297 Charakteristik war im allgemeinen zutreffend. Studenten

zogen das

trübe

aussehende,

Die Jenenser

etwas

säuerliche

Lichtenhainer Mer jedem andern Getränk vor, und es brachte jeder sein hölzernes, innen ausgepichtes „Stübchen," eine Art

Deckelkrug, dazu mit. In Halle trank man das dursllöschende Lichtenhainer im Sommer zwar auch gern, aber nur zum

Frühschoppen, nie auf der Kneipe.

Um es bekömmlicher zu

machen, tranken die meisten dazu einen Nordhäuser oder auch

wohl einen Cognac.

Und so waren die Hallenser Studenten

nicht ganz ohne Grund in den Ruf von Schnapstrinkern ge­

kommen.

Ich habe in der Tat einen alten Schulfreund in

Halle am Schnapstrinken zugrunde gehn sehen.

Zwei alte

Herren von unserm Korps, die im achten Semester in die Vorstadt Glaucha zogen, um dort solide zum Examen zu studieren, hatten

sich dergestalt an den Schnaps gewöhnt,

daß ihnen Morgens beim Aufftehn die Hände zitterten, bis

sie ein Glas Schnaps getrunken hatten.

Doch muß ich be­

merken, daß dies vereinzelte Ausnahmen waren, die auch im Korps als abschreckende Beispiele galten. Einer der beiden

ist später wieder zurecht gekommen und ein sehr ordent­

licher und tüchtiger Beamter geworden.

Der andre freilich

ist als Referendar Gewohnheitstrinker geblieben. Einige Jahre später traf ich ihn in Magdeburg Mittags in einer Kon­

ditorei, in der ich eine Tasse Kaffee trank.

Er war beim

neunten Glase Grog, schimpfte auf seine Vorgesetzten, die ihn

hätten durchs Examen fallen lassen, und machte einen jämmer­ lichen Eindruck.

Meine Versuche,

ihn zur Vernunft

zu

bringen, scheiterten, und er starb bald darauf an den Folgen

des unmäßigen Trinkens.

In Heidelberg fiel es keinem

Studenten ein, in einem Wirtslokal einen Schnaps zu for­

dern. Das würde dort geradezu unliebsames Aufsehen erregt

haben.

298 Mein Geld reichte gerade aus, um von der Rudelsburg direkt nach Halle zurückzufahren.

Meine Korpsbrüder aber

redeten mir zu, mit ihnen nach Eisenach zu fahren und von

da über die Wartburg, Hohe Sonne, Wllhelrnstal nach Ruhla

zu wandern. Das war ja sehr vergnüglich, da mir das Geld

dazu bereitwillig vorgestreckt wurde.

Nur mit Mühe aber

erreichte ich in Weimar einen Nachtzug, der mich am Mitt­ woch nach Pfingsten früh sechs Uhr nach Halle brachte. Mit­

tels einer Droschke gelang es mir, mich in meiner Wohnung noch in die Uniform zu werfen und eine Minute vor sieben Uhr bei dem Feldwebel zum Dienst melden zu können. Dieser

tat so, als wollte er meine verspätete Rückkehr dem Haupt­ mann melden. Ich deutete ihm aber an, daß ich ihm etwas

mitgebracht hätte, und so kam ich mit meinem unverantwort­ lichen Leichtsinn unbestraft durch.

Schön war diese ganze

unordentliche, dem Dienste gewissermaßen abgestohlene Reise

durch Thüringen nicht gewesen.

Ich habe immer so etwas

wie Scham darüber empfunden.

Dazu kam, daß ich nun

wieder Schulden hatte.

Sie wurden zwar bezahlt, aber das

führte zu neuen Verlegenheiten, die ich erst bei meinem Ab­

gänge von Halle im Herbst 1852, nachdem ich sie meinem Vater gebeichtet hatte, ausgleichen konnte.

Die Altmärkerkneipe befand sich damals vor dem Klaus­ tore in dem Gasthause des Bierbrauers Theodor Hummel­ mann.

Dieser, ein geborner Bayer, braute ein leichtes Bier,

und wir wurden auch, soweit es sich um das Essen handelte, Abends gut und billig verpflegt. Zwischen dem dicken Theodor

Hummelmann und dem Korps bestand seit vielen Jahren ein

traditionelles Freundschaftsverhältnis, das sich auch auf die Famllie erstreckte. Jeder Korpsbursch nannte den alten Hummel­

mann du und rief ihn nur Theodor.

Dafür duzte Theodor

auch uns und nannte uns bei unsern Vornamen. Wenn alle Stränge rissen, so pumpte Theodor uns auch Geld. Davon

299

wurde zwar nur im äußersten Notfälle Gebrauch gemacht, aber es kam doch vor. Als ich während des Manövers in dem thüringischen Städtchen Bibra in ein scheußliches, schmutziges

Quartier kam, wo man mir zumutete, in der Scheune auf

hartem Rapsstroh zu schlafen, warf ich dem Wirt mein Quar­

tierbillett hin und ging in den Gasthof. Das war freilich ein ziemlich teures Vergnügen, da wir fünf oder sechs Tage in

Bibra verblieben, und ich im Gasthof mit am Offiziersttsch essen mußte. Ich schrieb aber an Theodor Hummelmann und

bekam von diesem umgehend 25 Taler zugesandt. Wirtschaftlich war dieser Umweg eine arge Verkehrtheit.

Hätte ich direkt

an meinen Vater geschrieben, so wäre ich weit glatter und ohne das Bewußtsein weggekommen, eine drückende Schuld zu haben. Mer nett war es doch, daß unser Kneipwirt soviel

Zuttauen zu uns hatte, uns mit barem Gelde auszuhelfen. Und er nahm dafür nicht einmal Zinsen.

Ich war bei der

Famllie Hummelmann gut angeschrieben und habe oft stunden­

lang mit der klugen Frau Hummelmann, ihrem dicken Gatten

und ihren Kindern geplaudert. Heute wird von der Famllie kaum noch jemand übrig sein. Unser Kneipzimmer war von einer nach heuttgen Begriffen rührenden Einfachheit.

Wer

hätte sich damals wohl träumen lassen, daß heute, fünfzig

Jahre später, jedes Korps sein eignes Korpshaus mit elegant ausgestattetem Kneipzimmer haben würde?

dagegen sagen.

Ich will nichts

Vielleicht liegt in der höhern Wertschätzung

der äußern Form und in einer gewissen künstlerischen Har­ monie des Kneipzimmers ein berechtigter Fortschritt.

Aber

vielfach wird doch heutzutage damit auch ein luxuriöser Unfug getrieben, der für eine gesunde Entwicklung des studentischen

und insbesondre des Korpslebens mehr hinderlich als förderlich

ist. In das ganze Auftreten des jungen Korpsstudenten kommt dadurch leicht ein mammonisttscher, kapitalistischer Zug und eine alberne Patentmeierei, die den innern Gehalt hinter die

300 äußere Form mehr, als recht und gut ist, zurückstellt. Das

gefährdet aber die Wahrhaftigkeit und Selbständigkeit des

Charakters. Man darf nicht vergessen, daß Studenten junge Leute sind, die erst zu Männern ausreifen sollen, daß sie noch nichts geleistet haben, und daß sie in der Regel aus der Tasche ihrer Eltern leben.

Mit vollem Recht ist unter den alten

Herren der Korps eine Bewegung entstanden, die auf größere Einfachheit des Korpslebens abzielt.

Manches ist in dieser

Richtung auch schon erreicht worden, und hoffentlich wird noch mehr erreicht werden. Sonst gehen die Korps oder doch viele

von ihnen schon deshalb an Bestand und Ansehen zurück, weil verhältnismäßig nur noch wenige Väter in der Lage sind,

den übertriebnen Aufwand zu bestreiten, dem sich die Söhne als Korpsstudenten nicht entziehen können.

Genug, in unserm höchst primitiven Kneipzimmer bei Hummelmann sind wir sehr vergnügt gewesen.

Unser erster

Chargierter, Fritz Gefe, war ein sehr stattlicher und nach allen Richtungen hin tüchttger Student. Ich bin später noch einmal

kurze Zeit mit ihm in Halberstadt als Referendar zusammen gewesen.

Sein Ziel war schon damals, Kreisgerichtsdirektor

zu werden. Das hat er erreicht. Er ist als solcher in Allenstein gestorben.

Der zweite Chargierte war ein bemittelter

Mediziner aus Altenburg, nicht so ausgereift wie Gefe, aber

ein guter, vergnügter Kamerad mit einer ausgesprochnen Nei­

gung zu äußerer Eleganz.

Dritter war ein Theologe.

Er

wurde später noch Jurist und ist als Oberlandesgerichts- und Geheimer Justizrat in Stettin gestorben.

Dann waren im

Korps zwei Brüder, beide Theologen; sie führten den Spitz­ namen Knater, wurden aber immer nur der Ältere und der

Jüngere genannt.

Der Ältere war der Typus bedächtiger,

nachdenklicher Solidität, der Jüngere dagegen ein leichtlebiger

Kamerad, zu jedem tollen Stteich aufgelegt. Beide sind später tüchtige Geislliche in der Provinz Sachsen geworden; beide

301 deckt längst der grüne Rasen.

Mich interessierten überhäupt

die vielen Theologen im Korps, weil sie für prinzipielle Ge­ spräche zugänglicher waren als die Juristen und Mediziner.

Einmal hatten wir auf der Korpskneipe Abends eine gewaltige Disputation über religiöse und andre ernste Lebensfragen.

Wir gerieten dabei scharf aneinander, aber die Rechte, zu der ich mich hielt, blieb obenauf. Ich hatte indessen den Eindruck,

daß bei diesem Gezänk am Biertisch heilige Dinge in unge­ höriger Weise profaniert wurden, und vermied es seitdem, auf der Kneipe derartige Auseinandersetzungen herbeizuführen. Im

allgemeinen aber fand ich meine Korpsbrüder in Halle offner

für solche Fragen als die in Heidelberg. Jedenfalls waren auch dort einige sehr tüchtige und hochbegabte Kräfte im Korps, und der geistige Gewinn aus unserm Verkehr war mindestens nicht

geringer als in Heidelberg. Wenn ich die einzelnen Freunde von damals mir jetzt vergegenwärtige, so kann ich an viele von ihnen nur mit Wehmut gedenken. Merkwürdig, wie wenige davon noch am Leben sind! „Schon viele am Ziele, zu den Toten entboten, gestorben, verdorben, in Lust und in Leid!"

Getrunken wurde in Halle mehr als in Heidelberg, ge­ fochten etwas weniger, studiert, wie mir schien, auch weniger.

Der Militärdienst wirkte stark auf das studentische Leben zurück. Fast die Hälfte meiner Korpsbrüder waren Einjährig­ freiwillige.

Aus den Hörsälen der Universität habe ich in

Halle blutwenig Gewinn davongetragen. Den meisten innern

Gewinn hat mir dort der Militärdienst gebracht.

Freilich

unfertig, schwankend, unabgeschlossen fühlte ich mich bei dem

Abschiede von Halle vielleicht in noch stärkerm Maße als im

Jahre vorher bei der Abreise von Heidelberg. Ich wußte sehr wohl, daß die beiden Semester, die ich in Halle zugebracht

hatte, einen Fortschritt in meiner wissenschaftlich-systematischen Ausbildung nicht bedeuteten.

Indessen dafür hatte ich das

Militärjahr hinter mir und mindestens noch zwei, nötigenfalls

302

auch wohl noch drei weitere Universitätssemester vor mir. Sie sollten gründlich ausgenutzt werden. In Quedlinburg, wo ich

den Rest der Universitätsferien verlebte, traf ich mit meinen alten Schulfreunden Ludwig Kramer und Karl Lange zu­

sammen. Beide waren einig, jetzt nach Berlin zu gehen, um

dort fleißig zu arbeiten.

Was lag näher, als daß ich mich

ihnen anschloß?

Um die Mitte des Oktobers 1852 fuhren wir drei nach

Berlin.

In Halberstadt trafen wir einen ältern Quedlin­

burger Studenten der Medizin, Wilhelm Huch. Er war ein

Neffe des alten Professors Jhlefeldt, und auf der Schule war er das Muster eines fleißigen, ordentlichen, fast pedantischen Schülers gewesen. Als er, drei oder vier Semester vor mir, vom Gymnasium abging, hatte er mir auf ein Albumblatt geschrieben: Naturam quaere, quam si inveneris, Deum ipsum

habebis.

Dieser Naturpantheismus hatte mir damals sehr

imponiert. Jetzt übernahm Wilhelm Huch, der in Berlin schon Bescheid wußte, die Führung. Wir überzeugten uns bald, daß

er seine frühere Solidität demonstrativ verleugnete und sich als den prinzipiellen, materialistischen Genußmenschen auf­ spielte. Als wir in den Bahnhof einfuhren, mußten wir unsre

Paßkarten hervorsuchen. Denn auf dem Bahnsteig stand ein Schutzmannsposten, der von jedem ankommenden Reisenden eine

Legitimation verlangte. Wir kamen aber unbeanstandet durch,

setzten uns alle vier in eine Droschke und fuhren auf Huchs Empfehlung vorläufig nach Töpfers Hotel am Luisenplatz.

Die luftigen Studentensemester lagen hinter uns. Jetzt galt es zu arbeiten; denn schon stand wieder ein Examen

in Sicht.

3. Vas letzte Studienjahr Berlin Gedenke, o wie weit, wie weit Liegt bald die goldne Burschenzeit.

W. H. Mehl

arl Lange, Ludwig Kramer und ich haben in Berlin gut zusammengehalten.

Wilhelm Huch

ging dagegen seine eignen Wege. Er aß gleich

am

ersten Tage in

Portionen Krammetsvögel

Töpfers Hotel vierzehn

zu Mittag,

Schleckerei, daß wir ihn auslachten.

eine

so

unsinnige

Abends führte er uns

in eine der damals aufgekommnen sogenannten Polkakneipen. Hier bekam man teures und schlechtes Bier von schlecht und

unsauber kostümierten Schenkmädchen serviert, die den An­ spruch erhoben, aus demselben Glase mittrinken zu dürfen.

Das war so schmutzig und widerlich, daß es auf uns grüne Provinzialen

einen

geradezu abstoßenden Eindruck machte.

Wir tränten unser Bier nicht aus, sondern ließen es stehn und machten uns aus dem Staube.

danach fast

aus

den

Augen.

Wilhelm Huch kam uns

Zu Anfang des Sommer­

semesters 1853 hatte er uns an dem Abend seiner Doktor­ promotton zu einer Kneiperei geladen.

hingegangen.

Er hatte sich,

Wir waren aber nicht

tief in der Nacht, nach dem

Besuch verschiedner Kneipen von seinen Freunden getrennt,

um nach Hause zu gehen. Angekommen ist er aber in seiner Wohnung nicht.

Er blieb verschwunden. Etwa ein Viertel­

jahr später wurde bei Spandau eine Leiche ans Land ge-

304 schwemmt, deren Identität mit Wilhelm Huch von dessen

Bruder rekognosziert wurde.

Das war das traurige und

rühmlose Ende dieses begabten Menschen,

der von seinen

Eltern mit der Hoffnung auf eine ganz ungewöhnlich glän­ zende wissenschaftliche Entwicklung seinerzeit zur Universität

entlassen worden war.

Gestorben, verdorben!

Die Sache

machte auf uns eine Zeit lang tiefen Eindruck. Mein Vetter Ludwig Kramer und ich hatten eine ge­

meinsame Wohnung in der Marienstraße bei zwei alten, un­

verheirateten adlichen Damen bezogen. Karl Lange, der Theo­ logie studierte, wohnte ganz in unsrer Nähe, in der Albrecht­

straße.

Unsre Wohnung, ein großes zwei- oder dreifenstriges

Vorderzimmer mit einer saubern Schlafkammer daneben, war für ein Paar fleißiger, solider Studenten ein nahezu ideales Quartier.

Nur wir, die darin wohnenden Vettern, erwiesen

uns, obwohl wir uns vertrugen, als keineswegs so ideal, wie

wir uns selbst gegenseitig taxiert hatten.

Ludwig Kramer

hörte, da er drei Semester in Heidelberg gewesen war, andre Vorlesungen in Berlin als ich.

Deutsches Privatrecht und

deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte hatte er in Heidelberg

schon gehört. Ich hörte sie erst jetzt bei Professor von Richt­ hofen. Er wiederum hörte bei Ludw. Ämil. Richter dessen mit Recht berühmtes Kirchenrecht, während das einzige Heft,

das ich von Halle mitgebracht hatte, Göschens Kirchenrecht war. Ich hörte bei Professor Berner Strafrecht und Straf­

prozeß.

Beides hatte mein Vetter in Heidelberg bei Mitter-

meyer gehört.

Kurz, von einem gemeinsamen Zusammen­

arbeiten war keine Rede.

Unser Vorsatz, Abends gar nicht

mehr zum Kneipen auszugehen, wurde auch nicht streng inne­

gehalten.

Ich ging wohl dann und wann mit zu den alten

Freunden aus der Heidelberger Suevia, zu denen sich mein

Better ausschließlich hielt. Indessen ich traf doch auch ehemalige

305 Hallenser Altmärker, die ich nicht vor den Kopf stoßen konnte und wollte.

Die Altmärker standen wieder im Kartell mit

den Berliner Vandalen, und so wurde ich öfter auf die Kneipe und zu ihren Festlichkeiten eingeladen.

Kurz, unsre

Vergnügungen deckten sich so wenig wie unsre Studien.

Weihnachten gaben

Zu

wir unsre gemeinsame Wohnung auf.

Mein Vetter zog auf den Zietenplatz, dem jetzigen Kaiserhof

gegenüber, und ich in eine Hofwohnung in der Mauerstraße mit der Aussicht in den Garten des Prinzen Karl. Treppe unter mir wohnte mein

Eine

Freund Karl Lange bei

einem Schneider. Mein Wirt war ein ehrsamer Schuhmacher­

meister Huber, der echte Typus des damaligen Berliner kleinen Handwerkers.

Er hatte ein Nest voll Kinder und

einen Lehrjungen namens Robert, der wenig zu essen, aber sehr viele Hiebe mit dem Knieriemen bekam.

Nichtsdesto­

weniger war er immer luftig und vergnügt und steckte voll

schlechter Witze. Dafür nahm ihn der „Meester" im Sommer sonntäglich mit nach Saatwinkel zum Angeln.

In diesen

Partten nach Saatwinkel erblickte Meister Huber das höchste

Ideal menschlichen Vergnügens, und er setzte mir alles Ernstes auseinander, daß er mich, wenn ich später einmal als Ge­ heimer Rat wieder nach Berlin kommen und ihn besuchen

würde, dann Sonntags mit nach Saatwinkel nehmen wolle. Das sei das Schönste, was es auf dieser Welt gebe.

Mit

meiner Monatsmiete von fünf Talern half Meister Huber seinen Finanzen auf.

Meinen Kachelofen heizte er gegen

Exttabezahlung eigenhändig mit Koks.

Es war ein Anblick

für Götter, wenn der dicke Meester und der spillrige Lehr­ junge Robert vor dem Ofen lagen, um das Koksfeuer an­ zubrennen.

Ich habe dort im Winter mächttg gefroren.

Desto schöner war es im Frühjahr und Sommer in der Wohnung, aus der ich in die schatttge, grüne Pracht des Bosse, Aus der Jugendzeit 20

306 prinzlichen Gartens mit seinen schönen Bäumen hineinsah.

Prinzessinnen

Die beiden Töchter des Prinzen Karl, die

Luise und Anna, waren damals noch unvermählt, die letzte

bildhübsch und kaum siebzehn Jahre alt.

Sie gingen fast

an jedem Morgen im Garten spazieren, dann machten mein

Freund Lange und ich eine Art Feston aus bunten Zigarren­ bändern und hingen sie an unsre Fenster, und wir bildeten uns ein, daß die Prinzessinnen freundlich zu uns herüber­

lachten. Mein Freund Lange war viel fleißiger und solider als ich.

Wenn er sich vorgenommen hatte, Abends zu arbeiten,

ließ er sich durch keine Bitten von mir verführen, mit mir auszugehn, und oft sah ich bei ihm durch das Schlüsselloch

noch Licht, wenn ich in der Nacht zurückkam.

Einmal drang

ich bei ihm ein und fand ihn, wie er die Psalmen poetisch übersetzte.

Das imponierte mir gewaltig, und ich sah voll­

kommen ein, wie viel besser und nützlicher seine Beschäftigung war als mein abendliches Kneipen mit den Korpsbrüdern

wobei es doch zuweilen ohne Exzesse nicht abging. Ich fühlte mich in tiefster Seele durch ihn beschämt.

Nur hätte die

Beschämung noch tiefer und nachhaltiger wirken müssen.

Die

üble Gewohnheit trieb mich Abends spät meistens doch immer wieder in die Kneipe zu den Korpsbrüdern.

Und doch hätte

ich meine Zeit viel nützlicher verwenden sollen. Nur ein einziges Vergnügen gönnten wir uns von

Zeit zu Zeit, für das wir beide mit gleicher Lebhaftigkeit

schwärmten, das Theater.

Und diese Passion — mit Rück­

sicht auf unsre Finanzen gingen wir nur in klassische Stücke —

ist für uns merkwürdigerweise die dauernde Quelle manches

kostenlosen Genusses geworden. Wir waren eines Abends im Opernhause gewesen und

hatten dort den ersten Teil des Faust gesehn.

Dessoir gab

307 den Faust und Döring den Mephisto, jeder in seiner Art vorzüglich. Wir waren ganz voll von dem gehabten Genuß

und beschlossen, tagS darauf ins Schauspielhaus zu gehen, wo Shakespeares

„Was ihr wollt"

gegeben wurde.

Ein

Theaterbillett in zwei Tagen hintereinander war ein Luxus,

der eigenllich

über unsre

Verhältnisse hinausging.

Wir

wurden aber für unsre Opfer reichlich belohnt, denn auch diese Aufführung war ein Hochgenuß. Nur in einem Punkte

waren wir übereinsümmend ganz unzufrieden. Döring spielte

den Malvoglio; er hatte sich aber am Wend vorher als Mephisto so in das Hinken hineingewöhnt, daß er auch als

Malvoglio fortwährend hinttc, obwohl die Rolle dazu gar

keinen Anlaß bietet.

Das empörte uns, und wir schimpften

an jenem Wend auf Döring in allen Tonarten. Ich nament­ lich sah darin eine grobe Rücksichtslosigkeit gegen das Pu­ blikum.

Am andern Morgen setzte ich mich hin und schrieb

eine Rezension der gestrigen Vorstellung von „Was ihr wollt."

Mit dem Selbstbewußtsein des alten Korpsstudenten rügte ich in den stärksten Ausdrücken, daß Herr Döring sich ohne alle

Rücksicht auf das Publikum habe gehen lassen, und daß er

es nicht für der Mühe wert gehalten zu haben scheine, sich das mephistophelische Hinken vom Tage vorher wieder abzu­

gewöhnen in einer Rolle, für die es absolut nicht passe.

Die

Rezension wurde von uns beiden wiederholt ernstlich durch­

geprüft.

Endlich steckte ich sie mit einem kurzen Briefe an

die Redaktton der „Sternzeitung" in ein Kuvert und gab sie zur Post.

Die Sternzcitung war damals das offiziöse Re­

gierungsblatt, und wir waren auf sie geraten, weil sie die

einzige Zeitung war, die wir lasen. Sie wurde nämlich um­ sonst oder doch fast umsonst geliefert.

Andern Tags fanden

wir unsre Rezension unverkürzt und unverändert in der

Sternzeitung abgedruckt, amüsierten uns darüber, daß wir

308 wirklich gedruckt wären, und daß wir die liebliche Pflicht er­ füllt hätten, die Unart eines berühmten Schauspielers ver­ dienterweise öffenttich zu tadeln.

Wir glaubten damit nicht

nur dem Publikum, sondern auch Herrn Döring einen Dienst

erwiesen zu haben. Ein paar Tage später erhielt ich durch die Post zu meiner höchlichen Überraschung ein höfliches Billett des Redakteurs der Sternzeitung, Dr. Hermes, worin

er mich bat, ihn doch einmal zu besuchen.

Ich ging hin,

fand einen Heinen, intelligent aussehenden Herrn, der mir für die frische und unbefangne Besprechung der Vorstellung

von „Was ihr wollt" dankte und mich fragte, ob ich nicht für seine Zeitung die Rezensionen

der Darstellungen des

Königlichen Schauspielhauses übernehmen wolle. Natürlich ohne Bezahlung, aber gegen Überlassung des Freibilletts der

Sternzeitung.

Ich machte einige bescheidne Einwendungen,

verhehlte auch nicht, daß ich mit meinem Freunde gemein­ schaftlich aus innern Drange die Rezension geschrieben habe. Dr. Hermes erklärte es für gleichgilttg, wie wir die Arbeit unter uns verteilen wollten, lobte unsre Rezension und be-

merkte, sie habe durch ihre Unbefangenheit und Entschieden­

heit in den Theater- und Zeitungskreisen ein gewisses Auf­

sehen erregt, da ja sonst alle Theaterbesprechungen in Berlin damals unter dem unbestrittnen, aber doch sehr einseitigen

Einflüsse Rellstabs stünden.

Kurz, ich ging mit dem Frei­

billett für einen Logenplatz im zweiten Range nach Hause. Wer war glücklicher als mein Freund und ich! redlich in die Arbeit.

Wir teilten uns

Sehr oft nahm der, der mit dem

Freibillett nicht an der Reihe war, auf gemeinsame Kosten

ein bezahltes Billett, sodaß wir uns über unsre Eindrücke verständigen konnten.

So habe ich denn bis zu meinem

ersten juristischen Examen freies Theater gehabt und eine

Menge Aufführungen rezensiert.

Oft gewiß töricht genug.

309 Aber ich habe doch wenigstens eine Menge Aufführungen auf diese Weise zu sehen bekommen und manches dabei gelernt. Freilich war es im Grunde eine — gelinde ausgedrückt —

Unverfrorenheit ohnegleichen, daß wir unreife Jungen uns ein

derartiges Rezensentenamt anmaßten, für das uns Vorbildung und Erfahrung fehlten.

Indessen die Verantwortung dafür

schoben wir ohne allen Gewissensbedruck dem Dr. Hermes zu. Dieser machte mit uns insofern ein Geschäft, als wir ihn nicht einen roten Pfennig kosteten.

Ja, es dauerte nicht

lange, so übertrug er mir trotz der von mir geäußerten Be­

denken auch die Besprechung der Opernaufführungen im Opern­ hause.

Das war uns insofern von großem Wert, als wir

uns für die damaligen beiden Primadonnen des Opernhauses

Frau Köster und Fräulein Johanna Wagner lebhaft inter­ essierten.

Diese hatte in Quedlinburg mit ihren Eltern im

Elternhause meines Freundes gewohnt.

Sie war jetzt eine

Berühmtheit geworden, und wir sangen in unsern Theater­

berichten ihr Lob in den höchsten Tönen. Der Kapellmeister

Truhn hatte damals ein musikalisches Melodrama „Kleopatra" für Johanna Wagner geschrieben.

Wir wohnten der ersten

Aufführung bei und äußerten uns über das Tonwerk und dessen Darstellung mit sehr sachverständig klingenden Aus­

führungen. Ach, es war wenig genug dahinter. Aber Freude, Genuß und innerlichen Gewinn haben wir von unsrer jugend­ lichen Berichterstattung oder richtiger von dem uns in den

Schoß gefallnen Freibillett reichlich gehabt.

Jedenfalls ist

dieser erste Ausflug in das Gebiet der Journalistik nicht

ohne Einfluß auf mein späteres Leben geblieben.

So kam allmählich das sechste und letzte Semester heran.

Eine Anzahl von Korpsbrüdern aus Heidelberg, etwa vier oder fünf, forderten mich auf, mich an einem Repetitorium

zu beteiligen, das sie bei einem Assessor Dr. Herzfeld anzu-

310

nehmen gedachten.

Ich sagte mir, daß mir eine derartige

Zusammenfassung des gesamten juristischen Wissensstoffes nur nützlich sein könne.

Ich hatte ja freilich meine Exzerpte aus

Puchtas Jnstituttonen, ein vollständiges Heft von Vangerows

Pandetten, ein Heft von GneistS Zivilprozeß und Berners Sttafrecht und noch einige andre Kollegienhefte;

aber der

unmethodische Anfang in Heidelberg und die Unterbrechung

durch das Freiwilligenjahr in Halle hatten meinen juristischen

Studien das harmonische Gleichmaß entzogen. Ich war auf einzelnen Gebieten leidlich orientiert, auf andern dagegen war ich ein

völliger Fremdling.

Genug, ich nahm das Repe­

titorium an, hörte daneben noch bei Heydemann Preußisches Landrecht und bei Stahl Staatsrecht, konzentrierte aber meine wirkliche Arbeit ausschließlich auf die sorgfältige Ausarbeitung

eines Hefts nach Herzfelds Vorttage.

Ich habe dort in der

Tat einen tiefern Eindruck von dem wirklichen praktischen Rechtsleben bekommen, und ich habe auch bei Herzfeld wirklich

etwas gelernt.

Dieser war ein juristischer Vielwisser ersten

Ranges, aber — und das war für uns wichtiger — ein Mann mit klarem, logischem Verstände, der es mit unsrer

Unterweisung ernst nahm und die vorhandnen Lücken syste­ matisch auszufüllen wußte.

Seine Art, uns gewissermaßen

disputando das Gelernte abzufragen, war äußerst geschickt. Am 20. September 1853 bestand ich beim Kammergericht das erste juristische Examen mit dem Prädikate „gut“

Ich wurde

dann zum Auskultator ernannt und auf meinen Wunsch dem

Kreisgericht in Quedlinburg zur dienstlichen Beschäftigung überwiesen. Als wir nach bestandnem Examen dem Assessor

Herzfeld unsern Abschiedsbesuch machten, trug unsre letzte Begrüßung das Gepräge wirllicher Herzlichkeit und auf unsrer Seite einer gewissen Wehmut.

Zum Schluß gab er uns,

wie er sich ausdrückte, zwei prattische Ratschläge fürs Leben:

311 „Übernehmen Sie nie eine Bürgschaft, und stellen Sie nie einen Wechsel aus!"

Damals lachten wir über diese Marotte.

Später habe ich nur zu oft gesehen, wieviel Beamtenglück durch Bürgschastsübernahme und Wechselschulden vernichtet worden ist. Die Zeit der fleißigen Arbeit unter Herzfelds Ägide war

eine verhältnismäßig glückliche Zeit.

Nur von Zeit zu Zeit

wurde die fülle Solidität der Arbeit — dazu darf ich ja in

gewissem Sinne auch unsre Theaterbesuche und das Redigieren der Rezensionen rechnen — unterbrochen durch eine Einladung auf die Vandalenkneipe. Das gab dann ein Übermaß von Trinken und hinterher Scham und Reue, sodaß ich mich je

länger desto mehr von diesem Korpstreiben zurückzog. Bon Zeit zu Zeit ging ich mit meinem Vetter Ludwig

Kramer zu einem gemeinsamen Verwandten, dem Onkel Reeger. Er war Großböttchermeister und besaß ein Haus in der Koch­

straße. Er war ein Abkömmling meines Urgroßvaters Bosse.

Eine Schwester meines Großvaters war Onkel Reegers Mutter gewesen. Dieser, obwohl aus Quedlinburg gebürttg, war voll­ kommen in die Berliner Verhältnisse hineingewachsen.

Nach

seiner Sprache und Anschauungsweise erschien er durchaus als

waschechter, wohlsituierter Berliner Bürger. Er war Witwer und lebte in seiner Wohnung mit einer alten Haushälterin, die zu unsrer Bewirtung regelmäßig Karpfen in Mer auf-

ttschte, den sie vorzüglich zuzubereiten verstand. Hatten wir bei Onkel Reeger unsern Karpfen gegessen, so ging er mit

uns in eine benachbarte Weißbierstube in der Kochstraße.

Dort hatte er seinen Stammttsch mit vier oder fünf Berliner Bürgern ähnlichen Schlages. Unter diesen befand sich ein Ge­ heimer Kanzleidiener des Kultusministeriums, der von den

andern ziemlich derb aufgezogen zu werden pflegte.

Wir

gingen zu dem einfachen, aber immer vergnügten und ganz

312 witzigen Onkel Reeger sehr gern und folgten ihm auch gern in sein Stammlokal. Wir lernten dort einen Kreis von Men­ schen kennen, der zwar innerhalb eines eng begrenzten Hori­

zonts lebte, aber seine Interessen mit echt Berliner kaustischer Schärfe vertrat und dabei die Fröhlichkeit und das Behagen

des im Grunde mit seiner Lage sehr zufriednen Berliner Philisters repräsentierte.

Jedenfalls war es uns nützlich,

auch mit dieser sozialen Gesellschaftsschicht unbefangen Füh­ lung zu gewinnen. Aber wir hatten noch einen andern häuslichen Verkehr, der uns viel Freude machte. Eine Cousine von uns war an den Bildhauer,

Professor Gustav Bläser verheiratet.

Sie

war die Tochter des Posthalters Horn in Blankenburg am Harz, und ihre Mutter war die Tochter eines Bruders

meiner Großmutter Bosse geb. Fritze gewesen. Sie war nicht nur eine ungewöhnlich schöne, sondern auch eine engelhaft

gute, liebenswürdige junge Frau.

Sowohl Ludwig Kramers

wie meine Eltern unterhielten zwar mit dem Hornschen

Hause in Blankenburg keinen besonders lebhaften Verkehr, aber das Verwandtschastsverhältnis wurde doch von beiden

Seiten respekttert. Als sich die wunderhübsche Tochter Emilie

mit einem Berliner Bildhauer verlobt hatte, noch dazu unter höchst romanttschen Umständen, war das Ereignis in der Familie viel besprochen worden.

Denn ein Bildhauer war

in der Familie bis dahin unerhört gewesen, und weder in

Blankenburg noch in Quedlinburg hatte man ein klares Be­ wußtsein davon, was man sich unter einem Bildhauer vor­

zustellen habe. Schließlich war man dann aber doch zu dem

Ergebnis gekommen, daß ein Bildhauer eine Art Künstler, ähnlich wie ein berühmter Maler, und daß sein Fach an­ gesehen und allenfalls auch einttäglich genug sei, um eine

Familie anständig

ernähren

zu

können.

Bläser war ein

313

Schüler Rauchs und ist den Berlinern später durch seine Pallasgruppe

auf

der

Schloßbrücke,

seine Marmorstatue

Friedrich Wllhelms des Vierten vor der Orangerie in Pots­

dam und seine Statue der Gastfreundschaft in der National­ galerie bekannt geworden.

Er starb lange vor seiner Frau,

kaum sechzig Jahre alt, im Jahre 1874.

Ich war Michaelis 1852 nach Berlin gegangen mit dem festen Vorsatze, dort alles auszugleichen, worüber ich mit mir

selbst unzufrieden war, Lücken in der allgemeinen Blldung

auszugleichen, Rechtswissenschaft endlich ernstlich zu studieren und mein theologisches Bedürfnis wissenschaftlich zu ernster Überzeugung zu führen. Dies letzte gelang mir keineswegs. Meine Religion kam über ein unbestimmtes Sehnen nach der

Wahrheit auch damals noch nicht hinaus.

Dagegen studierte

ich zuletzt wirklich eifrig und fühlte mich bei allem Mangel an Geschlossenheit meiner Kenntnisse dem im September 1853 bevorstehenden

sicher.

Auskultatorexamen

gegenüber

einigermaßen

49R|ie vorstehenden Aufzeichnungen über die Hallenser und die Berliner Studentenzeit sind das letzte, was der Ver­

fasser kurz vor seiner letzten Krankheit im Frühjahr 1901 für den Druck seiner Erinnerungen vollendet hatte. Über die Zeit

von 1853 bis zur Übersiedlung nach Berlin im Herbst 1876, wo die schon früher vollendeten Aufzeichnungen wieder ein­ setzen, folgt hier zur Herstellung des Zusammenhanges eine

kurze, sich auf die freilich sehr ungleichen Tagebuchblätter

stützende Darstellung.

1. Dow Lude der Studentenzeit bis zur Verheiratung. 1853 dir 1861 Nachdem sich Bosse am Ende seines sechsten Semesters

beim Kammergericht zur ersten juristtschen Prüfung gemeldet

und sie am 20. September 1853 bestanden hatte, kehrte er als

Auskultator ins väterliche Haus zurück; am 7. Oktober wurde er durch den Kreisgerichtsdirektor Meißner in Quedlinburg

vereidigt. Die Praxis des Kreisgerichts nahm ihn nicht all­ zuviel in Anspruch. Dagegen trat er allmählich und unver­ merkt den damals sehr lebendigen, geistig frischen, wiewohl

äußerlich sehr

schroffen kirchlichen Kreisen in Quedlinburg

näher. Vor allem waren es der Pastor Theodor Köhler auf

dem Johannishofe, dann auch der Pfarradjunkt an der Schloß­ kirche Eduard Kratzenstein, der spätere Berliner Missions­ inspektor, die ihn in diesen Kreisen

fesselten.

Daß darin

316

wirklich geistige Kräfte ungewöhnlicher Art lebendig waren, scheint dadurch bewiesen, daß sich ihnen alle jungen Juristen, die außer Bosse damals in Quedlinburg arbeiteten, außer ihm

noch fünf oder sechs, zuwandten, unter ihnen sein späterer

Schwager,

der Referendar Alwin Fricke.*)

Der Verkehr

wurde für den Kreis jener Freunde entscheidend. Sie haben alle eine Art theologischer Neigung und mehr oder weniger positive Richtung ihr Leben lang beibehalten.

Auch nach der im März 1855 in Halberstadt bestandnen

zweiten juristischen Prüfung, die damals zur Erlangung des Referendartitels noch gefordert wurde, blieb Bosse noch andert­

halb Jahre in Quedlinburg beschäftigt. Der Aufenthalt wurde aber unterbrochen durch die beiden ersten militärischen Übungen

des jungen Landwehroffiziers beim siebenundzwanzigsten In­ fanterieregiment in Magdeburg, die zu mancherlei interessanten

Bekanntschaften Gelegenheit gaben. Nach Beendigung der zweiten Übung wurde Bosse vom 20. Juni bis zum 30. August

1856 mit einem Kommissorium als Hilfsrichter in Ermsleben betraut.

Hier schloß er sich dem Hause des Kreisrichters

Stolzmann, des jetzigen Konsistorialpräsidenten in Breslau, eng an.

Die innige Freundschaft zwischen beiden Männern

ist erst durch Bosses Tod gelöst worden. — In den November 1856 fällt die Aufgabe des Brennereibetriebes des Vaters.

Die Familie verließ das alte Haus am Kling, das seit siebzig

Jahren ein Bossehaus gewesen war, und zog in eine Miet­ wohnung in der Ratsapotheke am Kornmarkt. Vom 18. Dezember 1856 bis dahin 1857 arbeitete Bosse

beim Appellationsgericht in Halberstadt.

Einigen Ersatz für

das schmerzlich vermißte Quedlinburger Gemeinschaftsleben bot ihm dort die originelle Persönlichkeit des Dompredigers *) Verstorben 1902 als Geheimer Justizrat in Stettin.

317

Lange.

Auch ein Besuch bei Pastor Harms in Hermanns­

burg scheint ihn in dieser Richtung sehr angeregt zu haben.

Nach Abschluß der Halberstädter Tätigkeit wäre er am liebsten gleich nach Berlin gegangen, um sich durch Repetitorien auf die große Staatsprüfung vorzubereiten.

Es war aber, um

die Repetitorien nicht aufkommen zu lassen, damals verboten, früher als vierzehn Tage vor der mündlichen Prüfung nach

Berlin zu kommen, und obwohl dies Verbot massenhaft über­ treten wurde, ohne daß je eine Bestrafung erfolgt wäre, konnte

sich Bosse dazu nicht entschließen, wartete vielmehr in Quedlin­ burg die Vorladung ab, die auf den 12. Juni lautete.

30. Mai reiste er nach Berlin ab.

Am

Dort wurde er aber

schon auf den 5. Juni zur mündlichen Prüfung vorgeläden

und bestand glücklich. Am 12. Juni hielt er mit Erfolg den mündlichen Probevortrag und begann dann beim Obertribunal die Anfertigung des letzten Stückes der Prüfung, des Probe­

referats. Erst im Dezember erhielt er mit der Nachricht über

den günstigen Ausfall die Ernennung zum Gerichtsassessor mit dem Dienstalter vom 4. September. Während der Arbeit am Referat hatte er bei Stahl die Bekanntschaft des Assessors Jacobi, des spätern Staatssekre­

tärs, gemacht. Dieser kam am 26. Juli mit dem preußischen Gesandten am schwedischen Hofe Lecoq zu ihm, mit dem An­

träge, dessen einzigen Sohn in Stockholm auf die Auskul­

tatorprüfung vorzubereiten und sonst zu beraten. Bosse sagte zu und reiste alsbald nach Beendigung des Referats nach

Stockholm ab, wo er am 12. August ankam.

Neben der

Tätigkeit im privaten Dienste des Gesandten durfte er mit Bewilligung des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten

auch amtlich bei der Gesandtschaft beschäftigt werden, und wenn diese Beschäftigung diplomatisch auch wohl kaum von

Wichtigkeit war, so trug sie doch sicherlich zur Erweiterung

318

des Gesichtskreises des bisherigen kleinstädtischen Referendars bei.

Auch in Stockholm interessierten Bosse die kirchlichen

Verhältnisse.

Er veröffentlichte damals in der Hengsten­

bergischen Evangelischen Kirchenzeitung Beobachtungen über

die kirchlichen Zustände Schwedens.

Im April 1859 hatte

die an äußern Annehmlichkeiten reiche Stockholmer Zeit mit der Versetzung des Gesandten ein Ende. Bosse erwartete die

Heimkehr mit Ungeduld; sollte sie ihm doch die Entscheidung

über die Hand seiner spätern Lebensgefährtin bringen. Schon längere Zeit vor der Stockholmer Reise hatte er sich damit

getragen, um die Hand von Alwine Lindenbein, der Tochter

eines angesehenen Quedlinburger Hauses, anzuhalten.

Sein

erster Schritt in der Heimat war die Ausführung dieser Ab­ sicht, und am 20. April konnte die Verlobung gefeiert werden.

Das Glück des jungen Brautstandes wurde freilich durch den

Tod von Bosses Vater im Mai jäh getrübt und bald darauf durch die Mobilmachung vom 14. Juni in unliebsamer Weise unterbrochen.

Der erwartete Krieg mit Frankreich wurde

zwar durch den Frieden von Villafranca vermieden, indem Österreich die Abttetung der Lombardei der Möglichkeit eines

gegen Frankreich siegreichen Preußens vorzog; die Landwehr­ offiziere wurden aber wegen der neuen Landwehrorganisatton

noch bis zum Herbst in Magdeburg zurückgehalten.

Dann

aber folgte eine Zeit ungettübten Brautstandes in Quedlin­

burg, wo Bosse beim Kreisgericht und bei der Staatsanwalt­ schaft, zuletzt als Vertreter des ins Parlament gewählten Kreisgerichtsrats Mende, beschäftigt wurde. Am 7. November 1861 wurde er durch den treuen Freund, Pastor Köhler, in

der Marktkirche in Quedlinburg getraut Schon vorher aber hatte das Schiff seines Lebens eine ganz neue Richtung er­

halten.

319

L. Roßla. 1861 bis 1868 Der regierende Graf Karl Martin zu Stolberg-Roßla

suchte zu Anfang des Jahres 1861 einen Juristen als Leiter der Gräflichen Rentkammer in Roßla und in Ortenberg im Großherzogtum Hessen.

Von verschiednen Seiten wurde er

auf Sosse gewiesen, und nachdem er sich mit ihm persönlich

in Quedlinburg verständigt hatte, ging dieser im April 1861

vorläufig und vom 1. Oktober desselben Jahres ab endgiltig

als Kammerdirektor und weltliches Mitglied des Gräflichen Konsistoriums (Konsistorialassessor) nach Roßla.

Aus dem

Justtzdienste mußte er nach einjährigem Urlaube auf Ver­ langen des Justizministers ausscheiden. In Roßla also wurde

der junge Hausstand gegründet, dort wurden auch die drei

ältesten Kinder geboren. Die kleine, übersichtliche und auch in Schulsachen selb­ ständige Konsistorialverwaltung

der Graffchast

vermittelte

Bosse ein fortdauerndes lebendiges Interesse an allen kirch­ lichen Fragen der Zeit, und dabei waren die Amtsgeschäfte

nicht so erdrückend, daß er nicht zu staatsrechtlichen und kirchenrechtlichen Studien, denen seine Neigung gehörte, und zu denen ihn auch der Beruf vielfältig anregte, Zeit übrig

behalten hätte.

Er war damals ein ziemlich regelmäßiger

Mitarbeiter an Glasers Jahrbüchern für Staats- und Gesell­

schaftswissenschaften.

Einzelne dafür geschriebne Arttkel in

Briefform sind später (1868) gesammelt unter Hinzufügung dreier von Professor Glaser selbst geschriebner Briefe unter

dem Titel: „Grundzüge konservattver Politik" im Kortkampfschen Verlage ohne Nennung der Verfasser als Buch er­

schienen. Sie machten einiges Auffehen, und schon nach vier­

zehn Tagen erschien eine zweite Auflage. Auch in eine prakttsche Tättgkeit für konservative Polittk durch Vorttäge und der-

320 gleichen wurde er hineingezogen, die sich nicht auf den Roßlaer

„patriotischen Verein" beschränkte, sondern oft wider seinen

Willen über die Grenzen der Grafschaft, ja des Kreises hin­

ausging.

Durch seine amtliche Stellung wurde er in der­

selben Zeit vielfach mit den Kreisinteressen und den Kreis­

geschäften des Sangerhäuser Kreises befaßt.

Er vertrat den

Grafen auf dem Kreistage und gehörte zahlreichen Kreiskom­

missionen an.

Namentlich hatte er bei der ersten Veranlagung

der Gebäudesteuer in der Veranlagungskommission wiederholt

und auf längere Zeit für den Landrat den stellvertretenden Vorsitz zu führen.

Für diese Tättgkeit erhielt er im Sommer

1864 sogar den Preußischen Kronenorden vierter Klasse.

Die Hauptaufgabe in Roßla aber war die eigentliche Leitung der Gräflichen Finanzgeschäfte.

Bosse selbst hielt da­

mals die Finanzen nicht für seine besondre Gabe, faßte die Arbeiten aber mit Lust und Frische an. Jedoch geriet er auf

diesem Gebiete mit seinem verttauensvollen Optimismus in einen gewissen Gegensatz zu dem Grafen, dem er zwar ein

weiches und wohlwollendes Herz nachrühmt, der aber durch böse Erfahrungen verbittert war und einigermaßen mißttauisch

geworden zu sein scheint, sodaß Verstimmungen nicht ganz ausblieben. Die vielseittge und mannigfaltige amtliche Tättg­

keit half aber zunächst darüber hinweg.

Ein ganz eigner

Aufttag wurde Bosse in diesem Geschäftsbereiche im Frühjahr

1866 zuteil.

Die Stolbergischen Grafschaften hatten die so­

genannten Haderhölzer vom Herzogtum Anhalt-Bernburg zu Lehen. Durch das Ableben des Herzogs Alexander Karl von

Anhalt-Bernburg

am 19. August 1863

war eine Lehns-

erneuerung notwendig geworden, die nach dem Aussterben des Bernburger Hauses diesesmal in Dessau stattzufinden

hatte.

Bosse wurde von sämtlichen Agnaten der Stolber­

gischen Häuser zu ihrer Entgegennahme bevollmächtigt.

Nach-

321 dem in länger« Verhandlungen festgestellt worden war, daß das nach einem alten Lchnsvergleiche den Stolberger Grafen

zustehende,

von den gewöhnlichen Lehnsförmlichkeiten ab­

weichende Zeremoniell für diesesmal insoweit außer Kraft ge­

setzt werden sollte, als die Abholung des Bevollmächtigten durch einen Kauunerherrn und im sechsspännigen Wagen als zu auffällig gegen die sonstige, selbst Souveränen gegenüber

übliche Dessauer Hofordnung unterbleiben könne, wurde vom Herzoge ein Beleihungstermin vor dem Herzoglichen Ober­

landesgericht zu Dessau als derzeitiger herzoglicher Lehnskurie anberaumt, und zwar auf den Montag nach Quasimodogeniti

als den Jahrestag jenes Lehnsvergleichs von 1613, worin

Der von

das ganze Zeremoniell vereinbart worden war.

Bosses Hand geschriebne Bericht über den Verlauf des Be­

leihungstermins, die vorangehenden und nachfolgenden Förm­ lichkeiten, den Empfang beim Herzog und das Galadiner ist

in den Akten der nunmehrigen Fürstlich Stolbergischen Rentkammer auf mehr als fünfzig Bogenseiten enthalten. Er er­

streckt sich auf die scheinbar unbedeutendsten Einzelheiten und

gibt ein lebendiges und ergötzliches, fast mittelalterlich an­

mutendes Bild des feierlichen Aktes. Mitten in die friedsame Stimmung, von der er Zeugnis ablegt, platzte am 7. Mai 1866 die Mobilmachung hinein. Bosse wurde als Führer der zehnten Kompagnie dem für

Erfurt bestimmten Ersatzbataillon Aschersleben zugeteilt und machte in dieser Eigenschaft die Schlacht bei Langensalza mit.

Er wurde dort, übrigens ganz leicht, durch einen Prellschuß an der rechten Hüfte verwundet, auch nachher noch, ohne Schaden zu nehmen, durch den Luftdruck einer neben ihm

platzenden Granate zu Boden geschleudert.

Vom 17. Juli bis

zum 15. September hielt er mit seiner Kompagnie die herzog­

lich Meiningische Grafschaft Camburg besetzt. Die Kompagnie vosse, Aus der Jugendzeit

21

322 scheint es verstanden zu haben, die Herzen der Feinde zu er­

obern; wenigstens ist es nach einem erhaltnen Berichte der Dors­

zeitung vom 22. September, derselben Nummer, die die Mederlegung der Regierung des Herzogtums durch denHerzog Bern­

hard Erich Freund meldet, beim Abschied nicht ohne Konzert, Toaste, Ansprachen und festliches Geleit abgegangen.

3. Achte. 1868 bis 1870 Die Geschäfte des Konsistoriums wie der Kammer hatten Bosse auch vielfach in Beziehung zu den Gräflich Stolberg-

Wernigeröder Behörden und zum regierenden Grafen Otto zu Stolberg-Wernigerode gebracht.

Im Herbst 1867 wurde

dieser zum ersten Oberpräsidenten der neugebildeten Provinz Hannover ernannt.

Anfang Dezember erhielt Bosse von ihm

die verttauliche Anfrage, ob er geneigt wäre, als Kreis- oder Amtshauptmann in Hannover wieder in den Staatsdienst zu

treten.

So schwer der Abschied von Roßla in mancher Be­

ziehung auch wurde, so gab doch der Wunsch, aus den kleinen Verhältnissen herauszukommen, und die Erkenntnis, mit dem

Grafen Karl nicht überall auf demselben Boden zu stehn,

um so mehr den Ausschlag, als dieser selbst nach offner und im besten Einvernehmen erfolgter Aussprache weiter keinen

Einspruch erhob.

Die Bosse zunächst von Hannover aus in

Aussicht gestellte Stelle als Kreishauptmann in Göttingen

blieb ihm fteilich zu seinem Bedauern versagt, weil sie von Berlin aus anderweit besetzt wurde, und er mußte sich mit

dem etwas weltentlegnen Amte Uchte im Hoyaschen begnügen. Der Empfang der Bevölkerung war zunächst recht kühl; das Mißtrauen gegen den Altpreußen kam überall zum Vorschein,

und selbst persönliche Angriffe in der Nienburger „Hannover­ schen Landeszeitung" blieben nicht aus.

Auch in dem be­

schränkten Kreise des gesellschaftlichen Verkehrs ließ die schroffe

323 Verschiedenheit des politischen Standpunkts, von wenig Aus­ nahmen abgesehen, keine rechte Wärme aufkommen. Dagegen

erwies sich die dienstliche Stellung, die auch den Betrieb einer

kleinen Landwirtschaft mit sich brachte, bald als sehr ange­

nehm, zumal da das Verhältnis zu den nächsten Vorgesetzten in Hannover nichts zu wünschen übrig ließ. Aber auch in den Beziehungen zu den Amtseingesessenen trat bald eine völlige

Wandlung ein. Zuerst gab Bosses festes Eingreifen zugunsten der mit Klassensteuer überlasteten Bauern ihm Gelegenheit,

ihr Vertrauen zu erwerben, und bald sprechen die Tagebuch­

blätter nur noch von voller amtticher Befriedigung und sicht­ barem Segen im Verhältnis zu den Amtsbewohnern.

Am

15. Juni 1869 hatte er die Freude, in Wunstorf durch den

Oberpräsidenten dem König Wilhelm vorgestellt zu werden; dort lernte er auch Bismarck zuerst persönlich kennen.

Wie eng er mit dem Amtsbezirk in kurzer Zeit ver­

wachsen war, zeigte sich bei seiner Versetzung im Herbst 1870, indem die Fleckenskollegien des Amtssitzes in einer von An­ erkennung und Verttauen getragnen Eingabe an den Ober­

präsidenten

um Rückgängigmachung der Versetzung baten.

Denselben Ton schlägt, da die Eingabe natürlich erfolglos blieb, ein Nachruf der Uchter im Hoyaer Wochenblatt vom

31. August 1870 an.

Bei den Abgeordnetenwahlen im De­

zember erhielt Bosse ttotz seiner ausgesprochen konservattven

Stellung fast sämtliche Stimmen der Wahlmänner des Amtes,

die fteilich in der Minderheit blieben, da die übrigen zum Wahlbezirke gehörenden Ämter die Kandidatur nicht unter­ stützten. Noch nach Jahren wandte sich das Amt an ihn, um bei den Verhandlungen über die Einführung der Kreisordnung in Hannover durch seine Vermittlung dem Flecken Uchte den

Kreissitz zu retten, und die Deputation war nur schwer da­

von zu überzeugen, daß der damalige Direktor im Reichs21*

324 amte des Innern in dieser Sache nichts für sie tun könne. Ein rührender Beweis der alten Anhänglichkeit war die Über­ reichung einer prachtvoll ausgestatteten Adresse durch eine be­

sondre Abordnung des Amtes bei Bosses Ernennung zum Minister.

Als solcher folgte er mit Freuden im Dezember

1898 einer aus Anlaß des ersten Anschlusses des Ortes an

den Eisenbahnverkehr an ihn ergangnen Einladung. Gab sie ihm doch Gelegenheit, noch einmal den alten Amtssitz wieder­ zusehen und mit den Männern festlich vereint zu sein, die ihm so viel Anhänglichkeit bewiesen hatten. Die literarische Tätigkeit der Uchter Zeit beschränkt sich,

nachdem die Glaserschen Jahrbücher Ende 1869 eingegangen waren, auf die regelmäßigen politischen Monatsberichte in dem

Nathusiusschen Volksblatte für Stadt und Land und auf ge­ legentliche Berichte in der Evangelischen Kirchenzeitung über

kirchliche Verhältnisse Hannovers.

Diese Beschränkung war

Bosse aber bei der Vielseitigkeit des Amtes nur erwünscht. Freilich sollte das so glückliche Dienstverhältnis nicht von langer

Dauer sein.

4. Hannover. 1870 bis 1876 a) Konsistorium.

(870 bis (87(

Schon Ende April 1870 erhielt Bosse vom Oberpräsi­

denten die Anfrage, ob er bereit sei, als Mitglied des Landes­

konsistoriums und des Provinzialkonsistoriums nach Hannover zu gehn.

Er entschloß sich zur Annahme, freilich schweren

Herzens, aus dem Frieden des Idylls Uchte in den Streit und das Parteiwesen hinein zu müssen. Über seine Stellung zu der damaligen kirchenpolitischen Lage gibt eine Erklärung

Auskunft, die er vor seiner Ernennung der Staatsregierung abgab, und die folgendermaßen lautete:

„Was die kirchliche Bekenntnis- und Verfassungsfrage

anlangt, so glaube ich in der Tat über die Stimmungen,

325 Richtungen und Verhältnisse in der lutherischen Kirche Han­

novers genau informiert zn sein.

Es wird sich, selbst von

sogenannten preußisch gesinnten Geistlichen, ein Sturm der

Überraschung, ja Entrüstung über meine eventuelle Berufung in das Regiment der lutherischen Kirche erheben. Ich fürchte

diesen Sturm nicht und werde es darauf ankommen lassen.

Weniger genau bin ich aber der Natur der Sache nach unter­ richtet über die letzten Intentionen des höchsten Kirchenregi­ ments in Berlin.

Wenn dort die Absicht völlig fern liegt, die Union in Hannover auch nur versteckt oder indirekt einführen zu wollen,

wenn dagegen aber das Ziel im Auge behalten wird, allen Bestrebungen

schließung

entgegenzutreten, welche die hermetische Ab­

der hannoverschen

lutherischen Kirche zu

einer

dauernden und einen organischen Zusammenhang mit der Preu­ ßischen Landeskirche — unbeschadet jedoch der Konfession —

unmöglich zu machen trachten, so kann ich dieser Absicht des Kirchenregiments mit gutem und ehrlichem Gewissen meine

Dienste widmen.

Ich

Bekenntnisse

lutherischen

der

stehe mit

vollem Herzen

Kirche,

verwerfe

auf dem

aber

mit

Entschiedenheit die unevangelischen, dem Geiste und den Be­ kenntnissen

der deutschen Reformation

nicht entsprechenden

hochkirchlichen und zum Teil romanisierenden Tendenzen eines

Teils der modernen lutherischen Theologen, namentlich jene überspannten Theorien vom kirchlichen Amt, welche dasselbe

über den Begriff eines lediglich um der Ordnung willen aus­ gesonderten Dienstes (ministerium) hinaufzuschrauben sich

bemühn Wünchmeier, Löhe, Kliefoth). Ich halte die landes­

kirchliche Entwicklung

des Protestantismus nicht für einen

bloßen Nofftand, sondern lege auf den Segen der Volkskirche gegenüber dem Freikirchentum das entschiedenste Gewicht und

bin daher sowohl in den alten Provinzen wie hier stets ein

326

ausgesprochner und scharfer Gegner der lutherischen Sepa­ ration gewesen.

Daß die lutherische Kirche der Provinz

Hannover nicht für immer in ihrer jetzigen Isoliertheit bleiben kann und darf, ist mir nicht zweifelhaft. Schon der Begriff

der Landeskirche wird eine auf irgend eine Weise zu erstrebende

organische Verbindung mit der evangelischen Landeskirche der

alten Provinzen ganz unabweislich machen. Die Bestimmungen der Verfassungsurkunde und das Verhältnis zum Staate

werden diese Verbindung

immer dringender fordern.

Ich

halte sie auch für erreichbar, ohne den Begriff und das Wesen der lutherischen Kirche zu zerstören, als deren Essentialien

ich — unter Abweisung lediglich kirchenpolitischer und deshalb bloß accidentieller Momente — auf Grund des Artikels VH der Augustana — allein reines Wort und schriftgemäße Sakra­

mentsverwaltung betrachte. Diese letztere erachte ich durch die

Zulassung gläubiger Reformierter an sich nicht für alteriert." Am 18. Juli 1870 wurde Bosses Bestallung als Konsistorialrat vollzogen und ihm mit einem warm und herzlich

gehaltnen Erlasse des Kultusministers von Mühler bekannt

gegeben. Die Einführung durch den Präsidenten des Landes­ konsistoriums, den vormaligen hannoverschen Kultusminister Lichtenberg, fand jedoch erst am 16. September statt, weil das Landeskonsistorium gegen die Versetzung des Vorgängers, Konsistorialassessors Friedrichs, des spätern Oberverwaltungs­

gerichtsrats, durch eine Jmmediatvorstellung remonstriert hatte, deren Erledigung abgewartet werden mußte.

Trotz dieses

wenig verheißungsvollen Anfangs zeigten sich die Schwierig­

keiten des Amts geringer, als vorher anzunehmen gewesen

war.

Das Tagebuch sagt am Jahresschlüsse:

Amte geht es gut.

sehr wohl.

„In meinem

Im Landeskonsistorium fühle ich mich

L. ist eine imposante sittliche Persönlichkeit, ein

ernster Christ, selbstlos, lauter, demütig; dabei von eminenter

327

Tüchtigkeit.

Ich liebe ihn und weiß kaum eine Persönlich­

keit, die ich so verehren könnte. Nur politisch ist er doch gar

zu sehr verrannt.

Im Provinzialkonsistorium ist es anders.

B., treu, tüchtig, als Arbeiter respektabel in hohem Grade, ist absolut kein Dirigent; der Geschäftsgang ist langsam, die Subalternen sind loddrig; B. und N. außerdem ewig gereizt

und in kleinlichster Eifersucht aufs Landeskonsistorium; im ganzen fehlt jeder Zug, jede straffe Energie. Ich habe wenig

zu tun und verschwinde völlig im Kolleg. Die kirchlichen Organisationsgesetze (Zuweisung der Volks­ schulen an die Landdrosteien, Aufhebung der Konsistorien, Er­

richtung eines einzigen Konsistoriums für die ganze Provinz

Hannover) waren im Kultusministerium fertig. Mühler hat sie nicht vorgelegt. Angeblich sind sie im Staatsministerium bean­

standet.

Ein Definitivum wäre doch recht nötig gewesen."

Unterm 5. April 1871 heißt es weiter:

„Die Landes­

zeitung erscheint wieder, bösartiger denn je.

Sie lobt das

Landeskonsistorium wegen des Ausschreibens über das Kirchen­

gebet und findet es sehr erfreulich, daß wir den Satz: »Er­ halte sie uns bei langem Leben, zum beständigen Segen und

christlichen Vorbilde«

auch

nicht einmal empfohlen hätten,

weil darin ein Gebet gegen die Rückkehr der hannoverschen Dynastie läge. So wird eine welfische Demonstration daraus,

an die ich freilich nicht gedacht hatte. Aber das ist die per­ fide Politik der Landeszeitung, daß sie damit den Gegensatz zwischen Regierung und Landeskonsistorium aufs neue zu

schärfen sucht. Und ich fürchte leider, daß unser sonst so treff­ licher Präsident dafür empfänglich ist."

Unter den Mitarbeitern jener Zeit tritt der spätere Abt von Loccum, Oberkonsistorialrat D. Uhlhorn, hervor. Er gewann

durch seine ganz ungewöhnliche Predigtgabe bedeutenden Ein­

fluß auf Bosses geistiges Leben.

328

Seit Anfang September 1871 beunruhigte Bosse ein

Plan des Oberpräsidenten, der ihn an Stelle des ins Reichs­ kanzleramt berufnen Regierungsrats Starke zu seinem Ober­

präsidialrat machen wollte.

Die jetzige Stellung des Ober­

präsidialrats, der zugleich Vertreter des Oberpräsidenten ist, gab es damals noch nicht; der Rat beim Oberpräsidium wurde vielmehr „Regierungs- und Oberpräsidialrat" genannt. Bosse

war dem Plane entgegen, weil er von seinem eigentlichen Ge­

biete weggenommen werden sollte, als das er die kirchliche Verwaltung ansah, die chm Freude machte, und wo er sich

nützlich machen zu können glaubte.

Auch fürchtete er das

Aufhören der ihm so erwünschten Konzentration, die Befassung

mit den allerlei Ressorts, die er nicht genügend zu kennen, und denen er sich nicht gewachsen glaubte.

Er meinte aber,

dem entschiednen Wunsche des von ihm hochverehrten Ober­

präsidenten, der diese Bedenken nicht gelten ließ, nicht wider­

streben zu dürfen, und am 31. Dezember wurde er unter

Übernahme in die allgemeine Verwaltung zum Regierungsrat

beim Oberpräsidium und zugleich zum Justitiar beim Pro­ vinzialschulkollegium ernannt.

Er sagt im Tagebuch, es sei

gut wohnen gewesen unter dem Krummstabe; er sei im Kon­

sistorium recht eigentlich auf seinem Gebiet gewesen, nicht mit

Arbeit überlastet, dabei geistlich angeregt.

Er tröstet sich da­

mit, daß er durch die Veränderung den anscheinend unver-

meidlichen kirchlichen Kämpfen und Konflikten einigermaßen entrückt sei. Der Kultusminister von Mühler und seine Räte behandelten das Landeskonsistorium so wegwerfend, so ganz

als eine Unterbehörde und gegen die ihm gesetzlich zukommende

Stellung, daß ein völliger Bruch unvermeidlich sein werde. Die Sache werde noch schlimmer werden, wenn der Gesetz­

entwurf wegen Beaufsichtigung der Schulen durch den Staat durchgehe, und damit eine Neuorganisation der Provinzial-

329

Konsistorien nötig werde.

Er meint, daß er gewissenshalber

für das Landeskonsistorium würde haben eintreten müssen,

und daß Herr von Mühler schon bisher seine Hoffnungen auf seine konsistoriale Tätigkeit in seinem Sinne nicht erfüllt

gesehen habe. So betrachtet er es als eine Führung, daß er

diesm Kämpfen, denen er sich nicht gewachsen fühle, ferner

Der Präsident Lichtenberg entließ ihn in der

gerückt sei.

letzten Sitzung des Landeskonsistoriums mit warmen Worten. Er habe ihn bei seinem Eintritt ins Kolleg mit schweren Be­

sorgnissen

empfangen;

er könne jetzt zu seiner Freude be­

zeugen, daß diese Besorgnisse trotz aller Differenzen, vielleicht sogar Differenzen in Grundanschauungen, in keiner Weise be­ gründet gewesen seien, sondern daß sie doch beide denselben

Weg zu denselben Zielen gegangen seien. Die Trennung vom Landeskonsistorium war

nicht vollständig;

übrigens

schon im Februar 1872 wurde Bosse im

Nebenamte wieder zum außerordentlichen Mttglied ernannt. In dem betteffenden Erlaß des neuen Kultusministers Falk heißt es: „Euer Hochwohlgeboren wollen in dieser Ernennung den Ausdruck des Verttauens und zugleich des Wunsches der

Kirchenregierung Seiner Majestät des Königs erblicken, Sie

auch fernerhin mit der Verwaltung der hannöverschen Kirche, der Sie in Ihren

sistorium

und

mannigfache

bisherigen Ämtern bei dem Landeskon­

dem

in

Hannover

und schätzenswerte Dienste geleistet

haben, in

Provinzialkonsistorium

Verbindung zu erhalten."

b) Dberpräsidium.

(872 bis (876

An die Annahme der meisten Kollegen, daß die Über­

nahme in die allgemeine Verwaltung für ihn den Anfang

einer großen ober auch nur besonders erwünschten dienstlichen Laufbahn bedeute, mochte Bosse nicht glauben, zumal da ihm die

330 Stellung eines Regierungspräsidenten verschlossen schien, und er, wie er sagt, keinen Ehrgeiz auf sonstige hohe Stellunger

hatte. Vielmehr fühlte er sich in dem neuen Amte, wo er vor­ nehmlich die polittschen und kirchenpolittschen Angelegenheiten

und die Personalien der höher« Beamten der Provinz zu be­ arbeiten hatte, zunächst einigermaßen ratlos und von der Last

der Arbeit erdrückt.

Er war mit seinen Arbeiten nicht zu­

frieden; er meint, es fehle ihm dafür die Sicherheit, die

Routtne und das schnelle, scharfe Urteil.

Doch wich diese

Sttmmung nach allmählichem Einleben in die amtlichen Auf­ gaben bald wachsender Befriedigung.

In den Personen des amtlichen Kreises trat Anfang 1873 ein mehrfacher Wechsel ein. Oberpräsident wurde Gras

Botho Eulenburg; an Stelle des zum Regierungspräsidenten in Aachen beförderten Herrn von Leipziger trat Landdrost von Boetticher, in dem Bosse abermals einen Freund für das Leben fand.

Freilich siedelte Herr von Boetticher schon im

Frühjahr 1876, noch ehe Bosse Hannover verließ, als Re­ gierungspräsident nach Schleswig über. Die freundschaftlichen

Beziehungen zu seinem Hause wurden aber nicht abgebrochen,

und in Berlin fand sich bald genug Gelegenheit, sie von

neuem zu pflegen. Auch an Bosse traten schon damals allerlei Beränderungspläne heran.

Der Präsident Lichtenberg hatte

sich an einem welfischen Kalender beteiligt; man redete davon, daß er abgehn müsse, und Bosse seine Nachfolgerschaft über­ nehmen werde.

Greifbarer war ein Angebot, zu Falk ins

Kultusministerium zu gehn. Da Bosse erklärte, er habe keine Veranlassung, sich aus seiner ihn sehr befriedigenden Stellung

wegzusehnen, trage auch Bedenken, ob er prinzipiell dem

Minister ganz folgen könne, so zerschlug sich die Sache für diesesmal, und statt seiner wurde der ihm befreundete Kon-

sistorialdirektor Barkhausen einberufen.

Später, im Jahre

331 1875, fragte der Kultusminister beim Oberpräsidenten wegen

Bosses Ernennung zum Klosterkammerdirektor in Hannover an. Ohne mit Bosse Rücksprache zu nehmen und ihm damit die schwierige Entscheidung ersparend, berichtete der Ober­

präsident ablehnend, da er wohl glaubte, daß die Stellung

Bosse nicht befriedigen und er sich durch ihre Annahme eine seiner ganzen Art mehr zusagende Beförderung abschneiden

werde. Bosse erfuhr von der ganzen Sache erst nachträglich. Endlich wollten Vertrauensmänner aus dem Fürstentum Lippe

ihn dem neuen Fürsten Woldemar in Detmold zum Kabinetts­ minister Vorschlägen und fragten um seine Zusttmmung an. Diesesmal waren es nicht Rücksichten diensllicher Art, die ihn

zu einer ablehnenden Haltung veranlaßten, da er die in dem ständischen Konflikt in Lippe liegenden Schwierigkeiten vor­

behaltlich näherer Prüfung für überwindbar hielt. Vielmehr

fürchtete er, zumal bei seiner beschränkten Vermögenslage, die

gesellschaftlichen Schwierigkeiten der Stellung und die Klippen

des kleinen Hofes.

Er blieb also in Hannover und hatte

zwar, wie im Tagebuch wiederholt vermertt ist, andauernd sehr viel zu tun, aber auch mehr und mehr die Freude, mit Lust zu arbeiten, und den Eindruck, es nicht ohne Erfolg zu

tun.

Er hatte die amtlichen Aufgaben beherrschen gelernt

und war sich bewußt, sie dem Oberpräsidenten zu Dank er­ ledigt zu haben.

Das Verhältnis zu diesem, zu dem er als

dem wahrhaft vornehmen Manne, dem weit überlegnen Be­ amten und dem liebenswürdigen Vorgesetzten auffah, und dem

er, wie er bemerkt, mit wahrer Lust diente und sich unter­ ordnete, blieb andauernd das beste.

Inhalt l. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.

Schlrrtt

eate

Unser Familienname 3 Die Vaterstadt................................................................................ 5 Das Großelternhaus ................................................................. 16 Das Elternhaus................................................................................. 21 Die zweite Mutter ............................................. 30 Die Volksschule................................................................................. 39 Allerlei Einwirkungen auf dieErziehung..................................... 52 Feste feiern............................................................................................ 70 Noch allerlei Erinnerungen aus derSchulzeit.............................. 97 Das Gymnasium. 1.......................................................................... 112 Das Gymnasium, n.......................................................................... 130 Das Gymnasium und dasJahr 1848 161 Bis zur Reifeprüfung..................................................................... 176

n. Im Mai des Kebras. KtL-entrnzeit 1. Frei ist der Bursch. Heidelberg.................................................... 209 2. Das Freiwilligenjahr in Halle.....................................................277 3. Das letzte Studienjahr. Berlin.................................................... 303 Vom Ende der Studentenzeit bis zur Verheiratung. 1853 bis 1861 Roßla. 1861 bis 1868 ..................................................................... Uchte. 1868 bis 1870 ........................................................................... Hannover. 1870 bis 1876 a) Konsistorium. 1870 bis 1871................................................ b) Oberpräsidium. 1872 bis 1876 ..........................................

315 319 322 324 329

€ine Dienstreise nach dem Orient Erinnerungen von

Staatsminister Dr. R. Bosse SB

Preis: Gebunden 3'/r Mark

Druck von Karl Marquart in Leipzig